Qualitative Forschung und ihre Methoden sind ein wichtiger Zugang im Rahmen psychologischer Erkenntnissuche. Während qua
3,418 166 12MB
German Pages XV, 854 [838] Year 2020
Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Front Matter ....Pages 1-1
Qualitative Forschungsdesigns (Philipp Mayring)....Pages 3-17
Fallauswahl (Margrit Schreier)....Pages 19-39
Qualitatives Experiment (Thomas Burkart)....Pages 41-58
Qualitative Längsschnittstudien (Andreas Witzel)....Pages 59-77
Qualitative Sekundäranalyse (Irena Medjedović)....Pages 79-95
Qualitative Online-Forschung (Timo Gnambs, Bernad Batinic)....Pages 97-112
Partizipative Forschung (Jarg Bergold, Stefan Thomas)....Pages 113-133
Qualitative Evaluationsforschung (Ernst von Kardorff, Christine Schönberger)....Pages 135-157
Mixed Methods (Margrit Schreier, Özen Odağ)....Pages 159-184
Triangulation (Uwe Flick)....Pages 185-199
Performative Sozialwissenschaft (Günter Mey)....Pages 201-225
Forschungsethik (Mechthild Kiegelmann)....Pages 227-246
Gütekriterien qualitativer Forschung (Uwe Flick)....Pages 247-263
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden (Margrit Schreier, Franz Breuer)....Pages 265-289
Front Matter ....Pages 291-291
Ethnografie (Stefan Thomas)....Pages 293-313
Qualitative Interviews (Günter Mey, Katja Mruck)....Pages 315-335
Dialog-Konsens-Methoden (Brigitte Scheele, Norbert Groeben)....Pages 337-355
Grid-Methodik (Martin Fromm)....Pages 357-372
Lautes Denken (Klaus Konrad)....Pages 373-393
Gruppendiskussion und Fokusgruppe (Aglaja Przyborski, Julia Riegler)....Pages 395-411
Rollenspiel (Iris Stahlke)....Pages 413-431
Qualitative Netzwerkanalyse (Holger von der Lippe, Peter Kaiser)....Pages 433-452
Introspektion (Harald Witt)....Pages 453-470
Autoethnografie (Tony E. Adams, Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner, Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer)....Pages 471-491
Front Matter ....Pages 493-493
Qualitative Inhaltsanalyse (Philipp Mayring)....Pages 495-511
Grounded-Theory-Methodologie (Günter Mey, Katja Mruck)....Pages 513-535
Dokumentarische Methode (Aglaja Przyborski, Thomas Slunecko)....Pages 537-554
Tiefenhermeneutik (Rolf Haubl, Jan Lohl)....Pages 555-577
Objektive Hermeneutik (Detlef Garz, Uwe Raven)....Pages 579-602
Biografische Fallrekonstruktionen (Heidrun Schulze)....Pages 603-627
Narrative Analysen (Gabriele Lucius-Hoene)....Pages 629-647
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie (Arnulf Deppermann)....Pages 649-672
Diskursanalyse (Lars Allolio-Näcke)....Pages 673-689
Metaphernanalyse (Rudolf Schmitt)....Pages 691-710
Morphologische Beschreibung (Herbert Fitzek)....Pages 711-729
Auswertung von Zeichnungen (Elfriede Billmann-Mahecha, Heike Drexler)....Pages 731-749
Videoanalysen (Carolin Demuth)....Pages 751-771
Artefaktanalyse (Ulrike Froschauer, Manfred Lueger)....Pages 773-794
Typenbildung (Udo Kuckartz)....Pages 795-812
Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS) (Udo Kuckartz, Stefan Rädiker)....Pages 813-834
Transkription (Thorsten Dresing, Thorsten Pehl)....Pages 835-854
Günter Mey Katja Mruck Hrsg.
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie Band 2: Designs und Verfahren 2. Auflage
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie
Günter Mey • Katja Mruck Hrsg.
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie Band 2: Designs und Verfahren 2., erweiterte und überarbeitete Auflage
mit 31 Abbildungen und 11 Tabellen
Hrsg. Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften Hochschule Magdeburg-Stendal Hansestadt Stendal, Deutschland
Katja Mruck Institut für Qualitative Forschung Internationale Akademie Berlin Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-658-26886-2 ISBN 978-3-658-26887-9 (eBook) ISBN 978-3-658-29713-8 (print and electronic bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Eva Brechtel-Wahl, Jennifer Ott Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Als wir 2008 vom Springer Verlag eingeladen wurden, ein Handbuch zu qualitativer Forschung in der Psychologie zu gestalten, erschien uns dies Unternehmen sehr sinnvoll und notwendig. Denn angesichts der langen Tradition von Ansätzen aus der Frühzeit der Disziplin und der seit der 1980er-Jahren vermehrten Anstrengung, eine Alternative zu dem ansonsten für die Disziplin charakteristischen standardisierten Vorgehen auszuarbeiten, fehlte bis dahin eine systematische Durchmusterung von theoretischen Bezugspunkten, Verfahren der Planung, Durchführung und Auswertung sowie der subdisziplinären Kartierungen qualitativer Forschung in der Psychologie. Als dann das Buch mit 60 Beiträgen im September 2010 erschien, wurden die Erträge qualitativer Forschung und ihre Relevanz für psychologische Fragestellungen manifest. Zehn Jahre später legen wir nun die zweite, erweiterte und aktualisierte Ausgabe des Handbuchs vor. Auch wenn sich qualitative Forschung nach wie vor in der Peripherie der Gesamtdisziplin befindet, hat sie sich ausgeweitet und ausdifferenziert. Diese Entwicklung zeigt sich auch daran, dass die neue Auflage umfänglicher geworden ist, von der Seitenzahl fast verdoppelt und nunmehr in zwei Bänden mit insgesamt 70 Beiträgen organisiert. Während Band I sich den „Ansätzen und Anwendungsfeldern“ widmet, bietet Band II eine Auseinandersetzung mit „Designs und Verfahren“ der Erhebung und Auswertung. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit an diesem für das Fach wichtigen Kompendium und dem Fortschreiben der Geschichte qualitativer Forschung. Dem Verlag danken wir für den erneuten Auftrag und die Betreuung über die letzten Jahre. Mit der Herausgabe verbindet sich unsere Überzeugung, dass qualitative Ansätze eine Bereicherung für die Psychologie darstellen und es sich lohnt, auch zukünftig an diesem „Programm“ weiterzuarbeiten, das die eigene Geschichte ernst nimmt und angesichts der Breite an Themenfeldern und Arbeitsgebieten auf das Potenzial qualitativer Methodik vertraut. Februar 2020
Günter Mey Katja Mruck
V
Übersicht
Der zweite Band des Handbuchs widmet sich umfassend Fragen der Forschungsplanung und der Umsetzung qualitativ-psychologischer Forschungen und stellt die Fülle an Verfahren zur Durchführung und Auswertung qualitativer Daten vor. Im ersten Teil werden zunächst die methodologischen Ziellinien und Designs (Philipp Mayring) skizziert, um dann mit Fallauswahl (Margrit Schreier), qualitativem Experiment (Thomas Burkart) und Längsschnittstudien (Andreas Witzel) drei wichtige Anlagen von Studien im Detail zu behandeln. Mit Sekundäranalyse (Irina Medjedović), Online-Forschung (Timo Gnambs und Bernard Batinic) sowie partizipativer Forschung (Jarg Bergold und Stefan Thomas) und Evaluationsforschung (Ernst von Kardorff und Christine Schönberger) werden zunehmend bedeutsame Vorgehensweisen vorgestellt. Auch wenn in diesen Beiträgen bereits Fragen zur Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Forschung auftauchten, wird dies in den Beiträgen zu Mixed Methods (Margrit Schreier und Özen Odağ) und Triangulation (Uwe Flick) eingehend diskutiert. Eine Kombination ganz anderer Art wird durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Kunst im Rahmen performativer Sozialwissenschaft (Günter Mey) präsentiert. Abgeschlossen wird der erste Teil mit der Auseinandersetzung zu Forschungsethik (Mechthild Kiegelmann), zur Geltungsbegründung und zu Gütekriterien (Uwe Flick) sowie zur Lern-/Lehrbarkeit qualitativer Forschung (Margrit Schreier und Franz Breuer). Der zweite Teil des Bandes widmet sich den verschiedenen Methoden der Datenproduktion. Nach Darlegungen zur Ethnografie (Stefan Thomas) nimmt die Darstellung verbaler Verfahren einen großen Raum ein. Vorgestellt werden die diversen Interviewformen (Günter Mey und Katja Mruck), um dann spezieller auf Dialog-Konsens-Methoden (Brigitte Scheele und Norbert Groeben), das GridVerfahren (Martin Fromm) sowie das Laute Denken (Klaus Konrad) einzugehen, die allesamt innerhalb der Psychologie entwickelt wurden. Mit Gruppendiskussion (Aglaja Przyborski und Julia Riegler), Rollenspiel (Iris Stahlke) und Netzwerkanalyse (Holger von der Lippe und Peter Kaiser) folgen dann über die Einzelperson hinausgehende Ansätze. Abgeschlossen wird dieser Part mit Beiträgen, die Selbstberichte ins Zentrum stellen, wobei mit Introspektion (Harald Witt) eines der ältesten Verfahren der Psychologie vorgestellt wird und mit der Autoethnografie (Tony Adams, Carolyn Ellis, Arthur Bochner, Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer) ein sehr neuer Ansatz. VII
VIII
Übersicht
Der letzte Teil des Handbuchs ist Fragen zur Auswertung vorbehalten. Zunächst werden mit qualitativer Inhaltsanalyse (Philipp Mayring) und Grounded-TheoryMethodologie (Günter Mey und Katja Mruck) zwei kategorienbildende Verfahren vorgestellt. Anschließend geben Beiträge zur dokumentarischen Methode (Aglaja Przyborski und Thomas Slunecko), zu Tiefenhermeneutik (Jan Lohl und Rolf Haubl), objektiver Hermeneutik (Detlef Graz und Uwe Raven), biografische Fallrekonstruktion (Heidrun Schulze) sowie zu Narrationsanalysen (Gabriele LuciusHoene) und zur Konversationsanalyse (Arnulf Deppermann) Einblicke in die verschiedenen sequenzanalytischen Vorgehensweisen. Mit Diskursanalyse (Lars Allolio-Näcke), Metaphernanalyse (Rudolf Schmitt) und Morphologie (Herbert Fitzek) finden sich dann noch drei speziellere Verfahren. Dass mittlerweile zunehmend auch nicht-sprachliches Material Eingang in psychologische Untersuchungen findet, reflektieren einerseits die Beiträge zu visuellen Daten in Form von zeichnerischen Darstellungen (Elfriede Billmann-Mahecha und Heike Drexler) sowie Videoanalyse (Carolin Demuth) und andererseits zur Artefaktanalyse (Ulrike Froschauer und Manfred Lueger), bei der auch Materialitäten berücksichtigt werden. Abgeschlossen wird dieser Teil und damit das Handbuch mit übergeordneten Aspekten der Auswertung, so der Typenbildung (Udo Kuckartz), der Verwendung von Analyse-Software (Udo Kuckartz und Stefan Rädiker) und der Transkription (Thorsten Dresing und Thorsten Pehl).
Inhaltsverzeichnis
Teil I Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Qualitative Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mayring
3
Fallauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margrit Schreier
19
Qualitatives Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Burkart
41
Qualitative Längsschnittstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Witzel
59
Qualitative Sekundäranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irena Medjedović
79
Qualitative Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Timo Gnambs und Bernad Batinic
97
Partizipative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jarg Bergold und Stefan Thomas
113
Qualitative Evaluationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst von Kardorff und Christine Schönberger
135
Mixed Methods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margrit Schreier und Özen Odağ
159
.............................................
185
Performative Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey
201
Forschungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Kiegelmann
227
Triangulation Uwe Flick
IX
X
Inhaltsverzeichnis
..........................
247
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . Margrit Schreier und Franz Breuer
265
Teil II
291
Gütekriterien qualitativer Forschung Uwe Flick
Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Thomas
293
Qualitative Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey und Katja Mruck
315
Dialog-Konsens-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Scheele und Norbert Groeben
337
Grid-Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Fromm
357
............................................
373
Gruppendiskussion und Fokusgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aglaja Przyborski und Julia Riegler
395
Rollenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iris Stahlke
413
Qualitative Netzwerkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger von der Lippe und Peter Kaiser
433
.............................................
453
Autoethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tony E. Adams, Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner, Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer
471
Teil III
493
Lautes Denken Klaus Konrad
Introspektion Harald Witt
Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...................................
495
Grounded-Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey und Katja Mruck
513
Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aglaja Przyborski und Thomas Slunecko
537
Tiefenhermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Haubl und Jan Lohl
555
Qualitative Inhaltsanalyse Philipp Mayring
Inhaltsverzeichnis
XI
Objektive Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Garz und Uwe Raven
579
Biografische Fallrekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Schulze
603
Narrative Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lucius-Hoene
629
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Arnulf Deppermann
649
Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lars Allolio-Näcke
673
.........................................
691
Morphologische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Fitzek
711
Auswertung von Zeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elfriede Billmann-Mahecha und Heike Drexler
731
Videoanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carolin Demuth
751
Artefaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Froschauer und Manfred Lueger
773
.............................................
795
.........
813
Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thorsten Dresing und Thorsten Pehl
835
Metaphernanalyse Rudolf Schmitt
Typenbildung Udo Kuckartz
Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS) Udo Kuckartz und Stefan Rädiker
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Tony E. Adams Department of Communication, Bradley University, Peoria, Vereinigte Staaten Lars Allolio-Näcke Zentralinstitut „Anthropologie der Religion(en)“, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland Bernad Batinic Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Jarg Bergold Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Elfriede Billmann-Mahecha Institut für Psychologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Arthur P. Bochner Department of Communication, University of South Florida, Tampa, Vereinigte Staaten Franz Breuer Institut für Psychologie, Universität Münster, Münster, Deutschland Thomas Burkart Praxis für Psychotherapie, Hamburg, Deutschland Carolin Demuth Communication & Psychology, Centre for Qualitative Studies, Aalborg University, Aalborg, Dänemark Arnulf Deppermann Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, Deutschland Thorsten Dresing dr. dresing & pehl GmbH, Marburg, Deutschland Heike Drexler Institut für Psychologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Carolyn Ellis Department of Communication, University of South Florida, Tampa, Vereinigte Staaten Herbert Fitzek Business School Berlin, Berlin, Deutschland Uwe Flick Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Qualitative Sozial- und Bildungsforschung, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Martin Fromm Abteilung Pädagogik, Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland XIII
XIV
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ulrike Froschauer Universität Wien, Wien, Österreich Detlef Garz Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland Timo Gnambs Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Leibniz Institut für Bildungsverläufe, Bamberg, Deutschland Norbert Groeben Psychologisches Institut der Universität zu Köln, Heidelberg, Deutschland Rolf Haubl Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main, Deutschland Peter Kaiser Universität Vechta, Vechta, Deutschland Mechthild Kiegelmann Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland Klaus Konrad Pädagogische Hochschule Weingarten, Weingarten, Deutschland Udo Kuckartz Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Jan Lohl Institut für Fort- und Weiterbildung, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland Gabriele Lucius-Hoene Institut für Psychologie, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland Manfred Lueger Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, Wirtschaftsuniversität Wien, Wien, Österreich Philipp Mayring Institut für Psychologie, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich Irena Medjedović Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Hamburg, Deutschland Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland Katja Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland Özen Odağ Touro College Berlin, Berlin, Deutschland Thorsten Pehl dr. dresing & pehl GmbH, Marburg, Deutschland Andrea Ploder Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Aglaja Przyborski Department für Psychotherapie, Bertha von Suttner Privatuniversität, St. Pölten, Österreich
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
XV
Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich Stefan Rädiker Methoden-Expertise.de, Berlin, Deutschland Uwe Raven Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland Julia Riegler Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Wien, Österreich Christine Schönberger Hochschule München, München, Deutschland Brigitte Scheele Psychologisches Institut der Universität zu Köln, Heidelberg, Deutschland Rudolf Schmitt Fakultät Sozialwissenschaften, Hochschule Zittau/Görlitz, Görlitz, Deutschland Margrit Schreier Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland Heidrun Schulze Hochschule RheinMain, Wiesbaden, Deutschland Thomas Slunecko Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich Johanna Stadlbauer Institut für Männer- und Geschlechterforschung, Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark, Graz, Österreich Iris Stahlke Universität Bremen, Bremen, Deutschland Stefan Thomas Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften, Fachhochschule Potsdam, Potsdam, Deutschland Holger von der Lippe MSB Medical School Berlin, Berlin, Deutschland Ernst von Kardorff Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Harald Witt Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Andreas Witzel Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Teil I Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien
Qualitative Forschungsdesigns Philipp Mayring
Inhalt 1 Zur Notwendigkeit genauer Untersuchungsplanung in der qualitativ orientierten Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2 Ein globales Untersuchungsdesign für qualitativ (und quantitativ) orientierte Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3 Differenzierung konkreter qualitativ orientierter Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Zusammenfassung
Der Beitrag weist auf die Bedeutung genauer Untersuchungsplanung auch für qualitativ orientierte Forschungsansätze hin. Zunächst wird ein allgemeines Untersuchungsdesign für qualitative (und auch quantitative) Forschung aufgestellt, und die einzelnen Prozessschritte werden erläutert. Positionen, wonach quantitative und qualitative Forschung sich hier prinzipiell unterscheiden, werden zurückgewiesen. Dann wird auf vier Grunddesigns (exploratives, deskriptives, zusammenhangsanalytisches und kausalanalytisches Design) für qualitativ orientierte Forschung eingegangen. Schlüsselwörter
Exploration · Deskription · Forschungsdesign · Mixed Methods · Gütekriterien
P. Mayring (*) Institut für Psychologie, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_18
3
4
P. Mayring
1
Zur Notwendigkeit genauer Untersuchungsplanung in der qualitativ orientierten Forschung
Ein verbreitetes Missverständnis aktueller Methodendebatten besteht darin, dass qualitativ orientierte Ansätze keine festen methodischen Regeln kennen, frei gestaltbar sind, völlig offen gehalten werden sollten. Dies führt dann oft zur Kritik an qualitativer Forschung als beliebig, zu wenig methodisch kontrolliert, gar unwissenschaftlich. Zwar wird das „Prinzip der Offenheit“ (Hoffmann-Riem 1980; Flick 1991) immer wieder im qualitativen Kontext hervorgehoben. Gemeint ist aber damit meist die Ablehnung einer Verpflichtung zu exakter Hypothesenformulierung vorab, die gerade für explorative Studien in vielen Fällen gar nicht möglich wäre bzw. den Blick einseitig auf bestimmte Aspekte beschränken würde. Solche explorativen Studien kennen aber doch auch methodische Regeln bzw. Ablaufpläne (zumindest „Faustregeln“ wie im Falle der Grounded-Theory-Methodologie, Mey und Mruck 2011; Strauss 1991). Auch wird Offenheit als Prinzip im Zusammenhang mit Fragebögen und Interviews gebraucht, dies bedeutet jedoch nicht Beliebigkeit: Offene Fragebögen müssen textanalytisch ausgewertet werden, was methodischer Kontrolle bedarf; offene Interviews lassen den Interviewenden nach festen Regeln Spielräume für Nachfragen, Vertiefungen, Umformulierungen, um die Validität zu erhöhen. Offenheit in qualitativ orientierter Forschung bedeutet an der einen oder anderen Stelle Freiräume, um auf Besonderheiten des Gegenstandes eingehen zu können; solche spezifischen Anpassungen müssen aber ihrerseits kontrolliert werden (Zirkularität des Forschungsprozesses, s. Abschn. 2). Hier wird insbesondere aus zwei Gründen der Standpunkt vertreten, dass qualitativ orientierte Untersuchungsanlagen einer ebenso genauen Untersuchungsplanung bedürfen wie quantitative Forschung: • Zum einen wird das Verfahren durchsichtiger und nachvollziehbarer, wenn man sich an einen Untersuchungsplan hält. Die Diskussion um Gütekriterien qualitativer Forschung (Steinke 1999)1 hat gezeigt, dass intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu den Kernkriterien qualitativer Forschung gehört. Die Ausarbeitung eines Forschungsdesigns im Voraus und das Umsetzen der Ablaufschritte des festgelegten Designs ermöglichen eine besonders gute Durchschaubarkeit des Forschungsprozesses. • Wenn der Untersuchungsplan vorab festgelegt und nicht nur ad hoc konstruiert wird, sondern man sich an eingeführten Designs orientiert, so bedeutet dies auch ein Zurückgreifen auf Erfahrungen mit bewährter Methodik. Auch für qualitativ orientierte Projekte gibt es einen methodischen Diskurs, der Elemente und Verfahrensschritte als zentral, sogar unverzichtbar einschätzt. Werden hier unbe-
Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, http://www.quali tative-research.net/index.php/fqs/pages/view/quality.
1
Qualitative Forschungsdesigns
5
gründet Auslassungen oder Verzerrungen vorgenommen, kann dies ebenso wie in quantitativer Forschung als methodischer Fehler kritisiert werden. Nur wenn qualitative Forschung es schafft, sich an bewährte Untersuchungspläne anzulehnen, diese weiterzuentwickeln und zu begründen, wird sie auch im Kontext einer quantitativ-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsszene ernst genommen werden. Unter Design wird dabei die Untersuchungsanlage, die Logik der Studie, die Art und Weise, wie die wissenschaftliche Fragestellung angegangen wird, verstanden. Innerhalb des Forschungsdesigns sind dann konkrete Methoden der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung eingebettet und gesondert begründet. Das soll jedoch nicht heißen, das Arbeiten mit bewährten Untersuchungsplänen sei nur ein strategisches Vorgehen, um Veröffentlichungsmöglichkeiten oder Drittmittelprojekte zu erhalten. Ich möchte dies im Folgenden auf zwei Ebenen begründen, auf der Ebene eines allgemeinen Untersuchungsplanes für qualitativ orientierte Forschung und auf der Ebene spezifischer qualitativ orientierter Forschungsdesigns. Auch Uwe Flick (2009) legt in seiner Kompilierung qualitativer und quantitativer Forschung für beide eine Vorab-Bestimmung des Forschungsdesigns zu Grunde. „Ziel der Festlegung eines Forschungsdesigns ist einerseits, einen Beitrag zur Lösung der Forschungsfrage zu leisten, andererseits Kontrolle über das Verfahren zu leisten“ (Flick 2009, S. 77). Im Folgenden unterscheidet er aber dann zwischen qualitativen (nicht standardisierten) und quantitativen (standardisierten) Forschungsdesigns und nennt Fallstudien, Vergleichsstudien, retrospektive Studien, Momentaufnahmen und Längsschnittstudien als nicht standardisierte Designs. Dies greift meiner Meinung nach zu kurz, da ohne Berücksichtigung etwa von qualitativen Zusammenhangs- oder Kausalanalysen qualitativ orientierte Forschung sich selbst limitiert (s. dazu Abschn. 2). Der Standpunkt einer dezidierten Planung bereits zu Beginn einer Studie ist unter qualitativ orientierten Forscher/innen nicht unumstritten (Mayring 2007). Im Rahmen konstruktivistischer Ansätze sollen wissenschaftliche Vorgehensweisen, Techniken oder Verfahren oft konkret am Gegenstand, im Verlauf der Studie, ad hoc entwickelt werden: „If the researcher needs to invent, or piece together, new tools or techniques, he or she will do so. Choices regarding which interpretive practices to employ are not necessarily made in advance“ (Denzin und Lincoln 2005, S. 4). Die von Denzin und Lincoln vorgeschlagene Zusammenstellung der Verfahrensweisen erfolgt jedoch nicht ausschließlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, aus pragmatischen Gründen, also aus der Überlegung, ob die einzelnen Untersuchungsschritte angemessen, praktikabel und ertragreich sind, sondern auch aus ästhetischen Gründen, also ob die rekonstruierten Ergebnisse (Repräsentationen) ein für Lesende anregendes Ganzes bieten können: „These interpretive practices involve aesthetic issues, aesthetics of representation that goes beyond the pragmatic or the practical“ (Denzin und Lincoln 2005, S. 4). Norman Denzin und Yvonna Lincoln gebrauchen hier dezidiert das Bild von Forschung als Filmmontage oder Jazzinterpretation (siehe zu performativer Forschung auch Roberts 2008). Ein solches Forschungsverständnis würde mir jedoch zu weit gehen. Ich möchte darauf beharren, dass Forschung geplant, im Ablauf genau beschrieben, argumentativ belegt und systematisch durchgeführt wird. Solche Kriterien auch an qualitative Forschung anzulegen, bietet ihr
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P. Mayring
die Chance, als gleichwertig von der gesamten Scientific Community in der Psychologie ernst genommen zu werden. In ihrer Rekonstruktion der Geschichte der qualitativen Forschung in den Sozialwissenschaften stellen Denzin und Lincoln (2005) eine Blütezeit in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts fest. Dies hat allerdings eine Gegenbewegung in den USA (in Europa wenig repliziert) auf den Plan gerufen, die qualitative Forschung massiv kritisierte. Andrew Ross (1996) spricht hier von science wars. Auf der einen Seite wurde quantitativ-naturwissenschaftliches Denken prinzipiell infrage gestellt. Ross nennt die Werturteilsdebatte, den Nachweis des Einflusses von Erkenntnisinteressen auf die Forschung, die Kritik feministischer Wissenschaft, den Einfluss der Wirtschaft auf die Forschung sowie die Kritik eines überzogenen Objektivitätsanspruchs. Auch Bammé (2004) spricht von einer Demontage der Naturwissenschaften. Betrugsfälle, Schlampereien, Naturwissenschaft als „Show“ und Medienspektakel hätten ebenso wie Schwächen des angeblich harten Peer-Review-Verfahrens zur Beurteilung der Wissenschaftlichkeit zu einer Entwertung akademischer Wissenschaft (science) geführt und ein postakademisches Wissenschaftsverständnis (Ziman 2002) entstehen lassen. Auf der anderen Seite wurde auf Wissenschaftsstandards beharrt, von zu „weicher“ Methodik der qualitativen Forschung gesprochen und der Weg zu staatlichen Drittmitteln in der Forschungsförderung versperrt. In der Auflösung dieser science wars wurden zwei Wege begangen: zum einen die Entwicklung von Ansätzen einer mixed methodology, die qualitative und quantitative Analyseschritte verbindet (s. Abschn. 4); zum anderen die Suche nach allgemeinen, qualitative und quantitative Forschung umfassenden Wissenschaftsstandards, nach einem gemeinsamen Forschungsdesign. An diese Bemühungen soll hier angeknüpft werden.
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Ein globales Untersuchungsdesign für qualitativ (und quantitativ) orientierte Forschung
Bereits 1994 haben die Politologen King, Keohane und Verba herausgearbeitet, dass auch qualitative Forschung einen einheitlichen methodologischen Ansatz benötige. Qualitative und quantitative Forschung seien zwei unterschiedliche Wissenschaftsstile, sie folgten aber einer gleichen Logik der Schlussfolgerung; die Unterschiede seien „methodological and substantively unimportant“ (King et al. 1994, S. 4). Ziel seien beschreibende oder erklärende Schlussfolgerungen auf empirischer Basis, um Theorie weiterzuentwickeln. Dieser Standpunkt wurde heftig diskutiert (Brady und Collier 2004). In der amerikanischen erziehungswissenschaftlichen Forschung, in der die qualitativ orientierten Ansätze besonders stark waren, aber nicht völlige Anerkennung erreichten, bemühte sich das National Research Council (2002) um die Entwicklung eines Minimaldesigns, das auch für qualitative Forschung gelten kann. Ein Expert/innenkomitee legte einen Ablaufplan systematischer Schritte im Forschungsprozess fest, der auf ein solches allgemeines Design zielt (National Research Council 2002):
Qualitative Forschungsdesigns
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1. 2. 3. 4.
Stelle bedeutsame Forschungsfragen, die empirisch beantwortbar sind! Knüpfe an die einschlägige Theorie, den Forschungsstand an! Setze Methoden ein, die eine direkte Untersuchung der Forschungsfrage erlauben! Verbinde die Forschungsschritte in einer expliziten und kohärenten logischen Folge! 5. Repliziere und generalisiere über verschiedene Studien hinweg! 6. Veröffentliche die Studie, um professionelle Überprüfung und Kritik zu ermöglichen! Das Komitee geht dabei davon aus, dass es verschiedene Forschungstypen gibt (nicht nur experimentelle Designs), die dieses Kriterien erfüllen können. Auch Flick (2002) stellt ein ähnliches allgemeines Forschungsdesign auf, auch wenn er die quantitativ orientierte Forschungslogik zunächst als linear kritisiert (Abb. 1). Hier einen Gegensatz zu konstruieren, greift aber meiner Meinung nach zu kurz. Natürlich will auch quantitative Forschung Theoriebildung aus dem Material weiterbringen im Sinne der Erweiterung des Forschungsstandes. Insofern ist auch quantitativ-naturwissenschaftliche Forschung zirkulär. Der quantitativ-naturwissenschaftlich orientierte Rainer Leonhart (2008) nennt dies den wissenschaftlichen Zirkel (auch wenn ich mit seinen weiteren wissenschaftstheoretischen Grundannahmen nicht immer mitgehen kann). Aufseiten der qualitativ orientierten Forscher/innen hat Maxwell (1996) das Forschungsdesign in Begriffen eines Netzwerkes verschiedener Elemente gefasst,
lineares Modell des Forschungsprozesses
Theorie
Operationalisierung
Hypothesen
Stichprobe
Überprüfung
Auswertung
Erhebung
Vergleich zirkuläres Modell des Forschungsprozesses
Vorannahmen
Erhebung
Erhebung
Auswertung
Auswertung
Theorie
Fall
Fall Sampling Sampling Vergleich
Vergleich Erhebung
Auswertung
Fall
Abb. 1 Quantitatives und qualitatives Forschungsdesign (Flick 2002, S. 73)
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die um die zentrale Forschungsfrage angesiedelt sind. Die Interaktivität der Modellelemente entspricht der oben genannten Zirkularität. Er nennt als Designelemente: • • • • •
Ziele des Forschungsprogramms (purposes), Theoriehintergrund (conceptual context), Forschungsfragestellung, Methoden und Gültigkeit der Ergebnisse.
Ich möchte versuchen, dies in einem allgemeinen Grunddesign zu veranschaulichen. Dabei knüpfe ich an den zentralen Stationen des Forschungsprozesses an, wie sie in quantitativ orientierter Methodenliteratur postuliert werden, erweitere sie so, dass auch qualitativ orientiere Forschung einbeziehbar ist (in Abb. 2 kursiv) und füge die für qualitative Forschung wichtigen Rückkopplungsschleifen ein (s. auch Mayring 2001).
1.Explikation und Spezifizierung der Fragestellung Relevanz, Problembezug der Fragestellung, Hypothesen oder offene Fragestellung
2.Explikation des Theoriehintergrunds Stand der Forschung, Theorieansatz Vorverständnis
3.Empirische Basis Beschreibung der Stichprobe, des Einzelfalls Beschreibung des Materials, der Materialauswahl
4.Methodischer Ansatz Erhebungs-, Aufbereitungs-, Auswertungsverfahren; Begründung der Verfahren; standardisiert oder bei neuen Instrumenten durch Pilotstudie getestet
5.Ergebnisse Darstellung, Zusammenfassung, Analyse Rückbezug auf Hypothesen
6.Schlussfolgerungen Gütekriterien, Relevanz der Ergebnisse
bzw. Fragestellung
Verallgemeinerbarkeit (worauf?)
Abb. 2 Allgemeines Grunddesign qualitativer (und quantitativer) Forschung (Mayring 2001, erweitert)
Qualitative Forschungsdesigns
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An zwei Stellen gibt es also Rückkoppelungsschleifen. In der ersten werden die jeweiligen Ergebnisse auf die Fragestellung der Studie, des Projekts, bezogen. Es wird überprüft, inwieweit die Fragen beantwortet wurden. Wenn, wie ich es vorgeschlagen habe (Mayring 2001), die Fragestellung nicht immer in Hypothesenform gefasst sein muss, sondern auch in vageren Vorannahmen zur Thematik der Studie bestehen kann, so wäre diese Rückkoppelungsschleife eine Weiterentwicklung des Vorverständnisses (auch im Sinne des hermeneutischen Zirkels in der Interpretationslehre, s. Fahrenberg 2002), eine Weiterentwicklung der Vorannahmen. Hier sind auch mehrere zirkuläre Durchläufe denkbar. In einer zweiten Rückkoppelungsschleife werden die verallgemeinerten Ergebnisse an den Forschungs- und Theoriestand angebunden, führen zu einer Erweiterung, Modifizierung und in aller Regel zur Formulierung weiterer Forschungsfragen, die in der gleichen Studie oder in nachfolgenden Projekten bearbeitet werden können. Im vierten Schritt des Grunddesigns (Abb. 2) steckt ein weiterer Zirkelprozess. Insofern im Forschungsprozess nicht auf standardisierte Instrumente zurückgegriffen wird, sondern eigene Methodenansätze (offener Fragebogen, Interview- oder Beobachtungsleitfaden, Auswertungskategorien) entwickelt werden, müssen sie in Pilotstudien so lange getestet werden, bis sie sich hinreichend bewähren. Gerade „in dieser Zirkularität [liegt] eine Stärke des Ansatzes, da sie – zumindest, wenn sie konsequent angewendet wird – zu einer permanenten Reflexion des gesamten Forschungsvorgehens und seiner Teilschritte im Licht der anderen Schritte zwingt“ (Flick 2002, S. 72).
3
Differenzierung konkreter qualitativ orientierter Forschungsdesigns
Neben der Aufstellung eines allgemeinen Designs lassen sich weiter spezielle Untersuchungsdesigns für qualitative (und ebenso für quantitative) Forschung differenzieren (Mayring 2015). Auch hier wird wieder der Gedanke verfolgt, dass mit der Festlegung eines speziellen Designs ein verbindlicher Ablaufplan vorab bestimmt wird (auch wenn Modifizierungen oder nicht-lineare Elemente enthalten sein mögen), um die Systematik, den Rekurs auf methodische Vorerfahrungen und die Überprüfbarkeit zu verbessern. In der Methodenliteratur werden verschiedene Untersuchungspläne diskutiert. Experiment, Korrelationsstudie, Feldstudie, Evaluationsstudie, Längsschnittstudie, Sekundäranalyse oder (Einzel-)Fallanalyse sind solche Designbezeichnungen: Im Experiment wird versucht, einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen zwei Variablen zu überprüfen, indem eine Variable experimentell variiert wird und die Auswirkungen auf die zweite Variable registriert werden. Im quantitativen Paradigma, besonders in der Psychologie, wird das Experiment als zentralstes Design bezeichnet, aber auch qualitative experimentelle Designs (s. Abschn. 3.4) wurden beschrieben. In der Korrelationsstudie werden zwei Variablen in messbare Größen operationalisiert, an einer Stichprobe Daten dazu erhoben, und der Variablenzusammenhang wird mit statistischen Verfahren errechnet. Auch dieses Design ist eher
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dem quantitativen Ansatz zuzuordnen, wenn auch Zusammenhangsanalysen nicht nur durch Korrelationen, sondern auch qualitative Vergleichsstudien eruierbar sind (s. Abschn. 3.2). Die Feldstudie will zur Beantwortung ihrer Fragestellung nicht in künstlichen Laborsituationen forschen, sondern in die natürliche Umwelt, die Alltagssituationen von Menschen gehen. Sie ist eher dem qualitativen Paradigma zuzuordnen, wenn auch beispielsweise quantitative Feldexperimente oder Feldbeobachtungsstudien als Design konzipiert wurden. Evaluationsstudien wollen Maßnahmen oder Interventionen (innerhalb der Psychologie beispielsweise Therapieansätze) mit empirischen Forschungsmethoden einschätzen und bewerten (Döring und Bortz 2016), haben aber von Beginn an qualitative und quantitative Ansätze entwickelt. In Längsschnittstudien werden Verläufe mit mehreren Erhebungszeitpunkten der gleichen Personen erhoben, oft quantitativ als Veränderungen von quantitativen Variablenausprägungen, aber auch qualitativ als offene Beschreibung von Veränderungsprozessen. Sekundäranalysen greifen auf vorliegende Daten zurück und werten sie unter veränderter Fragestellung aus; hier zeichnet sich nachdem primär im quantitativen Paradigma darauf rekurriert wurde ab, die Re- und Sekundäranalyse für qualitative Daten fruchtbar zu machen (Witzel et al. 2008). Auch MixedMethods-Ansätze sind hier zu nennen, in denen qualitative und quantitative Vorgehensweisen kombiniert und integriert werden können. Es zeigt sich also, dass das Design die grundsätzliche Herangehensweise definiert, noch ohne die ganz konkret angewendeten Methoden vorzuschreiben. Zu den einzelnen Designs gibt es zwar mehr oder weniger gut passende Methoden, es bedeutet aber einen eigenen Schritt in der Untersuchungsplanung, die das Design ausfüllenden Methoden zu bestimmen, und hier sind oft unterschiedliche Lösungen möglich. So sind in einem Experiment zur Datenerhebung qualitative Beobachtungsmethoden genauso wie Tests einsetzbar, Material aus einer Feldstudie ist statistisch wie auch interpretativ auswertbar. Im Rahmen eines Forschungsdesigns sind die Phasen der Datenerhebung und Datenauswertung in die Untersuchungslogik und den Studienablauf eingebaut, aber die Art der Methoden ist noch nicht festgelegt. Das Design ist damit den Methoden vorgeordnet. Design ist der grundsätzliche Untersuchungsplan, konkrete Methoden füllen diesen aus. Und beide hängen von der Fragestellung ab, versuchen die Fragestellung umzusetzen in konkretes Forschungsvorgehen. Versucht man nun, solche spezifischen Forschungsdesigns näher zu systematisieren, so kommt man zu vier grundsätzlichen Vorgehensweisen in der Verfolgung der wissenschaftlichen Fragestellung: Exploration, Deskription, Zusammenhangsanalyse und Kausalanalyse (Mayring 2007; s. Abb. 3). Grundgedanke explorativer Studien ist, dass man dem Forschungsgegenstand möglichst nahe kommen will, um zu neuen, differenzierten Fragestellungen und Hypothesen zu gelangen. Deskriptive Studien wollen den Gegenstandsbereich möglichst genau und umfassend beschreiben. Zusammenhangsanalysen greifen einzelne Variablen aus dem Gegenstandsbereich heraus und untersuchen, ob diese Variablen in Verbindung stehen. Kausalanalysen verschärfen diese Fragerichtung, indem sie untersuchen, ob ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Variablen besteht. In quantitativ-naturwissenschaftlich orientierter Forschung werden solche Untersuchungspläne gerne in eine Hierarchie gebracht und explorative bzw. deskriptive
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Explorative Designs
Deskriptive Designs
Zusammenhangsanalysen
Kausalanalysen
Abb. 3 Vier spezifische Forschungsdesigns (Mayring 2007)
Studien als Voruntersuchungen bezeichnet. Schon Popper (1935) hat auf einer Trennung des Entdeckungszusammenhangs (vorwissenschaftlich) und des Begründungszusammenhangs (eigentliche Forschung) beharrt. Auch wird auf die Kausalanalyse, speziell das experimentelle Design, immer wieder als „Krone“ der Forschung hingewiesen (z. B. Döring und Bortz 2016). Demgegenüber wird hier die Meinung vertreten, dass die vier Grunddesigns (Exploration, Deskription, Zusammenhangs- und Kausalanalyse) gleichberechtigte Ansätze der Untersuchungsplanung darstellen (die alle wiederum mit qualitativ orientierten oder auch quantitativ orientierten Ansätzen angehbar sind, s. Mayring 2007). Sie alle verfolgen eine Fragestellung, die je nach Stand der Forschung unterschiedlich präzise oder allgemein formulierbar ist. Ein Design (z. B. explorative Studie) kann die Verfolgung eines zweiten Designs (z. B. Zusammenhangsanalyse) nach sich ziehen oder gar notwendig machen. Da es nicht möglich ist, mit einer Studie einen Fragenkomplex abschließend zu beantworten, sind solche Designkombinationen durchaus die Regel, was aber nicht bedeutet, dass die erste Studie (z. B. die explorative) weniger wissenschaftlich oder prinzipiell defizitär wäre. Ich möchte nun auf die vier Grunddesigns spezieller Untersuchungsplanung eingehen und dabei besonders qualitativ orientierte Ansätze herausarbeiten.
3.1
Exploratives Design
Explorative Studien sind zunächst ein typischer Bereich qualitativ orientierter Forschung. Explorative Feldforschung, Grounded-Theory-Methodologie oder explorative Fallanalysen stehen hier im Zentrum. Nicht vergessen werden darf dabei, dass auch quantitative Forschung explorative Ansätze hervorgebracht hat: Die explorative Datenanalyse ist ein Ansatz, der durch nicht hypothesengeleitete, erste offene Analysen den Datensatz näher erfassen will, vor allem um mit grafischer Veranschaulichung der Datenverteilung zu Hypothesen zu gelangen (z. B. Schäfer 2009). Faktorenanalysen können explorativ eingesetzt werden und führen zu Dimensionen (wenn die Faktoren interpretiert werden), die vorher nicht bekannt waren. Und
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selbstverständlich sind hier auch Pilotstudien für quantitativ orientierte Studien zu nennen (z. B. offene Interviews, um zur Konstruktion eines Fragebogens zu gelangen). In diese Richtung hat auch Barney Glaser (2008) einen Ansatz quantitativer Grounded Theory entwickelt. Das zentrale Element explorativer Studien ist, dass der Forschungsstand zum Gegenstand noch so rudimentär ist, dass keine präzisen Fragestellungen, Beschreibungsdimensionen oder Hypothesen formulierbar sind. Dies kann daran liegen, dass der Bereich Neuland darstellt (beispielsweise die Studien zu Obdachlosen, Prostituierten, Wilderern oder Hochadel von Roland Girtler 2001), es kann sich aber auch um ein Gegenstandsgebiet handeln, das dem sozialen Wandel stark unterliegt und somit immer neuer Ansätze bedarf (Beispiel Jugendforschung). Deshalb stellt sich hier die Fragestellung als relativ offen dar, begründet durch Lücken des Forschungsstandes (s. den Startpunkt in Abb. 4). Explorative Studien sind in der Regel den Feldstudien zuzuordnen (Lüders 2005; Patry 1982). Dabei ist es wichtig, vorab festzulegen, welcher Praxisbereich sich für die Feldphase eignet bzw. als ergiebig erscheint. Auch muss geklärt werden, wie der Feldzugang für die Wissenschaftler/innen gesichert werden kann. Man wird eine Abmachung mit den Personen im Feld treffen, zu welchen Alltagssituationen Zugang gewährt wird und was die Rolle der Wissenschaftler/innen im Feld ist. Die konkreten Methoden werden in aller Regel teilnehmende Beobachtung und offene Interviewformen sein. Dafür sollten Beobachtungs- bzw. Interviewleitfäden entwickelt und ggf. vorab pilotgetestet werden. Die Feldphase selbst sollte ausführlich und intensiv genug sein, um sich einer Innenperspektive soweit möglich anzunähern. Die Materialien sollten systematisch gesammelt, Feldnotizen und Protokolle angelegt werden (Reichertz 2016). Girtler (2001) schlägt hier das Führen eines Forschungstagebuches vor. Mit diesem Material werden dann in der Regel auf induktivem bzw. abduktivem Wege Auswertungen vorgenommen, Hypothesen und neue Fragestellungen abgeleitet. Abb. 4 fasst das Vorgehen zusammen. Hier wird auch wieder der zirkuläre Charakter offensichtlich, da die Ergebnisse der explorativen Studie an den Forschungsstand angebunden werden und zu neuen Durchläufen führen können.
3.2
Deskriptives Design
Deskriptive Studien gehören ebenfalls zum typischen Bereich qualitativ orientierter Projekte (deskriptive Feldforschung, Ethnografie, deskriptive Fallanalysen, zum Teil phänomenologische Studien). Aber auch hier finden sich wieder quantitativ orientierte Designformen (Surveyforschung, Fragebogenerhebungen oder standardisierte Interviews an repräsentativen Stichproben). Qualitativ orientierte deskriptive Studien orientieren sich dagegen an der offenen Feldforschung, wie sie oben bereits für explorative Designs kurz skizziert wurde. Der entscheidende Unterschied ist, dass für deskriptive Studien Beschreibungsdimensionen bereits vorliegen müssen. Denn eine völlig offene Beschreibung ist nicht möglich. Diese Beschreibungsdimensionen werden in der Regel die Form von
Qualitative Forschungsdesigns
Offene Fragestellung, Zielfestlegung
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Stand der Forschung, Begründung aus Forschungslücken
Feldbestimmung, Feldskizzierung, Feldzugang klären
Folgestudien deskriptiver, zusammenhangs- oder kausalanalytischer Art
Methodenauswahl, -konstruktion, ev. Pilotphase
Feldaufenthalt Protokollierung, Materialsammlung
Induktive Auswertung, Gewinnung von Beschreibungsdimensionen, Hypothesenformulierung, Grounded-TheoryMethodologie, neue Fragestellungen Abb. 4 Ablaufmodell exploratives Design
(in qualitativ orientierten Studien kategorialen) Variablen annehmen. Hier sind Vorgänge der Operationalisierung, also der Überlegung, wie die Beschreibungsdimensionen methodisch erfassbar sind, abzuwägen. Typisch für qualitativ orientierte deskriptive Studien ist, dass sie multimethodisch vorgehen, den Beschreibungsgegenstand also aus verschiedenen Richtungen anzugehen versuchen. Solche Studien können auch in der Form deskriptiver Einzelfalldarstellungen konzipiert werden. Daraus ergibt sich das Ablaufmodell in Abb. 5.
3.3
Zusammenhangsanalysedesign
Zusammenhangsanalysen in Form von Korrelationsstudien gehören wiederum zu den häufigsten Untersuchungsformen in quantitativ orientierten Bereichen. Solche Studien können jedoch auch qualitativ orientiert angelegt sein. Innerhalb einer
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P. Mayring
Abb. 5 Ablaufmodell deskriptives Design
Deskriptive Fragestellung
Ggf. Zusammenhangsanalysen
Festlegung der Beschreibungsdimensionen
Festlegung des Beschreibungsfeldes
Operationalisierung Methodenzusammenstellung
Studiendurchführung
Auswertung
Fallstudie werden systematische Einzelfallvergleiche durchgeführt und dabei die Fälle nach einer Gruppierungsvariable ausgewählt (z. B. gute Schüler/innen – schwache Schüler/innen; Stadt – Land). Hier und im Folgenden wird der Variablenbegriff in einem breiten Sinn verwendet, nicht nur auf quantitative Ausprägungen beschränkt (z. B. kategoriale Variablen). Oder es wird innerhalb einer qualitativ orientierten Studie nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden gesucht, und die Unterschiede werden auf eine Variable zurückgeführt, die dann einen Variablenzusammenhang formulieren lässt. Kulturvergleichende Studien wären ein weiteres Beispiel qualitativ orientierter Zusammenhangsanalysen. Längsschnittstudien analysieren den Zusammenhang zur Altersvariablen. Auch dies lässt sich qualitativ orientiert, einzelfallbezogen, darstellen. Für das konkrete Vorgehen einer Zusammenhangsanalyse ist es notwendig, den Zusammenhang in Form von (kategorialen oder quantitativen) Variablen zu benennen und wiederum wie bei den deskriptiven Studien Überlegungen zur Variablenoperationalisierung anzustellen.
3.4
Kausalanalytisches Design
Kausalanalysen werden traditionell über das experimentelle Design dem quantitativen Paradigma zugeordnet. Aber vor allem Kleining (1986) hat darauf hingewiesen, dass es auch qualitative Experimente als Forschungsdesign gibt. Hier wird systematisch in ein bestehendes System eingegriffen, und die Veränderungen werden beschrieben. Diese qualitativ-experimentellen Eingriffe können Separationen/Segmentierungen von Gegenstandsaspekten, Kombinationen, Reduktionen, Adjektionen, Substitutio-
Qualitative Forschungsdesigns
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nen oder Transformationen umfassen. Auch Einzelfallanalysen lassen sich kausalanalytisch anlegen. Dazu werden auf der Fallbasis Daten zu verschiedenen Zeitpunkten unter „Versuchsbedingungen“ und „Kontrollbedingungen“ erhoben (Julius et al. 2000). Biografieanalysen können ebenso Material liefern, das unter Einzelfallbedingungen kausal interpretierbar ist. Aktionsforschung schließlich hat auch das Ziel, neben der Problemlösung generalisierbares Interventionswissen in Bezug auf ähnliche Probleme zu schaffen, und diese gefundenen Interventionsstrategien sind dann kausaler Natur. Kausalanalysen, auch qualitativ orientierte, brauchen die Benennung von Variablen, die Einteilung dieser Variablen in Ursachen- und Folgevariablen (unabhängige Variablen, abhängige Variablen), die Operationalisierung dieser Variablen sowie die Einfügung in ein kausalanalytisches Design. Neben diesen vier Grunddesigns sind natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Designs aufzuführen (z. B. Dokumentenanalysen, Fallanalysen, Evaluationsstudien), die allerdings jeweils explorativen, deskriptiven, zusammenhangs- oder kausalanalytischen Charakter haben können.
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Ich habe in diesem Beitrag versucht, die Bedeutung genauer Untersuchungsplanung für qualitativ orientierte Forschung herauszuarbeiten. Dadurch kann die Vorgehensweise intersubjektiv nachprüfbar werden. Man kann an methodische Vorerfahrungen anknüpfen, da in den eingeführten Forschungsdesigns bewährte Verfahren beschrieben werden, und so den wissenschaftlichen Status der Studie verbessern. Ich wollte dies auf zwei Ebenen zeigen: Einmal wurde ein allgemeines Ablaufmodell als Grunddesign formuliert. Hier war es wichtig, den zirkulären Charakter herauszuarbeiten. Zum anderen wurden spezifische qualitativ orientierte Designs unterschieden. Dabei wurden nicht nur typische qualitative Untersuchungspläne wie explorative und deskriptive Studien angeführt, sondern auch qualitative Zusammenhangs- und Kausalanalysen. Es wurde versucht, für diese Studientypen Ablaufpläne vorzustellen, die dadurch wieder den Designcharakter verdeutlichen. Natürlich ist es auch möglich, solche Designs im Sinne einer Designtriangulation (Flick 2004) oder mixed methodology (Mayring et al. 2007; Tashakkori und Teddlie 2003) zu kombinieren oder zu integrieren. Dabei ist durchaus ein linearer Aufbau, von explorativen über deskriptiven hin zu zusammenhangsanalytischen und kausalanalytischen Studien denkbar; aber auch Querverbindungen sind möglich. Die große Gefahr, die ich sehe, ist, dass sich qualitative Ansätze auf ganz offenes, exploratives Vorgehen beschränken, auch wenn auf diesem Gebiet immer wieder besondere Leistungen zu verzeichnen sind. Mit einer solchen Beschränkung wäre qualitativ arbeitende Wissenschaft aber immer angewiesen auf nachfolgende Überprüfung. Nur wenn durch genaue Untersuchungsplanung gezeigt werden kann, dass auch Zusammenhangsanalysen und Kausalanalysen qualitativ methodisch angegangen werden können, können solche Ansätze auch in Bereichen Berücksichtigung finden, in denen bisher quantitatives Forschen die Regel war, und das gilt für einen Großteil der Psychologie.
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P. Mayring
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Fallauswahl Margrit Schreier
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Gerade angesichts der meist kleinen Fallzahlen in der qualitativ-psychologischen Forschung ist eine reflektierte und bewusste Stichprobenziehung bzw. Fallauswahl hier von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zur quantitativen Forschung wird dabei meist keine empirisch-statistische Verallgemeinerung auf ein Kollektiv angestrebt, sondern eine differenzierte Beschreibung weniger Fälle. In dem vorliegenden Beitrag werden zunächst die unterschiedlichen Grundannahmen genauer dargestellt, die der Stichprobenziehung in der quantitativen und in der qualitativen Forschungstradition zugrunde liegen, um so zu einem besseren Verständnis der Forschungslogik bei der bewussten Stichprobenziehung zu gelangen. Uneinigkeit besteht in der qualitativen Forschung allerdings hinsichtlich der Frage, inwiefern die Stichprobengröße von Bedeutung ist, wie groß die Stichprobe im Rahmen verschiedener qualitativer Forschungsansätze jeweils sein sollte und inwieweit eine Vorab-Festlegung einer konkreten Stichprobengröße sinnvoll ist. Die unterschiedlichen Positionen zu diesen Fragen werden kurz zusammengefasst. Daran schließt sich ein Überblick zu Strategien der bewussten Fallauswahl an. Einzelne, in der Forschungspraxis besonders relevante Strategien wie die theoretische Stichprobenziehung, der qualitative Stichprobenplan und die M. Schreier (*) Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_19
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Auswahl bestimmter Arten von Fällen werden weiterhin an Hand von Untersuchungsbeispielen verdeutlicht. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Möglichkeiten der Verallgemeinerung in der qualitativen Forschung unter Nutzung von Alternativkonzepten zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung, wie beispielsweise die theoretische Verallgemeinerung oder die Übertragbarkeit von Ergebnissen. Schlüsselwörter
Fallauswahl Bewusste Stichprobenziehung Absichtsvolle Stichprobenziehung Theoretische Stichprobenziehung Sättigung
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Einleitung
Qualitativ-psychologische Forscher/innen finden sich, ebenso wie quantitative Forscher/innen, meist in der Situation, dass es nicht möglich ist, alle relevanten Fälle in die Untersuchung einzubeziehen. Clara und William Stern (1928 [1907]) hätten für ihre Studien zur kindlichen Sprachentwicklung potenziell viele Kinder einbeziehen können – und beschränkten sich doch auf ihre eigenen drei. Murray (1938) hätte für die Entwicklung seiner Persönlichkeitspsychologie ebenfalls Hunderte von Personen untersuchen können, konzentrierte sich aber auf 50 Collegestudent/innen (was für eine qualitative Studie eine recht große Stichprobe darstellt, nicht zuletzt angesichts der Vielzahl der Informationen, die für jede Person erhoben wurden). Auch in gegenwärtigen qualitativ-psychologischen Untersuchungen sind kleine Fallzahlen eher die Regel als die Ausnahme – das ergibt sich schon aus der Zielsetzung, detaillierte und in die Tiefe gehende Analysen der ausgewählten Fälle vorzunehmen: Je mehr Details, desto geringer notwendiger Weise die Anzahl der Fälle (Crouch und McKenzie 2006; Sandelowski 1995). Angesichts dessen, dass die Fallzahl in der qualitativen Psychologie also begrenzt ist, könnte vermutet werden, dass diese wenigen Fälle umso sorgfältiger ausgewählt werden, dass dem Thema der Fallauswahl in der methodologischen Literatur somit ein hoher Stellenwert zukommt. Lange Zeit wurde das Thema in den qualitativen Sozialwissenschaften jedoch eher vernachlässigt (Higginbottom 2004; Onwuegbuzie und Leech 2007; Robinson 2014), und es finden sich lediglich verstreute Beiträge (u. a. Marshall 1996; Mason 2017, Kap. 3; Morse 1995; Sandelowski 1995; Tuckett 2004). Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Das mag daran liegen, dass „Fallauswahl“ allzu sehr nach „Stichprobenziehung“ klingt und Assoziationen an quantitative Sozialforschung mit großer Fallzahl und der Zielsetzung statistischer Verallgemeinerung weckt. So liegt möglicherweise der (Fehl-)Schluss nahe, dass Überlegungen zur Entscheidung über einzubeziehende Fälle in der qualitativen Psychologie nicht angebracht sind. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren findet dagegen eine zwar weiterhin verhaltene, aber dennoch zunehmende Auseinandersetzung mit der Thematik statt (etwa zur Frage der optimalen Stichprobengröße: z. B. Baker und
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Edwards 2012; Trotter 2012). Dies zeigt sich beispielsweise am Erscheinen einer ersten Monografie speziell zu diesem Thema (Emmel 2013), am vermehrten Erscheinen von (Handbuch-)Artikeln (z. B. Akremi 2019; Boehnke et al. 2010; Gentles und Vilches 2017; Rapley 2013; Schreier 2011, 2017) sowie an einer Proliferation von Strategien qualitativer Fallauswahl. So führte Patton in der dritten Ausgabe seines Lehrbuchs zur qualitativen Forschung und Evaluation 14 Strategien bewusster Fallauswahl auf (Patton 2002). In der neuesten Ausgabe von 2015 beschreibt er dagegen 40 Strategien, in Abhängigkeit von der Zielsetzung in acht Gruppen untergliedert (Patton 2015, Kap. 5). Auch im Kontext von Mixed Methods (Creswell 2015) werden qualitative Strategien der bewussten Fallauswahl zunehmend aufgeführt und hinsichtlich ihrer Anwendungsbedingungen diskutiert (z. B. Teddlie und Yu 2007). Eine Alternative zum potenziell problematischen Begriff der Stichprobenziehung stellt das Konzept der Fallauswahl dar, das seinen Ursprung in der Fallstudie hat (im Überblick: Stake 1995; Yin 2018). Diese hat in der Psychologie eine lange Tradition, insbesondere in der Psychotherapieforschung: Schon Freud veröffentlichte insgesamt sechs Fallstudien, gefolgt von Adler, Dollard und Miller und vielen anderen (im Überblick: David 2007; Frommer und Langenbach 1998). Auch in der Allgemeinen (vgl. Ebbinghaus’ Selbstversuche zu Lernen und Vergessen: 1992 [1885]), der Entwicklungs- (s. oben das Beispiel der Sterns, ebenso z. B. Piaget 1954, 2003; im Überblick: Mey und Wenglorz 2005), der Persönlichkeits- (s. oben zu Murray), der Forensischen (z. B. Healey und Bronners Lebensberichte von 20 jugendlichen Delinquenten: 1926) und der Politischen Psychologie (vgl. z. B. die sog. Psychobiografik zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Lebenslauf von Politiker/innen und Führungsstil: Winter 2003) findet die Fallstudie Anwendung, und in jüngerer Zeit ist Oliver Sacks (z. B. 2009) mit seinen neuropsychologischen Fallstudien über fachwissenschaftliche Kreise hinaus bekannt bzw. populär geworden. Mit diesem Vorgehen steht er zugleich in der Tradition von Lurija und dessen Projekt einer „Romantischen Wissenschaft“ (vgl. den Fall des Manns, dessen Welt in Scherben ging: 1991 [1971]; zum Projekt der Romantischen Wissenschaft im Überblick Kölbl 2005). In diesem Beitrag werden die Begriffe der (bewussten) Fallauswahl und (bewussten) Stichprobenziehung synonym im Sinne einer Auswahl von Untersuchungseinheiten verwendet. Mit der Rede von der „Stichprobe“ verbinden sich dabei keine Assoziationen mit der quantitativen Forschungstradition; mit der Verwendung des Begriffs ist also nicht gemeint, dass beispielsweise eine repräsentative Stichprobe angestrebt wird. Zugleich ist der Begriff der Fallauswahl hier aus dem Kontext der Fallstudie herausgelöst. Wenn im Folgenden von „Fallauswahl“ die Rede ist, ist also beispielsweise nicht impliziert, dass die Untersuchungseinheiten eine bestimmte interne Struktur aufweisen sollten, dass mehrere Verfahren der Datenerhebung zur Anwendung kommen o. ä. (Yin 2018, Kap. 1). In qualitativ-psychologischen Untersuchungen stellen meist Personen die Fälle oder Untersuchungseinheiten dar. Es können aber auch Familien, Gruppen, Organisationen usw. die Untersuchungseinheiten sein (Mey und Wenglorz 2005, Abschn. 2.1). Im Folgenden werden zunächst die Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung im Vergleich zu den Annahmen und Zielsetzungen der
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Stichprobenziehung in der quantitativen Forschung beschrieben. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Frage nach der optimalen Fallzahl bzw. Stichprobengröße und damit zusammenhängend auf das Kriterium der Sättigung eingegangen. Daran schließen sich Darstellungen einiger ausgewählter Strategien qualitativer Fallauswahl an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Auswahl der Fälle, nicht auf anderen Aspekten des Vorgehens im Untersuchungsverlauf (wie etwa der Auswahl des Materials für die Auswertung oder die Ergebnisdarstellung), die vereinzelt ebenfalls dem Thema der Stichprobenziehung in der qualitativen Forschung zugeordnet werden (Akremi 2019; Merkens 2005).
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Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung
2.1
Zufallsstichproben und ihre Funktion in der empirischen Sozialforschung
In der quantitativen Sozialforschung geht es häufig darum, die Verteilung eines Merkmals in der Grundgesamtheit zu ermitteln. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn untersucht wird, bei wie vielen Jugendlichen sich rechtsextreme Denkweisen finden oder welche Stimmenanteile auf die verschiedenen Parteien entfallen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. Dabei werden die jeweils relevanten Merkmale für eine Stichprobe von Personen erhoben, und von der Verteilung des Merkmals in der Stichprobe wird auf seine Verteilung in der Grundgesamtheit geschlossen; dies wird auch als statistische Verallgemeinerung bezeichnet (im Überblick Dieckmann 2007, Kap. IX). Wie gut eine solche Verallgemeinerung „funktioniert“, hängt ganz wesentlich davon ab, wie gut die Stichprobe die Grundgesamtheit abbildet. Um die Repräsentativität der Stichprobe sicherzustellen, wird in der quantitativen Sozialforschung meist mit sog. probabilistischen Verfahren der Stichprobenziehung bzw. mit Zufallsstichproben gearbeitet. Diese sind darüber definiert, dass jedes Element aus der Grundgesamtheit dieselbe (und von 0 verschiedene) Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe aufgenommen zu werden. Eine solche Stichprobe wird realisiert, indem aus der Grundgesamtheit nach einem Zufallsprinzip die erforderliche Anzahl von Untersuchungseinheiten ausgewählt wird. Untersuchungen aus der qualitativen Sozialforschung, die nicht mit Zufallsstichproben arbeiten, werden häufig kritisiert, weil sie nicht repräsentativ seien und keine Verallgemeinerung erlaubten (zusammenfassend David 2007). Diese Kritik kann zwar angemessen sein; vielfach ist sie es aber nicht, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen (Gobo 2006; s. auch Becker 1998, Kap. 3). Erstens wird in dieser Kritik unterstellt, dass die Repräsentativität der Stichprobe für eine Grundgesamtheit grundsätzlich anzustreben und Ziel jeder Fallauswahl sein sollte. Das gilt aber keineswegs generell: Repräsentativität ist immer dann wesentlich, wenn von der Verteilung eines Merkmals in der Stichprobe auf die Verteilung dieses Merkmals in der Grundgesamtheit geschlossen werden soll. Es existieren aber
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durchaus auch andere Zielsetzungen empirischer Untersuchungen, bei denen die Repräsentativität der Stichprobe (zunächst) nicht von Bedeutung ist (s. auch Marshall 1996). Beispielsweise kann das Ziel einer Untersuchung darin bestehen, die verschiedenen Ausprägungen eines Phänomens aufzuzeigen oder ausgewählte Fälle im Detail zu beschreiben (s. Abschn. 3.2; Patton 2015, Kap. 5). Bei Lurijas Studie des Mannes, dessen Welt in Scherben ging, ist beispielsweise nicht die Repräsentativität des Falls das Kriterium, sondern die Besonderheit des Falls, dieses speziellen Menschen und seines Erlebens (eine sog. intrinsische Fallstudie; vgl. Stake 1995, S. 3). Zweitens werden bei der Kritik qualitativer Fallauswahl als „nicht repräsentativ“ Repräsentativität und Zufallsauswahl quasi in eins gesetzt: Es wird der Eindruck erweckt, als würde ein Zufallsverfahren bei der Stichprobenziehung die Repräsentativität der Stichprobe garantieren, und es wird impliziert, dass eine Zufallsstichprobe das einzige Mittel ist, um zu einer repräsentativen Stichprobe zu gelangen. Beides ist jedoch bei genauerem Hinsehen nicht zutreffend (Gobo 2006): Die Zufallsstichprobe ist ein Mittel, die Repräsentativität ein Ziel, und das eine ist nicht untrennbar mit dem anderen verbunden. Ob ein Zufallsverfahren auch tatsächlich zu einer repräsentativen Stichprobe führt, hängt vielmehr von bestimmten Voraussetzungen ab. So setzt eine echte Zufallsstichprobe voraus, dass die Untersuchungseinheiten aus einer Liste aller Einheiten in der Population ausgewählt werden (aus einer sog. „Urliste“), die aber häufig nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann. Wie wollte man beispielsweise eine Urliste aller jugendlichen Straftäter/innen erstellen? Oder aller Personen, die mindestens einmal im Leben eine depressive Phase durchlaufen haben? Außerdem muss die Stichprobe hinreichend groß sein: Es nützt auch die beste Urliste nichts, wenn daraus z. B. lediglich zehn Personen ausgewählt werden; die Wahrscheinlichkeit, dass sich in diesen zehn Personen die Verteilung eines Merkmals in der Grundgesamtheit widerspiegelt, ist ausgesprochen gering. Wird eine repräsentative Stichprobe angestrebt, ist wiederum die Zufallsstichprobe nicht das einzige Mittel zum Zweck. Gobo (2006) weist beispielsweise auf Alltagssituationen hin, in denen – und zwar durchaus berechtigt – ein einziger Fall als repräsentativ angesehen wird und aus ihm Schlüsse über die Grundgesamtheit gezogen werden: etwa beim Kochen von Nudeln. Auch hart gesottene quantitative Sozialwissenschaftler/innen werden in dieser Situation eine Nudel herausfischen und, wenn diese gar ist, sämtliche Nudeln im Topf auf den Tisch bringen. Ein – beliebiger – Fall ist hier in der Tat repräsentativ für die Grundgesamtheit, weil diese Grundgesamtheit homogen ist.
2.2
Absichtsvolle Stichprobenziehung und Kriterien der Fallauswahl
In der qualitativen Sozialforschung und der qualitativen Psychologie sind in aller Regel Fragestellungen von Interesse, bei denen es nicht um die Verteilung von Merkmalen und Merkmalsausprägungen in einer Grundgesamtheit geht. Entsprechend spielt die Repräsentativität der Stichprobe für die Grundgesamtheit in der qualitativen Psychologie auch seltener eine Rolle, und probabilistische Verfahren der Stichproben-
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ziehung kommen seltener zur Anwendung. Stattdessen wird mit Verfahren der absichtsvollen bzw. bewussten Stichprobenziehung (im Englischen: purposeful oder purposive sampling) bzw. der Auswahl informationshaltiger Fälle gearbeitet (im Überblick: Flick 2019, Kap. 12; Merkens 2005; Patton 2015, Kap. 5; Ritchie et al. 2014; Schreier 2013). Wie diese Begriffe schon implizieren, erfolgt die Fallauswahl dabei gerade nicht zufällig wie bei der Zufallsstichprobe oder willkürlich wie bei der willkürlichen Stichprobe, sondern gezielt, und zwar so, dass der Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Fragestellung möglichst hoch ist. Zu den Verfahren der absichtsvollen Stichprobenziehung zählen unter anderem: theoretische Stichprobenziehung, kriterienorientierte Stichprobenziehung, Fallauswahl auf der Grundlage qualitativer Stichprobenpläne, analytische Induktion, Auswahl extremer, typischer, abweichender, kritischer usw. Fälle, heterogene Stichprobenziehung, homogene Stichprobenziehung, Schneeballverfahren und andere mehr. Was allerdings unter einem informationshaltigen Fall zu verstehen ist, an welchen Kriterien sich die absichtsvolle Stichprobenziehung orientieren und welches Verfahren konkret zum Einsatz kommen sollte, hängt jeweils von der Fragestellung und der Zielsetzung der Untersuchung ab. Patton (2015) unterscheidet beispielsweise acht verschiedene Zielsetzungen, denen je unterschiedliche Strategien der absichtsvollen Stichprobenziehung zugeordnet sind (beispielsweise das vertiefte Verstehen eines Einzelfalls, die Erklärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die Beantwortung von Fragen, die sich im Forschungsprozess ergeben haben usw.: Patton 2015, Kap. 5). Im Folgenden werden einige Kriterien bzw. Zielsetzungen herausgegriffen, die in der qualitativen Psychologie von besonderer Bedeutung sind: die analytische bzw. theoretische Verallgemeinerung, das Aufzeigen des Allgemeinen im Individuellen, die Beschreibung eines Einzelfalls sowie das Aufzeigen der verschiedenen Manifestationsformen eines Phänomens. Das Kriterium der analytischen Verallgemeinerbarkeit greift bei Untersuchungen, mit denen das Ziel verfolgt wird, eine Theorie zu entwickeln, wie dies in der Tradition der Grounded-Theory-Methodologie oder auch beim qualitativen Experiment der Fall ist. Die Güte der Theorie hängt dabei wesentlich davon ab, in welchem Maß es gelingt, das interessierende Phänomen in all seinen Facetten und Bedingtheiten zu erfassen (s. Abschn. 3.2.1). Im Idealfall sind in der Theorie all jene Faktoren spezifiziert, die mit dem Phänomen in Zusammenhang stehen. Das Kriterium der theoretischen Verallgemeinerbarkeit liegt in erster Linie der theoretischen Stichprobenziehung und der maximalen strukturellen Variation zugrunde (ausführlich Emmel 2013, Kap. 1), aber auch die analytische Induktion und die Untersuchung kontrastierender Fälle lehnen sich an Überlegungen an, die mit dem Kriterium der theoretischen Verallgemeinerbarkeit in Zusammenhang stehen (Patton 2015, Modul 37). Ziel der analytischen Induktion ist es, gezielt Negativfälle auszuwählen, also solche Fälle, die zu einer Theorie im Widerspruch stehen könnten (ähnlich auch die Auswahl kritischer Fälle: im Überblick Kelle und Kluge 2010, Kap. 3). Dieses Verfahren der Stichprobenziehung lässt sich nutzen, um die Grenzen der Anwendbarkeit einer Theorie zu bestimmen oder eine Theorie ggf. noch um zusätzliche Elemente zu erweitern. Während die theoretische Stichprobenziehung eine vergleichsweise große Stichprobe erfordert, beschränkt sich die Analyse kontrastieren-
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der Fälle auf wenige, ggf. auch nur auf zwei Untersuchungseinheiten (Ragin 1989, Kap. 3). Diese werden so ausgewählt, dass sie sich in Bezug auf ein interessierendes Merkmal möglichst stark unterscheiden, um so Hinweise auf relevante Bedingungsund Genesefaktoren zu erhalten. Die Überlegung, dass das Allgemeine im Individuellen angelegt ist (Hildenbrand 1995), liegt beispielsweise Fallstudien aus dem Bereich der Allgemeinen Psychologie (vgl. unten die Studien zum Lernen und Vergessen von Ebbinghaus [1885]) sowie der Entwicklungspsychologie zugrunde, wie etwa Piagets Studien zur kognitiven Entwicklung (im Überblick Piaget 2003 [1932]). Dieser Grundgedanke des Allgemeinen im Individuellen existiert in zwei Variationen. Gemäß der ersten Variante setzt sich jede konkrete Manifestation eines Phänomens – die Sprachentwicklung eines Kindes, die Entwicklung der Persönlichkeit über den Lebensverlauf, die Empfindung von Einsamkeit usw. – notwendig aus individuellen und aus allgemeinen Anteilen zusammen. Wenn man mehrere konkrete Manifestationen eines Phänomens vergleicht, dann werden durch den Vergleich die allgemeinen, übereinstimmenden Anteile erkennbar, das Allgemeine eines Phänomens kann aus den individuellen Anteilen also quasi „herausdestilliert“ werden. Daraus folgt, dass bei der Fallauswahl letztlich keinerlei besondere Richtlinien zu befolgen sind: Das Allgemeine eines Phänomens lässt sich auf jeden Fall identifizieren, unabhängig davon, welche konkreten Manifestationen als Untersuchungseinheiten in die Analyse einbezogen werden. Solche Überlegungen liegen, wenn auch nicht immer in expliziter Form, der Fallauswahl in der Tradition der Phänomenologie (z. B. die Interpretative Phänomenologische Analyse: Smith 2004), der Komparativen Kasuistik nach Jüttemann (2009) oder, aus eher soziologischer Perspektive, der Typenbildung nach Gerhardt (1995) zugrunde (zur Typenbildung im Überblick Kelle und Kluge 2010). Die zweite Variante des Grundgedankens, dass das Allgemeine im Individuellen angelegt ist, greift bei Untersuchungsgegenständen, die weitgehend homogen sind, sich nur unwesentlich voneinander unterscheiden, wie dies beispielsweise für Gegenstände der Allgemeinen Psychologie angenommen wird. Bei solchen Untersuchungsgegenständen ist jede Einheit per definitionem für die Grundgesamtheit repräsentativ. Diese Logik der Verallgemeinerung findet sich im Zusammenhang mit qualitativen Ansätzen, die auf die Identifikation und Generalisierung von Strukturen abzielen, wie dies beispielsweise bei der objektiven Hermeneutik (im Überblick: Wernet 2009) oder der Konversationsanalyse (im Überblick: Bergmann 2005) der Fall ist. Auch vor diesem Hintergrund sind bei der Fallauswahl keine besonderen Regeln zu befolgen, da jeder Fall gleichermaßen repräsentativ oder typisch ist. Zugleich erlaubt diese Logik – als eine der wenigen in der qualitativen Sozialforschung – den Schluss von einem Einzelfall auf die Grundgesamtheit, also die Verallgemeinerung im empirisch-statistischen Sinn (ohne dass jedoch Verfahren der Inferenzstatistik zur Anwendung kommen). Auch bei solchen universellen Gegenständen kann es jedoch sinnvoll sein, eine Verallgemeinerung nicht auf einen einzelnen, sondern, gemäß einer Logik der systematischen Replikation, auf mehrere einander ähnliche Fälle zu stützen (Hilliard 1993). Sowohl die Logik der theoretischen Verallgemeinerung als auch die Logik des Allgemeinen im Individuellen zielt auf Verallgemeinerungen über die untersuchten
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Fälle hinaus, sei es im theoretischen oder im empirischen Sinn. Qualitative Untersuchungen können sich jedoch auch darauf beschränken, einen Gegenstand lediglich zu beschreiben. Dabei kann es sich um (Einzel-)Fälle handeln, die aus sich selbst heraus von Interesse sind (die sog. intrinsische Fallstudie: Stake 1995, S. 3); dieser Tradition sind beispielsweise die bereits erwähnten Fallstudien Lurijas zuzuordnen. Beschreibend sind auch solche Untersuchungen, in denen die Fälle mit dem Ziel ausgewählt werden, eine Theorie zu veranschaulichen (die sog. instrumentelle Fallstudie: Stake 1995, S. 3). Freud (1905) wählte beispielsweise den Fall der Dora D. aus, um damit seine Theorie der Übertragung zu illustrieren. Bei solchen Untersuchungen ist eine kriterienorientierte Strategie der Fallauswahl angemessen. Schließlich sind hier auch solche Untersuchungen einzuordnen, die das Ziel haben, ein Phänomen in seiner Bandbreite und in seinen verschiedenen Spielarten aufzuzeigen. Anders als bei quantitativen Studien steht dabei nicht die Häufigkeit der Ausprägungen eines Phänomens im Mittelpunkt, und anders als bei Untersuchungen, die auf theoretische Verallgemeinerbarkeit ausgerichtet sind, geht es auch nicht um die Identifikation von Bedingungsfaktoren, sondern um die Beschreibung der Variationen des Phänomens selbst. Dabei wird in der Regel eine heterogene, auf maximale Variation ausgerichtete Strategie der Fallauswahl realisiert (s. Abschn. 3.2.2).
2.3
Die Frage der Stichprobengröße: Wie viele Fälle sind genug?
Zur Frage der angemessenen Fallzahl in der qualitativen Forschung finden sich in der Literatur die unterschiedlichsten Positionen. So argumentieren die einen, dass die Stichprobengröße in der qualitativen Forschung nicht von Bedeutung sei, dass es vielmehr auf die Auswahl von Fällen ankomme, die eine Beantwortung der Fragestellung erlauben (z. B. Crouch und McKenzie 2006; Patton 2015; Schreier 2013). Andere halten dagegen, dass die Fallanzahl auch in der qualitativen Forschung durchaus eine Rolle spiele (z. B. Onwuegbuzie und Leech 2005; Sandelowski 1995). Entsprechend gehen auch die Meinungen darüber auseinander, ob Empfehlungen im Hinblick auf eine optimale Stichprobengröße sinnvoll sind. Einige Autorinnen und Autoren haben entsprechende Empfehlungen vorgelegt (z. B. Dworkin 2012; im Überblick Mason 2010; Guetterman 2015), wobei für Fallstudien und Arbeiten in der phänomenologischen Tradition geringere Stichprobengrößen angesetzt werden als für eine Studie in der Tradition der Grounded-Theory-Methodologie (z. B. Creswell und Poth 2017; Morse 1995). Andere halten dagegen, dass die Festlegung auf eine bestimmte Stichprobengröße vor Untersuchungsbeginn dem Verständnis qualitativer Sozialforschung als emergentem Prozess widerspreche, der eine iterative Vorgehensweise bei der Fallauswahl in Verbindung mit einer sukzessiven Anpassung der Stichprobengröße erfordere (z. B. Mason 2010; Higginbottom 2004; Palinkas et al. 2013). Die Antworten auf die Frage „Wie viele Fälle sind genug?“ reichen somit von der Angabe konkreter Zahlen bis zu „Es kommt darauf an.“ Worauf kommt es aber an? Baker und Edwards haben 2012 eine Befragung von 14 Expert/innen und fünf „Neulingen“ zur Frage der optimalen Fallzahl in der qualitativen Forschung durchgeführt, in der eine Vielzahl solcher Einflussfaktoren
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genannt werden (s. auch Ritchie et al. 2014; zusammenfassend Schreier 2017, Abschn. 3.2.1). So kommt beispielsweise der Breite der Forschungsfrage und der angezielten Verallgemeinerung eine wichtige Rolle zu: So äußert Charmaz in dieser Befragung, dass eher spezifische, „lokal“ orientierte Forschungsfragen mit einer geringeren Fallzahl auskämen als breiter und analytisch angelegte Fragestellungen. Adler und Adler führen an, dass sich auch die Heterogenität der Grundgesamtheit auf die optimale Fallzahl auswirke, und zwar dahingehend, dass mit der Heterogenität der Grundgesamtheit die optimale Fallzahl zunimmt (s. auch Palinkas et al. 2013). Weiterhin existieren innerhalb der verschiedenen qualitativen Forschungsansätze unterschiedliche Anforderungen an die optimale Fallzahl. So weist Flick außerdem darauf hin, dass neben solchen untersuchungsinternen Faktoren auch externe Faktoren eine Rolle spielen, wie etwa das verfügbare Budget oder der Zeitrahmen. Verzichtet man auf eine Vorab-Festlegung einer optimalen Stichprobengröße, dann stellt sich die Frage, wann im Untersuchungsverlauf „genügend“ Fälle einbezogen wurden. Bei einer emergenten Entwicklung der optimalen Fallzahl im Untersuchungsverlauf wird meist das Kriterium der Sättigung zugrunde gelegt. Dieses hat seinen Ursprung in der Grounded-Theory-Methodologie im Sinne der theoretischen Sättigung von Kategorien, wurde in der Folge jedoch ausgeweitet zu einem allgemeineren Kriterium der Redundanz von Information (z. B. Bowen 2008; Guest et al. 2006; zum Konzept der theoretischen Sättigung im Überblick Strübing 2019). Nach diesem allgemeineren Sättigungsbegriff können Fallauswahl und Datenerhebung als abgeschlossen gelten, wenn die Einbeziehung weiterer Fälle keine neuen Informationen mehr erbringt. Allerdings wurde die Anwendung des Kriteriums vielfach kritisiert, weil wiederum genaue Kriterien dafür fehlen, wann dies der Fall ist (z. B. Bowen 2008; Francis et al. 2010; O’Reilly und Parker 2012). In einer Untersuchung zum Sättigungsgrad des Kategoriensystems im Rahmen der Auswertung eigener Interviews gelangen Guest et al. (2006) zu dem Schluss, dass dies bereits nach der Analyse von zwölf Interviews der Fall ist, wobei die zentralen MetaThemen bereits nach der Analyse von sechs Interviews entwickelt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Francis et al. (2010). Sie schlagen vor, eine Ausgangsstichprobengröße festzulegen, nach der erstmals eine Prüfung des Sättigungsgrades der Auswertung erfolgen soll; diese setzen sie bei N=10 an. Außerdem schlagen sie vor, vorab zu spezifizieren, wie viele neue Fälle zur Prüfung des Sättigungsgrades herangezogen werden sollen; als optimale Anzahl in ihrer eigenen Forschung ergeben sich N=3. Beide Autor/innenteams weisen jedoch darauf hin, dass diese Empfehlungen sich speziell auf Interviewstudien in vergleichsweise homogenen Gegenstandsbereichen beziehen. Sättigung erfreut sich zwar in methodologischer Hinsicht großer Beliebtheit als Kriterium für eine emergente Bestimmung der Fallzahl in qualitativen Untersuchungen – es muss jedoch als fraglich gelten, inwieweit es auch in der Forschungspraxis tatsächlich Anwendung findet (McCrae und Purrsell 2016). So konnte Mason (2010) in seiner Analyse der Fallzahl in qualitativen Dissertationen aus fünf verschiedenen methodologischen Traditionen zeigen, dass die Fallzahlen auffallend häufig ein Produkt von fünf darstellten (also beispielsweise 10, 15 oder 20). Dies interpretiert
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er als Hinweis auf die Vorab-Festlegung einer optimalen Fallzahl. In eine ähnliche Richtung weisen die Befunde von Guetterman (2015) zur Fallzahl in qualitativen Studien in den Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften. Die Fallzahlen in den analysierten Studien sind im Schnitt höher als die Empfehlungen für optimale Fallzahlen in der einschlägigen Literatur. Zusammen weisen diese Befunde darauf hin, dass qualitative Forscher/innen hinsichtlich der Fallzahl lieber auf der „sicheren Seite“ bleiben und im Zweifelsfalle eher – einer tendenziell quantitativen Forschungslogik folgend? – mehr als weniger Fälle einbeziehen. Als Mittelweg zwischen einer emergenten Vorgehensweise einerseits und der Arbeit mit festgelegten Stichprobengrößen, wie sie gegenüber Promotionsausschüssen, Drittmittelgebern usw. häufig erforderlich sind, schlägt Patton (2015, Modul 40) die Arbeit mit minimalen Stichprobengrößen vor. Vorab wird entsprechend eine minimale Fallzahl benannt, die im Untersuchungsverlauf weiter angepasst wird.
3
Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung
3.1
Systematisierungen von Verfahren der Fallauswahl
Im vorausgehenden Abschnitt wurden bereits einige Verfahren der bewussten Stichprobenziehung benannt. Die Vielfalt der verschiedenen Verfahren und Bezeichnungen ist verwirrend – nicht zuletzt, weil einige Bezeichnungen sich auf eine bestimmte Vorgehensweise bei der Fallauswahl beziehen, andere dagegen auf die Art und Weise, wie die Stichprobe zusammengesetzt ist bzw. wie die Fälle innerhalb der Stichprobe sich zueinander verhalten (zu den Verfahren im Überblick: Patton 2015, Kap. 5). Unter dem Gesichtspunkt der Vorgehensweise lassen sich flexible und fixe Arten der Fallauswahl unterscheiden (Flick 2019, Kap. 12; Schreier 2013; in anderer Terminologie auch Akremi 2019). Flexible Arten der Fallauswahl zeichnen sich dadurch aus, dass die Kriterien für die Zusammensetzung der Stichprobe erst sukzessive im Untersuchungsverlauf erarbeitet werden (s. auch den vorausgehenden Abschn. 2.3). Hierzu zählen beispielsweise die theoretische Stichprobenziehung (theoretical sampling), die analytische Induktion oder auch das Schneeballverfahren (auch: chain sampling). Beim Schneeballverfahren werden Personen, die das Kriterium für die Aufnahme in die Stichprobe erfüllen, gebeten, weitere Personen zu benennen, die das Kriterium ebenfalls erfüllen. Diese Vorgehensweise eignet sich besonders bei Personenkreisen, zu denen Forschende nur schwer Zugang erhalten. Bei fixen Formen der Stichprobenziehung werden die Kriterien für die Fallauswahl bereits zu Untersuchungsbeginn auf der Grundlage von Vorwissen über den Untersuchungsgegenstand festgelegt. Dazu zählen beispielsweise die Fallauswahl gemäß einem qualitativen Stichprobenplan sowie die Auswahl bestimmter Falltypen (typische, extreme, intensive, kritische usw. Fälle). Diese beiden Vorgehensweisen lassen sich auch derart kombinieren, dass die Fallauswahl zunächst auf der Grundlage vorab spezifizierter Kriterien erfolgt. Wenn sich im Untersuchungsverlauf jedoch
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andere oder zusätzliche Kriterien als relevant erweisen, wird die Stichprobe entsprechend erweitert oder ein vorab festgelegtes wird durch ein neues Kriterium ersetzt. Unter dem Gesichtspunkt der Zusammensetzung ist zwischen homogenen und heterogenen Stichproben zu unterscheiden (Ritchie et al. 2014; Schreier 2011). Homogene Stichproben setzen sich aus gleichartigen Fällen zusammen; sie eignen sich besonders, um ein Phänomen im Detail zu explorieren und zu beschreiben. Homogene Stichproben lassen sich mittels Schneeballverfahren erzielen oder durch Auswahl von Fällen, die einander möglichst ähnlich sein sollten (mehrere typische Fälle, mehrere intensive Fälle usw.). Die Einzelfallstudie lässt sich als Sonderfall der homogenen Stichprobe rekonstruieren, die eben nur aus einem einzigen Fall besteht. Heterogene Stichproben setzen sich entsprechend aus unterschiedlichen Fällen zusammen; sie eignen sich besonders zur Erstellung von Theorien und zur Beschreibung der Variabilität eines Phänomens. Geeignete Verfahren zur Generierung heterogener Stichproben sind unter anderem die theoretische Stichprobenziehung, die Fallauswahl gemäß einem qualitativen Stichprobenplan, die analytische Induktion, die maximale strukturelle Variation oder die Auswahl kontrastierender Fälle. Andere gängige Systematisierungen von Strategien qualitativer Fallauswahl orientieren sich an den Zielsetzungen. So unterscheiden Teddlie und Yu (2007) je nach Zielsetzung vier Formen der absichtsvollen Stichprobenziehung; Patton (2015, Kap. 5) unterscheidet acht verschiedene Formen. Diese Klassifikationen sind allerdings insofern nur bedingt weiterführend, als sich nur zwei der Zielsetzungen (Erfassung bestimmter Arten von Fällen und sequenziell-emergentes Sampling) in beiden Typologien wiederfinden.
3.2
Ausgewählte Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung
Im Folgenden werden einige besonders einschlägige Verfahren der Fallauswahl genauer beschrieben und anhand von Beispielen erläutert.
3.2.1 Theoretische Stichprobenziehung Das Verfahren der theoretischen Stichprobenziehung bzw. des theoretical sampling wurde im Kontext der Grounded-Theory-Methodologie von Glaser und Strauss (1967) entwickelt. Die gesamte Theorieentwicklung vollzieht sich in einem Prozess des konstanten Vergleichs; entsprechend verläuft auch die Fallauswahl ergebnisoffen: Fälle werden nach dem Kriterium ihrer konzeptuellen Relevanz für die entstehende Theorie ausgewählt, worin diese Relevanz im Einzelnen besteht, zeigt sich jedoch erst im Untersuchungsverlauf (Breuer et al. 2018, Kap. 6.5; Emmel 2013, Kap. 1; Mey und Mruck 2009; Strübing 2019). Die Auswahl erfolgt dabei so, dass die Fälle einander hinsichtlich potenziell relevanter Faktoren teils ähnlich sind, sich teils aber gerade unterscheiden. Die Fallauswahl folgt somit dem Prinzip der Replikation, wobei die Auswahl einander ähnlicher Fälle sich als Form der direkten, die Auswahl unterschiedlicher Fälle als Form der systematischen Replikation rekonstruieren lässt (zur Rolle der Replikation bei der theoretischen Stichprobenziehung
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s. Glaser und Strauss 2007 [1965], Appendix; zu den Begriffen der direkten und der systematischen Replikation s. Hilliard 1993; Yin 2018, Kap. 2). Die Fallauswahl wird dann abgebrochen, wenn die Einbeziehung neuer Fälle keine weitere Modifikation der Theorie mehr erfordert; die Theorie gilt dann als gesättigt (s. Abschn. 2.3 zum Begriff der theoretischen Sättigung). In der Praxis ist ein solches vollständig ergebnisoffenes Verfahren der Minimierung und Maximierung von Kontrasten bei der Fallauswahl jedoch oft nur schwer zu realisieren, weil dies eine vergleichsweise große Stichprobe erfordern würde. In ihrer Untersuchung zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit von Therapeutinnen und Therapeuten bei ihrer Tätigkeit realisierten Tölle und Stratkötter (1996) beispielsweise – aus solchen praktischen Erwägungen heraus – eine leicht reduzierte Variante der theoretischen Stichprobenziehung (Stratkötter 1996). Im Untersuchungsverlauf erwiesen sich die folgenden Faktoren als potenziell theoretisch bedeutsam: Alter, Berufserfahrung, Familienstand, institutionelle Bedingtheit der Arbeit und Art der therapeutischen Ausbildung; der Faktor „Geschlecht“ ergibt sich aus der Fragestellung. Im Hinblick auf eine Kontrastierung erfolgte die Fallauswahl sukzessive im Untersuchungsverlauf so, dass Personen ausgewählt wurden, die sich hinsichtlich der ersten Gruppe von Faktoren (Alter, Berufserfahrung usw.) möglichst stark voneinander unterschieden. Im Hinblick auf den Vergleich ähnlicher Fälle wurde die Fallauswahl zunächst wie beschrieben für die Gruppe der Therapeuten durchgeführt; anschließend wurden Therapeutinnen so ausgewählt, dass sie den bereits einbezogenen Therapeuten in ihrer Ausprägung auf den verschiedenen Faktoren möglichst vergleichbar waren. Innerhalb der Gruppe der Therapeuten bzw. der Therapeutinnen waren die Fälle somit untereinander verschieden; zwischen den beiden Gruppen waren ein Therapeut und eine Therapeutin einander dagegen maximal ähnlich. Allerdings wurden, eben aus praktischen Erwägungen heraus, nicht alle Faktoren bei der Fallauswahl einbezogen, die sich im Untersuchungsverlauf als potenziell relevant erwiesen. Die Einbeziehung der sexuellen Orientierung der Teilnehmenden hätte beispielsweise eine so umfassende Erweiterung der Stichprobe zur Folge gehabt, dass dieser Faktor nicht berücksichtigt wurde. Diese Entscheidung verdeutlicht auch, dass das Abbruchkriterium bei der theoretischen Stichprobenziehung kein absolutes ist, wie es das Kriterium der theoretischen Sättigung nahe zu legen scheint, sondern ein Kriterium, das im jeweiligen Untersuchungskontext nach praktischen Erwägungen zu handhaben ist.
3.2.2 Der qualitative Stichprobenplan Wie die theoretische Stichprobenziehung ist auch die Fallauswahl auf der Grundlage eines qualitativen Stichprobenplans auf Heterogenität der Stichprobe ausgerichtet: Es soll möglichst viel Variabilität im Gegenstandsbereich erfasst werden (im Überblick: Kelle und Kluge 2010, Kap. 3; Schreier 2011). Während die Fallauswahl bei der theoretischen Stichprobenziehung jedoch flexibel und ergebnisoffen erfolgt, handelt es sich beim qualitativen Stichprobenplan um ein Verfahren der Fallauswahl nach vorher festgelegten Kriterien: In einem ersten Schritt wird (vor Untersuchungsbeginn) bestimmt, welche Faktoren voraussichtlich mit dem interessierenden Phänomen in Zusammenhang stehen, welche Faktoren also zu einer Unterschiedlichkeit im Phänomenbereich beitragen. In einem zweiten Schritt wird entschieden, welche
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Ausprägungen dieser Faktoren in dem Stichprobenplan berücksichtigt werden sollen. Drittens werden die Faktoren und ihre Ausprägungen in einer Kreuztabelle kombiniert; um den Überblick nicht zu verlieren, empfiehlt es sich, dabei nicht über drei Dimensionen hinauszugehen. Viertens ist zu entscheiden, mit wie vielen Fällen jede Zelle (d. h. jede Kombination von Faktorausprägungen) besetzt werden soll. Da die Anzahl möglicher Faktorkombinationen mit der Anzahl der Faktoren und ihrer Ausprägungen schnell ansteigt, wird man sich in der Praxis häufig auf einen Fall pro Zelle beschränken. Diese Beschränkung verweist auf einen weiteren Unterschied zwischen dem qualitativen Stichprobenplan und der theoretischen Stichprobenziehung: Bei der theoretischen Stichprobenziehung werden gezielt sowohl ähnliche als auch unterschiedliche Fälle einbezogen; der qualitative Stichprobenplan ist dagegen auf die Untersuchung unterschiedlicher Fälle ausgerichtet. Das Vorgehen bei der Erstellung eines qualitativen Stichprobenplans soll hier anhand einer eigenen Untersuchung verdeutlicht werden (Schreier et al. 2008): Ziel war es, Entscheidungen und Entscheidungskriterien bei der Verteilung von Mitteln im Gesundheitswesen, der sog. Priorisierung, zu explorieren, wobei eine möglichst große Variabilität von Positionen einbezogen werden sollte. Die Fallauswahl vollzog sich in zwei Schritten. In einem ersten Schritt wurden zunächst sechs Stakeholdergruppen ausgewählt, von denen anzunehmen war, dass sie sich hinsichtlich ihrer Interessen bei der Priorisierung medizinischer Leistungen stark unterscheiden: gesunde Personen, erkrankte Personen, Ärztinnen bzw. Ärzte, medizinisches Pflegepersonal, Vertreter/ innen der Gesetzlichen Krankenkassen und Politiker/innen. In einem zweiten Schritt wurden auf der Grundlage einer Literaturrecherche pro Stakeholdergruppe (je unterschiedliche) Faktoren identifiziert, die sich auf die Ansichten der Personen dieser Gruppe zu Priorisierung im Gesundheitssektor auswirken könnten und anhand ihrer Ausprägungen zu einem qualitativen Stichprobenplan kombiniert (s. Tab. 1; zur Auswahl der Kriterien s. ausführlich Schreier et al. 2008). Für die Stakeholdergruppe der erkrankten Personen waren dies beispielsweise die folgenden Kriterien: Alter (18–30, 31–62, über 62 Jahre), Schwere der Erkrankung (leicht/schwer; Einordnung unter Rücksprache mit Kolleginnen und Kollegen aus der Medizin), höchster erreichter Bildungsstand (ohne Berufsabschluss, mit Berufsausbildung, mit Hochschulausbildung) sowie Herkunft (Ost – neue Bundesländer; West – alte Bundesländer). Das Beispiel verdeutlicht zugleich, dass nicht alle Zellen eines qualitativen Stichprobenplans besetzt sein müssen. Qualitative Stichprobenpläne bieten sich als Verfahren der Fallauswahl an, wenn über den Gegenstand bereits hinreichende Erkenntnisse vorliegen, um eine solche Vorab-Identifikation relevanter Faktoren vornehmen zu können. Falls sich im Untersuchungsverlauf weitere Faktoren als (mindestens) ebenso relevant erweisen, kann der Plan während der Untersuchung auch modifiziert werden (für Beispiele s. Johnson 1991). Das größte Problem bei der praktischen Umsetzung ergibt sich – wie bei allen fixen Verfahren der Fallauswahl – daraus, dass über die Fälle vergleichsweise viel Information verfügbar sein muss, um über deren Einbeziehung entscheiden zu können (Schreier 2011).
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Tab. 1 Qualitativer Stichprobenplan für die Stakeholdergruppe „Erkrankte Personen“ – Kriterien und Ausprägungen Stakeholdergruppe: Erkrankte Bevölkerung Schwere der Alter Erkrankung 18–30 leicht Jahre schwer 31–62 leicht Jahre schwer >62 leicht Jahre schwer Anzahl a
Höchster erreichter Bildungsstatus Ohne Mit Berufsabschluss Berufsausbildung O Wa O W W O O W 4 4
Anzahl: 12 Mit Hochschulausbildung Anzahl 2 W 2 O 2 O 2 W 2 2 4 12
Legende: „W“: West, „O“: Ost
3.2.3 Gezielte Auswahl bestimmter Arten von Fällen „Gezielte Auswahl bestimmter Arten von Fällen“ ist eine Sammelbezeichnung für die Auswahl von (unter anderem) typischen, kritischen, abweichenden, extremen und anderen Fällen (Patton 2015, Module 31 und 32). Eine solche gezielte Auswahl hat vor allem in der Klinischen Psychologie im weiteren und in der Psychotherapieforschung im engeren Sinn mit ihrem Interesse am „abweichenden Fall“ eine lange Tradition (zur Fallstudie in der Psychologie im Überblick: Bromley 1986; in der Klinischen Psychologie und Psychotherapieforschung: Grawe 1988; in der Psychoanalyse: Frommer und Langenbach 1998; in der Biografieforschung: Fisseni 1998); eingangs wurde auch bereits auf die gezielte Fallauswahl bei Freud hingewiesen. Angesichts der Vielzahl von Fallstudien in der (Klinischen) Psychologie können hier nur einige wenige Arten kurz verdeutlicht werden, ohne damit einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Während die Auswahl von typischen, extremen oder abweichenden Fällen häufig im Rahmen einer Einzelfallstudie realisiert wird, werden bei der kriteriengeleiteten Fallauswahl meist mehrere Fälle einbezogen. Die Auswahlkriterien ergeben sich aus dem Untersuchungsgegenstand und sind so vergleichsweise eng gefasst, dass nur wenige Fälle in Frage kommen. In einer multiplen Fallstudie zu psychosozialen Folgen schwerer Kopfverletzungen bei Heranwachsenden von Bergland und Thomas (1991) war das Kriterium beispielsweise durch die Fragestellung vorgegeben. Es wurden zunächst sämtliche Jugendliche mit schweren Kopfverletzungen in einem ausgewählten Zeitraum und Krankenhaus in den USA mit einem Mindestalter von 18 Jahren zum Zeitpunkt der Untersuchungsdurchführung kontaktiert; im nächsten Schritt wurden alle zwölf Jugendlichen und deren Angehörige in die Untersuchung einbezogen, die zu einer Teilnahme bereit waren. Dieses Verfahren der gezielten Fallauswahl ähnelt der theoretischen Stichprobenziehung: Bei beiden Verfahren ist die theoretische Relevanz für die Einbeziehung ausschlaggebend. Bei der theoretischen Stichprobenziehung ergeben sich diese Kriterien jedoch erst im Untersuchungsverlauf, während sie bei
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der kriteriengeleiteten Fallauswahl vor Untersuchungsbeginn festgelegt werden. Die kriteriengeleitet ausgewählten Fälle bilden eine homogene Stichprobe. Grundgedanke der kritischen Fallstudie ist es, einen Fall so auszuwählen, dass die Schlussfolgerungen, die für diesen Fall gelten, dies für andere Fälle umso mehr tun; kritische Fälle eignen sich somit auch zum Testen von Hypothesen. In einer Einzelfallstudie stellt Hofmann (2007) beispielsweise den Fall von Paul dar, eines jungen Mannes mit vermeidender Persönlichkeitsstörung. Bei Paul wies diese Störung eine stärkere Ausprägung auf, als sie je bei anderen Patient/innen in der Klinik beobachtet worden war – insofern handelt es sich bei Paul um einen Extremfall. Nach einem Jahr kombinierter Verhaltens- und Kognitiver Therapie konnte jedoch eine erhebliche Besserung erzielt werden. In dieser Hinsicht stellt Paul zugleich einen kritischen Fall dar: Wenn die Therapieform bei Paul zu einer Verbesserung führt, der die Störung in außergewöhnlich hohem Maß aufweist, dann ist anzunehmen, dass der Therapieplan bei Personen, bei denen die Störung schwächer ausgeprägt ist, umso schneller zu einer Verbesserung führt. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich, dass die verschiedenen Arten von Fällen einander nicht wechselseitig ausschließen. Abweichende sind solche Fälle, die außerhalb der „Normalität“ liegen – wie auch immer „Normalität“ im Einzelnen definiert ist (etwa in der Kriminal- und Rechtspsychologie; im Überblick Kühne 1998). Um eine abweichende Fallstudie handelt es sich beispielsweise bei der umfassenden psychografischen Analyse der Persönlichkeit, Motivstruktur und des Führungsstils von Saddam Hussein in Post (2003). Im Zusammenhang mit der Darstellung verschiedener Strategien der Fallauswahl sollte allerdings auch nicht vergessen werden, dass die Forschungspraxis und die Situation im Feld die besten Auswahlstrategien zu Fall bringen kann: Ausgewählte Fälle sind zu einer Untersuchungsteilnahme nicht bereit, ganze Personengruppen sind schwer erreichbar u. ä. In einer solchen Situation bleibt nur, was Groger et al. (1997) treffend als „scrounging sampling“ bezeichnen – was ungefähr einem „sich bei der Fallauswahl Durchwursteln“ entspricht. „Sich Durchwursteln“ mag den methodologischen Zielvorstellungen nicht entsprechen, aber es ist im Zweifelsfall immer noch besser als der gänzliche Verzicht auf die Datenerhebung – solange es mit einer methodologischen Reflexion der eigenen Beschränkungen und des resultierenden eingeschränkten Geltungsanspruchs einhergeht (für ein methodologisch ausgesprochen reflektiertes Beispiel s. Rapley 2013).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Lange Zeit wurden Fragen der Fallauswahl in der qualitativen Sozialforschung in der einschlägigen Methodenliteratur eher vernachlässigt (s. oben Abschn. 1). Dies gilt heute nicht mehr im selben Maß: Das Thema wird in der Methodenliteratur aufgegriffen und zunehmend in Lehrbüchern qualitativer Sozialforschung behandelt, wenn die Literatur insgesamt auch noch eher breit gestreut und wenig integriert ist. Dies gilt insbesondere für Systematisierungen von Strategien qualitativer Fallauswahl, die nach unterschiedlichsten Kriterien erfolgen und eine teilweise kaum mehr überschaubare Vielzahl konkreter Vorgehensvarianten benennen (s. Abschn. 1).
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Die Auswahl einer Strategie der bewussten Stichprobenziehung sollte sich in erster Linie an der Zielsetzung der Untersuchung orientieren bzw. daran, ob eine Verallgemeinerung der Ergebnisse angestrebt wird und um welche Form der Verallgemeinerung es sich dabei handelt (Marshall 1996; Patton 2015, Modul 40). Eine empirische Verallgemeinerung ist auf der Grundlage qualitativer Forschung in der Regel nicht möglich (Mason 2017, Kap. 3; Patton 2015, Kap. 5; Schreier 2013; zu Ausnahmen s. oben Abschn. 2.2) In der methodologischen Literatur sind jedoch einige Alternativkonzepte zum Begriff der empirisch-statistischen Verallgemeinerung entwickelt worden (im Überblick Flick 2007, Kap. 7; Maxwell und Chmiel 2014; Mayring 2007; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2013, Kap. 6; Seale 1999, Kap. 8). Das vermutlich bekannteste dieser Alternativkonzepte ist das der analytischen bzw. theoretischen Verallgemeinerung, wie es etwa der Grounded-Theory-Methodologie zugrunde liegt (s. ausführlich Abschn. 3.2.1). Dabei bezeichnet theoretische Verallgemeinerung eben nicht die Verallgemeinerung auf ein empirisches Kollektiv, sondern auf eine Theorie. Voraussetzung dafür ist es, ein Phänomen in all seinen Manifestationen erfasst zu haben, um diese verschiedenen Manifestationen in einer Theorie gemeinsam mit anderen Faktoren abzubilden, die mit diesen unterschiedlichen Ausprägungen in Zusammenhang stehen. Allerdings wird auch kritisch diskutiert, ob das Konzept der theoretischen Verallgemeinerung tatsächlich eine Alternative zum Begriff der empirischstatistischen Verallgemeinerung darstellt, oder zu diesem lediglich komplementär ist (Gomm et al. 2000). Eine weitere Alternative zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung besteht darin, durch den Vergleich mehrerer Fälle das Allgemeine im Individuellen aufzuzeigen (s. Abschn. 2.2). In diesem Zusammenhang ist auch von der Repräsentanz der Stichprobe die Rede: Repräsentanz liegt eben in dem Maß vor, in dem es gelingt, das Typische im Individuellen zu erfassen (Hilliard 1993; vgl. auch den Begriff der inhaltlichen Repräsentanz bei Merkens 2005 sowie das Konzept des case law bei Bromley 1986, S. 1–3). Weitere Alternativkonzepte können hier lediglich kurz benannt werden. Cronbach betonte bereits 1975 die Kontextgebundenheit sozialwissenschaftlicher Forschung und zog daraus die Schlussfolgerung, dass nicht Universalaussagen das Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung sein können, sondern je kontextspezifische Arbeitshypothesen. Lincoln und Guba (2008) entwickelten vor diesem Hintergrund das Konzept der Übertragbarkeit (transferability; ähnlich auch das Konzept der naturalistischen Verallgemeinerung von Stake 1980). Danach liegt es in der Verantwortung der Forschenden, möglichst „dichte Beschreibungen“ (Geertz 2009 [1983]) der untersuchten Fälle zu generieren; die Entscheidung über die Übertragbarkeit dieser auf andere Fälle und Situationen liegt jedoch bei den Rezipient/innen der Studie. Die Bildung von Idealtypen stellt eine weitere Alternative zum Konzept der empirischen Verallgemeinerung in der qualitativen Sozialforschung dar (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2013, Kap. 6). Es existieren also durchaus Alternativen zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung. Allerdings liegt es bei den qualitativ Forschenden, diese Alternativkonzepte für sich nutzbar zu machen, indem sie die Art der angezielten Verallgemeinerung
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explizit benennen und sich bei ihrer Fallauswahl daran orientieren. Damit ist zugleich eine wesentliche Perspektive der Fallauswahl in der qualitativen Sozialforschung benannt, nämlich die vermehrte Berücksichtigung der Passung von alternativen Konzepten der Verallgemeinerung und Strategien der Fallauswahl. Als zweite Perspektive ist hier die empirische Untersuchung der Vorgehensweise qualitativ Forschender bei der Fallauswahl zu nennen. Entsprechende Untersuchungen gewinnen derzeit immer mehr an Bedeutung und vermitteln einen Eindruck davon, wie sich das tatsächliche Vorgehen qualitativ Forschender zu den methodologischen Vorgaben und Empfehlungen verhält (Schreier 2017; für Beispiele s. auch Gentles et al. 2015; McCrae und Purssell 2016). Onwuegbuzie und Leech (2010) analysierten beispielsweise sämtliche qualitativ-empirischen Studien aus dem Journal „Qualitative Report“ daraufhin, ob und in welcher Weise die Autor/innen eine Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse vornahmen. In etwa einem Drittel aller empirischen Arbeiten fand eine empirisch-statistische Form der Verallgemeinerung statt (meist ohne Anwendung inferenzstatistischer Verfahren), die jedoch in der Mehrzahl der Fälle durch die Art der Stichprobenziehung nicht hinreichend begründet und damit ungerechtfertigt war. An anderer Stelle weisen Onwegbuzie und Leech außerdem darauf hin, dass Forschende auch bei der Untersuchung eines Einzelfalls von den erhobenen Daten auf das Gesamt des Falles schließen (Onwegbuzie und Leech 2005, 2007). Auch Guetterman (2015) und Mason (2010) fanden in ihren Untersuchungen der Fallzahl in qualitativen Studien Abweichungen von den methodologischen Empfehlungen, sei es hinsichtlich gerader Fallzahlen (Mason 2010) oder hinsichtlich eines ‚Oversampling‘ (Guetterman 2015). In eine andere Richtung weist die Studie von Guest et al. (2006) zu der Frage, wie viele Fälle benötigt werden, um einen hinreichenden Grad an thematischer Sättigung bei der Analyse von Interviewdaten zu erzielen. Studien dieser Art sind besonders weiterführend, wenn es darum geht, abstrakte methodologische Konzepte (wie etwa das der Sättigung) mit methodischem Leben zu füllen. Nicht zuletzt erhalten qualitativ Forschende dadurch auch Hinweise zum konkreten Vorgehen – wobei allerdings die Relation zwischen dem Sein des Forschungshandelns und dem methodologischen Sollen kritisch zu reflektieren ist.
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Qualitatives Experiment Thomas Burkart
Inhalt 1 Das qualitative Experiment und sein Verhältnis zu anderen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte des qualitativen Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodologische Prinzipien und Techniken des qualitativen Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Aktuelle qualitativ experimentelle Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Das qualitative Experiment ist geeignet, um die Strukturen eines Forschungsgegenstands zu erforschen. Nach einer Abgrenzung vom quantitativen Experiment und anderen Formen des Experiments wird seine Geschichte samt der produktiven Anwendung in der Psychologie vor dem 2. Weltkrieg geschildert. Die Methodologie mit den Prinzipien und Techniken des qualitativen Experiments werden beschrieben und es wird eine Übersicht über qualitative Experimente in den letzten 25 Jahren gegeben. Schlüsselwörter
Qualitatives Experiment · Heuristische Forschungsmethode · Exploratives Experiment · Gedankenexperiment · Experimentelle Techniken
T. Burkart (*) Praxis für Psychotherapie, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_21
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T. Burkart
1
Das qualitative Experiment und sein Verhältnis zu anderen Verfahren
Das qualitative Experiment, das gut dazu geeignet ist, Strukturen eines Forschungsgegenstands zu explorieren, wird selten eingesetzt. Dies war nicht immer so. Das Verfahren spielte in der Würzburger Schule, der Gestaltpsychologie und der Entwicklungspsychologie Jean Piagets eine hervorragende Rolle. Gerhard Kleining (1986), der das in Vergessenheit geratene Verfahren wiederentdeckt, expliziert und optimiert hat, bestimmt das qualitative Experiment als den „nach wissenschaftlichen Regeln vorgenommene[n] Eingriff in einen (sozialen) Gegenstand zur Erforschung seiner Struktur“ (Kleining 1986, S. 724). Es hebt sich durch wissenschaftliche Regeln, die auf Intersubjektivität, Transparenz und Nachprüfbarkeit gerichtet sind, vom Experiment im Alltag ab. Das qualitative Experiment ist von anderen qualitativen Verfahren durch stärker eingreifende Aktivität unterschieden. Dagegen sind die Beobachtung und das Interview mehr rezeptiv. Allerdings ist dieser Unterschied relativ, da alle Methoden – wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung – aktive und rezeptive Elemente enthalten. So erfordert das qualitative Experiment auch ein rezeptives Beobachten der Eingriffe. Eine Variante des qualitativen Experiments ist das Gedankenexperiment, bei dem der Eingriff nicht real, sondern virtuell erfolgt. Es besitzt in den Naturwissenschaften (Mach 1991 [1905]) und der Philosophie eine große Tradition (s. Gedankenexperiment 2015). Ähnlichkeiten hat das qualitative Experiment mit dem Ex-post-facto-Experiment von Stuart F. Chapin (1947), bei dem ein bereits abgelaufener Prozess retrospektiv als Experiment betrachtet wird und mit dem Konzept des Realexperiments (Groß et al. 2005), das durch komplexe Eingriffe gekennzeichnet ist, um einen sozialen oder ökologischen Prozess neuartig zu gestalten. Auch mit der auf Kurt Lewin (1948) zurückgehenden Aktionsforschung, bei der konkrete Probleme aus der Praxis gemeinsam mit den Betroffenen untersucht und mit Interventionen verändert werden, besitzt das qualitative Experiment die Gemeinsamkeit des Eingriffs. Das qualitative ist vom quantitativen Experiment zu unterscheiden, da letzteres eine oft kausal verstandene Hypothese überprüft, Wiederholbarkeit fordert und gewöhnlich zur Kontrolle der Untersuchungsbedingungen als Laborexperiment durchgeführt wird. Dafür werden die unabhängigen und abhängigen Variablen operationalisiert. Der experimentelle Eingriff erfolgt über eine Veränderung der unabhängigen Variable(n), während die übrigen Variablen konstant gehalten oder durch Kontrolltechniken wie Parallelisierung oder Randomisierung neutralisiert werden (Hager und Westmann 1983). Dagegen wird das qualitative Experiment normalerweise „natürlich“, alltagsnah durchgeführt. Statt einer Kontrolle der Untersuchungsbedingungen wird ihre Flexibilisierung gefordert (Kleining 1986, S. 725). Auch die Wiederholbarkeit ist keine Bedingung. Sie ist streng genommen selbst unter Laborbedingungen nur bei abstrahierter Betrachtung gegeben, weil Veränderungen der Rahmenbedingungen – z. B. durch gesellschaftlichen Wandel – unberücksichtigt bleiben mit der Folge, dass ein repliziertes Experiment einen Bedeutungswechsel erfahren kann.
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2
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Entstehungsgeschichte des qualitativen Experiments
Das quantitative und qualitative Experiment waren zunächst verbunden. Unterscheidungen zwischen beiden Formen erfolgten erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Kleining 1986, S. 729).
2.1
Das Experiment in der Antike und der beginnenden Neuzeit
Die Entwicklung des Experiments begann in der Antike. Beispiele sind die Experimente der Pythagoräer zur Beziehung von Tonhöhe und Saitenlänge oder Experimente von Galen, der die erste Methodologie entworfen hat: Er forderte, länger Erfahrungen zu sammeln, Medikamente unter verschiedenen Bedingungen zu untersuchen, sie rein zu gebrauchen und alle Umstände zu beachten (Maschewsky 1977, S. 16). In der beginnenden Neuzeit entwickelte sich die experimentelle Methodik mit den Untersuchungen von Galileo Galilei (1564–1642), der auch Forschungsprinzipien formulierte. Sie enthalten die Analyse wesentlicher Eigenschaften und Beziehungen durch Zerlegung und Isolierung der Elemente im Experiment, die Bestimmung von Gesetzen durch Analyse der gefundenen Merkmale unter Nutzung mathematischer Mittel, die Verknüpfung von Analyse und Synthese, Deduktion und Verifikation (Maschewsky 1977, S. 25). René Descartes (1596–1650) systematisierte in seiner Erkenntnistheorie Galileis Regeln. John Locke (1632–1704) reduzierte Erkenntnis auf systematische Beschreibung. Denis Diderot (1713–1784) vermittelte zwischen dem einseitigen Rationalismus Descartes’ und dem radikalen Empirismus Lockes und forderte, Beobachtung, Experiment und Reflexion mit Hypothesen zu verbinden, die aus der Praxis entwickelt werden sollten (Maschewsky 1977, S. 27). Im 17. Jahrhundert war das Experiment bereits weit verbreitet und führte mit neuen mathematischen Verfahren – wie der Infinitesimalrechnung – zu bedeutenden Entdeckungen, wie z. B. durch Isaac Newton (1642–1727), der u. a. das Gravitationsgesetz, die Bewegungsgesetze, die Zusammensetzung des weißen Lichts und seine Teilcheneigenschaft entdeckte. Das Experiment wurde in dieser Phase sowohl explorativ qualitativ als auch verifizierend quantitativ genutzt. Qualitative Experimente und Gedankenexperimente dienten dazu, extreme Bedingungen und Grenzen zu untersuchen (Mach 1991 [1905], S. 189–200; Kleining 1986, S. 729).
2.2
Die Unterscheidung von quantitativem und qualitativem Experiment
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich dann Unterscheidungen zwischen beiden Formen des Experiments mit der Übernahme des quantitativen Experiments in die Psychologie in der Psychophysik von Gustav Theodor Fechner (1801–1887), dem
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Behaviorismus von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936), der Erforschung der Intelligenz durch Alfred Binet (1857–1911) und des Gedächtnisses durch Hermann Ebbinghaus (1850–1909) und Georg Elias Müller (1950–1934). Wilhelm Wundt und seine Schüler errichteten psychologische Labors zum experimentellen Studium einfacher psychischer Prozesse bei Individuen [. . .], sie erklärten gleichzeitig sozialwissenschaftliche [. . .] Gegenstände als dem Experiment nicht zugänglich (‚VölkerPsychologie‘). Ihnen wurde die Methode der Beobachtung zugeordnet [. . .]. Diese Verkopplung von Methoden und Gegenständen hat später die Spaltung der Methoden bewirkt. Gleichzeitig reklamierte Wilhelm Dilthey eine eigenständige ‚Geisteswissenschaft‘ gegenüber den Naturwissenschaften und forderte eigene Methoden [. . .]. (Kleining 1986, S. 729)
Dagegen forderte der Physiker Ernst Mach (1991 [1905]), auf den die Beschreibung des qualitativen Experiments zurückgeht, die fächerübergreifende Einheit der Methoden (Kleining 1986, S. 730).
2.3
Das Gedankenexperiment
Mach betonte den Wert des Gedankenexperiments, das einen Ökonomievorteil besitze („unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur Hand, [sic] als die physikalischen Tatsachen“, Mach 1991 [1905], S. 187) und das für alle Disziplinen wichtig sei, da es die Vorbereitung realer Experimente und die Übersicht über die möglichen Fälle erleichtere. Es sei beim Erkennen und Lösen von Widersprüchen in experimentellen Befunden wichtig und trage zur Reduktion von Faktoren bei – einer „Idealisierung“, die allgemeine physikalische Begriffe und Gesetze zu entwickeln helfe. Mach (1991 [1905], S. 192) gibt folgendes Beispiel: „Indem man sich den Bewegungswiderstand eines auf horizontaler Bahn angestoßenen Körpers [. . .] bis zum Verschwinden abnehmend denkt, kommt man zu der Vorstellung des ohne Widerstand gleichförmig bewegten Körpers. In Wirklichkeit kann dieser Fall nicht dargestellt werden.“ In der Naturwissenschaft berühmt ist das Gedankenexperiment zum freien Fall von Giovannni Batista Benedetti (1530–1590), der widerlegte, dass unterschiedlich schwere Körper unterschiedlich schnell fallen. In der theoretischen Physik des 20. Jahrhundert spielten Gedankenexperimente eine wichtige Rolle. Sie wurden beispielsweise von Albert Einstein (1879–1955) – einem Schüler Machs – bei der Entwicklung der Relativitätstheorie genutzt. Ein Beispiel ist die Lichtuhr aus der speziellen Relativitätstheorie, nach der eine von außen beobachtete, bewegte Uhr langsamer läuft. Viel beachtet sind auch philosophische Gedankenexperimente wie das TrolleyProblem von Philippa Foot – ein moralisches Dilemma zur Frage, ob man den Tod einzelner in Kauf nehmen kann, um viele zu retten –, und das Käfer-Gleichnis, mit dem Ludwig Wittgenstein (1889–1951) sich gegen eine Privatsprache wandte, um persönliche psychische Sachverhalte zu benennen.
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2.4
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Die Blütezeit des qualitativen Experiments
Die Blütezeit des qualitativen Experiments in der Psychologie war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, ehe es durch den Behaviorismus vollständig verdrängt wurde. Zunächst entwickelte sich in der Würzburger Schule als Gegenbewegung zu Wundt ein explorativ-qualitativer Gebrauch des Experiments, um komplexe Denkvorgänge zu untersuchen. So arbeitete Karl Bühler mit vielfältig variierten Aufgaben (wie z. B. „Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?“ oder „Können Sie die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers berechnen“, Bühler 1999a [1907], S. 163), die die untersuchten Subjekte zunächst still für sich lösen sollten, um dann ihren inneren Prozess dem Forschungsleiter (i. d. F. also Bühler selbst) mitzuteilen. Die Auswertung führte zu wesentlichen Erkenntnissen über das Denken (wie die Unanschaulichkeit von Gedanken, das Aha-Erlebnis). Trotz Wundts heftiger Kritik (Wundt 1907; Bühler 1999b [1908]) wurde das qualitative Experiment auch in der Berliner Gestaltpsychologie aufgegriffen (Vollmers 1992, Kap. II.2), wo es in den Arbeiten von Max Wertheimer (1880–1943), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Karl Duncker (1901–1940) zu wichtigen Entdeckungen über die Wahrnehmung (Phi-Phänomen; Gestaltfaktoren Nähe, Gleichheit, Geschlossenheit und gute Kurve; Wertheimer 1912, 1923) und das produktive Denken und Problemlösen führte (Problemlösen als Umstrukturierung, funktionale Gebundenheit; Duncker 1935; Wertheimer 1945). Duncker nutzte in seinen qualitativen Experimenten variierte mathematische und technische Probleme, die die untersuchten Subjekte laut denkend lösen sollten. Köhler (1963 [1921]) erforschte in seinen berühmten Experimenten, die sich durch vielfältige Bedingungsvariationen auszeichneten, die Intelligenz von Schimpansen, indem er sie mit Umwegaufgaben konfrontierte, in denen das Tier eine Frucht nur erreichen konnte, wenn es einen Gegenstand als Instrument nutzte (s. auch Fitzek 2010). Frederic Bartlett (1916, 1932) hat qualitative Experimente zum Wahrnehmen, Vorstellen und Erinnern durchgeführt (Wagoner 2015). Er lehnte die Experimente von Ebbingshaus (1885) ab, der das Gedächtnis mit sinnlosen Silben untersucht hatte, weil reale Stimuli Bedeutung enthalten und beim Erinnern immer auch die Vorerfahrung, der soziale Kontext und der emotionale Bezug eine Rolle spielen. Er ging von einem aktiven, Bedürfnis und interessensgeleiten Subjekt aus. Wie in der Würzburger Schule untersuchte er mentale Prozesse mit alltagsnahen Aufgaben. Bartletts Experimente zeichnen sich durch eine Vielzahl von Variationen aus. Er hat seine Wahrnehmungs- und Vorstellungsexperimente (Bartlett 1916) mit unterschiedlichem Material durchgeführt (abstrakte Figuren und Muster, Darstellungen von konkreten Objekten, von Szenen, mehrdeutige Tintenkleksbilder mit unterschiedlichem Komplexität- oder Detailierungsgrad). Er hat mit verschiedenen Reproduktionsformen gearbeitet (Zeichnung, verbale Mitteilung). Auch in seinen Erinnerungsexperimenten hat er variierte Materialklassen eingesetzt: Bilder, Geschichten und andere Textarten (Märchen, Zeitungsbericht, Kommentare); dabei benutzte er sowohl vertrautes als auch unvertrautes Material, darunter das indianische Märchen „War of
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the Ghosts“, das sich durch narrative Brüche, einem Mangel an Logik, und fremde Elemente auszeichnet, um Grenzen des Verstehens und Erinnerns auszutesten. Auch hier hat er unterschiedliche Reproduktionsbedingungen genutzt (per Zeichnung, verbal, ikonisch mit Zeichen). Er hat mit verschiedenen Zeitspannen bis zur Erinnerung experimentiert und die Erinnerung entweder wiederholt bei einer Person oder wie beim Spiel „Stille Post“ seriell durch verschiedene Personen geprüft. Bartlett erkannte die Bedeutung von Interessen, Werten und Gefühlen – als „attitude“ bezeichnet – und der Vorerfahrung für Wahrnehmen und Vorstellen (Wagoner 2015, Abs. 9 und 25). Seine Experimente führen zur Erkenntnis, dass Erinnern kein reproduktiver, sondern ein rekonstruktiver und konstruktiver Prozess ist (Bartlett 1932, Kap. X, part 7), in dem das erinnerte Material auf der Basis von Attitüden und Schemata, die die Erfahrungen des Subjekts samt seiner kulturellen Verankerung spiegeln, produktiv bearbeitet wird. Im Experiment „War of the Ghosts“ führte dies dazu, dass die fremde Geschichte durch Auslassungen, Vereinfachungen, Transformationen und Einfügung von sinnvollen Erklärungen („rationalization“) produktiv verändert erinnert wurde. Auch in der klassischen Wiener Entwicklungspsychologie um Charlotte Bühler (1991 [1922]) und in der Entwicklungspsychologie Jean Piagets wurde die Methode eingesetzt und führte zu bedeutenden Erkenntnissen (Mey 2010, 2011). Piagets Hauptwerk, das auf einer nahezu täglichen Untersuchung seiner drei Kinder in deren Umgebung von kurz nach der Geburt bis zum Kleinkindalter basiert, verbindet eine vielfältig variierte teilnehmende Beobachtung mit qualitativen Experimenten (Piaget 1975 [1945], 1998 [1937], 2003a [1936]). Seine Experimente nutzten Alltagsobjekte und erweiterten und variierten die natürlichen Interaktionen, um beobachtete Zusammenhänge genauer zu explorieren, ihre Struktur zu überprüfen und ihre Grenzen zu testen (Burkart 2005). In seiner klinischen Methode – einer Kombination von Beobachtung und Befragung zur Erforschung der Weltbilder von Kindern – verwandte Piaget (2003b [1926]) vorsichtig experimentell variierte Fragen an Kinder, um die Gefahr von Suggestionen zu verringern (Burkart 2005, S. 481–484). Er erkannte, dass Kinder in der Vorschulzeit auf offene Fragen mit folgenden Methodenartefakten reagieren: Mir-ist-es Wurstismus – das Kind antwortet gelangweilt irgendetwas; Fabulieren – das Kind antwortet mit einer erfundenen Geschichte, an die es selbst nicht glaubt; suggerierte Überzeugung – das Kind reagiert auf eine suggestive Fragestellung entsprechend der Suggestionsrichtung.
2.5
Die Marginalisierung des qualitativen Experiments und deren Kritik
Während das qualitative Experiment Mitte des 20. Jahrhunderts in der Psychologie bis auf einige wenige Ausnahmen in der Sozialpsychologie – wie beispielsweise das ethisch fragwürdige, 1971 durchgeführte Standford-Prison-Experiment (Haney et al. 1973) – fast vollständig verschwunden war, besaß es in der Ethnomethodologie mit den Krisenexperimenten von Harald Garfinkel (1967) zumindest noch eine margi-
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nale Rolle – hier allerdings weniger explorativ als zur Demonstration bekannter Phänomene. 1977 hat Urie Bronfenbrenner das Verschwinden des heuristischen und die Dominanz des deduktiv-nomologischen, zumeist im Labor durchgeführten Experiments für die Entwicklungspsychologie kritisiert: Viele dieser Experimente [. . .] beinhalten [Situationen], die unvertraut, künstlich und kurzlebig sind; dies ruft ungewöhnliche Verhaltensweisen hervor, die schwer auf andere Settings zu übertragen sind. Aus dieser Perspektive heraus kann bemerkt werden, daß [sic] die gegenwärtige Entwicklungspsychologie zu einem großen Teil die Wissenschaft fremdartigen Verhaltens von Kindern in fremden Situationen mit fremden Erwachsenen in kürzestmöglichen Zeitabschnitten ist. (Bronfenbrenner 1978 [1977], S. 33)
Er forderte das ökologische Experiment, um die wechselseitige Anpassung des sich entwickelnden Subjekts und seiner Umwelt durch Vergleiche von unterschiedlichen Umwelten oder deren Komponenten in echten oder „natürlichen“ Experimenten zu untersuchen, wobei natürliche Experimente eine vorhandene Variation des untersuchten Gegenstandes nutzen. Das ökologische Experiment sei weniger hpyothesentestend als entdeckend und heuristisch bereits zu Beginn eines Forschungsprozesses einzusetzen, weil ein Verständnis von Anpassungsprozessen oft nicht durch bloße Beobachtung möglich sei, sondern Eingriffe erfordere. Während das Schema deduktivnomologischer Untersuchungen oft irreführend eindimensional sei – das Subjekt reagiere auf einen Stimulus des Experimentierenden – erfordere das ökologische Experiment systemische Modelle der Interdependenz von Subjekt und Umwelt. Diese Umwelt konzipierte Bronfenbrenner als verschachtelte dynamische Strukturen von Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem. Während das Mikrosystem die Relation zwischen Subjekt und seinen unmittelbaren Settings wie Schule, Familie, Arbeitsplatz meint, enthält das Mesosystem die Lebenswelt eines Subjekts als Ganzes. Das Exosystem beschreibt formelle und informelle Strukturen wie Verwaltung, Arbeitswelt oder Massenmedien, die auf die Mesosyteme einwirken, während das Makrosystem globale Muster einer Kultur oder Subkultur bezeichnet. Ökologische Experimente können auf jede Systemebene bezogen sein. Mikrosystemisch sollten sie, so Bronfenbrenner, die Interdependenz von Subjekten und Strukturen sowie das gesamte System reflektieren, das alle Beteiligten samt der/des Forschenden enthält. Mesosystemische Experimente sollten die Einflüsse und Interaktionen von verschiedenen Settings untersuchen, wobei Übergänge im Lebenslauf wie Rollenwechsel, Reifungsübergänge und Veränderungen wie z. B. Scheidung oder Arbeitsverlust besonders interessant seien. Exosystemische Experimente könnten sich beispielsweise auf Merkmale des Gesundheits- und Wohlfahrtssystems beziehen, während makrosystemische Experimente durch kulturvergleichende Studien oder durch Untersuchung des sozialen Wandels in einer Kultur möglich sind. Bronfenbrenner wies außerdem auf die Möglichkeit des Transformationsexperiments hin, bei dem ein vorhandenes Systems als Ganzes transformiert wird. In der Kultur- und Ganzheitspsychologie um Jaan Valsiner und Rainer Diriwächter (Diriwächter und Valsiner 2008; Valsiner 2007) werden qualitativ-experimentelle
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Methoden diskutiert, wobei auch auf klassische europäische Ansätze und Methoden aus der Ganzheitspsychologie und der Gestaltpsychologie rekurriert wird (Clegg 2009; Diriwächter und Valsiner 2008). Valsiner (2007, S. 370–371) kritisiert mit Bezug auf Vygotsky das quantitativ-nomologische Experiment. Das untersuchte Subjekt erlebe und interpretiere das gesamte, aus komplexen, dynamischen, kulturell bestimmten Strukturen bestehende experimentelle Setting und reagiere nicht nur auf die unabhängigen Variablen. Es setze aktiv Ziele und erkenne Mittel, um in der experimentellen Situation entsprechend der Vorgaben der/des Forschenden zu handeln oder aber sich diesen Vorgaben zu verweigern. Valsiner schlägt eine Art Krisenexperiment vor, um diese Konstruktionsprozesse in der experimentellen Situation zu erfassen. Dabei wird das untersuchte Subjekt zunächst gebeten, in einer bestimmten Richtung zu handeln. Nachdem es eine Zielorientierung aufgebaut hat, wird eine Verständnisblockade eingeführt, um die Zielerreichung zu erschweren: „The person’s action plan is expected to be interrupted, and s/he begins to use new – created or imported – meanings for dealing with the meaning disturbance“ (Valsiner 2007, S. 379). Die inneren Prozesse auf diese Verständnisblockade werden dann untersucht.
3
Methodologische Prinzipien und Techniken des qualitativen Experiments
Wie andere wissenschaftliche Methoden hat auch das qualitative Experiment einen Alltagsbezug. Kinder und auch Tiere erkunden ihre Welt mit kleinen Experimenten. Erwachsene experimentieren im Alltag, um Handlungsmöglichkeiten zu eruieren. Normalerweise verfolgen diese Experimente praktische, persönliche Zwecke. Auch das wissenschaftliche Experiment nutzt den Eingriff, um einen Gegenstand zu erforschen. Es hat aber normalerweise keinen naiven, subjektiven und unsystematischen Charakter. Während sich das quantitative Experiment noch weiter vom Alltagsexperiment entfernt, indem es unter kontrollierten (Labor-)Bedingungen Hypothesen testet, bewahrt das qualitative Experiment die Offenheit und Alltagsnähe des Alltagsexperiments. Kleining (1986) hat das qualitative Experiment in der Methodologie der qualitativen Heuristik verankert. Der Forschungsprozess ist dialogisch bestimmt – durch Fragen, die die Forschungsperson an den Gegenstand richtet und die durch die Befunde beantwortet werden sollen. Auf das qualitative Experiment bezogen heißt dies, dass die Fragen an den Gegenstand in Experimente transformiert werden. Die Antworten (in Form von experimentellen Befunden) und deren Analyse können zu neuen Fragen führen und weitere Experimente nach sich ziehen usw. Es ergibt sich ein adaptives Forschungsdesign, bei dem eine bereits bei ersten vorliegenden Daten begonnene Analyse zur Anpassung der Datenerhebung führen kann. Kleining (1982, 2010) postuliert vier Regeln zum Verhältnis zwischen Forscher/ in und Forschungsgegenstand: 1. Offenheit der Forschenden, die bereit sein sollten, ihr Vorverständnis des Gegenstandes anzupassen, wenn es den Daten widerspricht.
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2. Offenheit des Gegenstandes, der als vorläufig angesehen wird und sich im Verlauf der Forschung verändern kann, wenn Neues entdeckt wird. 3. Maximal strukturelle Variation des Gegenstandes, der von möglichst unterschiedlichen Seiten exploriert werden sollte, um eine einseitige Perspektive zu überwinden. Für qualitatives Experimentieren bedeutet dies, wesentliche, den Gegenstand möglicherweise bestimmende oder konstituierende Faktoren durch Eingriffe strukturell zu variieren. Dazu können die experimentellen Bedingungen selbst gehören. Wünschenswert ist es zudem, die Methode selbst zu variieren. 4. Analyse auf Gemeinsamkeiten: Die experimentell und ergänzt durch andere Methoden gewonnenen Daten werden auf Gemeinsamkeiten hin analysiert. Sie erschließen sich nicht nur über identische oder ähnliche Inhalte, sondern auch über Gegensätze. Ziel der Analyse ist es, eine Struktur zu erkennen, die alle Daten integriert („100 %-Regel“). Aus der dritten Regel folgt die Sample-Strategie – das Extremgruppen-Sampling und nicht die Zufallsauswahl wie im quantitativen Experiment. Maximal variiert werden Faktoren einbezogen, von denen ein Einfluss auf den Gegenstand vermutet wird: „Extremgruppen-Sampling fordert nicht nur, daß [sic] ungewöhnliche, ausgefallene, ‚extreme‘ Situationen untersucht werden, sondern auch, daß [sic] das Besondere, für den Gegenstand charakteristische, mit ihm in der einen oder anderen Weise Verbundene ausfindig gemacht und in das Experiment einbezogen wird“ [. . .] (Kleining 1986, S. 734). Für das qualitative Experiment gelten drei Handlungsstrategien: • Maximierung/Minimierung: Extreme können die Struktur eines Gegenstandes offenbaren, beispielsweise durch Maximierung eines Merkmals bei Minimierung eines anderen: „Etwa bezogen auf Aufwand und Wirkung: mit welchem geringsten Aufwand kann der Forscher ein Maximum an Effekt bei seinem Gegenstand erreichen? Oder: wie kann er ein Maximum an Eingriffen vornehmen und gleichwohl den Gegenstand nur minimal verändern?“ (Kleining 1986, S. 735) • Testen von Grenzen: Die Struktur eines Gegenstandes kann über eine Erkundung seiner Grenzen deutlich werden, „die Bereiche, in denen Struktur in Beliebigkeit, Figur in Grund, Gemeintes in Nicht-Gemeintes, Einfluß [sic] in Wirkungslosigkeit, Sinn in Unsinn umschlägt“ (Kleining 1986, S. 735). • Adaption: Da der Gegenstand nicht zerstört werden darf, müssen sich die experimentellen Techniken ihm flexibel anpassen. Für den Entwurf von qualitativen Experimenten sind die folgenden experimentellen Techniken nützlich (Kleining 1986, S. 736–738; Beispiele wurden aus Burkart 2005, S. 491–492 übernommen): • Separation – Segmentation meint die Teilung des Gegenstandes durch einzelne Trennungen (Separation) oder durch Gliederung des ganzen Gegenstandes (Segmentation). Ein Beispiel wäre das vollständige oder teilweise Verschwindenlassen eines Objekts, wie z. B. eines Spielzeuges, in den Schirmexperimenten,
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die Piaget (1998 [1937]) mit seinen Kindern durchgeführt hat, um die Entwicklung des kindlichen Objektbegriffs zu untersuchen. Kombination: Elemente werden anders als im Gegenstand vorgefunden kombiniert, um seine Struktur zu erforschen. Ein Beispiel wäre die Reaktion von Kleinkindern auf richtig versus falsch konfigurierte Gesichtselemente (Vertauschung von Augen, Ohren, Nase und Mund) in Untersuchungen zur Gesichtswahrnehmung. Reduktion – Abschwächung: Wesentliche Merkmale eines Gegenstandes werden ermittelt, indem Elemente/Funktionen entfernt oder abgeschwächt werden und geprüft wird, ob der Gegenstand bestehen bleibt. Diese Strategie hat Piaget in seinen Schirmexperimenten eingesetzt, wobei er Objekte variiert partiell verdeckt hat. Dies ergab z. B., dass für seine achtmonatige Tochter zwar der Kopf und der Schwanz, nicht jedoch die Füße des Storches für seine Wiedererkennung wichtig waren (Piaget 1998 [1937], S. 37). Adjektion – Intensivierung: Dem Gegenstand wird etwas hinzugefügt, seine Elemente werden intensiviert, um seine Struktur zu erforschen. Diese Technik könnte beispielsweise in Untersuchungen zur Gesichtswahrnehmung genutzt werden, indem Gesichtselemente (Augen, Nase, Mund) variiert vergrößert werden, um ihre Bedeutung für die Gesichtswahrnehmung zu prüfen. Substitution: Gegenstandselemente werden durch andere ersetzt, um ihre strukturelle Bedeutung zu erforschen. Auch diese Technik könnte in der experimentellen Erforschung der Gesichtswahrnehmung genutzt werden, indem in Fotos Gesichtselemente durch gesichtsfremde Elemente (z. B. Mund durch Bauklotz, Augen durch Schnuller) ersetzt werden. Transformation: Der Gegenstand wird transformiert, um seine Struktur zu erforschen. Interessante Transformationen sind Negationen (Gegenteile, Umkehrung, Spiegelbilder). Ein Beispiel sind die Piaget’schen Umschüttversuche (Piaget und Szeminska 1975 [1941], Kap. 1–2), bei denen das Volumen (Menge) von Flüssigkeiten oder Holzperlen scheinbar transformiert wurde, indem sie in unterschiedlich geformte, transparente Gefäße umgegossen und die Kinder nach Änderungen im Volumen (der Menge) gefragt wurden.
Diese experimentellen Techniken lassen sich auch in der Textanalyse einsetzen, um die Struktur und Bedeutung von Texten zu erhellen. Dabei wird gezielt in Texte eingegriffen, um ihre Struktur zu erhellen. Um z. B. die Bedeutung bestimmter Textelemente zu explorieren, können sie gezielt substituiert werden: „Bei Trivialliteratur, aber auch bei schöngeistigen Erzeugnissen erlebt man Überraschungen durch den Ersatz von Personen: Änderung ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Berufs, ihres Charakters, des Handlungsrahmens etc. Bei AlltagsErzählungen kann man Personen, Situationen, Problembereiche, Lösungsmöglichkeiten austauschen“ (Kleining 1986, S. 741). Um die Funktion einer Reihenfolge von Textelemente zu klären, kann man sie anders als im Text vorgefunden kombinieren: „Alles was mit Spannung und Witz, Ironie, Humor zusammenhängt, ist sequenzabhängig, es kann auf diese Weise studiert werden“ (Kleining 1986, S. 741).
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Für das qualitative Experiment lassen sich dieselben Gütekriterien wie für andere qualitativ-heuristische Methoden verwenden, nämlich Verlässlichkeit, Gültigkeit, Geltung und Gültigkeitsbereich (Kleining 2010, S. 74; zu differenten Positionen in der Frage der Gütekriterien qualitativer Forschung, Flick 2010). Sie stellen sich, sofern die Forschung regelkonform erfolgt ist, von selbst ein. Zu Beginn sind die Ergebnisse oft wenig reliabel, wenn z. B. ein Experiment mit verschiedenen Personen unterschiedliche Ergebnisse ergibt. Später, wenn diese Unterschiede in der Analyse aufgehoben sind, ist dagegen Reliabilität gegeben. Auch die Validität stellt sich ein, wenn der Gegenstand in wesentlichen Aspekten variiert untersucht wird und die Daten nach der „100 %-Regel“ auf Gemeinsamkeit hin analysiert werden. Die Geltung der Resultate ist jedoch grundsätzlich begrenzt, weil psychisch, sozial, raum-zeitlich in ständiger Veränderung begriffene Gegenstände untersucht werden. Der Gültigkeitsbereich kann erheblich variieren und ist davon abhängig, wie eng oder breit der Gegenstand in den Daten repräsentiert ist. Die Grenzen der erkannten Struktur können experimentell getestet werden. Sofern das qualitative Experiment nicht im Rahmen der qualitativ-heuristischen, sondern einer anderen Methodologie eingesetzt wird, ergeben sich eventuell Modifikationen in der experimentellen Planung und der Analyse der Daten. Die Analyse würde in solchen Fällen nicht oder nicht nur nach Regel 4 (Analyse auf Gemeinsamkeiten), sondern nach anderen Regeln – beispielsweise durch Kodieren nach der Grounded-Theory-Methodologie (Mey und Mruck 2009) oder einem interpretativen Verfahren – durchgeführt werden. Direkt in andere qualitative Methodologien übertragbar sind die beschriebenen experimentellen Techniken.
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Aktuelle qualitativ experimentelle Arbeiten
Das qualitative Experiment gehört noch immer zu den vernachlässigten qualitativen Verfahren. Eingesetzt wird das Verfahren in der qualitativen Heuristik u. a. für sozialpsychologische oder medienpsychologische Untersuchungen und als Heuristik in der Textanalyse. Verwendungen des Verfahrens finden sich auch in wahrnehmungspsychologischen Untersuchungen zur Aktualgenese in der neueren Ganzheitspsychologie (Diriwächter 2008) und verstreut in anderen Feldern und Disziplinen. Es folgen einige Untersuchungsbeispiele. In einer Untersuchung von Kleining (1994) über Vorurteile wurden 70 Studierende gebeten, jeweils vier Experimente in natürlicher Umgebung auszuführen. Dabei sollten sie in ihrer Vorstellung zunächst einer „zufällig“ ausgewählten Person ein negatives Merkmal, dann einer anderen Person ein positives Merkmal zuschreiben und ebenso einer Gruppe von Personen ein negatives und einer anderen Gruppe ein positives Kennzeichen zuordnen. Die Forschungssubjekte sollten sich diese Zuschreibung „ausmalen“ und dann notieren, wie sie sich gefühlt hatten. Die Aufgabe traf auf vorliegende Vorurteile; die Produktion neuer Vorurteile gelang in den meisten Fällen. Die Stimmung der Teilnehmenden spielte eine Rolle: waren sie heiter, folgten eher positive Vorurteile, waren sie deprimiert, negative. Bei der
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Produktion „falscher“ Vorurteile ergaben sich Gewissensbisse, Scham und Zweifel. Die weitere Analyse führte zu einer Theorie der Vorurteilsproduktion. In der Hamburger Forschungswerkstatt „Qualitativ-heuristische Psychologie und Sozialforschung Hamburg. Dialogische Introspektion“, die sich mit einer Wiederbelebung der Introspektion beschäftigt (Qualitativ-heuristische Psychologie und Sozialforschung Hamburg 2017; Witt 2010), werden qualitative Experimente z. B. genutzt, um die Rezeption von Medien zu untersuchen. Die Subjekte wurden bei der Nutzung von Medien gebeten, ihren Rezeptionsprozess per Introspektion zu erfassen (Burkart 2006). Es wurden folgende Aspekte variiert: der Filmtyp (Kunstfilm, Nachrichtensendung, Daily Soap, Internetseite, Dokumentarfilm), die Verständlichkeit, der Zeitbezug (aktuelle Filme vs. ältere Filme), die Präsentationsform (in der Gruppe gezeigt, individuell durch jede/n Teilnehmer/in für sich rezipiert) und die Rezeptionsdauer (kürzere vs. längere Filme). Die Analyse ergab, dass Rezeption keine passive Aufnahme eines medialen Geschehens ist, sondern ein explorativer dialogischer Prozess mit rezeptiven und aktiven Qualitäten. Ein mediales Produkt wird über eine Verbindung mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen oder Konzepten angeeignet und ist durch drei Rezeptionsstile (involviert, distanziert und desinteressiert/gelangweilt) bestimmt. Capezza (2003) führte ein qualitatives Experiment durch, um den Prozess aufzuklären, der zu Gewaltentscheidungen führt. Dabei wurde eine amerikanische und eine estnische Stichprobe mit projizierten Bildern aus dem Computerspiel Duck Hunt und anderen Entenbildern konfrontiert und gebeten mit der Methode des lauten Denkens zu schildern, was sie sehen, fühlen und denken, um dann die Entscheidung zu fällen, auf das Bild zu schießen oder nicht. Ferner wurden Erfahrungen mit Gewaltspielen und -filmen mit einem Fragebogen erfasst. Während die meisten Versuchsteilnehmenden aus den USA auf die Ente aus dem Videospiel schießen, nicht aber auf die übrigen Enten, reagierten die Personen aus Estland, denen das Videospiel nicht vertraut war, seltener mit Gewalt. Capezza (2003) interpretiert diesen Befund damit, dass Erfahrungen mit Gewaltspielen einen Rahmen schaffen können, der die Entscheidung, mit Gewalt zu handeln begünstigt. Auf einer Konferenz des Zentrums für Qualitative Psychologie 2002 wurden das Potenzial inhaltsanalytischer Methoden für die Analyse eines gemeinsamen Texts mit einem qualitativen Experiment untersucht (Gürtler 2003), mit Beiträgen von Kleining (qualitativ-heuristische Textanalyse), Huber (quantitative Textanalyse), Kiegelmann (Stimmenanalyse), Schweizer (Analyse von Wortverteilungen nach linguistischen Gesichtspunkten) und Medina et al. (interpretativer formaler Ansatz). Um methodische Grenzen auszuloten, wurde das erste Kapitel von Don Quijote (de Cervantes Saavedra 2008 [1605 und 1615]) in einer festgelegten Ausgabe bzw. die Übersetzung als Text eingesetzt. Die qualitativ-heuristische Textanalyse, die Strukturen des Textes mit Fragen und Experimenten aufzudecken versucht (Kleining 1989), führte zur Erkenntnis eines Gegensatz zwischen dem Realitäts- und Imaginationskonzept von Cervantes und zur Aufdeckung seines Konzepts von Humor, was in eine generelle Theorie über Humor mündete.
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Die Analyse von Worthäufigkeiten mit Hilfe von AQUAD 6 durch Huber erwies sich als nicht aussagekräftig, um die Intention des Autors aufzudecken. Auch die Stimmenanalyse („voice-approach reveals different layers of individuals’ expressions of subjective experiences and self-presentations in social relationships“, Gürtler 2003, Abs. 8) konnte nicht auf den Text bezogen werden. Schweizer analysierte die Rezeption des Textes und seine Interpretation mit Wortsequenzen und Sprechakteinheiten: The process of interpreting the text is done on the basis of the reader’s historical, political and cultural background and not on that of Don Quixote. Thus, structure and sequence of expressions have to be integrated with the qualitative impressions of the reader. A hermeneutic position would state that if Don Quixote were a non-fictional character, he may need therapeutic intervention. But his highly neurotic, ridiculous behavior makes sense for this fictive person. The individual who reads a great deal about knights, as those depicted in Don Quixote, finds himself or herself in the same position as a fictitious character in the book. (Gürtler 2003, Abs. 9)
Es wurde deutlich, dass die konkurrierenden Analysemethoden in ihrer Anwendbarkeit auf den Text stark variierten (von gut bis nicht anwendbar), dass nicht alle wesentlichen Methoden im Experiment vertreten waren und dass jede Methode den Text perspektivisch betrachtet, wobei keine dieser Perspektiven für sich erschöpfend war. Eine andere Schwerpunktsetzung enthält das KWALON-Experiment, das Diskussionen über Software zur Unterstützung qualitativer Datenanalyse (QDASoftware) anstoßen wollte (Evers et al. 2011). Beteiligt waren fünf Entwickler/ innen von QDA Software (ATLAS.ti, Cassandre, MAXqda, NVivo, Transana), die einen von den Organisatoren zur Verfügung gestellten Datensatz zur finanzielle Krise 2008–2009 analysieren sollten, wobei bestimmte Forschungsfragen vorgeben wurden. Ein Ziel des Projekts war es zu überprüfen, ob verschiedene Formen von QDA-Software vergleichbare Ergebnisse erbringen. Obwohl die Forschenden unterschiedliche Stichproben aus dem Datensatz gezogen haben, sind die Gemeinsamkeiten der Ergebnisse größer als die Differenzen (di Gregorio 2011, Abs. 4). These experienced qualitative analysts were guided by the research questions and adopted appropriate methods to answer those questions. They used the software package with which they were most familiar. The defining difference between the packages was not methodological but the type of data they support. As the corpus included a wide range of data of different types, the analysis could be covered not only by the multi-media packages of ATLAS.ti, MAXqda and NVivo but the textual analysis package Cassandre and the audio/ video specialist package Transana. It is the analyst that directs the analysis in the software, not the other way round. (di Gregorio 2011, Abs. 10)
Ferner wurde deutlich, dass QDA-Software wichtig ist, um Transparenz im Forschungsprozesses herzustellen und die Kooperation in der Forschungsgruppe (insbesondere mit verstreut arbeitenden Forschenden) zu erleichtern (Schuhmann 2011).
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Diriwächter (2008) replizierte und erweiterte Untersuchungen der deutschen Ganzheitspsychologie zur Aktualgenese. In einem Experiment wurden Bilder in Stufen von völliger Unklarheit bis zu Klarheit vorgegeben, wobei die Befragten gebeten wurden, frei über ihre Erfahrungen zu berichten. Unklare Bilder waren mit Schilderungen von Unruhe verbunden, die in Erleichterung und ein Aha-Erlebnis umschlugen, als die Bilder klarer wurden. Diese Dynamik der Aktualgenese änderte sich völlig, wenn während der Transformation der Bilder ruhige Barock-Musik gespielt wurde. In diesem Fall erlebten die Untersuchungsteilnehmenden auch die unklaren Bildstufen als angenehm: „And further comments by the participant are geared towards synthesizing music and visuals in a way that brings them to a non-negative feeling state“ (Diriwächter 2008, S. 39). Heckel et al. (2012) haben die subjektive Bedeutung von autobiografischen Geruchs- und Geschmackserinnerungen von älteren Menschen mit einem qualitativen Experiment untersucht. Sie gehen davon aus, dass Geruchs- und Geschmackerlebnisse wesentlich im Lebenslauf sind und durch Vorlieben und Abneigungen sowie durch die Umwelt bestimmt werden. Gerüche und Geschmäcke sind oft mit Gefühlen verbunden und einem sozialen Wandel unterworfen, da sie sich mit den Lebensverhältnissen ändern können. Auf der Basis der Forschungsfragen: „Wie reagieren ältere Personen auf ausgewählte Riech- und Schmeckproben? Welche Gerüche und Geschmäcke aus dem Lebensverlauf erinnern die Teilnehmer/innen?“ (Heckel et al. 2012, Abs. 4) wurden 14 Teilnehmende gebeten, verschiedene Riechund Geschmacksproben auf sich wirken zu lassen. Ihre Reaktionen wurden beobachtet. Außerdem wurden erinnerte Gerüche und Geschmäcke erfragt, die heute nicht mehr erlebt wurden, aber von früher bekannt waren. Die Auswertung nach Gemeinsamkeiten ließ reichhaltige Beschreibungen, Bewertungen, Emotionen und Erinnerungen an Alltagsphänomene aus der gesamten Lebensspanne erkennen, darunter über fünfzig verschwundene Gerüche und Geschmäcke (größtenteils Nahrungs- und Haushaltsmittel wie Lebertran, Petroleum). Die Gerüche und Geschmäcke sind teilweise assoziativ verbunden mit bestimmten, z. T. kritischen Lebensereignissen (wie z. B. Flucht; Heckel et al. 2012, Abs. 33). Es wurden subjektive Alltagstheorien zu Geruch und Geschmack deutlich (wie z. B. „Geruch und Geschmack kann man nicht voneinander trennen“; Heckel et al. 2012, Abs. 27), die dem Verständnis von Erfahrungen dienen und Vorstellungen über Gerüche und Geschmäcke deutlich machen: „Geruch und Geschmack haben individuelle, häufig emotionale und biografische Bedeutung für die Einzelnen sowie Personen übergreifende zeitgeschichtliche, kulturelle und ökologische Bedeutung. Gerüche und Geschmäcke wie auch Geruchs- und Geschmackserinnerungen sind vielfach mit den Emotionen Ekel und Genuss verknüpft“ (Heckel et al. 2012, Abs. 33). Rauthe (2014) hat das qualitative Experiment in der Unterrichtsforschung eingesetzt, um die historisch-narrative Kompetenz von Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterricht zu explorieren. Chromiec (2005) untersucht das Verhältnis von Kindern zu kulturell Fremden in einem Kontext der Interkulturalität, der das Ziel erfolgt, Offenheit und Dialog mit dem kulturell Andersartigen zu fördern. Vier Gruppen von Kindern der ersten Klasse des Primarunterrichts einer polnischen Grundschule, die einen nach der Walddorfpädagogik gestalteten Deutschunterricht
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erhalten hatten, nahmen ebenso wie vier Gruppen, die keinen Fremdsprachenunterricht erhalten hatten, an einer Begegnung mit einem Fremden (einem Lehrer aus Deutschland) teil, wobei die Begegnung in allen Gruppen dieselbe Struktur hatte. Die Kinder in den verschiedenen Gruppen wurden in ihrer Interaktion mit dem fremden Gast beobachtet. Eine erste Analyse ergab vier emotional-kognitive Strategien des Umgangs der Kinder mit dem Fremden: Interesse, Differenzierung, Unruhe und zwei Typen von Ambivalenz. In der weiteren Analyse setzt Chromiec das qualitiative Experiment mit einer Kombinations-, einer Intensivierungs- und Transformationsstrategie ein, um Strukturen in den Daten zu erkennen. Als Ergebnis der Analyse ergibt sich eine datenbasierte Theorie der Interkulturalität. Dieses Entwicklungsmodell stellt die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten des Verhältnisses zum Fremden auf der Ebene der Empfindungen, Emotionen und Einstellungen mit den Stufen Ambivalenz, Polarisation und Kohärenz dar.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Das derzeit selten genutzte qualitative Experiment ist gut einsetzbar, um die Strukturen eines Forschungsgegenstands alltagsnah zu explorieren. Die experimentelle Strategie der Maximierung/Minimierung von Merkmalen ist hervorragend dazu geeignet, latente Strukturen des Forschungsgegenstands aufzudecken, die sich einer Augenscheinvalidität entziehen. Die experimentelle Strategie des Testens von Grenzen ermöglicht es, die Reichweite der Strukturen des Forschungsgegenstands, die zumeist begrenzt ist, zu explorieren. Das qualitative Experiment besitzt ein großes heuristisches Potenzial, wie die bedeutenden Erkenntnisse von Bühler, Wertheimer, Piaget, Bartlett und anderen zeigen. Die Analyse qualitativer Daten kann durch ein experimentelles Vorgehen bereichert werden, um durch Textexperimente, Strukturen aufzudecken, die sich anders nicht erschließen. Auch die explizite Verwendung von Gedankenexperimenten, die in den Politikwissenschaften genutzt werden, um festgefügte Sichtweisen infrage zu stellen (Tetlock und Belkin 1996), könnte in Ergänzung zu herkömmlichen qualitativen Daten heuristisch fruchtbar sein. Grenzen ergeben sich durch ethische Erwägungen. Die Teilnehmenden dürfen keinen Schaden nehmen, weshalb die Experimente vorsichtig durchgeführt werden sollen. Wünschenswert ist es ferner, dass sie nicht nur für die Forschenden, sondern auch für die untersuchten Subjekte erkenntnisgenerierend sind.
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Qualitative Längsschnittstudien Andreas Witzel
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Verortung des Längsschnittdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Prämissen, Arten und Planung von Längsschnittstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Stellenwert des Längsschnittdesigns, aktuelle empirische Studien und das zentrale Problem der Rekonstruktion retrospektiver Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ein Beispiel für die qualitative Längsschnittanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Qualitative Längsschnittdesigns zielen auf die Erforschung der Prozesshaftigkeit individueller und kollektiver Handlungen, psychischer Entwicklungen, biografischer Erfahrungsaufschichtungen und subjektiver Bewältigungsformen sozialer Realität im Zeitverlauf. Der Beitrag beinhaltet die Entstehungsgeschichte des Designs, seine theoretischen Grundlagen, verschiedene Formen, aktuelle Anwendungen und ein empirisches Beispiel aus der Lebenslaufforschung. Ein zentraler Gesichtspunkt betrifft die Chance, mithilfe eines prospektiven Ansatzes Lösungen für die Problematik retrospektiver Aussagen zu finden. Schlüsselwörter
Qualitative Längsschnittanalyse · Qualitatives Längsschnittdesign · Interpretative Sozialforschung · Panel · Lebenslaufforschung
A. Witzel (*) Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_27
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Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Verortung des Längsschnittdesigns
Die Erforschung von Lebensgeschichte, Lebenslauf und Lebensereignissen im Längsschnitt hat eine lange sozialwissenschaftliche Tradition, beginnend mit dem 18. Jahrhundert. In den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts kam der USA eine Pionierrolle bei den in der Regel multidisziplinären Studien über die individuelle Dynamik physischer und personeller Entwicklung im Zusammenhang familialer und weiterer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu (Ruspini 2002, S. 11–13). In der späteren Nachkriegszeit überwogen Längsschnittstudien mit Kindern und Jugendlichen, die hauptsächlich in den USA durchgeführt wurden. Die Entwicklung dieser Forschungsstrategie maßgeblich beeinflusst hat Glen H. Elders (1974) „Children of the Great Depression“. Einen Überblick gibt Thomae (1987). In der deutschen Psychologie leistete Hans Thomae zu dieser Zeit einen bedeutenden Beitrag für die Verbreitung der qualitativen Variante dieser Forschungsstrategie, indem er im Zusammenhang seines Konzepts der „psychologischen Biographik“ (Thomae 1951) die qualitative Längsschnittbetrachtung der menschlichen Lebensentwicklung propagierte. Sein Ansatz unter Verwendung der Exploration zeichnete sich durch Lebensnähe, d. h. ein „möglichst intensives Mitgehen mit dem zu beschreibenden, zu erklärenden Phänomen“ (Thomae 1998, S. 76) aus. Also impliziert dieser Forschungsansatz die Berücksichtigung des Prozesscharakters des Gegenstandes und damit des Zeitaspekts in der psychologischen Analyse der individuellen Lebensentwicklung. Werner Traxel (1974) etwa schätzt in seiner klassischen Einführung in die Psychologie Längsschnittuntersuchungen als ein für die klinische Psychologie und „namentlich für die Entwicklungspsychologie [. . .] unentbehrliches Instrument“. Dabei meint er wohl in erster Linie das quantitativ orientierte Forschungsdesign, dennoch erwähnt er immerhin seine qualitative Variante – wenn auch nur sehr kurz – und bewertet sie im Vergleich mit Querschnittuntersuchungen als „lebensnäher und aufschlußreicher“ (Traxel 1974, S. 160). Diesen Begründungen für die Anwendung des qualitativen Längsschnitt (QL) in psychologischen Subdisziplinen entsprechend sind klassische Längsschnittstudien im Bereich der qualitativen life-span developmental psychology zu erwähnen. Zum Beispiel kombiniert die Bonner gerontologische Längsschnittstudie „BOLSA“ (Thomae und Lehr 1987) undogmatisch quantitative und qualitative Verfahren (halbstrukturierte Interviews, Rating mit Likert-Skalen und ein „inhaltsanalytischverstehendes Vorgehen“ in der Auswertung), was angesichts des damals heftigen und teilweise immer noch bestehenden Methodenstreits in den Sozialwissenschaften (und insbesondere in der Psychologie) geradezu fortschrittlich wirkt. Aufgrund seines genuin prozesshaften Charakters beschreiben auch Elliott et al. (2008, S. 231) die Anwendung des QL-Designs in der Entwicklungspsychologie insgesamt als besonders nützlich. Quantitativ orientierte Längsschnittdesigns waren bereits durchaus schon länger üblich (Taris 2000, S. vii). Auch wenn das QL-Design zunächst vergleichsweise weniger beachtet wurde, wie in der Einschätzung, Längsschnitte würden „in der qualitativen Forschung kaum angewendet“ (Flick 2005, S. 256) zum Ausdruck
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kommt, zeigen aufwendige QL-Studien in Deutschland bereits zu Beginn der Wiederbelebung der interpretativen Methodologie in den 1970er-Jahren, wie rasch man den wissenschaftlichen Wert des QL-Designs erkannt hatte. Holland et al. (2006) zitieren eine Fülle von englischsprachigen QL-Anwendungen in den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Gesundheitswissenschaften, Soziologie und Politik. Die Krise des Ausbildungsstellenmarktes Anfang der 1980er-Jahre in Deutschland war Anlass z. B. für die Studie über die Gestaltung und subjektive Verarbeitung des beruflichen Einmündungsverlaufs von Hauptschüler/innen mit drei Untersuchungswellen, deren Beobachtungsfenster von der 7. Schulklasse bis zur Ausbildung bzw. zum Verbleib in Überbrückungsmaßnamen reichte (Heinz et al. 1985); oder für die Untersuchung zur Verarbeitung der Arbeitslosigkeit bei Lehrer/innen (Ulich et al. 1985). Weiterhin gab es Studien zur Entwicklung von Identität (Hallebone 1992; Mey 1999; Smith 1999) sowie die zahlreichen interdisziplinären Lebenslaufstudien des Sonderforschungsbereichs der DFG (Sfb 186, 1988–2001), die u. a. die Grundlage für eine neuere sozialpsychologische Forschungsperspektive bildeten (Kühn 2015). Der zunehmenden Bedeutung von QL-Studien entspricht der Umfang methodologisch weiterführender Literatur in Deutschland im Gegensatz zum englischsprachigen Raum (z. B. Elliott et al. 2008; Mcleod und Thomson 2012; Neale 2012; Saldaña 2003) eher nicht. Die Ausführungen im vorliegenden Beitrag zur Forschungsstrategie der empirischen Sozialwissenschaften werden sich auch daher nicht auf die engen Fächergrenzen der Psychologie beschränken, zumal die praktischen Erfahrungen mit dem Design in Deutschland eher in der Soziologie und in interdisziplinären Forschungsprojekten gemacht wurden.
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Theoretische Prämissen, Arten und Planung von Längsschnittstudien
Angesichts der recht übersichtlichen Methodenliteratur zum QL-Design wird im Folgenden auch auf einige Begriffe (z. B. der Designvarianten) zurückgegriffen, die aus der schon länger bestehenden quantitativen Forschungstradition stammen. Das Forschungsdesign von Längsschnitt- oder auch Longitudinalstudien basiert auf der grundsätzlichen Annahme der Prozesshaftigkeit sozial- und humanwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände. Es bewährt sich in der Untersuchung von Differenzen, Modifikationen, Stabilität/Konstanz, (Dis-)Kontinuitäten oder Ausformung von Varianten und Transformationen individueller, gruppenbezogener oder institutioneller (z. B. familialer) Merkmale unter veränderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Zeit. Die QL-Forschung im Besonderen zielt – wie die qualitative Methodologie im Allgemeinen – auf den interpretativen Nachvollzug und das Verstehen von Sinn setzenden und -deutenden Lebensprozessen und -umständen in ihrer zeitlichen Entwicklung. Sie betont im Unterschied zur deduktiv-hypothesenprüfenden quantitativen Längsschnittanalyse eine offene Vorgehensweise, um den Gehalt der subjektiven Deutungs- und Interaktionsmuster nicht mit vorgefassten Variablen/Kategorien zu
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überdecken. Dabei lässt sich ausgehen von der Annahme individueller Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit (agency) und der Auffassung eines Verhältnisses zwischen Subjekt und Umwelt, bei dem die Akteure/Akteurinnen – wie etwa im Modell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Hurrelmann 1983) oder im Konzept der „Selbstsozialisation“ (Heinz 2000) – als Produzent/innen ihrer eigenen Entwicklung begriffen werden: Gesellschaftliche Bedingungen legen den Individuen und Gruppen zwar bestimmte Orientierungen und Handlungen nahe, sie determinieren sie aber nicht (Elder und O’Rand 1995, S. 465). Weil die Handlungsbedingungen nicht nur einen einschränkenden oder gar erzwingenden, sondern auch einen ermöglichenden Charakter haben, sind sie beständiger Interpretation und damit auch Modifikation durch die Akteure unterworfen. Damit ist die Fokussierung des qualitativen Längsschnittdesigns auf die Akteursperspektive begründet, die sich – passend zur postmodernen Auffassung des Selbst (z. B. Gubrium und Holstein 1995) – für Wandlungen, Ambiguitäten und Inkonsistenzen von Orientierungen und Handlungen in der Auseinandersetzung mit sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder Situationen interessiert. Im QL-Design angewandte Erhebungsmethoden: Interview (überwiegend), teilnehmende Beobachtung, Gruppendiskussion, Autobiografien, Briefe oder Spielund Zeichnungsmethoden. Hoppe-Graff (1989) plädiert seit Ende der 1980er-Jahre wiederkehrend dafür, Tagebuchaufzeichnungen (wie sie z. B. von dem Ehepaar Stern zu Anfang der Entwicklungspsychologie angelegt wurden) als eine zentrale Standardmethode für längsschnittlich angelegte Studien zu nutzen (Mey 2010). Um Prozesse der intra- und interindividuellen Entwicklung einer über mindestens zwei Erhebungszeitpunkte feststehenden Gruppe von Individuen in einem mehr oder minder großen Beobachtungszeitraum zu erfassen, ist das prospektive QL-Design (Elliott et al. 2008) angemessen. In der quantitativen Tradition wird es als time series analysis bezeichnet (Taris 2000, S. 6–7). Prospektiv als Bezeichnung der Daten bedeutet, dass die einzelnen Erhebungswellen auch vom je aktuellen Standpunkt aus formulierte Zukunftserwartungen und -perspektiven enthalten; prospektiv als Bezeichnung des Designs formuliert dagegen die Absicht, weitere Erhebungen mit der gleichen Stichprobe zu realisieren. Die jeweils ausgewählte Untersuchungsgruppe sollte in ihren Orientierungen und Handlungen einem gemeinsamen sozialen und kulturellen Kontext zugehören, z. B., abhängig von der konkreten Fragestellung, als Alterskohorte (gemeinsames Geburtsjahr) oder mit gleichen Erfahrungsbedingungen im gleichen Zeitintervall (Ryder 1965, S. 845). Bereits zu Beginn der Durchführung der Studie bestehen in der Regel auch klare Vorstellungen über die Größe des Beobachtungsfensters sowie die Anzahl und das Timing der Untersuchungswellen, die notwendig sind, um die Dynamik der zu beobachtenden Prozesse zu begleiten und in jeweils eigenen Erhebungswellen zu rekonstruieren. Ursachen, Verlaufsformen und Resultate der zu beobachtenden Prozesse werden in einem Beobachtungsfenster analysiert, das eher in Jahren zu fassen ist: „Longitudinal means a lonnnnnnnng time“ (Saldaña 2003, S. 1). Extrembeispiele für zeitlich ausgreifende Studien sind eine anthropologische Feldstudie in Mexiko über 50 Jahre (Foster 2002) und eine bildungsbiografische Untersuchung mit 21 Befragungswellen (Friebel et al. 2000).
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Kriterium für den ersten Erhebungszeitpunkt einer prospektiven QL-Studie können z. B. jeweils spezifische Kontextbedingungen sein, die für die Handlungen einer Gruppe von Befragten hohe subjektive Relevanz besitzen (z. B. der Beginn einer beruflichen Ausbildung als Moment beruflicher Karriere). Die Erhebung von Handlungen und Orientierungen im Kontext kann sich dabei sowohl auf die Gegenwart, also auch Vergangenheit und Zukunft beziehen. Mögliche Veränderungen oder Konstanz von Orientierungen, (Um-)Entscheidungsprozesse und vollzogene Handlungen wie deren Resultate werden dann zu späteren Zeitpunkten erhoben, d. h. retrospektiv rekonstruiert. Ist eine weitere Befragungswelle vorgesehen, werden diese retrospektiven Aussagen um wiederum prospektive Aussagen der Befragten erweitert. Die einzelnen Erhebungszeitpunkte richten sich nach erwarteten Statusänderungen (in dem angeführten Beispiel eine zweite Erhebung nach dem Ende der beruflichen Ausbildung, um Einmündungen in den Beruf, in weitere Ausbildung oder Arbeitslosigkeit zu erfassen) oder werden relativ willkürlich gesetzt (z. B. ganz pragmatisch gemäß des vorgegebenen Zeitrahmens der bewilligten Forschungsgelder). Beim Ziehen der Anfangsstichprobe ist die sog. Panelmortalität oder attrition (Elliott et al. 2008, S. 235–236) zu berücksichtigen, d. h. der mögliche Verlust von Untersuchungspersonen im Verlauf einzelner Erhebungen. Vor allem bei einem größeren Beobachtungszeitfenster droht die Gefahr der Stichprobenselektivität aufgrund von Ausfällen durch Umzug, Krankheit und Tod, die zu schätzen schwierig ist, weil sie von vielen Faktoren abhängt (siehe für weitere Besonderheiten Abschn. 4). Über die für qualitative Studien im Allgemeinen geltende Beachtung des zwischen Forschenden und Befragten herzustellenden informed consent (Gebel et al. 2015 bezogen auf qualitative Interviews) und weiterer forschungsethischer Grundsätze für die Einhaltung des Datenschutzes hinaus muss beim prospektiven QL-Design die Einwilligung sowohl der Adressengeber/innen (z. B. schulische Behörden bei der Befragung von Schüler/innen) als auch der Befragten bereits zu Beginn der Studie für den gesamten Befragungszeitraum erwirkt werden. Eine besondere Brisanz bekommt hier die Datenschutzfrage zum einen durch die Fülle von Lebenslaufdetails und damit verbunden sehr persönlichen Informationen aus den einzelnen Befragungswellen der Studie, die vor unbefugtem Zugriff geschützt werden müssen; zum anderen durch die Notwendigkeit, Adressenlisten längerfristig aufzubewahren und aufgrund möglicher Adressänderungen im Zeitintervall der Studie zu pflegen (Neale 2013). In der Auswertung sind die Ergebnisse der Mehrfachbefragungen kritisch auf ihre Gültigkeit hinsichtlich Veränderungen von Orientierungen und Handlungen zu überprüfen. Im Verlauf von QL-Erhebungen kann es aufgrund des regelmäßigen Kontakts zu Effekten der Beeinflussung von Befragten kommen; z. B. entstehen Ungleichgewichte zwischen Nähe und Distanz, Entwicklungen von Aspekten persönlicher Beziehung oder von Lerneffekten (Rendtel 1990, S. 280), die auf der Basis der wiederholten und intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik die Gültigkeit der Studie beeinträchtigen. Umgekehrt können Veränderungen von Orientierungen und Handlungen allerdings auch durch Interventionen der Forschenden bewusst intendiert
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sein (Lewis 2003, S. 54). Der erste Erhebungszeitpunkt dient dann als Ausgangspunkt für die Analyse von Prozessen, die z. B. durch Auseinandersetzung der Untersuchungspersonen mit für sie neuartigen Themen forciert werden. Für die Bewältigung der in der Regel komplexen Fragestellungen und großen Datenmengen einer QL-Analyse ist die computergestützte qualitative Datenanalyse meist unabdingbar, da so ein systematischer Zugriff auf Textsequenzen und Originalzitate des Datenmaterials möglich ist. Aus der Konstanz bzw. Differenz von Stichproben oder der verwendeten Erhebungsinstrumente in den verschiedenen Untersuchungswellen ergeben sich Variationen des QL-Designs ebenso wie aus der Entscheidung, frühere Querschnittstudien als Grundlage für neue Erhebungen zu nutzen. • Bleiben die Stichprobe und die Erhebungsmethode(n) über die einzelnen Wellen hinweg konstant, handelt es sich mit Lazarsfeld und Fiske (1938) um eine PanelStudie. Dieser Begriff wird inzwischen häufig mit dem der prospektiven QL-Studie gleichgesetzt. • Sind die Stichproben nicht identisch, werden also in die Folgeerhebungen neue, z. B. altershomogene Untersuchungspersonen einbezogen, wird von Wiederholungsstudien oder follow-up studies gesprochen. Sie bestehen aus einer Sequenz von – in der Regel zwei – Querschnittstudien und werden daher auch repeated cross-sectional studies (Taris 2000, S. 6–7) genannt. Dabei wird eher die Makro-Ebene fokussiert, d. h., die Stichproben können z. B. verglichen werden, um den Einfluss veränderter sozialer oder historischer Rahmenbedingungen auf Einstellungen zum Geschlecht und deren Konsequenzen für die Gestaltung der Balance zwischen Beruf und Familie zu ermitteln. • Eine weitere Variante ist die catch-up study (Kessler und Greenberg 1981), bei der die ursprüngliche Stichprobe einer zeitlich mehr oder weniger zurückliegenden Querschnittstudie genutzt wird, um mit einer neuen Erhebung ein QL-Design im Nachhinein zu konstruieren. Die Durchführbarkeit des angestrebten Vergleichs beider Datensätze ist dann erfüllt, wenn die Adressliste der Originalstudie noch vollständig vorhanden ist und eine genügend große Anzahl von Befragten – im statistischen Sinne – „überlebt“ hat.
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Stellenwert des Längsschnittdesigns, aktuelle empirische Studien und das zentrale Problem der Rekonstruktion retrospektiver Aussagen
Die Bedeutung des QL-Ansatzes für die Psychologie und für die interpretative Sozialforschung insgesamt ist im deutschsprachigen Raum als eigentümlich zwiespältig einzuschätzen: Einerseits wird er trotz des größeren Aufwandes an finanziellen und zeitlichen Ressourcen gegenüber Querschnittanalysen selbst in der Psychologie praktiziert. Beispielsweise ergab eine Datenbankrecherche von Forschungsprojekten (SOFISwiki der GESIS, 07.06.2015) mit den Schlagwörtern Längsschnitt, qualitativ und Psychologie 119 Treffer. Häufig handelt es sich hier
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allerdings um Längsschnittuntersuchungen, in denen qualitative Erhebungsmethoden, insbesondere Expert/inneninterviews zur Ermittlung struktureller Rahmenbedingungen oder andere Interviews in kleinen Stichproben eher eine untergeordnete Rolle gegenüber dem im Mittelpunkt stehenden quantitativen Untersuchungsanteil spielen. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass andererseits grundlegende Darstellungen und systematische wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser genuin qualitativen Forschungsstrategie bislang ausschließlich im englischsprachigen Raum stattfinden (Strehmel 2000 als Ausnahme, allerdings beschränkt auf den Aspekt der Modellierung). Neuere Beispiele für QL-Studien in den Sozialwissenschaften mit vielfach psychologischen Themen: • Identität/Sozialisation (Hughes und Dunn 2002; Pollard und Filer 2001) • Kindheit und Jugend (Bourdillon und Boyden 2014; Demuth 2011; Krüger et al. 2012; Reiter und Schlimbach 2015; Simmons et al. 2013) • Schule (Köhler und Thiersch 2013; Nairz-Wirth et al. 2014) • Bildung (Überblicksartikel: Asbrand et al. 2013; Fischer und Kade 2012) • Lebenslauf (Elder und Conger 2000; Richartz 2000; Sfb 186 1988–2001) • Beruf/Arbeitslosigkeit und Persönlichkeit (Kraus 2000; Lempert 2006) • Geschwisterbeziehungen (Murphy 1992) • Lernen (Lemmermöhle et al. 2006) • Umgang mit Krankheit und Handicap (Maddison und Beresford 2012; Nicolson 2001) Ein zentrales, bereits für Querschnittsuntersuchungen geltendes interpretatives Problem betrifft den Umgang mit retrospektiven Aussagen, die in der Regel in allen Varianten des QL-Designs erhoben werden. In der quantitativen Wissenschaftstradition wird die Rekonstruktion der Vergangenheit als abhängig von den Gedächtnisleistungen der Befragten diskutiert, betrifft also das Problem der Exaktheit von „subjektiv geprägten Fragestellungen“ (von Gostomski und Hartmann 1997, S. 121). Als passende Lösung dieses so gefassten Rekonstruktionsproblems wird die Verwendung von Gedächtnisstützen wie Pläne oder Fotografien (Eisenhower et al. 1991) empfohlen. Diese die Erhebungen ergänzenden Hilfsmittel lassen sich auf Befragungen in QL-Studien übertragen, wo sie z. B. als Kalender (Bird et al. 2000) die Erinnerung unterstützen. Die Rekonstruktion der Vergangenheit gelingt auch mithilfe von Gesprächsstrategien in Interviews, die narrative Konstruktionen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004; Mey 1999) aufweisen. Indem sie die Schilderungen von Ereignissen, Handlungen und Orientierungen befördern, werden Befragte in die Lage versetzt, spezifische Details im jeweiligen thematischen Zusammenhang („Gestalt“ der Erzählung) zu betrachten und zu erinnern. Die möglichst konkrete Erinnerung an einzelne Fakten und Daten aus der Vergangenheit ist allerdings nur ein Aspekt, der von wissenschaftlichem Interesse ist. Gegenüber dem Anliegen der Exaktheit und Gültigkeit der Aussagen entscheidender und gerade für qualitative Analysen interessanter und relevanter ist die Fokussierung der Forschung auf den Grund und Inhalt der oben zitierten subjektiven Prägung von
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Rekonstruktionen vergangener Entscheidungen, Orientierungen und Handlungsresultaten, d. h. auf die biografischen Verarbeitungsweisen sozialer Realität. QL-Designs ermöglichen die Identifikation solcher Verarbeitungsweisen, indem sie mithilfe verschiedener Erhebungswellen die jeweiligen Sichtweisen dieser Handlungen, Orientierungen etc. aus den unterschiedlichen Blickwinkeln vergangener und gegenwärtiger Explikationen kontrastieren können, um mögliche Differenzen zu finden und zu analysieren. Diese Rekonstruktionen enthalten Differenzen zwischen Erzählungen im „Hier und Jetzt der Situation, in der erzählt wird“ und Erzählungen des „Damals und Dort der Situation, über die erzählt wird“ (Legewie 1987, S. 142). Die wissenschaftliche Relevanz dieses Befundes für die Forschung wird in der qualitativen Forschung ganz unterschiedlich eingeschätzt: a) ähnlich wie in der quantitativen Forschungstradition als schwer zu lösendes Wahrheitsproblem, wie es im Buchtitel „Wahre Geschichten?“ (Strobl und Böttger 1996) idealtypisch formuliert ist. b) als zu vernachlässigendes Problem, weil „vermutlich ganz bewußte falsche oder täuschende Aussagen sowohl in den Situationen des Alltagslebens als auch in Erhebungssituationen der empirischen Forschung die Ausnahme [sind]“ (Lehmann 1983, S. 27). c) als sozialpsychologisches Phänomen, das mit einem Sinn verstehenden Zugang zu erschließen und damit originärer Gegenstand qualitativer Analysen ist. So nimmt z. B. die phänomenologische Handlungstheorie an, dass Akteure durch reflexive Zuwendung auf früher erlebte Handlungsereignisse dann erst den subjektiven Sinn der Handlung konstituieren, wenn sie die Ereignisse in einen bereits existierenden Gesamtzusammenhang von Erfahrungen einordnen und auf diese Weise eine „Synthesis höherer Ordnung“ (Schütz 1974, S. 101) schaffen. Der Sinn bildet sich hiernach also nicht im schlichten Erfahrungsverlauf, „sondern erst, wenn sich das Ich seinen Erfahrungen nachträglich zuwendet und sie in einen über deren schlichte Aktualität hinausgehenden Zusammenhang setzt“ (Luckmann 1992, S. 32; Straub 1999). Diese nachträglichen Sinnzuschreibungen sind häufig mit Umdeutungen (Halbwachs 1992; Mey 1999) verbunden, die individuelle und kollektive Anpassungsbemühungen an aktuelle, subjektiv realitätsnahe Handlungschancen und Zukunftserwartungen (Plumridge und Thomson 2003) beinhalten. In einer qualitativen QL-Studie aus der Lebenslaufforschung (ausführlich Abschn. 4) ließ sich die Funktion solcher nachträglichen sowohl Sinnzuschreibungen als auch Umdeutungen für die Gestaltung der Berufsbiografie und der subjektiven Bewältigung von Handlungsresultaten in Form von beruflichen Erfolgen und Misserfolgen empirisch zeigen: Das Motiv der Befragten, sich als eigenverantwortliches Subjekt ihrer Biografie zu stilisieren, führte teilweise dazu, dass frühere Interessen, Ziele, Erwartungen, Pläne oder Ansprüche sehr weitgehend umgedeutet wurden, auch um negative Handlungsresultate lebbar zu machen. Solche Konstruktionen sind also nicht unwahr, sondern stehen im Zusammenhang mit dem Bemühen, Diskrepanzen zwischen Vorgaben und Handlungsresultaten einerseits und individuellen Ansprüchen andererseits zu versöhnen (Heinz und Witzel 1995; Witzel 2001).
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Biografisierungen in Form von nachträglichen Sinnzuschreibungen und Umdeutungen bedeuten für die QL-Analyse, dass in jeder neuen Erhebungssituation neue Erfahrungsaufschichtungen zum Tragen kommen können, auf deren Hintergrund frühere Handlungsbegründungen häufig überhaupt erst formuliert, präzisiert oder ganz neu bewertet werden. Damit ist zugleich ein zentraler Vorteil von QL-Studien umrissen. Denn eine Querschnittuntersuchung ohne Vergleichsmöglichkeiten der aktuellen mit zurückliegenden Handlungsbegründungen kann zu wissenschaftlichen Fehlurteilen über die Bedeutung von Schilderungen z. B. bewusst geplanter beruflicher Entscheidungen und Handlungen führen, die sich in Analysen von Lebenslaufsequenzen hingegen als Biografisierungen erweisen. Die Anwendung des QL-Designs im Bereich der beruflichen Einmündungsprozesse hat auf der Grundlage solcher Erkenntnisse zur Widerlegung von Berufswahltheorien geführt, die sich überwiegend auf einmalige Erhebungen am Ende der Schulzeit stützten. Jugendliche Hauptschüler/innen scheinen diese früheren Theorien zu bestätigen, wenn sie ihre angetretene Ausbildungsstelle als Realisation ihres Wunschberufes beschreiben. Dieser stellte sich allerdings bei längsschnittlicher Betrachtung überwiegend als pragmatisch verfolgte Option auf dem Hintergrund eines längeren Anpassungsprozesses an die Erfordernisse des Ausbildungsstellen- bzw. Arbeitsmarktes heraus (Heinz et al. 1985).
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Ein Beispiel für die qualitative Längsschnittanalyse
Im Folgenden sollen methodologische und methodische Details anhand einer prospektiven QL-Studie zur Biografiegestaltung junger Fachkräfte in den ersten Berufsjahren (Heinz et al. 1998; Kühn und Witzel 2000a) erörtert werden. In dieser Studie des Sonderforschungsbereichs 186 wurden mittels quantitativer und qualitativer Verfahren Berufsbiografien und -verläufe sowie familienbezogene Statuspassagen einer Kohorte von Absolventinnen und Absolventen der dualen Berufsausbildung untersucht. Der Fokus lag im qualitativen Teil auf den individuellen Biografien, d. h. der Sequenz von Orientierungen und Handlungen beim Eintritt in das Berufsleben und in den ersten acht Jahren im Erwerbssystem. Verwendet wurden qualitative Interviews (Witzel und Reiter 2012) in einer Stichprobe von n = 92 über drei Wellen im Abstand von jeweils ca. drei Jahren. Der interdisziplinären Orientierung an der Biografie- und Lebenslaufforschung gemäß ergaben sich Bezüge zur Sozialpsychologie, zur Entwicklungspsychologie des Jugend- und frühen Erwachsenenalters (Sozialisationstheorie) und zur Soziologie (Statusübergänge in die Erwerbstätigkeit und die Elternschaft).
4.1
Planung und Design: Stichprobenumfang, Zeitintervalle, Instrumente
Die Entscheidung für eine prospektive QL-Studie basierte auf der den Prozesscharakter der Untersuchung verdeutlichenden These, dass sich infolge von „Individua-
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lisierung“ und „Erosion der Erwerbsarbeit“ der um die Erwerbsarbeit zentrierte „Normallebenslauf“ zunehmend auflöst und einer durch Diskontinuität und immer raschere Wechsel zwischen verschiedenen Statusbereichen – Erwerbstätigkeit in ihren unterschiedlichen Facetten, Arbeitslosigkeit, Familienarbeit, Weiterbildung usw. – geprägten „Bastelbiografie“ Platz macht. Die Frage, wie weit diese Prozesse fortgeschritten sind und wie stark sie sich in den Lebensverläufen niederschlagen, beantwortete die fortlaufende schriftliche Erhebung. Deren Befunde ließen sich im Mixed-Method-Ansatz (Kelle 2008) mit der im Längsschnitt untersuchten qualitativen Frage kombinieren, mit welchen biografischen Perspektiven und Umgangsweisen die mit dem Fragebogen erfassten Unterbrechungen, Brüche, Umwege und Schleifen in Lebensläufen verbunden sind. Dabei eröffnete das QL-Design eine Reihe von biografietheoretischen Möglichkeiten der Auswertung: Die Handlungskonsequenzen von zeitlich übergreifenden oder in die Zukunft reichenden Zielsetzungen konnten zu einem späteren Zeitpunkt überprüft werden; der Vergleich von aktuellen Bilanzierungen mit früheren Aspirationen machte nicht nur individuelle Neuorientierungen, sondern auch Umdeutungen sichtbar; Bilanzierungen über verschiedene Karrierestationen hinweg ließen Aufschichtungen der Erfahrungen erkennen. Um eine Paneluntersuchung in einer strengeren Definition handelt es sich in diesem Falle nicht, weil das Erhebungsinstrument nicht völlig konstant über alle Untersuchungswellen angewandt wurde, die Interviewleitfäden sich vielmehr den sich wandelnden Lebenslaufstationen anpassten. Eine solche Modifikation erwies sich z. B. angesichts unerwarteter, bereits kurz nach Beendigung der dualen Ausbildung vorzufindender Aussagen zur Familienplanung und antizipierter Probleme der Vereinbarkeit von Beruf und Familie als notwendig. Auch die Festlegung des Zeitfensters sowie die Anzahl und das Timing der Untersuchungswellen orientierten sich an der Dynamik der zu beobachtenden Prozesse. Es bestand die Erwartung, dass die übergeordnete Forschungsfrage, wie weit Pluralisierungen und Erosionen von traditionellen Lebenslaufmustern fortgeschritten sind, gerade in Übergängen zwischen subjektiv bedeutsamen Lebensabschnitten, d. h. Statuspassagen von der Ausbildung in den Beruf, überprüft werden könnten. Ausgangspunkt war daher der Abschluss einer dualen Ausbildung. Das Zeitfenster von acht Jahren basierte auf der Vorwegnahme weiterer Übergänge, Änderungen des Status und Wechsel von Rollenkonfigurationen, aber auch Familienplanung und -gründung als Anforderung an die Balance und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese Etappen sind weitgehend variabel bezüglich ihres Eintreffens und ihrer Dauer und ließen sich daher in ihrer (Dis-)Kontinuität nicht vorhersagen. Eine pragmatische Lösung bestand in der Festlegung der Erhebungszeitpunkte anhand der Finanzierungsphasen des Drittmittelgebers (in diesem Falle drei Untersuchungswellen in Drei-Jahres-Abschnitten). Auch für die Sicherung der Breite der Analysemöglichkeiten des qualitativen Materials der QL-Studie ist die Anlage der Untersuchung als Kombination quantitativer und qualitativer Methoden modellhaft. Die Stichprobenkriterien für die Auswahl der Kohorte von Absolvent/innen einer dualen Ausbildung für die quantitative Fragebogenerhebung orientierten sich an der Rezeption wissenschaftlicher
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Literatur und Statistiken des Übergangssystems in den Beruf. Diese Kriterien galten auch für die qualitative Stichprobe und umfassten den gesamten Übergangsprozess: beruflicher Kontext (Ausbildung in regionalspezifisch kontrastierenden Chancenbzw. Risikostrukturen, Berufe mit unterschiedlichen Männer- und Frauenanteilen), Vorgeschichte der Befragten (Schulausbildung, Stationen des Einmündungsprozesses in die Lehre), Übergangsformen (direkter oder indirekter Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung) und Verbleibmöglichkeit im Ausbildungsbetrieb. Da die Auswahl der Befragten für die qualitative Stichprobe als Ziehen eines selektiven Subsamples der vorausgegangen Fragebogenuntersuchung erfolgte, d. h. die Befragten der beiden Stichproben identisch waren, ließen sich quantitative Befunde mit Detaillierungen und Erklärungen der qualitativen Analyse der Interviews verknüpfen.
4.2
Erhebung
Das Problem der Panelmortalität wurde mit mehreren Maßnahmen gelöst: prinzipielle Erhöhung der Ausgangsstichprobe, um Ausfälle vorwegzunehmen; zusätzliche Nutzung von stabileren Kontaktadressen der Eltern angesichts der beruflichen Mobilität der befragten jungen Erwachsenen; Anwendung eines Incentive-Systems und einer „Panelpflege“ (Aufrechterhaltung der Feldkontakte mithilfe von Informationsbroschüren über Projektziele und -fortschritte); sorgfältige Gestaltung der Befragung in Anwendung der methodischen Vorgaben des problemzentrierten Interviews, die zu einem Vertrauensgewinn in der Beziehung zwischen den Forschenden und den Befragten führte. Genutzt wurden die positiven Erfahrungen der Befragten mit den Explikationsmöglichkeiten im Interview und der Gewinn einer Selbstverständigung, die sich aus der systematischen Befassung mit lebenspraktisch relevanten Themen und Problemen ergab. Allerdings barg die persönliche Kontinuität der Interviewbeteiligten über die Erhebungswellen hinweg Gefahren für die Balance von Nähe und Distanz zwischen den Interviewenden und Interviewten, wobei Interviewfehler entstehen konnten. Eine Fehlervariante gründete in der Sondierung stark problembehafteter Lebensverläufe und verlockte Interviewende z. B. zu einer die sachliche Distanz untergrabenden Parteilichkeit bis hin zur lebenspraktischen Beratung, eine Haltung, die in der Ethnologie als going native bezeichnet wird (Witzel und Reiter 2012, S. 174–185). Für die Interviewtechnik bedeutete die Prozesshaftigkeit der Thematik eine besondere Herausforderung: Die Sondierung der einzelnen Lebenslaufstationen Arbeit, Beruf, Weiterbildung, Studium, Schule, Arbeitslosigkeit, Partnerschaft/ Familie erfolgte jeweils auf drei Zeitachsen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), und nach jeder neuen Erhebungswelle konnte auf die Aussagen der vorangegangenen Wellen Bezug genommen werden. Eine systematisierende, aber die Empirie nicht mit theoretischen Konstrukten überblendende Hilfestellung für die Strukturierung des Dialogs und die Sicherung der Vergleichbarkeit bot das „Analysekonzept sequenzieller berufs- und bildungsbiografischer Orientierungen und Handlungen“ (Witzel 2001). Es steht für das
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heuristische Modell („BARB“), dessen Elemente Bilanzierung – Aspiration – Realisierung – Bilanzierung in dieser Reihenfolge sowohl in der Befragung als auch in der Auswertung angewendet, dem Erfassen der komplexen Dynamik der Handlungssequenzen im Lebenslauf mit ihren subjektiven Bedeutungen und Wertigkeiten diente. Aspirationen meint hierbei individuelle Handlungsbegründungen für einzelne Stationen im Lebenslauf; Realisationen umfassen die konkreten Umsetzungsschritte für die Aspirationen und die Orientierungen an den Gelegenheitsstrukturen der einzelnen Stationen im Lebenslauf; Bilanzierungen richten sich auf Explikationen zur jeweiligen Bewertung dieser Umsetzungsschritte und Handlungsfolgen. Bilanzierungen enthalten die nachträgliche Sinnzuschreibung und Verarbeitung von Handlungs- und zugleich auch Sozialstrukturerfahrungen, die sich über die einzelnen Lebenslaufstationen aufschichten.
4.3
Auswertung
Zwar lässt sich der eigentliche Vorteil des QL-Designs erst dann voll ausspielen, wenn das empirische Material für das gesamte untersuchte Zeitfenster vorliegt. Dennoch ermöglichten Auswertungen schon auf den drei Zeitachsen jeder einzelnen und nach jeder folgenden Untersuchungswelle, d. h. innerhalb engerer Sequenzen des Lebenslaufs, zentrale Befunde. Wichtige Aspekte der Bewältigung des Übergangs in das Erwerbssystem unmittelbar nach Beendigung der dualen Ausbildung ließen sich also bereits auf der Basis der Interviews der ersten Welle analysieren (z. B. Mönnich und Witzel 1995). Die Möglichkeit der Analyse des Datenmaterials über mehrere berufsbiografische Stationen hinweg bot die einmalige Chance für die Entwicklung einer „echten“ QL-Typologie, d. h. einer Typologie, deren Dimensionen den gesamten Untersuchungszeitraum einschließen. Die Auswertung der ersten beiden Wellen führte zu der Beobachtung, dass sich über die spezifischen Gestaltungs- und Verarbeitungsweisen einzelner Übergänge (Wechsel des Arbeitsplatzes, Rückkehr in die Schule etc.) hinaus durchgängige Muster des beruflichen Status- und Biografiemanagements bildeten. Das QL-Design ermöglichte nunmehr die Überprüfung und Präzisierung der vorgängigen Beschreibungen der Dimensionen der Typologie mithilfe des Erkenntnisgewinns in der dritten und letzten qualitativen Befragung. Damit waren auch Reanalysen früherer Bearbeitungsschritte, d. h. Rückbezüge auf die Originaldaten der ersten beiden Wellen, notwendig. Diese Vorgehensweise verdeutlicht den iterativen Charakter der Auswertung von QL-Studien (siehe auch McLeod 2003), der die Polarität zwischen Primär- und Re- bzw. Sekundäranalyse aufhebt und auch auf weitere Analysemöglichkeiten z. B. durch Neuerhebungen oder eines Poolings von Sekundäranalysen verweist (Medjedović und Witzel 2010, S. 18–19). Zum Ende der Projektarbeit konnten im Rahmen einer Typenbildung über alle Untersuchungswellen hinweg sechs „berufsbiografische Gestaltungsmodi“ (BGM) identifiziert werden; typische Prinzipien also, mit denen junge Erwachsene in unterschiedlicher und grundsätzlicher Art und Weise ihre Lebens- und Arbeitsansprüche mit wahrgenommenen beruflichen Optionen balancieren, den Stand ihrer biografischen Entwicklung resümieren und darauf fußend weitere Perspektiven
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entfalten. Sie verdanken sich keinem, auf eine spezifische Lebenslaufsequenz eingeengten Blick wie in einer Querschnittsuntersuchung. Ihre weitgehend situationsübergreifende Konstanz ist selbst schon ein Befund. Diese Orientierungs- und Handlungsmuster werden dann kontextspezifisch aktiviert, nämlich als Betriebsidentifizierung, Lohnarbeiterhabitus, Laufbahnorientierung, Chancenoptimierung, Persönlichkeitsgestaltung, Selbstständigenhabitus (Witzel und Kühn 2000). Der Beantwortung der Frage nach der Verteilung dieser Typen (etwa nach Beruf oder Geschlecht) diente eine vierte Welle des quantitativen Untersuchungsteils. Auf der Grundlage der originär qualitativen Forschungsdaten und -befunde wurde ein standardisierter Fragebogen entwickelt, mit dem eine teilweise Rekonstruktion der im qualitativen Untersuchungsteil gewonnenen BGM in Form einer Typologie berufsbiografischer Orientierungsmuster (BOM) (Schaeper und Witzel 2001) gelang. Gerade die Abweichungen zwischen der qualitativen und quantitativen Typologie eröffneten fruchtbare Einsichten in Bezug auf deren theoretischen und konzeptionellen Status, d. h. hinsichtlich methodischer Probleme eines MixedMethod-Ansatzes und deren Implikationen für die Längsschnittforschung. Die Reichhaltigkeit der Daten ermöglichte laufend thematisch spezifizierte Sekundäranalysen über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg: Zur subjektiven Bedeutung und Gestaltung von Diskontinuitäten des Berufsverlaufs und zur Frage, welche Perspektiven sich mit solchen, z. T. als kritisch zu betrachtenden Lebensphasen verbinden (Klement et al. 2004); zur Identifizierung unterschiedlicher Formen der Entwicklung von familialen Orientierungen und Handlungen im Zusammenhang mit beruflichen Planungen (Witzel und Kühn 2001; Kühn 2004) und zum Zusammenhang von berufsbiografischer Gestaltung und beruflichem Arbeitsprozesswissen (Fischer und Witzel 2008). Mit der Kodierung von 270 Interviewtranskripten (ca. 770.000 Textzeilen) begab sich das Forschungsprojekt in den 1990er-Jahren auf das damals gewagte Neuland der Computer-gestützten Datenanalyse (QDA) in den qualitativen Sozialwissenschaften (Kühn und Witzel 2000b). Sie erschien angesichts der großen Datenmenge unumgänglich und erwies sich dann auch als äußerst nützlich, den iterativen Auswertungsprozess zu organisieren und durchzuführen, den Personalwechsel in der langjährigen Forschung (1988–2001) zu bewältigen und die erwähnten Sekundäranalysen zu erleichtern. Die dreifache Kodierung der Interviewtranskripte erlaubte aufgrund der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Merkmale einen systematischen und komplexen Rückgriff („retrieval“) auf das umfangreiche Datenmaterial: nach Fallmerkmalen (Beruf, Region, Geschlecht etc.), nach Themen der Erwerbs- und Familienbiografie (berufliche Zukunftsperspektiven, soziales Netzwerk etc.) und nach der biografisch-zeitlichen Logik, der das heuristische BARB-Modell (s. Abschn. 4.2) zugrunde lag.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Das in den empirischen Sozialwissenschaften verankerte QL-Design spielt seinen besonderen Vorteil gegenüber dem Querschnittdesign bei der Erforschung der Prozesshaftigkeit individueller und kollektiver Handlungen, psychischer Entwicklun-
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gen, biografischer Erfahrungsaufschichtungen und subjektiver Bewältigungsformen sozialer Realität im Zeitverlauf aus. Es besitzt seine Stärke insbesondere darin, mit der Fokussierung auf die Akteursperspektive über größere Zeiträume die Wandlungen, Ambiguitäten und (In)konsistenzen von Orientierungen und Handlungen in der Auseinandersetzung mit sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder Situationen analysieren zu können. Darüber hinaus erlaubt der Ansatz im Zusammenhang des Nachvollzugs und Verstehens Sinn setzender und -deutender Lebensprozesse und -umstände insbesondere auch Biografisierungen in Form von nachträglichen Sinnzuschreibungen und Umdeutungen nachzuweisen und ihre Bedeutung zu analysieren. In der Literatur werden Gründe für eine gegenüber Querschnittstudien seltenere Anwendung des QL-Designs benannt, die sich gar nicht auf der Ebene der Gegenstandsangemessenheit der Forschungsstrategie bewegen, vielmehr hauptsächlich auf fehlende Forschungsressourcen angesichts des größeren Aufwands an Zeit und Kosten für die Durchführung von QL-Studien verweisen. Zwar bewegen sich die Finanzierungszeiträume für Drittmittelzuschüsse meistens zwischen zwei und drei Jahren, dennoch scheinen – wie die inzwischen zahlreichen QL-Studien (siehe Abschn. 3) zeigen – gut begründete Forschungsanträge inzwischen gute Chancen zu haben, Drittmittelgeber zu überzeugen. Mit den Befunden von QL-Studien lässt sich deren Gegenstandsangemessenheit nachweisen und nachvollziehen, dass Querschnittstudien bei der Erforschung der Prozesshaftigkeit sozial- und humanwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände vielfach zu kurz greifen. Der erhöhte Erkenntnisgewinn von QL-Studien wiegt also deren höheren Kosten auf. Die inzwischen stattgefundenen Fortschritte in der Entwicklung der computerunterstützten Datenanalyse tragen dazu bei, den vergleichsweise größeren Forschungsaufwand zu reduzieren. Die QDA bietet Hilfestellungen bei der Bewältigung größerer Datenmengen, unterstützt die Auswertung komplexer Zusammenhänge und optimiert darüber hinaus den Zugang zu den arbeitsteilig erhobenen Daten, Kontextinformationen, Memos etc. für jedes einzelne (im Falle eines Personalwechsels auch neue) Mitglied im Forschungsteam in jeder Phase des QL-Projekts. Wie Erfahrungen der qualitativen Servicezentren Qualiservice (www.qualiser vice.org) in Deutschland und ESDS Qualiservice (http://www.esds.ac.uk/qualidata) in England zeigen, sind QL-Studien aufgrund ihres spezifischen Designs, ihrer Datenfülle und der damit verbundenen vielfältigen wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten eine besonders häufig genutzte Datenquelle für qualitative Sekundäranalysen. Die Wiederverwendung dieser aufwendig erhobenen und archivierten Primärdaten ermöglicht vertiefende Analysen spezifischer, in der Primärforschung offen gebliebener Themen oder Aspekte, die im Nachhinein oder unter neuen theoretischen Perspektiven Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden sind („Antworten auf nicht-gestellte Fragen“); sie bietet die Basis für interkulturelle und transnationale Vergleiche; sie ermöglicht den Nachvollzug des sozialen und psychologischen Wandels; mit ihr lassen sich Ideen zu neuen Studien entwickeln und deren Durchführung vorbereiten und planen (Funktion des „path finder“); zuletzt kann sie enge Zeit- und Geldbudgets in der Forschung, insbesondere aber auch die fehlende Forschungsinfrastruktur und das besonders enge Zeitfenster bei Qualifikationsarbeiten kompensieren.
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Qualitative Sekundäranalyse Irena Medjedović
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Begriff, Ziele und Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodologische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Im Vergleich zur quantitativen Forschungstradition stellt die Sekundäranalyse qualitativer Forschungsdaten eine relativ junge Forschungsstrategie dar. Erste empirische Anwendungen illustrieren ihr Potenzial. Dabei können je nach Zielsetzung die drei Varianten Supra- oder transzendierende Analyse, ergänzende Analyse sowie Reanalyse unterschieden werden. Als erweiterte Analyse wird die Nutzung mehrerer Datensätze gefasst, sog. kombinierte Analysen werden durch die Kombination von Sekundär- und Primäranalyse oder verschiedener Datentypen möglich. Zentrale methodologische Prämissen umfassen Fragen des Zugangs zu Kontextinformationen, des sekundären Analysepotenzials der Daten sowie forschungsethische Fragen. Schlüsselwörter
Sekundäranalyse · Qualitative Daten · Data Sharing · Archivierung · Datenschutz · Reanalyse
I. Medjedović (*) Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_20
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Entstehungsgeschichte
Sekundäranalyse war lange Zeit ein Synonym für die erneute Nutzung statistischer, insbesondere Umfragedaten. Es war Barney Glaser (1962, 1963) – bekannt für seine Arbeiten zusammen mit Anselm Strauss zur Grounded-Theory-Methodologie –, der bereits Anfang der 1960er-Jahre propagierte, Sekundäranalysen nicht nur der quantitativen Forschung zu überlassen. Trotzdem wurde die qualitative Sekundäranalyse erst 30 Jahre später systematisch aufgegriffen. Mitte der 1990er-Jahre sind vor allem im nordamerikanischen Raum Anfänge einer Auseinandersetzung mit den Potenzialen sowie den methodologischen Aspekten und Problemen der Sekundäranalyse qualitativer Daten durch einzelne Forschende und Forschungsgruppen zu verzeichnen (Hinds et al. 1997; Szabo und Strang 1997; Thorne 1994). Diese ersten Aufsätze reflektieren Erfahrungen mit Sekundäranalysen, die im Kontext der Gesundheitsund Pflegewissenschaften durchgeführt wurden. Auf der Grundlage eines Reviews der englischsprachigen Literatur dieser Disziplin publizierte Janet Heaton (2004) einige Jahre später die erste Monografie zur qualitativen Sekundäranalyse. Darin widmete sie sich den methodologischen Besonderheiten der qualitativen Sekundäranalyse, die sie als eigenständige Forschungsstrategie definierte. Die Einführung der qualitativen Sekundäranalyse im europäischen Raum ist vor allem mit den Bemühungen verbunden, Infrastrukturen für die Archivierung und Bereitstellung qualitativer Primärdaten zu schaffen. Hauptakteur ist hier das britische Qualidata, mittlerweile Teil des UK Data Service (https://www.ukdataservice.ac.uk/) an der University of Essex; für Deutschland das Qualiservice (http://www.qualiser vice.org/) (vormals Archiv für Lebenslaufforschung) an der Universität Bremen. Im Umfeld dieser Archive bzw. international zu beobachtender Archivgründungsbemühungen entstanden zahlreiche internationale und interdisziplinäre Veröffentlichungen zur Archivierung und Sekundäranalyse qualitativer Daten (siehe insbesondere die vier Schwerpunktausgaben der Zeitschrift Forum Qualitative Forschung/Forum:Qualitative Social Research [FQS]: Bergman und Eberle 2005; Corti et al. 2000, 2005; Valles et al. 2011 sowie der Zeitschrift Historische Sozialforschung/Historical Social Research: Witzel et al. 2008; die vierbändige SAGE-Publikation zur Sekundäranalyse: Goodwin 2012; und die einzige deutschsprachige Monografie: Medjedović 2014). Darunter finden sich einige exemplarische Sekundäranalysen u. a. in psychologierelevanten Anwendungsfeldern (s. dazu Beispiele in Abschn. 2) und Aufsätze, die die dieser Forschungsstrategie inhärenten Probleme aufzeigen und diskutieren (v. a. Hammersley 1997, 2012; Mauthner et al. 1998; Medjedović 2007, 2014; Moore 2006; Parry und Mauthner 2004; Van den Berg 2005). Das im Vergleich zur quantitativen Sekundäranalyse (in der Sozialforschung: Hyman 1972; Klingemann und Mochmann 1975; Scheuch 1967; in der Psychologie: Bengel und Wittmann 1982; Bryant und Wortman 1978) späte Aufgreifen der Sekundäranalyse für die qualitativ orientierte Forschung hängt sicherlich z. T. mit dem Werdegang qualitativer Forschungsmethodik selbst zusammen: Seit ihrer Renaissance (in den 1960er-Jahren in den USA, in den 1970er-Jahren im deutschen Sprachraum) hatte sie sich gegen den Mainstream der quantitativen Methoden zu behaupten und durchzusetzen (Flick 1999, S. 16–21; Mey und Mruck 2007). Mitt-
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lerweile hat die qualitative Forschung an Verbreitung und Bedeutung gewonnen, sodass sie eine Etablierung in den human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen erfahren hat (Hitzler 2007, 2014) und auf umfangreich produzierte Daten verweisen kann (bzgl. des Umfangs an Interviewdaten s. Opitz und Mauer 2005). Parallel dazu sind auch Möglichkeiten der EDV-gestützten Datenerfassung, -aufbereitung und -archivierung, des Zugriffs auf elektronisch verfügbare qualitative Daten mittels Datenanalyseprogrammen (Kuckartz und Rädiker 2010) sowie Entwicklungen im Bereich der Online-Ressourcen und -Datenbanken (Legewie et al. 2005; Mruck 2005) entstanden. Damit sind wichtige Voraussetzungen für die Anwendung von qualitativen Sekundäranalysen geschaffen worden. In der Psychologie existiert eine längere Tradition, in klinischen Zusammenhängen entstandene Texte sekundär in Forschung und Lehre zu nutzen. Die Analyse von Fallmaterial wie Freuds „Rattenmann“ oder anderen Texten aus psychotherapeutischen Behandlungen gehören zu einer gängigen Praxis der Psychotherapieforschung (Luder et al. 2000; Mergenthaler und Kächele 2006; Thomä und Kächele 1992, Kap. 1). Anders sieht es mit der sekundären Nutzung von Forschungsdaten aus. Hier könnte die Psychologie von der aufgezeigten Entwicklung profitieren, indem sie das Konzept der qualitativen Sekundäranalyse vermehrt für dezidiert psychologische Fragestellungen aufgreift.
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Begriff, Ziele und Varianten
Der Begriff Sekundäranalyse beschreibt eine Strategie, bei der zur Beantwortung einer Forschungsfrage auf bereits vorliegende Daten zurückgegriffen wird. Bei der Sekundäranalyse handelt es sich also um keine Methode im engeren Sinne, d. h. es gibt keine spezifische Verfahrensweise. Stattdessen betrifft sie eine Komponente in der Konstruktion von Untersuchungsplänen: nämlich die Auswahl des empirischen Materials. Alternativ (oder komplementär) zur Erhebung von Daten wird im Zusammenhang einer anderen Untersuchung bereits erhobenes Datenmaterial genutzt. Nichtsdestotrotz impliziert dieses Vorgehen einige methodologische Besonderheiten, die im gesamten Forschungsprozess berücksichtigt werden müssen (dazu Abschn. 3). Abhängig von den konkret zu nutzenden Daten, den Forschungszielen und der methodologischen Ausrichtung der Sekundäranalyse können verschiedene Forschungsdesigns (Einzelfall-, Längsschnitt-, Vergleichs-, Mixed-Methods-Studie) sowie Erhebungs- (z. B. Interviews, Gruppendiskussionen, Beobachtungen) und Auswertungsverfahren (z. B. Inhaltsanalyse, Tiefenhermeneutik) zur Anwendung kommen. Grundsätzlich sind zwei Zielsetzungen der Sekundäranalyse zu unterscheiden: Zum einen wird sie verwendet, um neue oder ergänzende Fragen an bereits vorhandenes Material zu stellen, zum anderen, um Befunde früherer Forschung zu validieren. In Abhängigkeit von dem Grad der Nähe zwischen den Fragestellungen von Primär- und Sekundärstudie benennt Heaton (2004, 2008) drei Varianten der Sekundäranalyse:
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• In der Supra- oder transzendierenden Analyse (supra analysis) werden die Daten unter einer neuen Forschungsperspektive ausgewertet. Sie geht über die im Rahmen der Primärstudie entwickelten Begrifflichkeiten hinaus und verwendet die Daten dieser Studie für neue theoretische, empirische oder methodologische Fragestellungen. • Im Unterschied hierzu geht es bei der ergänzenden Analyse (supplementary analysis) um eine Ausweitung des ursprünglichen Ansatzes. Der ergänzende Charakter besteht in der Untersuchung einzelner Fragen, die in der Originalstudie gestellt, aber nicht oder nicht erschöpfend bearbeitet wurden. Spezifische Themen, Aspekte oder Teile der Daten (z. B. Subset des Samples), die erst im Nachhinein Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden sind (daher auch retrospektive Interpretation, Thorne 1994), werden einer vertiefenden Analyse unterzogen. • Die erneute Analyse der Daten unter der gleichen Fragestellung wird als Reanalyse (re-analysis) bezeichnet und intendiert, die Resultate der ursprünglichen Analyse zu überprüfen bzw. zu verifizieren. Methodologisch lassen sich berechtigte Einwände gegen das Validierungspotenzial von Reanalysen vorbringen (Hammersley 1997). So sind die bisherigen empirischen Beispiele weniger tatsächliche Überprüfungen im Sinne eines schrittweisen Nachvollzugs des originären Forschungs- und Theoriebildungsprozesses. Vielmehr werden alternative oder neue theoretische Sichtweisen an den Daten entwickelt bzw. aufgedeckt, welche Themen in der Primäranalyse nicht erforscht wurden. In diesem Sinne geben Reanalysen wertvolle Hinweise auf die Konstruktionsprozesse, die bei jeder Interpretation von Daten am Werk sind – wie auch die im Folgenden skizzierte Reanalyse exemplarisch illustriert. König (1997) unterzog Datenmaterial zum Fall „Charly“ aus der Bielefelder Rechtsextremismusstudie (Heitmeyer et al. 1992) einer tiefenhermeneutischen Analyse, um die Stichhaltigkeit der durch das Forschungsteam um Heitmeyer entwickelten Desintegrationstheorie zu untersuchen. Während Heitmeyer in seiner sozialstrukturellen Perspektive ökonomische und soziale Desintegrationsprozesse für Charlys (Anfälligkeit für) Fremdenfeindlichkeit verantwortlich machte, arbeitet König heraus, inwiefern auch persönlichkeitsstrukturelle Aspekte, hier vor allem die in familialen Interaktionen stattfindende Identitätsbildung, eine Rolle spielten. So habe Charly nicht nur unter seiner Erwerbslosigkeit, sondern auch unter einer zugespitzten Adoleszenzkrise gelitten, in der unbewältigte Identitätskonflikte der Kindheit wiederbelebt worden seien und deren Bewältigung und Loslösung vom Elternhaus zu scheitern drohte. König ergänzte „Heitmeyers halbierte Sozialisationstheorie“ (König 1997, S. 396) um Erkenntnisse der psychoanalytisch orientierten Entwicklungs- (Erikson 1988 [1968]) und Sozialisationstheorie (Lorenzer 1972). Damit demonstriert diese Reanalyse, wie durch die Anwendung einer anderen Perspektive die (fachspezifisch) einschränkende Fokussierung auf Aspekte aufhebbar wird. Ein Beispiel für die Untersuchung eines vorliegenden Datensatzes für eine neue Fragestellung ist die Sekundäranalyse von Medjedović und Witzel (2005). Hier
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wurde der Datensatz einer Längsschnittstudie über die Biografiegestaltung des Übergangs junger Erwachsener aus der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit genutzt für die Frage nach empirischen Belegen für ein neues theoretisches Konzept des Wissenserwerbs von Facharbeiter/innen – das sog. „Arbeitsprozesswissen“ (Fischer 2005). Eine zentrale Frage bestand darin, wie diese zunächst als Konzept formulierte, neue Wissensform durch das Verstehen und Nachvollziehen des Arbeitsprozesses in seiner Ganzheit tatsächlich erlernt wird. Die Ergebnisse der Sekundäranalyse tragen zu einem Erkenntnisgewinn bei, indem zum einen unterschiedliche Formen des Arbeitsprozesswissens beschrieben und zum anderen deren Abhängigkeit von den Gestaltungsweisen der Berufsbiografie demonstriert werden. Ein besonderes Potenzial der Sekundäranalyse ergibt sich aus der Möglichkeit, Daten mehrerer Studien zusammenzuführen. Diese Analysen multipler Datensätze werden eingesetzt, um über die Datensätze hinweg gemeinsame (zusätzliche Evidenz, auch: cross-validation, Thorne 1994) und/oder divergierende Themen (Ergänzungsfunktion) zu untersuchen. Die Vergrößerung oder Ergänzung spezifischer Untersuchungsgruppen kann dazu beitragen, verallgemeinerbare Theorien zu generieren (erweitertes Sampling nach Thorne 1994). Der Vergleich von Datensätzen aus zwei Zeitperioden erlaubt die Untersuchung des Wandels gesellschaftlicher Phänomene. Der Zugriff auf multiple Datensätze ermöglicht also Vergleichsanalysen in vielerlei Hinsicht, wobei Daten relativ flexibel miteinander kombiniert werden können. Heaton (2004, 2008) unterscheidet hier zwei Forschungsdesigns: • In der erweiterten Analyse (amplified analysis) werden zwei oder mehrere bereits vorhandene Datensätze genutzt. • Die kombinierte Analyse (assorted analysis) nutzt verschiedene Datenquellen, indem sie die Sekundäranalyse mit der Erhebung neuer Daten verbindet und/oder einen Mix verschiedener Datentypen verwendet, indem beispielsweise die Analyse von Forschungsdaten mit der Untersuchung naturalistischer Daten (wie Autobiografien, Bilder usw.) ergänzt wird. Wie Sekundär- und Primäranalyse in kombinierter, aber immer auch zielgerichteter Weise zugunsten der Theoriebildung eingesetzt werden können, zeigt Janneck (2008): Sie beschreibt den „verschlungenen Pfad“ eines langjährigen Forschungsprozesses zum Thema soziale Beziehungen in virtuellen Gemeinschaften über mehrere Einzelprojekte hinweg. Das Forschungsteam führte zunächst die Sekundäranalyse einer Studienarbeit über eine virtuelle Studierendengemeinschaft durch, ergänzte diese anschließend durch die Erhebung neuer Daten, nutzte jene in einer weiteren Sekundäranalyse, um dann zuletzt Primärdaten eines anderen Forschungsprojekts zum Thema technischer und organisatorischer Unterstützung von Freelancer-Netzwerken einzubeziehen. Im Verlauf dieses Forschungsprozesses wurden Hypothesen und theoretische Konzepte zu sozialen Identitäts- und Lernprozessen entwickelt und überprüft sowie insbesondere durch den in der letzten Phase stattfindenden Vergleich verschiedener Nutzungskontexte (studentische Lerngemeinschaften vs. professionelle Freiberufler/innen-Netzwerke) weiterentwickelt: Ein zentrales
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I. Medjedović
Ergebnis ist die Ergänzung bestehender Typologien virtueller Gemeinschaften um den „Typus der selbst-organisierten, eng gekoppelten Gemeinschaften“ (Janneck 2008, S. 105). Ein frühes Beispiel für die Sekundäranalyse einer methodenkombinierten Längsschnittstudie ist Glen H. Elders „Children of the Great Depression“ (1974). Elder nutzte die (archivierten) Daten der „Oakland Growth Study“, eine Langzeitstudie zur Erforschung physiologischer, psychologischer und sozialer Aspekte der adoleszenten Entwicklung. Die Studie begleitete in den Jahren 1920–1921 geborene US-Amerikaner/innen (aus Oakland in Kalifornien) von den frühen 1930er-Jahren (der Zeit der „Großen Depression“) durch den zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit der 1940er- und 1950er-Jahre, bis hinein in die 1960er-Jahre. Sie umfasste unterschiedliche Datenarten wie umfangreiche unstrukturierte und strukturierte Interviews, Fragebögen, Beobachtungen, physische und psychiatrische Testdaten sowie verschiedene psychologische Testverfahren zur Intelligenz- und Persönlichkeitsbeurteilung. Viele Familien, die an der Studie beteiligt waren, befanden sich während der Großen Depression der 1930er-Jahre in einer drastischen sozioökonomischen Deprivation. Im Unterschied zur engeren entwicklungspsychologischen Konzeption des Primärforschungsteams fokussierte Elder seine Analyse auf diesen spezifischen historischen Kontext, indem er die möglichen Auswirkungen der Krisenerfahrungen auf die Familien und insbesondere auf die Entwicklung der Kinder ins Blickfeld rückte.
3
Methodologische Prämissen
Gegenüber einem konventionellen Forschungsprozess zeichnet sich die Sekundäranalyse vor allem dadurch aus, dass der Prozess der Datenauswertung und -interpretation vom Prozess der Datenerhebung entkoppelt ist (Klingemann und Mochmann 1975). Diese Entkopplung geht mit einigen methodologischen Implikationen einher. So werden „Daten“ nicht als objektive und im Feld vorzufindende Entitäten verstanden, sondern als soziale und kontextuell eingebettete Produkte. Dies gilt insbesondere für qualitative Erhebungsverfahren, in denen die soziale Situation (bzw. „soziale Arrangements“, Mey 2000), d. h. die intersubjektive und interaktive Beziehung zwischen forschendem und beforschtem Subjekt, von tragender Bedeutung ist.
3.1
Die methodologische Diskussion
Die Sekundäranalyse unterstellt, dass Daten auch außerhalb ihres unmittelbaren Erhebungskontextes ausgewertet und interpretiert werden können. Diese Annahme ist jedoch nicht unumstritten und bietet die Grundlage für eine methodologische Diskussion, die zum Teil stark polarisiert geführt wurde. Die prominenteste Kritik an der Machbarkeit der Sekundäranalyse stammt von Mauthner et al. (1998). Gestützt auf eigene sekundäranalytische Versuche stellten sie
Qualitative Sekundäranalyse
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die (über historische und methodologische Untersuchungen hinausgehende) erneute Nutzung qualitativer Daten prinzipiell in Frage. Da es unmöglich sei, den ursprünglichen Status, den die Primärforscher/innen hatten, wieder herzustellen, sei die Sekundäranalyse unvereinbar mit einer interpretativen und reflexiven Epistemologie (Mauthner et al. 1998, S. 742–743). Andere Autor/innen sind dagegen der Auffassung, dass der Nachvollzug kontextueller Effekte weniger ein epistemologisches als ein praktisches Problem sei, das sich auch in Primäranalysen stelle. Qualitative Forscher und Forscherinnen hätten häufig mit unvollständigen (Hintergrund-)Informationen umzugehen und abzuwägen, inwieweit ein Aspekt tatsächlich belegt werden könne oder doch verworfen werden müsse (Fielding 2004, S. 99). Eine zweite Form der Replik auf Mauthner et al. (1998) kritisiert deren Verharren in einem Verständnis von Kontext, der statisch und fix in der Vergangenheit angesiedelt werde. Moore (2006) verweist darauf, dass Forschende in der Auseinandersetzung mit den Daten diese immer auch in einen eigenen Kontext setzen. Daher sei es nicht das Ziel, das originäre Forschungsprojekt und den ursprünglichen Status, den die Primärforscher/innen hatten, vollständig nachzubilden. Vielmehr sei die Sekundäranalyse als neuer Prozess der Rekontextualisierung und Rekonstruktion von Daten zu verstehen. Auf Moores Argumentation beruhende Plädoyers, den Dualismus zwischen Primär- und Sekundäranalyse nun endgültig aufzuheben (Bishop 2012), werden aber immer noch zurückgewiesen mit dem Verweis darauf, dass die begriffliche Trennung benenne, dass es sich bei der Sekundäranalyse nun mal um eine besondere Situation handele (Hammersley 2012). Diese Diskussion reflektiert darauf, dass die Kontextsensitivität (oder auch Berücksichtigung der „Indexikalität“, Garfinkel 1973) einen Grundpfeiler qualitativer Forschung darstellt. Die Einsicht in die Kontextabhängigkeit einer sprachlichen Äußerung oder einer Handlung eint alle qualitativen Forschungsansätze und berührt einen wichtigen Punkt im Selbstverständnis dieser Forschungstradition (historisch als Durchsetzungs-„Kampf“ gegenüber dem sog. „normativen Paradigma“ geführt, Wilson 1973). Hinzu kommt, dass qualitative Forschung häufig damit verbunden wird, sich persönlich ins Feld zu begeben, um mit Kontextwissen aus „erster Hand“ die anschließende Analyse und Interpretation der Daten leisten zu können. In Sekundäranalysen fehlt dem Forscher bzw. der Forscherin dieser unmittelbare Bezug zum Kontext. Alternativ können aber Wege der Kontextualisierung aufgezeigt werden. Für die Sekundäranalyse ist hierbei relevant, welche Art von Kontext überhaupt gemeint ist – denn Kontext wird je nach Forschungsansatz unterschiedlich definiert (Goodwin und Duranti 1992, S. 2) und ist somit auch je nach Auswertungsinteresse unterschiedlich relevant.
3.2
Zugang zu Kontextinformationen
Auf der Ebene der einzelnen Interaktion sollte zuallererst der Zugang zu den „Daten selbst“ gegeben sein. In qualitativen Auswertungsverfahren wird der Fallanalyse ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Auch in Studien, die allgemeine Aussagen auf der Grundlage von vielen Fällen entwickeln, dient die Rekonstruktion des Einzelfalls in
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der Regel als Ausgangspunkt. Diese Interpretation setzt den Fokus auf den Kontext, den die Beteiligten durch die wechselseitige Bezugnahme aufeinander in der Interaktion selbst erzeugen (kommunikativer Kontext der Konversation). Das heißt, entscheidend ist, wie die Beteiligten das Gespräch führen. Die detaillierte Arbeit am einzelnen Fall erfordert den Zugriff auf Aufnahmen und/oder das Gespräch möglichst präzise erfassende Transkripte; die Einbettung einer einzelnen Sequenz in den Gesamtverlauf der Interaktion oder einer einzelnen Äußerung in den Kontext einer längeren Erzählung erfordert die Vollständigkeit von Aufnahme oder Transkript. Darüber hinaus werden Metainformationen über das Gespräch als soziale Situation (situationaler Kontext) relevant. Eine Interaktion und ihre Akteure sind stets verortet in Raum und Zeit, d. h., dass das unmittelbare Setting bedeutsam sein kann: Soziale Interaktionen können etwa zu unterschiedlichen Tageszeitpunkten unterschiedlich verlaufen. Ebenso können räumliche Bedingungen das Gespräch beeinflussen oder selbst empirisches Material für die Forschungsfrage liefern (z. B. Wohnsituation der Befragten). Ferner mögen die Beteiligten ein gemeinsames Hintergrundwissen haben, das die Interaktion rahmt und von Bedeutung ist, aber nicht explizit im Gespräch artikuliert wird. Beispiele hierfür wären: Merkmale der Beteiligten wie Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Klasse; Informationen über relevante Dritte oder die Anwesenheit Dritter sowie weitere Informationen über die Beziehung zueinander, die etwa durch die Art der Kontaktaufnahme und die Bedingungen, unter denen das Gespräch zustande gekommen ist, beeinflusst wurde (Van den Berg 2005). Derartige Informationen können über Feld- oder Interviewnotizen (sog. „Postskripte“, Witzel 2000; Witzel und Reiter 2012, S. 95–98) für die Sekundäranalyse zugänglich sein. Soziales Handeln – und damit auch die Erhebungssituation – findet immer in einem institutionellen, kulturellen, sozio-politischen und historischen Kontext statt. Dieser extra-situationale Kontext (oder auch „Makro“-Kontext) meint ein Hintergrundwissen, das über das lokale Gespräch und sein unmittelbares Setting hinausgeht. Doch auch dieser Kontext ist kein objektiver Satz von Umständen, der getrennt von den sozialen Akteuren vorliegt, sondern es geht um diejenigen Bestandteile des äußeren Kontextes, die sich empirisch manifestieren bzw. von den Beteiligten in der Interaktion tatsächlich aufgriffen werden. Wenn eine Studie sich etwa für bestimmte soziale Fragen und politische Debatten interessiert, ist es für die Sekundäranalyse von hohem Wert, diese Verknüpfung auch nachvollziehen zu können (z. B. über „graue Literatur“, Bishop 2006). Nicht selten werden qualitative Daten in Kontexten erhoben, die durch eine lokale Kultur (Holstein und Gubrium 2004) charakterisiert sind. Dies kann beispielsweise eine Praxis oder (Fach-)Sprache sein, die innerhalb einer Institution, einer sozialen oder beruflichen Schicht oder eines geografischen Gebiets geteilt werden. Für Sekundäranalysen kann es daher entscheidend sein, den Zugang zu Dokumentationen zu haben, die die Daten in dieser elementaren Weise erst verständlich machen (z. B. Glossar eines Fachvokabulars). Bishop (2006) ergänzt „Projekt“ als besonderen Teil der Situation, weil Forschungsprojekte spezifische Kontextmerkmale als eigenes Subset des Gesamtsettings einschließen. Heruntergebrochen auf die einzelne Situation bedeutet dies, dass Forschende einen (projekt-)spezifischen Erhebungskontext produzieren, vor dessen
Qualitative Sekundäranalyse
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Hintergrund sich Feldinteraktionen vollziehen. Dies umfasst die methodischen Entscheidungen (wie die Wahl der Erhebungsmethode, des Forschungsdesigns), die theoretischen Vorannahmen, den institutionellen Hintergrund etc. Aufgrund der Kürze und Präzision, die Fachzeitschriften und Verlage erfordern, bieten die in Publikationen üblichen Kapitel zu Methodik und Durchführung einer Untersuchung keine ausreichende Erläuterung der methodischen Details. In Ergänzung sollte auf weitere (meist unveröffentlichte) Projektdokumente zurückgegriffen werden, die die wesentlichen Informationen über das Forschungsprojekt enthalten (wie z. B. Anträge, Berichte, Leitfäden, Arbeitspapiere, Forschungstagebücher, Memos; zu den Bestandteilen einer Dokumentation s. auch: Steinke 1999, S. 208–214).
3.3
Analysepotenzial der Daten
Eine Grundprämisse der Sekundäranalyse ist, dass den im Rahmen eines spezifischen Forschungsprojekts erhobenen Daten genügend Potenzial innewohnt, um weitere Forschungsfragen zu bedienen. Die bislang veröffentlichten Beispiele zeigen, dass eine grundlegende Skepsis hinsichtlich des sekundären Analysepotenzials qualitativer Daten unbegründet ist. Aufgrund der Offenheit (Hoffmann-Riem 1980) ihrer Erhebungsmethoden zeichnen sich qualitative Daten durch einen inhaltlichen Reichtum aus, der in einer ersten Analyse häufig unausgeschöpft bleibt und die Anwendung neuer Perspektiven fördert. Die Nutzbarkeit von Daten hängt wesentlich mit ihrem Informationsgehalt zusammen. Auf einer allgemeinen Ebene bestimmt sich dieser durch die Qualität der Daten(-erhebung), also zum einen durch die Qualität des Erhebungsinstruments und zum anderen durch die Qualität der durch dieses Instrument erhaltenen Daten (Bergman und Coxon 2005). Für Sekundäranalysen muss also beurteilt werden, ob bei vorliegenden Daten die dem Gegenstand angemessenen Methoden ausgewählt und diese valide umgesetzt wurden, und ob die auf den Gegenstand bezogenen Sicht- oder Handlungsweisen der Untersuchten in einer angemessenen Tiefe in den Daten repräsentiert sind. Die Qualität der Daten vorausgesetzt bleibt zu prüfen, ob eine Passung der Daten für die konkrete Sekundäranalyse gegeben ist. Hierfür ist entscheidend, dass das Thema der Sekundäranalyse in der Originalstudie abgedeckt ist und deren Methoden die Analyse nicht einschränken. Im Sinne einer praktischen Anleitung wurden in der quantitativen Forschungstradition Fragen formuliert, die im Rahmen einer Sekundäranalyse an die Daten gestellt werden sollten (Dale et al. 1988; Stewart und Kamins 1993). In Anlehnung und Ergänzung dieser Fragen können folgende auch für qualitative Sekundäranalysen übernommen werden: Was ist die Zielsetzung der Studie und ihr konzeptioneller Rahmen? Welche Inhalte werden tatsächlich behandelt? Wie wurden die Daten erhoben (Untersuchungsdesign, Methoden, Sampling)? Wie wurden die Daten aufgezeichnet und transkribiert? Von welcher Qualität sind die Daten? Welches Kodierungsverfahren wurde eingesetzt? Wann wurden die Daten erhoben (Aktualität)? (s. auch „Assessment Tool“ in Hinds et al. 1997, S. 420–421 sowie Heaton 2004, S. 93)
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3.4
I. Medjedović
Sekundäranalyse und Forschungsethik
Sekundäranalysen unterliegen den gleichen datenschutzrechtlichen und ethischen Prinzipien, wie sie allgemein für die Forschung gelten und von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) (1998/2005) formuliert wurden (s. auch Gebel et al. 2015; Liebig et al. 2014; von Unger et al. 2016). Ein verantwortungsbewusster Umgang mit den Daten ist auch geboten, weil der Aufbau einer Vertrauensbeziehung in der qualitativen Forschung eine grundlegende Rolle spielt, um einen Zugang zur Innenperspektive der Forschungssubjekte zu erlangen. Im Vordergrund steht dabei das Prinzip, den „beforschten“ Subjekten selbst (im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung) die Entscheidung und die Kontrolle über die Daten, in denen sie repräsentiert sind, zu überlassen. Das heißt, dass die Sekundäranalyse – so wie die Erhebung und Primärauswertung – zuallererst auf der Grundlage der Kenntnis, ausführlichen Information und Freiwilligkeit (sog. „informierte Einwilligung“) vonseiten der Forschungssubjekte stattfinden sollte. Zu den zu treffenden Vereinbarungen gehören Vertraulichkeitszusicherungen seitens der Forschenden, die auch die Anonymisierung beinhalten können. Um einen größtmöglichen Schutz der Forschungssubjekte zu gewährleisten, liegt es nahe, in Ergänzung zur informierten Einwilligung eine Anonymisierung vor der Weitergabe der Daten durchzuführen. Aus methodologischer Sicht gilt es, eine Anonymisierung zu finden, die durch die Löschung oder Veränderung von Informationen die Nutzbarkeit der Daten für die wissenschaftliche Analyse nicht zerstört (Thomson et al. 2005; von Unger et al. 2016, Abs. 14). In diesem Zusammenhang schlagen Kluge und Opitz (1999) ein Anonymisierungskonzept für Interviewtranskripte vor, das die personenbezogenen Daten entfernt und gleichzeitig die relevanten fallbezogenen Kontextinformationen erhält (Medjedović et al. 2010, S. 149–154). Auf Grundlage dieses Konzepts entwickelte Qualiservice ein semi-automatisches Anonymisierungstool, das den Aufwand für Forschende reduziert (Gebel et al. 2015, Abs. 28). Forschende haben immer – egal ob im Primärprojekt oder bei der Sekundäranalyse – eine Verantwortung gegenüber denjenigen, die sie zum „Objekt“ der Forschung erklären. Durch den persönlichen Kontakt fühlen sich Primärforscher/ innen möglicherweise in einer herausgehobenen Stellung gegenüber ihren „Schützlingen“, sodass die (zentrale) Archivierung bzw. Sekundäranalysen durch Dritte als Einfallstor für Missbrauch der zugesagten Vertraulichkeit empfunden werden können (Medjedović 2007; Richardson und Godfrey 2003). Deshalb ist der beschriebene erreichte ethische und datenschutzrechtliche methodologische Qualitätsstandard der Sekundäranalyse so wichtig. Darüber hinaus tangiert der forschungsethische Aspekt die Wahrung der Interessen derer, die die Daten erhoben haben (Medjedović 2007). Daher sollten Sekundäranalysen unter der Bedingung stattfinden, dass (auch) Primärforschende einwilligen und ihr „Urheberrecht“ an den Daten in angemessener Weise (z. B. Verweis auf die Datenquelle bei Publikationen, Regelungen der Autor/innenschaft) berücksichtigt wird.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Zahl der seit Mitte der 1990er-Jahre erschienenen internationalen Veröffentlichungen zur qualitativen Sekundäranalyse verweist auf deren wachsende Bedeutung. Anwendungen existieren mittlerweile in diversen Fachdisziplinen (z. B. Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Public Health) und zu vielfältigen Forschungsfeldern und -themen. Wie viele der Beispiele zeigen, sind die Möglichkeiten der Sekundäranalyse eng verknüpft mit der Gründung von Archiven, die interessierten Forschenden einen organisierten Zugang zu geeigneten Forschungsdaten schaffen. International gibt es mittlerweile entsprechende Initiativen und Datenarchive (für den europäischen Stand: Neale und Bishop 2011 sowie Valles et al. 2011). Umfangreichere Datensammlungen bieten allerdings nur das Henry A. Murray Research Archive an der Harvard University und der britische UK Data Service. Beide Archive verfolgen einen multidisziplinären Ansatz, wobei insbesondere das Murray-Archiv auf eindrucksvolle Sekundäranalysen zu dezidiert psychologischen Fragestellungen verweisen kann (James und Sørensen 2000). In Deutschland ist mit dem seit 2002 DFG-geförderten psychologischen Datenarchiv (PsychData) des Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation zwar ein erstes zentrales Angebot für die Psychologie geschaffen worden, das sich aber auf quantitative Datensätze beschränkt, die im Rahmen der psychologischen Umfrageforschung, der experimentellen Psychologie sowie von Testentwicklungen erhoben wurden. Mit Blick auf qualitativ-psychologische Forschung ist die Grundlegung des Ausbaus des Archivs für Lebenslaufforschung zu einem Datenservicezentrum für qualitative Daten durch eine Machbarkeitsstudie (Medjedović et al. 2010) ein erster Schritt gewesen. Aus den Ergebnissen der Machbarkeitsstudie wurden die Konzeption eines solchen Servicezentrum („Qualiservice“) erarbeitet und erste technisch-organisatorische Schritte für ein Datenmanagement als Grundlage für einen Regelbetrieb realisiert (Kretzer 2013). Qualiservice ist mittlerweile ein vom RatSWD akkeditiertes Forschungsdatenzentrum, das neben dem bisherigen Fokus auf Interviews erstmals auch ethnografische Forschungsdaten für die Sekundärnutzung erschließt.1 (Für die Beschreibung weiterer qualitativer Datenarchive siehe Huschka et al. 2013; Medjedović et al. 2010, S. 88–93; sowie RatSWD 2018) Der Aufbau von nutzungsfreundlichen Datensammlungen hat zusätzliche Bedeutung durch parallele Entwicklungen in den Wissenschaften insgesamt gewonnen. Zum einen fordern Wissenschaftsorganisationen einen offenen und organisierten Zugang zu allen Informationsquellen, so auch Forschungsdaten, weil sie eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit innovativen Formen des wissenschaftlichen Arbeitens in einer E-Science-Umgebung spielen (Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen 2015; OECD 2007). Zum anderen wird unter dem Stichwort
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https://www.qualiservice.org/de/news/pressemitteilung-der-universitaet-bremen.html. Zugegriffen am 29.09.2019.
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Forschungstransparenz der Rückgriff auf Originaldaten eingefordert und Wissenschaftler/innen werden dazu angehalten, ihre Daten über einen längeren Zeitraum für Reanalysen zu sichern (DFG 2013, S. 21–23; RatSWD 2015). Auch die Diskussion in der deutschsprachigen qualitativen Forschung greift diesen letzten Punkt auf. Angesichts eines verschärften Wettbewerbs um Forschungsgelder sieht Reichertz (2007) eine neue Notwendigkeit für die qualitative Forschung, ihre Anerkennung und praktische Relevanz im Wissenschaftsbetrieb zu behaupten. Die Archivierung und Bereitstellung für Sekundäranalysen sei in diesem Zusammenhang ein Instrument, um qualitative Forschung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zugänglich zu machen und darüber wissenschaftliche Gütestandards qualitativer Forschung fest zu etablieren (Reichertz 2007, S. 200). Kritische Stimmen sehen in derart verstandenen Sekundäranalysen dagegen das „normative Paradigma“ und die „‚Logik‘ standardisierter Sozialforschung“ (Hitzler 2016, S. 172) durchscheinen. Ungeachtet dessen, dass die Frage der Qualitätsstandards qualitativer Forschung selbst eine andauernde Kontroverse darstellt (z. B. die Diskussion in Erwägen – Wissen – Ethik, 18(2) sowie die FQS-Debatte „Qualitätsstandards qualitativer Forschung“), ist die Forderung nach Archivierung zwecks Überprüfung ein sensibles Thema. Die Befürchtung, dass andere Forscherinnen und Forscher die eigene Forschung infrage stellen könnten, ist ein Motiv für Skepsis oder Ablehnung gegenüber der Bereitstellung von Daten für die Sekundäranalyse (Medjedović 2007; Parry und Mauthner 2004). Die Etablierung eines Data Sharing hängt daher auch an der Bereitschaft der qualitativen Forschungsgemeinschaft, die bislang gewohnte Interpretationshoheit aufzugeben und sich ein stückweit angreifbarer zu machen. Die Frage der Schaffung von Infrastrukturen für die qualitative Forschung erhielt jüngst eine neue Dynamik. So erkennt auch der Wissenschaftsrat (WR) für Deutschland einen Nachholbedarf im Bereich der Archivierung qualitativer Forschungsdaten und empfiehlt eine verstärkte Förderung von Mixed-Methods-Projekten, die auch der Langzeitverfügbarmachung von qualitativen Forschungsdaten dienen soll (WR 2011, 2012). Diesen Empfehlungen folgend rücken vor allem die Aktivitäten des Rat für Sozial- und WirtschaftsDaten (RatSWD) die Entwicklung in eine neue Perspektive: Gingen die bisherigen Bemühungen um den Aufbau von qualitativen Datenarchiven vornehmlich von Akteuren aus der qualitativen Forschungscommunity aus, bietet sich nunmehr die Chance, qualitative und quantitative Forschungsund Dateninfrastrukturen zu integrieren und damit die Bemühungen auf eine breitere Basis zu stellen (Huschka et al. 2013). In seiner im Juni 2015 ergangenen Stellungnahme hat sich der RatSWD ausdrücklich für eine Kultur der Datenbereitstellung der qualitativen Sozialforschung ausgesprochen (RatSWD 2015, S. 9). Zusammen mit seinen in den letzten Jahren geförderten Aktivitäten rund um offene Fragen der Infrastrukturen, des Datenschutzes und der Forschungsethik zeitigt diese forschungspolitische Absicht bereits erste praktische Auswirkungen – nimmt man allein die Tatsache der mittlerweile acht vom RatSWD akkreditieren Datenzentren mit qualitativen Datenbeständen (www.ratswd. de/forschungsdaten/fdz/qualitativ).
Qualitative Sekundäranalyse
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Ein allgemeines Data Sharing auch von qualitativen Daten zu erleichtern, geht allerdings mit dem Desiderat einher, geeignete Standards des Projekt- und Datenmanagements für die qualitative Forschung zu implementieren. Denn Aspekte wie eine angemessene Kontextualisierung und Anonymisierung – zudem für die recht unterschiedlichen qualitativen Datenarten – stellen neue Anforderungen an die bisherige Forschungspraxis dar. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit die qualitative Forschungscommunity sich auf diese neuen Anforderungen einlässt.
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Qualitative Online-Forschung Timo Gnambs und Bernad Batinic
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Methodische Varianten der qualitativen Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktueller Stellenwert von Online-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiele qualitativer Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ethische Überlegungen zur Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Stärken und Schwächen Qualitativer Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat das Internet zahlreiche Lebensbereiche einschneidend verändert. Dieser Beitrag beleuchtet entsprechende Auswirkungen auf die psychologische Forschung und diskutiert Möglichkeiten qualitativer Forschungsvorhaben mithilfe internetbasierter Ansätze. Insbesondere die Besonderheiten von qualitativen Online-Interviews und Online-Beobachtungen werden näher beleuchtet und traditionellen Forschungsmethoden gegenübergestellt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf künftige technologische Entwicklungen wie Echtzeitmessung mittels Smartphones und der Analyse von Big Data in der Psychoinformatik, welche den Methodenkanon für qualitativ tätige Forschende erweitern. T. Gnambs (*) Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Leibniz Institut für Bildungsverläufe, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Batinic Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_24
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T. Gnambs und B. Batinic
Schlüsselwörter
Internet · Interview · Chat · Fokusgruppe · Virtuelle Welten
1
Einleitung
Das Internet hat in den letzten beiden Jahrzehnten zweifelsohne die psychologische Forschung einschneidend geprägt und die Art und Weise beeinflusst, wie Forschungsvorhaben geplant und durchgeführt werden (für Überblicksarbeiten s. Gosling und Mason 2015; Tippins 2015). Prinzipiell ist die Nutzung des Internets in allen Stadien des Forschungsprozesses möglich (Lee et al. 2008): Von der Literaturrecherche über wissenschaftliche Suchmaschinen und Online-Datenbanken, die zeit- und grenzüberschreitende Kollaboration internationaler Forschungsgruppen per E-Mail oder VideoKonferenzsystemen, die Durchführung des eigentlichen Forschungsvorhabens über das Internet (siehe dazu das „Many Labs Project“ einer internetbasierten Forschungskooperation mit weltweit verteilten Standorten; Klein et al. 2018), der Verschriftlichung der Resultate mittels Online-Textverarbeitungsprogrammen, an denen verschiedene Personen zeitgleich zusammenarbeiten, der Veröffentlichung von Texten im Internet (vgl. dazu die zunehmende Verbreitung von Open-Access-Publikationen; Mey und Mruck 2007) bis hin zur Bereitstellung der Daten zur weiteren Nutzung durch die Fachöffentlichkeit in entsprechenden Online-Datenbanken (siehe dazu Kommentare von Nosek et al. 2015; Wicherts 2013) und vieles mehr. Besondere Bedeutung hat das Internet zunehmend auch für die Zwecke der Datenerhebung in der qualitativen Forschung erlangt, da online vergleichsweise ökonomisch umfangreiche Informationen auch von spezifischen Subpopulationen erfasst werden können, die auf traditionellem Weg nicht oder nur sehr schwer zu rekrutieren wären, beispielsweise Personen, die unter einem spezifischen Krankheitsbild leiden (Synnot et al. 2014), oder Personen mit extremistischen Einstellungen (Holtz und Wagner 2009). Die Ursprünge des heutigen Internets in Form des ARPA (Advanced Research Projects Agency) Netzes gründen in einem frühen Forschungsprogramm des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums mit primär militärischen Zielsetzungen (Cohen-Almagor 2011; Musch 1997). Mit dem Ausbau zum World Wide Web entwickelte es sich ab den 1990er-Jahren dann allmählich in ein tatsächlich weltumspannendes Kommunikations- und Kollaborationsnetzwerk mit universellem Anwendungscharakter für akademische, kommerzielle, politische und zahlreiche andere Zwecke. In der Psychologie gibt es eine lange Tradition, frühzeitig neue Technologien, die zur Verfügung stehen, in den Forschungsprozess zu integrieren. Man denke etwa an das Aufkommen von Computerprogrammen zur Analyse qualitativer Daten (Woods et al. 2016) oder an die Ton- bzw. Videoaufzeichnung von Interviews zur detaillierten Analyse nuancierter Kommunikationsmerkmale (Drisko 2013; Moylan et al. 2015). In diesem Sinne dauerte es nicht lange, bis auch das Internet als weiteres Element technologiebasierter Datenerhebung Eingang in den Methodenkanon der Psychologie gefunden hatte. Mancherorts herrschte allerdings (und herrscht zum Teil auch heute noch) eine gewisse Hemmschwelle bezüglich der
Qualitative Online-Forschung
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Anwendung von Online-Methoden vor, da diese den Erwerb neuer technischer Fertigkeiten erfordern; beispielsweise um Computeralgorithmen zu entwickeln, mithilfe derer im Internet vorliegende Informationen (z. B. in Form von Dialogen in Online-Diskussionsforen) automatisiert extrahiert und in ein analysierbares Format übertragen werden können. Aus instrumenteller Perspektive stellte das Internet somit zunächst lediglich ein Werkzeug zur Sammlung qualitativer Daten dar und repräsentierte lediglich ein Substitut einer Reihe unterschiedlicher technologieunterstützter Datenerhebungsmethoden (mit Tonbandgeräten, Telefon, Personal Digital Assistants etc.), welche über das Internet, in der Regel über den Webbrowser am eigenen Computer, gestaltet werden. Auf der anderen Seite wird unter dem Begriff der Online-Forschung vermehrt auch eine phänomenologische Perspektive subsumiert, bei der das Internet nicht nur als Untersuchungsinstrument, sondern explizit auch als Untersuchungsgegenstand betrachtet wird. Im Sinne virtueller Ethnografie („netnography“, Kozinets 2015) wird das Internet nicht mehr nur als einfaches Kommunikationswerkzeug begriffen, sondern als ein Ort sozialer Begegnung, in dem Personen interagieren, soziale Beziehungen aufbauen und pflegen (z. B. in Online-Communities wie Facebook, Twitter, oder Instagram), die keineswegs weniger reichhaltig ausfallen als vergleichbare Beziehungen in der realen Welt (Domínguez et al. 2007; Subrahmanyam et al. 2008). Derart eröffnen sich mannigfaltige neue Möglichkeiten für die Psychologie, menschliches Handeln und Erleben zu beobachten und zu analysieren. Bei der Diskussion von Online-Forschung werden die instrumentelle und phänomenologische Perspektive manchmal nur unzureichend differenziert, obwohl sie unabhängige Ebenen betreffen. So müssen Online-Phänomene, beispielsweise zu Selbstpräsentationsstrategien in virtuellen, sozialen Netzwerken, nicht zwangsläufig auch mit internetbasierten Methoden untersucht werden. Der Forschungsgegenstand kann mit traditionellen persönlichen Interviews ebenso wie mit Online-Interviews bearbeitet werden. Häufig sprechen jedoch dezidierte Gründe für den einen oder den anderen Zugang (z. B. können über das Internet einfacher heterogene Stichproben rekrutiert werden; Gosling et al. 2010). Gleichermaßen implizieren Online-Methoden nicht notwendigerweise die Untersuchung von primär internetbasierten Phänomenen. Die Eignung von Online-Methoden für qualitative Forschungsprojekte ist daher für jede Fragestellung erneut zu beurteilen und deren Stärken und Schwächen gegenüber alternativen Zugängen abzuwägen.
2
Methodische Varianten der qualitativen Online-Forschung
Das Internet stellt für die qualitative Forschung grundsätzlich keine komplett neuen Erhebungstechniken zur Verfügung, die über Fragen und Beobachten hinausgehen würden. Aufgrund der neuartigen Rahmenbedingungen treten diese jedoch in mediumspezifischer Abwandlung zutage. Online-Verfahren können im Allgemeinen anhand zweier Dimensionen differenziert werden: hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Synchronizität und ihrer Reaktivität (s. Tab. 1). Bei synchronen Methoden treten die Forschenden und an der Studie Teilnehmenden in eine zeitgleiche Interaktion
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T. Gnambs und B. Batinic
Tab. 1 Qualitative Online-Methoden reaktiv
non-reaktiv
Asynchron E-Mail Diskussionsforum Offene Online-Befragung Diskussionsforum Weblog Homepage Soziale Netzwerke
synchron Chat Videokonferenz Multiplayer-Online-Spiele Virtuelle Simulationen
(z. B. in internetbasierten Chats), während asynchrone Ansätze durch zeitversetzte Reaktionen (z. B. Frage- und Antwortrunden per E-Mail) gekennzeichnet sind. Bei reaktiven Verfahren wiederum haben die Teilnehmenden explizit auf von den Forschenden gesetzte „Reize“ (im einfachsten Fall die Items eines Fragebogens) zu reagieren, indem sie z. B. ihre Antworten in ein offenes Textfeld eingeben, während bei nicht-reaktiven Verfahren keine aktive Intervention gesetzt wird, sondern eine Analyse der „Verhaltensspuren“ der Nutzenden im Internet erfolgt (z. B. der Kommentare in einem Weblog).
2.1
Synchrone Verfahren
Synchrone Interviews werden im Internet über Web-Chats, Instant-Messenger-Systeme oder Videokonferenzanwendungen realisiert. Im einfachsten Fall erfolgt die Kommunikation ausschließlich auf schriftlichem Weg. Die Gesprächspartner/innen schreiben ihre Kommentare in entsprechende Textfelder, welche zeitgleich über das Internet an das Gegenüber übertragen werden. Dieser Zugang stellt die bislang dominante Online-Interviewform dar, da sie die geringsten technischen Anforderungen auf Seiten der Interviewten voraussetzt. Textbasierte Chats können einfach in üblichen Webbrowsern realisiert werden und erfordern keine aufwändige Installation zusätzlicher Software. Dadurch ermöglichen sie auch technisch weniger versierten Personen die Teilnahme an Online-Interviews. Ausgereifte Chat-Systeme sind zudem in der Lage, zeitgleich multimediales Stimulusmaterial (z. B. Bilder oder Animationen) darzustellen. Dadurch können Interviewende im Gesprächsverlauf nach Belieben zusätzliche Informationen darbieten, um im Weiteren darauf eingehen zu können. Anwendungen in Form von Whiteboards bieten sogar Zeichenflächen, auf denen die Teilnehmenden wie auf einem Blatt Papier zeichnen können, um beispielsweise im Rahmen von Online-Gruppendiskussionen Zusammenhänge zu visualisieren oder Mindmaps zu generieren. Obgleich derartige Anwendungen über das Internet technisch zweifellos realisiert werden können, ist derzeit noch fraglich, inwiefern die Internetnutzenden ausreichend im Umgang mit der Computermaus geübt sind, um derartige Zeichnungen am Computerbildschirm einfach umsetzen zu können. Für viele Personengruppen muss wahrscheinlich angenommen werden, dass Whiteboards aufgrund ihrer ungewohnten Bedienung häufig noch zu komplexe Anwendungen darstellen und den Interviewprozess eher stören als unterstützen. Mit
Qualitative Online-Forschung
101
zunehmender Medienkompetenz vieler Bevölkerungsschichten werden diese aber künftig Interviews bereichern (können). Mit der weiteren Verbreitung von InternetTelefonie (insbesondere auch Video-Telefonie) können internetbasierte Interviewsituationen zudem stetig natürlicher gestaltet werden, sodass für die nahe Zukunft eine Abkehr von rein schriftlichen Interviewformen (über Text-Chat) hin zu verbalen Dialogen (über Videosysteme) zu erwarten ist (Deakin und Wakefield 2014). Synchrone Verfahren erscheinen im Vergleich zu asynchronen Alternativen häufig aufgrund ihrer kürzeren Latenzzeit vorteilhaft, da wie im persönlichen Gespräch auf gestellte Fragen eine unmittelbare Reaktion ohne Zeitverzögerung zu erwarten ist. Allerdings muss konstatiert werden, dass internetbasierte Chat-Interviews in der Regel fast doppelt so lange wie vergleichbare persönliche Interviews dauern (Reid und Reid 2005). Bei synchronen Befragungen werden die Antworten somit stark von der Lese- und Tippgeschwindigkeit der Interviewten beeinflusst. Dies verdeutlicht auch ein Methodenexperiment von Erdogan (2001), die persönliche und OnlineErhebungen gegenüberstellte. Im persönlichen Gespräch produzierten die Teilnehmenden der Gruppendiskussionen einen bis zu drei Mal längeren Redebeitrag als in den Internetgesprächen. Andererseits meldeten sich die Teilnehmenden im Chat häufiger zu Wort. Chat-Interviews führen demnach zwar zu einer höheren Frequenz der Wortmeldungen, wobei insgesamt weniger Wörter produziert werden.
2.2
Asynchrone Verfahren
Im Gegensatz dazu zeichnen sich asynchrone Interviewformen durch zeitversetzte Frage-Antwort-Runden aus, d. h. die Gesprächspartner/innen müssen nicht zur selben Zeit am Computer im Internet sein. Asynchrone Interviewvarianten werden über E-Mail, Mailinglisten oder internetbasierte Diskussionsforen durchgeführt. Bei E-Mail-Befragungen werden den Befragten Fragen einzeln oder in thematischen Blöcken zur Beantwortung übermittelt. Dabei ist darauf zu achten, nicht zu viele Fragen auf einmal zu stellen, um die Antwortenden nicht zu überfordern. Offen zu beantwortende Fragen werden in der Regel als anstrengender erlebt als vergleichbare Fragen mit vorgegebenen Antwortalternativen. Um Befragte nicht mit einer zu langen Frageliste zu entmutigen (z. B. durch Ermüdung oder Frustration), ist auf ein ausgewogenes Verhältnis von Fragen und Befragungsepisoden zu achten. E-Mail ist eine Kommunikationsform, die auf eher kurzen, in sich geschlossenen Texteinheiten aufgebaut ist (Bampton et al. 2013). Dies wird umso wichtiger, wenn Mobiltelefone zur Datenerhebung eingesetzt werden, bei denen die Teilnehmenden per SMS auf Fragen zu reagieren haben. Lange Antworten sind per SMS schon aufgrund technischer Einschränkungen nicht möglich. SMS-Befragungen eigenen sich besonders, um individuelle Eindrücke in längsschnittlichen Designs zu erheben, in denen Personen z. B. über einen längeren Zeitraum täglich kurze Stimmungs- oder Einstellungsstatements zeitnah nach ihrem Auftreten beantworten, statt dass diese erst nach längerer Zeit retrospektiv rekonstruiert werden müssen (Trull und EbnerPriemer 2013, 2014). Methodenübergreifende Vergleichsstudien legen nahe, dass derartige Tagebuchverfahren per SMS in der Regel schneller verschickt werden als
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T. Gnambs und B. Batinic
vergleichbare internetbasierte Tagebücher; allerdings werden von den Teilnehmenden die internetbasierte Varianten bislang gegenüber Handybefragungen deutlich vorgezogen (Lim et al. 2010).
2.3
Non-reaktive Verfahren
Non-reaktive Formen der Datenerhebung sind im Rahmen der qualitativen OnlineForschung besonders populär, da Personen häufig freiwillig umfangreiche persönliche Informationen im Internet zur Verfügung stellen, die Einblick in deren Alltagserfahrungen und subjektives Erleben ermöglichen. Diese werden in Form multimedialer Dokumente meist schriftlich, manchmal aber auch als Audio- oder Videobotschaft, als autobiografische Erzählungen oder Tagebücher auf persönlichen Homepages oder Weblogs, aber auch in persönlichen Profilen sozialer Netzwerkdienste wie Facebook oder Twitter veröffentlicht. Allerdings werden ethische Implikationen, die sich aus der Nutzung derartiger Datenquellen ergeben, bislang noch kontrovers diskutiert (s. Abschn. 5). Besondere Bedeutung hat das Internet vor allem auch für ethnografische Studien erlangt, bei denen sich das Forschungsinteresse auf Interaktionen von ganzen Personengruppen in virtuellen Umgebungen richtet. In internetbasierten Diskussionsforen oder Mailinglisten lassen sich ganze Konversationen mitverfolgen (man spricht hier von sogenanntem lurking). Dabei ist es oft so, dass sich Forschende gar nicht zu erkennen geben müssen, wodurch dann aber auch die spezifische Beteiligung fehlt, die für ethnografische Forschung häufig als notwendig erachtet wird, um ein tieferes Verständnis für das Geschehen zu erlangen. Ethnografischen Arbeiten richten sich zumeist auf Interaktionen in Newsgroups, Chats und internetbasierten Diskussionsforen, die verschiedene Personen ortsunabhängig zusammenführen und dadurch neue, virtuelle Gruppen generieren, die häufig keine Entsprechung in der realen Welt haben. Im Allgemeinen werden fünf Haupttypen internetbasierter Gruppen differenziert (Herring 2008): 1. Interessensgruppen (z. B. Buchliebhaber/innen), 2. Supportgruppen (z. B. Angehörige von Krebspatient/innen), 3. aufgabenbezogene Gruppen (z. B. Entwickler/innen eines Softwareprodukts), 4. geografische Gruppen (z. B. Bewohner/innen einer bestimmten Region/Stadt) und 5. kommerzielle Gruppen (z. B. Kund/innen, die auf einer Produktwebseite interagieren). Virtuelle Gruppen sind nicht notwendigerweise auf rein textbasierte Interaktionen beschränkt. Seit einiger Zeit werden sogenannte virtuelle Multiuser-Umgebungen (multi-user virtual environments) wie „World of Warcraft“ zunehmend populär, an denen sich Akteure aus der gesamten Welt über das Internet beteiligen können. Das Ziel derartiger Anwendungen ist es ein Gefühl von Präsenz zu erzeugen; d. h. einen virtuellen Ort zu generieren, der unabhängig von der aktuellen physikalischen Umgebung der Nutzenden existiert und der es ihnen dennoch erlaubt, mit und vor allem auch in dieser virtuellen Umgebung zu interagieren (Schroeder 2006). Derartige Anwendungen visualisieren ganze virtuelle Welten am Bildschirm der Nutzenden. In diesen wird die eigene Person in Form einer grafischen Spielfigur (soge-
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nannter Avatare) repräsentiert, welche die Teilnehmenden mit der Maus durch die Online-Umgebungen lenken, bestimmte Spielhandlungen setzen (z. B. Aufstöbern verborgener Schätze) und vor allem auch in Interaktion mit anderen Teilnehmenden treten lassen können. Der Gegenstand der Beobachtung ist im Vergleich zu rein textbasierten Gruppen ungleich reichhaltiger, da sie sich nicht nur auf schriftliche Äußerungen beschränken. Dies können Merkmale der von den Teilnehmenden gestalteten virtuellen Umgebung selbst ebenso wie Gestaltungsaspekte des eigenen Avatars sein bis hin zu Merkmalen des verbalen wie non-verbalen Interaktionsverhaltens zwischen den Teilnehmenden (O’Connor et al. 2015; Williams 2007). In jüngster Zeit und mit Hilfe von „Augmented-Reality-Brillen“ können diese virtuellen Welten in Form von Hologrammen mit der realen Welt verbunden werden. Der Träger des Headsets sieht hierbei mit Hilfe von Kameras zum einen ein Abbild seiner „wirklichen“ Umgebung und anderseits eine dreidimensionale, in eben diese Umgebung hineinprojizierte, Computeranimation. Beispielhaft ist hier das von Microsoft im Jahr 2015 vorgestellte System „HoloLens“ zu nennen (s. Arth et al. 2015 für einen historischen Überblick).
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Aktueller Stellenwert von Online-Methoden
Die Ausgangslage für internetbasierte Methoden in der (qualitativ-)psychologischen Forschung erweist sich als ausgesprochen günstig. Die ARD/ZDF-Onlinestudie (2018) weist für die Bevölkerung von Deutschland bereits eine durchschnittliche Internetpenetration von über 90 Prozent aus. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Privathaushalten mit Computern und Internetanschluss scheint die Einbindung des Internets zur Rekrutierung und Datenerhebung für die psychologische Forschung nur der nächste logische Schritt zu sein. Die Beurteilung der tatsächlichen Relevanz von Online-Methoden für die qualitativ-psychologische Forschung ist jedoch schwierig, da diesbezüglich bislang nur wenig aussagekräftiges Datenmaterial vorliegt. Eine indirekte Abschätzung der Verbreitung von internetbasierten Erhebungsverfahren ermöglichen Erfahrungswerte aus der kommerziellen Marktund Meinungsforschung. Dort haben Web-Befragungen innerhalb von fünfzehn Jahren einen Marktanteil von fast 40 Prozent aller Marktforschungsprojekte erobert (ADM 2018); bei den qualitativen Studien, die ca. 7 Prozent des Umsatzes der ADM Mitgliedsinstitute ausmachen, wird der Anteil internetbasierter Erhebungen nicht explizit ausgewiesen (Abb. 1). Zeitgleich findet dieser Wandel, wenn auch in deutlich bescheideneren Ausmaß, Niederschlag in wissenschaftlichen Fachpublikationen. Skitka und Sargis (2006) schätzen den Anteil von APA-Zeitschriften, die zumindest einen Artikel mit internetbasierten Erhebungsmethoden veröffentlicht haben, für die Jahre 2003/04 auf rund 21 Prozent. Qualitative Studien machen davon allerdings nur rund vier Prozent aus. Aufgrund der generell starken Unterrepräsentation qualitativer Forschungsarbeiten in APA-Zeitschriften darf jedoch angenommen werden, dass der tatsächliche Anteil qualitativer Online-Methoden in der heutigen Forschungspraxis deutlich höher ist.
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Abb. 1 Anteil der Internetnutzer an der Gesamtbevölkerung (aus ARD/ZDF 2018) und Anteil der online Interviews an allen Marktforschungs-Interviews (aus ADM 2018) in Deutschland
Die Anwendung qualitativer Methoden im Internet stellt keine Randerscheinung psychologischer Forschung mehr dar, sondern zählt zum Methodenkanon einer Vielzahl unterschiedlicher Fachrichtungen. Diese reichen von klinischen Fragestellungen beispielsweise zu Prädiktoren von riskantem Sexualverhalten bei TransgenderPopulationen (Feldman et al. 2014) oder Merkmalen exzessiven Computerspielens als Suchterkrankung (Beranuy et al. 2013) über sozialpsychologische Themen wie die Etablierung von Regeln sozialer Interaktion in Multiplayer-Online-Spielen (Griffiths et al. 2011) oder Selbstpräsentationsstrategien in Weblogs (Huffaker und Calvert 2005) bis hin zu Anwendungen in der pädagogischen Psychologie (z. B. zu geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern in internetbasierten Lernanwendungen; Hou 2012) und in der Entwicklungspsychologie (z. B. über Online-Erfahrungen von Jugendlichen mit interethnischen Themen; Tynes 2007).
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Beispiele qualitativer Online-Forschung
Untersuchungen zu sozial negativ konnotiertem Verhalten sind im direkten Gespräch häufig nur schwer zu realisieren, da in der persönlichen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht insbesondere bei gesellschaftlich tabuisierten oder sogar kriminalisierten Themen häufig keine oder nur sehr verzerrte Äußerungen
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der Teilnehmenden zu erwarten sind. Mit derartigen Schwierigkeiten sehen sich in der Regel auch Studien aus dem Bereich der Vorurteilsforschung konfrontiert. Insbesondere Personen mit extrem xenophoben oder sogar rassistischen Einstellungen sind zum einen oft nur schwer zur Teilnahme an wissenschaftlichen Untersuchungen zu motivieren und reagieren zum anderen bei direkten Fragen häufig stärker sozial konform, als es ihrer tatsächlichen Werthaltung entsprechen würde. Um auch derartige, vergleichsweise spezifische Personengruppen erreichen und möglichst unaufdringlich untersuchen zu können, bieten sich in vielen Fällen internetbasierte Forschungsmethoden an. Billig (2001) berichtet zum Beispiel von einer diskursanalytischen Studie von drei Webseiten, die rassistische Witze sammeln und Sympathie für den Ku Klux Klan zeigen. Dabei arbeitet er den Metadiskurs dieser Seiten heraus und zeigt, wie Humor als Mittel eingesetzt werden kann, um Hass auszudrücken. Eine sozialpsychologische Untersuchung von Holtz und Wagner (2009) zu einem verwandten Thema ging der Frage nach, inwiefern bestimmte, essenzielle Unterschiede, die einer Outgroup (z. B. Juden und Jüdinnen) gegenüber der Ingroup (z. B. Deutsche) zugeschrieben werden, als Rechtfertigung aversiver Handlungen gegen diese Outgroup dienen. Häufig werden ausgesprochen rassistische Ansichten sehr offen ausgedrückt – zumindest unter Gleichgesinnten. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben sich im Internet zahlreiche Webseiten, Mailinglisten und Diskussionsforen etabliert, die dem Gedankenaustausch derartiger Gruppen gewidmet sind (Franklin 2010). Solche Foren finden sich häufig frei zugänglich im Internet. Darin werden umfangreiche Gesprächsverläufe, auch über mehrere Jahre hinweg, gleichsam dokumentiert und hinterlassen vielfältige Informationen nicht nur über den inhaltlichen Diskurs selbst, sondern auch über die beteiligten Personen, die über sog. Nicknames identifiziert werden können. Holtz und Wagner (2009) zogen für ihre Studie fast 5000 Diskussionsbeiträge aus einschlägigen Internetforen heran, die im ersten Schritt semi-automatisch aus dem Forum extrahiert wurden, um sie anschließend in ein Auswertungsprogramm zu übertragen. Die Datengrundlage ihrer inhaltsanalytischen Auswertungen stellten somit nicht-reaktiv gewonnene Informationen dar, also Daten, die nicht aufgrund spezifischer Fragen der Forschenden, sondern in Form „normalen“ Verhaltens der Beteiligten erhoben wurden. Im persönlichen Gespräch wären derartige Konversationen nur schwer zu erfassen gewesen. Ähnlich realisierten Glaser und Kolleg/innen (2002) ein qualitatives Online-Experiment, um angegebene Gründe von extremistischen Gruppen zu explorieren, Gewaltakte gegen Minderheiten zu unterstützten (z. B. ökonomische Bedrohungen wie Jobverlust oder „genetische Bedrohung durch Mischehen“). Die Forschenden gaben sich dabei als normale Chat-Besuchende aus und ließen in der Konversation vorab festgelegte Szenarios zu verschiedenen Bedrohungsszenarios einfließen. Den anderen Teilnehmer/innen war dabei nicht bewusst, dass sie an einer Untersuchung teilnahmen, sondern sie betrachteten die Dialoge als Gespräche unter Gleichgesinnten. Die Antworten wurden hinsichtlich des Ausmaßes, indem sie Gewaltakte gegen Minderheiten befürworteten, kodiert, um so Aussagen zu treffen wie verschiedene Bedrohungsszenarien Gewalttaten begünstigen.
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Ethische Überlegungen zur Online-Forschung
Inwiefern Daten aus Diskussionsforen oder Online-Chats eine private Kommunikation darstellen, welche aus ethischen Erwägungen nicht ohne Einwilligung der Beteiligten analysiert werden dürfen, oder physische Spuren im Sinne von Döring und Bortz (2016), wird bislang kontrovers diskutiert. Diesbezüglich lassen sich drei Sichtweisen unterscheiden (Hookway 2008): Manche Autor/innen akzeptieren deren Verwendung für Forschungszwecke, wenn keine expliziten Zugriffsbarrieren (z. B. durch Passwortschutz) diese Informationen schützen, sondern sie frei zugänglich im Internet verfügbar sind, und wenn Nutzungsbedingungen (AGBs) des Forenbetreibers der Verwendung nicht explizit widersprechen. Andere Autor/innen gehen davon aus, dass internetbasierte Beiträge – selbst wenn sie öffentlich zugänglich sind – von den Verfasser/innen als private Kommunikation betrachtet werden und deshalb von Forschenden auch solcherart gehandhabt werden müssten, also eine explizite Einwilligung der Verfasser/innen und/oder des Forenbetreibers notwendig ist. Schließlich wird von einer dritten Gruppe postuliert, es seien keine allgemeingültigen Aussagen möglich, da das Internet gleichsam publicly-private und privatelypublic (Waskul und Douglass 1996, S. 131) sei. Forschende müssten deshalb stets berücksichtigen, unter welcher Erwartungshaltung internetbasierte Beiträge verfasst wurden. In der Praxis ist es jedoch so, dass häufig eine Einwilligung zur Verwendung von Informationen entweder nicht bzw. nur sehr schwer eingeholt werden kann (Teilnehmer/innen einer archivierten Online-Konversation sind häufig nicht mehr erreichbar, weil sie die Gruppe verlassen haben oder sich die E-Mail-Adresse geändert hat) oder vorab gar nicht eingeholt werden sollte: Bei synchronem OnlineGeschehen (z. B. in Chats oder Multiuser-Online-Spielen) würde die Spontaneität und Natürlichkeit des Geschehens stark beeinträchtigt, wenn vorab eine Einwilligung zur Beobachtung von den Teilnehmenden erbeten würde. Aus pragmatischen Erwägungen hängen die meisten Forschenden wahrscheinlich vornehmlich erster Sichtweise an und nutzen internetbasierte Diskussionsbeiträge ohne explizite Einwilligung der Verfasser/innen. Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang besondere Beachtung verdient, ist die Wahrung des Datenschutzes und der vertrauliche Umgang mit im Internet erhobenen Informationen. Die Verwendung von Pseudonymen ist häufig nicht ausreichend. So können Beiträge eines Nutzers bzw. einer Nutzerin durch einen individuellen Schreibstil oder eine spezifische Wortwahl geprägt sein, sodass selbst bei Verwendung anonymisierter Namen einzelne Personen allein aufgrund exzerpierter Beiträge identifiziert werden könnten. Letztendlich muss die Frage nach der Zulässigkeit von qualitativer Forschung in Online-Medien unter besonderer Würdigung des jeweiligen Einzelfalls beantwortet werden. Als Hilfestellung kann dazu die systematische Beantwortung von 16 Leitfragen von Buchanan und Williams (2010) dienen. Diese Fragen beziehen sich unter anderem auf die Identifizierbarkeit der Untersuchungsteilnehmenden und die Datensicherheit und sollen helfen die ethischen Implikationen des eigenen Forschungsvorhabens zu konkretisieren. Darüber hinaus stellen wissenschaftliche Fachgesellschaften und durch diese legitimierte Ethikkommissionen allgemeine Richtlinien für die Durchführung von qualitativen Online-Forschungsvorhaben bereit. Beispielhaft
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ist hier die „Soziale Medien Richtlinie“ der deutschen Marktforschungsverbände zu nennen (ADM et al. 2014). Es ist zu erwarten und zu begrüßen, dass sie Entwicklung hier weiter voranschreitet und sich letztendlich allgemeine und anerkannte Standards für das Forschen im Internet etablieren.
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Stärken und Schwächen Qualitativer Online-Forschung
Zu den Vorteilen internetbasierter Methoden zählen u. a. Kosten- und Zeitersparnisse aufgrund (teil-)automatisierter Datenerhebungen und wegen des Wegfalls potenzieller Kosten für Anreise, Räumlichkeiten und Transkription, die bei persönlichen Interviews entstehen können (Opdenakker 2006). Durch die weltweite Verfügbarkeit des Internets, auch über geografische Grenzen hinweg, eröffnen sich neue Chancen, mit vergleichsweise geringem Aufwand lokal verstreute Teilnehmende und sogar ausgewählte Subgruppen zu erreichen (Schiek und Ullrich 2015). Spezifisch für qualitative Online-Interviews ergeben sich Vorteile hinsichtlich der Offenheit der Befragten: Die erhöhte Anonymität, die man in der Regel bei internetbasierten Interviews erlebt, kann dazu führen, dass Personen aufgeschlossener sind und mehr Informationen über sich selbst Preis geben (Al-Saggaf und Williamson 2004; Tilley und Woodthorpe 2011), insbesondere auch sensible Informationen, über die im persönlichen Gespräch sonst nur ungern gesprochen würde (z. B. in der Sexualforschung, s. Chaney und Dew 2003 oder zum Drogenkonsum, s. Barratt 2012; Gnambs und Kaspar 2015; für ein Gegenbeispiel siehe Gnambs und Kaspar 2017). Erhöhte Anonymität ergibt sich durch das Ausschalten peripherer, biosozialer Merkmale (z. B. Alter oder Geschlecht), aber auch paralingualer Informationen wie Gestik und Mimik, die häufig Konversationen unbewusst mitbestimmen, da sich Personen weniger beobachtet fühlen. So berichten Madge und O’Connor (2002) sogar von einem Enthemmungseffekt bei internetbasierten Fokusgruppen. Werdende Eltern zeigten bei Online-Diskussionen untereinander spontan deutliches Flirtverhalten, was in präsenten Settings so kaum der Fall wäre. Auf der anderen Seite kann sich das Fehlen einer non-verbalen Kommunikationsebene in Online-Interviews auch nachteilig niederschlagen, da Mimik und Körperhaltung häufig helfen, das Gesagte zu interpretieren. Schriftliche Substitute für derartige emotionale Äußerungen in Form von sogenannten Emoticons wie „:-)“ versuchen zwar diesen Mangel auszugleichen, weisen jedoch nur selten die Reichhaltigkeit menschlicher Mimik auf (Mann und Stewart 2002). Außerdem haben dieselben Emoticons häufig in unterschiedlichen Kulturkreisen eine unterschiedliche Bedeutung (Opdenakker 2006), was vornehmlich bei Interviews von Personen mit Migrationshintergrund ein Kommunikationshindernis darstellen kann. Manche Autor/innen stellen auch die Authentizität virtueller Selbstrepräsentationen in Frage; d. h. inwiefern kann man davon ausgehen, dass sich Personen im Internet ehrlich darstellen und wahrhafte Reaktionen zeigen (s. Schiek und Ullrich 2015)? Im Internet ist es einfach möglich, Unwahrheiten über sich und andere zu verbreiten, da kaum direkte negative Konsequenzen zu befürchten sind. Es ist daher auch kaum möglich, den Wahrheitsgehalt internetbasierter Aussagen (z. B. Alter
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oder Geschlecht von Befragten) zweifelsfrei zu verifizieren. Es ist sogar möglich, unter unterschiedlichen „Nicknames“ in einem Forum Beiträge zu veröffentlichen (Evans et al. 2008). In ethnografischen Online-Studien wird man jedoch nur selten Einzelaussagen unreflektiert akzeptieren. In der Regel ergeben sich Möglichkeiten, die Aussagen einer Person in verschiedenen Situationen und auch zu verschiedenen Zeitpunkten zu vergleichen, um die Authentizität der Aussagen dieser Person zu überprüfen und dann als wahrhaft zu akzeptieren oder als unehrlich zu ignorieren. Auf der anderen Seite ergibt sich auch für die Forschenden selbst die Notwendigkeit, sich so darzustellen, dass sie von der Gruppe, die sie zu studieren beabsichtigen, akzeptiert werden (Hine 2008). Rutter und Smith (2005) berichten beispielsweise, dass ihre Teilhabe an einer Online-Gruppe von deren Mitgliedern erst akzeptiert wurde, nachdem einige Mitglieder, mit denen sie persönlich bekannt waren, für diese bürgten. Barratt (2012) empfiehlt bei der Durchführung von Online-Interviews a) sich für das Interview zu legitimieren, b) die eigene Schweigepflicht bezüglich personenbezogener Daten hervorzuheben, c) einen passenden Schreibstil zu verwenden und c) humorvoll das Interview zu führen.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die grundlegenden technologischen Prinzipien des Internets haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig geändert. Dennoch durchläuft das Internet einen stetigen Wandel im Hinblick auf seinen Funktions- und Angebotsumfang. Dies betrifft u. a. sowohl Internetdienste (z. B. Internet-Telefonie), die neu hinzugekommen sind, als auch Anwendungen innerhalb der einzelnen Internetangebote (z. B. Twitter, WhatsApp). Die Erweiterung der Möglichkeiten führt auch zu neuen Formen der qualitativen Online-Forschung. Beispielsweise bietet die Anbindung von mobilen Endgeräten an das Internet die Möglichkeit, Selbstberichte wie auch Verhaltensbeobachtungen direkt im alltäglichen Lebensumfeld vorzunehmen. So ist die Messung von subjektiven Erfahrungen wie z. B. Furcht oder Zufriedenheit, aber auch von physischen Aktivitäten mittels retrospektiver Selbstberichte in hohem Maße verzerrungsanfällig; solche Verzerrungen können durch eine Echtzeitmessung mittels Handheld-Computern mit automatisierter Befragungsaufforderung vermieden werden. Zudem ermöglicht die Ausstattung derartiger Geräte mit GPS-Empfängern qualitativ Forschenden, (zumindest potenziell) auch Daten etwa in Form von Bewegungs- und Interaktionsmustern der Beteiligten zu erfassen, welche so vorher nicht zugänglich waren (Trull und Ebner-Priemer 2013, 2014). Eine Erweiterung dieses Ansatzes stellen mit dem Smartphone verbundene Uhren bzw. Armbänder, sogenannte Smartwatches bzw. Fitnessarmbänder, dar. Diese Systeme erfassen neben den reinen Bewegungsdaten u. a. auch die Puls- bzw. Herzfrequenz, den Schlafrhythmus, die am Tag zurückgelegten Schritte für einen längeren Zeitraum in Echtzeit. Besondere Bedeutung internetbasierter Forschungsvorhaben wird künftig auch die zunehmende Verknüpfung mit Methoden aus der Softwareentwicklung erlangen. Unter dem Begriff der Psychoinformatik (Yarkoni 2012) werden technologische und
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statistische Ansätze diskutiert, um große Mengen unstrukturierter Informationen („Big data“), die in der qualitativ orientierten Forschung dominieren, zusammenzufassen und zu analysieren. Umfangreiches Datenmaterial wie es beispielsweise in Form von Twitter-Beiträgen vorliegt, macht eine individuelle Kodierung von Textmerkmalen zunehmend unökonomisch und nur schwer realisierbar. Stattdessen bieten sich hierzu automatisierte linguistische Analysen an, welche den semantischen Bedeutungsgehalt der vorliegenden Textpassagen mithilfe von Computeralgorithmen zu identifizieren trachten. Entsprechende psychologische Studien konnten bereits zeigen, dass automatisierte computerbasierte Textanalysen von Status Updates und Kommentaren in Facebook, valide Rückschlüsse auf basale psychologische Konstrukte wie emotionales Wohlbefinden (Liu et al. 2015) oder Persönlichkeit (Park et al. 2015) erlauben. Den qualitativ tätigen Forschenden bieten sich somit bereits heute zahlreiche Ansätze, das Internet nicht nur als Untersuchungsgegenstand, sondern generell als Erhebungsmethode zu nutzen. Mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung internetgestützter Endgeräte und der weitflächigen Verbreitung werden sich jedoch künftig für die qualitative Forschung noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten etablieren, die bislang nur schwer abzuschätzen sind.
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Partizipative Forschung Jarg Bergold und Stefan Thomas
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Grundannahmen partizipativer Forschung . . . . . . . . . . . 3 Der partizipative Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Um einen Überblick über den Forschungsstil der partizipativen Forschung zu ermöglichen, wird zunächst die Entstehungsgeschichte nachgezeichnet, die stark durch einen politischen Anspruch geprägt ist. Das gleichberechtigte Miteinander der unterschiedlichen Forschungspartner/innen und die Analyse der Machtstrukturen stellen zentrale Elemente dar. Die Eröffnung eines kommunikativen Raumes, in dem Perspektivenverschränkung und Selbstreflexion möglich sind, wird daher als Ort der gemeinsamen Forschung angestrebt. Dafür ist es auch notwendig, die Kontextbedingungen der Forschung kontinuierlich zu reflektieren. Sowohl Datenerhebung als auch Datenauswertung sollen im Idealfall gemeinsam stattfinden. In diesem Rahmen kann sich dann ein spiralförmiger Forschungsprozess entwickeln, der so lange fortgesetzt wird, bis ein für alle Teilnehmenden befriedigendes Ergebnis erreicht ist. J. Bergold (*) Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Thomas Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften, Fachhochschule Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_25
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J. Bergold und S. Thomas
Schlüsselwörter
Partizipation Demokratie Macht Aktionsforschung Perspektivenverschränkung Reflexion Stufen des Forschungsprozesses Gütekriterien Methodenprobleme
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Einleitung: Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung
Nicht Forschung über Menschen und auch nicht für Menschen, sondern Forschung mit Menschen – dies ist der Anspruch und die grundlegende erkenntnistheoretische Position von partizipativer Forschung. Der Einbezug der Forschungspartner/innen in den Untersuchungsprozess scheint in der Psychologie allerdings begründungspflichtig zu sein. Die Anwendung von partizipativen Strategien ist gerade nicht eine verbreitete Selbstverständlichkeit; vielmehr melden sich schnell skeptische Stimmen, welche die wissenschaftliche Dignität von Forschungsergebnissen infrage stellen, denen auf den ersten Blick die Erkenntnisdistanz zum Alltagswissen fehlt. Wir geben demgegenüber zu bedenken, dass sozialwissenschaftliche Forschung immer mehr in der Pflicht steht, die reale Lebenswelt der Menschen zum Gegenstand zu nehmen und in ihrem Anwendungsbezug an soziale Lebenspraxen anschlussfähig zu sein. Allerdings verbirgt sich hinter dem Begriff der „partizipativen Forschung“ keine eigenständige Methode, sodass besser von einem Forschungsstil oder einer Forschungsstrategie gesprochen werden sollte. Das bedeutet, dass an verschiedenen Entscheidungspunkten immer wieder die Frage aufgeworfen werden muss, inwieweit und in welcher Form die Akteure und Praktiker/innen als Expert/innen ihrer sozialen Lebenswelt am Forschungsprozess als kollaborative Mitforschende partizipieren können. Zugleich ist partizipative Forschung von ihren Anfängen an durch Interdisziplinarität, unterschiedliche Kulturen und Problemstellungen gekennzeichnet. In der Einleitung zum „Handbook of Action Research“ stellen Reason und Bradbury (2008) fest, dass die Quellen partizipativer Forschungsstrategien so vielfältig sind, dass es kaum möglich ist, sich auf eine klare Herkunft zu beziehen. Mit besonderem Blick auf die Psychologie wollen wir jedoch einige Entwicklungslinien herausarbeiten. In den Anfängen der Experimentalpsychologie, aber auch bei den Gestaltpsychologen Wertheimer und Köhler wurde die „Versuchsperson“ als qualifizierte/r und wissenschaftlich geschulte/r Partner/in am Forschungsprozess angesehen. Es war Moreno, der die „Soziometrie“ zur Untersuchung der Dynamik und Beziehungsstruktur von Gruppen entwickelt hat. Die Beteiligung der Gruppenmitglieder sowie eine gemeinsame Veränderung der Gruppendynamik werden explizit zum methodischen Prinzip erhoben (Moreno 1934). Insbesondere hat Kurt Lewin durch die von ihm entwickelte Methodik des Action Research (Handlungsforschung) wichtige Impulse zur Entwicklung von partizipativen Forschungsansätzen gegeben. Ausgehend von dem Grundgedanken, dass Theorie und Praxis ein notwendiges Verhältnis
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bilden, ging es ihm um die Durchführung „wirklicher Experimente innerhalb ‚natürlich‘ vorkommender sozialer Gruppen“ (Lewin 1963, S. 201) unter dem Motto: „Nicht ist so praktisch wie eine gute Theorie“ (Lewin 1963, S. 205). In Deutschland trug zur Verbreitung partizipativer Methoden speziell die „Aktionsforschung“ bei, die in den 1970er-Jahren ihre Blütezeit erlebte (Altrichter und Gstettner 1993). Vor dem Hintergrund der methodologischen Kritik des Positivismus und der Infragestellung der nomothetischen Psychologie wurde – oftmals in Bezug auf marxistische Ansätze – eine Methodik entwickelt, die über die Wissensproduktion nicht nur Partei ergreift, sondern ebenso für praktische Veränderungen eintritt. Aktionsforschung verstand sich unter dem Anspruch der Demokratisierung und Emanzipation von ungerechten, menschenunwürdigen, repressiven Verhältnissen daher als „Methode sozialer Veränderung“. Die Verbesserung der Lebensumstände von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen machte es demzufolge notwendig, diese als aktiv Mitwirkende in den Forschungsprozess einzubeziehen, wohingegen die Forschenden ihre Dominanzrolle aufgeben sollten. Etwa zur gleichen Zeit entstand in Lateinamerika auf dem Hintergrund der Erfahrung von Armut und Unterdrückung sowie von Initiativen, die dagegen ankämpften, ebenfalls ein partizipativer Forschungsansatz. Ziel war es u. a., „enlightenment and awakening of common peoples“ (Fals-Borda und Rahman 1991, S. vii) zu ermöglichen. Die Entwicklung wurde auch durch die Gemeindepsychologie vorangetrieben, deren grundlegende Konzepte von Partizipation und Empowerment partizipative Forschungsstrategien nahelegten. Dies betrifft vor allem Studien über Empowerment, in denen zusammen mit den beteiligten Subjekten Formen der Selbstermächtigung untersucht wurden. Durch das Mitreden und Gehörtwerden sollten sie in die Lage versetzt werden, eine eigene Stimme zur Artikulation ihrer Interessen zu entwickeln, um bewusst auf ihre Lebenspraxen Einfluss zu nehmen. (Einen internationalen Überblick geben Reich et al. 2001). Bergold (2000) hat mit den Stichworten Alltagsnähe und Komplexität, Mehrperspektivität, Parteilichkeit, Partizipation, Empowerment und Prozesshaftigkeit die enge konzeptuelle Verzahnung von qualitativen und partizipativen Forschungsmethoden sowie der Gemeindepsychologie aufgezeigt. Einen weiteren, grundlegenden Anstoß zur Entwicklung gaben feministische Forschungsansätze (Frisby et al. 2009; Lykes und Hershberg 2019). Besonders durch das Konzept der Parteilichkeit wurden Neutralität und Werturteilsfreiheit von Forschung prinzipiell infrage gestellt (Harding 1986). Ebenso erlangte für die Kritische Psychologie die methodische und theoretische Qualifizierung der „Versuchsperson“ als Mitforscher/in mit dem Ziel der Schaffung eines metatheoretischen Verständigungsrahmens besondere Wichtigkeit (Markard 2000). Auch aus den Notwendigkeiten der Praxis entstand eine Reihe von partizipativen Ansätzen. In England wurde auf einem humanistischen Hintergrund und auf Grundlage von Arbeiten zu Action Science (Argyris und Schön 1974) der Ansatz der Co-Operative Inquiry entwickelt (Reason und Bradbury 2008). In Deutschland entstand der Ansatz der „Praxisforschung“ (Beerlage und Fehre 1989; Heiner 1988; Moser 2015). Hier wurden Funktions- und Wirkungsweise professionellen Handelns unter der Perspektive ihrer sachgerechten Reflexion, Anpassung und Weiterentwicklung untersucht.
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Aktuell wird unter einer sozialkritischen, feministischen, postkolonialen und phänomenologischen Perspektive ein besonderer Nachdruck auf Subjektivität, Erleben, biografische Erfahrung und individuelle Sichtweisen gelegt (Denzin und Lincoln 2017). Unter dem Anspruch performativer Sozialforschung wird eine Verbindung von Forschung mit politischem, kulturellem und künstlerischem Engagement befürwortet (Schreier 2017). In der Autoethnografie verschmelzen schließlich die arbeitsteilig getrennten Rollen von Forscher/in und Informant/in (Ellis et al. 2010) Dies gilt auch für die Methode der Introspektion, einer frühen Tradition psychologischer Forschung, die von der Arbeitsgruppe um Kleining wieder aufgenommen wurde (Burkart et al. 2010) Vor allem in der Gesundheitsforschung hat sich eine besondere Fokussierung partizipativer Forschung auf die Zusammenarbeit von universitärer Forschung und Kommunen unter dem Titel „Community Based Participative Research“ (CBPR) in den USA und in Kanada (Wallerstein und Duran 2010) und zunehmend auch in Deutschland (von Unger 2012, 2014) entwickelt. Diese Partnerschaft soll der Beseitigung von Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung dienen (Israel et al. 1998). Zudem ist eine Wiederentdeckung von partizipativen Forschungsstrategien im Rahmen der Evaluationsforschung zu beobachten (Flick 2009). Hier lassen sich zwei recht verschiedene Positionen registrieren. Auf der einen Seite finden sich im USamerikanischen Raum Vertreter/innen einer Position, die durch eine konsequente Beteiligung von Betroffenen eine Zunahme an Selbstbestimmung und Selbstreflexion (Fetterman 2002) erwarten. Auf der anderen Seite ist im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, in der partizipative Strategien durch die Weltbank und in Deutschland durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bereits seit vielen Jahren gefordert werden, ein eher pragmatischer Umgang zu finden (Caspari 2006). Ähnliches lässt sich bei den inzwischen groß angelegten Evaluationen von sozialpolitischen Programmen (z. B. Haubrich 2009) und in der Gesundheitsforschung (z. B. von Unger 2014) beobachten. In der Kindheitsforschung finden sich eine Vielzahl an Beiträgen, in denen junge Menschen eingeladen werden, sich anhand „wissenschaftlicher“ Methoden aktiv mit für sie relevanten Lebensbereichen – Kindergarten, Schule, Ausbildung, StatusPassagen – auseinanderzusetzen (Wöhrer et al. 2017). Partizipative Forschung schlägt durch den Einbezug von Kinder und Jugendlichen nicht nur eine Brücke zu den Erfahrungen der jeweils Gleichaltrigen (McCartan et al. 2012; Sauer et al. 2018), sondern öffnet den Blick der Forschung auf Themen, die den erwachsenen Forschenden unvertraut und fremd geworden sind (Clark 2010). Dies schließt oftmals eine sozialpolitische Auseinandersetzung mit dem untersuchten Lebensbereich ein (Akom et al. 2014; Dentith et al. 2012). Insbesondere wird partizipative Forschung in Bereichen wichtig, in denen Menschen sozialen Ausschluss erfahren, was impliziert, dass ihre Perspektive auf soziale Wirklichkeit keine bzw. unzureichende Anerkennung erlangt (Goeke und Kubanski 2012). Speziell unter dem Methodenansatz der Disability Studies finden sich vielfältige Versuche, die von Behinderungen betroffenen Menschen in den Forschungsprozess einzubeziehen (z. B. Cook und Inglis 2012, Hedderich et al. 2015).
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Ein Ansatz, der das bisher diskutierte Konzept von partizipativer Forschung überschreitet und eine qualitativ neue Stufe darstellt, ist die nutzer-kontrollierte Forschung, wie sie vor allem in England entwickelt wurde, aber inzwischen auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen hat (Krämer und Rose 2017; Russo 2012). Ausgehend von der Forderung, dass die unmittelbar Betroffenen an allen Entscheidungspunkten im Forschungsprozess nicht nur teilnehmen, sondern die letztendliche Entscheidungsmacht besitzen sollten, ändern sich die Rollen von akademisch ausgebildeten Forschenden vollständig. Sie werden zu Beratenden bei der Erarbeitung der Forschungsfrage, der Formulierung der Forschungsanträge, des methodischen Vorgehens, der Publikation usw., haben aber an den jeweiligen Punkten des Prozesses kein Entscheidungsrecht. Es wird argumentiert, dass sich nur so sicherstellen ließe, dass die Perspektive der betroffenen Menschen gegenüber den eingespielten Machtverhältnisse eine Chance habe sich durchzusetzen. Interessant erscheint, dass partizipative Strategien inzwischen in viele Forschungsfelder Eingang gefunden haben, in denen die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten wichtig sind, beispielsweise in der der Sozialgeografie, den Agrarwissenschaften, der Zukunftsforschung, dem Managementbereich usw. Die einzelnen Beiträge, die sich im Gesamtpanorama partizipativer Ansätze einordnen ließen, können hier aus Platzgründen nicht einmal zitiert werden. Auch bei den Veröffentlichungen hat sich die Idee der Partizipation durchgesetzt (z. B. Hedderich et al. 2015; Hermann et al. 2004; Mohammed et al. 2019). Zudem lässt sich feststellen, dass viele Beiträge im Internet publiziert werden, da so Zugänglichkeit und eine offene Diskussion besser gewährleistet sind. Die nachfolgende Grafik soll einen Eindruck der Vielfalt von Bereichen vermitteln (Abb. 1). Innovative soziale Programme Entwicklungsforschung
politische Bildung
Management juristische Auseinandersetzungen Institutionsanalyse
Interkulturelle Forschung
Evaluation
Ethnologie / Ethnographie Grundlagenforschung
Soziale Geographie
Psychosoziale Institutionen
Felder partizipativer Forschung
Soziologie Gemeindepsychologie
medizinische Forschung
Forschung in der Gemeinde pädagogische Forschung
Rehabilitation
Behinderte Menschen
Forschung in der Praxis
Therapie & Beratung Sozialarbeit Umweltforschung Partnerschaft zwischen Universität - Kommune
Psychiatrie Public Health
Sozialpädagogik
Schul- und Unterrichtsforschung
Abb. 1 Anwendungsbereich partizipativer Forschung
Community Stadtteilentwicklung Development
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2
J. Bergold und S. Thomas
Theoretische und methodologische Grundannahmen partizipativer Forschung
Partizipative Strategien zielen auf einen gemeinsamen Erkenntnisprozess von Forschenden und Mitforschenden, der über Kommunikation gesteuert wird (Kemmis et al. 2014). Durch die Initiierung eines „Research Forums“ soll ein methodologischer Verständigungsrahmen etabliert werden, in dem Wissenschaft und Lebenswelt zu einem produktiven Austausch zusammenkommen können (Thomas et al. 2019). Partizipative Forschung bedeutet daher, mit den Forschungspartner/innen in ein Gespräch über ihre Lebenspraxen zu gelangen, um das, was die Praxis implizit und praktisch längst weiß, zu explizieren, von pragmatischen Verkürzungen zu befreien und in einer systematischen Begrifflichkeit aufzuheben. Wenn es der Wissenschaftsseite gelingt, den Entscheidungsund Handlungsdruck zu mäßigen und aus dem kooperativen Forschungsprojekt zurückzudrängen, kann im Idealfall ein Arbeitszusammenhang entstehen, in dem Praxiswissen und Theoriewissen in ein produktives Austauschverhältnis zueinander geraten (Moser 2008). Partizipative Forschung setzt zwei Sprachspiele zueinander ins Verhältnis, einerseits die auf eine pragmatische Bewältigung der Wirklichkeit ausgerichteten sozialen Praxen, andererseits die auf Dekontextualisierung und Verallgemeinerung zielende Erkenntnis wissenschaftlicher Praxen. Partizipative Forschung gewinnt durch beide Perspektiven. Die Theorie wird durch das lokale und praktisch erprobte Wissen, die situativen Sinnbezüge der Akteure und den subjektiven Handlungsbegründungen reichhaltiger. Die sozialen Praxen gewinnen durch die wissenschaftliche Theorie und Methodik eine Perspektive, die über die Bewältigung des unmittelbaren Praxisdrucks hinausweist.
2.1
Bestimmung von Partizipation und die Bedeutung von Macht
Zunächst ist Partizipation ein Begriff aus der Demokratietheorie. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie ein möglichst großer Kreis von Stimmberechtigten in alle für sie relevanten Entscheidungen einbezogen werden kann. Dabei ist eine unterschiedlich intensive Beteiligung nicht unabhängig von Unterschieden in der Ressourcenausstattung der Bürger/innen zu sehen. Die Auseinandersetzung mit Partizipation erfordert notwendigerweise die Auseinandersetzung mit institutionellen Machtstrukturen (Gaventa und Cornwall 2001). Partizipative Forschung positioniert sich in der Zusammenarbeit mit sozialen Praxen ganz unwillkürlich innerhalb der feldspezifischen Macht- und Aushandlungskonflikte. Schließlich werden in dem forschenden Erkenntnisprozess Wirklichkeitsdefinitionen ausgehandelt, die nicht folgenlos für das Handeln und nicht neutral zu den praktisch verfolgten Interessen stehen. Die Forschenden entkommen diesen Verwicklungen in den „Politiken des Feldes“ nicht. Neutralität ist angesichts der Vereinnahmungsversuche illusorisch. Demgegenüber sollten sich die Forschenden immer wieder auf ihren wissenschaftlichen Auftrag besinnen: eine Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der untersuchten Wirklichkeit unter Einschluss sozialer
Partizipative Forschung
119
Macht- und Interessenkonflikte. Schließlich besteht die Chance, dass auch die Akteure neue Handlungsoptionen an die Hand bekommen, um die eigene Praxis weiterzuentwickeln. Eine Analyse der Machtstruktur stellt daher einen notwendigen ersten Schritt bei der Implementierung von partizipativen Forschungsprojekten dar. Es ist zu fragen, in welcher Weise die Machtstruktur das Teilnehmen von Menschen an Entscheidungen und Aktionen erlaubt, verhindert oder unterdrückt und welche Position die Akteure in dieser Machtstruktur einnehmen, über welche Machtressourcen sie verfügen oder welche ihnen ermangeln. Für die partizipative Forschung wird dies wichtig, weil Macht oft nicht direkt sichtbar wird; vor allem strukturelle Macht setzt sich hinter dem Rücken der Beteiligten durch.
2.2
Formen der Beteiligung und ihre Voraussetzungen
Im Gegensatz zur nomothetischen Forschung, die zumeist Wertfreiheit postuliert, geht der partizipative Forschungsansatz davon aus, dass Forschung immer interessengeleitet und wertgebunden ist. Die Momente der Wertentscheidung und der politischen Stellungnahme wurden besonders in frühen Ansätzen der Aktionsforschung in Deutschland herausgearbeitet und spielt auch in der gegenwärtigen Diskussion eine wichtige Rolle (z. B. Boog 2003; Gergen 2003). In die Entscheidung zu partizipativen Ansätzen gehen je nach Position der Vertreter/innen partizipativer Forschung unterschiedliche Grundannahmen ein: • auf der „erkenntnisbezogenen“ (epistemologischen) Ebene wird Kritik an dem gängigen, positivistischen Wissenschaftsmodel geäußert; • unter der „lebensweltlichen“ Perspektive wird die Eigenstrukturiertheit von Alltag und Praxis betont; • vor dem Hintergrund eines „humanistischen“ Menschenbildes wird auf individuelles Wachstum und Selbstverwirklichungspotenziale verwiesen; • auf einer „politischen“ Ebene wird die Frage nach gerechten Lebensverhältnissen, sozialer Teilhabe und demokratischen Einflussmöglichkeiten in den Vordergrund gestellt. Zur Durchführung von konkreten Forschungsprojekten scheint es nützlich, zwei Dimensionen der Beteiligung zu unterscheiden: Es ist zu fragen, ob 1. die institutionellen Rahmenbedingungen die Partizipation fördern oder hemmen und ob 2. einzelne Menschen und/oder Gruppen über ausreichende Ressourcen verfügen, um partizipieren zu können. Ad 1: Die kontextuellen Bedingungen für Partizipation sind vielfältig. Hierzu gehören alltägliche Umgangsformen genauso wie rechtliche Regelungen (von Verwaltungsvorschriften bis zum Verfassungsrecht), aber auch Forschungsmoden. Solche kontextuellen Bedingungen können Einstellungen von Machtträger/innen (z. B. Institutionsleiter/innen, Verwaltungsbeamt/innen, Politiker/innen, DFG-Gutachter/innen usw.), Vereinssatzungen, Hausordnungen, Verwaltungsvorschriften, Gesetze usw. sein. Es ist unabdingbar, sehr
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J. Bergold und S. Thomas
genau zu untersuchen, inwieweit der jeweilige Kontext Partizipation ermöglicht oder verhindert. Ad 2: Hier muss beachtet werden, ob ausreichende Ressourcen bei allen Beteiligten zur Verfügung stehen. So gibt es z. B. divergierende Zeitressourcen und -horizonte von Wissenschaft und Praxis sowie unterschiedliche persönliche, räumliche, zeitliche und finanzielle Voraussetzungen bei allen Beteiligten. Eine asymmetrische Balance ergibt sich allein daraus, da Wissenschaftler/innen für die Forschung viel mehr Zeit zur Verfügung steht, sie die Sprachspiele und die textuelle Produktion, die immer auch Realitäten festschreiben, besser beherrschen und sie sich mit ausreichender kognitiver Distanz über lieb gewonnene Festsetzungen der Praxis hinwegsetzen können. Bei der Frage nach Ressourcen ist auch nach den psychologischen Voraussetzungen zu fragen, welche die Beteiligten mitbringen müssen, um tatsächlich teilnehmen zu können. Allerdings hat die Psychologie ihre eigenen theoretischen Konzepte zum Verständnis von Partizipation noch kaum nutzbar gemacht. Es ginge z. B. darum, inwieweit aufgrund entwicklungspsychologischer und sozialpsychologischer Befunde etwas über Kooperation als Grundlage von Partizipation gesagt werden kann, ob psychologische Überlegungen zur Selbstwirksamkeit zum Verständnis des Partizipationsprozesses beitragen können, ob psychologische Handlungstheorien und sozialpsychologische Theorien über Gruppenprozesse Beschreibungen des gemeinsamen partizipativen Handelns liefern können usw. Partizipation erfolgt nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass es verschiedene Formen der Partizipation gibt. Dies wird in dem weitverbreiteten Stufenmodell deutlich, das Arnstein bereits 1969 vorgelegt hat. Sie unterscheidet drei Abstufungen, die jeweils noch weiter unterteilt sind: Nicht-Beteiligung/Beratung (Manipulation, Therapie), ScheinBeteiligung (Information, Anhörung/Beratung, Beschwichtigung) und Partizipation (Partnerschaft in Aushandlungssystemen, partielle Entscheidungskompetenzen durch Machtübertragung, volle Entscheidungskompetenz durch Bürger/innenkontrolle). Zusätzlich ist noch zu bedenken, dass sich auch im Laufe des Forschungsprozesses die Art der Teilnahme der Forschungspartner/innen ändern kann. In einem Projekt zur „Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrant/inn/ en“, das von von Unger (2012) beschrieben wird, nahmen Partner und Partnerinnen aus der Wissenschaft, der Praxis, der Community, vom Projektbeirat und vom Zuwendungsgeber teil, die jeweils an unterschiedlichen Entscheidungen im Projektablauf z. B. bei der Designentwicklung, einer Befragung, der Auswertung usw. partizipierten. Allerdings ist vor einer zu weiten Verwendung des Begriffs partizipative Forschung zu warnen. Dies scheint uns vor allem deshalb betonenswert, weil scheinpartizipative Ansätze gerade in der Praxis- und Evaluationsforschung sowie in der Politikberatung zunehmend Verbreitung finden (Caspari 2006). Hier wird der Partizipationsanspruch lediglich als Mittel genutzt, um durch den Einbezug von Akteuren und Praktiker/innen Praxiswissen einfacher „abgreifen“ zu können. Befördert wird eine solche Tendenz zur Scheinpartizipation selbst dadurch, dass
Partizipative Forschung
121
Geldgeber und Forschungsinstitutionen mittlerweile Partizipation von den Antragstellenden fordern. Partizipation droht so zu einem Punkt zu werden, der ähnlich wie das Ethikvotum abzuhaken ist.
2.3
Perspektivenverschränkung und Selbstreflexion
Die Grundintention des partizipativen Forschungsprozesses ist die Konstituierung eines kommunikativen Raums, einer öffentlichen Sphäre, in der mit allen Beteiligten und Betroffenen die gelebten Alltags- und Arbeitspraxen erforscht werden können. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation soll die Bereitschaft mitgebracht werden, die Perspektive der jeweils anderen anzuerkennen und einzunehmen, sodass als allgemeines Erkenntnisziel eine gemeinsam erarbeitete Sach-, Handlungs- und Problemanalyse steht. Die Ansprüche an einen offenen Diskurs werden, so die Grundthese, durch die Beteiligung der Wissenschaft gefördert (Kemmis et al. 2014, S. 43–48). Durch sie werden Erkenntnis- und Verallgemeinerungsstandards in den Verständigungsprozess eingeführt, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und prinzipielle Kritisierbarkeit fordern. Entscheidend ist, dass alle Stimmen im Forschungsfeld im Sinne eines multivoicing einbezogen werden, d. h., dass alle Beteiligten ihre Meinung frei äußern, gleichberechtigt teilnehmen und mitentscheiden können. Anstatt Methodisierung und „Manualisierung“ steht die Initiierung eines offenen Prozesses der zielorientierten Interaktion und der selbstkritischen Reflexion im Vordergrund. Voraussetzungen hierfür sind die Bereitschaft und die Fähigkeit aller Beteiligten, über die Hintergründe der eigenen Konzepte, Vorstellungen und Ideen zu reflektieren. Dies wird in der neueren Literatur nun stärker thematisiert. Finlay (2002, S. 532) definiert: „Reflexivity can be defined as thoughtful, conscious self-awareness.“ Förderlich für einen reflexiven Prozess ist ein sicherer Raum, ein „communicative space“ (Bergold und Thomas 2012, Abs. 12–16), in dem die Teilnehmenden angstfrei kommunizieren können. Die Reflexion kann sich dann auf unterschiedliche Bereiche beziehen, die voneinander unterschieden werden sollten. Bergold und Thomas (2012, Abs. 55–60) haben aufgrund der Literatur vier Reflexionsrichtungen vorgeschlagen. 1. Die Reflexion der personalen, lebensgeschichtlichen Voraussetzungen Im Vordergrund steht die Reflexion der persönlichen Wahrnehmungsweisen, Erfahrungshintergründe und Wertorientierungen. Diese betrifft sowohl die Reflexion der Alltagspraxen, die im partizipativen Forschungsprozess untersucht werden sollen, als auch die „methodischen“ Entscheidungen im gemeinsamen Forschungshandeln. Beide Entscheidungshorizonte werden von biografischen und sehr persönlichen Erfahrungen beeinflusst, die nicht unmittelbar sichtbar werden, sondern oftmals einen indirekten und vorreflexiven Charakter haben. Dennoch können diese eine starke Dynamik innerhalb der partizipativen Diskussions- und Klärungsprozesse entwickeln. Um diese Voraussetzungen
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J. Bergold und S. Thomas
verstehbar und gemeinsam diskutierbar zu machen, bedarf es der Offenlegung der persönlichen Hintergründe, wie dies bereits von George Devereux (1976 [1967]) aus einer psychoanalytischen Position gefordert wurde. 2. Die Reflexion der sozialen Beziehungen unter den Forschungspartner/innen Die unterschiedliche Herkunft, die verschiedenen Interessen und die hierarchisierten Machtpositionen der Forschungspartner/innen untereinander führen notwendigerweise zu Konflikten in der Zusammenarbeit. Die daraus resultierende Gruppendynamik kann sich auf alle Entscheidungen im Forschungsprozess auswirken, gerade wenn sich ein strategisches und interessenfixiertes Handeln gegenüber einer auf Verstehen und Verständnis gerichteten Diskussionskultur durchsetzt. Für das Gelingen des partizipativen Gruppenprozesses ist daher auch eine besondere Sensibilität für Gruppendynamik und die Vermeidung sozialer Ausschlussformen erforderlich. 3. Die Reflexion im Forschungsprozess Die reflexive Analyse der vielfältigen Entscheidungsprozesse ist wichtig, weil Handlungen in der Regel aus einem situativen Pragmatismus heraus getroffen werden, deren Richtigkeit bzw. Unangemessenheit sich erst im weiteren Verlauf entscheidet. Die Reflexion des „methodischen und kommunikativen“ Handelns ermöglicht daher eine öffentliche Überprüfung der Forschung und ihrer Ergebnisse. Sie ist somit auch Teil der Sicherstellung der Güte der Forschung. Sie macht für die Rezipient/innen der Forschung den gemeinsamen Konstruktionsprozess sichtbar. Dabei verlangen die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses unterschiedliche Reflexionsrichtungen. So müssen im Vorstadium beispielsweise über die persönlichen Erfahrungshintergründe hinaus eigene Motivation, Konzepte und Vorurteile, die Themenwahl usw. reflektiert werden. Später muss dies auch für Methodenauswahl, Datensammlungen, Datenanalyse, Interpretation und zuletzt auch für Darstellung und Präsentation geschehen (Breuer 2003; Finlay 2002; Mruck und Mey 2010). Auf das im Forschungsprozess kontinuierlich zu reflektierende Dilemma von Partizipation und Kontrolle der professionell Forschenden (vor allem im Rahmen von Qualifikations- und Auftragsarbeiten) hat Sense (2006) verwiesen. Es entsteht durch den Wunsch, einerseits Einfluss auf den Forschungsablauf nehmen und andererseits notwendige Entscheidungen im Forschungsablauf auf gleicher Augenhöhe zusammen mit den Forschungspartner/innen treffen zu wollen. 4. Kontextuelle Reflexion Die Forschenden werden in ihrem Denken und in ihren Entscheidungen durch den kulturellen und ökonomischen Kontext geprägt, in dem das Forschungsprojekt situiert ist (Naidu und Sliep 2011). Hierzu gehören der kulturelle und ökonomische
Partizipative Forschung
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Kontext, die Geschichte, die Machtstrukturen sowie öffentliche Politiken und Gesetze. In einer solchen soziologischen Selbstreflexion im Sinne von Pierre Bourdieu (2002) muss die gesellschaftliche Bedingtheit der beteiligten Erkenntnissubjekte und des partizipativen Projekts betrachtet werden. Prozedurale Vorkehrungen zur Sicherung von Partizipation müssen daher immer wieder neu ins Spiel gebracht werden. Zur Qualitätssicherung müssen Forschende Reflexions- und Distanzierungsinstrumente zur Verfügung haben, die es gestatten, in den verschiedenen Reflexionsbereichen eine kritische Distanz zum jeweiligen Prozess herstellen zu können. Dazu gehört auch, dass für die professionell Forschenden der hohe Grad des Involviert- und Engagiertseins dazu führen kann, dass sich die beteiligten Wissenschaftler/innen von den Denkweisen und Konzepten des Forschungsfeldes zu stark einnehmen lassen (going native). Zur Forschungsreflexion gehören Verfahren zur Förderung der Selbstreflexion wie Forschungstagebücher, Memos, Forschungssupervision für Einzelne und Gruppen, Forschungswerkstätten (Allert et al. 2014; Mruck und Mey 1998), Austausch mit Kolleg/innen in Kolloquien, interne und externe Audits usw.
3
Der partizipative Forschungsprozess
Zunächst ist festzustellen, dass es in der partizipativen Forschung keine speziellen, nur dort genutzten Forschungsmethoden gibt. Im Prinzip sind alle Verfahren der Datenerhebung und Datenauswertung Teil des Methodenkanons, der im Rahmen partizipativer Strategien eingesetzt werden kann. Dies trifft sowohl für quantitative als auch für qualitative Methoden zu. Häufiger werden allerdings Themenbereiche erforscht, in denen die Perspektiven der betroffenen Menschen im Mittelpunkt stehen über die noch wenig Forschung vorliegt, was explorative, qualitative Untersuchungen erforderlich macht. Die methodischen Entscheidungen in der partizipativen Forschung werden jedoch nicht allein auf Grundlage von Erkenntnisinteresse und Fragestellung getroffen. Es sollten vor allem solche Methoden eingesetzt werden, welche die Mitforschenden verstehen und durchschauen und an deren spezieller Weiterentwicklung im Rahmen der Forschungsfrage sie teilnehmen können. Partizipation erfordert die Vermittlung von analytischen Kompetenzen und theoretischen Konzepten, damit alle Beteiligte „auf gleicher Augenhöhe“ mitreden können. Nützlich ist hier eine Systematisierung des Zusammenhangs zwischen Alltagsmethoden und wissenschaftlichen Methoden, die von Kleining (1995) vorgeschlagen wurde. Ergebnisse und Interpretationen werden, soweit dies möglich ist, in Methodenworkshops gemeinsam erarbeitet. Das Ziel ist es, Akteure und Praktiker/innen in die Lage zu versetzen, ihr praktisches, kontextuelles Wissen auszudrücken, in Form von (Praxis-) Theorien zu verallgemeinern und zu verdichten und über den Gebrauch der Ergebnisse mitzubestimmen.
124
3.1
J. Bergold und S. Thomas
Beispiel: Das Partizipative Forschungsprojekt Offenburg
Als Beispiel für den Versuch, wie in der partizipativen Forschung der „Weg im Gehen“ entsteht, welche Herausforderungen zu bewältigen und welche Fallstricke zu berücksichtigen sind, möchten wir ein Forschungsprojekt skizzieren, dass wir in einem Obdachlosenprojekt durchgeführt haben (Bergold und Thomas 2010). Angeregt wurde das Projekt auf einer Tagung der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP), auf der Einrichtungsleitung, Bewohner/innen, ehemalige Wohnungslose und Sozialarbeiter/innen von dem „Offenburger Arbeitsansatz“ berichteten. In einer stationären Wohnungsloseneinrichtung wurde das Prinzip der Partizipation aller Beteiligten durch gleichberechtigtes Mitbestimmungsrecht auf den unterschiedlichsten Ebenen verwirklicht. Der Umstand, dass sich in dem Offenburg-Projekt ein partizipativer Praxisansatz und ein partizipativer Forschungsansatz begegneten, ist sicherlich kein Zufall. Zu Beginn wurden wir als Forschungsgruppe mit der Erwartung konfrontiert, mit wissenschaftlichen Methoden wie einem Fragebogen von außen „objektive Forschung“ durchzuführen. Für das partizipative Vorgehen musste zuerst Verständnis geschaffen werden. Dabei ist es von Anfang an wichtig, die Perspektiv- und Interessendifferenz zwischen Praxis und Wissenschaft mitzureflektieren. Für die Wissenschaftler/innen ergab sich die Möglichkeit, die Wirkungsweise von Partizipation in der psychosozialen Arbeit zu beforschen. Für die Vertreter/innen der Einrichtung war es wiederum wichtig, die Funktions- und Wirkungsweise ihres „sozialen Experimentes“ zu objektivieren, um einen Beleg für das Funktionieren des Ansatzes zu erhalten. Begonnen wurde mit einem ersten Workshop, auf dem gemeinsam die Zielsetzung und Fragestellung des Forschungsprojekts diskutiert und erarbeitet wurden. An den Forschungstreffen beteiligten sich wohnungslose Bewohner/innen, Sozialarbeiter/innen, sozialpolitisch Engagierte und die Berliner Forschungsgruppe. In Folge von Plenumsdiskussionen, Kleingruppenarbeit, Kartenabfragen, Hierarchisieren etc. kristallisierte sich als Leitfrage die nach dem „How-it-works“ des in Offenburg etablierten Arbeitsansatzes heraus. Die Datenerhebung erfolgte analog zur Gruppendiskussionen durch Audioaufzeichnung ergänzt durch Wandplakate und Fotografien. In den nächsten Jahren entstand über die halbjährlichen Treffen hinweg ein Diskussions- und Forschungszusammenhang, der sich zwischen kontextueller Praxisreflexion und wissenschaftlicher Theoriebildung bewegte. Die Wissenschaftler/ innen, die die Moderation der Treffen übernahmen, boten sich als Gesprächspartner/ innen und Mediator/innen des Klärungsprozesses an. Als Forscher/innen legten wir besondere Aufmerksamkeit darauf, von Anfang an möglichst viele Perspektiven in die Diskussion um das „How-it-works“ miteinzubeziehen. So wurde auf dem zweiten Treffen das Projekt auf dem Hausplenum vorgestellt und mit den anwesenden Bewohner/innen diskutiert. Wichtige Wegbereiter, die sich aufgrund von Alter und Krankheit vom aktiven Engagement zurückgezogen hatten, wurden in biografischen Interviews befragt. Vonseiten der Wissenschaftler/innen wurden die Beteiligten durch inhaltliche Inputs zu Themen wie Forschungsplanung, Interviewführung und -auswertung
Partizipative Forschung
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als Mitforscher/innen geschult. Forschungsinstrumente wie der Interviewleitfaden oder das Geschichtsarchiv wurden gemeinsam entwickelt. Die Interviews wurden in der Regel als Tandem-Interviews – unter Beteiligung eines Praktikers bzw. einer Praktikerin und einer Wissenschaftlerin bzw. eines Wissenschaftlers – durchgeführt. Zur Bündelung der Diskussionsergebnisse auf den Workshops brachten die Wissenschaftler/innen immer wieder theoretische Schlaglichter ein. Doch sollen nicht die Probleme und Fallstricke verschwiegen werden. Als Hauptschwierigkeit, die sich im Rückblick wie ein roter Faden durch den Forschungsprozess zog, erwies sich die an uns herangetragene Erwartungshaltung, die Funktion der Legitimationsbeschaffung zu übernehmen. Die Einrichtung musste sich gegenüber vielfältiger Widerstände gerade angesichts ihres sozialpolitischen Engagements rechtfertigen und behaupten. Als Forscher/innen wurden wir in die politischen, organisatorischen und lebensweltlichen Macht- und Konfliktfelder, in denen die Einrichtung agierte, immer wieder hineingezogen. Innerhalb der Forschungsgruppe versuchten wir uns, von den Erwartungshaltungen und den vielfältigen Konfliktfeldern – etwa auch durch externe Forschungssupervision – zu distanzieren.
3.2
Einstieg in das partizipative Forschungsvorhaben
Partizipative Forschung beginnt bereits lange bevor der erste Kontakt zwischen den Forschungspartner/innen stattfindet. Daher muss bei allen Beteiligten zum Wunsch nach Wissen über einen bestimmten Gegenstandsbereich auch die Überzeugung hinzukommen, dass Partizipation in der jeweiligen Forschungssituation angemessen, erkenntnisträchtig und moralisch gerechtfertigt ist, und dass das angezielte Wissen nur gemeinsam mit Anderen hergestellt werden kann. Wie immer in der Forschung stellt der Einstieg ins Feld einen entscheidenden Schritt im Verlauf des Forschungsprozesses dar. Der Beginn der Zusammenarbeit bietet bereits die Chance, viel über das Feld und seine Struktur zu erfahren, insbesondere durch eine Analyse der Machtverhältnisse im Feld (Selvini Palazzoli et al. 1984). Es ist daher immer zu fragen, wie die unterschiedlichen Beteiligten zusammengekommen sind, welche Motive und welche treibenden Akteure dabei beteiligt sind. Es ist zu untersuchen, wer ein Problem mit dem bisherigen Ablauf der Tätigkeiten formuliert, ob dies durch die unmittelbar Beteiligten im Feld geschieht oder aus dem politischen oder Verwaltungskontext, in den das Feld eingebunden ist. In ähnlicher Weise ist zu untersuchen, wer in das partizipative Forschungsprojekt einbezogen wird. Guba und Lincoln (1989) haben das Konzept der Stakeholder in der Evaluationsforschung entwickelt. In Anlehnung daran sind hier drei Gruppen von „Beteiligten“ zu unterscheiden: 1. die professionell Tätigen, 2. die Nutzer/innen und 3. die Opfer. Die ersten beiden Beteiligtengruppen werden traditionellerweise berücksichtigt. Die Gruppe der Opfer, d. h. diejenigen, welche negative Konsequenzen befürchten, werden häufig nicht einbezogen. Die Opfer werden meistens erst dann sichtbar, wenn das Projekt von Mitgliedern dieser Gruppe angegriffen oder sogar verhindert wird.
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J. Bergold und S. Thomas Prozeß der Entdeckung durch Multilog (Bergold & Hermann 2006, modifiziert) Diskussion der Interpretationen
Veränderungsideen generieren
Daten interpretieren
Darstellung, Präsentation
Mythen über den Anderen offen legen
Wer hat welche Interessen?
Wer hat welche Machtressourcen?
Kann ich Dir trauen?
Lernen und Training von Forschungsmethoden
Was hat sich verändert? Dinge anders machen
Fragen stellen Brauchbare Forschungsmethoden finden
Transparenz & Reflexion
Unterschiedliche Perspektiven anerkennnen
Experten für Forschungs Ein als Problem empfundener Zustand tritt ein.
neue Fragen, neuer Durchgang
Daten sammeln
Was soll die Forschungsfrage sein?
methoden / Med
iatoren
Experten für die Praxis und sich selbst
Brauchen wir überhaupt Forschung?
Gemeinsame Sprache finden, Übersetzung
Abb. 2 Der partizipative Forschungsprozess (Bergold und Hermann 2006, angeregt durch Wadsworth 1998)
Der Erkenntnisprozess in der partizipativen Forschung wird typischerweise als spiralförmig charakterisiert. Er beginnt paradoxerweise mit einer Unterbrechung des Routineablaufs der Handlungen (Wadsworth 1998). Irgendetwas läuft nicht so wie erwartet, oder man ist unzufrieden mit dem bisherigen Ablauf. Dies löst Fragen nach den Ursachen aus. Das Feld wird nach Informationen durchsucht, um ein Verständnis der problematischen Aspekte zu entwickeln. Daraus werden Antworten und Veränderungsideen generiert, die umgesetzt und überprüft werden. Dann tritt der Prozess in eine neue Phase und beginnt möglicherweise von vorne, wenn die Veränderungen noch unbefriedigend sind. In der Darstellung (Abb. 2) wurde die Forderung nach „Transparenz“ besonders hervorgehoben, weil anzunehmen ist, dass dies die Voraussetzung für jegliche Partizipation darstellt.
3.3
Datenerhebung
Auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wird verständlich, dass bei der Datenerhebung nicht nur auf „Standardverfahren“ zurückgegriffen werden kann, wie sie in der qualitativen Forschung üblicherweise genutzt werden. Die jeweilige Methode der Datenerhebung muss die Ausdrucksmöglichkeiten der Mitforschenden berücksichtigen. Es wird also eine gemeinsame Kreativität bei der Entwicklung neuer, dem Gegenstand, der Fragestellung und den beteiligten Mitforschenden gemäßer
Partizipative Forschung
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Erhebungs-, Auswertungs- und Darstellungsmethoden gefordert. Aus diesem Grund ist es hier nicht möglich, eine Liste von Erhebungsmethoden anzugeben, sondern nur Anregungen für mögliche Suchrichtungen anzudeuten. Wichtig erscheint es, Datenformen/Informationsmedien aufzugreifen, welche den jeweiligen Forschungspartner/ innen aus ihrem Alltag vertraut sind, und diese gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln und zu systematisieren. • Im Bereich sprachgebundener Daten lassen sich sicherlich die traditionellen Erhebungsinstrumente wie Interviews und Gruppendiskussionen einsetzen. Es lassen sich aber auch eine Reihe von alltäglichen Kommunikationsformen aufgreifen, z. B. das Erzählen von Geschichten über erlebte Situationen, Ereignisse aus der Vergangenheit usw. Hier eignet sich beispielsweise das Modell der Erzählwerkstätten aus der „Oral History“-Forschung. Auch das Schreiben von Tagebüchern ist u. U. eine vertraute Form des Festhaltens von Erlebnissen und Eindrücken, die heute bei jüngeren Forschungspartner/innen möglicherweise durch das Verfassen von „Blogs“ u. Ä. im Internet abgelöst worden ist. • Dokumente ganz unterschiedlicher Art sind häufig in der Lebenswelt der Forschungspartner/innen verfügbar. Ereignisse haben sich in Form von Briefen, vielfältigem Schriftverkehr, Zeitungsberichten u. Ä. niedergeschlagen, welche genutzt werden können. • Artefakte aus dem Alltag und der Umwelt der Forschungspartner/innen (z. B. Denkmäler, Gebäude und ihre architektonischen Besonderheiten, Einrichtungen von Wohnräumen und Institutionen usw.) können wichtige Informationen über die Geschichte und die Entwicklung bieten. • Performative Erhebungsmethoden geben den Forschungspartner/innen u. U. bessere Möglichkeiten, sich auszudrücken (z. B. Jones et al. 2008; Liamputtong und Rumbold 2008). • Die Fotografie hat sich hier als ein nützliches Medium erwiesen. Fotos können z. B. helfen, überhaupt ins Gespräch zu kommen. • Zeichnungen und Bilder, die speziell als Antworten auf Forschungsfragen hergestellt wurden, lassen sich mit Hilfe der Foto-Voice-Methode gemeinsam herstellen, interpretieren und auswerten (Lykes und Scheib 2015; Wang und Burris 1997).
3.4
Datenauswertung
Die Herausforderungen an Partizipation im Forschungsprozess sind bei der Datenauswertung angesichts der divergenten Zeitperspektiven und des unterschiedlichen Kenntnisstandes sicherlich am größten. Hier wird die Anwendung von pragmatisch gehaltenen Beteiligungsverfahren und reduzierten Auswertungsverfahren notwendig. Bei der Auswertung von numerischen Daten, wie sie z. B. in Fragebögen oder mittels Beobachtungsbögen erhoben werden, stehen die klassischen Statistikverfahren und -programme zur Verfügung. Zumindest in Grundzügen sollte allen Teilnehmenden die Logik dieser Verfahren erläutert werden. Ebenso wichtig sind die Präsentation der Auswertungsergebnisse in verständlicher Sprache und ihre grafische Aufbereitung etwa in Tabellen und Diagrammen (Chambers 2008). Mehr noch werden in der
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J. Bergold und S. Thomas
partizipativen Forschung aber interpretative Verfahren angewandt, die auf die Exploration von Neuland zielen. Die Erarbeitung der Ergebnisse erfolgt hier idealerweise in gemeinsamen Methoden- und Auswertungsworkshops. Auch wenn grundsätzlich analytische Verfahren wie die Grounded-Theory-Methodologie, hermeneutische Verfahren oder die qualitative Inhaltsanalyse für die Auswertung als Leitmodelle dienen, so kommen bei der kollaborativen Auswertungsarbeit eher „abgespeckte“ Versionen zum Einsatz. Wahrscheinlich muss der größere Teil der Aufbereitung der Daten von den professionell Forschenden übernommen werden. Dennoch sollten einzelne Schritte der Kodierung und Kategorisierung immer wieder im Gesamtteam durchgeführt werden. Das angestrebte Ergebnis muss nicht immer eine völlig entwickelte Theorie sein. Oft reicht die Formulierung von Teilbereichstheorien und systematisierten Zusammenhangsannahmen aus, welche Ausschnitte aus dem Phänomenbereich fokussieren.
3.5
Gütekriterien
Partizipative Forschung muss zunächst den Gütekriterien von Forschung allgemein genügen, in diesem Fall vor allem der qualitativen Forschung (Flick 2010; Steinke 1999). Darüber hinaus ist aber eine „Entspezifizierung“ des Forschungsprozesses notwendig, indem die Erfordernisse der „reinen“ Erkenntnisgewinnung pragmatisch mit den konkreten Fähigkeiten und Interessen des Feldes vermittelt werden. Eine Ergänzung durch spezielle Gütekennzeichen, die sich auf den Prozess der Partizipation beziehen, scheint daher sinnvoll. Es sind u. a. zu sichern, • dass im Prinzip alle Betroffene Zugang zu dem Forschungsprozess und den dort anstehenden Entscheidungen haben; • dass die Stimme jedes und jeder Beteiligten gehört wird und in die Entscheidung eingeht; • dass das Ziel der Forschung die Erweiterung des Wissens und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit aller Beteiligten ist; • dass die Ergebnisse verständlich und in ihren Konsequenzen durchschaubar sind und allen zur Verfügung stehen; • dass sie nützlich und anschlussfähig an die Praxis und an die wissenschaftlichen Theorien sind.
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Der Grundgedanke partizipativer Forschung, die Einbeziehung aller Beteiligten auf gleicher Augenhöhe, stellt die Stärke und gleichzeitig die Schwäche dieser Forschungsstrategie dar. Die Unterschiedlichkeit der Partner/innen kann den großen Vorteil haben, dass die Chance gegeben ist, ein vollständigeres und tieferes Wissen über den untersuchten Gegenstandsbereich zu erhalten. Sie kann aber auch dazu führen, dass das Selbstverständliche reproduziert wird oder dass man sich auf dem kleinsten gemeinsa-
Partizipative Forschung
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men Nenner trifft und ein Wissen produziert wird, das durch die Machtverhältnisse im Feld verzerrt ist, keine Handlungsrelevanz besitzt und folgenlos bleibt. Problempunkte bei der partizipativen Forschung lassen sich grob in methodologische/methodische, praktische und wissenschaftspolitische unterteilen. Zu den methodologischen/methodischen Problemen zählen die Fragen nach dem erkenntnistheoretischen Status der Befunde, nach der Reichweite ihrer Gültigkeit, nach den angemessenen Qualitätskriterien usw. (z. B. Caspari 2006). Zu den praktischen Problemen zählen Fragen nach der Beteiligungstiefe, d. h., welche Personen in welchem Ausmaß an welchen Punkten beteiligt werden, und ob ihnen für diese Beteiligung ausreichende persönliche, finanzielle, zeitliche, institutionelle usw. Ressourcen zu Verfügung stehen. Wissenschaftspolitische Probleme ergeben sich bei Fragen nach der Anerkennung partizipativer Forschung im Wissenschaftsbetrieb, der von einem nomothetischen Forschungsansatz dominiert wird. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Chancen einer Drittmittelfinanzierung und einer Anerkennung der Forschung im akademischen Rahmen von Qualifizierungsarbeiten und Lehrstuhlbesetzungen. Es deuten sich allerdings auch Veränderungen an. Sichtbar wird dies z. B. am Forschungsansatz des Community Based Participative Research (CBPR), dem erhebliche Praxisbedeutung zugeschrieben wird. Dieser Ansatz hat sich beispielsweise in Kanada soweit durchgesetzt, dass im Bereich der Forschung zu HIV Programme aufgelegt wurden, in denen CBPR Voraussetzung für die Finanzierung der Vorhaben sind. Allerdings zeigen sich hier auch die problematischen Seiten. Guta et al. (2014) diskutieren bisher zu wenig beachtete sozio-technische und makrostrukturelle Faktoren anhand des kanadischen HIV-Forschungsprogramms mit einem Foucault´ schen Theoriehintergrund. Bei solchen Analysen lässt sich zeigen, dass gemeindebasierte Forschungsvorhaben auch der Kontrolle und der Produktion von Herrschaftswissen über die Gemeinde dienen. Dies geschieht „by collecting ‚needed‘ surveillance data and keeping potentially critical voices occupied through increasingly elaborate funding requirements“ (Guta et al. 2014, S. 259). Zu den unumstrittenen Stärken des partizipativen Forschungsansatzes gehört, dass die gewonnen Erkenntnisse lebenswelt- und praxisbasierte Evidenz aufweisen, der Gegenstand durch die Fülle der Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis vollständiger (re-) konstruiert wird und die kooperative Forschungsarbeit zu einer Selbstverständigung, Ermächtigung der beteiligten Personen und einer Verbesserung der Praxis selbst führt. Schließlich gibt es u. E. für Wissenschaftler/innen kaum etwas Spannenderes, als in einem sachlich fundierten Diskurs gemeinsam mit den Akteur/innen und Praktiker/innen die Bedingungen ihrer sozialen Lebenswelt auch in Hinsicht auf Möglichkeiten einer Verbesserung zu erforschen und zu erhellen.
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Qualitative Evaluationsforschung Ernst von Kardorff und Christine Schönberger
Inhalt 1 2 3 4 5
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation hat Konjunktur: zum gesellschaftlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärungen und Kontexte der Evaluationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen qualitativer Evaluationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Perspektiven in der Evaluation – qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Evaluationsforschung als Auftragsforschung: wissenschaftliche, ethische und politische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Seit den staatlichen Reformprogrammen im Bildungs- und Sozialbereich der 1960er-Jahre hat die Nachfrage nach einer wissenschaftlich begründeten Bewertung von Wirksamkeit, Effizienz und (Neben-)Folgen von Programmen, Modellen und Interventionen rasant zugenommen, nicht zuletzt um Akzeptanz und Legitimation zu sichern. In der Psychologie geht es dabei häufig um die Bewertung von Bildungsmaßnahmen, Therapien, Gesundheitsprogrammen und Organisationsveränderungen. Dabei dominiert eine in der experimentellen und messenden Tradition stehende summative Evaluation. Inzwischen hat sich parallel dazu eine eigenständige qualitative Evaluationsforschung herausgebildet, bei der Prozessabläufe und Wirkmechanismen, die unterschiedlichen Sichtweisen aller E. von Kardorff (*) Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Schönberger Hochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_26
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beteiligten Akteure und die Einflüsse aus dem Feld im Mittelpunkt stehen. Entsprechend ihres formativen Charakters geht es um die Dynamik von Veränderungsprozessen und die Partizipation der Zielgruppen bis hin zur Aktionsforschung, angefangen von der Programmentwicklung über die Implementation bis zur Bewertung der Ergebnisse. Diese Merkmale einer qualitativen psychologischen Evaluationsforschung werden im Folgenden im Kontext ihrer Entwicklung, Methoden und Arbeitsfelder beschrieben. Schlüsselwörter
Psychologische Evaluationsforschung Aktionsforschung Rolle der Forschenden Interpretatives Paradigma Gütekriterien
1
Einleitung
Wo immer es sich um Themen gesellschaftlich geforderter Anpassung, um Krisenbewältigung oder individuell erfolgreiche Lebensführung handelt, geht es letztlich um die Suche nach einer befriedigenden Balance zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Evaluation(-sforschung) ist nicht nur der Analyse und Bewertung von Interventionen, sondern auch der Begleitung, Rückmeldung und Entwicklung sowie der Suche nach Lösungen verpflichtet. Vor diesem Hintergrund untersucht, begleitet und unterstützt die qualitative Evaluationsforschung die Wirkung von Programmen und Interventionen unter Berücksichtigung von situativen Parametern und Konstellationen auf das Handeln von Personen(gruppen) und das sie umgebende Umfeld; die Zielgruppen werden dabei nicht als Versuchspersonen, sondern als mitgestaltende Teilnehmende gesehen deren subjektive Sichtweisen berücksichtigt und mit denen anderer Beteiligter in Beziehung gesetzt werden. Welchen Effekt hat die Ganztagsbetreuung auf die Konzentrationsfähigkeit von Kindern? Welche Anreize verändern Essgewohnheiten nachhaltig? Wie lassen sich Aggressionen auf dem Schulhof reduzieren? Diese psychologischen Untersuchungsthemen werden zur Evaluationsforschung, sobald sie Teil einer zu überprüfenden Intervention sind und ein Auftraggeber Bewertungen und Empfehlungen erwartet. Spezifisch wird psychologische Evaluationsforschung erst durch eine disziplinbezogene Fragestellung und Rahmung. So ist es ein Unterschied, die psychologischen Mechanismen der Gruppendynamik auf dem Schulhof zu untersuchen, die Gewalt eskalieren lassen, oder soziologisch zu untersuchen, wie gesellschaftliche Verhältnisse Jugendgewalt begünstigen. Die Stärke der psychologischen Ausbildung und damit auch der Herangehensweise an für die Disziplin typische Fragestellungen liegt in der Möglichkeit, Diagnostik, Intervention und Evaluation miteinander zu verknüpfen. Psychologische Evaluationsforschung ist daher vor allem in den Arbeitsfeldern der Angewandten Psychologie zu finden, wo Interventionsmodelle auf ihre Wirksamkeit überprüft werden wie in der Arbeits-, Organisations- und Gemeindepsychologie, in der Pädagogischen Psychologie oder beim Querschnittsthema Gesundheit. Es geht im Kern
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um die Bewertung von Passungsverhältnissen: wie Einzelne oder eine Gruppe in einem spezifischen sozialen Umfeld – Schule, Betrieb, Gemeinde – erfolgreich ihre Bedürfnisse und Vorstellungen mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen zur Deckung bringen und im besten Falle partizipativ mitgestalten. Mit Blick auf die Entwicklung der Evaluationsforschung unterscheiden Guba und Lincoln (1989) vier Generationen, an denen v. a. die Pädagogische Psychologie sowie die Arbeits- und Organisationspsychologie beteiligt waren. In der ersten Phase des Messens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis Mitte der 1930er-Jahre standen Fragen der Quantifizierung von Schulleistungen im Vordergrund. Die zweite Phase bis Ende der 1950er-Jahre sehen sie vor allem in der Beschreibung der Implementation von Programmen und der Klärung ihrer Wirkungsweisen. Die dritte Phase der Beurteilung befasste sich mit den Auswirkungen nationaler Reformprogramme im Bildungs- und Sozialwesen. Sie ist zugleich der Beginn einer regelrechten Evaluationsindustrie, deren Aufschwung in Deutschland erst in den 1970er-Jahren, ebenfalls im Gefolge staatlicher Reformprogramme begann (Stockmann 2004, 2007). Die Mehrzahl dieser Evaluationsprojekte setzt bis heute überwiegend auf (quasi-) experimentelle Forschungsdesigns, standardisierte Erhebungsverfahren und quantitative Analysemethoden (z. B. Döring und Bortz 2016; Wottawa und ThierauBrunner 2003; Stockmann und Meyer 2014. Qualitative Verfahren werden oft nur in der Anfangsphase zur Felderkundung, als Ergänzung oder illustrativ genutzt. Dies verwundert angesichts eines seit den Anfängen der Psychologie vorhandenen und bis heute weiterentwickelten qualitativen „Unterstroms“ – von der idiografischen Methode William Sterns über die Gestaltpsychologie und Lewins Feldtheorie und erste Ansätze einer Aktionsforschung bis zur Analyse sozialer Repräsentationen (Moscovici 2000), von Biografieanalysen (Jüttemann 2011) und einer psychologischen Diskursanalyse (Potter 2011) bis hin zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen (Gergen 2009).1 Die zum Teil von diesen Entwicklungen beeinflusste qualitative Evaluationsforschung wird von Guba und Lincoln als vierte Generation der Evaluationsforschung bezeichnet. Inzwischen hat sich die qualitative Evaluationsforschung, oft in Kombination mit quantitativen Methoden, in der Forschungspraxis etablieren können (Jüttemann 1985; Flick 2006a; Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2020; Kuckartz et al. 2016) auch wenn sie bislang weder in der Lehre noch im Mainstream der akademischen Psychologie fest verankert ist. Aus psychologischer Perspektive ergeben sich im Zusammenhang aktueller zivilgesellschaftlicher Ent-
Seit 2004 existiert die Zeitschrift „Qualitative Psychology“, und die „Society for Qualitative Inquiry in Psychology“ bildet eine eigene Sektion in der American Psychological Association. In Deutschland greift die an einem kritisch-reflexiven und interdisziplinären Wissenschaftsverständnis orientierte „Neue Gesellschaft für Psychologie“ auch Fragen qualitativer psychologischer Forschung auf. In die psychologische Evaluationsforschung haben die oben erwähnten qualitativen Ansätze bislang nur wenig Eingang gefunden. So folgt die Mehrzahl der qualitativen Ansätze der psychologischen Evaluationsforschung dem in der Soziologie entwickelten interpretativen Paradigma (Keller 2012) sowie den methodologischen Prinzipien der von Glaser und Strauss (1998 [1967]; Strauss 1991; Strauss und Corbin 1990) erarbeiteten und von Charmaz (2014) und Clarke (2012) weiterentwickelten „Grounded-Theory-Methodologie“ (vgl. auch Mey und Mruck 2011). 1
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wicklungen Anknüpfungspunkte an die von Kurt Lewin (1946) entwickelte Aktionsforschung, die neben qualitativen Forschungsmethoden eine breite Palette kreativer Gruppenverfahren von der Zukunftswerkstatt bis zur Planungszelle nutzt. Hierbei geht es um Methoden der Konsensfindung mit dem Ziel einer transparenten und wirkungsvollen Partizipation (Bergold und Thomas 2012; von Unger 2014). Anders als in der deutschsprachigen Psychologie gilt die Aktionsforschung in den USA als legitime und anerkannte wissenschaftliche Herangehensweise (vgl. das „Journal Action Research“; die „Society for Community Research and Action“ als Unterabteilung bei der American Psychological Association).
2
Evaluation hat Konjunktur: zum gesellschaftlichen Kontext
Das Jahr 2015 wurde von der UN als International Year of Evaluation ausgerufen. Evaluationsergebnisse sind in öffentlichen Diskursen präsent, ob es sich um die Auswahl der besten Schulen, die Beurteilung erfolgreicher Unterrichtsformen, die Suche nach geeigneten Therapien, den Kauf von Produkten, das Monitoring staatlicher Programme oder um die Qualität von Dienstleistungen handelt. Kulturell und mentalitätsgeschichtlich verdankt sich diese Konjunktur dem auf die Aufklärung zurückgehenden Fortschrittsglauben an die technisch-rationale Gestaltbarkeit einer besseren Zukunft. So wird verständlich, dass die Nachfrage nach Evaluation im Zusammenhang mit der Überprüfung und Legitimation staatlicher Reformprogramme und Gesetzesinitiativen entstanden ist. Inzwischen gehört wissenschaftlich fundierte Evaluation zum festen Bestandteil institutionalisierter und ritualisierter gesellschaftlicher Selbstbeobachtung (von Kardorff 2006). Psychologisch ließe sich die gesteigerte Aufmerksamkeit der Individuen für Rankings, Qualitätsvergleiche, Beliebtheitsskalen und Umfragewerte als Reaktion auf die Unübersichtlichkeit der globalisierten Moderne deuten, in der wissenschaftliche Ergebnisse eine gewisse Sicherheit und Orientierung versprechen (Mau 2017). Im politisch-öffentlichen Diskurs fügt sich die Nachfrage nach Evaluationsergebnissen in das Dispositiv beständiger Optimierung im Kontext marktförmiger Wettbewerbsorientierung und einer verschärften Konkurrenz um Vorteile bei der sozialen und ökonomischen Platzierung etwa bei der Bewerberauswahl, bei Leistungs- und Qualitätsvergleichen zwischen Schulen, Kliniken und anderen Dienstleistungsanbietern. Evaluationsforschung soll dabei Vieles leisten: Komplexität reduzieren und Unsicherheit absorbieren, Kosten abschätzen und Transparenz herstellen, also eine Art TÜV für die Zuerkennung von Rationalität, Wirkung, Effizienz, um damit Legitimation und Akzeptanz von Entscheidungen für oder gegen ein Programm gegenüber den Beteiligten und der Öffentlichkeit zu gewinnen. Nachdem sich die direkte Steuerung sozialer Prozesse oder die Beeinflussung von Gruppen vielfach als Illusion und politisch als ambivalent erwiesen hat zeichnen sich gegenwärtig zwei Entwicklungslinien ab: Erstens lässt sich weltweit eine Akzentverschiebung staatlicher Politik von einer vorrangigen Inputsteuerung („Programme“, „Modelle“) zu einer indirekten, mit Anreizen verbundenen und an
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Indikatoren orientierten Outcomesteuerung beobachten, für die im Bildungssystem die PISA-Studien und die Entwicklung nationaler Bildungsstandards, im Bereich der (Kommunal-)Politik das New Public Management und im Gesundheitswesen die evidenzbasierte Medizin und New Public Health (Flick 2002) stehen. Evidenzbasierte Ansätze favorisieren eine quantitative Evaluation, die beansprucht, Effekte eindeutig nachweisen und – idealerweise vermittels des Randomized Control Trail (RCT) – auf das jeweilige Programm zurückführen zu können, Standardisierungen voranzutreiben und Benchmarks zu setzen. Daneben haben sich aber auch Ansätze einer nutzen- und beteiligungsorientierten, intervenierenden, prozessbegleitenden und -entwickelnden Evaluation(-sforschung) herausgebildet, die aus einer zivilgesellschaftlichen Partizipationsperspektive heraus agieren: Den demokratischen Werten von Selbstbestimmung, Autonomie und Willensfreiheit des Subjekts verpflichtet (Chelimsky und Shadish 1997; Fetterman et al. 1994; Guba und Lincoln 1989; Patton 2003; Preskill und Tzavaras Catsambas 2006) ist es ihr Anliegen, den Prozess- und Aushandlungscharakter sozialer Veränderungen unter Einbeziehung aller Beteiligten zum Kern des forschenden Handelns zu machen (Kuipers und Richardson 1999). Diese Evaluationsforschung versteht sich als Strategie „praktischer Klugheit“ wissenschaftlich gut begründeter Plausibilisierung von Evaluationsergebnissen und Entscheidungsgründen im Gefüge vielfältiger Bedingungsfaktoren, Sichtweisen und Interessen (Schwandt 2002); dies ist auch ein Weg um die zivilgesellschaftliche Teilhabe zu stärken (Fetterman und Wandersman 2005). In dieser von einer auf soziale Veränderungen zielenden Sozialarbeit (Saul Alinsky 1999) über die Neuen Sozialen Bewegungen bis zur heutigen Sozialraumorientierung reichenden Traditionslinie finden sich überwiegend qualitative und interpretative Ansätze, Methodologien und Verfahren zur Evaluation, die die Beteiligten und ihre Lebenswelten, ihre Sichtweisen und Interessen, ihre Wahrnehmung des Programms und seiner (Aus-)Wirkungen auf sie selbst und ihr Umfeld sichtbar macht sowie eine partizipative Aktionsforschung, die sich explizit politisch im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Veränderungsstrategie begreift (Reason und Bradbury 2007).
3
Begriffsklärungen und Kontexte der Evaluationsforschung
Allgemein bezeichnet Evaluation sowohl den Vorgang als auch das Ergebnis einer Bewertung: der funktionalen oder ästhetischen Qualitäten eines Produkts, der Leistungsfähigkeit und Servicefreundlichkeit einer Organisation, der Leistungen von Menschen in Schule und Beruf oder ihrer Selbstdarstellung im Alltag. Bewertungen sind erstens Ist-Soll-Vergleiche zwischen den bewerteten Objekten, Prozessen und Zuständen auf der einen und den angestrebten Veränderungen oder Normen auf der anderen Seite. Ihre Bezugsgrößen sind Kriterien und Standards, die entweder vorgegeben oder im Evaluationsprozess mit den Beteiligten gemeinsam entwickelt und ausgehandelt werden. Bewertungen sind zweitens VorherNachher-Vergleiche auf einer Dimension (z. B. Lernzuwachs im Unterricht) oder drittens Vergleiche zwischen konkurrierenden Personen, Objekten, Angeboten,
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Programmen oder Zuständen. Spezifischer – und damit kommt die Evaluationsforschung ins Spiel – geht es um den wissenschaftlich begründeten Nachweis der Wirksamkeit, des Nutzens, der Effizienz und des finanziellen wie des sozialen Return-on-Investment von Maßnahmen und Programmen, um Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen im Verlauf ihrer Implementation, um Bedingungen ihrer Verstetigung/Nachhaltigkeit; weiter geht es darum, zu klären was wirkt, (z. B. in der Therapieforschung, vgl. Fonagy und Roth 2004) und um das Aufzeigen von Wirkmechanismen und die Rolle externer Einflussgrößen sowie um die Einbettung in das jeweilige institutionelle, organisatorische und soziokulturelle Umfeld. Bei der Wirkungsanalyse werden darüber hinaus unbeabsichtigte Nebenwirkungen (Merton 1936) und kontraintentionale Effekte oder die Wirkung „heimlicher Lehrpläne“ (Jackson 1968) in Organisationen untersucht; so können Programme zur Förderung der Bildungsbeteiligung von der Zielgruppe schlicht abgelehnt oder von ohnehin bereits privilegierten Gruppen genutzt werden,2 pädagogische Interventionen zur Reduktion von Schulabsentismus Reaktanz hervorrufen, oder Erfolge der Gesundheitsförderung gehen nicht auf das Programm zurück, sondern verdanken sich einer Orientierung an gesellschaftlich erfolgreichen Bezugsgruppen (z. B. Kühn 1993 für die Wirkung des Anti-Raucher-Programm in den USA). Evaluationen können summativ (Endpunkt- oder Outcome-Messung) und/oder formativ (prozessbegleitend und ggf. -steuernd) sein. Im ersten Fall werden Ergebnisse meist in quantitativen Kennwerten im Vergleich zum Anfangszustand oder zu anderen Zielgrößen bewertet. Im zweiten Fall werden der Prozess der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Programm, beteiligten Gruppen und der Forschung fortlaufend dokumentiert und das Programm angepasst oder Ziele unter Mitwirkung aller oder ausgewählter Interessengruppen, der Stakeholder, korrigiert. Um wissenschaftlich begründete Urteile und Empfehlungen abgeben zu können, greift die Evaluationsforschung – oft eklektisch – auf das gesamte Arsenal der Verfahrensweisen und Instrumente der empirischen Sozialforschung zurück. In der Praxis findet sich daher meist ein Mix aus qualitativen und quantitativen Methoden (Bamberger et al. 2010; Creswell und Plano Clark 2010; Kuckartz 2014), für den es neben praktischen Erwägungen auch methodologische Begründungen gibt, z. B. eine durch verschiedene Formen der Triangulation erreichbare Multiperspektivität (Flick 2011). Kurz: Evaluation ist nicht auf bestimmte Methoden festgelegt; vielmehr erfolgt ihre Wahl danach, ob sie zur Beantwortung von Frage- und Problemstellungen angemessen sind, Kontexte berücksichtigen und auf Zugangsmöglichkeiten und Ressourcen abgestimmt sind. Oft muss eine spezifische Methodenwahl gegenüber dem Auftraggeber gesondert begründet werden, damit lokalhistorische, zielgruppenbezogene und kontextabhängige Gelingens- und Misslingensbedingungen überhaupt erfasst werden können. Evaluator/innen agieren in sozialen Feldern, die durch
2
Ein Beispiel für die Rolle der Evaluationsforschung in bildungspolitischen Kontroversen ist die seit den 1970er-Jahren bis heute anhaltende Diskussion um die Wirksamkeit kompensatorischer Erziehung zur Verringerung herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung (Bernstein 1970; Betz 2010).
Qualitative Evaluationsforschung
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Traditionen, Werte, Gewohnheiten, formale Strukturen und informelle Hierarchien, konkurrierende Interessengruppen und nicht zuletzt durch persönliche Empfindlichkeiten bestimmt sind. Nur eine genaue Kenntnis der Spezifika des Untersuchungsfeldes sichert den Feldzugang und die Kooperationsbereitschaft, erlaubt es, die relevanten Fragen zu stellen, Verborgenes zu erkennen, Antworten kontextsensitiv zu beurteilen und angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen (vgl. zum Weg ins Feld: Wolff 2000). Darüber hinaus ist Evaluation(sforschung) unvermeidlich selbst Bestandteil sozialer Veränderungsprozesse, in denen eine Verständigung über Ziele, Umfang der Datenerhebung, Belastungen für die Beteiligten bis hin zur Verwendung und Darstellung der Ergebnisse ausgehandelt werden muss. Diese konstitutive Verstrickung ins Feld stellt zusammen mit der Abhängigkeit vom Auftraggeber und den vertraglichen Vorgaben des Bewertungsauftrags eine Besonderheit evaluierender Forschung dar. Das Aufgabenspektrum der Evaluation(sforschung) umfasst u. a. die Zielklärung (Was soll und was kann auf welche Weise evaluiert werden?), Fragen nach der Umsetzbarkeit („Machbarkeitsanalysen“) und dem Verhältnis von Kosten und Nutzen, nach den Formen der Begleitung von Modellprojekten, Befragungen zu Akzeptanz und subjektiver Erfolgsbeurteilung, die Beratung von Formen der Selbstevaluation professioneller Praxis (König 2000) oder partizipative Projektentwicklung mit Zielgruppen in der Aktionsforschung (von Unger 2014). Meta-Evaluationen schließlich vergleichen vorliegende Evaluationsstudien zu einem Themenfeld anhand von Kriterienkatalogen miteinander (Scriven 2011). Weiterhin ist die Evaluationsforschung eng mit Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement verbunden; hierzu gehören z. B. Audits zu Organisationsabläufen, mehrstufige Befragungsrunden, sog. Delphi-Studien (Häder 2014) zur Generierung von Expertenstandards, Entwicklung und Monitoring von Qualitätsindizes, Soll-IstVergleiche innerhalb einer Organisation oder nationale oder internationale Qualitätsund Leistungsvergleiche wie bei PISA. Schließlich kann Evaluationsforschung nicht unabhängig agieren. Dies ergibt sich grundlegend aus der Abhängigkeit von einem Auftraggeber und führt dazu, dass sich der Mainstream der Evaluationsforschung als Dienstleistung versteht (Beywl 2006). Wie diese Rolle wahrzunehmen ist und auf welcher Seite die Forschenden dabei stehen (Becker 1967) ist Gegenstand kontroverser forschungspolitischer und -ethischer Debatten.3 Kontrovers ist weiterhin das Verhältnis von Forschung und Evaluation (Lüders 2006): Denn „mit ‚Evaluation‘ [wird] gar nicht der Gegenstand sondern der Zweck der Forschungstätigkeit bezeichnet. Gemeint ist eine evaluierende Forschung bzw. eine forschungsgestützte Evaluation“ (Hirschauer 2006, S. 406). Damit wäre Evaluationsforschung von empirischer Sozialforschung nur durch die äußere Zwecksetzung unterschieden. Diese Position verkennt aber, dass gerade die komplexen
Siehe das Special Issue „Ethics in Evaluation“ der Zeitschrift Evaluation and Program Planning (2007), Boman und Jevne (2000), Shaw (2003) sowie die Ethikstandards für Evaluation der DeGEval (www.degeval.de/publikationen/standards-fuer-evaluation/). 3
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Aushandlungsprozesse und die unvermeidliche Verwicklung der Forschenden Evaluationsforschung zu einem eigenständigen Forschungstypus machen, weil die Zielbestimmung alle Akteure in einer oft längerfristigen „Arbeitsgemeinschaft“ verbindet, bei der wechselseitige Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen entstehen, Konflikte ausgehandelt und eigenständige Sphären definiert werden müssen. In der Praxis beeinflussen Bewertungsfragen den Forschungsprozess von der Fokussierung der Aufgabe bis zur Präsentation der Ergebnisse. In der formativen Evaluation werden durch beständige Rückkoppelungsschleifen Bewertungen erzeugt, ausgehandelt und reflektiert. Um dies zu kontrollieren und um Seriosität und Glaubwürdigkeit zu belegen, sind methodologische Vorkehrungen wie z. B. Transparenz, Nachvollziehbarkeit, sorgfältige Dokumentation, Supervision und begleitete Plausibilitäts- und Qualitätskontrollen zu treffen. Qualitative Evaluationsforschung enthält sich methodologischer Spitzfindigkeiten oder einer methodolatry (Chamberlain 2000, S. 286), wie dies in der Psychologie mit ihren hoch differenzierten Methoden oft der Fall ist. Pragmatisch ausgerichtet sucht sie wissenschaftliche Strenge mit den Bedingungen der Praxis, Zeitdruck und Mittelknappheit mit vertretbaren Abkürzungsstrategien, Reflexivität mit politischen Entscheidungszwängen, Kontextsensibilität mit der Auswahl generalisierbarer Elemente, wissenschaftliche Deutungen mit alltagsweltlichen Sichtweisen und subjektiven Perspektiven zu verbinden. In Deutschland hat sich die Evaluationsforschung nach angelsächsischem Vorbild (Stufflebeam und Coryn 2014) mittlerweile als eigenständige Disziplin und Profession etabliert: mit eigenen Studiengängen, einer Fachgesellschaft (DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e.V.), Standards, Ethikkodizes, einer Fachzeitschrift, Tagungen und Forschungseinrichtungen (Stockmann 2004) sowie Lehr- und Handbüchern (z. B. Döring und Bortz 2016; Flick 2006a; Kuckartz et al. 2016; Stockmann 2007; Widmer et al. 2009; Wottawa und Thierau-Brunner 2003). In ihrer Praxis verfährt sie multidisziplinär und multiprofessionell sowie häufig methodenplural.
4
Grundlagen qualitativer Evaluationsforschung
In qualitativen Ansätzen gelten „externe“ Einflüsse nicht als Fehlergrößen, sondern als konstitutiver und zu analysierender Bestandteil des Zusammenspiels von Feld, Programm, Forschung und Evaluation. Im Spannungsfeld unterschiedlicher Deutungen entsteht eine nachvollziehbare Grundlage für weitergehende Aushandlungsprozesse. Dabei muss qualitative Evaluationsforschung ihre Ergebnisse heute einem Publikum präsentieren, das auf leicht lesbaren Output und eindeutige Kennziffern hin orientiert ist. Komplexe und vielschichtige Ergebnisse erfordern angemessene Darstellungsformen, um sowohl an Denkmuster des untersuchten Feldes als auch an gesellschaftliche Diskurse und die Politik anschließen zu können (Bude 2000). Viele theoretische Grundlagen, methodologische Prämissen und die Mehrzahl der Erhebungs- und Analyseverfahren der qualitativen Evaluationsforschung stammen aus der Soziologie, einige aus Erfahrungen der Gemeinwesenarbeit und sozialer
Qualitative Evaluationsforschung
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Bewegungen. Das im Kontext der Chicagoer Schule entstandene interpretative Paradigma (Keller 2012; Wilson 1970) hat sich als eine zentrale theoretische Grundfigur qualitativer Evaluationsforschung (Patton 2015) etabliert. Daran orientiert entwickelt sich das Methodenspektrum beständig weiter wie etwa Videoanalyse (Zweidler und Sternath 2012), Think-Aloud Protokolle (Buber 2007) oder Eye-Tracking zur Evaluierung der Nutzerfreundlichkeit (Usability) von Programmen und Produkten, die Analyse von Threads in der Internetkommunikation und bei online-basierten Lernprozessen zur Krankheitsverarbeitung oder elektronische Befragungen etwa zur Patient/innenzufriedenheit zeigen. Die Grundelemente des qualitativ-interpretativen Paradigmas in der Evaluationsforschung zeigen sich in ihrem Wirklichkeitsverständnis, ihrem Menschenbild, in methodologischen Prämissen, in ihrer Theoriebildung und ihren Interpretationsmodellen, in der Art ihres Praxisbezugs und in ihren Gütekriterien.
4.1
Wirklichkeitsverständnis
Qualitative Forschung betrachtet Wirklichkeit als Ergebnis soziokulturell fundierter und historisch gewachsener gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse (Berger und Luckmann 1969); sie folgt damit einem schon im Pragmatismus bei James (1907) und Mead (1968 [1934]) angelegten Sozialkonstruktivismus. Dies bedeutet, dass man es mit strukturierten (Giddens 1984) und „multiplen sozialen Wirklichkeiten“ (Schütz 1973) zu tun hat, die von kollektiven Deutungsmustern wie subjektiven Deutungen geprägt und im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse durch kollektives Handeln beeinflussbar sind. Für die Evaluationsforschung bedeutet dies: • Wirklichkeit wird kontextbezogen aus den Sinndeutungen der Akteur/innen rekonstruiert, um zu einem umfassenden Verstehen etwa von Handlungsketten zu gelangen. Dazu dient ein „naturalistisches“ Eintauchen ins Feld (Beobachtung, Gespräche, Dokumente) in der Haltung einer künstlichen Befremdung (Hitzler 1991) und das „Aufschließen“ des Feldes mithilfe sensibilisierender Konzepte (Blumer 1973). • Die Responsivität des Feldes und die Reflexivität der Akteur/innen wird als dynamisches Bestimmungsmoment des zu evaluierenden Programms einbezogen und systematisch reflektiert (Lamprecht 2012; Stake 2004).
4.2
Menschenbild und Akteursmodelle
Menschen sind aktiv handelnde Personen, die Ereignisse und Situationen vor dem Hintergrund sozialer Normen, institutioneller Kontexte, kollektiver und individueller Erfahrungen und wahrgenommener Durchsetzungschancen sinnvoll rahmen, ihre eigenen Lebenspläne, Interessen und Wünsche darauf einstellen und mit relevanten Anderen beständig neu aushandeln (müssen); dabei verändern sich nicht nur Bezie-
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hungen und verschieben sich Interessen(gegensätze), sondern auch Rahmenbedingungen werden durch die Prozesshaftigkeit der wechselseitig aufeinander Bezug nehmenden Handlungen bzw. Handlungsketten verändert, was in der begleitenden Evaluierungsforschung immer in Rechnung zu stellen ist. Den Handlungen und Planungen der am Geschehen Beteiligten werden Annahmen über kausale Wirkmodelle (Kelle 2006) und Interpretationsweisen zu Grunde gelegt, die sich auf individuelle und kollektive, z. B. generationentypische Erfahrungen (Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2020; Mannheim 1964 [1928] und allgemeine gesellschaftliche Wissensbestände gründen. In den Entwürfen und Handlungen der Akteur/innen zeigt sich die Agency (Handlungsmächtigkeit) aktiver, empfindender, reflektierender und auf Andere bezogener Subjekte (Hoffmann 2013). Handlungen sind aber immer auch spontan, unterliegen Stimmungen und den Handelnden nicht immer bewussten sozial kodierten Emotionen und Gewohnheiten, den Habits of the Heart (Bellah et al. 1985) ebenso wie sie auf Formen der sozialen Kontrolle reagieren, sich auf neue Erkenntnisse stützen oder der veröffentlichten Meinung folgen. Daher wirken Programme nicht „einfach“ auf die Personen ein: aus der Vielfalt der Reaktionen auf sie und ihre Umwelten lernt Evaluationsforschung am meisten, sowohl über generelle wie spezifische Bedingungen auf die ein Programm wirkt oder an denen es scheitert oder die es selbst verändert.
4.3
Methodologische Prämissen
Für den Erfolg und die Seriosität jeder Evaluation bietet erst eine genaue Feldkenntnis die Chance zu einem umfassenden Verstehen dessen, was in Veränderungsprozessen geschieht. So kann die Gesundheitspsychologie in der Auseinandersetzung mit dem deutungsmächtigen Medizinsystem oder die Gemeindepsychologie in der Auseinandersetzung mit unterschiedlich mächtigen lokalen Interessen alternative Sichtweisen und Konzepte begründet herausarbeiten und die Reaktionen aus dem jeweiligen Feld im Kontext gewachsener Wissensordnungen, Handlungslogiken und Machtkonstellationen interpretieren und einordnen. Zentrale methodologische Prämissen qualitativ-interpretativer Evaluierungsforschung sind: • Kommunikation und Interaktion sind in der qualitativen Evaluationsforschung nicht nur ein Instrument, um zur Mitarbeit zu motivieren, sondern selbst Gegenstand der Analyse, um Widerstände, gängige Praktiken, unbefragte Selbstverständlichkeiten usw. während des Verlaufs der Evaluierung zu identifizieren. • Prozessorientierung. Aus der Annahme des prozessualen Charakters der von den sozial Handelnden beständig in wechselseitiger Interaktion reproduzierten und auch veränderten sozialen Wirklichkeit ergibt sich die Notwendigkeit zu einer laufenden und sorgfältigen Dokumentation aller von den Forscher/innen wie den Projektbeteiligten und den Zielgruppen für bedeutsam erachteten Ereignisse und Veränderungen, um Entwicklungsprozesse, Wendepunkte und Blockaden nachzeichnen zu können.
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• Kontextsensitivität und Entwicklungsgeschichte nehmen die lokal-historische Besonderheit des Untersuchungsfeldes in den Blick; sie berücksichtigen gewachsene Traditionen und Bindungen sowie die Dynamiken lokaler sozialer Netze, eingespielte Selbstverständlichkeiten der Problemwahrnehmung und Kommunikation, etablierte Machtbalancen und die mit der Intervention verbundene Störung auch prekärer Gleichgewichte. • Fallorientierung stellt die Voraussetzung zur Analyse der Eigendynamik des Evaluationsgegenstandes dar. Fallorientierung bedeutet hier, das gesamte Feld und die Intervention als einen „Fall“ zu behandeln. Diese umfassende Sichtweise auf den „Fall“ verhindert, dass eine einzelne Interventionsmaßnahme oder die Zielgruppe auf die sie gerichtet ist, „naiv“ isoliert und empiristisch bewertet wird. • Komplexität und Multiperspektivität tragen zu einer ganzheitlichen Sicht bei. Die Vielfalt der Daten und die Perspektiven der Stakeholder vergleichend abzuwägen und einzubeziehen, ohne vorhandene Widersprüche zu glätten, stellt eine große Herausforderung dar. • Offenheit für alternative Interpretationsangebote und Lesarten. Um Muster identifizieren und plausibilisieren zu können und zu einer schlüssigen Interpretationslinie zu gelangen, sind unterschiedliche Formen der Triangulation erforderlich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit dienen diese methodologischen Prämissen zur Umsetzung einer gegenstandsnahen, problemzentrierten und „lernenden“ bzw. „experimentierenden“ Evaluation (Heiner 1998).
4.4
Theorieverständnis
Der oft fehlenden theoretischen Fundierung der Evaluationsforschung hält Chen (1997) das Postulat einer theory driven evaluation entgegen. Er betont die Bedeutung von Akteursmodellen und theoriegeleiteten Annahmen z. B. über sozialen Wandel oder Funktionsprinzipien von Organisationen. Nur so ließen sich tragfähige und verallgemeinerbare Erkenntnisse über programminduzierte Wirkungen wissenschaftlich begründen. Das betrifft z. B. die impliziten Annahmen des zu evaluierenden Programms, die der Evaluationsforschung zu Grunde liegenden theoretischen Vorannahmen und die Prämissen der Konzepte, die zur Dateninterpretation herangezogen werden. Erst so erreichen Ergebnisse den Grad an Generalisierbarkeit, der ihnen über die Auftragssituation hinaus Relevanz verleiht. Als Beispiele seien genannt: • Subjektive Theorien von Akteur/innen in ihrem Handlungs- oder Lebensfeld (Straub und Weidemann 2015 aus psychologischer sowie Schütze 2014 aus soziologischer Sicht) – von Lehrer/innen über ihre Schüler/innen, von chronisch Kranken über ihre Krankheit usw. – erschließen innere Handlungslogiken und bieten Erklärungen dafür, warum Menschen mit Veränderungen in einer bestimmten Weise umgehen.
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• Das Wissen um den Einfluss situativer Konstellationen und struktureller Rahmungen kann zeigen, warum z. B. die psychologische Gesprächskompetenz aus der ärztlichen Fortbildung im konkreten Beratungsgespräch kaum umgesetzt wird. • Die Rekonstruktion individueller und familialer Biografien oder kollektiver und generationentypischer Erfahrungszusammenhänge (Bohnsack und NentwigGesemann 2020) erlaubt eine kontextualisierte Analyse, zum Beispiel, weshalb Kinder mit Migrationshintergrund über Gesundheitsprogramme nur schwer erreichbar sind. • Die Identifikation von bereichsspezifischen Interpretations- und Handlungsmustern auf der Grundlage von Datenanalysen ermöglicht systematische Vergleiche, etwa wie ausgebildetes im Verhältnis zu angelerntem Pflegepersonal Heimbewohner/innen wahrnimmt und pflegt. • Theorien über Mechanismen sozialer Reproduktion und Transformation bieten Erklärungen über die oft ungleichzeitige und zuweilen gegenläufige Dynamik von Veränderungsprozessen und Beharrungstendenzen (Hildenbrand 2011). Zur Theorieentwicklung lassen sich vorhandene Konzepte als Heuristik bei der Materialanalyse nutzen, um zu Arbeitshypothesen und Lesarten zu gelangen und zu überprüfen, ob sie an bestehende Theorien/Konzepte anschlussfähig sind, wie etwa Bewusstheitskontext (Glaser und Strauss 1995 [1965]), Verlaufskurven (Corbin und Strauss 2003), Erziehungsstile (Lewin et al. 1939), Heimlicher Lehrplan (Jackson 1968). Um Auswirkungen sozialer Kontexte auf Identität und Verhalten zu analysieren, bieten sich sensibilisierende Konzepte an wie Stigma (Goffman 1973) oder erlernte Hilflosigkeit (Seligman 1979).
4.5
Praxisbezug und Forschendenrolle
Der explizite Prozesscharakter qualitativer Ansätze in der Evaluierungsforschung hat Implikationen für das Verhältnis von Forschung und Praxis und damit für das Rollenverständnis der Evaluierenden. Sie werden unvermeidlich in Erfolge und Stagnation, in Interessenkonflikte und die Dynamiken von Veränderungsprozessen verwickelt. Sie können in Loyalitätskonflikte geraten und sind divergierenden Anforderungen ausgesetzt. Schon bei der Präsentation von Zwischenergebnissen sind sie Akteur/innen, die damit den Fortgang und ggf. die Richtung des Projekts beeinflussen. Evaluationsforschung wirkt an der Entwicklung einer untersuchten Maßnahme immer mit, wie dies der zuweilen verwendete Begriff der Begleitforschung ausdrückt. Damit enthält sie das Potenzial zu einer kreativen Transformation des Projekts, dessen Verlauf und Ergebnisse sie bewerten soll; das kann auch bedeuten, dass die Ergebnisse zwar nicht den ursprünglichen Zielen entsprechen, aber unerwartete neue und besser akzeptierte Lösungen aufzeigen. Die Evaluierenden fungieren dabei als Katalysator/in, als Ermöglicher/in oder als socratic guide (Abma und Widdershoven 2005) und können wie in der Aktionsforschung soziale
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Prozesse gemeinsam mit den Zielgruppen gestalten (Moser 2003; Reason und Bradbury 2007; Bergold und Thomas 2012; von Unger 2014). In den letzten Jahren gewann das Paradigma der Partizipation nicht nur in den Handlungsfeldern der Sozialwissenschaften, sondern auch in Forschung und Evaluation an Bedeutung. So weist etwa von Unger (2012) am Beispiel der Gesundheitswissenschaften auf die Notwendigkeit einer engen Verbindung von Forschung und Praxis und eine interdisziplinäre Kooperation hin. So verfolge das in Norden der USA schon seit den 1990er-Jahren verbreitete Forschungsparadigma des Community-Based Participatory Research auf der Basis von mit Betroffenen gemeinsam erarbeiteten Maßnahmen die Vernetzung von Akteuren zur Sicherung von Nachhaltigkeit und der Vermeidung von Fehlversorgung. Mit dem Partizipationsparadigma verschiebt sich die Forschendenrolle hin zu Beteiligung und Engagement. „Neutralität“ ist hier nicht mehr die vorherrschende ethisch geforderte Haltung. Das zeigt sich in aktuellen Forschungsfeldern wie der Flüchtlingsforschung, wie von Unger (2018) herausstellt, wo die oft desolate Lage der Zielgruppe als Verpflichtung zu aktivem Handeln aufzurufen scheint. Aus forschungsethischer Sicht ergeben sich bei vulnerablen Gruppen wie Flüchtlingen, aber auch bei Menschen in institutionenabhängigen Lebenslagen oder Personen mit kognitiven Einschränkungen jeweils spezifische Herausforderungen in Bezug auf die Sicherstellung von Datenschutz, Freiwilligkeit und „informed consent“, die kontextsensibler und je nach Forschungsauftrag und situativer Gegebenheit individueller Lösungen bedürfen. Damit tritt neben das Ziel des wissenschaftlichen Ertrags die Forderung, sich aktiv für die Verbesserung von Lebensbedingungen einzusetzen (von Unger 2018, Abs. 14). Die Diskussion dieser Aspekte in den letzten Jahren verweist darauf, dass sich Forschende mit differenzierten Anforderungen auseinandersetzen müssen, die zugleich ihre bedeutsame Rolle als Gestalter des Sozialen spiegeln. Das gilt in besonderem Maße für die Evaluationsforschung.
4.6
Generalisierbarkeit und Qualität von Evaluationsergebnissen
Bei vielen Projekten geht es nicht nur um den Erfolg, sondern auch um die Passfähigkeit einer Maßnahme zu ihrem Umfeld. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit richtet den Blick darauf, welche Elemente oder methodischen Prinzipien eines Programms sich für wiederkehrende Organisationsabläufe, vergleichbar gerahmte Situationen wie z. B. Erstgespräche als übertragbar erweisen. Evaluationsforschung kann ein umfassendes Bild von Kontexten und Entwicklungen zeichnen, auf der Basis einer Rekonstruktion methodisch präziser Beobachtungen und über Textanalysen latente Muster (etwa die soziale Reproduktion von Konflikten) identifizieren und damit Wissen generieren, das alle Beteiligten instruieren und zur kommunikativen Weiterentwicklung auch anderer Programme motivieren kann. In Anlehnung an Patton (2015) gelten für die qualitative Evaluationsforschung folgende Gütekriterien/Qualitätsmerkmale als spezifisch: Glaubwürdigkeit, Durchführbarkeit, Angemessenheit, Nutzen, Genauigkeit, Transparenz und Fairness (Flick 2006b; Tracy 2010). Mittlerweile gibt es eine Reihe von orientierenden Checklis-
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ten.4 Ein routineförmiges Abhaken garantiert Qualität allerdings so wenig oder so viel für die qualitative Evaluierungsforschung wie das Qualitätssiegel eines Altenheims die Lebensqualität seiner Bewohner/innen. Letztlich ist Qualität eine Frage beständiger verantwortungsvoller Reflexion und Abwägung mit den Beteiligten entlang der Programmziele und des Forschungsprozesses (Flick 2006b).
5
Psychologische Perspektiven in der Evaluation – qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie
Die qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie lässt sich entlang mehrerer Perspektiven betrachten: erstens die psychologischen Aufgaben- und Problemstellungen im Rollenspektrum Evaluierender, zweitens die psychologische Expertise bei disziplinspezifischen Fragestellungen und drittens psychologische Arbeitsfelder, in denen qualitative Evaluationsforschung eine bedeutsame Rolle spielt.
5.1
Psychologische Aufgaben und Problemstellungen
Evaluationsforscher/innen bewegen sich in einem sozialen Kontext, dessen Gepflogenheiten, Beziehungsmuster und Hierarchien sie kennen und verstehen lernen müssen. Dies geht nicht ohne vertrauensvolle Beziehungen als Voraussetzung für eine fruchtbare Kooperation (z. B. Froschauer und Lueger 2006). Gerade bei auftragsgebundener Forschung kann der Feldzugang schwierig sein, denn Mitglieder eines Feldes haben oft Vorbehalte gegenüber Bewertungsverfahren. Evaluator/innen müssen also eine akzeptierte Rolle finden. Typischer Weise wird zu Beginn ihre Loyalität auf die Probe gestellt, indem ihr Umgang mit Informationen genau beobachtet wird (Wolff 2000). Im weiteren Verlauf ist eine Verwicklung in Beziehungen und Konstellationen typisch (Sharkey und Sharpless 2008), wie dies u. a. die systemische Organisationsforschung gezeigt hat (Kühl et al. 2009). Evaluationen lösen Dynamiken aus; so können latente Konflikte aufbrechen, wenn Ziele genau bestimmt werden und sich beteiligte Personen und Organisationen auf Prioritäten und damit auf die Verteilung von Ressourcen und Einfluss einigen müssen. Aufgrund dieser Erfahrungen wird die Forschendenrolle zunehmend weiter gefasst: Evaluierende sollen die von ihrem Vorhaben ausgelösten sozialen Dynamiken mit gestalten und steuern: als responsive evaluators (Abma und Widdershoven 2005, S. 105) antworten sie auf das Feld und gehen mit Widerständen und Vorbehalten um. Dafür eignet sich die Rolle als Moderator/in bei der Präsentation von Zwischenergebnissen, bei Zielbestimmungen in einzelnen Akteursgruppen oder als Begleiter/in bei der Implementation eines Verfahrens. Evaluator/innen müssen Beziehungen regulieren, und so sind Gefühls- und Beziehungsarbeit für das Gelingen von Veränderungsprozessen unverzichtbar (Sharkey und Sharples 2008). Pro4 Z. B. Patton (2003) oder Spencer et al. (2003). Siehe zur vergleichenden Übersicht über evaluation designs Stufflebeam (2004), zu allgemeinen Standards der Evaluationsforschung Sanders (2006).
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zesse zwischen den Akteur/innen erfordern ein fortlaufendes Aushandeln, ihre Motivation braucht immer wieder Impulse, Konflikte müssen versachlicht werden, kurz: jemand muss den Überblick behalten und die Beteiligten in die Mitwirkung einbinden. Unter dem Stichwort negotiation wird die partizipative Gestaltung von Innovationen und Verhaltensänderungen thematisiert, für die Psycholog/innen Kommunikationskompetenzen wie aktives Zuhören, Empathie, Reflexionsfähigkeit, Feedback, Verbalisieren und ganz allgemein emotionale Intelligenz mitbringen. Damit sind sie in besonderer Weise für die Doppelaufgabe als Forscher/in und Kommunikator/in, das heißt hier: als Mitgestaltende sozialer Prozesse mit hoher Dynamik geeignet. Sharkey und Sharples (2008) betonen, dass das Eingehen auf und das Arbeiten mit Emotionen (Klose 2009), zu denen Wertschätzung, Autonomie, Nähe, Anerkennung von Status und Rolle gehören, zum Kern von Aushandlungsprozessen zählen. Evaluator/innen oszillieren zwischen einer Grundhaltung, die Patton (2015) mit empathischer Neutralität bezeichnet hat, und einem engagierten Mitgestalten z. B. durch Veränderungsvorschläge im Sinne der Zielerreichung.
5.2
Die Bedeutung disziplinspezifischen Veränderungswissens
Veränderungen lösen wie alles Neue Ängste und Befürchtungen aus. Psychologen/ innen können in besonderer Weise ihr Wissen und die in der Disziplin dazu vorhandenen Theoreme nutzen. So kann das Konzept der Reaktanz erklären, warum eine Top-Down-Strategie zu geringer Nachhaltigkeit und Selbstverinnerlichung und sogar zu innerer Distanzierung führen kann. Das Wissen über die Mechanismen der Kausalattribution kann negative Selbstzuschreibungen und Sozialisationserfahrungen zueinander in Beziehung setzen und z. B. bei einer Evaluation von Schülerleistungen Erklärungen für individuelle Entwicklungsblockaden liefern. Eine weitere Stärke der Psychologie ist das Wissen über Mechanismen und Situationsbedingungen individuellen und gruppenspezifischen Handelns. Veränderungen und Bewertungen, wie sie mit jeder Evaluation verbunden sind, irritieren das etablierte soziale Ordnungsgefüge und ihre Routinen – mögen die Ziele noch so „positiv“ sein. Sie lösen individuelle und kollektive Orientierungsreaktionen aus, weil es stets auch um soziale Positionierung, Einfluss und Anerkennung geht. Darüber hinaus spielen Interessen- und Verteilungskonflikte, wie etwa die wahrgenommene oder eine tatsächliche oder eine befürchtete Beschneidung bisheriger Privilegien aber auch normative Konflikte eine Rolle bei Widerständen gegen ein Programm. Dies zu berücksichtigen und einen selbstwerterhaltenden Umgang mit den Akteur/innen zu finden trägt erheblich zum Erfolg einer Evaluation bei. Die qualitative Evaluationsforschung kann durch Dokumentation und Analyse von Veränderungsprozessen mit allen ihren Widerständen und Umwegen ein genaues Wissen über Erfolgsbedingungen und Blockaden entwickeln. Interaktionstheoretische und sozialpsychologische Ansätze legen nahe, menschliches Handeln nicht nur individuumszentriert zu sehen, sondern als Austauschprozesse mit Anderen und dabei auch den strukturellen Einfluss des Umfeldes in den Blick zu nehmen. Disziplinspezifische Theoreme der Psychologie lassen sich mit sozialwissenschaftlichen Konzepten aus den Feldern Gesundheit, Pflege, Pädagogik und Gemein-
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wesenarbeit gut verknüpfen. Darüber hinaus ermöglicht qualitative psychologische Evaluationsforschung Einblick in das, was mit dem Begriff der „Prozessqualität“ nur unscharf gefasst ist: das Wie der Herstellung und die subjektive Begründung von Handeln. Erst Interviews geben etwa Aufschluss darüber, wie, mit welchen Techniken, Strategien oder Arbeitsteilungen Familien mit schwierigen Alltagssituationen und Lebenskrisen zurechtkommen – sei es in Pflegekonstellationen oder im Umgang mit einem verhaltensauffälligen Kind. Erst mit diesem Wissen lässt sich einschätzen, wie in einem spezifischen Programm die Zusammenarbeit mit Fachkräften an selbst gefundene Routinen und individuelle Vorstellungen von richtiger Erziehung und guter Pflege angepasst werden muss, um akzeptiert und wirksam zu sein.
5.3
Evaluation in psychologischen Arbeitsfeldern
In der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie stehen vor allem die interpersonalen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf Arbeitsklima, Erfolg, Zufriedenheit, Identifikation mit den Unternehmenszielen oder die Leistungsmotivation im Fokus (von Rosenstiel 2009). Die Evaluation von eignungsdiagnostischen Verfahren zeigt z. B. bei der Analyse von Einstellungsinterviews, wie stark die Auswählenden von unbewussten Stereotypen geprägt sind (Kolominski 2009), Studien zur Arbeitszufriedenheit identifizieren die Verletzung von Gerechtigkeitsnormen als einen zentralen Faktor für Unzufriedenheit (Menz 2009) und innere Kündigung (Stahlmann und Wendt-Kleinberg 2008). Die Gemeindepsychologie (Bond et al. 2017; Rappaport und Seidman 2000) verfolgt von Anbeginn einen kontextbezogenen und lebensweltorientierten Ansatz: so hat Sarason (1974) das einflussreiche Konzept des sense of community entwickelt, das sowohl das Feld der „Gemeinde“ für die Forschung aufschließt als auch die Bedeutung subjektiv erlebter Einbettung in den lokalen Lebenszusammenhang hervorhebt. Mit dem Blick auf Ressourcen wird untersucht, wie soziale Netzwerke zur Lösung von Konflikten oder zur sozialen Unterstützung beitragen können (Röhrle et al. 1998). Unter den normativen Perspektiven einer Förderung von Befähigung (Capability), Handlungsmächtigkeit (Agency) und Empowerment nimmt evaluierende Forschung in den Blick, wie und unter welchen Bedingungen dies den Zielgruppen gelingen kann. Rappaport (2000) konnte darüber hinaus mit seinem Konzept der community narratives die identitätsbildenden Aspekte kontinuierlicher lokaler Erfahrungszusammenhänge als Voraussetzung für Engagement und Solidarität beschreiben und zeigen, wo zunächst unverständliche oder verdeckte Konfliktlinien liegen. Ein solcherart vertieftes Verständnis bildet dann eine wichtige Voraussetzung, um Reaktionen von Bürger/innen auf Programme angemessen einzuordnen.
6
Evaluationsforschung als Auftragsforschung: wissenschaftliche, ethische und politische Dilemmata
Evaluierende Forschung ist angewandte Praxisforschung (von Kardorff 2006; van der Donk et al. 2014), die Fragestellungen eines interessierten Auftraggebers aufgreift. Die daraus entstehenden vertraglichen Verpflichtungen haben erhebliche
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Konsequenzen. So kann der Auftraggeber, ggf. in Abstimmung mit zuständigen Ethikkommitees an Kliniken und Universitäten, festlegen, welche zeitlichen Belastungen den Untersuchten zugemutet werden können, welche Dokumente zugänglich oder welche Kooperationsformen vorgesehen sind. Die Ergebnisse „gehören“ dem Auftraggeber; er kann sie verwenden und sogar die Ergebnisdarstellung beeinflussen, etwa in dem negative Aspekte eines eher mäßig erfolgreichen Modellprojekts weggelassen und der Ertrag des Modells als „halbvolles Glas“ hochgezont wird. Die durchführende Forschungseinrichtung erhält für die Leistung eine Vergütung. So entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das angesichts des notwendigen Spezialisierungsgrades (Vertrautheit mit dem Untersuchungsfeld) in der Praxis dazu führt, dass einige große Forschungsunternehmen immer wieder für dieselben Auftraggeber, etwa die Krankenkassen, arbeiten. Das erzeugt eine Expertise, die etwa die universitäre Forschung nur selten erreichen kann, bringt aber auch die Gefahr einer verengten Perspektive im Sinne des Auftraggebers mit sich, von dem ggf. die Existenz eines Forschungsinstituts abhängt. Evaluationsforschung muss zudem oft in knapper Zeit und mit wenigen Mitteln Ergebnisse liefern – das steht im Widerspruch zu einer sorgfältigen, diskussionsintensiven Auswertung, wie sie zu guter qualitativer Forschung gehört. Schließlich spielt der Verwendungskontext der Ergebnisse eine wichtige Rolle. Auch und gerade in ihren Anwendungsgebieten muss sich jede Wissenschaft die Frage stellen, für wen und in welchem Interesse sie ihr Wissen zur Verfügung stellt, und welche Konsequenzen damit für die Zielgruppe verbunden sind; Howard S. Becker (1967) hat dies für die gesamte sozialwissenschaftliche Forschung, die ja im besten Fall präzise Einblicke in konkrete soziale Abläufe, Milieus und Interaktionsmuster liefert, in der Frage „Whose side are we on?“ gebündelt (vgl. auch Abschn. 4.6). Dies gilt für die Psychologie in einem besonderen Maß, denn sie stellt Deutungsangebote und Interpretationsrahmen für „richtiges“ und „falsches“ Handeln von oft vulnerablen Individuen und von Exklusion bedrohten sozialen Gruppen bereit. Deshalb muss psychologische Evaluationsforschung benennen, welche ethischen Grundsätze sie ihrem eigenen Handeln zu Grunde legt, und wie sich diese zu den von Fachgesellschaften wie der DeGEval formulierten Prämissen und Standards verhalten (von Unger et al. 2014). Dazu gehört die Reflexion über das Verhältnis einer auftragsgebundenen zu einer unabhängigen Forschung, also darüber, ob sich Forschende als Dienstleister/innen im Sinne der Auftragsgebenden verstehen (Beywl 2006), die die Geschmeidigkeit bei der Umsetzung eines Programms erhöhen, oder ob sie sich eher als Expert/innen betrachten, die Wissen dafür bereitstellen, gemeinsam mit den Zielgruppen in einer Art experimentierender Erprobung für bessere, gerechtere und gemeinsam gestaltete Lebensbedingungen einzutreten. In dieser Perspektive sind Menschen nicht Hindernisse für Programme, sondern Programme ggf. hinderlich für die Entfaltung von Menschen und ihren Bedürfnissen (Kushner 1996). Letzteres heißt konkret, dass man sich die kritische Expertise vorbehält, ein Programm auch ablehnend zu beurteilen. Zum zweiten ist es erforderlich, das Zustandekommen von Bewertungsprozessen selbst zum Thema zu machen (Hirschauer 2006). Als Evaluation der Evaluation (Hager et al. 2000) muss sie das eigene Verhältnis zu dem Spagat zwischen syste-
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matisierender, wissenschaftlicher Analyse und einer immer auch werte- und normgebundenen Beurteilung reflektieren. Dazu gehören Verfahren der Qualitätssicherung wie z. B. eine Forschungssupervision, um zu gewährleisten, dass die in die Beurteilung/Bewertung eingehenden Stimmen und Meinungen von Akteuren und Stakeholdern Gewicht erhalten, ohne dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Spielball von Mehrheitsentscheidungen, machtvollen Interessen, spontanen Befindlichkeiten oder der Durchsetzungsfähigkeit einer lautstarken Minderheit werden. Drittens werden gerade in der qualitativen Evaluation oft sehr intime und auch kritikwürdige Einblicke und personenbezogene Informationen gewonnen; dies kann sensibles gesundheitsbezogenes Wissen sein, die Beobachtung von subversiven Strategien mit denen Arbeitnehmende sich als unbillig beurteilten Anforderungen der Betriebsleitung entziehen oder die Aufdeckung von klüngelnden Netzwerken etablierter, oft männlicher, lokaler Machteliten in Gemeinden, Verbänden, Kirchen usw. (vgl. Hopf 2000). Hier geht es um einen sorgfältigen Datenschutz, aber auch um Entscheidungen, welche Missstände ggf. auch mit dem Risiko eines Konflikts mit dem Auftraggeber öffentlich zu machen sind. In diesem Zusammenhang spielt die Gewährleistung des personenbezogenen Datenschutzes eine zunehmend bedeutsame Rolle; dies zeigt sich auch an den Bestimmungen der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die 2018 in das deutsche Bundesdatenschutzgesetz übernommenen wurde (https://dsgvo-gesetz.de/bdsg/).
7
Ausblick: Stand und Perspektiven
Evaluationsforschung ist inzwischen eine große Forschungsindustrie mit einer Unzahl privater Forschungsinstitute, die im Auftrag von Wirtschaft, Verbänden und Regierungen und zunehmend von NGOs und internationalen Organisationen arbeiten. Im internationalen Jahr der Evaluation 2015 wurden von den beteiligten Organisationen und Fachgesellschaften als Agenda für die Weiterentwicklung der Evaluationsforschung auf internationaler Ebene unter anderem die enge Verknüpfung mit zivilgesellschaftlichen Anliegen wie Gleichheit, Inklusion, GenderMainstreaming und nachhaltige Entwicklung genannt. (http://mymande.org/evalyear/ Declaring_2015_as_the_International_Year_of_Evaluation) und damit Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Rolle akzentuiert, die allerdings von der Alltagsrealität der Evaluationsforschung oft weit entfernt ist. Im gelingenden Fall kann qualitative Evaluationsforschung einen Beitrag zur praktischen Klugheit im Sinne der aristotelischen „phronesis“ (Schwandt 2002) und damit zu besseren Entscheidungen „begrenzter Rationalität“ (Pawson und Tilley 1997) liefern. Ihre Verwicklung in das untersuchte Feld und die beteiligten Interessen erlaubt ihr allerdings nur begrenzt eine Objektivität im traditionellen Wissenschaftsverständnis. Ohne dabei weniger wissenschaftlich zu sein, liegt ihre besondere Qualität darin, Dynamiken in actu zu verfolgen, die vorhandenen Interessen- und Machtkonstellationen sowie die subjektiven Perspektiven der Beteiligten mit triangulativ gewonnenen Daten ins Spiel zu bringen und darüber ein umfassenderes Bild der Wirkungen und der kontextuellen Verankerung von Programmen und Maßnahmen zu erhalten. Als ange-
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wandte Forschung bleibt sie eine wissenschaftliche Kunstlehre (vgl. zur Interpretation qualitativer Daten: Bude 2000; Schwandt 2002). Im Kontext zivilgesellschaftlicher Partizipation kann sie im Medium der Aktionsforschung zum Motor mikrosozialer Veränderungen werden und dazu beitragen, Lebensumstände und Lebenszufriedenheit zu verbessern, Perspektiven zu erschließen und Verständigungsprozesse zu begleiten.
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Mixed Methods Margrit Schreier und Özen Odağ
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte der Mixed Methods-Forschung und disziplinäre Einordnung in die Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Mixed Methods-Methodologie: Darstellung ausgewählter Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Entwicklungen von Mixed Methods in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160 161 164 173 176 178
Zusammenfassung
Mixed Methods bezeichnet im weitesten Sinne die Kombination sowie die Integration von qualitativen und quantitativen Elementen innerhalb einer Untersuchung oder mehrerer aufeinander bezogener Untersuchungen. In den Sozialwissenschaften generell haben Mixed Methods in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. In der nach wie vor quantitativ dominierten Psychologie ist die Relevanz dieser Forschungstradition insgesamt zwar geringer anzusetzen, aber auch hier werden Mixed Methods inzwischen über verschiedene Teildisziplinen hinweg vermehrt eingesetzt. In diesem Beitrag gehen wir zunächst auf die Entwicklung der Mixed Methods-Forschung allgemein sowie in der Psychologie im Besonderen ein. Anschließend stellen wir zentrale methodologische Bereiche der gegenwärtigen Mixed MethodsDiskussion ausführlicher dar, wie beispielsweise die Definition von Mixed M. Schreier (*) Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] Ö. Odağ Touro College Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_22
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M. Schreier und Ö. Odağ
Methods und die Abgrenzung von Mixed Methods gegenüber verwandten Begriffen. Auch gehen wir in diesem Zusammenhang genauer auf Varianten von Mixed Methods-Designs und Design-Typologien ein, sowohl generell wie auch in der Psychologie. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Entwicklungsperspektiven, insbesondere hinsichtlich der Relevanz der qualitativen innerhalb der Mixed Methods-Forschung. Schlüsselwörter
Mixed Methods · Mixed Methods-Designs · Triangulation · Multiple Methods · Pragmatismus
1
Einleitung
In den vergangenen Jahren sind Mixed Methods (im Folgenden: MM) zu einem Modethema in der Methodologie der Sozialwissenschaften avanciert: Die Anzahl von Sammelbänden und Lehrbüchern wächst geradezu inflationär an, insbesondere im englischsprachigen Raum (z. B. Bergman 2008a; Creswell 2015; Creswell und Plano Clark 2017; Greene 2007; Mertens 2018; Plano Clark und Ivankova 2016; Poth 2018; Tashakkori und Teddlie 1998, 2008, 2010; Teddlie und Tashakkori 2009; für den deutschsprachigen Raum: Baur et al. 2017; Burzan 2016; Kuckartz 2014; Schreier und Echterhoff 2013; von der Lippe et al. 2011a). Im Jahr 2007 gründeten Abbas Tashakkori und Charles Creswell in einem weiteren Schritt der Institutionalisierung das Journal of Mixed Methods Research. 2013 wurde die Mixed Methods International Research Association ins Leben gerufen, die auch jährliche Tagungen zum Thema MM-Forschung veranstaltet (mmira.org), und 2016 wurde eine Task Force eingesetzt, um Empfehlungen für die weitere Entwicklung der MM-Forschung auszuarbeiten (Mertens et al. 2016). Für die Psychologie mit ihren natur-, geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Anteilen bietet sich die MM als gegenstandsangemessene Methodologie geradezu an. Im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaften hat sich die Psychologie jedoch, die nach wie vor in ihrem Mainstream stark vom quantitativen Paradigma dominiert wird, deutlich langsamer für Mixed Methods geöffnet. Dennoch sind auch hier in den vergangenen zwanzig Jahren Forderungen nach einer Nutzung des Potenzials von MM laut geworden, was sich in einer vermehrten Verwendung von MM in der psychologischen Forschung widerspiegelt. Im Folgenden geben wir zunächst einen Überblick über die Entwicklung der MM-Forschung im Allgemeinen sowie der Psychologie im Besonderen. Im nächsten Schritt gehen wir ausführlicher auf methodologische Fragen in Zusammenhang mit MM ein, insbesondere die Begriffsbestimmung und Definition von MM, MM als „drittes Forschungsparadigma“ in den Sozialwissenschaften, Funktionen der MMForschung, und wir stellen ausgewählte MM-Designs an Hand von Forschungsbeispielen aus der Psychologie genauer dar. Anschließend geben wir einen Überblick über die Nutzung von MM in der Psychologie in den letzten zwei Jahrzehnten.
Mixed Methods
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Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Stärken und Schwächen von MM, gerade auch im Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung von Elementen qualitativer Forschung.
2
Entstehungsgeschichte der Mixed Methods-Forschung und disziplinäre Einordnung in die Psychologie
Mixed Methods bezeichnet im weitesten Sinne die Kombination sowie die Integration von Elementen eines qualitativen und eines quantitativen Forschungsansatzes innerhalb einer Untersuchung oder mehrerer aufeinander bezogener Untersuchungen. Die Kombination kann sich auf die zugrunde liegende wissenschaftstheoretische Position und die Fragestellung, auf die Methoden der Datenerhebung oder der -auswertung oder auch auf die Verfahren der Interpretation und der Qualitätssicherung beziehen (Definition in Anlehnung an Johnson et al. 2007, S. 123; Mertens et al. 2016, S. 4). Konstitutiv für MM ist dabei, dass die Kombination qualitativer und quantitativer Elemente über ein bloßes Nebeneinander von Methoden und Daten hinausgeht und eine Integration dieser Elemente stattfindet (s. auch Creswell 2015, S. 2; Kuckartz 2014, S. 33). Historisch gesehen ist die Kombination von qualitativen und quantitativen Elementen in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften nichts Neues (z. B. bereits Thomae 1959). In der als Marienthal-Studie bekannt gewordenen Untersuchung zu den psychosozialen Wirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit wurden beispielsweise qualitative Methoden der Datenerhebung wie Beobachtung, Interviews, Tagebucheinträge und Berichte von Betroffenen mit quantitativen Verfahren wie der Erfassung von Ausleihstatistiken oder der Messung der Gehgeschwindigkeit kombiniert; bei der Auswertung kamen ebenfalls sowohl interpretative als auch statistische Verfahren zur Anwendung (Jahoda et al. 1975 [1933]). Ziel dieser klassischen Untersuchung war es, den sozialpsychologischen Gegenstand Arbeitslosigkeit einschließlich seiner Phänomenologie und handlungsbezogenen Konsequenzen so umfassend wie möglich abzubilden. Auch in anderen klassischen Untersuchungen der psychologischen Forschung wurden qualitative und quantitative Methoden bereits in den 1920er-Jahren selbstverständlich zusammengeführt – etwa in den Hawthorne-Experimenten, die als Meilensteine der Arbeits- und Organisationspsychologie bekannt geworden sind. Zur Erfassung des Einflusses verschiedener Beleuchtungsgrade auf die Produktivität von Angestellten wurden hier Beobachtungen und Interviews in ein experimentelles Design integriert (Roethlisberger und Dickson 1939). Der Hawthorne-Effekt – dass schon das Wissen um die Teilnahme an einer Untersuchung das Verhalten der Teilnehmenden in der Untersuchungssituation verändern kann – wurde somit erstmals im Rahmen einer frühen Form von MM-Studie nachgewiesen. Auch andere klassische Studien in der Sozialpsychologie weisen zumindest Elemente einer Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden auf (für eine Rekonstruktion Fine und Elsbach 2000). Solche Kombinationen qualitativer und quantitativer Methoden in der Frühzeit der Psychologie gehen allerdings nicht notwendig auch mit einer Integration qualitativer und quantitativer Daten einher, wie sie für die heutige MM-Forschung konstitutiv ist (s. oben Abschn. 1).
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Diese selbstverständliche Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung wurde, unter dem Einfluss des Positivismus und des Methodenstreits, abgelöst von einer Phase der Dominanz des quantitativen Paradigmas in den empirischen Sozialwissenschaften (von Tashakkori und Teddlie auch als monomethods bezeichnet: 1998, Kap. 1). Die qualitative Forschung befand sich demgegenüber in einer Position der Marginalisierung, die weitgehend unverbunden neben dem quantitativen Mainstream existierte (Groeben 2006; Nerlich 2004). Für die empirischen Sozialwissenschaften insgesamt ist seit den 1960er-Jahren eine wachsende Desillusionierung mit einem ausschließlich quantitativen Ansatz und einer quantitativen Weltsicht festzustellen, die zunächst zur Postulierung eines „alternativen“, interpretativen Paradigmas führte, das seinerseits gegenüber dem positivistischen Paradigma mit einem „Alleinherrschaftsanspruch“ auftrat (von Tashakkori und Teddlie auch als Phase der Paradigmenkriege bezeichnet; Tashakkori und Teddlie 1998, Kap. 1). Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat jedoch eine Annäherung der Positionen stattgefunden, unter anderem getragen von einer Abschwächung extremer positivistischer Positionen (zum Post-Positivismus), der Entstehung verschiedener „alternativer“ Paradigmen sowie einer weitgehend pragmatischen Auffassung von Forschungsfragen als Problemen und Methoden als Werkzeugen zu deren Lösung. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde auch die Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschungsansätze wieder denkbar und – im Rahmen von MM – zunehmend forschungspraktisch umgesetzt (zur Entwicklung s. Greene 2007, Kap. 3; Johnson et al. 2007; für die Psychologie zusammenfassend Gelo et al. 2008; Madill und Gough 2008). Die Psychologie stellt allerdings insofern eine Ausnahme von dieser generellen Entwicklung dar, als hier der quantitative Mainstream die Forschungslandschaft auch weiterhin dominiert, qualitative Ansätze somit nach wie vor als marginalisiert gelten müssen (Groeben 2006; Madill und Gough 2008). Entsprechend haben sich MM in der Psychologie bisher auch weniger etabliert als in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Povee und Roberts 2015; Tashakkori et al. 2012; Todd et al. 2004a; Waszak und Sines 2003). So verwenden nur zwischen ca. 1,7 % und 6 Prozent publizierter empirischer Studien ein Design, das explizit als Mixed Methods ausgewiesen ist (Povee und Roberts 2015, S. 42). Auch liegen bisher nur wenige genuin psychologische Sammelbände zum Thema vor (Ausnahmen sind: Mayring et al. 2007; Todd et al. 2004b; von der Lippe et al. 2011a). Teilbereiche der – vor allem angewandten – Psychologie stehen der MM-Forschung jedoch deutlich offener gegenüber als die Mehrzahl insbesondere der Grundlagendisziplinen, mit Ausnahme der Entwicklungspsychologie (von der Lippe et al. 2011a, b; Yoshikawa et al. 2008; zu MM in der Psychologie im Überblick Waszak und Sines 2003). Dahinter steht die Argumentation, dass eine ausschließlich quantitative Psychologie nicht geeignet sei, der Multidimensionalität menschlichen Erlebens gerecht zu werden (z. B. Franz et al. 2013). Andere Autorinnen und Autoren verweisen auf die jeweiligen Spezifika qualitativer und quantitativer Daten, wie etwa die Eignung qualitativer Daten und Methoden zur Beschreibung menschlichen Erlebens und dessen Kontextualisierung oder die Eignung quantitativer Daten und Methoden zur Identifikation von
Mixed Methods
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Kausalzusammenhängen oder für die Verallgemeinerung von einer Stichprobe auf eine Population, und leiten daraus die Wünschbarkeit von MM-Forschung in der Psychologie ab (z. B. Dattilio et al. 2010; Fine und Elsbach 2000; Gelo et al. 2008). Vor allem in den vergangenen zehn Jahren ist entsprechend eine Zunahme an Reviews zur Verwendung von MM in der angewandten psychologischen Forschung zu verzeichnen (zur Klinischen Psychologie und Therapieforschung s. Dattilio et al. 2010; Eubanks Gambrel und Butler VI 2013; Hanson et al. 2005; Rennie und Frommer 2015; zur Pädagogischen Psychologie Powell et al. 2008; zur Sportpsychologie Sparkes 2015; zur Kulturvergleichenden Psychologie Bartholomew und Brown 2012; zur Gesundheitspsychologie Bishop 2015). Darüber hinaus finden sich Reviews in Kombination mit Forderungen nach einer vermehrten Nutzung der Möglichkeiten von MM in je spezifischen Teilbereichen der Klinischen und Psychotherapieforschung, beispielsweise in der Präventionsforschung (Zhang und Watanabe-Galloway 2014), der Traumaforschung (Boeije et al. 2013; Creswell und Zhang 2009) oder der Suizidforschung (Kral et al. 2012). Hinter diesen Forderungen steht in der Regel die Modellierung des jeweiligen Gegenstandes als komplexes Phänomen, dessen Verständnis eine Kombination qualitativer und quantitativer Forschung erfordert (z. B. Harkness et al. 2006; Kral et al. 2012). Angesichts der Dominanz des quantitativen Mainstreams in der Psychologie entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Ursprünge der heutigen MMForschung von deren Vertreter/innen ausgerechnet in der quantitativen Psychologie verortet werden, nämlich in Campbell und Fiskes (1959) Entwicklung der MultitraitMultimethod-Matrix als Methode zur valideren Erfassung von Persönlichkeitseigenschaften durch den Vergleich bzw. die Triangulation mehrerer (quantitativer) Instrumente, um so die Schwächen der einen Methode durch die Stärken der anderen auszugleichen, und umgekehrt. Eine Ausdifferenzierung des Triangulationsbegriffs nahm in der Folge Denzin (1970) vor, der zwischen einer Triangulation zwecks wechselseitiger Validierung von Theorien, Forschenden, Daten und Methoden unterschied, wobei die Methodentriangulation entweder (wie bei Campbell und Fiske) innerhalb einer Methode, etwa durch Verwendung mehrerer Skalen, oder aber zwischen verschiedenen Methoden erfolgen konnte. Diese letztere Variante von Triangulation zwischen den Methoden (between oder across methods triangulation) liegt der weiteren Entwicklung von MM zugrunde, wobei die Triangulation zunehmend aus ihrer Funktion einer wechselseitigen Ergebnisvalidierung herausgelöst wurde (vgl. im Überblick Flick 2011, Kap. 1; Flick et al. 2012; Kelle 2001; zur Entwicklung erster Triangulationsdesigns vgl. Jick 1979; Morse 1991; zu weiteren Funktionen von Triangulation und Mixed Methods s. unten Abschn. 3.3 und Flick 2011). Die weitere Entwicklung der MM-Forschung hat sich bisher meist auf den englischsprachigen Raum konzentriert, während im deutschsprachigen Raum eher der Triangulationsdiskurs dominiert (Flick 2011; Kelle 2008). Einige MM-methodologische deutschsprachige Publikationen liegen jedoch durchaus vor (z. B. Burzan 2016; Erzberger 1998; Kelle und Erzberger 1999; Kelle 2008, 2019; Kuckartz und Busch 2012; Schreier und Echterhoff 2013; und einige der Beiträge in Baur
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et al. 2017 sowie Schreier und Fielding 2001), und Udo Kuckartz hat 2014 das erste deutschsprachige Lehrbuch zu MM vorgelegt. Deutschsprachige Beiträge zu MM aus speziell psychologischer Perspektive liegen bisher nur vereinzelt vor (vgl. aber Mayring 2001; von der Lippe et al. 2011a, b), Autorinnen und Autoren aus der deutschsprachigen Psychologie publizieren jedoch durchaus innerhalb des englischsprachigen MM-Diskurses (z. B. Flick et al 2012; Franz et al. 2013; Mayring et al. 2007; Rennie und Frommer 2015).
3
Mixed Methods-Methodologie: Darstellung ausgewählter Schwerpunkte
3.1
Mixed Methods: Begriffsklärungen
Schon der knappe historische Überblick macht deutlich, welch große Zahl an Begriffen innerhalb der MM-Diskussion Anwendung gefunden hat, wie beispielsweise: multitrait-multimethod, mono- und multimethods, multiple methods, blended research,, integrative research, Triangulation, mixed methods, quasi mixed methods, mixed research, hybrids, um nur einige zu nennen (ausführlich: Creswell und Plano Clark 2017; Johnson et al. 2007). Selbst eine verbindliche und allgemein akzeptierte Definition des MM-Begriffs fehlt bisher, wobei es hier genau genommen nicht um eine Definition von Mixed Methods, sondern einer Mixed Methodology geht, also um die Konzeptualisierung und Diskussion einer Herangehensweise an die Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung (s. auch unten Abschn. 3.2 zur Konzeptualisierung von MM als Paradigma). Johnson et al. führten 2007 eine Befragung führender Forscher/innen aus dem Bereich MM zu ihren Begriffsdefinitionen durch. Übereinstimmung ergab sich lediglich dahingehend, dass hier Elemente qualitativer und quantitativer Forschung kombiniert werden (abweichend jedoch: Burzan 2016; Hesse-Biber 2015). Wie diese Kombination im Einzelnen erfolgt, ob MM lediglich eine Kombination von Methoden oder notwendig auch von Designelementen bis hin zu Paradigmen umfasst, und zu welchem Zweck Elemente qualitativer und quantitativer Forschung sinnvoll kombiniert werden können, darüber gingen die Ansichten auseinander. So finden sich beispielsweise unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Bezeichnung „Mixed Methods“ zwingend mit der Erhebung und Auswertung quantitativer und qualitativer Daten einhergehen muss. Creswell und Plano Clark vertreten in ihrem Lehrbuch (2017) den Standpunkt, dass dies der Fall sein muss. Teddlie und Tashakkori dagegen sehen in ihrer Design-Typologie auch das sog. „Monostrand Conversion“Design vor (2009): Dieses beinhaltet die Erhebung ausschließlich qualitativer oder ausschließlich quantitativer Daten, die im Zuge der Auswertung in den je anderen Datentyp konvertiert werden (etwa eine inhaltsanalytische Studie mit anschließender Bestimmung der Besetzungshäufigkeiten für die verschiedenen Kategorien). Mit der eingangs aufgeführten Definition von MM als Kombination und Integration von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung in einer Untersuchung oder in mehreren aufeinander aufbauenden Untersuchungen, ohne die zu kombinierenden
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165
Elemente jedoch inhaltlich zu spezifizieren, orientieren wir uns am Definitionsvorschlag von Johnson et al., mit dem diese ihrerseits versuchen, den unterschiedlichen Definitionen der führenden Forscher/innen gerecht zu werden. Im Folgenden soll der Begriff der MM gegenüber den wichtigsten verwandten Begriffen abgegrenzt werden (Creswell 2015, Kap. 1; Creswell und Plano Clark 2017, Kap. 1; Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 2). Zunächst sind MM- gegenüber Monomethod- und Multiple Method-Studien zu differenzieren. Monomethod-Studien sind dadurch charakterisiert, dass sie ganz in einem Paradigma verankert sind (sei es dem qualitativen oder dem quantitativen), wobei idealtypisch nur jeweils eine Methode der Datenerhebung und eine Methode der Datenauswertung zur Anwendung kommt. Auch Multiple Method-Studien sind meist in jeweils einem Paradigma verankert, es werden jedoch mehrere Methoden der Datenerhebung eingesetzt (z. B. eine ethnografische Studie unter Anwendung von teilnehmender Beobachtung und narrativen Interviews). Je nachdem, wie eng die Definition von MM gefasst wird, zählen auch Studien unter Verwendung qualitativer und quantitativer Methoden und Daten zum Gegenstandsbereich der Multiple Method-Studien, wenn keine Integration dieser Daten erfolgt, wenn es also bei der bloßen Kombination bleibt. Damit sind Multiple Method-Studien zugleich als Triangulationsstudien charakterisierbar, d. h. als Studien, in denen ein Phänomen oder Aspekte eines Phänomens durch mehrere Methoden erfasst werden; worin das Ziel der Triangulation besteht, wird in dieser Definition bewusst nicht festgelegt. Je nachdem, ob die Methoden aus einem Forschungsansatz oder aus verschiedenen Forschungsansätzen stammen und ob eine Integration der Daten aus verschiedenen Forschungsansätzen stattfindet, sind Triangulationsstudien als Multiple Method- (wie eben beschrieben) oder als MM-Studien realisiert. Triangulationsstudien sind also nicht notwendig auch Mixed Method-Studien (und umgekehrt; zur Relation von MM und Triangulation: Flick 2011, Kap. 5; Hammersley 2008; Kuckartz 2014, S. 44–49; s. auch Abschn. 3.3). Der Vollständigkeit halber sei jedoch erwähnt, dass es vor allem im Zuge einer Kritik an der quantitativen Dominanz der MM-Forschung (s. unten Abschn. 5) auch Ansätze dahingehend gibt, das Konzept der Multiple Methods als Oberbegriff zu definieren, der sowohl MM- als auch Triangulationsstudien umfasst (z. B. Burzan 2016, Kap. 2.3). Teddlie und Tashakkori führen darüber hinaus den Begriff der Quasi Mixed Methods-Designs ein (Teddlie und Tashakkori 2009, S. 142–143). Diese sind definiert als Untersuchungsanlagen, in denen zwar qualitative und quantitative Methoden zur Anwendung kommen, wobei jedoch das eine Paradigma und die eine Methode stark dominieren und zudem keine Integration der Ergebnisse stattfindet (z. B. in einer Fragebogenstudie die Ergänzung von geschlossenen um ein oder zwei offene Fragen).
3.2
Mixed Methods als drittes Paradigma? Die Paradigmendiskussion
Paradoxerweise ist die MM-Forschung seit ihren Anfängen eng mit der Frage verknüpft, inwieweit eine Kombination von Elementen aus der qualitativen und der quantitativen Forschung überhaupt zulässig ist (im Überblick: Johnson et al. 2007;
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Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 3–5). Hintergrund dieser Diskussion ist die Postulierung eines interpretativen im Gegensatz zum dominierenden positivistischen Paradigma durch Lincoln und Guba (1988); diese gingen zugleich davon aus, dass die Paradigmen im Kuhn’schen Sinne (1962) inkommensurabel seien. Eine Kombination von Elementen aus den Paradigmen galt folglich als nicht zulässig. Diese Position, auch als Purismus bezeichnet, markiert zugleich den Beginn der sog. Paradigmenkriege. Die Entwicklung von MM wurde erst mit einem „Aufweichen“ dieser extremen Position möglich. Ein Impuls dazu ging von Lincoln und Guba selbst aus, die in ihren neueren Publikationen neben den ursprünglichen eine größere Anzahl an Paradigmen unterscheiden (wie etwa PostPositivismus, Konstruktivismus etc.), die sie partiell auch nicht mehr als unvereinbar ansehen (Lincoln und Guba 1994, 2005). Weiterhin wurde zunehmend infrage gestellt, wie eng der Zusammenhang zwischen epistemologischen Überzeugungen und forschungspraktischem Handeln, insbesondere der Auswahl von Forschungsmethoden, tatsächlich ist (im Überblick Greene 2007; Morgan 2007). Wesentliche Entwicklungen in diesem Zusammenhang sind zunächst die Ausarbeitung des Pragmatismus als epistemologischer Grundlage von MM und die damit einhergehende Postulierung von MM als drittes methodologisches Paradigma in den empirischen Sozialwissenschaften (Johnson und Onwuegbuzie 2004). Der Kern der pragmatischen Auffassung besteht dabei – stark vereinfachend – darin, dass die Wahl der Forschungsmethoden im Hinblick auf die jeweilige Forschungsfrage erfolgt. In den letzten Jahren hat neben dem Pragmatismus zudem das transformative Paradigma nach Mertens (2008) an Bedeutung gewonnen (Mertens et al. 2016, S. 12–18), das auf eine Transformation gesellschaftlicher Wirklichkeit und eine Sichtbarmachung marginalisierter Positionen hin ausgerichtet ist (im Überblick Schreier 2017). Parallel wurde die Tauglichkeit des Paradigmabegriffs, wie Lincoln und Guba (1994, 2005) ihn verwenden, ganz grundsätzlich infrage gestellt. Fasst man Paradigmen mit Morgan (2007, in Anlehnung an Kuhn 1962) nicht im Sinne epistemologischer Annahmen auf, sondern im Sinne von Überzeugungen, die von Forschenden in einem bestimmten Gegenstandsbereich geteilt werden, so relativiert sich auch die Frage der (Un-)Vereinbarkeit von Paradigmen. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Greene (2007), die im Rahmen ihrer Ausarbeitung von MM den Paradigmenbegriff durch das Konzept der mental models ersetzt, die nicht nur methodologische Annahmen beinhalten, sondern unter anderem auch Werte, Praktikabilitätsüberlegungen und substanzwissenschaftliche Theorien. Allerdings ist die Diskussion über die Frage der grundsätzlichen Vereinbarkeit qualitativer und quantitativer Forschung noch keineswegs abgeschlossen. In den letzten Jahren wird wieder Kritik an einer allzu „pragmatisch“ orientierten Vernachlässigung epistemologischer Grundannahmen und damit verbundener methodologischer Stärken und Schwächen qualitativer und quantitativer Forschung laut (z. B. Bergman 2008b; Bishop 2015; Burzan 2016, Kap. 1; Kelle 2008). Erst eine gründliche Reflexion methodologischer Möglichkeiten und Grenzen, so die Argumenta-
Mixed Methods
167
tion, schaffe die Grundlage für eine Kombination von Methoden aus den beiden Paradigmen derart, dass ihre Stärken sich in fruchtbarer Weise ergänzen (s. die Diskussionen in Mey und Mruck 2014, Teil 2).
3.3
Warum überhaupt kombinieren? Funktionen von Mixed Methods
Einen weiteren Schwerpunkt in der aktuellen Diskussion um MM bildet die Frage nach der Funktion einer Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung (Bryman 2006, S. 105–107; Greene 2007, Kap. 6; Greene et al. 1989). Ihren Ursprung hat diese Diskussion im Triangulationsdiskurs bzw. in der ursprünglich angesetzten Validierungsfunktion von Triangulation, wie sie der MultitraitMultimethod-Matrix von Campbell und Fiske (1959) zugrunde liegt. Die Funktion einer Methodenkombination wurde in einer wechselseitigen Validierung der Ergebnisse gesehen, wobei die Konvergenz als Validitätskriterium angesetzt wurde (Kelle 2001). Die Interpretation der Befunde einer Triangulationsstudie hängt jedoch wesentlich davon ab, inwieweit es gelungen ist, die Methoden in der Tat so auszuwählen, dass Stärken und Schwächen einander wechselseitig kompensieren (Fielding und Fielding 1986, S. 33; Hammersley 2008). Wenn zwei Methoden vergleichbare Schwächen aufweisen, dann besagt auch eine Konvergenz der Ergebnisse wenig im Hinblick auf die valide Erfassung des Gegenstandsbereichs. In Reaktion auf diese Kritik und im Zuge der Entwicklung des Triangulationsdiskurses im Kontext von MM wurde Triangulation zunehmend auch als Anwendung mehrerer Methoden auf denselben Gegenstandsbereich verstanden, um auf diese Weise ein umfassenderes Bild des Gegenstandes zu erhalten. Dahinter steht die Annahme, dass jede Methode den Gegenstand unter einer bestimmten Perspektive ko-konstituiert (vgl. das Konzept der systematischen Perspektiventriangulation bei Flick 2011, Kap. 2.5; ähnlich auch Denzin 1989, S. 246; Kelle 2001); in der MM-Diskussion wird dieses Konzept auch unter den Begriff der Komplementaritätsfunktion gefasst (Greene 2007, Kap. 6; Jick 1979). Die Ergebnisse einer Triangulationsstudie können konvergieren, sie können sich zueinander komplementär verhalten, sie können aber auch divergieren (Hammersley 2008). Jick wies bereits 1979 darauf hin, dass eine Divergenz der Ergebnisse – die unter dem Gesichtspunkt einer Validierungsfunktion zunächst als ganz und gar nicht wünschenswert erscheint – gerade Anlass für weitergehende und ganz neue Überlegungen zum Gegenstand sein kann. In einer Untersuchung der Funktionen von MM-Studien erwies sich die bewusste Suche nach Divergenz (initiation; im Folgenden bezeichnet als: Initiierung) in der Tat auch empirisch als bedeutsam (Greene et al. 1989; für ein Beispiel auch Rossman und Wilson 1985). Konvergenz, Komplementarität und Initiierung stellen somit die wesentlichen Funktionen von MM-Studien ausgehend vom Triangulationskonzept dar. Als weitere Funktionen von MM-Studien, die nicht mit dem Triangulationsgedanken
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in Zusammenhang stehen, identifizierten Greene et al. (1989) außerdem Entwicklung (development) und Erweiterung (expansion). Ein Mixed Methods-Design mit dem Ziel der Entwicklung liegt vor, wenn eine Methode dazu dient, eine Untersuchung mittels einer anderen Methode überhaupt erst zu ermöglichen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn in einem ersten Schritt eine qualitative Studie zur Exploration des Gegenstandsbereiches durchgeführt und auf dieser Grundlage in einem zweiten Schritt ein Fragebogeninstrument mit geschlossenen Antwortmöglichkeiten konstruiert und anhand einer größeren Stichprobe hinsichtlich seiner psychometrischen Eigenschaften überprüft wird (für ein Beispiel s. Kroman und Oetzel 2003). Ein MM-Design mit dem Ziel der Erweiterung ist darüber definiert, dass die verschiedenen Design-Komponenten sich von vornherein auf unterschiedliche Bereiche im Zusammenhang mit einem Gegenstand beziehen. Dies wäre beispielsweise gegeben, wenn im Rahmen einer Evaluationsstudie quantitative Methoden eingesetzt werden, um die Ergebnisse der Implementierung eines Programms zu erfassen, und qualitative Methoden verwendet werden, um Aufschluss über den Veränderungsprozess zu erhalten (für ein Beispiel s. Greene 2007, S. 104–106). Der Unterschied zwischen MM-Designs mit dem Ziel der Komplementarität und der Erweiterung besteht darin, dass die Methoden beim Komplementaritätsdesign zur Erfassung unterschiedlicher Aspekte desselben Gegenstands eingesetzt werden, beim Erweiterungsdesign dagegen zur Erfassung unterschiedlicher Gegenstände, die jedoch eng miteinander verknüpft sind. Die von Greene et al. (1989) identifizierten fünf Funktionen (Validierung, Komplementarität, Initiierung, Entwicklung und Erweiterung) gelten heute als verbindliche Typologie der Funktionen von MM-Designs in verschiedenen Disziplinen. In der weiteren Diskussion wird diese Typologie in zweifacher Hinsicht ergänzt: erstens um disziplinspezifische Formulierungen der Funktionen von MM (für die Soziologie: Kelle 2008, Kap. 10) sowie zweitens um differenziertere empirische Kategorisierungen von Funktionen (z. B. Bryman 2006). Brymans empirische Analyse der Funktionen von MM-Designs zeigt im Übrigen, dass die Zielsetzung einer Methodenkombination zu Beginn der Untersuchung und die tatsächlich realisierte Funktion nicht notwendig identisch sein müssen; durch Methodenkombination gewonnene Daten werden also vielfach anders genutzt als zunächst intendiert. Die Differenzierung verschiedener Funktionen von MM-Studien ist nicht nur in der methodologischen Diskussion, sondern auch ganz forschungspraktisch bedeutsam. Die Identifikation der Gründe, sich nicht auf das Methodeninventar nur der qualitativen oder nur der quantitativen Forschung zu beschränken, sondern Methoden aus den beiden Traditionen zu kombinieren, bildet den Ausgangspunkt für die Generierung von Forschungsfragen und die Auswahl eines geeigneten Designs (Creswell 2015, Kap. 2). Weiterhin hat eine Analyse von MM-Studien zur Thematik von Kindheitstraumata ergeben, dass solche Untersuchungen, in denen die Autor/ innen eingangs ihre Verwendung von MM unter expliziter Benennung von Funktionen begründeten, im Verlauf auch häufiger eine Integration ihrer qualitativen und quantitativen Daten vornahmen und dem Grundgedanken der MM-Forschung somit besser gerecht wurden (Boeije et al. 2013).
Mixed Methods
3.4
169
Klassifikationsdimensionen für Mixed Method-Designs
Insbesondere in der US-amerikanischen MM-Diskussion liegt ein Schwerpunkt auf der Entwicklung von Designs und Design-Typologien. Dabei ist die Vielfalt verschiedener MM-Designs inzwischen kaum mehr überschaubar: Verschiedene Autor/ innen schlagen je unterschiedliche Typologien vor (z. B. Creswell, 2015; Creswell und Plano Clark 2017; Greene 2007; Morgan 2014; Morse 2003; Nastasi et al. 2010; Teddlie und Tashakkori 2009), die nur mehr schwer zu integrieren sind. Einzelne Autorinnen und Autoren entwickeln ihre Typologien über die Zeit hinweg weiter: So unterscheiden Creswell und Plano Clark in der ersten Ausgabe ihres Lehrbuchs zu Mixed Methods im Jahr 2007 vier Basisformen von MM-Designs. In der zweiten Ausgabe von 2011 kommen zwei weitere Basisformen hinzu, und in seinem neuesten Lehrbuch von 2015 führt Creswell zwar ebenfalls sechs Varianten von MMDesigns auf, die nun aber in Basis-Designs und erweiterte Designs unterteilt und z. T. unterschiedlich benannt sind; beispielsweise wird das Embedded Design aus 2011 in 2015 zum Intervention Design und das Transformative Design zum Social Justice Design (s. ausführlich Abschn. 3.5 s. auch die dritte Auflage des Lehrbuchs von Creswell und Plano Clark aus 2017). Auch werden die Typologien zunehmend komplexer, etwa durch Einbeziehung verschiedener Designphasen (Powell et al. 2008) oder Berücksichtigung der transformativen Perspektive nach Mertens (2008; s. auch Creswell und Plano Clark 2011). Designtypologien werden daher in der Literatur z. T. auch kritisch gesehen (Bergman 2008b; Bryman 2006; Guest 2013; Kelle 2008; Maxwell und Loomis 2003; Schoonenbaum und Johnson 2018). Es sollen daher hier nicht die verschiedenen Typologien dargestellt werden, sondern es soll lediglich ein Überblick über die zentralen Kriterien gegeben werden, die der Erstellung der Typologien zugrunde liegen (s. auch Greene 2007, Kap. 7; Schoonenbaum und Johnson 2018); weiterhin wird im folgenden Abschnitt eine Typologie zur Veranschaulichung genauer dargestellt, nämlich die Typologie von Creswell und Plano Clark in der Version von 2011. Zu den ersten Kriterien, die für die Differenzierung von MM-Designs nutzbar gemacht wurden, zählen die Funktion der Methodenkombination (nach Greene et al. 1989; wie oben dargestellt) und die Untersuchungsphase (Design, Datenerhebung, Datenauswertung: Patton 1990). Kurz darauf entwickelte Morse (1991) eine erste Design-Typologie, basierend auf den Kriterien der Reihenfolge, in der die Methoden implementiert werden (gleichzeitig: bezeichnet als parallele, concurrent oder auch Triangulation Designs; nacheinander, mit qualitativen gefolgt von quantitativen Methoden; nacheinander, mit quantitativen gefolgt von qualitativen Methoden: bezeichnet als sequenzielle Designs) und des Gewichts, mit dem der qualitative und der quantitative Ansatz in das Design eingehen (gleichgewichtig; Dominanz des qualitativen Ansatzes; Dominanz des quantitativen Ansatzes). Das Kriterium der Reihenfolge bzw. des wechselseitigen Bezugs wurde in der Folge noch weiter ausdifferenziert, etwa dahingehend, ob eine oder mehrere aufeinander bezogene Untersuchungen realisiert werden (z. B. Unterscheidung zwischen component und integrated designs: Greene 2007; Unterscheidung zwischen monostrand und multistrand-Designs: Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 7) und in welcher Beziehung die Untersuchungselemente zueinander
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M. Schreier und Ö. Odağ
stehen (z. B. Berücksichtigung von iterativen und eingebetteten Designs: Sandelowski 2000). Weitere Kriterien umfassen die Art und Weise der Kombination (z. B. merging, embedding, connecting: Creswell und Plano Clark 2011), das Vorhandensein einer ideologischen Perspektive als Rahmenkonzeption (Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 7) sowie, speziell innerhalb sequenzieller Designs, die Funktion der vergleichsweise unwichtigeren Forschungstradition (Morgan 2014: als Grundlage für die folgende Untersuchung oder als Follow-up zu der vorausgehenden Untersuchung).
3.5
Mixed Method-Design-Typologien: Ein Beispiel
In Reaktion auf die zunehmende Unübersichtlichkeit der Kriterien und resultierenden Typologien greifen Creswell und Plano Clark (2011) sechs Designs heraus, die sie als Grundformen von MM-Designs bezeichnen und (mit Varianten) genauer beschreiben: das Triangulations-, das eingebettete (embedded), das sequenziell-erklärende (explanatory), das sequenziell-erkundende (exploratory), das transformative (transformative) und das mehrphasige (multiphase) Design. Das Triangulationsdesign ist durch die Erhebung qualitativer und quantitativer Daten mit dem Ziel charakterisiert, so zu einem umfassenderen Bild des Gegenstands zu gelangen (s. oben Abschn. 3.3). Triangulationsstudien haben in der Psychologie eine lange Tradition. Der Befund von Sherif et al. (1961), dass Vorurteile zwischen Gruppen sich in erster Linie durch Kontakt reduzieren lassen, bei dem die Mitglieder der beiden Gruppen übergeordnete, gemeinsame Ziele verfolgen, basiert auf einem Triangulationsdesign: Im Rahmen der „Robbers’ Cave“-Studien erhoben Sherif et al. innerhalb eines experimentellen Designs sowohl qualitative (insbesondere durch teilnehmende Beobachtung) als auch quantitative Daten (Ratings der Beobachter/innen, Häufigkeitsauszählungen ausgewählter Aktivitäten usw.), die gemeinsam in die Auswertung eingingen. Beim eingebetteten Design dominiert der qualitative oder der quantitative Forschungsansatz; Daten aus dem jeweils anderen Paradigma werden lediglich ergänzend und zur Beantwortung einer zusätzlichen Fragestellung erhoben. Im Rahmen einer qualitativen Studie zur Exploration und Beschreibung der Reaktionen in Therapiegesprächen von Therapeut/innen in Ausbildung, Klient/innen und Supervisor/innen wurden beispielsweise ergänzend quantitative Prä- und PostDaten erhoben, um (unter anderem) etwaige Veränderungen der Ängstlichkeit der Auszubildenden und ihrer Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu erfassen (Williams et al. 1997). Die Auswertung der Daten erfolgte getrennt; eine Zusammenführung fand erst im Rahmen der Interpretation statt. Das eingebettete Design ist in der Forschungspraxis deutlich seltener als die anderen Designtypen. Das sequenziell-explanative ist ein zweiphasiges Design, bei dem im ersten Schritt eine quantitative, im zweiten Schritt eine qualitative Untersuchungskomponente realisiert wird, und zwar mit dem Ziel, ausgewählte Aspekte der quantitativen Befunde mittels qualitativer Methoden differenzierter zu erfassen. Creswell und Plano Clark (2007) verweisen als Beispiel auf eine Studie von Way et al. (1994) zur Relation von Drogenkonsum und Depression bei Jugendlichen an innerstädti-
Mixed Methods
171
schen und Vorort-Schulen. Eine erste quantitative Fragebogenstudie ergab, dass ein (positiver) Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Depression nur an vorstädtischen, nicht dagegen an innerstädtischen Schulen nachgewiesen werden konnte. Daraufhin wurden in einem zweiten Schritt Leitfadeninterviews mit den Schüler/innen mit den höchsten Depressions-Scores durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Die qualitative Studie ergab unter anderem, dass Drogen von den Jugendlichen in den vorstädtischen Gebieten häufiger als Möglichkeit zur Flucht vor den Problemen wahrgenommen wurde, von den Jugendlichen im innerstädtischen Bereich dagegen häufiger als Ursache solcher Probleme. Auch das sequenziell-explorative Design ist zweiphasig aufgebaut, wobei die qualitative der quantitativen Phase vorausgeht. Dieses Design steht in Übereinstimmung mit der „Hilfsfunktion“, die der qualitativen Forschung innerhalb des quantitativen Mainstream bestenfalls zugebilligt wird. Entsprechend findet sich dieses Design in der quantitativ orientierten Psychologie vergleichsweise häufig, beispielsweise bei der Entwicklung von Fragebogeninstrumenten. Creswell und Plano Clark (2011) führen zur Veranschaulichung des explorativen Designs eine Studie von Kroman und Oetzel (2003) an, in der zunächst 13 Interviews mit Angehörigen unterschiedlicher Institutionen zum Thema der Assimilation in Organisationen durchgeführt wurden. Die Interviews ergaben sechs Dimensionen, für die im nächsten Schritt 61 Items konstruiert wurden. Das Instrument wurde anschließend in einer Fragebogenstudie, in Kombination mit drei weiteren Instrumenten, anhand einer umfangreichen Stichprobe von knapp 350 Personen validiert. Das transformative Design ist wesentlich durch eine emanzipatorische Perspektive gekennzeichnet (Mertens 2008; Patton 2015): Die Forscher/innen nehmen gegenüber dem Gegenstandsbereich dezidiert eine wertende Perspektive ein, machen diese Wertungen explizit und beziehen sie in ihre methodologischen Entscheidungen mit ein. Partizipative Forschung, feministische Forschung oder Forschung in der Tradition der Disability Studies stellen Beispiele transformativer Forschung im Sinne von Mertens dar. Ein Beispiel für eine MM-Untersuchung unter Anwendung eines transformativen Designs ist die Studie von Ungar und Liebenberg (2011), in der sie in einer Aufeinanderfolge von zwei Untersuchungssträngen einen Fragebogen zur Erfassung von Resilienz bei Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Kulturen unter Einbeziehung sowohl emischer als auch etischer Anteile entwickeln. Die transformative Herangehensweise ergibt sich dabei aus der konsequenten Umsetzung einer Perspektive der Offenheit und Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Kulturen sowie der Einbeziehung der Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen selbst. Die erste Phase des Projekts ist qualitativ angelegt, dient der differenzierten Erfassung der Perspektiven der Kinder und Jugendlichen und der Entwicklung eines Fragebogens. In der zweiten Phase wird der Fragebogen einer quantitativen (Fragebogenitems mit numerischen Skalen) und einer parallel realisierten qualitativen Testung (Fokusgruppen) unterzogen. Bei Mehrphasen-Designs schließlich handelt es sich um die komplexeste Variante von MM-Designs, in denen mehr als zwei aufeinander aufbauende Untersuchungsphasen realisiert werden, beispielsweise im Rahmen von Evaluationsstudien. Als Beispiel verweisen Creswell und Plano Clark (2011) hier auf eine hochkomplexe
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Studie von Nastasi et al. (2007) mit dem – transformativ orientierten – Ziel der Entwicklung kulturangemessener und evidenzbasierter Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit von Schulkindern in Sri Lanka. Das Gesamtprojekt gliedert sich in mehrere rein qualitative, rein quantitative und gemischte Phasen, die teils sequenziell aufeinander aufbauen, teils iterativ miteinander verbunden sind. Die Beschreibung der Beispielstudien zeigt zugleich, dass die konkrete Vielfalt an MM-Realisationen die Design-Typologien an Komplexität bei weitem übersteigt. So wird in dem oben beschriebenen transformativen Design von Ungar und Liebenberg (2011) zugleich ein sequenziell-exploratives Design realisiert. Weiterhin findet innerhalb der zweiten Untersuchungsphase außerdem eine parallele Erhebung qualitativer und quantitativer Daten statt. Das Design verbindet somit sequenzielle mit parallelen Elementen. Solche komplexen Studien lenken also den Blick darauf, dass eine Kombination qualitativer und quantitativer Methodenelemente nicht nur zwischen Untersuchungssträngen möglich ist, sondern auch innerhalb eines Untersuchungsstrangs. Vor diesem Hintergrund schlägt Guest (2013) vor, MM-Studien nicht nur im Hinblick auf die Gesamtanlage zu beschreiben, sondern jeden methodischen Schritt – Forschungsfrage, Sampling bzw. Fallauswahl, Datenerhebung und -auswertung – unter Berücksichtigung der Kombination von Elementen der qualitativen und der quantitativen Forschungstradition differenziert darzustellen (ähnlich auch Maxwell und Loomis 2003).
3.6
Neuere Entwicklungen in der Mixed Methods-Forschung
Die Mixed Methods-Diskussion der vergangenen Jahre war in erster Linie von Fragen der Definition von MM, einer Diskussion des Paradigmenbegriffs und dessen Bezug zur MM-Forschungspraxis sowie der Entwicklung von MM-Designs bestimmt (Creswell 2009). In Übereinstimmung mit der Forderung nach einer differenzierteren Beschreibung der verschiedenen Untersuchungsphasen zeigt sich in der neueren Literatur nun ein vermehrtes Interesse an deren methodologischer Ausarbeitung, wie etwa Stichprobenziehung bzw. Fallauswahl (Collins 2010; Teddlie und Yu 2007), Datenerhebung und -auswertung (dazu u. a. die entsprechenden Kapitel in Creswell und Plano Clark 2017; Greene 2007; Teddlie und Tashakkori 2009) und Beurteilung der Güte von MM-Studien (Hayvaert et al 2013; O’Cathain 2010; Plano Clark et al. 2010; Tashakkori und Teddlie 2008). Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Integration der Ergebnisse im Rahmen der Auswertung zu, was sich nicht zuletzt aus der konstitutiven Rolle der Integration der qualitativen und quantitativen Daten für die Definition von Mixed Methods herleitet. Zugleich findet diese hohe Bedeutung der Integration in der MM-Forschung bisher zu wenig Berücksichtigung (für Ausnahmen s. Bazeley 2018; Kuckartz 2017), gehen doch nur vergleichsweise wenige Studien über die parallele Darstellung der Ergebnisse quantitativer und qualitativer Forschungsphasen hinaus (z. B. die Kritik in Boeije et al. 2013; Sparkes 2015). Plano Clark et al. (2010) schlagen beispielsweise drei Strategien der Ergebnisdarstellung vor, die sukzessive ein Mehr an Ergebnisintegration erfordern: die narrative Integration im
Mixed Methods
173
Rahmen der Ergebnisdarstellung, die gemeinsame Darstellung quantitativer und qualitativer Ergebnisse in einer Matrix, Tabelle oder Abbildung, und schließlich die gemeinsame Auswertung, entweder mit vorausgehender Quantifizierung qualitativer Daten oder mit vorheriger „Qualifizierung“ quantitativer Daten (Bazeley und Kemp 2012; Kuckartz 2014, Kap. 4; Onwuegbuzie und Combs 2010). In diesem Zusammenhang kommt Software zur Auswertung qualitativer Daten eine wichtige Rolle zu, die bei der Suche nach Schnittbereichen zwischen den qualitativen und den quantitativen Daten hilfreich sein kann (Bazeley 2010; Creswell und Plano Clark 2011, S. 243–247; Kuckartz 2014, Kap. 4; s. auch das Konzept der emergent methods: z. B. Nagy Hesse-Biber und Leavy 2010). Einige qualitativ Forschende haben sich ganz grundsätzlich kritisch zu MM geäußert, weil sie die MM-Forschung nicht als gleichberechtigte Kombination qualitativer und quantitativer Forschungstraditionen sehen, sondern MM letztlich als quantitativ dominiert wahrnehmen (z. B. Giddings 2006; Morse und Cheek 2014; Schreier 2017; Abschn. 3). Als Reaktion auf diese Kritik fordern beispielsweise Morse und Cheek (2014) eine qualitativ orientierte („qualitatively driven“) MM-Forschung. Andere Autorinnen und Autoren haben damit begonnen, methodologische Anknüpfungspunkte ausgewählter qualitativer Designs und Forschungstraditionen für MM-Studien herauszuarbeiten, beispielsweise für die GroundedTheory-Methodologie (Johnson et al. 2010) oder für die Phänomenologie (Mayoh und Onwuegbuzie 2015). Weitere aktuelle Themen umfassen eine vermehrte Beschäftigung mit den Stärken und Schwächen von MM (Johnson et al. 2007), mit der Relation von MM und etablierten Designs, in denen die Anwendung mehrerer Methoden vorgesehen ist (wie Ethnografie oder Fallstudie: Creswell 2009) sowie mit der Frage, ob MMDesigns disziplinübergreifend anzusetzen sind oder vielmehr die Entwicklung je disziplinspezifischer MM-Varianten erforderlich ist (Creswell 2009; Tashakkori und Cressfield 2008; für die Psychologie: von der Lippe et al. 2011b).
4
Entwicklungen von Mixed Methods in der Psychologie
4.1
Mixed Methods-Designs in der Psychologie
Während die Psychologie sich zunächst im Vergleich zu den anderen Sozialwissenschaften nur zögerlich für MM öffnete, finden sich inzwischen vermehrt Forderungen nach einer Nutzung des Potenzials von MM-Studien für ein holistischeres und deren Komplexität angemesseneres Verständnis verschiedener psychologischer Gegenstandsbereiche (u. a. Bartholomew und Brown 2012; Dattilio et al. 2010; Eubanks Gambrel und Butler VI 2013; Fine und Elsbach 2000; Gelo et al. 2008; Harkness et al. 2006; Haverkamp et al. 2005; Kral et al. 2012; McCrudden et al. 2019; Yoshikawa et al. 2008). Für eine vermehrte Öffnung der Psychologie für das Potenzial von MM spricht auch die zunehmende Anzahl von Reviews zur Nutzung von MM in verschiedenen Teilbereichen der Psychologie (s. Abschn. 2).
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Eine Studie zu Einstellungen von Psychologinnen und Psychologen an einer amerikanischen Universität zeigt jedoch, dass die Haltung einer grundsätzlichen Akzeptanz von MM in der psychologischen Forschung für bestimmte Forschungsfragen weiterhin mit einer gewissen Skepsis gegenüber den qualitativen Forschungsanteilen und deren Abwertung im Vergleich zu den quantitativen Komponenten einhergeht (Povee und Roberts 2015; ähnlich auch Wiggings 2011). In ihrem Überblicksbeitrag zu MM-Studien in der Psychologie gelangen Waszak und Sines (2003) ebenfalls zu dem Schluss, dass die Nutzung von MM in der Psychologie letztlich quantitativ geprägt sei. Sie identifizieren zwei dominierende Untersuchungsanlagen: experimentelle Untersuchungen unter Verwendung qualitativer oder einer Kombination qualitativer und quantitativer Daten (wie beispielsweise in der Triangulationsstudie von Sherif et al. 1961; s. Abschn. 3.5) sowie inhaltsanalytische Untersuchungen, bei denen qualitative Daten im Anschluss an die inhaltsanalytische Auswertung durch Häufigkeitsbestimmungen quantifiziert werden, woran sich ggf. weitere (inferenz-) statistische Auswertungsschritte anschließen (vgl. etwa die Untersuchungsbeispiele zu MM in Mayring et al. 2007; s. auch Huber 2007; Schweizer et al. 2007). In beiden Fällen handelt es sich um Designs, in denen der quantitative Ansatz dominiert, die qualitativen den quantitativen Elementen untergeordnet sind. Zu vergleichbaren Schlussfolgerungen gelangen auch Powell et al. (2008) in ihrer empirischen Analyse von MM-Studien in der Schulpsychologie aus den Jahren 2001 bis 2005. Mehr als 75 % der Studien waren so angelegt, dass ein Forschungsansatz dominierte, und dies war – bis auf zwei Ausnahmen – der quantitative Ansatz (ähnlich auch Cameron und Molina-Azorin 2011 für einen Teilbereich der Organisationspsychologie). Creswell und Zhang (2009) berichten in ihrem Review über die Nutzung von MM in der Traumaforschung dagegen, dass hier das explanativsequenzielle Design am häufigsten Verwendung findet, ohne dass damit jedoch eine Dominanz des quantitativen Paradigmas verbunden wäre. Ein noch differenzierteres Bild ergibt sich für die kulturvergleichende Psychologie: Hier kommen unterschiedlichste Designs zur Anwendung, ohne dass dabei das quantitative Element dominieren würde (Bartholomew und Brown 2012). In der MM-Forschung, die eine Nutzung des phänomenologischen Ansatzes beinhaltet, zeigt sich sogar eine tendenzielle Dominanz des qualitativen Paradigmas (Mayoh und Onwuegbuzie 2015). Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Psychologie sich über die letzten Jahre hinweg zunehmend mehr für MM geöffnet hat, wobei der Grad der Integration des qualitativen Paradigmas und die Art der verwendeten Designs zwischen den verschiedenen Teilbereichen psychologischer Forschung teils erheblich variieren (für weitere Reviews zur Nutzung von MM in der psychologischen Forschung s. z. B. Bartholomew und Lockhard 2018 für die Psychotherapieforschung; Huynh et al. 2018 für Forschung zu Achtsamkeit). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Bezeichnung „MM“ vergleichsweise neuen Datums ist, während die forschungspraktische Methodenkombination schon seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts realisiert wird (s. Abschn. 2). In der Tat zeigt ein genauerer Blick auf die psychologische Forschungspraxis jenseits des Mainstreams, sowohl innerhalb als auch außerhalb der MM-Diskussion, eine erstaunliche Vielfalt an Varianten der Methodenkombination. Hierzu zählen unter anderem (und ohne Anspruch
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auf Vollständigkeit): das Forschungsprogramm Subjektive Theorien, das in einer ersten qualitativen Phase die Erhebung und Rekonstruktion Subjektiver Theorien und in einer zweiten quantitativen Phase deren Geltungsprüfung vorsieht (Groeben et al. 1988); die numerologisch gestützte Phänomenologie (numerically aided phenomenology) als Verfahren der systematischen Beschreibung und (clusteranalytischen) Klassifikation von Erfahrungskategorien in Erzählungen (Kuiken und Miall 2001); knowledge tracking, ein Netzwerk-Verfahren zur qualitativen Erhebung kognitiver Strukturen, die zunächst in eine quantitative Form überführt und analysiert werden, woran sich die erneute Übersetzung des „besten“ Modells in eine qualitative Form anschließen kann (Janetzko 2001); Q-Methodologie zur Erfassung sozialer Repräsentationen, wobei ein Set von (qualitativen) Stimuli zunächst einer sog. Q-Sort-Prozedur und die resultierenden Sortierungen anschließend einer Faktorenanalyse (über die Untersuchungsteilnehmenden hinweg) unterzogen werden (Brown 1993; für ein Forschungsbeispiel s. Franz et al. 2013). Es werden in der Psychologie also durchaus MM-Designs entwickelt (s. auch von der Lippe et al. 2011b). Diese Entwicklung findet allerdings partiell außerhalb der MM-Diskussion statt, die Autorinnen und Autoren verwenden nicht notwendig auch die MM-Terminologie (s. auch Boeije et al. 2013), und die Verfahren lassen sich teilweise nur schwer in die existierenden Design-Typologien einordnen.
4.2
Mixed Methods-Untersuchungen in der Psychologie: Untersuchungsbeispiel
Der Eindruck, dass die gegenwärtige MM-Diskussion in den empirischen Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die MM-Forschungspraxis in der Psychologie im Besonderen partiell unverbunden nebeneinander verlaufen, bestätigt sich auch bei einer genaueren Betrachtung psychologischer Untersuchungen, in denen eine Methodenkombination stattfindet. Dabei können wir im Folgenden aus Platzgründen lediglich eine Untersuchung beispielhaft herausgreifen. Tolman und Szalacha (1999; s. auch den Hinweis in Waszak und Sines 2003) gingen in ihrer Studie der Frage nach, wie heranwachsende Mädchen sexuelles Begehren erfahren und beschreiben. Die Stichprobe war mit N=30 von vornherein so angelegt, dass eine differenzierte Beschreibung der einzelnen Fälle, aber auch eine Anwendung inferenzstatistischer Verfahren möglich war; sie umfasste je 15 Mädchen aus innerstädtischen und aus vorstädtischen Gebieten. Die Datenerhebung erfolgte mittels Leitfadeninterview. Daran schloss sich, in Übereinstimmung mit der Forschungsfrage, zunächst eine erste Phase der narrativen Auswertung sowie die Erstellung einer Matrix zum Vergleich der Mädchen aus den beiden Einzugsgebieten an. Dieser erste Auswertungsschritt ergab, neben einigen Übereinstimmungen, auch Unterschiede zwischen den Sub-Stichproben. Insbesondere stellten Mädchen aus städtischen Gebieten ihr Empfinden von Begehren eher in einen Zusammenhang mit Verletzlichkeit, während Mädchen aus den Vorstädten ihr Begehren eher als eindeutig positiv empfanden. Auf der Grundlage dieses Befundes generierten die Autorinnen neue Forschungsfragen nach der Größe des Unterschieds zwischen den Erfahrungen der Mädchen aus den beiden Einzugsgebieten sowie nach
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der Rolle von Erfahrungen mit sexueller Gewalt für das Empfinden von Begehren. Als Vorstufe für einen zweiten quantitativen Auswertungsschritt wurden die Erzählungen der Mädchen zunächst inhaltsanalytisch ausgewertet, insbesondere dahingehend, ob in den Erzählungen ein positives Erleben oder ein Erleben von Verletzlichkeit dominierte. Chi Quadrat-Analysen ergaben, dass Verletzlichkeit in den Erzählungen der Mädchen aus den vorstädtischen Gebieten ebenso häufig thematisch war wie in den Erzählungen der Mädchen aus den Innenstädten; allerdings handelten die Erzählungen der Mädchen aus den Vorstädten signifikant häufiger von Begehren als einem positiven Gefühl. Unter Einbeziehung von Erfahrungen mit sexueller Gewalt ließ sich dieses Ergebnis noch ausdifferenzieren: Mädchen aus den Vorstädten, die keinerlei Erfahrungen mit sexueller Gewalt hatten, empfanden ihr Begehren signifikant häufiger als positiv im Vergleich zu Mädchen aus beiden Einzugsgebieten, die bereits sexuelle Gewalt erfahren hatten. Daran schloss sich im dritten Schritt die Frage an, wie Mädchen mit und ohne Erfahrungen mit sexueller Gewalt in ihren Begehrens-Erzählungen speziell über ihre Körper sprachen. In Analogie zum ersten Auswertungsschritt wurde wiederum eine narrative Analyse mit anschließender Erstellung einer vergleichenden Matrix durchgeführt. Dieser dritte Auswertungsschritt ergab, dass Mädchen aus den Vorstädten ohne Gewalterfahrungen ihr Begehren als ein Empfinden beschrieben, in dem körperliche und emotionale Aspekte integriert waren. Für die anderen Mädchen – insbesondere Mädchen aus innerstädtischen Gebieten mit Gewalterfahrung – war mit dem Begehren dagegen eine Dissoziation von Körper und Emotionen verbunden. Komplexe MM-Designs sind ebenfalls in den Untersuchungen von Odağ (2007) zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den Leseerfahrungen von Männern und Frauen sowie in der Studie von Phinney und Devich-Navarro (1997) zu Mustern bikultureller Identifikation bei Jugendlichen afro- und mexikanisch-amerikanischer Ethnien realisiert. Eine Vielzahl weiterer Beispiele findet sich in den oben genannten Reviews zur Nutzung von MM in Teilbereichen der Psychologie (s. insbesondere Bartholomew und Brown 2012; Zhang und Watanabe-Galloway 2014; sowie die Beiträge in von der Lippe et al. 2011a).
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Entwicklung von MM in den vergangenen Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, die „Gräben“ zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung zu überwinden. Es werden wieder häufiger qualitative und quantitative Elemente kombiniert, wie dies zu Beginn der Entwicklung der empirischen Sozialforschung bereits der Fall war. Dies trägt zugleich auch zu einer Stärkung qualitativer Forschung in Relation zum quantitativen Mainstream bei. Zwar ist die gegenwärtige MMLiteratur stark von einer Vielzahl an Systematisierungen geprägt, insbesondere von Design-Typologien, die angesichts der früheren Selbstverständlichkeit der Kombination qualitativer und quantitativer Elemente überzogen anmuten kann. Dennoch haben solche Systematisierungen gerade für Nachwuchs-Wissenschaftler/innen eine
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wichtige Funktion, indem sie Kombinationsmöglichkeiten aufzeigen und somit eventuell auch anregen. Auch für die Psychologie ist über die letzten zwanzig Jahre hinweg eine vermehrte Nutzung von MM zu verzeichnen, die jedoch zwischen den Teildisziplinen der Psychologie erheblich variiert und z. T. auch ohne explizite Verwendung der MM-Terminologie erfolgt. Der Erfolg von MM wird jedoch nicht durchgängig positiv gesehen (im Überblick Schreier 2017; Abschn. 3.2). Ein Kritikpunkt, der insbesondere die „pragmatische“ Variante der MM betrifft, wurde oben bereits angesprochen: dass in der gegenwärtigen MM-Forschung Methoden z. T. kombiniert werden, ohne deren jeweilige epistemologische und methodologische Grundlagen hinreichend zu berücksichtigen (Kelle 2008; Shank 2007). Auch kann die Beschäftigung mit MM paradoxerweise dazu führen, Unterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Forschung gerade zu akzentuieren, anstatt die Durchlässigkeiten und fließenden Übergänge zwischen den Ansätzen herauszuarbeiten (Bergman 2008b; Madill und Gough 2008). Speziell aus qualitativer Perspektive wird weiterhin die Gefahr gesehen, dass MM der Entwicklung der qualitativen Forschung auf Dauer eher schaden könnte: Im Rahmen von MM wird sie zwar für den Mainstream akzeptabel, aber eben nur in Kombination mit Elementen eines quantitativen Ansatzes. Dies gilt umso mehr angesichts der Kritik an einer postpositivistisch und letztlich quantitativ dominierten Entwicklung von MM (Giddings 2006). Shank (2007) argumentiert daher beispielsweise, dass die Funktionen, wie sie vielfach für MM-Studien angesetzt werden, ebenso gut oder sogar besser durch eine Kombination mehrerer qualitativer Methoden erfüllt werden. Andere Autorinnen und Autoren fordern eine vermehrte Berücksichtigung der qualitativen Komponente bei der Implementierung von MM (vgl. Hesse-Biber et al. 2015; Mason 2006; Morse und Cheek 2014). Dieser Forderung wird vereinzelt durch die Rekonstruktion von Anknüpfungspunkten für MM im Rahmen qualitativer Ansätze wie der Phänomenologie (z. B. Mayoh und Onwuegbuzie 2015) sowie durch die zunehmende Berücksichtigung des transformativen Paradigmas und der Betonung der sozialen Verantwortung der MM-Forschung auch bereits Rechnung getragen (Mertens et al. 2016, S. 12–18). Was die Entwicklung von MM speziell in der Psychologie betrifft, so weisen u. a. von der Lippe et al. (2011b; s. auch Todd und Nerlich 2004) darauf hin, dass MM eben die Anwendung von Elementen quantitativer und qualitativer Forschung beinhaltet und somit auch Kenntnisse in beiden Forschungsansätzen voraussetzt. Während Studierende der Psychologie sowohl international als auch national in erster Linie Kenntnisse in quantitativer Methodenlehre erwerben, werden Kenntnisse in qualitativer Methodenlehre – vor allem in der deutschsprachigen Psychologie – heute, nach der Umstellung der Diplom- auf B.Sc.- und Master-Studiengänge, kaum noch vermittelt (s. Mey 2008). Mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses an deutschen Universitäten und Hochschulen sind für die weitere Entwicklung von MM in der deutschsprachigen Psychologie somit schlechte Zeiten angebrochen: Wer qualitative Forschung nicht kennt, kann sie auch nicht mit Elementen quantitativer Forschung verbinden.
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Triangulation Uwe Flick
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktuelle Diskussionen: Triangulation und Mixed Methods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiel der Triangulation in der qualitativer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 189 193 196 196 197
Zusammenfassung
Die Triangulation von Methoden, Theorien, Daten und Forschenden wird in ihrer Geschichte, den maßgeblichen Diskussionen und Ansätzen vorgestellt. Dabei werden Kombinationen von Methoden, aber auch die Triangulation innerhalb einer Methode am Beispiel des episodischen Interviews behandelt. Triangulation wird dabei den Ansätzen der Mixed Methods-Forschung bei der Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden gegenüber gestellt. Mit der systematischen Perspektiven-Triangulation wird ein Weg der Verknüpfung von Triangulation und Mixed Methods skizziert. Abschließend wird ein Beispiel der Triangulation innerhalb der qualitativen Forschung dargestellt. Schlüsselwörter
Triangulation · Mixed Methods · Episodisches Interview · Systematische · Perspektiven · Triangulation qualitativer Methoden
U. Flick (*) Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Qualitative Sozial- und Bildungsforschung, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: uwe.fl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_23
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186
U. Flick
1
Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung
1.1
Methodenpluralismus in der Geschichte der Psychologie
Bei einem Blick zurück in die Geschichte der qualitativen Forschung zeigt sich, dass viele heute als klassische qualitative Studien geltende Untersuchungen zwar nicht mit dem Begriff der Triangulation gearbeitet haben, jedoch nach den heute damit verbundenen Prinzipien und Arbeitsweisen vorgegangen sind. Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ der Sozialpsychologin Marie Jahoda zusammen mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1980 [1933]; Jahoda 1995) richtete sich auf die psychische Verarbeitung der Arbeitslosigkeit in einem Dorf in den späten 1920er-Jahren nach dem Zusammenbruch des Hauptarbeitgebers in der Region. Ergebnis waren die Herausarbeitung der Leitformel einer „müden Gemeinschaft“ als verdichtete Charakterisierung des Lebensgefühls und der alltäglichen Handlungsabläufe in dem Dorf sowie verschiedener Haltungstypen als Reaktion auf die Arbeitslosigkeit (z. B. die „Ungebrochenen“, die „Resignierten“, die „Verzweifelten“ und die „Apathischen“). Das methodische Vorgehen, das zu diesen Erkenntnissen geführt hat, wurde von Jahoda (1995, S. 121) in folgenden Regeln zusammengefasst: 1. Zur Erfassung der sozialen Wirklichkeit waren qualitative und quantitative Methoden angezeigt. 2. Objektive Tatbestände und subjektive Einstellungen sollten erhoben werden. 3. Gegenwärtige Beobachtungen sollten durch historisches Material ergänzt werden. 4. Unauffällige Beobachtungen des spontanen Lebens und direkte, geplante Befragungen sollten angewendet werden. In diesen Prinzipien zeigt sich einerseits die Verknüpfung von unterschiedlichen methodischen Zugängen (qualitativ, quantitativ, Befragung und Beobachtung), andererseits von verschiedenen methodischen Perspektiven (objektive Tatbestände, subjektive Einstellungen, Gegenwärtiges und Historisches). In der Beschreibung der Studie (Jahoda et al. 1980 [1933], S. 26–27) wurden als erhobene Daten angeführt: Katasterblätter über knapp 500 Familien, Lebensgeschichten, Zeitverwendungsbögen, Protokolle, Schulaufsätze, unterschiedliche statistische Daten, historische Angaben zum Dorf und seinen Institutionen etc. Lazarsfeld (1960) hat für diese Studie zumindest die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Daten und Vorgehensweisen zum Prinzip erhoben: „Wir konnten uns nicht damit begnügen, Verhaltenseinheiten einfach zu ‚zählen‘; unser Ehrgeiz war es, komplexe Erlebniswelten empirisch zu erfassen. Der oft behauptete Widerspruch zwischen ‚Statistik‘ und phänomenologischer Reichhaltigkeit war sozusagen von Anbeginn unser Arbeiten ‚aufgehoben‘, weil gerade die Synthese der beiden Ansatzpunkte uns als die eigentliche Aufgabe erschien.“ (Lazarsfeld 1960, S. 14)
Triangulation
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Bei der Analyse wurden „drei Paare von Daten“ verwendet: „natürliche Quellen“ (Bibliotheksstatistiken) und Daten, die zu Forschungszwecken (Zeitverwendungsblätter) erhoben wurden; „objektive Indikatoren“ (z. B. Gesundheitsstatistiken) und „subjektive Äußerungen“ (Interviews); sowie „Statistik und einfühlende Beschreibung von Einzelfällen“ (Lazarsfeld 1960, S. 15). In eine ähnliche Richtung wie Jahoda und Lazarsfeld argumentierte Thomae Ende der 1950er-Jahre für die Kombination verschiedener Methoden in der Entwicklungspsychologie: „Als Regel entwicklungspsychologischer Forschung darf heute gelten, daß man keine Aussage auf eine einzige Methode allein gründen soll“ (Thomae 1959, S. 62–63, zit. n. Mey 2005, S. 24). In der Bonner Gerontologischen Studie des Alterns (BOLSA) hat Thomae entsprechend neben Testverfahren auch explorative Verfahren, insbesondere semistrukturierte Interviews, eingesetzt. Diese beiden Beispiele sollen zeigen, dass der Bedarf für die Verwendung multipler Methoden in der psychologischen Forschung schon vor der Einführung des Konzepts der Triangulation gesehen wurde – auch wenn qualitative Methoden mehr oder minder deutlich auf die Exploration reduziert wurden. Mit dem Konzept der „Triangulation“ wurde ein Ansatz entwickelt, Methodenkombinationen auch auf einer methodologischen Basis zu begründen.
1.2
Triangulation als Konzept
Der Begriff der Triangulation wurde ursprünglich im Kontext der Psychologie in die allgemeine Methodendiskussion eingeführt durch die Arbeiten von Campbell und Fiske (1959) sowie Webb et al. (1966). Ausgangspunkt war der Gedanke, dass der untersuchte Forschungsgegenstand (auch) von den zu seiner Untersuchung eingesetzten Methoden konstituiert wird. Zum damaligen Zeitpunkt stand jedoch eher die negative Lesart dieses Sachverhalts im Vordergrund: Dass der Untersuchungsgegenstand von den eingesetzten Methoden möglicherweise verfälscht wird, die Ergebnisse somit als Artefakte zu betrachten wären. Leitfrage war – etwa bei Campbell und Fiske (1959, S. 82) –, ob „eine Hypothese die Konfrontation mit einer Serie komplementärer Testmethoden übersteht“. Daran knüpften Überlegungen an, wie einer solchen Verfälschung vorzubeugen sei. Entsprechend wurden „nichtreaktive (unobstrusive) Messverfahren“ (Webb et al. 1966) gefordert. Eine Strategie wurde dabei die Kombination unterschiedlicher Messverfahren und Methoden im Rahmen der sog. multitrait-multimethod-matrix (Campbell und Fiske 1959). In diesem Zusammenhang wurde auch die Metapher der Triangulation aus dem Bereich militärischen Navigation übernommen, mit der eine Strategie bezeichnet wurde, um „von verschiedenen Referenzpunkten aus die exakte Position eines Objektes zu lokalisieren“ (Smith 1975, S. 273; zit. nach Jick 1983, S. 136). In der Folge erfuhr dieses Konzept vor allem durch die Arbeiten von Denzin (1970) in der Soziologie
188
U. Flick
und dabei dann auch in der qualitativen Forschung größere Aufmerksamkeit. Zunächst ging es hier um die Validierung von Ergebnissen durch die Verwendung eines zweiten methodischen Zugangs. Dieses Verständnis wurde in den 1980erJahren vor allem im Rahmen ethnografischer Forschung kritisiert, z. B. von Hammersley und Atkinson (1983) und genereller von Fielding und Fielding (1986). Die Kritik richtete sich darauf, dass Denzin – trotz seiner interaktionistischen Position – davon ausgegangen sei, dass mit verschiedenen Methoden ein und derselbe Gegenstand – in Denzins Formulierung „dasselbe Phänomen“ – abgebildet werde und dass die resultierenden Teilansichten nur noch zusammengesetzt werden müssten. Dabei werde jedoch die Reaktivität von Methoden außer Acht gelassen oder anders formuliert: Dass jede Methode den Gegenstand, der mit ihr erforscht bzw. abgebildet werden soll, auf spezifische Weise konstituiere. Dies habe zur Folge, dass bei der Kombination von verschiedenen Verfahren nicht davon ausgegangen werden könne, dass jeweils der eine Ansatz das Gleiche zutage fördere wie der andere, oder dass bei Diskrepanzen der Ergebnisse das eine (oder das andere) Resultat damit widerlegt sei (s. Abschn. 2.3). Diese Kritik führte bei Denzin (1989) zu einer Reformulierung des Konzepts und der damit verbundenen Ziele. Zentral für seine aktualisierte Version ist der Begriff des sophisticated rigor. Dabei geht es vor allem darum, die Interpretationen, zu denen Forscher/innen gelangen, offen zu legen und das angestrebte Verständnis des Forschungsgegenstandes durch unterschiedliche methodische Zugänge zu erweitern: „Accordingly, data triangulation better refers to seeking multiple sites and levels for the study of the phenomenon in question. It is erroneous to think or imply that the same unit can be measured. At the same time, the concept of hypothesis testing must be abandoned. The interactionist seeks to build interpretations, not test hypotheses.“ (Denzin 1989, S. 244)
Im deutschen Sprachraum erfährt Triangulation besondere Aufmerksamkeit in der erziehungswissenschaftlichen Forschung (Ecarius und Miethe 2010; Kelle 2001). Im Diskurs um die Mixed Methods wird Triangulation insbesondere für die Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden (Kelle und Erzberger 2019) disziplinübergreifend diskutiert, häufig aber auch als Abgrenzungsfolie benutzt (z. B. Tashakkori und Teddlie 2003). Für die qualitative Forschung innerhalb und jenseits der Psychologie ist Triangulation im Kontext der Diskussion um Qualitätskriterien relevant, teils als Kriterium, teils als Alternative zur Formulierung von Kriterien verstanden (Flick 2018).1
Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“, http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/pages/view/quality.
1
Triangulation
2
Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen
2.1
Definition von Triangulation
189
Zur Bestimmung des Begriffs Triangulation sollte zunächst festgehalten werden, was nicht gemeint ist. Bei der Kombination von Methoden geht es nicht darum, dass eine Methode zur Datenerhebung (bspw. eine bestimmte Interviewform) und eine Methode zur Analyse der Daten (bspw. ein Kodierverfahren) eingesetzt werden. Ebenso wenig bezieht sie sich auf die Durchführung einer explorativen Vorstudie mit qualitativen Methoden vor der Durchführung der eigentlichen Untersuchung mit standardisierten Methoden. Insbesondere wenn die Vorstudie nicht als eigener und eigenständiger Teil der Studie gesehen wird, sondern bspw. ausschließlich der Fragebogenentwicklung dient und die Ergebnisse des ersten Schrittes nicht in die Ergebnisse der Studie insgesamt einbezogen werden, bleibt dies hinter einem angemessenen Verständnis von Triangulation zurück. Stattdessen wird folgende Definition der Triangulation vorgeschlagen: „Triangulation beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden, und/oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisiert werden, wobei beides wiederum mit einander in Zusammenhang steht bzw. verknüpft werden sollte. Weiterhin bezieht sie sich auf die Kombination unterschiedlicher Datensorten jeweils vor dem Hintergrund der auf die Daten jeweils eingenommenen theoretischen Perspektiven. Diese Perspektiven sollten so weit als möglich gleichberechtigt und gleichermaßen konsequent behandelt und umgesetzt werden. Gleichermaßen sollte durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener Datensorten) ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein, dass also bspw. Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden, die damit weiter reichen, als es mit einem Zugang möglich wäre.“ (Flick 2011, S. 10)
2.2
Formen und Stellenwert der Triangulation
Denzin (1970) unterscheidet vier Formen der Triangulation, die für die aktuelle Diskussion weiterhin einen Rahmen abstecken können: • Data triangulation kombiniert Daten, die verschiedenen Quellen entstammen und zu verschiedenen Zeitpunkten, an unterschiedlichen Orten oder bei verschiedenen Personen erhoben werden. • Investigator triangulation kennzeichnet den Einsatz verschiedener Beobachter/ innen bzw. Interviewer/innen, um subjektive Einflüsse Einzelner auszugleichen. • Theorien-Triangulation meint die Annäherung an den Forschungsgegenstand ausgehend von verschiedenen Perspektiven und Hypothesen. • Denzins zentrales Konzept ist die methodologische Triangulation innerhalb einer Methode (within-method, z. B. die Verwendung verschiedener Subskalen in einem Fragebogen) und von verschiedenen Methoden (between-method).
190
U. Flick
Diese Formen können unabhängig voneinander bzw. alternativ eingesetzt werden. Die stärkste Aufmerksamkeit erfährt jedoch die Triangulation von Methoden. Die beiden diesbezüglichen Alternativen sollen kurz erläutert werden.
2.2.1
Methodeninterne Triangulation am Beispiel des episodischen Interviews Vor dem Hintergrund psychologischer Wissens- und Gedächtnistheorien (Bruner 2002; Strube 1989; Tulving 1972) wurde das episodische Interview entwickelt. Die genannten Theorien unterscheiden zwischen narrativ-episodischem und begrifflichsemantischem Wissen. Die erste Wissensform ist stärker auf Situationen, ihren Kontext und Ablauf orientiert. Die zweite Form abstrahiert von Situationen und Kontexten und orientiert auf Begriffe, Definitionen und Relationen. Die erste Form ist eher über Erzählungen zugänglich, die zweite eher über (argumentative) Aussagen. Erzählungen sind in stärkerem Maße kontextsensitiv für den Entstehungskontext von Erfahrungen als andere, etwa semantische Modelle des Wissens. Jedoch bilden sich aufgrund einer Vielzahl von ähnlichen, generalisierbaren Erfahrungen auch Wissensbestände heraus, die von solchen Kontexten stärker abstrahieren – etwa in Form von Begriffs- und Regelwissen. Darin ist – eher als in den auf das Besondere zentrierten Erzählungen – das Normale, Regelhafte, Routinisierte und damit das über eine Vielzahl von Situationen und Erfahrungen hinweg Verallgemeinerte repräsentiert, das dann im narrativen Wissen seine episodische Konkretisierung und Ausfüllung findet: „Rules and maxims state significant generalisations about experience but stories illustrate and explain what those summaries mean“ (Robinson und Hawpe 1986, S. 124). Dieses Wissen ist eher über Fragen nach Begriffen und Zusammenhängen zugänglich. Die hier angesprochenen Bereiche des Alltagswissens werden in Interviews mehr oder minder systematisch erfasst. Der Ansatz der methodeninternen Triangulation legt eine systematische Nutzung beider Wissensbereiche und eine gezielte Verbindung von Zugängen zu beiden Wissensbereichen nahe. Entsprechend diesen Zielsetzungen soll das episodische Interview als Erhebungsverfahren die angesprochenen Bestandteile des Alltagswissens berücksichtigen und erfassen: semantisch-begriffliches Wissen über Fragen (und Antworten), episodischnarratives Wissen über Situationserzählungen. In der Umsetzung des Interviews etwa in einer Studie zu Gesundheitsvorstellungen (Flick et al. 2004) wurden Interviewpartner/innen nach ihrem Gesundheitskonzept befragt und wiederholt gebeten, Situationen zu erzählen, in denen sie Erfahrungen gemacht haben, die sie für ihr Gesundheitsverständnis oder dessen Veränderung als relevant ansehen. Dazu wurde zunächst das Prinzip des Interviews erläutert („In diesem Interview werde ich Sie wiederholt bitten, mir Situationen zu schildern, in denen Sie Erfahrungen mit den Themen ‚Gesundheit‘ gemacht haben.“). Die folgenden Beispiele für Fragen (1.) und für Erzählaufforderungen (2. und 3.) sollen das Vorgehen erläutern:
Triangulation
191
1. „Was ist das für Sie, ‚Gesundheit‘? Was verbinden Sie mit dem Wort ‚Gesundheit‘?“ 2. „Wodurch wurden Ihre Vorstellungen von Gesundheit besonders beeinflusst? Können Sie mir bitte ein Beispiel erzählen, an dem dies deutlich wird?“ 3. „Haben Sie den Eindruck, dass sich Ihre Vorstellung von Gesundheit im Laufe Ihres Berufslebens gewandelt hat? Bitte erzählen Sie mir eine Situation.“ Damit wurden zwei Zugänge zum Thema in einer Methode kombiniert. Es entstanden entweder Erzählungen oder Antworten. In manchen Fällen resultierten auch Mischformen aus Definitionen und Erzählungen, wie im folgenden Beispiel (entnommen aus: Flick et al. 2004, S. 88) deutlich wird: „I: Was ist das für Sie, ‚Gesundheit‘? Was verbinden Sie mit dem Wort ‚Gesundheit‘? IP: Gesundheit ist relativ, denke ich. Gesund kann auch jemand sein, der alt ist und ’ne Behinderung hat und kann sich trotzdem gesund fühlen. Also früher hätte ich, bevor ich in die Gemeinde gegangen bin, immer gesagt, gesund ist jemand, der in einem sehr geordneten Haushalt lebt und wo alles korrekt und supergenau ist und, ich sag mal, absolut sauber. Dessen bin ich belehrt worden, als ich angefangen hab in der Gemeinde zu arbeiten, das war 1981, ich war früher Krankenschwester in der (NAME DER KLINIK) gewesen auf der Intensiv und kam also mit völlig anderen Vorstellungen hierher. Und musste damit erst mal lernen umzugehen, dass jemand eben in seiner Häuslichkeit so angenommen wird, wie er ist. Und deswegen, denk ich, ist Gesundheit – kommt immer darauf an, wie jeder selbst sich fühlt. Ne, also es kann jemand ’ne Krankheit haben und trotzdem sich gesund fühlen, das denk ich schon, dass das so ist.“
Die dabei entstandenen Daten wurden dann in der Regel zusammen und nicht nach Datensorte (Erzählung, Antwort) getrennt ausgewertet.
2.2.2 Triangulation verschiedener Methoden Die mehr oder minder unabhängige Verwendung mehrerer Forschungsmethoden in einer Untersuchung ist die Form der Triangulation, die besonders häufig eingesetzt wird. Beispiele sind die Kombination von teilnehmender Beobachtung und Expert/ inneninterviews oder von Interviews mit Gesprächsanalysen zur Untersuchung therapeutischer Praxis. Im Rahmen der qualitativen Forschung in der Psychologie werden bei der Datenerhebung etwa von Wenglortz im Rahmen einer Fallstudie zur Entwicklung eines autistischen Mädchens über einen Zeitraum von mehreren Jahren verschiedene qualitative Methoden kombiniert – Fotos, Videoaufzeichnungen und Beobachtungen, dokumentiert in Forschungstagebüchern (Mey und Wenglorz 2005). Bei der Triangulation verschiedener Methoden werden diese als eigenständige Verfahren entweder parallel oder nacheinander eingesetzt und die dabei entstandenen Daten auch getrennt ausgewertet. Eine Zwischenform findet sich in vielen ethnografischen Studien, in denen mehr oder weniger flexibel unterschiedliche Arten von Daten in Form von Beobachtungen, Gesprächen oder Dokumenten gesammelt werden (deshalb wird hier gelegentlich auch von „impliziter Triangulation“ gesprochen – Flick 2011, Kap. 4).
192
U. Flick
2.2.3 Theorien-Triangulation In dem Band von Buchholz (1995) werden unterschiedliche theoretische bzw. methodologische Perspektiven am selben Material – einem Therapieprotokoll – trianguliert. Dabei handelt es sich u. a. um Konversationsanalyse, Metaphernanalyse, objektive Hermeneutik, klinische Psychoanalyse und Ethnomethodologie. Durch die unterschiedlichen Perspektiven, die diese Ansätze jeweils auf Therapiegespräche einnehmen, wird deren Komplexität aus verschiedenen Richtungen aufgelöst – einerseits verdeutlicht, andererseits in ihre Bestandteile zerlegt: Die Konversationsanalyse zeigt bspw. die Herstellung der Gesprächssituation an den konkreten Gesprächsbeiträgen, die objektive Hermeneutik und die klinische Psychoanalyse betrachten eher die latenten Konflikte im Hintergrund des verbalen Austausches. In diesem Beispiel wird das Konzept der Theorientriangulation in der Kombination von Forschungsansätzen bei der Analyse von Daten realisiert. Ergebnis sind allerdings mehrere parallele Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen. 2.2.4 Investigator-Triangulation als Strategie der Validierung Im Rahmen eines einzelnen Projektes wird die Triangulation von Perspektiven bspw. angewendet, wenn das für verschiedene Verfahren (z. B. die objektive Hermeneutik) vorgeschlagene Prinzip der Analyse von Daten in Gruppen von Forscher/innen ggf. mit unterschiedlichem methodischen oder theoretischen Hintergrund realisiert wird. Von verschiedenen Autor/innen wird dies auch als „argumentative Validierung“ diskutiert (z. B. Döring und Bortz 2016, S. 83). Lincoln und Guba (1985) behandeln die Einholung der Einschätzungen anderer Forscher/innen – und die damit mögliche Investigator-Triangulation – unter dem Stichwort peer debriefing.
2.3
Mögliche Resultate der Triangulation
Die Ergebnisse, die sich aus der Verknüpfung unterschiedlicher Methoden ergeben (hierzu auch Kelle und Erzberger 2019), können übereinstimmen (konvergieren): Interviewpartner/innen verhalten sich in den Beobachtungen entsprechend ihrer Aussagen im Interview, ihre Erzählungen entsprechen ihren allgemeinen Aussagen. Häufiger ist jedoch festzustellen, dass die Ergebnisse sich wechselseitig ergänzen (komplementär sind): Die Beobachtungen zeigen Zusätzliches zu dem im Interview Angesprochenen, und damit finden sich im Interview Antworten zu Themen, die der Beobachtung nicht zugänglich waren, ohne direkt im Widerspruch dazu zu stehen. Schließlich können Ergebnisse auch divergieren: Die Interviewpartner/innen handeln ihren Aussagen aus dem Interview zuwider, wenn sie beobachtet werden. Die erste Variante war ursprünglich als Ziel der Triangulation – nämlich im Sinne einer Validierung von Ergebnissen – formuliert worden (in diesem Sinne verwendet etwa Bryman 2016 das Konzept auch aktuell). Dass diese Übereinstimmung nicht „ohne Weiteres“ zu erwarten bzw. realisieren ist, haben die eingangs erwähnten kritischen Diskussionen in den 1980er-Jahren verdeutlicht. Andererseits rechtfertigen gerade die letzten beiden Varianten eigentlich erst die Verwendung der Triangulation, weil sie dann tatsächlich einen Mehrwert an Erkenntnis bringt, der zudem
Triangulation
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noch nach (theoretischen) Erklärungen für die Diskrepanzen verlangt. Diese Erwartung hinsichtlich der Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten ist in der aktuellen Diskussion um Triangulation in der qualitativen Forschung relevanter als die Validierung von Ergebnissen.
3
Aktuelle Diskussionen: Triangulation und Mixed Methods
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Notwendigkeit der Verknüpfung verschiedener (methodischer und/oder theoretischer, qualitativer und/oder quantitativer) Zugänge schon seit Langem diskutiert und praktiziert wird. Das Konzept der Triangulation wurde eingeführt, um diese Verknüpfungen auf eine methodologische Basis zu stellen. Am Ende der 1990er-Jahre hat sich wiederum in Abhebung von diesem Konzept eine Diskussion zur Verbindung vor allem qualitativer und quantitativer Methoden unter dem Stichwort Mixed Methods entwickelt. Dabei ist die Zielsetzung begrenzter als in der vorangegangenen Diskussion um Triangulation: Einerseits ist vor allem eine Kombination (qualitative und quantitative Methoden und nicht unterschiedliche Methoden schlechthin) im Fokus, andererseits eine deutliche Konzentration auf einen pragmatischen Mix von Methoden mit weniger Interesse an methodologischen Fragen und Differenzen.
3.1
Triangulation im Kontext von Mixed Methods
Die Diskussion um Mixed Methods-Ansätze hat sich zunächst in Abgrenzung von existierenden Ansätzen wie der Triangulation entwickelt bzw. weist diesen einen eher begrenzten Stellenwert zu. Bryman (2016) identifiziert elf Varianten der Kombination quantitativer und qualitativer Forschung, wobei er die Logik der Triangulation in der Überprüfung etwa qualitativer durch quantitative Ergebnisse begrenzt sieht. In den Jahren 2008 und 2009 wurden einige doch eher ernüchternde Bestandsaufnahmen nach fünfzehn Jahren Mixed Methods-Forschung veröffentlicht, und zwar nicht von Kritiker/innen, sondern von zentralen Protagonist/innen dieses Ansatzes. So hat Bryman (2006) bei der Analyse von 232 Artikeln aus den Jahren 1994–2003 festgestellt, dass sich die mögliche Vielfalt an kombinierbaren Methoden in einem Großteil der Studien auf Interviews als qualitative Methode und auf Fragebögen als quantitative Methode beschränkt, und dass fast die Hälfte der Studien diese beiden Methoden in einem Querschnittsdesign verwenden. Greene (2008) hat eine Reihe offener Fragen identifiziert. So sieht sie in der Mixed Methods-Forschung die Dimension der Eigenschaften verknüpfter Methoden vernachlässigt: Es gebe kaum konzeptuelle Arbeiten zu den Fragen, wie Methoden für eine gegebene Fragestellung ausgewählt werden sollen oder worauf sich das Mixing in den Ansätzen tatsächlich bezieht und schließlich dazu, wie eine Methodologie der Mixed Methods beschaffen sein sollte.
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U. Flick
In einem Editorial im „Journal of Mixed Methods Research“ hat Creswell (2009) das Feld der Mixed Methods-Forschung abgesteckt und mit den Diskussionen der Mixed Methods-Konferenz in Cambridge 2008 verglichen. Sein Ergebnis: „I was surprised to not find any papers at the conference on theoretical lens and mixed methods research, such as ethnic, racial, disability, sexual orientation and feminist topics as used in mixed methods studies [. . .], that no papers were taking on the issue of validity [. . .] to learn that the conference papers did not continue to probe a definition of mixed methods.“ (S. 97–98)
Diese Bilanzen verdeutlichen, dass Mixed Methods eher hinter den (auch in Abgrenzung zur Triangulation) selbst formulierten Ansprüchen (Tashakkori und Teddlie 2003) zurückbleibt. Eine aktuellere kritische Auseinandersetzung mit der methodologischen Diskussion in der Mixed Methods-Forschung findet sich bei Flick (2017).
3.2
Triangulation als Alternative zu Mixed Methods
In diesem Zusammenhang bekommt Triangulation eine neue Aktualität als Alternative zum Mixed Methods-Trend, gerade wenn es darum geht, die Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden für die Psychologie relevant werden zu lassen. Dabei ist zwischen einem schwachen und einem starken Programm der Triangulation zu unterscheiden: Ersteres versteht Triangulation als Kriterium (wie es teilweise auch bei Lincoln und Guba 1985 oder in früheren Arbeiten von Denzin der Fall ist) bzw. als Ansatz der Überprüfung oder reduziert die Triangulation auf einen pragmatischen Methodenmix, ohne die methodischen und theoretischen Differenzen der Ansätze zu berücksichtigen. Ein starkes Programm der Triangulation versteht diese als Weg der Erkenntnis und Erweiterung von Herangehensweisen bei der Sammlung und Analyse von Daten. Anstatt qualitative und quantitative Ansätze als „Paradigmen“ einander gegenüberzustellen (wie in der Mixed Methods-Forschung), geht es um eine systematische Triangulation von Forschungsperspektiven (Flick 1992, 2011). Ziele bei der Verwendung mehrerer Methoden sind deren gleiche Gewichtung sowie ihre systematische Umsetzung. Dies schließt die Integration und Reflexion des theoretischen Backgrounds der jeweiligen Methoden mit ein. Ihre Triangulation nach diesem Verständnis sollte Zugang zu verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen eröffnen, sodass die kombinierten Methoden etwa Wissen und Handeln in Bezug auf einen Forschungsgegenstand zugänglich machen oder die subjektive Bedeutung (bspw. einer Erkrankung) und die soziale Struktur (bspw. die Verteilung der Erkrankung in der Bevölkerung) erfassen. Die systematische Triangulation unterschiedlicher Perspektiven beinhaltet dann auch die gezielte Auswahl und Verwendung von Methoden. Dieses Verständnis von Triangulation ist dann nicht nur für die Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung, sondern auch für die Verknüpfung mehrerer Herangehensweisen qualitativer Forschung relevant.
Triangulation
3.3
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Triangulation als Rahmen für die Verwendung von Mixed Methods
Triangulation und Mixed Methods können als Alternativen oder konkurrierende Ansätze gesehen werden, sie lassen sich aber auch verbinden. In einer Studie zum Umgang mit Schlafstörungen der Bewohner/innen in Pflegeheimen (Garms-Homolová und Flick 2013) haben wir eine systematische Triangulation unterschiedlicher Perspektiven vorgenommen und dabei auch an zwei Stellen Mixed Methods Vorgehensweisen eingesetzt (Flick et al. 2012): Einerseits die Kombination der Analyse von Assessment-Daten zur Häufigkeit und Verteilung des Problems mit Interviews mit Pflegekräften, die in Heimen arbeiten, zur Problemwahrnehmung und Behandlung im eigenen professionellen Alltag. Andererseits die Kombination von Interviews mit Ärzt/innen zu ihrer Verschreibungspraxis hinsichtlich Schlafmedikation mit der Analyse von Verschreibungsprävalenzen anhand von Krankenkassen-Routinedaten. Dabei zeigten sich jeweils Unterschiede zwischen den in den qualitativen Analysen deutlichen werdenden Problemwahrnehmungen der Akteure und den in den quantitativen Analysen identifizierbaren Handlungsbedarfen bzw. Behandlungsroutinen. Die systematische Triangulation von Perspektiven – der verschiedenen Beteiligten, von Wissen und Handeln – kann einen methodologischen Rahmen liefern für die Verwendung von Mixed Methods im Rahmen einer v. a. qualitativ orientierten Studie. „Perspektiven“ bezieht sich dabei auf verschiedene Ansätze ein Problem zu fassen: Bspw. die (subjektiven) Perspektiven von Beteiligten, die sich damit professionell beschäftigen, und die von denjenigen, die sich als Betroffene damit auseinander setzen. „Perspektive“ kann sich aber auch auf die institutionellen Routinen beziehen, mit denen diese Problem oder Umgangsweisen damit deutlich werden (Wie häufig tritt es auch, wie häufig wird es durch eine bestimmte Diagnose dokumentiert, wie häufig durch eine bestimmte Behandlungsform adressiert?). „Perspektive“ bezieht sich darüber hinaus auf methodische Zugänge mit einem spezifischen theoretisch methodologischen Background, die hier verknüpft werden. Damit lassen sich auch die Lücken schließen, die Greene (2008) für die Mixed Methods-Diskussion identifiziert hat („What should a mixed methods methodology look like?“ bzw. „Around what does the mixing happen?“). Insgesamt betrachtet, erfüllt die Verwendung von Mixed Methods in dieser Einbettung die Anforderung, die Burzan formuliert: „Seriöse Überlegungen zu Methodenverknüpfungen müssen sowohl den Forschungsgegenstand als auch methodologische Grundlagen reflektieren.“ (Burzan 2010, S. 98).
3.4
Triangulation innerhalb der qualitativen Forschung
Schließlich sollte bei der Aufmerksamkeit, die die Diskussion um die Verbindung qualitativer und quantitativer Forschung für sich beansprucht, nicht vergessen werden, dass Triangulation sich auch oder vor allem auf die Verknüpfung verschiedener qualitativer Methoden bzw. Forschungsperspektiven beziehen kann, wie die weiter oben genannten Beispiele verdeutlichen.
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U. Flick
Beispiel der Triangulation in der qualitativer Forschung
Die im folgenden Beispiel zugrunde gelegte ethnografische Untersuchung (Flick und Röhnsch 2010) mit chronischen kranken obdachlosen Jugendlichen wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert (FL245-10/2). Dabei wurden parallel zu teilnehmenden Beobachtungen an Szenetreffpunkten einerseits zwölf obdachlose Jugendliche – je sechs junge Frauen und Männer zwischen 14 und 25 Jahren – mit episodischen Interviews sowie fünf Ärzte/Ärztinnen und sieben Mitarbeiter/innen der Sozialarbeit aus unterschiedlichen gesundheitlichen und sozialen Einrichtungen in Expert/inneninterviews befragt. Durch diese Zugänge sollte einerseits ermittelt werden, welche Erfahrungen die Jugendlichen mit der Bewältigung ihrer Krankheit und der Inanspruchnahme von Hilfe machen. Andererseits sollten die Wahrnehmung der Jugendlichen und die Einschätzung des Versorgungsangebots für diese durch die Expert/innen rekonstruiert werden. Es ließen sich jeweils drei Muster finden: Aus der Perspektive der Jugendlichen war der Umgang mit Krankheit durch 1. deren „Ignorieren“, 2. das „Verbittern“ aufgrund der Krankheit und Lebenssituation oder 3. ein „Sich der Krankheit Stellen“ gekennzeichnet, wobei nur im letzten Fall eine aktive Form der Bewältigung auch durch Inanspruchnahme von Hilfeangeboten gesucht wurde. Die Expert/innen benannten ebenfalls „Ignorieren“ als Umgangsform der Jugendlichen mit der Krankheit. Sozialarbeiter/ innen sahen bei einigen Jugendlichen die „Krankheit als Wendepunkt“, die ggf. zu einem Ausstieg aus dem Straßenleben führte. „Inanspruchnahme“ von Hilfeangeboten hieß allerdings häufig, dass die Jugendlichen Rat in der „Szene“ suchten, was dann ggf. zu einer Verschlechterung der Krankheitssituation beitrug. Zusammenfassend zeigte sich, dass sich die Einschätzungen von Betroffenen und Expert/innen zum „Umgang mit chronischer Krankheit auf der Straße“ teils nur graduell voneinander unterschieden, teils auch deutlich voneinander abwichen. Letzteres trifft zum einen zu im Hinblick auf die Bedeutung von Alkohol und Drogen als „Problem lösend“ aus Sicht der Jugendlichen und „Problem verschärfend“ nach Meinung der Expert/innen. Zum anderen unterschieden sich Jugendliche und Expert/innen in ihrer Wahrnehmung des gesundheitlichen Hilfebedarfs, den die Betroffenen als eher gering ansahen, die befragten Ärzte/Ärztinnen und Sozialarbeiter/innen dagegen als hoch. Die drei hier gewählten methodischen Zugänge episodisches Interview, teilnehmende Beobachtung und Expert/inneninterviews machen drei unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand Umgang mit chronischer Krankheit im Kontext des Lebens auf der Straße deutlich (für Vorgehen und Ergebnisse: Flick und Röhnsch 2008).
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
Mit der Triangulation wurde ein konzeptueller Rahmen formuliert, der die in der Forschungspraxis häufig realisierte Erkenntnis, dass sich ein Zugang für viele Themen als nicht ausreichend herausgestellt hat, auf eine methodologische, methodische und theoretische Basis stellt. Dabei umfasst der Begriff „Zugang“ nicht nur
Triangulation
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das gesamte Spektrum einsetzbarer Methoden, sondern auch unterschiedliche Theorien oder Forscher/innen mit unterschiedlichen (theoretischen oder disziplinären) Hintergründen. Die Kombination von Methoden schließt dabei die Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven auf das, was untersucht wird, mit ein. Das Konzept der Mixed Methods zielt in eine ähnliche Richtung, vernachlässigt dabei aber andere Kombination als qualitative und quantitative Methoden ebenso wie die theoretisch-methodologischen Differenzen unterschiedlicher Methoden. Daraus und aus der Verwendung des Ansatzes innerhalb der qualitativen Forschung – durch die Verwendung verschiedener qualitativer Methoden und Forschungsansätze – ergibt sich die Aktualität der Triangulation für die qualitative Forschung in der Psychologie. Triangulation bietet für die qualitative Forschung (nicht nur) in der Psychologie eine Perspektive, die Beschränkungen einzelner methodischer Zugänge zu überwinden. Dabei kann sie einerseits einen Ansatzpunkt für die systematische und den jeweiligen Eigenheiten der Ansätze Rechung tragende Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung darstellen. Triangulation kann als Teil einer integrierten Sozialforschung (vgl. Flick 2019, Kap. 8) Erkenntnismöglichkeiten erweitern und die gegenstandsangemessene Auseinandersetzung mit Forschungsthemen befördern. Andererseits kann Triangulation aber auch innerhalb der qualitativen Forschung in der Psychologie die Stärken verschiedener Methoden und verschiedener Forschungsperspektiven kombinieren. Ein Problem bei der Anwendung der Triangulation stellt in vielen Fällen der deutlich höhere Aufwand an Ressourcen dar. Neben der zusätzlichen Zeit ist hier vor allem auch die Kenntnis unterschiedlicher Methoden und ihrer Hintergründe zu nennen. Bei der Umsetzung ergeben sich gelegentlich auch Probleme des Zugangs und zusätzliche Planungsfragen (ausführlicher hierzu: Flick 2011). Entsprechend sollte bei der Entscheidung für die Triangulation der erwartete zusätzliche Erkenntnisgewinn benennbar sein – dass also Ergebnisse auf unterschiedlichen Ebenen oder aus unterschiedlichen Blickwinkeln möglich werden. Dazu ist die Frage weiter zu klären, wann mit welchen Methoden und entsprechend wann mit welchen Kombinationen von Methoden gearbeitet werden sollte.
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U. Flick
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Triangulation
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Performative Sozialwissenschaft Günter Mey
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Varianten und Beispiele der performativen Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zentrale Fragen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden die seit zwei Jahrzehnten zunehmenden Bemühungen der sich formierenden „performativen Sozialwissenschaft“ dargestellt. Nachdem auf Hintergründe zu deren Entstehen – insbesondere die Kritik an traditionellen Darstellungspraxen von Wissenschaft und deren begrenzter Verbreitung und öffentlicher Wirksamkeit – eingegangen wird, folgen Skizzen ausgewählter Projekte aus der psychologischen Forschung, die mit künstlerisch-ästhetischen Mitteln umgesetzt und für die Öffentlichkeit aufbereitet wurden. Hierbei werden sowohl Präsentationsarten in Textform (Autoethnografie, Fiction, Poetik) als auch Inszenierungen (Theater, Tanz und Musik) und visuelle Darbietungen (Film, Foto) sowie Ausstellungen besprochen. Abschließend werden Bewertungskriterien bezogen auf den Prozess und die Resultate von performativer Sozialwissenschaft diskutiert, die als zentral für die weitere Etablierung einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft anzusehen sind.
G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_29
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Schlüsselwörter
Performative Sozialwissenschaft · Autoethnografie · Poetic Transcription · Ethnodrama · Ethnotheatre · Film · Ausstellungen · Qualitative Forschung · Subjektivität · Reflexivität · Partizipation
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Einleitung
Seit Anfang dieses Jahrtausends mehren sich die Versuche, Kunst und Wissenschaft systematischer aufeinander zu beziehen. Unter dem Label „performative Sozialwissenschaft“ – als Begriff wohl erstmals von Norman Denzin (2001) eingebracht – sind sehr verschiedene Ansätze und Umsetzungen zu finden, mit denen Forschungsergebnisse einer breiten interessierten Öffentlichkeit mit künstlerisch-ästhetischen Mitteln zugänglich gemacht werden sollen (Jones 2017). Dass grade performative Sozialwissenschaft eine Affinität zur qualitativen Forschung aufweist und sich innerhalb dieses Feldes ausbreiten und (weiter) entwickeln konnte, überrascht wenig. Besondere Bedeutung kommt hierbei der vor allem im nordamerikanischen Forschungskontext vorgenommenen postmodernen Redefinition qualitativer Forschung zu, wie es sich ab der 3. bis zur heutigen 5. Auflage des „Handbook of Qualitative Research“ von Denzin und Lincoln (2017) fortgeschrieben dokumentiert. Ebenso leitend sind weitergehende Rekurse auf poststrukturalistische Ansätze, die sich kritisch mit dem Verhältnis von sprachlicher Praxis und sozialer Wirklichkeit auseinandersetzen (im Überblick: Winter 2014). Genau dieser Blick auf die Ereignishaftigkeit/Prozessualität sowie die Performativität sozialer Praxis hat performative Sozialwissenschaft als ein eigenes, an künstlerischen Verfahren orientiertes Forschungsparadigma forciert. Dabei lassen sich mit Blick auf den Dialog von Kunst und Wissenschaft grob drei Perspektiven unterscheiden (im Überblick Schreier 2017): Während die künstlerischen Darstellungsformen bei Arts-informed Research primär genutzt werden, um die Ergebnisse von Forschung zu vermitteln, werden bei Arts-based Research die künstlerischen Praktiken stärker zur Erkundung von Phänomenen verwandt, wie dies bei der in den Kunstwissenschaften verankerten Artistic Research zentral ist. Darüber hinaus gibt es eine Fülle an weiteren Begriffen, die für die Verknüpfung von Kunst mit Wissenschaft stehen, so etwa A/r/tography, Alternative Forms of Representation, Aesthetic Research Practice, Living Inquiry, Performative Inquiry u. v. a. m. (Chilton und Leavy 2014, S. 6). Im Folgenden wird der allgemeinere Begriff der performativen Sozialwissenschaft genutzt, da dieser am weitesten zusammenfasst, wie Kunst und Wissenschaft wechselseitig aufeinander bezogen werden (können) und wie auf Praktiken der Kunst zurückzugriffen wird, um Forschungsergebnisse zu „übersetzen“. Auch wenn die performative Sozialwissenschaft erst im letzten Jahrzehnt begonnen hat, sich deutlich auszubreiten – mit einer eigenen Mailingliste ([email protected]) und Foren sowie vielen Publikationen und auch eigenen Tagungen – gibt es schon viel länger die Versuche des Dialogs von Kunst
Performative Sozialwissenschaft
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und Forschung/Wissenschaft. Insofern finden sich auch viele Arbeiten, die nicht unter Begriffen wie Arts-based Research oder performative Sozialwissenschaft firmieren, gleichwohl in diesem Sinne operieren (s. Abschn. 3). Daneben finden sich Versuche, rückliegende Arbeiten als performativ oder als arts-based zu re-interpretieren: So führen Chilton und Leavy (2014) mit Blick auf die Psychologie etwa „Das rote Buch“ von C.G. Jung (2009) an, in dem er von 1914 bis 1930 seine Erkundungen des Unbewussten, versehen mit Illustrationen, zusammenstellte. Das Buch wurde erstmals 2009 im Rubin Museum of Art in New York öffentlich zugänglich gemacht. Gergen und Gergen (2010) wiederum verweisen u. a. auf Jacob Moreno (1947) und dessen Arbeitsweise des Psychodramas, das sie als performative Forschungs- und Darstellungsstrategie werten. Im Folgenden wird zunächst aufgezeigt, dass sich performative Sozialwissenschaft angesichts einer kritischen Auseinandersetzung mit etablierten Wissenschaftspraxen und (als überkommenen erachteten) wissenschaftsimmanenten Gepflogenheiten formiert (Abschn. 2). Daran anschließend werden einige ausgewählte Projekte vorgestellt (Abschn. 3). Im Einzelnen sind dies Vorhaben, die Forschungsergebnisse als Autoethnografie, Fiction oder Poetik anlegen (Abschn. 3.1), in Musik-, Tanz- oder Theateraufführungen umsetzen (Abschn. 3.2), visuell als Film oder als Fotografien darbieten (Abschn. 3.3) sowie im Rahmen von Ausstellungen präsentieren (Abschn. 3.4).1 Abgeschlossen wird der Beitrag mit der Kartierung einiger Herausforderungen, die es mit Blick auf die qualitative Forschungspraxis zu reflektieren gilt, wenn ihre Projekte und Ergebnispräsentationen performativ angelegt sind (Abschn. 4).
2
Theoretische und methodologische Prämissen
Der zunehmende Rückgriff auf künstlerische Praxen innerhalb der qualitativen Forschung wird mit unterschiedlichen Begründungen vorgetragen. Zum einen wird auf die Begrenztheit von traditionellen Ergebnisdarstellungen als alleiniger Präsentationform hingewiesen. So kritisiert Ian Parker (2004, S. 100): „The standard format of a research report is a secure framework for many writers, but it is itself a particular genre of writing that can turn into a constraint and inhibit innovative work.“ Zugleich wird Skepsis formuliert, weil mit der Monokultur sprachlicher Darstellung einerseits eine Begrenzung auf insbesondere innerhalb des Wissenschaftssystems geforderte Klarheit (Eindeutigkeit) und Exaktheit verbunden sei und andererseits nicht alle Sinne angesprochen würden. Barone und Eisner (2012, S. 3) konstatieren entsprechend: „arts based research is a heuristic through which we deepen and make more complex our understanding of some aspect of the world.“
1
Eine andere mögliche Systematisierung wäre die Unterscheidung in darstellende und bildende Künste sowie Literatur und Musik, ebenso wäre möglich, „New Media“ – wie bei Knowles und Cole (2008) – neben „Visual Art“ als eigenen Bereich abzugrenzen.
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Vor allem die Debatte um die „Krise der Repräsentation“ (Berg und Fuchs 1993) und die in ihr aufgerissene Frage wer eigentlich in wissenschaftlichen Texten „spricht“ hat den Weg geöffnet für neue Modi des Schreibens und für textuelle Varianten (Winter 2014). Verbunden ist damit auch die Annahme der Unabschließbarkeit von Deutungen, und es wird auf eine Darstellung abgehoben, die Mehrdeutigkeiten eröffnet und den Rezipierenden eigene Interpretationsspielräume bietet. Mit dieser Perspektive wird berücksichtigt, dass Daten eben nicht einfach „gesammelt“, sondern (ko-)konstruiert werden. Entsprechend hat schon Denzin (2001, S. 24) betont, das Interview sei ein „vehicle for producing performance texts and performance ethnographies about self and society“. In diesem Sinne rekurrieren etwa Gergen und Gergen (2010) auf John Austins Sprechakttheorie (Austin 1972 [1955]). Demnach repräsentieren Untersuchungsergebnisse nicht die Wirklichkeit, sondern sie stellen sie „buchstäblich“ her. Daran anschlussfähig sind auch Überlegungen zum Mimesis-Konzept von Paul Ricoeur (1981), auf das z. B. Uwe Flick (2007) rekurriert, wenn er das in den Literaturwissenschaften gängige Verständnis für qualitative Forschung expliziert. Demnach ist die Rezeption von Forschungsergebnissen als interpretativer Akt zu verstehen: Das „Lesen und Verstehen von Texten wird [. . .] zu einem aktiven Prozess der Herstellung von Wirklichkeit, an dem nicht nur der Verfasser von – in unserem Fall sozialwissenschaftlichen – Texten, sondern auch derjenige beteiligt ist, für den diese geschrieben werden und der sie liest“ (Flick 2007, S. 112). In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Umberto Eco (2004 [1990], S. 35–39), der eine Differenzierung zwischen der Intention des Werks (intentio operis), des Autors/der Autorin (intentio auctoris) und der Lesenden (intentio lectoris) kartiert, auf die sich u. a. Jürgen Straub (1999) im Rahmen der Ausarbeitung einer textwissenschaftlichen Kulturpsychologie bezieht (dazu Mey 2000). Darüber hinaus wird kritisiert, dass sich im Wissenschaftssystem eine eigene Sprache durchgesetzt hat, die einem innerwissenschaftlichen Diskurs verpflichtet, der aber für interessierte Lai/innen bzw. Angehörige anderer Fachdisziplinen nicht zugänglich ist – Wissenschaftssprache und Alltagsverständnis sich mithin ausschließen. Dabei wird allenthalben konstatiert, dass Wissenschaft kein Selbstzweck sein sollte, sondern sie ist ein „öffentliches Gut“, das überwiegend aus öffentlichen Mittel gefördert wird (eine Debatte, die wesentlich im Zusammenhang mit dem Open-Access-Paradigma geführt wurde und wird; Mey und Mruck 2007). Auch vor diesem Hintergrund wird aktuell – zumindest an deutschsprachigen Hochschulen – die sogenannte „Third Mission“ als dritte Säule (neben Lehre als 1. und Forschung als 2. Säule) verstanden und verstärkt über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten debattiert, Forschungsergebnisse in gesellschaftlichen Nutzen zu übersetzen (Henke et al. 2017). Gefordert (und gefördert) werden Strategien, die es Wissenschaft erlauben, gesellschaftlich unmittelbarer sichtbar und wirksam zu sein. Die Forschungsarbeiten und akademischen Angebote von Hochschulen sollen sich in diesem Sinne „interventionistisch“ verstehen, also die Untersuchungsfelder verändern und den (beforschten) Akteur/innen Handlungsoptionen „anbieten“.
Performative Sozialwissenschaft
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Performative Sozialwissenschaft beansprucht genau dies. Kip Jones (2017, S. 3), einer der renommiertesten Vertreter des Ansatzes, skizziert den Gegenstandsbereich und dessen Potenziale wie folgt: „Performative Social Science embraces the use of tools from the Arts (e.g., photography, dance, drama, filmmaking, poetry, fiction, etc.) by expanding – even replacing – shopworn methods of research and diffusion of academic efforts. A [. . .] potential of these new Artsbased methods of exploration and dissemination is inclusion in these processes of the very communities that we research and/or try to reach with our investigations. When all three elements (Research/Dissemination/Community) are based in an Arts-based approach and are working in tandem, Performative Social Science is at its best.“
3
Varianten und Beispiele der performativen Sozialwissenschaft
Bei der Umsetzung von performativer Sozialwissenschaft ist der Rückgriff auf diverse Kunstformen zu finden. Ebenso ist zu beobachten, dass dieser Rückgriff sehr unterschiedlich ausfallen kann, von eher „traditionell“ bis sehr „experimentell“, und dass dabei auch der Austausch zwischen Kunst (Künstler/innen) und Wissenschaft (Forschenden) stark variiert. Einen Überblick über die Vielfalt im weiten Feld der performativen Sozialwissenschaft geben die mittlerweile vielen – allerdings bislang nur in Englisch verfassten – monografischen Einführungen (Barone und Eisner 2012; Gergen und Gergen 2012; Leavy 2015a; Rolling 2013), editierten Sammelbände (z. B. McNiff 2013) und Handbücher (z. B. Knowles und Cole 2008; Leavy 2017) oder die über 40 Beiträge umfassende Schwerpunktausgabe „Performative Sozialwissenschaft“ (Jones et al. 2008) des Open-Access-Journals „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“. Der nachfolgende Überblick beschränkt sich weitgehend auf psychologisch-orientierte Studien (siehe auch das Special Issue zu „Creative Representations of Qualitative Research“ [Chamberlain et al. 2018] der Zeitschrift „Qualitative Research in Psychology“ sowie das Themenheft „Performative Sozialwissenschaft“ [Mey 2020] des „Journal für Psychologie“).
3.1
Autoethnografie, Fiction und Poetik
Als eigener Ansatz innerhalb der qualitativen Forschung hat sich mittlerweile die Autoethnografie etabliert. Sie wird in den meisten Übersichten zur performativen Sozialwissenschaft aufgeführt, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die Vertretenden der Autoethnografie ebenfalls im weiten Feld der performativen Sozialwissenschaft präsent sind. Autoethnografie meint eine Verbindung von Autobiografie und Ethnografie, wobei zentral ist, dass die eigenen Erfahrungen nicht lediglich als Hintergrundwis-
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sen einfließen, sondern als zentral für die Erkenntnisbildung genutzt werden und das „eigene Material“ so verdichtet wird, dass darüber generalisierbare Aussagen über kulturelle Muster verstehbar werden (Ellis et al. 2010; Ploder und Stadlbauer 2013). Vorreiterin für diesen Ansatz ist Carolyn Ellis (2004), die mit ihrem Ehemann Art Bochner die Autoethnografie einführte und weiter elaborierte (Bochner und Ellis 2016; s. auch Holman Jones 2004). Exemplarisch erwähnt sei der Prozess der Grabpflege für Familienangehörige (Ellis 2003): Erst aufgrund der eigenen Sorge für ein Grab begann Ellis, sich mit der Bedeutung des Friedhofbesuches und den dabei entstehenden Gefühlen zu beschäftigen sowie mit den Bräuchen, die sie sich für ihre eigene Beisetzung wünschte. Anhand der eigenen Geschichte – Ellis übernahm in der Reihe als nächste Frauengeneration die Grabpflege – verdeutlicht ihre autoethnografische Darlegung die Relevanz familiärer Todesrituale und deren Weitergabe über Generationen hinweg. Da Autoethnografien sehr unterschiedlich umgesetzt werden und auch die Darstellungsformen stark differieren und selbst fiktive Elemente enthalten können, sind die Berührungspunkte zur performativen Sozialwissenschaft erkennbar. Aber es gibt auch Gründe, sie weniger als alle anderen Arbeitsformen unter dieses Label zu subsummieren, denn je nach der Referenzialität der innerhalb der Autoethnografien gewählten narrativen Formate werden die Interpretationsspielräume für die Rezipierenden erweitert oder eben verengt (Schreier 2017). Die Wendung hin zum Fiktionalen findet sich besonders bei den Arbeiten von Heather Leavy, die als die Hauptvertreterin des Fiction-based Research gilt (ausführlich Leavy 2013). In ihren Romanen „Low-Fat Love“ (Leavy 2011), „Blue“ (Leavy 2015b) oder „American Circumstance“ (Leavy 2016) übersetzt Leavy ihre Untersuchungsergebnisse in eine narrativ-fiktionalisierte Form. So ist „Blue“ ein auf Interviews und Beobachtungen basierender Roman über die Identitätsentwicklung in den Jahren nach dem Studium. „Blue“ wurde mehrmals für Auszeichnungen nominiert, darunter für den USA Best Books Award 2016 in den Kategorien „Fiction: General Fiction“ und „Fiction: Women’s Literature“ (Schreier 2017). Ein ganz anderes Beispiel, wie Wissenschaft und Literatur ins Gespräch gebracht werden können, zeigt das Buch „sentha – seniorengerechte Technik im häuslichen Alltag“ (Friesdorf und Heine 2007). In diesem werden über die gesamte Veröffentlichung im unteren Textfeld die Ergebnisse der Studie dargestellt, in der oberen Hälfte ist der Roman „Knesebeckstraße oder: Einmal Kuba und zurück“ von Doris Mayer abgedruckt. Der so entstandene „Forschungsbericht mit integriertem Roman“ (so der Untertitel der Publikation) zielt auf die Konfrontation von Textgattungen aus Wissenschaft und Literatur und bietet den Lesenden verschiedene Einstiege und Perspektiven auf Senior/innen, die ihr Leben auch im Alter unabhängig und selbstbestimmt gestalten (möchten). Ferner sei auf eines der ersten performativ umgesetzten Projekte von Kip Jones hingewiesen. Er hat aus den Artikeln vom Kenneth Gergen und Klaus Riegel einen fiktiven Dialog kreiert. Angelegt als ein zufälliges Treffen im Zug von Morgantown nach Pittsburgh reden die beiden nach einer Konferenz über ihre Form, Psychologie zu betreiben. Die Textfassung wurde als Filmskript publiziert (Jones 2012), die Audiofassung inklusive Geräusche und Musik wurde nur zu Dokumentationszwecken
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erstellt. Letztere war Grundlage der Präsentation „The Birth of Constructionism! Or On a Train from Morgantown, West Virginia, 1976, with Klaus Riegel & Kenneth Gergen“ auf einer Konferenz in Berlin 2002, bei der zudem eine Fotodiashow eingespielt und damit die Aufführung als multimodale Installation umgesetzt wurde. Ähnlich experimentell hat Katja Mruck gearbeitet. In ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur Konzeptualisierung von Forschungsobjekt, -subjekt und -prozess in der Geschichte der Wissenschaften findet sich das Kapitel „Von den rekonstruierenden zu den rekonstruierten Subjekten: ein unakademisches Protokoll“. Darin lässt sie in einen imaginären Raum mehrere Personen (u. a. Adorno, Durant, Graumann, Veyne, Vorländer, Wundt) zusammenkommen. Textpassagen aus Werken dieser „Protagonisten“ der Wissenschaft(sgeschichte) werden von ihr verflochten und als ein ethnografisches Protokoll – das sie als teilnehmende Beobachterin „geschrieben“ hat – dargeboten; durch dieses aus wissenschaftlichen Textfragmenten organisierte „Salongespräch“ werden „Raum, Zeit, Sprachgrenzen und auch akademische Konventionen“ (Mruck 1999, S. 52) „spielerisch“ dekonstruiert. In dieser sonst „traditionell“ angelegten akademischen Arbeit findet sich dann noch ein zweites Schreibexperiment: Den Abschluss bildet ein fiktives Selbstgespräch, in dem die Autorin ihre verschiedenen Lesarten und Perspektiven verschiedenen „Charakteren“ (richtiger ist: Anteilen von sich) zuweist, die miteinander und gegeneinander in einem „Gespräch über problematische Beziehungen“ die Frage erörtern, was „Epistemologien mit Subjektivität und Intersubjektivität und der Psycho-Logik von Forschung zu tun [haben]?“ (Mruck 1999, S. 203). Näher an einem traditionellen Ausgangstext bleiben die Ansätze des „Poetry as Method. Reporting Research Trough Verse“ (Faulkner 2009) oder des „Poetic Inquiry“ (Prendergast et al. 2009). Insbesondere in der sogenannten Poetic Transcription werden die Verschriftlichungen von Interviews überarbeitet: Dabei werden einzelne Worte und Teilsätze aus den Transkripten extrahiert und in Form eines Gedichtes präsentiert, das aufgrund seiner Syntax einen eigenen Ausdruck erhält. Das Beispiel „If it rains too much“ von Corrine Glesne (1997) vermittelt einen Eindruck von dem Produkt: If it rains too much
I have to admit I spend money Without giving it too much importance. Maybe I see a book And I'm not going to read that book just now. I buy it, I buy the book. I go to the store, I see something beautiful, A vase or something like that And I buy it Without thinking whether I have the money. That's the reason I have not money for ceiling repairs. (Fortsetzung)
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Just now, it’s all right Because it is not raining. But if it rains too much – Oh well, it comes down. Poetic Transcription: If it rains too much (Glesne 1997, S. 213)
Die Vorgehensweise kann hierbei durchaus variieren. Im Falle einer Researchervoiced Poetry kann die Erstellung der Lyrik allein bei den Forschenden liegen. Bei der stärker partizipativen Participant-voiced Poetry (Prendergast 2009) können, wie im Falle von Rosemary Reilly (2013), auch die Interviewtranskripte von den „Beforschten“ als Gedichte übersetzt werden. Neben dem Ziel der Teilhabe der Forschungsteilnehmenden auch an der Produktion der Ergebnisse erlaubt diese Vorgehensweise gleichzeitig auch eine (kommunikative) Validierung bzw. ein „member checking“ (Steinke 1999). Diese künstlerische Darstellung kann noch erweitert werden, wie das Beispiel von Kip Jones (2004a) zeigt, der ein Interview mit Mary Gergen collagen-artig gestaltet (Abb. 1). Dabei wurde das Transkript (das auch in seiner ursprünglichen Form nachlesbar ist, Jones 2004b), nicht analysiert, „but left open and transparent. Still, the production of the story becomes the creative output and social construction of both the storyteller and the interviewer (the performer and the audience) and, in this case particularly, one story of many stories that could have been told by the person interviewed.“ (Jones 2004a, unpag)
Diese Rezeptionsoffenheit ist nicht nur für Jones ein Kennzeichen „guter“ performativer Sozialwissenschaft.
3.2
Musik, Tanz und Theater
Überarbeitete Transkriptauszüge können auch als Songtexte verwendet werden. Die Bezüge auf Musik finden sich verschiedentlich, etwa als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen oder als „Verarbeitungsform“. Auch Gergen und Gergen haben bei Vorträgen musikalische Performances dargeboten. Allerdings gilt: „In the conversation about the arts in research [. . .] [t]he voice of music has been relatively mute“ (Bresler 2008, S. 225). Dies gilt insbesondere dann, wenn Musik ohne Texte als Gegenstand der Forschung eingesetzt wird. Schwerpunkte der performativen Sozialwissenschaft richten sich hierbei auf das Hören von Musik als einen anderen – auch leiblichen – Zugang sowie auf Möglichkeiten von Komposition und Improvisation. Lediglich kurz markiert sei quasi als Kontrapunkt zu Musik das Projekt „The Silence Meal“ (http://silenceproject.fi/) der finnischen Künstlerin Nina
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Abb. 1 Ausschnitt aus „Thoroughly Post-Modern Mary. A Biographic Narrative Interview With Mary Gergen“ (Jones 2004a)
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Backman, bei dem „sensory experiences that can be both physical, emotional, spiritual or cultural in nature“, erforscht werden (Mey 2018a). Insofern sind in diesem Genre mehr Vorgehensweisen der Artistic Research zu finden denn die Nutzung von Künsten zur „puren“ Darstellung und Vermittlung von Forschungsresultaten. Ähnlich verhält es sich mit Bezugnahmen zum Tanz, auch dieser wird – neben dem Aspekt der Aufführung – mehr als Explorationsverfahren eingesetzt und diskutiert. So verwendet Jack Migdalek (2015) z. B. Tanz zur Untersuchung von Geschlechternormen: Er und Teilnehmende nutzten eine Toncollage, die entweder eher maskuline oder eher feminine Bewegungen evozierte, um sich entweder eher feminin zu maskuliner und eher maskulin zu femininer Musik zu bewegen oder sich zu „widersetzen“. Anders als im Falle von Musik und Tanz bieten Theateraufführungen die Möglichkeit, direkten sprachlichen Bezug auf die Forschungsergebnisse zu nehmen. So haben Gray und Sinding (2002) ihre Studie zu Brustkrebs, in deren Rahmen sie mit Betroffenen, Angehörigen und Ärzt/innen Fokusgruppen und Interviews geführt haben, in dem 45-minütigen Theaterstück „Handle with Care“ aufbereitet. Dabei wurden zwei Fassungen erstellt, eine, die sich an Lai/innen richtet und eine, die sich an Expert/innen wendet. In dem Stück werden verschiedene Situationen, Problematiken und Herausforderungen thematisiert, auf die Frauen mit metastasierendem Brustkrebs und ihre Angehörigen treffen können: die Verkündung des Befundes, die Suche nach Erklärungen („Warum ich?“), das Verhalten des Umfeldes (Ratschläge, Sorgen), der Austausch mit anderen Betroffenen (Unterstützung), das Verhalten der Professionellen sowie die individuellen Wünsche und Hoffnungen der Betroffenen. Zum Beispiel wird in der Eingangsszene dargestellt, wie die Mitteilung der Diagnose „erlebt“ wird. Die Szenerie ist karg: ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, Akten liegen auf dem Tisch. Die Betroffene sitzt dem Arzt gegenüber, dieser verliest in einer Fachsprache die Diagnose. Die Betroffene versteht nur wenig von dem, was ihr gesagt wird. Der Arzt wiederum beachtet die Reaktionen der Patientin nicht. Sie ist schwarz gekleidet, hinter ihr stehen drei weitere Akteur/innen (ebenfalls in schwarz gekleidet), die nun abwechselnd und durcheinandersprechend verschiedene Gedanken äußern (stellvertretend für die Frau bzw. ein verbreitetes Reaktionsmuster vieler Frauen) und immer wiederkehrend sagen: „I can’t belief it!“ Mary Gergen (2003, Abs. 7) befindet zu dieser auf Video aufgezeichneten Theateraufführung, die der Buchfassung beiliegt: „Because ‚real people‘ spoke the lines of the dialogue in the performance, there is a freshness and an emotional appeal, as well as a cross-cutting grain of humor and pathos. It has been assembled in an aesthetically pleasing way. This is not an amateurish construction of intellectual ideas pretending to be drama, pushed through the lips of unwilling actors.“
Ebenfalls sind die Arbeiten von Johnny Saldana zu erwähnen, der theatrale Aufführungen für die Präsentation seiner Studien nutzt (Saldana 2011). Als Grundlage dienen ihm In-vivo-Kodierungen von Interviewtranskripten, und er inszeniert über unterschiedliche Charaktere unterschiedliche Perspektiven in seinem Datenma-
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terial (Saldana 2005). Auch hat Saldana auf Grundlage der Befunde von Finley und Finley (1998) über das Leben und Erleben von fünf obdachlosen Jugendlichen in New Orleans ethnografische Studien vor Ort durchgeführt, die dann in die Produktion des Theaterstücks „Street Rat“ eingeflossen sind (Saldana et al. 2005). In Deutschland ist das 2013–2015 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführte Projekt „Die Sozialwissenschaften im Theater“ zu nennen, in dessen Rahmen von Ruppel et al. (2020) – die in unterschiedlichsten Lehr- und Forschungssettings zu Kooperationen zwischen (Nachwuchs-)Wissenschaftler/innen und Künstler/ innen einladen – zwei einjährige Lehrforschungsprojekte umgesetzt wurden. In diesen interdisziplinär zusammengesetzten Studierendengruppen wurden ausgewählte Lebens- und Arbeitswelten rund um die darstellenden Künste, insbesondere das Theater, mittels qualitativer Methoden beforscht und die Ergebnisse als Performances – unter Einbezug von Tanz, Film und Installationen – in Kooperation mit den Bad Hersfelder Festspielen sowie dem Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) einer breiten Öffentlichkeit präsentiert und in Publikumsgesprächen diskutiert. Schon lange wird im Zentrum für Performance Studies an der Universität Bremen – zurückgehend auf das 1992 gegründete „Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst“ (TdV) – die inter- und transdiziplinäre Vernetzung unterschiedlicher Wissenskulturen inklusive der Entwicklung neuer Veranstaltungsformate umgesetzt. Im Mittelpunkt der Aktivitäten des TdV steht die Kollaboration von Hochschulangehörigen unterschiedlicher Fachrichtungen mit professionellen Aufführungskünstler/innen. Das Ensemble greift Themen und Fragestellungen aus Seminaren verschiedener Disziplinen auf und setzt diese performativ um. Die daraus hervorgehenden Inszenierungen werden regional wie überregional öffentlich aufgeführt und in diverse Arbeitszusammenhänge (Beruf und Wirtschaft, Schule und Hochschule, Gesundheit, Politik oder Kultur) rückgebunden (Lagaay und Seitz 2018). Innerhalb der performativen Sozialwissenschaft wird zuweilen zwischen Ethnodrama, also der Aufarbeitung der Daten als Skript, und Ethnotheatre als der Aufführung des Datenmaterials unterschieden (Leavy 2015a, S. 182). Mit Saldana lassen sich zudem noch sogenannte Postperformance Sessions anführen, bei denen die Zuschauer/innen ihre Eindrücke über ein Stück diskutieren. Diese Sessions wiederum bieten neben der Information zur Rezeption des Stücks auch die Gelegenheit zur Generierung zusätzlicher Daten, die ggf. im Fortgang weiter analysiert werden und zudem in die weiteren Aufführungen einfließen können (Leavy 2015a; Norris 2009). Die Kollaboration aller Beteiligten bei Theaterdarstellungen ist dann am intensivsten, wenn die Erarbeitung und Aufführung strikt partizipativ ausgerichtet sind, also das Skript und die Inszenierung in Kooperation zwischen Forschenden und Studienteilnehmenden – wie auch im Falle von Gray und Sinding – erstellt werden. Die Möglichkeiten, das Theater neben der Präsentation von Ergebnissen auch für die Erforschung von gesellschaftlichen Phänomenen zu nutzen, lassen sich noch weiterführen (und zukünftige Kollaborationen denken), wenn berücksichtigt wird, dass sich in der Theaterlandschaft ein Wandel zum sog. „Recherchetheater“ abzeichnet. Beim diesem liegt der Fokus nicht auf der Inszenierung, sondern auf dem Prozess, wie Recherchen entstehen, weiterentwickelt und schließlich in ein künstle-
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risches Ergebnis transformiert werden. Recherche wird – z. T. explizit unter Rückgriff auf Methoden qualitativer Forschung – als eine Haltung verstanden, mit der Künstler/innen „in die Wirklichkeit hinausgehen und sich von ihr irritieren lassen“ (Feindel und Rausch 2016, unpag).
3.3
Visuelle Darstellungen im Film und Foto
In Folge des „Visual Turn“ besteht ein Boom am Einsatz von Video-/Filmdaten, wobei überwiegend Forschende mittels Videografie (Tuma et al. 2013) Dokumente erzeugen, dies allerdings vor allem, um alltägliche oder außeralltägliche Ereignisse und Handlungsabläufe zu erfassen, die dann analysiert werden (siehe Moritz und Corsten 2018 zu verschiedenen videoanalytischen Ansätzen). Demgegenüber zielt insbesondere Bina Mohn (z. B. 2002) als eine der wenigen Forschenden auch auf die Erstellung von Videodokumenten auf der Grundlage ihrer eigenen Studien ab, d. h., für sie sind ethnografische(s) Filme(n) Produkt und Forschungstätigkeit. Darüber hinaus finden sich ganz verschiedene Versuche, die Ergebnisse von Forschung in Filmen zu präsentieren und damit Wissenschaft (Forschende) und Film (Regisseur/innen, Filmautor/innen) in einen Dialog zu bringen. Die Spanne reicht von Spielfilmen über Dokumentarfilme bis zu Features; neben Bewegtbildern werden auch Stilbilder für die Ergebnisgenerierung und -präsentation genutzt. Der Spielfilm „Einstweilen wird es Mittag“ von Karin Brandauer (2010) aus dem Jahr 1988 basiert auf der klassischen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda et al. (1975 [1933]). Ein Vergleich mit der Originalarbeit zeigt, dass Brandauer viele der Ergebnisse in den Film einfließen lässt. So werden Rahmenbedingungen der Forschungsarbeit wie der konkrete Ort Marienthal (im Film „Weißenfels“ genannt) vorgestellt. Die Vielfalt des methodischen Zugangs – u. a. Beobachtungen, Zeitverwendungsbögen, Schulaufsätze, Befragungen – wird in die Filmerzählung eingeflochten, z. T. durch Kommentierungen der Forschungsarbeit oder Teambesprechungen, oder filmisch dargeboten. Auch die zentralen Ergebnisse (die vier Haltungstypen im Umgang mit Arbeitslosigkeit: resignativ, apathisch, verzweifelt, ungebrochen) werden entfaltet und über Einblicke in den Familienalltag und einzelne Hauptcharaktere anschaulich gemacht; insgesamt wird die mit Massenarbeitslosigkeit verbundene Trost- und Perspektivlosigkeit in Szene gesetzt. Auch wenn sich im Film viele Elemente aus der Studie finden, so ist es keine werkgetreue Wiedergabe. Aufgrund der künstlerischen Freiheiten und um das dramaturgische Narrativ zu entfalten, wurden einige Abläufe geändert: So wird der Abriss der Fabrik im Film am Ende gezeigt, obwohl dieser bereits vor der Durchführung der Studie erfolgte. Die künstlerische Freiheit kommt insbesondere zum Tragen, da der Film im Grunde als Geschichte der Forschungsarbeit und des Forschungsteams angelegt wird. Jahoda (1997) hat dies in einem Interview auch kritisch kommentiert: Die Liebesbeziehung zwischen ihr (Filmname: Ruth Weiss) und Lazarsfeld (Filmname: Robert Bergheim) habe so nicht mehr existiert, und auch die eher skeptische Haltung und Resistenz der Beforschten gegenüber dem Forschungsteam entspräche nicht den „Tatsachen“. Gleichwohl machen dieser Erzählfokus und die gewählte Dramaturgie den Film für die qualitative For-
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schung interessant und auch als „Lehrfilm“ in der Methodenausbildung verwendbar (Kanter und Mey 2020). Explizit unter dem Label performative Sozialwissenschaft entstanden ist der 30-minütige Kurzspielfilm „Rufus Stone“, der die Ergebnisse einer mehrjährigen Studie über die Identität älterer homosexueller Männer und Frauen in England thematisiert (Jones 2013). Er basiert auf biografischen Interviews und Gruppendiskussionen, ergänzt um die Beobachtung von Orten, an denen sich ältere homosexuelle Menschen treffen und leben. Die filmische Umsetzung leistete der Regisseur Josh Appignanesi auf der Basis eines von Kip Jones erstellten Filmskripts, das er als eine „fictive reality“ versteht: „Fictive reality is conceived as the ability to engage in imaginative and creative invention while remaining true to the remembered realities as told through the narrations of others. Several, in fact, may recount a similar incident. When these reports are combined into one person’s story, a ‚fiction‘ is born.“ (Jones et al. 2013, Abs. 18)
Wissenschaftliche Studien oder Auseinandersetzungen mit dem Werk und der Person von Forschenden sind auch Gegenstand dokumentarfilmischer Bearbeitungen. Diese – z. T. auch für ein nicht-fachwissenschaftliches Publikum umgesetzten – Beiträge widmen sich der alltäglichen Arbeitspraxis oder visualisieren wissenschaftliche Erkenntnisse.2 Dabei unterscheiden sich nach Carsten Heinze (2016) dokumentarische Filme hinsichtlich des dramaturgischen Anspruchs an die filmische Umsetzung und Gestaltung noch einmal von ihrer Inszenierung im fiktionalen Film. Allerdings könnten sich dabei auf der narrativen und auch ästhetischen Ebene durchaus Parallelen zwischen der Darstellung und Bewertung von Wissenschaft im Spielfilm und dem dokumentarischen Film finden. Mithin lassen sich Heinze zufolge das Fiktionale (verstanden als filmisches Gestaltungsmittel) und das Dokumentarische in beiden Stilen nicht eindeutig voneinander unterscheiden, „in der Fiktion können sich Arbeits- und Denkansätze symbolisch verdichten“ (Heinze 2016, S. 161). In dem sozialwissenschaftlichen Film „Auf den Spuren von Martha Muchow“ (Mey und Wallbrecht 2016) wird insbesondere mit einem Zusammenschnitt aus Interviews mit Expert/innen gearbeitet, die sich zur Person Muchows und ihrer aus heutiger Sicht als „Hauptwerk“ geltenden Studie „Der Lebensraum des Großstadtkin-
Jenseits der Psychologie finden sich einige Beispiele, etwa: „Die feinen Unterschiede und wie sie entstehen. Pierre Bourdieu erforscht unseren Alltag“ (Zimmermann und de Leuw 1983), eine 45-minütige TV-Produktion, die sich dem bekannten kultursoziologischen Werk von Pierre Bourdieus widmet. Gearbeitet wurde mit unterschiedlichsten Bildmaterialien, Interviews, Alltagsbeobachtungen, Fotografien, die eine dichte Reportage entstehen ließen. Der fast 2½-stündige französische Film „Soziologie ist ein Kampfsport: Pierre Bourdieu im Portrait (Carles 2009) begleitet und beobachtet den französischen Soziologen bei seiner Arbeit in Hörsälen, im Gespräch mit Journalist/ innen, bei Fernsehauftritten etc. und lässt sich als Ethnografie der alltäglichen Wissenschaftspraxis verstehen (zu diesem Film: Heinze 2011). Stärker als biografisches und werkorientiertes Porträt angelegt ist der dokumentarische Film „Claude Levi-Strauss: Selbstbildnis des Ethnologen“ (Boutang und Chevallay 2011).
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des“ (Muchow und Muchow 2012 [1935]) äußern. Die so entstandene Gesprächscollage über die Hamburger Kindheitsforscherin, die im September 1933 angesichts von nationalsozialistischer Hetze und Repressionen Suizid beging und deren Buch bis in die späten 1970er „verschwand“, wird mit historischen Aufnahmen unterlegt. Insbesondere sind dies Ausschnitte aus dem Film „Das Kind und seine Welt“ von Kurt Lewin, der zeitgleich zu Muchows Arbeit unter der Regie von Eberhard Frowein 1935 entstand. Zusätzlich finden sich einige „nachgestellte“ Szenen (Reenactment) und von Schauspielenden eingesprochene Auszüge aus der Studie bzw. zeitgeschichtlichen Dokumenten (u. a. ein Denunziationsbrief, ein nationalsozialistischer Gesetzestext und Briefe) (Miko-Schefzig 2019). Die Dramaturgie des Filmes wurde im Laufe der zweijährigen Studie entwickelt und je nach Material auch immer wieder geändert. Sie orientiert sich an einem Aufsatz über Martha Muchow und der Rezeptionsgeschichte des „Lebensraum“-Bandes (Mey 2001) sowie an den die Filmproduktion flankierenden Forschungsarbeiten (Mey 2013; Mey und Günther 2015; s. auch http://www. qualitative-forschung.de/film_muchow/). Eine Dokumentation über die Entwicklung eines autistischen Mädchens zeigt der Film „Samantha“ von Markus Wenglorz und Werner Deutsch (Wenglorz und Deutsch 1997). Die in vier Kapiteln angelegte Dokumentation – in der das zumeist Gezeigte im Off-Ton beschrieben und kommentiert wird – basiert auf einer mehrjährigen Einzelfallstudie, in der Wenglorz seine Beobachtungen in Forschungstagebüchern, Fotos und Video festgehalten hat (Wenglorz 2001; s. auch Mey und Wenglorz 2005). Aus der Komposition der Bilder und vor allem aufgrund der den Bildern unterlegten Kommentare wird der Charakter eines „Lehrfilms“ erzeugt. Fotomaterial wird überwiegend als partizipatives Element in Studien genutzt, in denen die Beforschten Fotografien erstellen (z. B. Kolb 2008); seltener werden Fotos als Zugang zu Themenfeldern eigens von Künstler/innen für Forschungsprojekte produziert. Letzteres wurde im Rahmen einer Studie zu intergenerationalen Beziehungen an der TU Berlin realisiert, in dem das Thema einer Klasse von Schüler/ innen einer Foto-Design-Schule vorgestellt und der Auftrag erteilt wurde, die Begegnungen von Jung und Alt im städtischen Lebensraum zu „dokumentieren“. Aus den insgesamt 26 erzeugten Fotoreihen wurden einzelne Exponate von elf Fotograf/innen ausgewählt, die sehr verschiedene Motive und Bildsprachen aufwiesen. Diese wurden in einer Ausstellung präsentiert (Mey 2005) und später anlässlich des Rahmenthemas „Dialog der Generationen“ auf der 19. Tagung Entwicklungspsychologie in Hildesheim als Intro-Diashow per Endlosschleife gezeigt.
3.4
Ausstellungen
Interessanterweise finden sich in den meisten Bänden zur performativen Sozialwissenschaft wenig explizite Hinweise auf Ausstellungen bzw. diese werden z. T. nur am Rande erwähnt (z. B. Church 2008; Sullivan 2010, S. 207–210). Dabei bieten Ausstellungen eine besondere Möglichkeit, Wissenschaft und Forschungsergebnisse unter Rückgriff auf textuelles, auditives und visuelles Material zu präsentieren. Die
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Präsentationen unterscheiden sich dabei von kleineren Formaten bis hin zu groß kuratierten Ausstellungen und beziehen in unterschiedlichem Maße Artefakte, Fotos, Filme etc. ein bzw. integrieren in der Ausstellungsarchitektur Klang-, Musikoder Lichtinstallationen. Insbesondere die Arbeiten aus dem Umfeld von Heiner Legewie nutzen das Format der „Bürgerausstellung“ (Böhm et al. 2008; Keppler et al. 2013). Bei diesen werden die Ergebnisse aus Studien (zumeist basieren sie auf Interviews) in Form von Ergebnispostern aufbereitet, in denen zumeist fallorientiert die zentralen Auszüge aus den Interviews zusammengefasst, besonders prägnante Zitate ausgewählt und mit Fotos der Befragten versehen werden. Die so aufbereiteten Poster werden als Ausstellung oder als Rundgang aufgebaut, häufig in für die Bürger/innen zentralen Einrichtungen. Die Ausstellungseröffnung wird teilweise auch unter Einbezug der Befragten gestaltet, die auch auf diese Weise zu Wort kommen sollen. Eine der ersten Arbeiten von Legewie (2003) wurde im Rahmen einer gemeindepsychologischen Studie umgesetzt, in der er die Auswirkungen der Wandlungsprozesse insbesondere des Massentourismus’ und der ökonomischen Aufwertung historischer Wohnquartiere in Berlin und Florenz untersuchte. Hierbei erhob er neben Erfahrungen und Wünschen der Befragten auch deren konkrete Verbesserungsvorschläge für die Lebensbedingungen in ihrem Viertel. Mit der öffentlichen Präsentation der „Bürgerausstellung“ in beiden Städten – und den in dem Begleitkatalog in italienischer und deutscher Sprache erstellten Bewohnerportraits – verband Legewie das Ziel, den vielfältigen Sichtweisen von Bürger/innen und Expert/innen ein Forum zu geben und damit (Denk-)Anstöße für den öffentlichen Diskurs über aktuelle Probleme urbaner Lebensqualität anzuregen. Die Ausstellungsarchitektur kann – auch in Abhängigkeit vom Thema – variieren. So konfrontierten Legewie, Jaeggi und Bergold die Ergebnisse ihrer Studie zu „Kreativität im Alter“, bei der ältere Künstler/innen interviewt wurden, mit deren Werken (http://schoepferisch-im-alter.blog spot.de/). Dieses Format nutzte Legewie ebenso bei der Präsentation seiner Studie „Künstler in Athen – Stadt der Krise“ (Legewie und Eichinger 2017). In dieser wurden griechische Künstler/innen interviewt und bei ihrer Arbeit fotografiert, um aufzuzeigen, wie Kunst, Künstler/innenbiografie und die in Griechenland vorherrschende ökonomische Krise miteinander in Beziehung stehen. Für Ausstellungen im öffentlichen Raum oder als Umnutzung leer stehender Gebäude für temporäre Präsentationen seien die Arbeiten zu „Heimat“ und „Angst (frei)“ von Günter Mey angeführt. Im Rahmen des „Angst(frei)-Festivals“ in Stendal präsentierte er die Ergebnisse einer Interviewstudie zum einen auf großflächigen Fotos mit dem Konterfei der Befragten und einer zentralen Aussage zum Thema Angst. Insgesamt 36 dieser Bilder wurden im öffentlichen Stadtraum für neun Tage installiert. Zum anderen wurden die Studienergebnisse in einem Zellentrakt der leer stehenden JVA in Form von aufbereiteten Interviewdossiers und Hörstationen präsentiert (Mey 2011). Bei der Ausstellung „Heimat“ wurden die Ergebnisse als „skulpturale Collagen“ in einem leer stehenden Kaufhaus im Zentrum der Stadt Stendal umgesetzt, eingebettet in die zweitägige Aktion „Heimatperspektiven“. Verschiedene Installationen (auf die Interviewauszüge projiziert oder akustisch
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eigespielt wurden) und Objekte (mit montierten Zitaten) boten Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Fragen nach der emotionalen Verbundenheit von Menschen mit Orten/Ideen sowie sozialen und lokalen Besonderheiten für die individuelle Konstruktion von „Heimat“. Letztlich sollte gezeigt werden, wie sich „Beheimatung“ als kontinuierliche Herstellung von Biografie unter einer identitätsbezogenen Perspektive beschreiben lässt (https://www.hs-magdeburg.de/hoch schule/fachbereiche/angewandte-humanwissenschaften/forschung/beheimatenskulpturale-collagen.html). Als museale Ausstellung hat Mey die Studie „Jugendkultur in Stendal: 1950–1990“ umgesetzt. In dem Sonderausstellungsbereich des Altmärkischen Museums wurden thematisch drei Räume – „Der Sound“, „Der Style“, „Die Events“ – gestaltet. In jedem wurden Videocollagen aus über 30 Interviews mit heute 45–80-Jährigen in einer Länge von je 30 Minuten gezeigt, fast hundert Interviewauszüge montiert sowie Originalfotos aus vier Jahrzehnten und auch Artefakte ausgestellt (Mey 2018b; s. auch https:// ausstellung-jugendkultur-stendal-1950-1990.h2.de/). Gänzlich anders angelegt sind Präsentationen, die primär als Kunstausstellungen kuratiert wurden. So zielte etwa „Megacool 4.0 – Jugend und Kunst“ (Richard und Krüger 2012) darauf, Jugendkultur mit den Mitteln zeitgenössischer Kunst darzustellen. Gezeigt wurden Fotografien, Medien- und Videokunst, Malerei, Streetart und Skulpturen verschiedenster internationaler Künstler/innen. Darüber hinaus wurden Objekte und Alltagsgegenstände aus diversen Jugendszenen präsentiert. Zudem wurden Exponate von jugendkulturell „typischen“ Stile (u. a. Gothics, Hipster, Hip-Hopper, Metalheads, Raver etc.) per interaktiver Installationen visualisiert. Auch die Ausstellungen von Bjarne Sode Funch von der Roskilde Universität, die er gemeinsam mit Inge Merete Kjeldgaard vom Esbjerg Kunstmuseum in Dänemark konzipierte, sind kuratierte Präsentationen. In den vier Ausstellungen unter dem Motto „Art in Context“ (2007: „An Sigt“ [„Ein Ziel“], 2008 „The Map is not the Territority“, 2011: „Live Tegn“ [„Lebenszeichen“] sowie 2013: „What I am doing here? An Exhibition on Art and Existence“) wurden jeweils ein Wissenschaftler und ein/e Künstler/in zusammengebracht, um das jeweilige Thema umzusetzen. Für „What I am doing here? An Exhibition on Art and Existence“ waren dies Nina Saunders und Ernesto Spinelli, der als Psychotherapeut im Feld der existenzialistischen Psychologie tätig ist. In der Ausstellung fanden sich Gemälde, Objekte, Installationen und Filme, um sich dem Thema „Existenz“ anzunähern (Esbjerg Kunstmuseum 2013). Zwischen diesen beiden Polen, auf der einen Seite auf Postern aufbereitete Interviews im Rahmen von Bürgerausstellungen und auf der anderen Seite den mit Kunstwerken kuratierten Themenausstellungen, lassen sich die Ausstellungsformate für die öffentliche Präsentation verorten. Es variieren dabei nicht nur die Formate und die Ausstellungselemente, sondern auch die Orte (von Stadtöffentlichkeit, städtischen Sozialeinrichtungen bis hin zu – großen – Museen). Ausstellungen bilden dabei eines der ältesten Formate, die dem Auftrag der Vermittlung und Bildung folgen. Dies wird z. B. besonders deutlich bei den großen Wissenschaftsausstellungen, wie sie im Deutschen Hygiene Museum gezeigt werden. An diesen werden auch sich wandelnde Präsentationskonzepte und Museumauffassungen hin
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zum sog. „konstruktivistischen Museum“ verständlich, wie dies Lepenies (2003) am Beispiel der Wissenschaftsausstellung „Alt & Jung – Das Abenteuer der Generationen (Lepenies 1997) herausstellt. Museen sollen aus dieser Perspektive Orte sein, an denen gelernt, entdeckt und konstruiert werden kann – wenn es gelingt, dass die eigenen Erfahrungen mithilfe der Themen und Objekte der Ausstellung erweitert und hinterfragt werden können“. Es geht nunmehr nicht mehr länger um das „Public Understanding of Science“, bei dem wissenschaftliche Ergebnisse in Form von Fakten und Produkten präsentiert werden, vielmehr soll – im Sinne eines „Public Understanding of (Current) Research“ – ein Verständnis für eine sich im Prozess befindliche Forschung geschaffen werden (Field und Powell 2001).
4
Zentrale Fragen und Herausforderungen
Mit der zuvor vorgenommenen „Werkschau“ performativer Sozialwissenschaft ist trotz der Fülle an Projekten nur ein Ausschnitt an möglichen Präsentationsmodi und einbezogenen Genres vorgestellt worden. Zum einen lassen sich weitere Darstellungen etwa aus dem Bereich der bildendenden Künste (Malerei, Bildhauerei etc.) oder des Web 2.0 (z. B. Blogs und interaktive Webseiten etc.) finden, zum anderen existieren vielfältige Hybridformen. Wie bei Ausstellungen mit Installationen, Texten, Foto/Video etc. werden auch bei Theaterausführungen verschiedene Medien und Genres miteinander „ins Gespräch“ gebracht (Tanz, Lesung, Bühnenbild, Video etc.); literarische Werke wiederum können visuelles Material einbinden oder in Form von Zines oder Comics umgesetzt werden. Entlang der aufgezeigten Praxis wird deutlich, dass performative Sozialwissenschaft keine klar definierte Vorgehensweise ist, für die ein Set an Methoden der Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse sowie Präsentation und Verbreitung anzugeben wäre, sondern ein Ansatz, der eine Vielzahl an Realisierungsformen aufweist. Diese reichen von zusätzlich zum eigentlichen Forschungsbericht umgesetzten Disseminationsstrategien bis hin zu gleich zu Beginn und triangulativ angelegten Projekten, bei denen die künstlerischen Mittel nicht nur – im Sinne einer Artsinformed Research – zur „nachträglichen“ Übersetzung, sondern – wie bei der Artistic bzw. Arts-based Research – als Explorationsmethode eingesetzt werden. Die Projekte werden allein von den Forschenden umgesetzt oder sind partizipativ angelegt, d. h., dass Forschende und Beforschte als Mitforschende den Prozess und auch das daraus hervorgehende Produkt verantworten. Und ebenso variieren sie dahingehend, ob Forschende (und Mitforschende) versuchen, die Resultate allein zu übersetzen oder mit professionell arbeitenden Künstler/innen eine Umsetzung realisieren – wobei auch hier zu unterscheiden ist, ob dies im Anschluss an die Forschungsarbeit oder von Beginn an erfolgt. In diesem Sinne firmiert ein sehr heterogenes Feld unter dem Label der performativen Sozialwissenschaft. Gemeinsam aber ist allen Projekten, dass sie über den ursprünglichen Entstehungskontext (Forschung) hinaus einen breiteren Verwertungszusammenhang (Öffentlichkeit) suchen. Kip Jones (2014, unpag.) hält dazu fest:
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„Performative Social Science is not simply writing a poem or putting on a play merely because that happens to be a pastime (or frustration) of an academic. Rather, it is finding the right artsbased method to help answer the research question and/or to disseminate the findings to the public. Ideally, it is about forming collaborations with artists themselves and creating a professional learning and/or dissemination experience, which includes the wider community to engender a meaningful investment in the project, its outputs and outcomes“.
Dass bei dieser Form der Übersetzungsarbeit für die Öffentlichkeit mithin andere Ansprüche und Anforderungen gestellt werden und auch die Ergebnisse anders zu bewerten sind, verweist auf eine der zentralen Diskussionslinien, mit denen sich performative Sozialwissenschaft konfrontiert sieht – die Frage nämlich, wie viel Wissenschaft enthalten ist (und welche Kriterien dazu heranzuziehen sind) und wieviel Kunst sie auszeichnet, und entlang welcher evaluativen Momente dies wiederum zu kartieren ist (z. B. Leavy 2015a, Kap. 8). Grade weil in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielfalt unterschiedlicher Definitionen und Vorgehensweisen entwickelt wurde, scheint die Antwort, was nun an der performativen Sozialwissenschaft Kunst und was Wissenschaft – und im engeren Sinne: qualitative Forschung – ist nur noch schwer möglich. Margrit Schreier (2017) sieht drei Spannungsverhältnisse zwischen performativer Sozialwissenschaft einerseits und qualitativer Forschung andererseits: Dies betrifft erstens die Art des generierten Wissens. Demnach zeichne sich qualitative Forschung durch konzeptuelles und diskursives Wissen aus, während das Wissen in der performativen Sozialwissenschaften prä-konzeptuell und nicht-diskursiv sei. Entsprechend sieht Schreier, „dass qualitative Sozialforschung häufig nach Antworten auf eine Forschungsfrage sucht“, während es bei der performativen Sozialwissenschaft „wesentlich um die Generierung von Problembeschreibungen und alternativen Sichtweisen geht“ (Schreier 2017, Abs. 29). Zudem hat nach Schreier bei der performativen Sozialwissenschaft die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit von Wissen Priorität. Damit einher gehe zweitens die unterschiedliche Rolle der Rezeption im Forschungsprozess. Denn in der performativen Sozialwissenschaft sei die Rezeption konstitutiv und essenziell. Wenn die Präsentation keine Reaktion provoziere (nicht „berührt“) oder auch „irritiere“ und nicht zumindest einen – temporären – Perspektivwechsel eröffne, habe sie ihr Ziel verfehlt. Drittens sei performative Sozialwissenschaft auf ein breiteres und auch nichtakademisches Publikum und auf die Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeit ausgerichtet, wie dies innerhalb der qualitativen Forschung am ehesten auf partizipative Ansätze oder Action Research zutrifft. Fragen, die sich daher stellen, zielen auf die Passung des Untersuchungsgegenstands und der gewählten performativen Umsetzung. Auch wenn sich sehr verschiedene Genres innerhalb der performativen Sozialwissenschaft finden, scheinen wenige (bis keine) Vorgaben zu existieren, wann welche Form – etwa als Film, als Theater oder Poetik – zu wählen ist. Die jeweilige Forschungsfrage legt den Präsentationsrahmen nicht fest, mithin liegt es an der Affinität der Forschenden zu den jeweiligen Genres oder die je verfügbaren Ressourcen und Netzwerken sind für das (Nicht-)Zustandekommen von Kollaborationen ausschlaggebend. Gleichwohl soll-
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ten die an diesem Prozess Beteiligten sich fragen (und explizieren), welcher Darstellungsmodus der angemessenste für die erarbeiteten (Zwischen-)Ergebnisse sein könnte. Denn wenn die Darstellung selbst auch (Teil des) Ergebnis(ses) ist, muss reflektiert werden, wie dieses mit welchen künstlerischen Mitteln (und d. h.: warum genau mit den gewählten) „übersetzt“ – hergestellt – wird. Mehr noch: Es gilt auch, die Konsequenzen, die aus dem jeweils gewählten Präsentationsformat und den je gegebenen Produktionsbedingungen resultieren und die die Konstruktion der erhobenen Daten betreffen (können), zu reflektieren. Die Präsentation von Interviews in einem Film nimmt Einfluss auf die Erhebungssituation: Eine „intimes“ Gespräch in einem gut ausgeleuchteten Raum, die Aufzeichnung mit – in der Regel zwei – Kameras, die Vorgabe, eine bestimmte Blickrichtung einzunehmen, die sprachliche Darstellung (Versprecher etc.) und die ggf. „für den Film“ nochmalige Beantwortung einer Frage verändern das Setting. Das Wissen, später „öffentlich“ und „erkennbar“ zu sein, kann das, was (nicht) gesagt wird (und wer sich überhaupt bereit erklärt, Teil des Samples zu sein), erheblich beeinflussen. Auch wenn Filmpräsentationen (via Schnitt etc.) bearbeitete Dokumente sind, ist hier der Verwertungszusammenhang präsenter als bei anderen Modi, bei denen aus den Transkripten durch Überarbeitungen eben Poetik oder ein Skript für ein Theaterstück entsteht. Doch auch für Letztere kann das Wissen, Texte/Aussagen zu produzieren, bereits die Erhebung steuern, um „prägnante“ Sätze zu evozieren. Inwieweit solche Einflüsse minimiert werden können, wenn später die aufbereiteten Interviews von Schauspieler/innen eingesprochen werden (und darüber zusätzlich eine inszenierte Verfremdung erreicht wird), wäre eine zu evaluierende Frage. Wie bei der Erhebung sind bei der Aufbereitung und Auswertung der erzeugten Daten zahlreiche Entscheidungen zu treffen: Welches Material wird überhaupt ausgewählt, welches soll dominant präsentiert werden? Die Analyse im Rahmen eines qualitativen Forschungsprojekts und die Herausarbeitung der Ergebnisse (je nach Auswertungsmethode als Kategorien, Fallstrukturhypothese oder als Typik) und deren systematisierte Darstellung in einem Forschungsbericht folgen einer anderen Logik als das Narrativ eines Films, eines Theaterstücks, das „unterhalten“ – und „ansprechen(d sein)“ will. Damit geht einher, dass sich performative Sozialwissenschaft, wenn sie kollaborativ angelegt ist, inter-/transdisziplinär öffnen muss. Die in den verschiedenen Disziplinen vorherrschenden Arbeitsweisen, die auch von Zeitregimes und verfügbaren (finanziellen) Ressourcen moderiert werden, nehmen stärker Einfluss, als oftmals kenntlich gemacht wird, das „Augenfällige“ kann z. T. ohne eingehende Analyse als das Repräsentative genommen werden. So kann die Präsentation gelungen sein (das Publikum wurde „erreicht“), aber die dahinterliegende Forschung wurde möglicherweise weniger angemessen – etwa mit Blick auf die Geltungsbegründung qualitativer Forschung – umgesetzt. In der Regel fällt die Bewertung „guter“ qualitativer Forschung, „guter“ performativer Sozialwissenschaft und „guter“ Kunst verschieden aus, sie sollte aber nicht gänzlich separat voneinander geleistet werden.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Performative Sozialwissenschaft ist derzeit insbesondere im Feld der qualitativen Forschung zu lokalisieren, auch weil einige der Hauptprotagonist/innen in Personalunion eben qualitativ und performativ arbeiten. Ausschlagend dafür ist aber sicherlich auch, dass qualitative Forschung und performative Sozialwissenschaft einige Analogien aufweisen: Qualitative Forschung versteht sich von jeher als überwiegend „explorativ“, dies gilt mit Blick auf das zentrale „Prinzip der Offenheit“ (HoffmannRiem 1980) sowohl für die Anlage der Studien als auch für Erhebung und Auswertung. Zudem gilt in der qualitativen Forschung, dass „Methodenanwendung“ immer auch „Methodenentwicklung“ ist, um eine angemessen Passung zwischen Erkenntnisinteresse und Erkenntnisprozess zu strukturieren (Flick 2007). Darüber hinaus sind qualitativ Forschende sich zumeist der Interpretationsspielräume bei der Deutung der Materialien/Daten und der eigenen Standortgebundenheit bewusst – sie changieren zwischen „Fremdheit“ und dem „Prinzip der Kommunikation“, d. h. es überwiegt ein Verständnis von „Forschung als Handlung im Kontext“ (z. B. Mruck und Mey 2019). Schließlich ist qualitative Forschung vergleichsweise „alltagsnah“ ausgerichtet – sowohl was Fragestellungen und Problemdefinitionen als auch was die Gestaltung der Forschungssituationen via Gesprächen und Beobachtungen oder den Einbezug von Alltagsgegenständen anbelangt. Zudem ist sie – zumindest in Teilen – auch auf Kritik, Intervention und Einbezug der Beforschten ausgelegt (z. B. Bergold und Thomas 2012; Mey 2018c). Ungeachtet dessen finden sich durchaus auch Berührungsängste aufseiten qualitativ Forschender. Einige der Vorhaltungen gegen die performative Sozialwissenschaft erinnern dabei an jene vor Jahrzehnten von quantitativ Forschenden gegenüber qualitativer Forschung vorgebrachte Kritiken („Ist das – noch – Wissenschaft?“) inklusive Subjektivitätsvorwurf und Impressionsmusverdacht. Ähnlich wie sich qualitative Forschung gegen die Anlegung der klassischen Gütekriterien – Objektivität, Reliabilität, Validität – verwehrte und dem qualitativen Paradigma angemessene Kriterien (wie intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Transparenz etc.; Steinke 1999) entwickelte wird es Aufgabe sein, für die performative Sozialwissenschaft Kriterien zu präzisieren, die dem Anliegen und den Zielen dieser Forschungsrichtung entsprechen und berücksichtigen, dass es um Perspektivenvielfalt, Interpretationsangebote und Formen der Innervierung geht. Damit sind zugleich Anforderungen an die weiteren Ausarbeitung der performativen Sozialwissenschaft verbunden, denn mit Blick auf den Anspruch, Adressat/innenkreise auch jenseits von Forschung und Wissenschaft zu erreichen, sind nicht per se alle möglichen Disseminationsformen performativ zu verstehen. Je eindeutiger die Resultate übersetzt werden (ob als Broschüre oder YouTube-Video) und je konventioneller die Realisierung an die jeweils gängige Rezeption angelegt ist und auf schnelle (verständliche) Konsumtion zielt, umso mehr wird der zentrale Anspruch performativer Sozialwissenschaft auf Irritation, Perspektivierung und Einbezug verfehlt – und damit nicht zuletzt ihr subversives Moment. Da sich performativ-sozialwissenschaftliche Arbeiten derzeit überwiegend im englischsprachigen Raum (und hier wiederum vor allem in Großbritannien und
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Nordamerika) und zumeist eben auch vor allem in den Sozialwissenschaften finden, wird sich zeigen, inwieweit sich auch im deutschsprachigen Raum und in der Psychologie, in der qualitative Forschung selbst immer noch oder z. T. schon wieder peripher gehandelt wird, performative Arbeiten durchsetzen können. Und es wird sich zeigen, inwiefern qualitative Forschung das Potenzial, das andere Disziplinen wie z. B. die Theaterwissenschaften mit Blick auf Texterschließung oder Recherchemethoden aufweisen oder Filmwissenschaften/-produktion bezüglich der Gestaltung von Narrativen bereithalten, für sich zu nutzen versteht. Da innerhalb der qualitativen Forschung und im allgemeinen Wissenschaftsdiskurs eine Reihe kontroverser (durchaus auch kritischer) Diskussionen um die Darstellungsformen nicht zuletzt angesichts der „Krise der Repräsentation“ (Berg und Fuchs 1993) virulent ist, stehen die Zeichen für eine weitere Ausarbeitung performativer Sozialforschung – wohl auch innerhalb der Psychologie – ganz gut. Wie lange es aber dauern wird, dass sich künstlerische Forschung in das Methodenrepertoire (gleichberechtigt neben natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen) einschreiben kann, lässt sich dagegen nicht sagen.
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Forschungsethik Mechthild Kiegelmann
Inhalt 1 Historische Relevanz und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ethische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird Forschungsethik als eine transdisziplinäre Zusammenarbeit von Philosophie und Psychologie vorgestellt. Zweckentfremdung von Ethik für Ressourcenverteilung durch Kontrollgremien und Verkürzung von Ethik auf moralisch beladene Checklisten werden kritisch betrachtet. Stattdessen wird auf die Chancen der Reflexion von Entscheidungsprozessen für ethische Herausforderungen in den tatsächlich eingegangenen Forschungsbeziehungen verwiesen. Ethik als Wissenschaft zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen wird vorgestellt. Zentrale Themen der Forschungsethik sind informierte Einwilligung, Freiwilligkeit der Teilnahme, Antizipation und größtmögliche Vermeidung von Schadenrisiken für alle von der Forschung mittelbar oder unmittelbar betroffenen Personen, Vermeidung von Täuschung, die Wahrung der Anonymität und die Vertraulichkeit von Daten, das Beachten der Vereinbarkeit von Ethikrichtlinien mit dem jeweils geltenden Recht, Objektivität und bzw. Selbstreflexion, Prozessethik und interdisziplinäre Diskurse.
M. Kiegelmann (*) Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_28
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M. Kiegelmann
Schlüsselwörter
Ethik · Forschungsbeziehungen · Entscheidungen · Informierte Einwilligung · Ethikrichtlinien
1
Historische Relevanz und disziplinäre Einordnung
Ethisch begründete Regeln sind in der westlichen Welt seit zweieinhalb Jahrtausenden bekannt. Bereits der Hippokratische Eid legte unter anderem fest, dass nur zum Wohle, nicht zum Schaden und ohne Ansehen der Person behandelt werden muss, und dass die Behandlung der Schweigeverpflichtung unterliegt (Diller 1994). Diese Regeln reflektierten bereits, dass im Falle von Personen, die mit ihrem Wissen in das Leben einer anderen Person eingreifen, ein Machtgefälle existiert. Wie Entscheidungen verantwortungsvoll zustande kommen können, wird im Fach Ethik reflektiert. Da Sozialforscher/innen Forschungsbeziehungen initiieren, pflegen, aufrechterhalten und beenden gehört zu ihren Aufgaben, negative Auswirkungen von Machtgefällen abzuwenden und Schaden für die Forschungsteilnehmer/innen zu vermeiden. Schon im Prozess des Forschungsdesigns sind forschungsethische Fragen mit einzubeziehen. Insbesondere in qualitativer Forschung stehen Forschungsbeziehungen im Mittelpunkt und bedürfen einer laufenden Reflexion über den gesamten Forschungsprozess. Ethische Überlegungen sind nicht mit dem Forschungsdesign oder einer Mittelbewilligung abgeschlossen, sondern werden über den gesamten Forschungsprozess weitergeführt (Kiegelmann 2002a). Hella von Unger greift diese Betonung der Bedeutung der Forschungsbeziehungen auch für die Soziologie auf (von Unger 2014, S. 18). Die mit Hippokrates begründete Diskussion forschungsethischer Fragen gewinnt derzeit in der westlichen Welt vor allem in der Medizin und Pharmakologie große Bedeutung, weil hier Gefährdungen für Forschungsteilnehmende besonders deutlich wahrnehmbar sind. In Anlehnung an die medizinische Ethik wird auch in der Psychologie der Umgang mit Patient/innen und mit Forschungsteilnehmenden geregelt, wobei qualitative Forschungen in der akademischen Psychologie nur ein eher kleines Teilgebiet darstellen (Döring und Bortz 2016; Groeben 2006; Markard 2017a). Dabei sind ethische Fragen für die psychologische Forschung besonders relevant. Bereits einige klassische Experimente, beispielsweise das Milgram-Experiment (Milgram 1975; s. auch Maxwell und Loomis 2003) oder die Gefängnisstudie von Zimbardo1 zeigten dies in aller Deutlichkeit: In beiden Studien handelten Versuchspersonen so, wie sie außerhalb des Forschungskontextes nicht gehandelt hätten; Zimbardo brach seine Untersuchung aus ethischen Gründen deshalb vorzeitig ab.
1
Siehe die aktuelle Multimedia-Darstellung des Experiments: http://www.prisonexp.org/psycho logy/38.
Forschungsethik
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Das Thema Ethik erhält auch institutionelle Bedeutung, weil zunehmend Ethikkommissionen zu einer Instanz werden, die Forschungsdesigns und Forschungsanträge begutachten (Roth 2004 und die FQS-Debatte Ethik). In Nordamerika werden diese von Forscher/innen oft als bürokratische Hürden wahrgenommen (Silverman 2009, Kap. 10.6 „Research Governance“). Auch in Deutschland werden zunehmend psychologische Forschungsvorhaben vorab von Ethikkommissionen geprüft. Viele Forschungsträger verlangen mittlerweile ein positives Ethikvotum als Voraussetzung für die Bewilligung von Fördermitteln, beispielsweise auch die DFG. Die Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie stellt Musterordnungen für lokale Kommissionen zur Verfügung.2 Nicht alle qualitativ arbeitenden Psycholog/ innen begrüßen die Arbeit von Ethikkommissionen, weil einige Besonderheiten qualitativer Psychologie übersehen werden können. Baumgartinger (2014) diskutiert im Zusammenhang einer Studie im medizinischen Setting mögliche Belastungen von Forschungsteilnehmenden durch das erforderliche Einholen von Zustimmung. Der Berufsverband der Psycholog/innen (BDP) und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) haben Ethikrichtlinien verfasst. Darin heißt es: „Psychologische Forschung ist auf die Teilnahme von Menschen als Versuchspersonen angewiesen. Psychologinnen und Psychologen sind sich der Besonderheit der Rollenbeziehung zwischen Versuchsleiterin bzw. Versuchsleiter und Versuchsteilnehmerin bzw. Versuchsteilnehmer und der daraus resultierenden Verantwortung bewusst. Sie stellen sicher, dass durch die Forschung Würde und Integrität der teilnehmenden Personen nicht beeinträchtigt werden. Sie treffen alle geeigneten Maßnahmen, Sicherheit und Wohl der an der Forschung teilnehmenden Personen zu gewährleisten und versuchen, Risiken auszuschließen.“ (Berufsethische Richtlinien des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. zugleich Berufsordnung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. in der von der Delegiertenkonferenz des BDP am 04.06.2016 und von der Mitgliederversammlung der DGPs am 21.09.2016 beschlossenen Fassung, Abschn. 7.3.1).
Die US-amerikanischen Ethik-Richtlinien der „American Psychological Association“ (APA)3 fordern ausdrücklich eine informierte Einwilligung, den sogenannten informed consent, und legen dessen Inhalt fest (APA Nr. 8.02 und 8.03). Ethik kann jedoch nicht nur auf eine Genehmigungsprozedur verkürzt werden, sondern ist ein Querschnittthema für den gesamten Forschungsprozess von der Planung bis zur Veröffentlichung und praktischen Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen (Kiegelmann 2002a). Tomkinson (2015) unterscheidet in diesem Zusammenhang „Procedural and Everyday Ethics“, wobei sie sich mit „procedural“ auf Genehmigungsverfahren und mit „everyday ethics“ auf ethische Entscheidungen während der Durchführungen von Ethnografien bezieht. Innerhalb der Methodendiskussion von qualitativ arbeitenden Sozialwissenschaftler/innen wird die Diskussion um eine Übertragbarkeit des informed consent auf ethnografische Ansätze kontrovers diskutiert (von Unger et al. 2016). In der 2
https://www.dgps.de/index.php?id=188. http://www.apa.org/ethics/code/index.aspx.
3
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M. Kiegelmann
Psychologie haben sich Ethikgutachten auch in Deutschland stark durchgesetzt, eine aktive Beteiligung von qualitativ forschenden Psycholog/innen an der Entwicklung und Ausgestaltung von informed-consent-Verfahren und Begutachtungsprozessen ist unumgänglich. Insbesondere eine Zusammenarbeit von empirisch Forschenden mit Ethiker/innen erscheint sinnvoll. So tragen Scherzinger und Bobbert (2017) aus ethischer Perspektive zur Diskussion um angemessene Kontrolle von Ethikkommissionen bei. Auch eine abschreckende Wirkung von informed-consent-Formularen kann zum Problem werden (Kiegelmann 2002a). Mittlerweile ist es möglich und hilfreich, solche Formulare in leichte Sprache übersetzen zu lassen, da heute professionelle Dienstleistungsangebote für diese Übersetzungsleistung bestehen. Die aktuellen Ethikrichtlinien für Psycholog/innen weltweit sind u. a. das Ergebnis einer transdisziplinären Kooperation zwischen empirischer Psychologie und der philosophischen Subdisziplin „Ethik“. Letztere beschäftigt sich mit dem sittlichen Handeln von Menschen, mit deren Moral und Begründbarkeit. Eine ihrer Grundfragen lautet: Wie können und sollen Handlungen, einschließlich dazugehöriger Absichten und Wertvorstellungen, beurteilt werden? Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant (1977) – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ – hat durch die Forschungsethik Eingang in die wissenschaftliche Psychologie gefunden. Kants zentrale Aussage ist an dieser Stelle, dass ein ethischer Grundgedanke unabhängig von der Benennung konkreter inhaltlicher Werte formuliert werden kann. Übertragen auf ethische Entscheidungen in der Psychologie heißt das: Forschungskriterien können abstrakt formuliert und nicht für jeden Einzelfall neu erarbeitet werden. Regeln für eine Forschung sind dann nicht mehr nur punktuell, sondern auch auf Entscheidungsprozesse anwendbar. Statt also ein konkretes Verhaltensgebot auszusprechen (z. B. „Wenn eine Testperson zu weinen beginnt, muss abgebrochen werden“), kann eine allgemeine Regel zur Entscheidungsfindung formuliert werden (z. B. „Das Wohlbefinden der Proband/innen hat stets Vorrang vor den Forschungszielen“). Eine solche Regel schließt den oben genannten Fall ein, deckt aber darüber hinaus eine Vielzahl anderer möglicher Situationen ab und kann zudem Entscheidungsprozesse innerhalb einer Forschung definieren. Zentraler Fokus bei forschungsethischen Überlegungen ist somit der Prozess des Entscheidens. Mit anderen Worten, nicht eine Liste von konkreten moralischen Inhalten ist gefragt, sondern ethische Entscheidungsregeln, die auf die jeweils konkreten Fälle angewendet werden können. Unter qualitativ forschenden Psycholog/innen gibt es eine Diskussion um Inhalt und Ausgestaltung von Gütekriterien (Flick 2010). Diese berührt auch Fragen der Forschungsethik: In quantitativen Studien gelten Reliabilität, Validität und Objektivität als Kriterien der Geltungsbegründung. Für die qualitative empirische Forschung stellt sich die Frage nach Qualitätsstandards ebenso, wenn auch auf andere und weitergehende Weise. Die Frage nach Nutzen bzw. potenziellem Schaden der Forschungsdurchführung für mittelbar und unmittelbar von der Forschung berührte Personen erhält ein besonderes Gewicht durch die Nähe und Intensität der Forschungsbeziehungen. Auch wenn ein distanzierter Blick von außen auf soziale
Forschungsethik
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Gruppen oder Individuen mit dem Ziel möglichst großer Objektivität der Datenerhebungen und Auswertungen kein zentrales Anliegen qualitativer Psycholog/innen ist, macht es Sinn, dass Forschende versuchen, sich nicht von eigenen persönlichen Wertvorstellungen den Blick auf zunächst unerwartete Forschungsergebnisse verstellen zu lassen. Dieses Problem wird u. a. auch als researcher bias bezeichnet, also die Möglichkeit einer verzerrten Wahrnehmung empirischer Daten durch die forschende Person aufgrund von deren Wertvorstellungen. Statt (vermeintliche) Objektivität anzustreben, legen qualitative Forscher/innen ihre Wertvorstellungen offen, um deren Einfluss überprüfbar zu halten (Maxwell 2013).
2
Ethische Grundfragen
Wer Ethik im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung diskutiert, muss berücksichtigen, dass es die eine qualitative Psychologie nicht gibt, sondern eine Vielzahl divergierender Ansätze. Reichertz (2007, S. 197) benennt diese Unterschiedlichkeit wie folgt: „Es gibt also aus meiner Sicht keine (kleine) Schnittmenge, die allen qualitativen Methoden gemein ist (z. B. die Ausrichtung auf den Akteur und seine Intentionen), sondern es gibt Ähnlichkeiten und Überschneidungen, aber auch Widersprüche und Gegensätze.“ Ganz grundsätzlich gilt jedoch, dass in qualitativ-psychologischen Studien die Forschungsbeziehungen oft intensiver, die menschlichen Erwartungen, auch vonseiten der Teilnehmenden, größer sind als in vielen quantitativen Untersuchungen. Menschen erwarten, nicht nur austauschbares Mittel zum Zweck der Forschung zu sein (Kiegelmann 2002a), sie gehen soziale Beziehungen ein, die, je länger und intensiver sie sind, im Leben aller Beteiligten Spuren hinterlassen. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen werden durch qualitative Forschung genauer beachtet und besser verstanden als dies ohne die Forschung der Fall wäre. Das gilt insbesondere für sogenannte vulnerable Populationen. „Entdeckung“ oder „Entlarvung“ aufgrund der Forschung kann hier Konsequenzen für die Forschungsteilnehmenden haben, auch für ihr soziales Umfeld. Beispielsweise könnten Drogenkonsument/ innen wegen illegaler Handlungen der Polizei bekannt werden, Menschen ohne gültige Aufenthaltsdokumente könnten des Landes verwiesen werden, Angehörige von sexuell missbrauchten Kindern könnten in Maßnahmen zur Beendigung des sexuellen Missbrauchs hineingezogen werden – was sowohl eine Chance für die Opfer des Missbrauchs sein kann als auch ein Problem für ggf. unzulässig beschuldigte Personen. Ziel der psychologischen Forschung muss es daher sein, immer dann, wenn Forschungsbeziehungen eingegangen werden, jenseits des eigentlichen Forschungsziels das Wohl aller Beteiligten im Blick zu haben. Da die Forschenden die Verantwortung für das Eingehen und Aufrechterhalten von Forschungsbeziehungen die Verantwortung für die von ihnen initiierten Beziehungen tragen, obliegt es ihnen, Schaden von Forschungsbeteiligten abzuwenden. Gleichzeitig bleibt es aber auch wichtig, sich nicht selbst zu gefährden.
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Grundsätzliche Themen für die Regelung von Forschungsbeziehungen in der psychologischen Ethikdiskussion sind: die informierte Einwilligung (s. Abschn. 2.1), die Freiwilligkeit der Teilnahme (Abschn. 2.2), die Antizipation und größtmögliche Vermeidung von Schadenrisiken für alle von der Forschung mittelbar oder unmittelbar betroffenen Personen (Abschn. 2.3), die Vermeidung von Täuschung (Abschn. 2.4), die Diskussion um Anonymität und die Vertraulichkeit von Daten (Abschn. 2.5), das Beachten der Vereinbarkeit von Ethikrichtlinien mit dem jeweils geltenden Recht (Abschn. 2.6), Objektivität bzw. Selbstreflexion (Abschn. 2.7), Prozessethik (Abschn. 2.8) sowie die Zusammenarbeit von empirisch arbeitenden Forschenden mit Ethiker/innen (Abschn. 2.9). In der Praxis kann das Bemühen, ethische Kriterien in der eigenen Forschung zu erfüllen, schnell an Grenzen stoßen; Checklisten, die an konkrete inhaltliche Werte gebunden sind, helfen nur bedingt weiter. Die Problemstellungen, die sich bei der Arbeit ergeben, erfordern vielmehr Lösungen, die nicht konkrete Antworten für Beispielfälle geben, sondern Prozesse der Entscheidungsfindung regeln. Die folgenden Ausführungen sollen dies erläutern.
2.1
Informierte Einwilligung
Eine informierte Einwilligung liegt vor, wenn die Forscher/innen genau über die Bedingungen und Auswirkungen einer Teilnahme an einem Forschungsprojekt informiert haben, bevor sich Personen für das Eingehen einer Forschungsbeziehung entscheiden. Dies kann in ähnlicher Weise erfolgen wie die schriftliche Aufklärung über Rechte und Risiken vor medizinischen Eingriffen oder auch durch ausführliche Gespräche. Die US-amerikanischen Ethik-Richtlinien der „American Psychological Association“ (APA) formulieren: „3.10 Informed Consent (a) When psychologists conduct research or provide assessment, therapy, counseling or consulting services in person or via electronic transmission or other forms of communication, they obtain the informed consent of the individual or individuals using language that is reasonably understandable to that person or persons except when conducting such activities without consent is mandated by law or governmental regulation or as otherwise provided in this Ethics Code. (See also Standards 8.02, Informed Consent to Research; 9.03, Informed Consent in Assessments; and 10.01, Informed Consent to Therapy.)“ (American Psychological Association 2010)
Die schriftliche Form der informierten Einwilligung hat den Vorzug der Verbindlichkeit und Nachprüfbarkeit, sie kann allerdings abschreckend und wenig vertrauenserweckend wirken, wenn sie mit dem Kleingedruckten bei Kaufverträgen assoziiert wird. Übersetzung in leichte Sprache kann hier einen Schritt in Richtung mehr Akzeptanz ermöglichen. In vielen Forschungskonstellationen stellt sich darüber hinaus jedoch die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen dafür, „informiert“ einwilligen zu können.
Forschungsethik
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Vermeintlich einfache und klare Erklärungen seitens der Forschenden werden möglicherweise deshalb von den Forschungsteilnehmenden nicht verstanden oder beachtet, weil deren Lebenswirklichkeit in die Erklärungen der Wissenschaftler/innen zu wenig einbezogen wurde. Wenn gemeinsam mit Kindern, kognitiv eingeschränkten Erwachsenen oder Kranken Forschung betrieben werden soll, stellt sich die Frage nach deren Einwilligungsfähigkeit auf eine noch grundsätzlichere Weise (Bobbert 2008). Zudem ist es mit Information und Einwilligung zu Beginn eines Forschungsprojekts häufig nicht getan. Nicht immer können Forschende den genauen Verlauf von Untersuchungen im Vorhinein übersehen. Statt vorab definiter Hypothesen stehen zudem in qualitativer Forschung offenere Forschungsfragen im Mittelpunkt. Vorhersagbarkeit des tatsächlich stattfindenden Forschungsverlaufs ist damit nur schwer möglich und kann daher zu Beginn eines Forschungsprojekts noch gar nicht beschrieben werden. In aller Konsequenz heißt das, dass sich Forschungsteilnehmende und Forschende auf Forschungsbeziehungen einlassen (müssen), deren Verlauf vorab nicht genau vorher beschrieben werden kann. Am Fall eines Forschungsprojekts mit wohnsitzlosen Jugendlichen im öffentlichen Raum beschreibt Uwe Flick (2009, S. 38) die hier angesprochene Unvorhersehbarkeit eindrücklich: Treten während der Interaktion zufällig und spontan andere Personen hinzu, stört es den Forschungsprozess, wenn die stattfindenden Interaktionen durch die Einholung einer Einwilligung von diesen neuen Personen unterbrochen werden müssen. Ein unterschriebenes Formular der informierten Einwilligung schützt also nicht vor ethischen Herausforderungen, die sich im Laufe des Forschungsprozesses ergeben können. Ethische Reflexion bleibt im gesamten Forschungsprozess von Bedeutung. Hier bleiben die Bedürfnisse und Rechte sowohl der Forschungsteilnehmenden, aber auch der Forschenden permanent relevant (Kiegelmann 2002c). Von Unger et al. (2016) wenden diese Argumentation auch für die Soziologie und Ethnografie an und betonen, dass ethische Entscheidungen nicht mit dem informed consent zu Beginn von Forschungsbeziehungen abgetan werden können. Sie plädieren darüber hinaus für eine Freiwilligkeit von Ethikevaluationen der qualitativen Forschungsvorhaben. Ethische Reflexionen von Forschungsdesign und Forschungsdurchführung beziehen ausdrücklich nicht nur die Bedürfnisse von Forschungsteilnehmenden mit ein, sondern ein komplexes Netzwerk von Forschungsteilnehmenden, Forschenden, Gatekeepern und indirekt an der Forschung beteiligter Personen. Beispielsweise gehörte zur Ethikreflexion der Feldforschung von Schmallenbach in El Salvador die bewusste Gestaltung von Forschungsbeziehungen und Kontakten zu Gatekeepern in einem sozialen Raum, der für viele der dort lebenden und arbeitenden Menschen lebensbedrohlich war (Schmalenbach und Kiegelmann 2018).
2.2
Freiwilligkeit
Immer dann, wenn Forschung im Kontext von sozialen Gruppen stattfindet, in denen zwischen den Beteiligten Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, wird der Begriff der Freiwilligkeit unscharf. Dies gilt insbesondere für die Arbeit in sozialen Organisa-
234
M. Kiegelmann
tionen. Selbst wenn die Personen einer Forschungsteilnahme zustimmen, ist der Grad der Freiwilligkeit unter Berücksichtigung von möglichem Gruppendruck oder hierarchischen Abhängigkeitsbeziehungen zumindest kritisch zu hinterfragen. Ist die Einwilligung zur Teilnahme an einer Forschung einmal erfolgt und sind die Daten gesammelt und veröffentlicht, können Forschungsteilnehmende ihre Zustimmung in der Regel nicht mehr einfach zurückziehen. Denn spätestens in Zeiten des Internets können einmal veröffentlichte Informationen nicht mehr aus dem Umlauf zurückgenommen werden. Einmal veröffentlichte Daten entziehen sich also der Kontrolle der Autor/innen, selbst wenn ab einem bestimmten Zeitpunkt die weitere Verbreitung abgebrochen wird.
2.3
Vermeidung von Schaden
In der Forschung kann es vorkommen, dass Forschungsteilnehmer/innen, ggf. sogar die Forschenden selbst, Schaden nehmen (McCosker et al. 2001). Eine konstruktive ethische Reflexion kann schon in der Phase der Erstellung von Forschungsdesigns helfen, potenzielle Auswirkungen der Art und Weise, wie Forschende in qualitativer Sozialforschung Beziehungen eingehen, verantwortlich zu planen (Kiegelmann 2002a). Ziel von qualitativer psychologischer Forschung sind häufig Fragestellungen, bei denen Menschen zur Selbstreflexion eingeladen und angeregt werden, eigene Selbsttäuschungen zu erkennen und zu überwinden. Geschieht dies innerhalb von Forschungsbeziehungen mit vulnerablen Populationen, ohne dass gleichzeitig für eine Vermittlung von ggf. benötigter psychologischer Betreuung und Begleitung gesorgt wird, kann bleibender Schaden entstehen. Zudem kann nicht immer vorhergesehen werden, welche Dynamiken sich im Forschungsverlauf entwickeln. Wird innerhalb bestimmter sozialer Gruppen geforscht, kann es passieren, dass durch die Intervention in der Gruppe Themen angesprochen werden, die vorher tabuisiert waren, wodurch nun offene Konflikte ausgelöst werden können. Auch Personen aus dem Umfeld der Beforschten, die keinen direkten Kontakt zum Forschungsteam haben, können Nachteile dadurch erleiden, dass sich ihre Bezugspersonen durch die Beziehung zum Forschungsteam verändern. Der potenzielle Schaden für gar nicht antizipierte Forschungsteilnehmende ist im Vorhinein schlecht zu benennen und folglich auch nicht auszuschließen. Nespor und Groenke (2009) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Individuen und soziale Gruppen auch vom Fehlen von Forschung zu ihren Problemen berührt werden können. Die Frage der Reichweite von Forschungsbeziehungen ist also ebenso ethisch zu reflektieren. Herausforderungen aufseiten von Forschenden illustriert Tietel (2000) beispielhaft, indem er komplexe Prozesse von Enttäuschung und Abwertung der Kompetenz der Forschenden in einem qualitativ-psychologischen Forschungsprojekt diskutiert. Kommt es in einer Forschungsbeziehung zu Irritationen und Verletzungen der beteiligten Personen, steht die Zumutbarkeit der Interaktion infrage. Es entsteht eine Situation von hoher ethischer Brisanz.
Forschungsethik
2.4
235
Täuschung
Grundsätzlich ist Täuschung eher ein Phänomen, das in Bezug auf quantitative Studien diskutiert wird (Hertwig und Ortmann 2008). Sie ist dort gewollt, wenn versucht wird zu vermeiden, dass Untersuchungsteilnehmer/innen ihr Verhalten aufgrund der Kenntnis der Forschungsfragen beispielsweise im Sinne von sozialer Erwünschtheit anpassen. Ethisch ist die gezielte Täuschung von Proband/innen fragwürdig und wird auch von quantitativ orientierten Psycholog/innen kontrovers diskutiert (Lindsey 1984). Schließlich stehen Informationspflicht für die informierte Einwilligung und Täuschung im Widerspruch. Obwohl Täuschung in der Sozialforschung höchst umstritten ist und häufig abgelehnt wird, können sich qualitative Psycholog/innen nicht einfach auf einem Vorteil von täuschungsfreier Forschung ausruhen. Denn es kann auch in qualitativen Untersuchungen sinnvoll und wichtig sein, dass Forschende ihr Gegenüber bezüglich der „eigentlichen“ Ziele und Analyseschritte der Forschung im Unklaren lassen. Schon allein, um Forschungsbeteiligte nicht durch die eigene Wortwahl für bestimmte Phänomene zu beeinflussen, werden Interviewfragen oft sehr offen und damit aber auch unpräzise in Bezug auf die Forschungsabsichten gestellt. Dies kann beispielsweise bei der Biografieforschung der Fall sein, wo die Interviewten ihre Geschichte ganz unbeeinflusst von den Interviewer/innen erzählen sollen. Duncombe und Jessop (2002) sprechen in diesem Zusammenhang von geheuchelter Freundschaft. Hier ist sorgfältig und verantwortungsbewusst abzuwägen.
2.5
Anonymität
Vollständige Anonymität zuzugestehen, ist nicht empfehlenswert, weil solch ein Versprechen sehr schwer einzuhalten ist. Besser ist es, Forschungsteilnehmenden eine vertrauliche Behandlung von Daten zuzusagen. In einigen Ländern bestehen z. B. Gesetze über eine Meldepflicht für den Fall, dass sich ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen ergibt. Psycholog/innen, die dieser Meldepflicht unterliegen, machen sich strafbar, wenn sie solchen Hinweisen nicht nachgehen – ob sie Anonymität zugesichert haben oder nicht. Forscher/innen haben durch ihre Tätigkeit in der Wissenschaft kein Recht auf Zeugnisverweigerung und können so in Konfliktfällen nicht wie Ärzt/innen auf einer vertraulichen Behandlung der Informationen bestehen (Hopf 2000, S. 595). Hopf (2000) weist außerdem darauf hin, dass der Schutz von personenbezogenen Daten in der qualitativen Forschung besonders aufwendig ist, weil beispielsweise die Anonymisierung nicht einfach durch das Weglassen von Namen und Orten erreicht werden kann; manchmal sind es Kleinigkeiten, die eine Person tatsächlich oder vermeintlich identifizierbar machen: Ich wurde z. B. einmal von einer Forschungsteilnehmerin gebeten, ein Kleidungsstück ihrer Mutter unbedingt nicht zu nennen. Ohne diesen Hinweis wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass ich ein identifizierendes Detail erwähnt hatte. Ähnlich können typische Redewendungen in ver-
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M. Kiegelmann
meintlich anonymisierten Daten einen Rückschluss auf die Identität von Sprechenden ermöglichen. Insbesondere aufgrund der ausführlichen Datenerhebung mit viel Raum für eigengewählte Formulierungen können in der Biografieforschung „typische“ Formulierungen einzelner Personen in den Daten auftauchen, die von den Forschenden als personenidentifizierend nicht leicht erkannt werden. Gegebenenfalls müssen in Interviewtranskripten Änderungen eingebracht werden, um die Vertraulichkeit der Aussagen zu schützen. Es gilt also, sorgfältig zu antizipieren, welche Risiken zur Identifikation von Teilnehmer/innen im Rahmen einer Forschung bestehen.
2.6
Ethikrichtlinien und Recht
Es ist selbstverständlich, dass Ethikrichtlinien für Forschungsprojekte mit dem bestehenden Recht abzugleichen sind. Die psychologische Forschung interessiert sich jedoch häufig auch für Milieus am Rande der Legalität. Sobald Regeln für Forschung, die ihre Grundlage in der westlich-rationalistischen Wissenschaft haben, auf das Recht von Ländern anderer kultureller und/oder religiöser Traditionen treffen, ergibt sich Konfliktpotenzial. Ziel der Forschenden muss es in diesen Fällen sein, Lösungen innerhalb des Forschungskonzepts zu finden, welche nationales Recht, Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Traditionen und die Ziele der Forschung integrieren.
2.7
Objektivität und Selbstreflexion
Jenseits der Reflexion des Verhältnisses zwischen Forschenden und Beforschten erlaubt die transdisziplinäre Kooperation von Psychologie und philosophischer Ethik eine grundlegende Reflexion über die Bedingungen und Ziele empirischer Forschung. Vielen Ansätzen innerhalb der qualitativen Sozialforschung kommt das Verdienst zu, die Beziehungen zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmer/ innen gezielt zu analysieren (s. zusammenfassend für die Ausgaben der Zeitschrift FQS4 zum Thema Subjektivität und Selbstreflexivität Mruck und Breuer 2003). Die explizite Offenlegung eigener Vorannahmen und der ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen ist kennzeichnend für viele qualitativ-empirische Studien (Maxwell 2013). Redwood und Todres (2006) beispielsweise legen einen Prozess ethischer Entscheidungsfindung in qualitativer Forschung offen. Statt Objektivität der Forschung zu postulieren, um Gütekriterien zu erfüllen, hinterfragen viele qualitative Forscher/innen den Anspruch auf und das Streben nach Objektivität. Sie diskutieren das Phänomen der Selbstreflexivität und zeigen Möglichkeiten auf, die
4
http://www.qualitative-research.net/.
Forschungsethik
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subjektiven Perspektiven der Forschenden ausdrücklich für den Forschungsprozess nutzbar zu machen (Mruck und Breuer 2003). Die Frage nach einer Alternative zu den in quantitativen Studien verwendeten Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität wurde und wird ausführlich diskutiert (Flick 2010). Maxwell (2013) schlägt vor, zur Validitätssicherung qualitativer Forschung die eigenen Interessen selbstkritisch zu prüfen. Lather (2008) geht noch einen Schritt weiter, wenn sie das kritische Hinterfragen der eigenen Perspektive als genuinen Prozess der qualitativen Forschung gerade dann als konstruktiv einschätzt, wenn der eigene Standpunkt hierbei aufgelöst wird. Sie spricht hier von einer Methode des getting lost, also der ausdrücklichen Infragestellung der eigenen, bisher vertrauten Denkweisen und Selbstverständlichkeiten.
2.8
Prozessethik
Wenn Gutachten aus Ethikkommissionen Voraussetzung für die Einreichung von Anträgen auf Forschungsgelder sind oder positive Ethikvoten für die Veröffentlichung von Manuskripten verlangt werden, kann Forschungsethik leicht als Instrument von politisch motivierter Ressourcenverteilung missverstanden werden (Roth 2004). Stattdessen bietet jedoch eine transdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychologie und Ethik die Chance einer sinnvollen Zusammenarbeit. Konstruktiv ist hierbei, Ethik auch in Bezug auf Entscheidungsprozesse und -verfahren zu reflektieren (Gahleitner und Kiegelmann 2005; Mieth 2004; Welch 1992). Ähnlich wie im Zusammenspiel von quantitativer und qualitativer psychologischer Diagnostik kann auch zwischen prozessbezogener und inhaltlicher ethischer Reflexion unterschieden werden. Moral kann auf statischen Inhalten und Normen aufbauen (normatives Denken bezüglich konkreter Wertvorstellungen) oder aber Ethik kann Prozesse menschlichen Erlebens in den Blick nehmen und unterstützen. Ziel einer Prozessethik ist es, Entscheidungswege zu reflektieren und festzulegen. So ist es möglich, auch bei unerwarteten ethischen Herausforderungen Entscheidungen zu fällen, selbst wenn für die konkrete Frage noch keine Verhaltensregel vorgegeben ist. Wenn solche Vorteile von Prozessethik bei der Erstellung von Forschungsdesigns genutzt werden, können schon in der Planungsphase Verfahren vorausschauend eingeplant werden, mit denen im Forschungsprozess ggf. auftretende ethische Herausforderungen begegnet werden kann Prozesse stehen im Mittelpunkt qualitativer Forschung und unterscheiden sich vom Vergleich von Varianzen als zentraler Analyse in quantitativer Forschung (Maxwell 2013). Auch in einer Ethik als Theorie über Prozesse der Entscheidungsfindung stehen Prozesse im Mittelpunkt (Mieth 2004). In der wissenschaftlichen Ethik wird in diesem Zusammenhang zwischen Moral als inhaltsbezogen und Ethik als entscheidungsprozessbezogen unterschieden (Hübner 2014). Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet sich somit an, sowohl für die Arbeit von Ethikkommissionen, als auch deren Überprüfung (Scherzinger und Bobbert 2017).
238
2.9
M. Kiegelmann
Interdisziplinärer Diskurs zwischen Philosophie und Psychologie
Wie fruchtbar die große inhaltliche Nähe zwischen philosophischer Ethik und Psychologie sein kann, zeigt sich beispielhaft in der Moralpsychologie. Aufbauend auf Kant hat sich Kohlberg mit der Entwicklung von moralischen Urteilen befasst (Kohlberg 1981) und seine theoretischen Grundannahmen zum Konzept von Moralentwicklung gehen zurück auf Piagets (1972) Erklärungen zur Kognitionsentwicklung. Komplexes moralisches Denken zeichnet sich bei Piaget und Kohlberg durch die Freiheit von Fremdbestimmung und durch Autonomie aus (Kohlberg et al. 1996). Gilligan (1999) entwickelte die theoretischen Grundannahmen von Kohlberg und Piaget weiter. Sie sieht bei Kohlberg die grundlegende Eingebundenheit von Menschen in soziale Bezüge in der Betonung von Autonomie als Entwicklungsziel vernachlässigt. Diese Verkürzung kritisiert sie als Ausdruck einer unhinterfragten Übernahme von westlichen Werten, insbesondere Autonomie und Streben nach Unabhängigkeit stünden für die geringe Reflexion von soziokulturell bedingten Annahmen aufseiten der Forschenden (Gilligan 1999; Kiegelmann 2009). Übertragen auf die forschungsethische Diskussion unterstützt Kohlbergs Autonomiegedanke die wissenschaftliche Zielperspektive, sich frei von Zwängen z. B. durch theoretische Schulenbildungen oder unabhängig von inhaltlichen Ergebniswünschen von Geldgebern bewegen zu können. Gilligans Betonung von Beziehungen und sozialer Eingebundenheit, angewendet auf die Ethikdiskussion, verweist darauf, dass Forschungsbeziehungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene reflektiert werden müssen. Die psychologisch-philosophische Lehre der Moralentwicklung kann also dazu beitragen, die Forschungsprojekten zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Forschungsziele kritisch zu hinterfragen, auch beispielsweise hinsichtlich ihrer impliziten Perspektiven auf Entwicklungsziele. Die genannten Beispiele zeigen, dass die ethische Betrachtung von qualitativer Psychologie für jedes spezifische Forschungsprojekt eigens durchzuführen ist und schlecht mithilfe von einfachen, generalisierten Wertsetzungen gelöst werden kann.
3
Zentrale Diskussionen
3.1
Ethik als Herausforderung nicht nur vor der Empirie
In Deutschland wird die Einhaltung von ethischen Richtlinien zunehmend institutionell überprüft. So verlangt beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für Projektanträge bei Forschungen am Menschen das Einreichen eines Ethikvotums. Ethikkommissionen in den großen Standesorganisationen haben Richtlinien für Forschung und psychologische Praxis verfasst.5 Sie sind mit weit5
https://www.dgps.de/fileadmin/documents/Empfehlungen/berufsethische_richtlinien_dgps.pdf. Zugegriffen am 10.09.2017.
Forschungsethik
239
reichenden Kompetenzen ausgestattet und können bei Verstößen gegen die EthikCodes Mitglieder ausschließen oder Forschungsgenehmigungen verweigern. Da die einzelnen Hochschulen mittlerweile eigene Kommissionen einrichten, um Ethikvoten für Forschungsanträge abgeben zu können, stellt die Deutsche Gesellschaft für Psychologie Musterordnungen für die Einrichtung von örtlichen Ethikkommissionen zur Verfügung.6 Ethikkommissionen sind jedoch aus verschiedenen Gründen auch umstritten: Wird ein so wichtiger Aspekt wie der der Ethik in der Forschung an Institutionen mit erheblichen Befugnissen delegiert, kann ein Klima der Kontrolle entstehen, das eher vorauseilenden Gehorsam fördert als zur kritischen Auseinandersetzung oder zum transdisziplinären Dialog mit Theorien und Erkenntnissen aus der philosophischen Ethik anregt. Die bürokratischen Abläufe können wichtige Energie verbrauchen. Zudem können Ethikkommissionen nur dadurch, dass sie Forschungsdesigns überprüfen und Forschung genehmigen, letztlich keineswegs sicherstellen, dass ein Forschungsprojekt tatsächlich nach ethischen Standards durchgeführt wird. Ähnlich kritisch sind Checklisten zum Thema, in denen beispielsweise der informed consent gefordert wird. Solche Listen können suggerieren, dass der Komplex Forschungsethik zu einem bestimmten Punkt, meist zu Beginn der Forschung, „abgehakt“ werden kann. Ethische Herausforderungen sind jedoch kontextgebunden und nicht auf die Forschungsplanung zu begrenzen. Beispielsweise berichten Mugisha et al. (2011) aus Norwegen am Beispiel eine Studie über kultursensible ethische Herausforderungen, die im Verlauf ihrer qualitativen Studie über Einstellungen zu Suizid in Uganda entstanden sind. Rippe (2007) weist darauf hin, dass politische Entscheidungen zur Einrichtung von Kommission in den jeweiligen sozialen Kontext eingebunden sind. So deckten in den 1960- und 1970er-Jahren Medien in den USA medizinische Versuche an Afroamerikaner/innen auf und trafen bei einer für Rassismus sensibilisierten Öffentlichkeit auf Gehör. Rippe führt aus, wie soziale Proteste mit dazu beitrugen, dass Ethikkommissionen in der Wissenschaft eingeführt wurden. Weil das Interesse qualitativ-forschender Psycholog/innen jedoch auf die psychischen Prozesse von Individuen in den jeweiligen sozialen Kontexten (insbesondere hierbei auf das subjektive Erleben) gerichtet ist, sind sie auf das Vertrauen der Forschungsteilnehmenden angewiesen. Forschungsethische Überlegungen beim Design und während der gesamten Durchführung von Untersuchungen bilden deshalb eine Grundlage für aussagekräftige Daten und Analysen und tragen so zur Qualität der Forschungsergebnisse bei. So wenig es ausreicht, das Thema Ethik mittels Kommissionen zu erledigen, so wenig zielführend wäre es zu versuchen, diese Instrumente zu umgehen. Vielmehr sollten Forschende die Chancen einer konstruktiven Auseinandersetzung mit und um Ethik über den gesamten Forschungsprozess nutzen.
6
https://www.dgps.de/index.php?id=188. Zugegriffen am 10.09.2017.
240
3.2
M. Kiegelmann
Machtgefälle
Das Machtgefälle zwischen Forschenden und Beforschten ist seit Hippokrates ein Thema. Die sozialen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben es verstärkt in den Fokus genommen. Neben den Bedingtheiten der Rollenzuordnung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die soziale und kulturelle Verwurzelung der Forschenden Macht induzieren können. Insbesondere soziale Strukturen mit ungleichen Ressourcenverteilungen und Diskriminierungserfahrungen bei den beteiligten Personen bedürfen einer kritischen Bezugnahme. Ein möglicher Weg damit umzugehen, ist der Versuch, das Machtgefälle zu reduzieren oder gar zum Verschwinden zu bringen. Vertreter/innen der kritischen Psychologie beispielsweise messen der subjektiven Perspektive von Forschungsteilnehmenden eine zentrale Rolle bei. Statt bestehende Machtunterschiede zu verfestigen, laden sie Forschungsteilnehmende zur aktiven und verantwortlichen Teilhabe an den Forschungsprozessen ein. Rückmeldungen der Forschungsteilnehmenden werden gezielt zur kommunikativen Validierung der Ergebnisse eingesetzt (Held 1989). Manche Anthropolog/innen beschreiten den Weg des going native. Going native bedeutet hier, dass Forschende im Verlauf z. B. einer Feldforschungsstudie aufhören, Personen oder eine bestimmte soziale Gruppe nur zu beobachten und stattdessen versuchen, Mitglied der vormals beobachteten Gruppe zu werden. Das Phänomen des going native ist auch für qualitative Studien in der Psychologie denkbar. Jedoch halte ich es aufgrund der Möglichkeit eines späteren Wiederausstiegs aus der Gruppe für unmöglich, potenzielle Machtgefälle aufzuheben, selbst wenn die forschende Person zum Gruppenmitglied wird. Die ehemaligen Psycholog/innen verfügen auch weiterhin über potenziellen Zugang zu ihren ursprünglichen sozialen und gesellschaftlichen Netzen und werden den Mitgliedern der beforschten Gruppe daher nie ganz gleich. Es gibt Ansätze in der qualitativen Psychologie, bei denen sich die Rollen von Forschenden und Erforschten sehr stark überlappen, genannt sei hier die Aktionsforschung (Heiner 1988; Lewin 1946) oder parteiliche Forschung, die stark in soziale Bewegungen eingebunden ist (etwa femnistische Ansätze, dazu Sieben 2010), Autoethnografie (in der die Forschenden sich selbst gleichzeitig zu Forschungsteilnehmenden machen, Ellis et al. 2010) oder Arbeiten aus dem Zwischenbereich von Wissenschaft und darstellender Kunst, der sogenannten performativen Sozialforschung (Gergen und Gergen 2010; Mey 2020). Aufgrund der verschiedenen Perspektiven von Forschenden und Forschungsteilnehmenden gehe ich allerdings davon aus, dass das Überwinden von Differenzen für die meisten Forschungsprojekte nur schwer möglich sein wird und plädiere daher für ein Offenlegen von Unterschieden (Kiegelmann 2002b). Machtunterschiede können nicht durch starke Identifizierung mit Forschungsteilnehmenden bis hin zum going native überwunden werden, denn die Ressource für einen potenziellen Ausstieg aus dem beforschten Feld verhindern völlige Gleichstellung von Forschenden und Beforschten. Selbst wenn Forschende aus einer sozialen Bewegung heraus ihre Forschungsfragen entwickeln und sich mit der Forschung für die Belange bestimmter Gruppen einsetzen, entfernen
Forschungsethik
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sie sich eben durch ihre Forschungstätigkeit auch weg von ihrer ursprünglichen Gruppe. Ressourcen wie Forschungsgelder, Stipendien oder akademische Titel dienen hier sowohl der „beforschten“ sozialen Bewegung, führen aber gleichzeitig auch dazu, dass die Forschenden Privilegien aus akademischen Netzwerken erhalten, die sie von eben dieser sozialen Bewegung distanzieren. Die Herausforderung besteht hierbei darin, Machtgefälle und Ressourcenungleichverteilung weitest möglich abzubauen und zu vermeiden. Trotzdem bestehende Ungleichheiten sind jedoch aktiv offenzulegen statt zu verharmlosen oder zu verschweigen.
3.3
Forschen und Helfen
Immer dann, wenn Forschung dort stattfindet, wo Psycholog/innen auch helfend tätig sind, also etwa in der klinischen, der Arbeits- und Organisations- und der pädagogischen Psychologie, kann es zu einem Konflikt zwischen forschendem Handeln und Helfen kommen. Gerät ein/e Forscher/in in einen Interessenskonflikt aufgrund der verschiedenen Rollen, die Helfen und Forschen erfordern, erscheint es geboten, die Situation abzuwägen und ggf. die Forschung zu unterbrechen und sich zunächst ganz auf die Anforderungen des Helfens zu konzentrieren, um Notsituationen abzuwenden. Beispielsweise können Forschungsteilnehmende durch ihre Mitarbeit in einem Forschungsprojekt an ihre psychischen Grenzen kommen und einen Bedarf an psychotherapeutische Betreuung entwickeln. Diesen Bedarf kann eine Forscher/in jedoch nicht decken. Statt sich unbeirrt mit der Forschung weiter zu beschäftigen, ist es für Forscher/innen in einer solchen Situation sinnvoll, zunächst die hilfsbedürftigen Personen an kompetente Psychotherapeut/innen zu vermitteln (Gahleitner und Kiegelmann 2005; Kiegelmann 1997). In diesem Zusammenhang bietet beispielsweise das Projekt „kultursensible sexuelle Orientierung“ der Türkischen Gemeinde Baden Württemberg die Möglichkeit, dass Interviewteilnehmer/innen ihre Forschungsteilnahme beenden oder zumindest unterbrechen, um ein Beratungsgespräch mit einem bereitstehenden qualifizierten Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen.7 Gerade bei sensiblen Themen wie der Reflexion von psychischen Belastungen im Zusammenhang mit sexueller Vielfalt und Migration kann es sinnvoll sein, Hilfe vor Datensammlung zu stellen. Ich plädiere für eine strikte Trennung von Forschen und Helfen in der Psychologie und schlage vor, potenzielle Interessenkonflikte zwischen Forschungsteilnehmenden und Forschenden bei der Gewinnung von Forschungsteilnehmenden ausdrücklich mit zu beachten.
7
https://www.tgbw.de/wp-content/uploads/2018/07/Berichto%CC%88bungsheft_Andrejistander sundSalmaliebtSandra_Onlineversion_Juni2018.pdf%20). Zugegriffen am 24.11.2019.
242
3.4
M. Kiegelmann
Kontextgebundene Ethikdiskussion
Forschung in unvertrauten sozio-kulturellen Räumen stellt nochmals erhöhte ethische Anforderungen an die Forschenden und ihre Designs. Gemeint sind hier nicht nur unterschiedliche Milieus und Ethnien, sondern alle sozialen Gruppen, die sich durch Wertesysteme konstituieren, die von denen der Forschenden abweichen können. Das können Straßenkinder oder Erzieher/innen sein, aber auch Angehörige alter Adelsfamilien oder Soldat/innen. Insbesondere Untersuchungen über Menschen am Rande der jeweiligen Gesellschaft werden oft mit qualitativen Methoden durchgeführt. Dies liegt auch daran, dass Techniken der Gewinnung von Forschungsteilnehmer/innen (Sampling) der quantitativen Psychologie oft kaum in der Lage sind, Forschungskontakte zu sogenannten vulnerablen Populationen aufzubauen (Lee 1993, Kap. 4). Denzin (2003) kritisiert, dass die Grundlagen ethischer Entscheidungsfindungen insbesondere in fachwissenschaftlichen Ethikkommission in den USA von westlicher, d. h. rationalistischer, von den Prinzipien der Aufklärung geprägter Kultur bestimmt sind und damit den Entscheidungstraditionen anders geprägter Kulturen nicht gerecht werden können. In Anlehnung an die Argumentation von Christians (2000) empfiehlt er, die Interessen und Traditionen von Forschungsteilnehmenden und Kulturen ausdrücklich in die ethischen Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Nimmt man jedoch die normative Festlegung von inhaltlichen moralischen Werten kritisch in den Blick, erscheint es mir fraglich, ob der erwünschte Effekt, in diesem Fall einer Entkolonialisierung der verwendeten Entscheidungsprozesse, durch einfache Addition von moralischen Inhalten und Werten weiterer Kulturen erreicht werden kann. Eine schlichte Addition von Werten wäre jedenfalls nicht in Denzins Sinne. Furness et al. (2016) stellen exemplarisch dar, wie indigene ethische Überlegungen in die Forschungsbeziehungen und Forschungspraxis in Kontext von Maori in Neuseeland in postkolonialer Psychologie eingebracht werden können. Sie betonen, dass die intensive Auseinandersetzung mit indigenen ethischen Entscheidungstraditionen ein wesentlicher Bestandteil einer postkolonialen Forschungstätigkeit ist.
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Beachtung von Forschungsethik empirische Arbeiten stärken kann, insbesondere, wenn ethische Überlegungen bereits in das Forschungsdesign eingehen. Eine aktive Auseinandersetzung mit Forschungsethik in qualitativ-psychologischer Forschung ist zwar eine aufwendige, transdisziplinäre Aufgabe, die sich aber im Verlauf der Forschungsdurchführung darin auszahlt, dass Entscheidungswege bei vorhersehbaren und vor allem unvorhersehbaren ethischen Herausforderungen vorab geklärt werden konnten. Die Stärke einer bewussten Auseinandersetzung mit Forschungsethik ist, dass ein unbedarftes Hineinstolpern in moralische Dilemmata vermieden werden kann. Manche Forscher/ innen brechen zwar aufgrund von sich ergebenden ethischen Problemen ihre For-
Forschungsethik
243
schung ab und veröffentlichen dann lediglich eine Beschreibung von aufgetretenen Problemen. Durch solch einen Bericht können zwar die Veröffentlichungslisten der Autor/innen erweitert werden, die ethischen Probleme, die zum Scheitern einer Forschung beigetragen haben, werden jedoch nicht gelöst. Beispielsweise ist der Inhalt des Berichts von Millstein et al. (1994) vor allem eine Beichte über eine Forschung, die aufgrund von unethischem Verhalten abgebrochen wurde, statt eines wissenschaftlichen Beitrags. Den Schaden tragen die Forschungsteilnehmenden, wenn die Forschenden sich aus dem Feld herausziehen und sich lediglich der Veröffentlichung ihrer Erfahrungen widmen. Hindernisse für eine angemessene Berücksichtigung forschungsethischer Belange resultieren vor allem aus den verwaltungstechnischen und forschungspolitischen Rahmenbedingungen. Zum einen kann der Versuch der Vereinfachung durch Nutzung von Checklisten eine reflektierte Auseinandersetzung mit ethischen Lösungsprozessen und Entscheidungswegen überlagern, wenn nicht sogar verhindern. Zum anderen besteht die Gefahr, dass Ethikkommission mit dem Genehmigungsverfahren auch die Verteilung von Ressourcen steuern und dabei Kriterien ansetzen, die wenig mit Ethik zu tun haben. Zu wünschen bleibt eine ausdrückliche Schulung von Nachwuchswissenschaftler/innen in Grundgedanken philosophischer Ethik, die dann von den Psycholog/ innen als Basis für die Erlangung der Kompetenz zur Forschungsplanung und Forschungsdurchführung genutzt werden kann, in der ethische Entscheidungsprozesse ein immer mitlaufendes Querschnittsthema sind.
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Gütekriterien qualitativer Forschung Uwe Flick
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Diversifizierung qualitativer Forschung als Kontext der Kriteriendiskussion . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsfelder als Bezugspunkt für die Bewertung qualitativer Forschung . . . . . . . . . . 5 Neuere Vorschläge für Kriterien in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Checklisten und Agenden als Bewertungsansatz qualitativer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Zur Bestimmung der Qualität qualitativer Forschung werden verschiedene Ansätze verfolgt, z. B. die Anwendung „klassischer“ Kriterien (Validität, Reliabilität, Objektivität) oder deren Reformulierung an den Prinzipien qualitativer Forschung orientiert, für die als Beispiel die kommunikative Validierung behandelt wird. Darüber hinaus werden neue methodenangemessene Kriterien formuliert, für die als Beispiel die Glaubwürdigkeit qualitativer Forschung diskutiert wird. Vorschläge für Standards nicht standardisierter Forschung sind ein weiterer Ansatz. Die Diversifizierung qualitativer Forschung und die Ausrichtung an Anwendungsfeldern (z. B. Gesundheitspsychologie oder Evaluation) werden als Bezugspunkte für die Bewertung qualitativer Forschung behandelt. Abschließend werden neue Vorschläge für Kriterien, eine Systematisierung von
U. Flick (*) Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Qualitative Sozial- und Bildungsforschung, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: uwe.fl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_30
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vorliegenden Checklisten sowie die Formulierung einer Agenda für die Bewertung qualitativer Forschung vorgestellt. Als Fazit ergibt sich, dass die vorliegenden Ansätze zur Formulierung von Kriterien ihre Aufgabe nur begrenzt erfüllen können, weshalb Strategien des Qualitätsmanagements in der qualitativen Forschung weiter diskutiert werden sollten. Schlüsselwörter
Kriterien qualitativer Forschung · Kommunikative Validierung · Checklisten zur Bewertung qualitativer Forschung · Grenzen von Kriterien qualitativer Forschung · Qualitätsmanagements in der qualitativen Forschung
1
Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung
1.1
Kriteriendiskussion als durchgängiges Thema
Der Ansatzpunkt und die Vorgabe für diesen Beitrag sind Gütekriterien qualitativer Forschung in der Psychologie. In anderen Kontexten wird zwar mittlerweile ein breiterer Zugang zu der im Hintergrund virulenten Fragestellung gewählt. So beschäftigt sich Seale (1999) explizit mit der Qualität qualitativer Forschung,1 und diese wird auch im Fokus des Qualitätsmanagements in der Forschung weiterverfolgt (Flick 2018). Im Kontext qualitativer Forschung in der Psychologie wird jedoch der Ansatzpunkt der Kriterien häufiger gewählt (Steinke 1999, 2019). Dies und die nach wie vor im Raum stehende und auch von außen an die qualitative Forschung herangetragene Frage nach Kriterien lassen es sinnvoll erscheinen, in diesem Beitrag die Problematik der Qualität qualitativer Forschung unter der Überschrift und mit dem Fokus „Kriterien“ zu behandeln. Die Frage nach der Bewertung bzw. Qualität qualitativer Forschung stellt sich seit Langem (vgl. die relativ frühen Diskussionen, die in dem Band von McCall und Simons (1969) zusammengefasst wurden). Nachdem die auch in der Psychologie vorliegenden phänomenologischen bzw. verstehenden Forschungsansätze zunächst durch die Entwicklung standardisierter Ansätze zurückgedrängt worden waren und qualitative Forschung dann in den 1970er-Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hatte, wurde die Qualitätsfrage immer wieder neu gestellt. Die Auseinandersetzung mit der Qualität qualitativer Forschung vollzieht sich vor dem Hintergrund eines
Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“, http://www.qua litative-research.net/index.php/fqs/pages/view/quality.
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weitgehenden Konsenses in der quantitativen Forschung über die zu erfüllenden „klassischen“ Gütekriterien Reliabilität, Validität und Objektivität, die dort für alle Ansätze als akzeptiert anzusehen sind. Inwieweit dieser Konsens auf die sozialwissenschaftliche Forschung insgesamt – also einschließlich qualitativer Ansätze – übertragen werden kann, ist eine Kernfrage der Diskussion.
1.2
Kriteriendiskussion als spezifisches Thema der Psychologie
In der Psychologie stellt sich die Frage der Kriterien bzw. Qualität qualitativer Forschung noch einmal besonders zugespitzt, da die Psychologie sich durch ihr elaboriertes Methodenverständnis von den Nachbar-Disziplinen abgrenzt. Da hier Gütekriterien nicht nur in Bezug auf die Haltbarkeit von Forschungsergebnissen, sondern auch in Bezug auf die Verlässlichkeit diagnostischer Entscheidungen auf der Basis von Forschungsinstrumenten (z. B. Tests) relevant werden, hat sich in der Psychologie der Kriteriendiskurs besonders stark entwickelt (s. Steinke 1999 als Überblick für die qualitative Forschung). Vor diesem Hintergrund ist in der Psychologie eine eigene, z. T. sehr spezifische Diskussion entstanden, gerade wenn es um die Fragen der Geltungsbegründung und Qualitätssicherung qualitativer Forschung geht, die von den anderen Disziplinen in der Landschaft qualitativer Forschung nur begrenzt aufgegriffen wird. Dabei haben sich eigenständige Ansätze wie das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ von Groeben und Scheele (z. B. 1982) herausgebildet. In solchen Kontexten wird die Frage der Kriterien in besonderer Weise beantwortet.
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Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen
2.1
Subjektive Theorien als spezifisches Thema qualitativer Forschung in der Psychologie
Qualitative Forschung in der Psychologie hat sich mit besonderem Interesse Fragen der Subjektivität und insbesondere der Rekonstruktion von Alltagswissen gewidmet. Hierbei lässt sich eine Entwicklungslinie von Kellys (1955) Idee des „Menschen als Wissenschaftler“ bis hin zum „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ ziehen: Im Vordergrund steht die Frage, wie Individuen sich einen bestimmten Gegenstandsbereich erklären und welche Rolle solche Erklärungen für ihr Handeln spielen. Eine subjektive Theorie wird dabei verstanden als „ein Aggregat (aktualisierbarer) Kognitionen der Selbst- und Weltsicht mit zumindest impliziter Argumentationsstruktur, die eine (zumindest partielle) Explikation bzw. Rekonstruktion [. . .] in Parallelität zur Struktur wissenschaftlicher Theorien erlaubt“ (Groeben und Scheele 1982, S. 16). Bei der entsprechenden Forschung werden zur Datenerhebung v. a. Leitfadeninterviews eingesetzt.
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Anwendbarkeit der klassischen Kriterien
Inwieweit subjektive Sichtweisen, Alltagswissen (oder andere Gegenstände qualitativer Forschung) verlässlich ermittelt werden und darüber Aussagen mit einer ausreichenden Gültigkeit zum Untersuchungsthema getroffen werden können (um die Grundbedeutung von Reliabilität und Validität heranzuziehen), stellt sich als Frage für jede Untersuchung. Auch sollten im Sinne traditioneller Gütekriterien die erhobenen Daten und gezogenen Schlussfolgerungen in ausreichendem Maße unabhängig sein von der konkreten Person, die sie erhoben bzw. gezogen hat (als ganz allgemeine Bedeutung der Idee der Objektivität von Forschung). Wenn dies akzeptiert wird, ist das Problem eher, inwieweit die in anderen Zusammenhängen zur Beantwortung dieser Fragen verwendeten Kriterien sich mit den Besonderheiten bzw. Eigenschaften qualitativer Forschung vereinbaren lassen. Entsprechend diskutieren Steinke (1999) oder Kirk und Miller (1986) Reliabilität und Validität in ihrer Anwendbarkeit für qualitative Forschung. Zum einen wird dabei deutlich, dass die Reliabilität von Daten und Verfahren im traditionellen Sinne – als die Stabilität von Daten und Ergebnissen bei mehreren Erhebungen – für die Bewertung qualitativer Daten eher ungeeignet ist: Die identische Wiederholung einer Erzählung bei wiederholten narrativen Interviews ist eher ein Hinweis auf eine „zurechtgelegte“ Version als auf die Verlässlichkeit des Erzählten. Validität wird ebenfalls häufiger für die qualitative Forschung diskutiert (Kvale 1995). Kirk und Miller (1986), S. 21 fassen die Frage der Validität darin zusammen, ob die Forschenden sehen, was sie zu sehen meinen. Hier ergeben sich ebenfalls Probleme bei der unmittelbaren Anwendung klassischer Validitätskonzeptionen. Interne Validität wird etwa erhöht bzw. sichergestellt, indem ausgeschlossen werden soll, dass andere als die in der Untersuchungshypothese enthaltenen Variablen den beobachteten Zusammenhang bestimmen (z. B. Döring und Bortz 2016, S. 195). In diesem Verständnis liegen bereits die Probleme bei der Übertragung auf qualitative Forschung begründet: Interne Validität soll durch eine möglichst umfassende Kontrolle der Kontextbedingungen in der Untersuchung erhöht werden. Zu diesem Zweck wird die weitgehende Standardisierung der Erhebungs- bzw. Auswertungssituation angestrebt. Der dafür notwendige Grad an Standardisierung ist jedoch mit dem größten Teil der gängigen qualitativen Methoden nicht kompatibel bzw. stellt ihre eigentlichen Stärken infrage. Ähnlich lässt sich für die anderen Formen der Validität aufzeigen, warum sie nicht direkt auf qualitative Forschung übertragen werden können (Steinke 1999, Kap. 5). Objektivität wird als Kriterium auf qualitative Forschung eher selten angewendet. Von Madill et al. (2000) wird Objektivität ausschließlich an der Analyse qualitativer Daten festgemacht und mit der Frage, ob zwei Forschende zu gleichen Ergebnissen bei der Analyse vorliegender qualitativer Daten kommen und damit mit der „Konsistenz der Bedeutung durch die Triangulation der Ergebnisse zweier unabhängiger Forscher“ (Madill et al. 2000, S. 17) gleichgesetzt. Insgesamt findet sich zwar gelegentlich der Anspruch, qualitative Forschung müsse sich zumindest den Fragen stellen, die mit Konzepten wie Reliabilität und Validität (z. B. bei Morse 1999,
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S. 717) oder Objektivität (Madill et al. 2000) verknüpft sind. Jedoch wird die Anwendung klassischer Kriterien auf qualitative Forschung seit Längerem infrage gestellt, da „das ‚Wirklichkeitsverständnis‘“ beider Forschungsrichtungen dafür „zu unterschiedlich“ (Lüders und Reichertz 1986, S. 97) sei. Ähnliche Vorbehalte finden sich schon bei Glaser und Strauss (1979), die „bezweifeln, ob der Kanon quantitativer Sozialforschung als Kriterium [. . .] auf qualitative Forschung [. . .] anwendbar ist. Die Beurteilungskriterien sollten vielmehr auf einer Einschätzung der allgemeinen Merkmale qualitativer Sozialforschung beruhen – der Art der Datensammlung [. . .], der Analyse und Darstellung und der [. . .] Weise, in der qualitative Analysen gelesen werden.“ (Glaser und Strauss 1979, S. 92)
Diese Skepsis hat zu zwei Alternativen der Auseinandersetzung mit Gütekriterien in der qualitativen Forschung geführt: einerseits die Modifikation oder Reformulierung der Konzepte, andererseits Vorschläge, „methodenangemessene Kriterien“ (Flick 1987) zu entwickeln und diese an die Stelle von Kriterien wie Objektivität, Validität und Reliabilität zu setzen. Diese Diskussionen werden in der qualitativen Forschung über die Disziplingrenzen hinweg geführt etwa in der Soziologie, Erziehungswissenschaft oder Ethnologie, können aber auch für die Psychologie und ihre qualitative Forschung relevant werden.
2.3
Reformulierung herkömmlicher Kriterien
Die Reformulierung von Reliabilität im Sinne einer stärker prozeduralen Konzeption zielt darauf ab, das Zustandekommen der Daten so zu explizieren, dass überprüfbar wird, was Aussage noch des jeweiligen Subjekts ist und wo die Interpretation der Forschenden schon begonnen hat. Hierzu gehören etwa exakte und einheitliche Vorgaben, wie Interviews oder Gespräche transkribiert werden sollen (Kowall und O’Connell 2019) oder die Kennzeichnung von wörtlich wiedergegebenen Aussagen in Feldnotizen in Abhebung von Zusammenfassungen oder Paraphrasen durch die Forschenden. Schließlich soll sich die Reliabilität im gesamten Prozess durch dessen reflexive Dokumentation erhöhen (Seale 1999). Speziell in der Psychologie wird als eine Reformulierung der Validitätsbestimmung die Analyse der Interviewsituation ausgehend von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981) vorgeschlagen (Legewie 1987). Geltungsansprüche im Interview werden dabei differenziert in den Inhalt des Gesagten, die Angemessenheit der Beziehung und die aufrechte Selbstdarstellung der Interviewpartner/ innen. Validierung erfolgt über eine Analyse der Interviewsituation auf Auffälligkeiten und Verzerrungen und auf das Vorliegen eines Arbeitsbündnisses und einer nicht-strategischen Kommunikation. Ein Problem bei diesem Ansatz ist die (zumindest implizite) Annahme einer „richtigen“ bzw. „gültigen“ Version der Erzählung, wodurch sich die Validitätsfrage auf die Bestimmung der Abweichungen von dieser Version bzw. auf die Identifizierung von Hinweisen auf potenzielle Abweichungen („Verzerrungen“) reduzieren lässt.
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Kommunikative Validierung – das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ als Beispiel
Die Zustimmung der Untersuchungsteilnehmer/innen nach Abschluss des Interviews – als kommunikative Validierung oder member checks (Lincoln und Guba 1985) bezeichnet – wird als eine weitere Form der Validierung diskutiert (für allgemeinere Diskussionen s. Terhart 1995, S. 388–393). Im eingangs erwähnten „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ von Scheele und Groeben wird dies zu einem ersten Ansatzpunkt der Validierung. Dabei gehen Scheele und Groeben davon aus, dass eine subjektive Theorie nach ihrer Rekonstruktion (mittels eines Leitfaden-Interviews) einerseits einer kommunikativen Validierung mit dem oder der Befragten unterzogen, andererseits aber auch einem „Validierungsexperiment“ (Wahl et al. 1983) durch standardisierte Beobachtung ausgesetzt werden sollte. Darin wird das „falsifikationstheoretische Wahrheitskriterium der externen Beobachtung, [das] die empirische Methodologie der heutigen Psychologie prägt“ (Scheele und Groeben 1988, S. 24), angewendet. Somit wird ein „qualitativ-interpretatives“ Verfahren zur Erhebung der subjektiven Theorie(n) (Scheele und Groeben 1988, S. 68) verwendet: Methodischer Zugang ist ein teilstandardisiertes Interview sowie eine „dialog-hermeneutische“ Lege-Technik. Dabei werden den Befragten ihre Aussagen noch einmal vorgelegt mit der Bitte, diese zu konsentieren (zu akzeptieren, ggf. zu modifizieren oder zurückzuweisen). Liegt die Zustimmung vor, wird dies als eine kommunikative Validierung der Interviewaussagen und damit der Daten durch die Befragten verstanden. Basis ist der Dialog-Konsens mit den Befragten. Der Gültigkeitsanspruch dieser Validierung wird auf die „Rekonstruktionsadädquanz“ beschränkt, nicht jedoch auf die eigentlich zu prüfende „Realitätsangemessenheit“ der subjektiven Theorie bezogen. Letzteres wird wiederum an der Frage festgemacht, ob die Befragten ihrer subjektiven Theorie entsprechend handeln. Um dies zu beantworten, wird „externe Beobachtung“ in einem standardisierten Design im Rahmen von „Korrelations-, Prognose- und Veränderungsstudien“ (Scheele und Groeben 1988, S. 24) eingesetzt. Im ersten Fall wird untersucht, ob sich zwischen den Bestandteilen einer subjektiven Theorie und beobachteten Verhaltensweisen Korrelationen ergeben, mit denen die Bestandteile der subjektiven Theorie im Handeln bestätigt werden können. Im zweiten Fall werden aus (Bestandteilen) der subjektiven Theorie Prognosen abgeleitet und es wird untersucht, ob diese sich im (zukünftigen) Handeln bestätigen. Im dritten Fall wird versucht, die subjektive Theorie gezielt (etwa durch Fortbildung etc.) zu verändern und daraufhin entsprechende Änderungen im Handeln nachzuweisen. In allen Fällen ist jedoch von vornherein festgelegt, dass das interpretative Verfahren und seine Ergebnisse – die rekonstruierte subjektive Theorie – einer Validierung unterzogen werden. Das Beobachtungsexperiment dient dabei der externen Validierung der vorangegangenen Rekonstruktion – es ist nicht nur zeitlich nachgeordnet, sondern auch von seinem Stellenwert her übergeordnet (Scheele und Groeben 1988). Ergeben sich Diskrepanzen, so werden diese einseitig ausgelegt – die vorangegangene Rekonstruktion der subjektiven Theorie ist damit falsifiziert. Nicht infrage stehen dabei jedoch Aussagekraft und Angemessenheit der Beobachtungs-
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daten. Damit ist jedoch die prinzipielle Zirkularität externer Validierung per VorabSetzung und nicht durch eine inhaltliche Begründung ausgeschaltet. Die Zirkularität bezieht sich auf die Tatsache, dass beim Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung einer Methode und ihrer Ergebnisse immer unterstellt werden muss, dass die andere Methode valide Ergebnisse produziert hat. Um mittels Verhaltens-Beobachtung die rekonstruierten subjektiven Theorien zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, muss man unterstellen, dass die Beobachtungsdaten valide und dem untersuchten Gegenstand gerecht geworden sind, um damit die angepeilte Entscheidung treffen zu können. Die andere Möglichkeit – dass die subjektive Theorie angemessen rekonstruiert ist, obwohl sie dem Falsifikationsversuch durch Verhaltensbeobachtung nicht standgehalten hat – schließen Scheele und Groeben per definitionem aus, indem sie die Verhaltensbeobachtung von vorneherein „überordnen“ und in diesem Fall die Validität nicht infrage stellen. Nun ließe sich einwenden, dass die Entscheidung, ob die Beobachtungsdaten valide sind, ebenfalls über den Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse getroffen werden könnte. Doch damit verschiebt sich das Problem nur, da sich auch hier das Problem der ersten Validierungsschleife wiederholt: Der Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung setzt voraus, dass diese valide sind etc. Solche Schleifen lassen sich prinzipiell fast unbegrenzt einführen, bis zum Schluss nur noch ein Außenkriterium übrig bleibt, für das es dann keine Möglichkeit zur Hinzuziehung weiterer Außenkriterien mehr gibt. Scheele und Groeben legitimieren ihre Vorab-Setzung und ihre Validitäts-Unterstellung für das gewählte Außenkriterium nicht zuletzt darüber, dass sie auf eine Methode zur Validierung zurückgreifen, die die „empirische Methodologie der heutigen Psychologie prägt“ (Scheele und Groeben 1988, S. 24). Damit werden ihre Ausführungen jedoch auch zum Beleg für die Feststellung von Wilson (1982), S. 502, dass „objektive Erkenntnis nicht aus Aussagen mit einem verbrieften Wahrheitsanspruch besteht, sondern aus dem, was eine gegebene wissenschaftliche oder gelehrte Gemeinschaft ihren Mitgliedern als ernstzunehmende Ausgangspunkte für ihre eigene Arbeit zumutet“. Ähnlich kritisiert etwa Terhart (1981) an der Umsetzung des Ansatzes von Scheele und Groeben bei Wahl et al. (1983), dass „eine festgestellte Deckung von Prognose und Handlung nicht mit Sicherheit die korrekte Rekonstruktion“ (Terhart 1981, S. 778) der subjektiven Theorie belegen könne, da diese durch den Forschungsprozess „in Aufbau sowie Inhalt“ verändert werde und damit keine „stabile Basis für Ableitungen und Prognosen vorhanden“ (Terhart 1981, S. 778) sei. Das heißt, damit die subjektive Theorie im skizzierten Validierungsprozess geprüft werden kann, muss sie künstlich festgeschrieben und „objektiviert“ werden – allein schon für die Durchführung der notwendigen Korrelationen. Für eine allgemeinere Anwendung solcher Strategien sind drei Fragen noch nicht befriedigend beantwortet: 1. Wie ist das methodische Vorgehen bei der kommunikativen Validierung zu gestalten, damit es den untersuchten Sachverhalten und der Sicht der Subjekte tatsächlich gerecht wird? 2. Wie lässt sich jenseits der Zustimmung der Subjekte die Frage der Geltungsbegründung weitergehend beantworten? Hierzu sind andere Qualitätsprüfungen notwendig, die kommunikative Validierun-
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gen ergänzen, auch wenn diese möglicherweise nicht den Vorschlägen von Scheele und Groeben entsprechen müssen. 3. Inwieweit sind die kurz behandelten Vorschläge für kommunikative Validierung auf andere Forschungsansätze übertragbar? (s. als Überblick Flick 1987) Die Versuche der Verwendung oder Reformulierung von Validität und Validierung haben insgesamt mit verschiedenen Problemen zu kämpfen: Die formale Analyse des Zustandekommens von Daten in der Interviewsituation beispielsweise sagt noch nichts über Inhalte und ihre angemessene Behandlung im weiteren Verlauf der Forschung aus. Das Konzept der kommunikativen Validierung bzw. von member checks ist mit dem Problem konfrontiert, dass die Zustimmung dort als Kriterium schwierig ist, wo die Sicht des Subjekts systematisch überschritten wird – in Interpretationen, die ins soziale oder psychische Unbewusste vordringen wollen oder sich gerade aus der Unterschiedlichkeit verschiedener subjektiver Sichtweisen ableiten. Die behandelten Reformulierungen des Validitätskonzepts zeichnen sich insgesamt durch eine gewisse Unschärfe aus, die der Forschungspraxis durch ihre generelle Problematisierung und Programmatik nicht unbedingt eine Lösung für die Frage der Geltungsbegründung anbietet. Als gemeinsame Tendenz ist jedoch eine Verlagerung von Validität zur Validierung und von der Beurteilung des einzelnen Schritts oder Bestandteils der Forschung zur Herstellung von Transparenz über den Forschungsprozess festzuhalten.
2.5
Formulierung alternativer, methodenangemessener Kriterien
Der dritte Ansatz der Bewertung qualitativer Forschung – neben der Anwendung klassischer Kriterien oder ihrer Reformulierung – ist die Suche nach alternativen, methodenangemessenen Kriterien. Dabei ist der Gedanke leitend, dass die Frage nach der Qualität grundsätzlich durch die Formulierung und Anwendung von Kriterien beantwortet werden kann und sollte, dass jedoch die klassischen Kriterien an den Charakteristika qualitativer Forschung und Methoden vorbeizielen. Lincoln und Guba (1985) propagieren Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, Übertragbarkeit, Zuverlässigkeit und Bestätigbarkeit als Kriterien qualitativer Forschung, wobei das erstgenannte zum zentralen Kriterium wird. Um die Glaubwürdigkeit qualitativer Forschung, Daten und Ergebnisse zu erhöhen, skizzieren sie verschiedene Strategien. Dazu zählen sie neben einem verlängerten Engagement im Feld und ausdauernden Beobachtungen die Triangulation verschiedener Methoden, Forschende und Datensortendas peer debriefing (regelmäßige Besprechungen mit anderen Forschenden zur Aufdeckung „blinder Flecke“) sowie die Analyse abweichender Fälle und die Überprüfung der Angemessenheit von Interpretationen und member checks im Sinne der kommunikativen Validierung von Daten und Interpretationen. Damit sind verschiedene Ansatzpunkte für die Sicherung und Überprüfung von Qualität im qualitativen Forschungsprozess aufgezeigt. Auf diesem Weg lassen
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sich Vorgehen und Durchführung im Verlauf der Forschung offen legen und beurteilen. Unter dem Blickwinkel der produzierten Erkenntnisse lassen sich die Fragen, die ein solcher Prozess der Überprüfung beantworten soll, nach Huberman und Miles (1998, S. 202) allgemeiner zusammenfassen: Sie richten sich auf die Begründetheit der Erkenntnisse in den Daten und der Schlüsse, die Angemessenheit der Kategorienstruktur, und sie sollen prüfen, ob Forschungsentscheidungen gerechtfertigt waren und ob Strategien zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit angewendet wurden. Dabei sind zwar die Ergebnisse Ausgangspunkt der Bewertung der Forschung, die zu ihnen geführt hat; jedoch wird diese Frage in der Verbindung einer ergebnisorientierten Sichtweise mit einem prozessorientierten Herangehen zu beantworten gesucht. Die bislang skizzierten Strategien zielen auf die Formulierung von Kriterien, die analog zu den in der quantitativen Forschung etablierten Kriterien in der qualitativen Forschung in der Psychologie eingesetzt werden können. In den hier kurz vorgestellten Vorschlägen tauchen jeweils verschiedene Probleme auf. Einerseits ist es bei diesen Kriterien – anders als bei der Reliabilitätsbestimmung in der quantitativen Forschung – schwierig, Grenzwerte oder Punkte zu definieren, die zwischen guter und schlechter Forschung unterscheiden: Im Beispiel der Glaubwürdigkeit werden von Lincoln und Guba (1985) lediglich Strategien formuliert, wie diese hergestellt bzw. erhöht werden kann. Die Forschenden, die diese zur Sicherung von Qualität und Glaubwürdigkeit auf ihre Forschung anwenden möchten, sind mit ihren Fragen ebenso allein gelassen wie die Lesenden, die einen Forschungsbericht anhand dieses Kriteriums bewerten möchten: Welche Resultate müssen peer debriefing und/oder member checks bringen, damit sie ein Indikator für die Glaubwürdigkeit der damit überprüften Forschung sind? Müssen alle dabei Befragten zu einheitlichen Einschätzungen kommen – etwa was die Plausibilität der Resultate angeht – oder reicht es, wenn die Mehrheit oder bestimmte Personen diese Plausibilität bestätigt? Ist etwa die Bestätigung seitens bestimmter Personen anders zu gewichten als die Ablehnung durch z. B. andere Befragte? Zum Problem wird dies, da ohne die Angabe von Grenzwerten die Idee der Kriterien häufig zu gut gemeinten Absichtserklärungen verkommt (Lüders 2019). Andererseits sind all diese Vorschläge jeweils vor dem Hintergrund eines bestimmten Ansatzes formuliert und in ihrer Anwendung auf andere Ansätze eher begrenzt (Lüders 2003).
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Standards nicht standardisierter Forschung als Alternative zu Kriterien?
Bohnsack (2005) diskutiert, inwieweit sich Standards nicht-standardisierter Forschung identifizieren lassen bzw. herausgebildet haben. In den dabei entwickelten Thesen geht er davon aus, dass sich die Standards bei nicht-standardisierter Forschung nicht „am grünen Tisch“ entwickeln, sondern quasi im Nachgang aus der
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Rekonstruktion nicht-standardisierter bzw. qualitativer Forschungspraxis ableiten und explizieren lassen. Gleiches gelte auch für die Methoden qualitativer Forschung selbst: „These 1: Die Methoden und Standards qualitativer Forschung werden auf der Grundlage einer empirischen Rekonstruktion der Forschungspraxis entwickelt“ (Bohnsack 2005, S. 65). Dass die vorliegenden Methoden der qualitativen Forschung sich aus konkreten Forschungsfragen und -projekten entwickelt haben, lässt sich gut nachvollziehen. Mittlerweile haben sich allerdings zahlreiche, mehr oder minder kanonisierte Methoden in der qualitativen (bzw. nicht-standardisierten oder rekonstruktiven) Forschung entwickelt und etabliert, sodass Forschende heute häufig entscheiden müssen, welche davon sie anwenden wollen für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen; auch sind methodische Neuentwicklungen aus der Praxis eher die Ausnahme. Hier stellt sich dann die Frage, worin sich gute von weniger guten Anwendungen bestimmter Methoden unterscheiden lassen. Standards in der nichtstandardisierten Forschung stellen nach Bohnsack Standards zweiten Grades dar, die aus der Auseinandersetzung mit den natürlichen Standards (ersten Grades) entwickelt werden sollen. Folgt man diesem Ansatz und der darauf bezogenen Argumentation bei Bohnsack, so lassen sich Standards qualitativer Forschung aus der Analyse alltäglicher Standards der Kommunikation entwickeln und darüber die Kriterien Gültigkeit und Zuverlässigkeit in der qualitativen Forschung rekonstruieren (Bohnsack 2005, S. 76). Nach Bohnsack ist die wesentliche Bezugsebene für die Formulierung von Standards die methodologische und theoretische Begründung des jeweiligen Vorgehens. Es wird dabei weiter ausgeführt, dass bei qualitativen Methoden zwischen offenen und rekonstruktiven Verfahren unterschieden werden sollte, wobei nur die letzteren den von Bohnsack entwickelten Qualitätsstandards entsprechen (These 7, Bohnsack 2005, S. 74). Der Ansatz von Bohnsack liefert eine ganze Reihe von theoretisch und methodologisch aufschlussreichen Vorschlägen für eine meta-theoretische Fundierung der Diskussion über die Qualität qualitativer Forschung. Allerdings bleiben verschiedene Fragen offen. Hierzu gehört zunächst, ob die Formulierung von Standards in einem derart heterogenen Feld wie der qualitativen Forschung (überhaupt bzw. schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt) realisiert werden kann – wenn noch nicht mal Einigkeit über die Bezeichnungen (qualitativ, interpretativ, rekonstruktiv) und Zugehörigkeiten zum Feld besteht. Zweitens laufen Formulierungen von Standards in der Regel Gefahr, Standardisierung (von Vorgehensweisen und Prozeduren) mit sich zu bringen – was den Ansatz nicht-standardisierter Forschung zumindest in einen Widerspruch verwickelt. Drittens, und das ist in unserem Kontext das entscheidende Argument, wird über den Weg der Formulierung von Standards, den Bohnsack einschlägt, die Frage der Geltungsbegründung von der Ebene der Qualitätsbestimmung praktischer Vorgehensweisen im Feld auf die Ebene der Angemessenheit ganzer Forschungsprogramme verlagert. Wendet man Bohnsacks Vorschlag an, weiß man zwar, dass bestimmte Ansätze – rekonstruktive Verfahren – den (?) Standards qualitativer Forschung entsprechen, andere – offene Verfahren – dagegen nicht. Weniger hilfreich sind diese Vorschläge aber bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wonach die konkreten Anwendungen und Verfahrensweisen in einem Forschungsprojekt oder Artikel zu bewerten sind.
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Diversifizierung qualitativer Forschung als Kontext der Kriteriendiskussion
Jenseits der Psychologie hat qualitative Forschung sich in verschiedenen Kontexten entwickelt. Hier sind einerseits theoretische und methodologische Schulen zu unterscheiden, die jeweils bestimmte Grundannahmen, Forschungsinteressen und – in der Regel, aber nicht immer daraus resultierend – Methoden(-präferenzen) kennzeichnen bzw. unterscheiden. So ist der ursprünglich in den USA entstandene und auf Glaser und Strauss (1967) zugehende Ansatz der gegenstandsbegründeten Theoriebildung (grounded theory) im englischen, aber auch im deutschen Sprachraum als eigener Ansatz zu verzeichnen, dessen Interesse sich in der Regel auf die Entwicklung von Theorien über einen bestimmten Gegenstand aus empirischem Material bzw. aus dessen Analyse konzentriert. Gerade in der englischsprachigen Diskussion wird dieser Ansatz in der Psychologie verstärkt aufgegriffen. Ähnliches gilt für die Biografieforschung, die einerseits diesseits und jenseits der Sprachgrenze(n) an der Analyse von Lebensgeschichten mit dem Ziel theoretisch relevanter Verdichtungen orientiert ist. Andererseits sind hier die Traditionen in der Psychologie (z. B. Jüttemann und Thomae 1987, 1998) von den soziologischen Ansätzen in der Tradition von Schütze (1983) zu unterscheiden, die jedoch beide nicht dieselbe Entwicklung in der englischsprachigen Diskussion entfaltet haben wie im deutschen Sprachraum. Andere Ansätze bzw. Schulen sind spezifisch für bestimmte Kontexte und spielen dort eine zentrale Rolle, während sie in anderen Kontexten kaum wahrgenommen werden bzw. eine Rezeption dort auch nicht suchen. Beispiele sind hier etwa die objektive Hermeneutik oder die hermeneutische Wissenssoziologie, die ihre Wirkung (und Publikationsaktivitäten) fast ausschließlich im deutschen Sprachraum entfalten (Reichertz 2019). Ähnliches gilt für die im englischen Sprachraum sich differenzierenden Formen der Diskursanalyse, die etwa in England eine starke Dominanz in der Diskussion entwickelt haben, hierzulande aber außerhalb der internen Diskurse kaum rezipiert werden (dies auch, weil der Begriff der Diskursanalyse hier mit anderen Wurzeln assoziiert ist). Das heißt, die Diskussion über qualitative Forschung ist durch unterschiedliche Differenzierungen gekennzeichnet – Schulen auf der einen Seite, sprachraumbezogene Schwerpunkte und Unterschiede auf der anderen Seite (hierzu auch Flick 2005 sowie Knoblauch et al. 2005 für Überblicke). Dazu kommen noch (mindestens) zwei weitere Differenzierungen. Einerseits sind disziplinspezifische Entwicklungen zu verzeichnen: Der Diskurs in der Erziehungswissenschaft (über qualitative Forschung) entwickelt sich z. B. in mehr oder minder enger Verzahnung mit dem in der Soziologie oder in der Psychologie.
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Anwendungsfelder als Bezugspunkt für die Bewertung qualitativer Forschung
Ebenso relevant für die Frage nach Kriterien wird andererseits in den letzten Jahren die Differenzierung der unterschiedlichen Anwendungsfelder qualitativer Forschung. Zu nennen sind hier Bereiche wie die Gesundheitsforschung (Schaeffer
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und Müller-Mundt 2002), die qualitative Management- und Organisationsforschung (Cassell und Symon 2004) oder die qualitative Evaluationsforschung (Flick 2006). In diesen Feldern beginnt sich die methodische Diskussion über qualitative Forschung und mehr noch über „gute“ qualitative Forschung langsam zu verselbstständigen. Dies hat auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen qualitative Forschung hier durchgeführt wird: In der Regel handelt es sich um Auftragsforschung, die mit spezifischen Erwartungen hinsichtlich der Ergebnisse und vor allem ihrer praktischen Relevanz verknüpft ist und häufig unter anderen Rahmenbedingungen realisiert werden muss als qualitative Grundlagen- bzw. Qualifikationsforschung. Zu nennen ist hier etwa der zeitliche Rahmen, dessen Folgen sich u. a. an der Diskussion über die Legitimität von „Abkürzungsstrategien“ (Lüders 2019) bei der Verwendung qualitativer Methoden in solchen Kontexten festmachen lassen oder auch an der Frage der Überzeugung von – außerwissenschaftlichen – Zielgruppen mit den gefundenen Ergebnissen (Lüders 2006). Diese knappe, sicherlich unvollständige Skizzierung der Diversifizierung qualitativer Forschung verweist auf ein Dilemma, in dem die hier interessierende Diskussion über die Gütekriterien qualitativer Forschung steckt: Die Frage nach der angemessenen Bestimmung, Sicherung oder Verbesserung dieser Qualität stellt sich über alle der genannten Bereiche hinweg. Die Lösungswege, die dabei beschritten werden, unterscheiden sich aber ebenso wie die Klärungsnotwendigkeiten und die gefundenen bzw. vorgeschlagenen Lösungen. Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob es erwartbar (und sinnvoll) ist, über die verschiedenen Bereiche und Kontexte hinweg eine gültige Antwort auf die Qualitätsfrage zu finden oder nicht. Kaum umstritten ist, dass qualitative Forschung eine Antwort auf diese Frage finden muss. Jedoch herrscht wenig Einigkeit darüber, wie diese Antwort aussehen soll: Liegt sie darin, Gütekriterien zu formulieren, die idealerweise Grenzwerte oder Benchmarks zur Unterscheidung von guter und weniger guter Forschung „mitliefern“? Dann lautet die erste Frage, welche Kriterien hierfür geeignet sind, und die zweite, ob sie für „die“ qualitative Forschung gültig sein sollen oder für bestimmte Richtungen in der qualitativen Forschung. Wenn Kriterien, sollen sie dann auf eine GroundedTheory-Studie gleichermaßen anwendbar sein wie auf eine Untersuchung, die auf Fallrekonstruktionen im Sinne der objektiven Hermeneutik basiert – oder auch auf eine Fallstudie zur Evaluation einer Institution? Oder stellt sich die Frage der Qualität bei qualitativer Forschung grundsätzlich anders – jenseits von Kriterien? Dann wäre zu fragen, was an die Stelle von Kriterien treten soll und kann.
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Neuere Vorschläge für Kriterien in der qualitativen Forschung
Nicht auf bestimmte disziplinäre Kontexte bezogen schlägt Tracy (2010) acht „Big Tent“ Kriterien vor. Mit diesem Begriff bezeichnet sie, dass die Kriterien sich nicht auf einen einzelnen Schritt im Forschungsprozess beziehen, wie in einer Validitätsprüfung in der quantitativen Forschung, bei der im Wesentlichen nur die Gültigkeit der Messung geprüft wird. Andere Aspekte werden eher außer Acht gelassen, etwa
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ob in der jeweiligen Studie überhaupt ein relevantes Problem untersucht wird. Tracy bezieht solche Aspekte ebenfalls mit ein und definiert ihre Kriterien wie folgt: „high quality qualitative methodological research is marked by (a) worthy topic, (b) rich rigor, (c) sincerity, (d) credibility, (e) resonance, (f) significant contribution, (g) ethics, and (h) meaningful coherence“ (Tracy 2010, S. 839). Dabei beschreibt sie alle Kriterien detaillierter. Zum Beispiel bezeichnet „worthy topic“: „The topic of the research is relevant; timely; significant; interesting“. „Rich rigor“ bezieht sich auf Folgendes: „The study uses sufficient, abundant, appropriate, and complex theoretical constructs; data and time in the field; sample(s); context(s); data collection and analysis processes“ (Tracy 2010, S. 840–841). Im Kriterium „credibility“ sind Strategien wie Triangulation, member checks und der Umgang mit abweichenden Fällen (hier unter dem Stichwort „multivocality“ diskutiert) zusammengefasst (Tracy 2010, S. 844). Aber auch Tracys Vorschläge sind mit dem Problem konfrontiert, das den Ansatz von Lincoln und Guba (1985) betrifft: Es lassen sich keine Grenzen (oder Grenzwerte) definieren, wieviel „worth“, „rigor“, „credibility“ oder „sincerity“ gegeben sein sollten, damit eine Studie diese Kriterien erfüllt.
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Checklisten und Agenden als Bewertungsansatz qualitativer Forschung
In der gesundheitsbezogenen Psychologie und Soziologie sowie in der Medizin wird seit einiger Zeit versucht, die Frage nach der Güte qualitativer Forschung anhand von Checklisten zu beantworten (Barbour 2001), insbesondere im Zusammenhang mit Peer-Review-Verfahren für Zeitschriften und Forschungsanträgen. Im Kontext der Gesundheitspsychologie haben Santiago Delefosse et al. (2015) – bei einer relativ großzügigen Auslegung des Begriffs „Checkliste“ – 133 solcher Checklisten identifiziert und einer vergleichenden Analyse unterzogen. Erkenntnisse sind dabei, neben der Fülle an identifizierten Vorschlägen, einerseits: „[I]t is hard to group together ‚essential and consensual‘ quality criteria allowing for the in abstracto evaluation of qualitative research“ (Santiago Delefosse et al. 2015, S. 39). Andererseits ließen sich zwei zentrale Schwerpunkte in den Checklists („grids“) ausmachen: technisch-prozedural orientierte Kriterien und solche die auf die Bedingungen der Herstellung von Bedeutung fokussieren. Damit bestätigen die Autorinnen eine der Grundlinien der Diskussion über Gütekriterien in der qualitativen Forschung – forschungsinterne, abstraktere Ansätze, die sich auf Methoden, Techniken, ggf. noch die Planung der Untersuchung beziehen, stehen konkreter fokussierten Ansätzen gegenüber, die sich (auch oder vordringlich) den Kontexten der Forschung, insbesondere der Haltung der Forschenden widmen. Auch eher systematisierende Herangehensweisen führen nicht zu einem Konsens über allgemein verbindliche Kriterien, sondern dokumentieren eher die Diversität der vorliegenden Vorschläge. Ebenfalls im Bereich der qualitativen Gesundheitsforschung haben Stige et al. (2009) eine Agenda für die Bewertung qualitativer Forschung formuliert. Darin
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grenzen sie sich gegen vorliegende Ansätze für Checklisten ab. Die existierende Vorschläge für Kriterien, differenzieren sie in „local criteria“ und „metacriteria“ (ähnlich der bereits genannten „Big tent criteria“). Erstere bezeichnet Kriterien die für einen bestimmten Forschungsansatz oder im Kontext eines Projektes entwickelt wurden, während letztere für ein breiteres Feld von Studien und Forschungstraditionen relevant sein sollen. Ihr eigener Ansatz einer evaluation agenda verfolgt dagegen als Ziel: „In proposing an evaluation agenda, we argue that attention should be drawn to the situated processes of developing rich and interpreted accounts or stories and to the capacity of these stories to facilitate change.“ (Stige et al. 2009, S. 1509) Dieser Ansatz erscheint für die allgemeinere Diskussion um Qualität (-skriterien) qualitativer Forschung in zweifacher Hinsicht interessant: Einerseits wird darin das Spannungsverhältnis von der Formulierung von Kriterien (bzw. der Probleme dabei) und Strategien der Geltungsbegründung deutlich (Flick 2019). Andererseits wird hier das Spannungsverhältnis zwischen (rein) methodisch orientierter Qualitätsbewertung und der Orientierung an Relevanz und praktischem Impact der jeweiligen Forschung als Qualitätskennzeichen auf den Punkt gebracht – eine Diskussion, die sich auch in den Vorschlägen von Charmaz (2014) zur Bewertung von GroundedTheory-Studien widerspiegelt.
7
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Frage nach den Kriterien zur Bewertung qualitativer Forschung wird (anders als etwa in den 1980er-Jahren) nicht nur intern – in einem einzelnen Projekt oder innerhalb der qualitativen Methodendiskussion – gestellt. Aktuell lassen sich fünf Kontexte der Diskussion ausmachen, in denen sie aufgeworfen wird: • • • • •
Forschungspraxis: Was ist gute Forschung? Antragstellung und Förderung: Was ist ein guter Antrag? Forschungsbewertung: Was ist ein gutes Projekt? Publikation: Was ist ein guter Artikel? Lehre: Was ist ein gutes Beispiel?
Damit wird die Frage nicht nur ein methodisches Thema, sondern auch eines, von dem die ökonomische Relevanz qualitativer Forschung abhängt – bekommt sie Zugang zu Fördermitteln (Reichertz 2000), Publikationsmöglichkeiten (insbesondere im Kontext von Peer-Review-Journals) und politischen Umsetzungsfeldern? In diesem Zusammenhang ist die qualitative Forschung selbst einem – für die Kriteriendiskussion nicht unerheblichen – Wandel unterworfen. Gerade die fortschreitende Differenzierung qualitativer Forschung wirft neue Fragen (oder alte Fragen neu) für die Formulierung von Kriterien auf. Die vorangegangen Ausführungen sollten verdeutlichen, dass es unterschiedliche Vorschläge gibt, wie Gütekriterien für qualitative Forschung in der Psychologie bzw. generell diskutiert und formuliert werden. Es hat sich aber bislang gezeigt, dass 1. diese Kriterien in sich begrenzt stimmig sind. Die bislang vorliegenden Kriterien
Gütekriterien qualitativer Forschung
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sind 2. nicht unbedingt von dem Kontext, in dem sie entwickelt wurden, auf andere methodische Herangehensweisen oder Anwendungsfelder übertragbar. Entsprechend zeichnet sich 3. auch kein Konsens in „der“ qualitativen Forschung hinsichtlich der Kriterienfrage ab, wie er in der quantitativen Forschung festzustellen ist. Wenn die vorliegenden Vorschläge oder noch zu entwickelnde Alternativen die Funktion von Kriterien und die damit verknüpften Erwartungen (auch von Förderinstitutionen, Zeitschriften etc.) erfüllen sollen, müssen zwei Probleme gelöst werden, damit sie eine ähnliche Rolle spielen können wie die Kriterien in der standardisierten Forschung: 1. Das Benchmarkproblem muss geklärt werden (z. B.: wie viel Glaubwürdigkeit ist notwendig, wie viele Befragte müssen zustimmen, damit daraus die Gültigkeit von Aussagen abgeleitet werden kann?). 2. Die Kriterien müssen so formuliert werden, dass sie auf jede Form qualitativer Forschung angewendet werden können bzw. für jeden Ansatz qualitativer Forschung akzeptabel sind. Erst dann werden sie eine ähnlich klärende und legitimierende Funktion nach innen und vor allem auch nach außen für die qualitative Forschung übernehmen können, wie dies die klassischen Kriterien für die standardisierte Forschung tun. Wenn diese beiden Probleme nicht gelöst werden können – und es gibt berechtigte Zweifel, ob dies ohne Aufgabe wesentlicher Eigenschaften und Stärken qualitativer Forschung gelingen wird –, bleibt weiter über Alternativen zu Kriterien nachzudenken. Hier bieten möglicherweise Strategien der Qualitätsentwicklung qualitativer Forschung eine Alternative – von der Verwendung der Triangulation als Erweiterung des Zugangs zum untersuchten Feld bzw. Gegenstand (Flick 2011) bis hin zum Qualitätsmanagement in der Forschung (Flick 2018). Dies beinhaltet die Abstimmung der in einem Projekt zu erreichenden Qualitätsziele ebenso wie die Orientierung an den „Zielgruppen“ der Forschung, z. B. Auftrag gebende Institutionen oder Praxisfelder und deren Erwartungen an die Forschung.
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Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden Margrit Schreier und Franz Breuer
Inhalt 1 Einleitung: Psychologische Forschungsmethodik in der akademischen Ausbildung . . . . . 2 Mehrdeutigkeit als Merkmal qualitativer Forschungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Realisierungs- und Vermittlungsweisen qualitativer Methodik – einige Besonderheiten . . . 4 Vermittlung qualitativer Methoden unter vielfältigen Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . 5 Anregungen für die Vermittlung qualitativer Methoden – speziell in der Psychologie . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In den universitären Standard-Lehrplänen der Psychologie im deutschen Sprachraum ist die Methodenausbildung vorwiegend vom Geist naturwissenschaftlich und/oder experimentell ambitionierter Denk- und Vorgehensweisen geprägt. Das hat zur Konsequenz, dass die Studierenden im Lehrveranstaltungs-Angebot einen verengten Blick auf die Methodologie ihres Fachs bekommen, und dass ihnen in diesem Rahmen kein angemessenes Kennenlernen qualitativer Methodik ermöglicht wird. Entsprechend fehlt auch das Interesse an einer Beschäftigung mit dem Lehren und Lernen qualitativer Methoden in der Hochschulausbildung. Im englischsprachigen Raum ist im Unterschied dazu eine zunehmende Institutionalisierung qualitativer Forschungsmethoden und -ansätze in der Hochschulaus-
M. Schreier (*) Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Breuer Institut für Psychologie, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_32
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M. Schreier und F. Breuer
bildung in Psychologie festzustellen. Es werden dort vielfältige didaktische Überlegungen und Konzepte entwickelt, was sich in einer wachsenden Zahl von Publikationen im Verlauf der letzten zehn Jahre widerspiegelt. In diesem Beitrag gehen wir zunächst auf Besonderheiten des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden ein, die sich aus der Charakteristik qualitativer Methodologie ergeben. Anschließend stellen wir einige Anregungen für eine Didaktik qualitativer Methoden vor. Wir schließen mit Überlegungen zu Herausforderungen und Problemen, die sich aus den Wandlungen der Studienstrukturen angesichts des sogenannten Bologna-Prozesses ergeben. Schlüsselwörter
Lehren und Lernen qualitativer Methoden · Methoden-Didaktik · Qualitativer Forschungsstil · Kontexte des Lehrens und Lernens · Cognitive apprenticeship
1
Einleitung: Psychologische Forschungsmethodik in der akademischen Ausbildung
Forschungsmethodik besitzt in der akademischen Psychologie und der institutionalisierten Ausbildung von Studierenden traditionell einen hohen Stellenwert. In den universitären Psychologie-Lehrplänen im deutschen Sprachraum äußert sich das u. a. in der herausragenden Gewichtung von Kursen in mathematisch-statistischer Datenauswertung. Diese Ausrichtung ist gekoppelt mit naturwissenschaftlich und experimentell ambitionierten Denk- und Vorgehensweisen. Innerhalb des so geprägten Psychologie-Mainstreams werden Repräsentant/innen und Repräsentationen qualitativer Methodik häufig mit Ignoranz, Marginalisierung oder einem ambivalenten Image von „Alternativität“ konfrontiert. Unter der herrschenden Konstruktion methodologischer Normalität lässt es sich als Zeichen besonderer Liberalität psychologischer Methodenlehre und ihrer Vertreter/innen deuten, wenn in einem einschlägigen Lehrbuch ein Kapitel zu qualitativen Methoden enthalten ist, und deren Berücksichtigung im Rahmen der Psychologieausbildung vorgeschlagen wird (wie bei Döring und Bortz 2016). Kaum ein deutschsprachiges Lehrbuch thematisiert beide Ausrichtungen in angemessener Gründlichkeit (eine positive Ausnahme: Hussy et al. 2013). Im englischsprachigen Raum ist diesbezügliche Ausgewogenheit dagegen weiter verbreitet (s. etwa Creswell und Creswell 2018; Neuman 2011). Psychologiestudierende im etablierten Curriculum müssen sich – sofern sie von der Existenz dieser Herangehensweise erfahren und dafür Interesse entwickeln – Kenntnisse und Fertigkeiten in qualitativer Methodik zumeist anderswo aneignen: in anderen Fächern, durch Selbststudium oder durch Tagungen und Workshops. Eine kompetente fachliche Betreuung von Forschungsarbeiten (Magister-, Bachelor-, Master-Thesis, Dissertationen), die auf der Basis qualitativer Methodik operieren, ist im Rahmen eines Psychologiestudiums hierzulande und heutzutage kaum möglich. In einer Liste qualitativ-methodischer Forschungswerkstätten im deutsch-
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sprachigen Hochschulraum, die sich u. a. der Betreuung von Qualifikationsarbeiten widmen, gibt es z. Zt. keine Psychologie-Adresse unter ca. 60 aufgeführten Angeboten.1 Disziplinenbezogen überwiegen dort erziehungswissenschaftliche Richtungen und die Soziologie. Unter den neueren Umwälzungsbedingungen im deutschen Hochschulwesen (Stichwort: Bologna) wird die Situation noch prekärer: Bei der Modularisierung, Ausdünnung und Komprimierung des Wissensbestandes im Rahmen von Bachelor-Lehrplänen wird eine Konzentration auf den Kernbestand des Mainstreams vorgenommen (Bögelein und Serrano-Velarde 2012) – und dazu gehören in der Psychologie die qualitativen Methoden derzeit nicht.2 Ein Interesse an didaktischen Möglichkeiten ihrer Vermittlung ist unter diesen Rahmenbedingungen nur in Ausnahmefällen zu erwarten.3 Wie sieht es diesbezüglich in anderen Ländern aus? Ein umfassender Rundumblick ist hier nicht möglich – wir werfen lediglich zwei Schlaglichter auf den englischsprachigen Raum.4 In den USA wurde – assoziiert mit der sogenannten Division 5 der American Psychological Association („Evaluation, Measurement & Statistics“) – im Jahre 2013 eine Society for Qualitative Inquiry in Psychology gegründet.5 Diese führt im Verhältnis zur APA ein eher randständiges Dasein. Sie bringt eine eigene Zeitschrift heraus („Qualitative Psychology“6). In repräsentativen Methoden-Handbüchern der APA besitzen qualitative Methoden durchaus einen Platz (Cooper 2012). Kurse in qualitativer Forschungsmethodik sind an USHochschulen nicht im selben Maß verpönt und unüblich wie im deutschsprachigen Raum, aber dennoch überwiegend marginal und ressourcenbezogen unterkalibriert (McClelland et al. 2015). In Großbritannien ist die Einbeziehung qualitativer Methoden in das Curriculum psychologischer Studienprogramme Voraussetzung für deren Anerkennung durch die British Psychological Society. Das gilt sowohl für BA-Programme als auch für Studiengänge auf der Graduiertenebene (Forrester
1
S. http://www.qualitative-forschung.de/angebote/forschungswerkstaetten/index.html. Diese Tatsache kommt auch darin zum Ausdruck, dass das vom Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung ausgehende „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“ (http://www.qualitative-forschung.de/institut/jahresberichte/ 2008.html), das für eine Hochschulausbildung auch in qualitativer Methodik plädiert, zwar von den wesentlichen Fachgesellschaften der deutschsprachigen Soziologie, jedoch nicht von den entsprechenden Mainstream-Psychologie-Vereinigungen unterstützt wird. 3 Um die Beschäftigung mit der Thematik des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden in den Sozialwissenschaften anzuregen und zu unterstützen, wurde im Open Access Online-Journal Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research eine „Debatten“-Rubrik eingerichtet, die dieser Thematik gewidmet ist: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/ pages/view/methods. 4 2017 wurde die Association for European Qualitative Researchers in Psychology (EQuiP) gegründet (https://www.equipsy.org/). Die Gesellschaft existiert erst so kurze Zeit, dass sich über den Stellenwert der Lehre qualitativer Methoden in diesem Kontext noch keine Aussagen machen lassen. 5 http://www.apa.org/about/division/div5.aspx. 6 http://www.apa.org/pubs/journals/qua/. 2
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M. Schreier und F. Breuer
und Koutsopoulou 2008). Entsprechend hat sich hier eine Arbeitsgruppe gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Didaktik qualitativer Methoden in der Psychologie zu fördern und einschlägige Ressourcen bereitzustellen (TQRMUL7). Insgesamt lässt sich feststellen: Das Interesse an einer Didaktik qualitativer Methoden in der Psychologie wächst auf internationaler Ebene, und es findet sich in den letzten Jahren vermehrt Literatur zu dem Thema (Drisko 2008; Eisenhart und Jurow 2014; Hurworth 2008; Waite 2014). Im Jahr 2012 ist eine Sonderausgabe der Zeitschrift „Psychology Learning and Teaching“ zum Thema der Vermittlung qualitativer Methoden in der Psychologie erschienen (Gibson und Sullivan 2012).
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Mehrdeutigkeit als Merkmal qualitativer Forschungssituationen
Qualitative Methodologie und Methodik ist von ihrer Programmatik her durch ein Offenheits- und Flexibilitätspostulat gekennzeichnet. Adaptivität, Wahlentscheidungen und Wandelbarkeit gehören von vornherein und konstitutiv zu den normalen Anforderungen des Forschungsgeschäfts. Aus dieser Kennzeichnung ergibt sich ein hohes Maß an Freiheit und Verantwortung für Forschende: Unterschiedliche methodische Herangehenswege und verschiedene Lesarten von Daten sind potenziell sinnvoll und interessant. Und: die Person des/der Forschenden zählt. Qualitativ Forschende haben vielfältig mit Mehrdeutigkeit, mit Ambiguität, zu tun. So ist mitunter nicht klar zu bestimmen, was in einer Situation (einer beobachteten Interaktion, einem geführten Interviewgespräch o. ä.) „der Fall“ bzw. „gemeint“ ist. Und es ist dann nicht eindeutig, welche Deutung angemessener Weise zum Zuge kommen soll. Die Tatsache, dass unterschiedliche Beteiligte und Beobachter/innen nicht zu übereinstimmender Beschreibung (Deutung, Kategorisierung) eines Geschehens kommen (können), ist möglicherweise nicht sinnvoll mit methodischen Mitteln zu eliminieren. Vielmehr können derartige Uneindeutigkeiten konstitutive Merkmale sozialer Situationen, Konstellationen und Ereignisse sein – so z. B. im Fall gesellschaftlicher Konflikte. Auch ist mitunter im Vorhinein nicht zu bestimmen, wie die genaue Fragestellung eines qualitativen Forschungsprojekts lautet. Das exakte Thema ergibt sich in einigen Forschungsstil-Varianten erst im Verlauf der Untersuchung: Von einem „Forschungsanliegen“ ausgehend wird eine „Themenstellung“ herausdestilliert, und diese Fokussierung ist systematischer Bestandteil des Forschungsprozesses. Für Lernende bzw. Anfänger/innen sind Postulate qualitativer Methodenlehre wie theoretische Offenheit, multiple perspektivische Deutbarkeit und flexible Regelanwendung nicht leicht zu durchschauen und umzusetzen. Novizinnen und Novizen im Handlungsfeld Forschungsmethodik bevorzugen klare und eindeutige Leitlinien. Von Lehrenden verlangen sie verbindliche Auskünfte über richtige und falsche Vorgehensschritte, Interpretationen und Schlussfolgerungen. Dies gilt insbesondere 7
https://www.heacademy.ac.uk/knowledge-hub/tqrmul-dataset-teaching-resources-user-guide.
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dann, wenn sie zuvor bereits eine Ausbildung bezüglich quantitativer Methoden absolviert haben (Bogard und Wertz 2006; Glesne und Webb 1993; O’Connor und O’Neill 2004; Stark und Watson 1999). Ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz ist auf Seiten der Lernenden jedoch unabdingbar: Unsichere Situationen sowie Prozesse mit offenem und ungewissem Ausgang müssen einige Zeit lang ausgehalten werden können (Bogard und Wertz 2006; Hazzan und Nutov 2014; Hein 2004; Kleinman et al. 1997; Poulin 2007; Rogers 2003). Rekurse auf fixe Standards passen im Rahmen qualitativer Forschungsmethodik selten, Flexibilität und Adaptivität werden verlangt.
3
Realisierungs- und Vermittlungsweisen qualitativer Methodik – einige Besonderheiten
Oftmals wird von der qualitativen Methodik gesprochen – als ob es sich hierbei um ein homogenes Gefüge handeln würde. Dies ist jedoch eine Idealisierung, die die Verhältnisse vergröbert – die Szene ist durch eine große Vielfalt gekennzeichnet. Im Spektrum der qualitativen Methodenlehre finden wir beispielsweise die „Tiefenhermeneutik“, die „Objektive Hermeneutik“, die „Strukturlegetechnik“, die „Qualitative Inhaltsanalyse“, die „Biografieanalyse“, die „Diskursanalyse“, die „Grounded-Theory-Methodik“ und die „Autoethnografie“ – um nur einige der aktuellen Richtungen zu nennen (zur Übersicht: Hitzler und Honer 1997; Mruck et al. 2000; Camic et al. 2007; Holstein und Gubrium 2008; Willig und Stainton-Rogers 2014 – und das Spektrum der Beiträge des Handbuchs, in das dieser Aufsatz eingeordnet ist). Die Szenerie der qualitativ-methodischen Sozial- und Kulturwissenschaften ist gegenwärtig sehr lebendig und dynamisch, vielfältig in Entwicklung begriffen. Die Geschichte mancher Varianten bzw. Richtungen ist noch kurz, neue Ideen und Verfahrensweisen tauchen auf bzw. bekommen Aufmerksamkeit, andere treten in den Hintergrund. Der Grad an Institutionalisierung der „Schulen“ ist in unterschiedlichem Maße vorangeschritten, insgesamt aber noch nicht sehr stark ausgeprägt. Jede dieser Richtungen besitzt (mehr oder weniger entschieden und elaboriert) einen eigenen Theorie- und Weltanschauungs-Hintergrund und eigene Vorstellungen zur Vermittlung des Ansatzes und zur Ausbildung „zertifizierter Repräsentanten“. Die disziplinäre Kanonisierung – Was gehört dazu und was nicht? Was soll in den Lehrplan? – ist für die qualitativen Methoden in der Soziologie gegenwärtig am weitesten etabliert (Knoblauch 2007; s. die Sammlung von Materialien zur Lehre qualitativer Methoden der American Sociological Association, inzwischen bereits in der vierten Auflage: Ballard und Jensen 2007; die Teaching Resources and Innovations Library for Sociology;8 oder die „Leseliste“ empfohlener Literatur der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Sektion Methoden der Qualitativen Sozialfor-
8
S. http://trails.asanet.org/Pages/default.aspx.
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M. Schreier und F. Breuer
schung9). In anderen Fachrichtungen sind die Verhältnisse ungeordneter, häufig von lokalen Besonderheiten geprägt. In der frühen Entwicklungsgeschichte methodischer Ansätze haben wir es hinsichtlich ihrer Vermittlung und Weitergabe mitunter mit der Umsetzungs-Figur der Meister/in-Schüler/in-Beziehung zu tun, wie dies häufig in der Ausbildung von Künstler/innen, Handwerker/innen oder in religiösen Kontexten Praxis ist (Breuer 2016). Das bei derartiger Unterweisung transferierte Charisma des „Meisters“ (einer Be-/Gründerin einer sozialwissenschaftlichen Methoden-Tradition) verblasst in der Regel von Generation zu Generation. Mit fortschreitender Zeit und Konzeptverfeinerung wird nicht mehr von den Gründer/innen persönlich, sondern von ihren direkten Schüler/innen, später von Schüler/innen zweiten Grades und schließlich in akkreditierten Ausbildungsprogrammen und aus Lehrbüchern gelernt, mitunter mit Zertifikat besiegelt – dann ist die Institutionalisierung einer Schulrichtung erreicht. Formen der Vermittlung qualitativer Methoden in lokal-institutionellen Curricula sind häufig an die dortigen „Autoritäten“, deren Spezialisierungen und Angebote gebunden. Bei Professorin M. am Institut für P. in F. beispielsweise wird man bevorzugt in tiefenhermeneutische Interpretationsverfahren eingewiesen, in der Forschungswerkstatt des Professors R. im K.-Institut in E. bekommt man eine Einübung in wissenssoziologische Deutungspraktiken (Allert et al. 2014). Für derartige Konstellationen und Prozesse spielt die Beziehungscharakteristik des Meister/in-Schüler/ in-Verhältnisses ebenfalls eine große Rolle. Bei der curricularen Vermittlung eines breiteren Spektrums sozialwissenschaftlich-qualitativer Methodenvarianten im Rahmen eines Bachelor- oder Master-Studienganges sind solche Vermittlungsformen jedoch unpassend und dysfunktional (Flick et al. 2014). Eine weitere Differenzierung bei der Verwendung qualitativer Methoden für Forschungszwecke ist die bezüglich der Konzepttreue ihrer Realisierung. Wird qualitative Methodik – eine bestimmte Richtung oder Schule – mitsamt des theoretischen Hintergrunds sowie im gesamten methodologischen Arbeitsbogen (gewissermaßen von A bis Z) verwendet? Oder werden nur bestimmte Ausschnitte bzw. Elemente daraus (z. B. Sampling-, Kodier- oder Interpretationsverfahren) für umgrenzte Zwecke isoliert zur Anwendung gebracht? In einem Aufsatz über Lehren und Lernen (Breuer und Schreier 2007) haben wir zwei Realisierungsweisen qualitativer Methodik dimensional-typisierend einander gegenübergestellt. Am einen Pol befindet sich eine ganzheitlich durchkomponierte – gewissermaßen paradigmaförmige – Konzeption, der häufig auch eine identifikatorische Komponente zukommt (Breuer 1996; Breuer et al. 2018), am anderen Pol eine Konzeption, die durch situativ-pragmatisch und eklektizistisch gewählte methodische Praktiken und eine „technokratische“ Forschungshaltung gekennzeichnet ist (Eisenhart und Jurow 2014). Im ersteren Fall können wir an Modelle interpersonaler Ko-Konstruktion (etwa cognitive apprenticeship – Collins et al. 1989 – oder einen begleitend-kooperativen Stil wie bei Roth 2006) denken. Dort sind die Arbeits- und
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http://www.soziologie.de/de/sektionen/sektionen/methoden-der-qualitativen-sozialforschung/lese liste.html.
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Betreuungsverhältnisse idealerweise zwischen Kolloquium, Supervision und Interpretationswerkstatt konzipiert (Breuer et al. 2011; Mruck und Mey 1998). In der zweiten Variante geht es darum, qualitative Methoden nach einer Sortierungslogik gewissermaßen in einem Instrumentenkoffer kennenzulernen. Man bedient sich daraus in opportunistisch-pragmatischer Manier – es werden Verfahren passend für den Forschungszweck und die Umstände verwendet, man kümmert sich dabei wenig/er um die theoretischen Hintergründe, Einbettungen und die genuinen Haltungs-Implikationen. Typisch für qualitativ Forschende ist die Auffassung der Umsetzung eines ganzheitlichen Forschungsstils. Daraus folgt, dass auch die Lehre qualitativer Forschung sich nicht in der Vermittlung von Methoden als modularisierbarer Techniken erschöpft, sondern dass sie auf die Aneignung einer qualitativen Haltung, einer qualitativen Weltsicht abzielt (z. B. Breuer 1996, S. 171–173, 2010; Poulin 2007; Rogers 2003). Die Auffassungen darüber, inwieweit eine solche Einstellung bzw. Haltung lehrbar ist, gehen auseinander und stehen mit je unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Anwendung qualitativer Methoden in Zusammenhang (Hammersley 2004; Ruckdeschel und Shaw 2002). Fasst man qualitatives Forschen als Kunst auf, die entsprechendes Talent voraussetzt und von persönlicher Intuition geleitet wird, so sind der Lehr- und Lernbarkeit Grenzen gesetzt (Knoblauch 2007; Rist 1983). Eine Sichtweise qualitativen Forschens als handwerklicher Fertigkeit geht von einer Regelgeleitetheit aus, ohne dass intuitive Komponenten gänzlich ausgeschlossen sind. In dieser Rahmung bildet sich mit zunehmender Expertise eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Gegenstand heraus (Josselson und Lieblich 2003; Rogers 2003; Ruckdeschel und Shaw 2002). Das Ziel, eine bestimmte Haltung zu vermitteln, wird so zu einem wesentlichen Merkmal qualitativer Methodenlehre – so z. B. bei Noy, der Parallelen zwischen der Lehre qualitativer Methodenkompetenzen und dem Unterricht in Aikido zieht (2015; zur Vermittlung einer bestimmten Haltung s. auch Carawan et al. 2011; Lapum und Hume 2015). Der Gesichtspunkt des Einsozialisierens der qualitativen Methoden-Lehrlinge in einem interpersonal-kooperativen Setting wird in der Literatur vielfach herausgestellt. Diese Perspektive kommt in der Konzeptualisierung von Lehrveranstaltungen häufig zum Tragen (einschlägige Beschreibungen finden sich u. a. in Ballard und Jensen 2007; Bochner und Ellis 2016; Flick und Bauer 2005; Harlos et al. 2003; Hopkinson und Hogg 2004; Hunter et al. 2014; Maunder et al. 2012; Nyden 1991; Page 1997; Poulin 2007; Riemann 2011; Rowe und McAllister 2002; Strauss 1988). Das Modell gemeinsamen Lernens und gemeinsamer Veränderung (z. B. Sorrell et al. 2014; Waite 2014) wird mitunter auch als Alternative zur Perspektive der autoritativen Einsozialisierung beschrieben (Allert et al. 2014). In der Literatur zur Didaktik qualitativer Methoden finden sich häufig Hinweise auf die Andersartigkeit von Veranstaltungen zur qualitativen – gegenüber der quantitativen – Methodenlehre (z. B. Glesne und Webb 1993; Hazzan und Nutov 2014; Hopkinson und Hogg 2004; Hunter et al. 2014; Kleinman et al. 1997; Rogers 2003; aus der Perspektive der Lernenden: Dieris 2007; Richards 2011). Folgende Konkretisierungen werden dabei benannt: Lehrende heben die Bedeutung von Reflexivität
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hervor (Booker 2009; Cox 2012; Dausien 2007; Hopkinson und Hogg 2004; Kleinman et al. 1997; Navarro 2005) sowie – unter Hinweis auf die Flexibilität des qualitativen Forschungsprozesses – von Ambiguitätstoleranz (Hazzan und Nutov 2014; Kleinman et al. 1997; McAllister und Rowe 2003; Poulin 2007; Rogers 2003; Dausien 2007 benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Professionalität“). Auch die Fähigkeiten zum „richtigen“ Stellen von Fragen (Strauss 1988), zum Zuhören (Poulin 2007), zur Empathie (O’Connor und O’Neill 2004), zum angemessenen Umgang mit dem Feld und den Feldmitgliedern (Dausien 2007), zum Aushalten von Komplexität und Ungewissheit (Kleinman et al. 1997; Poulin 2007; Rogers 2003) und zum kritischen Denken (Glesne und Webb 1993) werden betont. Durchgängig besitzen die in der Literatur beschriebenen Veranstaltungen eine Anwendungscharakteristik. Die Studierenden sollen angehalten werden, den Prozess qualitativen Forschens praktisch umzusetzen und zu erfahren (Drisko 2016). Ein eigenständig durchgeführtes Forschungsvorhaben erweist sich in einer Übersichtsstudie von Hurworth (2008), in der sie Lehrveranstaltungen in qualitativer Methodenlehre an mehreren Universitäten in Australien besucht hat und detailliert beschreibt, als gemeinsames Element sämtlicher Kurse (s. auch Eisenhart und Jurow 2014). Bögelein und Serrano-Velarde (2012) entwickelten ein Konzept zu einem Forschungspraktikum, um den Anwendungsaspekt beim Erlernen qualitativer Methoden auch unter restriktiven Lehrplan-Bedingungen zu gewährleisten. Idealerweise erfahren Studierende in einem solchen Rahmen des gemeinsamen Tuns intensive Rückmeldung von den Teilnehmenden (Dausien 2007; Glesne und Webb 1993; Rogers 2003) und vielfältige Unterstützung. Die Lehrenden fungieren als Vorbilder (O’Connor und O’Neill 2004), indem sie ihr eigenes Forschungshandeln darstellen und kritisch diskutieren (z. B. Janesick 1983). Durch die Beteiligung von Mitstudierenden an einem gemeinsamen Forschungsvorhaben wird wechselseitiges Modellgeben (z. B. Nyden 1991) und eine Lerngemeinschaft von Peers ermöglicht (Glesne und Webb 1993; Kleinman et al. 1997; Levitt et al. 2013; Navarro 2005).
4
Vermittlung qualitativer Methoden unter vielfältigen Rahmenbedingungen
In der Praxis ist das Lehren und Lernen qualitativer Methoden wenig kanonisiert – weder in psychologischen Hochschul-Curricula noch in anderen Fachkontexten. Es gibt eine große Vielfalt von Formen und Weisen, einschlägige Kompetenzen zu erwerben und zu entwickeln sowie diese zu vermitteln und zu lehren. Hier spielen disziplinäre Kulturen, historische Konjunkturen, curriculare Rahmensetzungen, lokale Besonderheiten und motivationale Gegebenheiten auf Seiten der Lehrenden und Lernenden eine Rolle. Es können individuell-eigenständig konfigurierte Aneignungen und solche in institutionalisierten Lehr-Lern-Arrangements unterschieden werden. Vermittlungen können in Universitätsveranstaltungen und in externen Seminaren arrangiert sein. Sie können durch eine Lehr-Autorität angeleitet werden oder sich im Kontext gleichrangiger Peers vollziehen. Die Interaktionen unter Lehrenden
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und Lernenden können im vis-a-vis-Kontakt oder per Internet-Kommunikation stattfinden. Und alle diese Aspekte können in multiplen Kombinationen auftreten. Wir skizzieren im Folgenden in einer vereinfachenden Übersicht einige typische Formen des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden in unterschiedlichen Settings.
4.1
Qualitative Methoden im Lehrplan eines Psychologiestudiums
Bis in die 1970er-Jahre gab es an deutschsprachigen Universitäten eine ausgebaute Methodologie-Tradition psychologischer Interpretation (Fahrenberg 2002). Im Zuge der (neo-)positivistischen Umorientierung der Disziplin jener Zeit verschwanden die Protagonist/innen dieser Ausrichtung und mit ihnen die einschlägigen Lehrveranstaltungen aus den Psychologie-Lehrplänen und Prüfungskatalogen. Qualitative Methoden finden heutzutage allenfalls gnädige Erwähnung als Randerscheinung im Rahmen einer quantitativen Methodenlehre, werden jedoch nur in Ausnahmefällen so gelehrt, dass sie auch kompetent in der Forschungspraxis umgesetzt werden können. Die Lehrenden bedienen – wenn überhaupt – das Thema gewissermaßen nebenbei und „stichwortartig“, sie verbinden damit keine Eigenpraxis und erst recht keine Identifikation. Misst man den Aufwand, der innerhalb der üblichen Psychologie-Lehrpläne mit Veranstaltungen zur Experimentalmethodik und statistischen Datenauswertung getrieben wird, mit dem Stellenwert, den qualitative Methoden – selbst unter freundlichen Rahmenbedingungen – in der Ausbildung an deutschsprachigen Universitäten besitzen, dann erhält man einen Eindruck von der beschränkten Wertschätzung dieses Erkenntniszugangs im Fach. Im Kontext von psychologieaffinen Studiengängen in anderen Hochschulformen (etwa Fach-/Hochschulen oder sog. Privatuniversitäten) wird der Stellenwert qualitativer Methoden dagegen häufig höher eingeschätzt. Sie finden dort mitunter selbstverständlichen Eingang in die Lehrpläne. Allerdings sind die lokalen Unterschiede hierbei groß.
4.2
Qualitative Methoden in Lehrforschungsprojekten im Rahmen eines Psychologie-Curriculums (ExperimentalPraktika, Forschungsorientierte Vertiefungen)
Bei der Vermittlung qualitativer Methoden in Lehrforschungsprojekten (etwa im Rahmen zweisemestriger Kurse) ist seitens des/der Lehrenden eine größere Methodenkenntnis und eine entsprechende Bereitschaft zu erwarten, sich auf den qualitativen Denk- und Arbeitsstil einzulassen. Im Rahmen üblicher akademischer Psychologieausbildungen dürfte diese Form einen seltenen und glücklichen Fall des Kennenlernens der qualitativen Methodenorientierung darstellen – Learning by Doing im Kontext eines themenbezogenen Forschungsprojekts, dabei Einfinden in einen Forschungsstil (Dieris 2007). Bei dieser Vermittlungs- und Aneignungsweise
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steht in der Regel eine bestimmte Konzeption (eine qualitative „Schule“) im Mittelpunkt, es kann nicht gleichzeitig ein systematischer Rundblick auf den qualitativen Verfahrensreichtum gegeben werden. Bei diesem Vermittlungstyp ergibt sich mitunter das Problem, dass bei der Konfrontation von in Mainstream-Psychologie einsozialisierten Studierenden mit qualitativen Forschungsweisen gewisse Irritationen bezüglich des gelernten Konzepts von Wissenschaftlichkeit der Methodik (etwa hinsichtlich Objektivität, Reliabilität, Stichprobengröße etc.) auftreten. Derartige Verfremdungs-Erfahrungen können u. U. produktiv aufgelöst werden, wenn in diesem Zusammenhang über den Stellenwert unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess reflektiert wird (Entdeckung vs. Prüfung, Alltagsweltlichkeit vs. labor-/experimentelle Dekontextualisierungen, apriorische Komponenten des Erkenntnisprozesses – Vor- und Nachteile beider Denkweisen etc.). Zudem kann hier in manchen Fällen auch ein Weltzugang eröffnet werden, der an „frühe“ Motive der Wahl des Studienfachs Psychologie anknüpft (an Ideen von Einzelfallorientierung, interpersonaler Kontakt-Intensität etc.) – bevor man im Standard-Lehrplan zu lernen hat, dass dies ein „wissenschaftlich falsches Denken“ ist, dem durch eine intensive Experimentalmethodik- und Statistik-Indoktrination der Garaus gemacht wird.
4.3
Für Psychologiestudierende zugängliche Veranstaltungen zu qualitativen Methoden im Rahmen eines multidisziplinären Methoden-Moduls
Dabei handelt es sich typischerweise um Überblicksveranstaltungen, häufig im Rahmen von Magister-Studiengängen, die zumeist freiwillig gesucht und gewählt werden. Schwierigkeiten ergeben sich häufig aus der Heterogenität der disziplinären Hintergründe der Teilnehmenden: Studierende der Politikwissenschaften interessieren sich mehr für Fallstudiendesigns und für diskursanalytische Verfahren; Studierende der Soziologie würden gerne einen stärkeren Schwerpunkt auf ethnografische Methoden legen; Studierende der Kommunikations- und Medienwissenschaften möchten Verfahren der Analyse visueller Daten behandelt wissen. Die Interessen und Wünsche von Teilnehmenden aus der Psychologie bilden nur einen Gesichtspunkt unter vielen. Es kommt hinzu, dass die Lernenden sich, vor allem in Master- und Ph.D.-Studiengängen, in ihren forschungsmethodischen Vorkenntnissen stark unterscheiden. In MA-Veranstaltungen ergibt sich außerdem ein Spannungsverhältnis zwischen der Zielsetzung, eine qualitative Einstellung zu vermitteln, und dem Bedürfnis der Studierenden nach Aneignung von Verfahren, die sie in ihrer anschließenden Berufstätigkeit unmittelbar verwenden können. Angesichts dieser Heterogenitäten muss in Lehrveranstaltungen oft unter Schwierigkeiten um Kompromisse gerungen werden. Qualitative Methoden stellen in solchen Kontexten jedoch immerhin ein Angebot innerhalb des Curriculums dar, auch wenn ihre Vermittlung oftmals nicht in wünschenswerter Weise möglich ist.
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
4.4
275
Angebote von Einführungs- und Fortbildungsveranstaltungen für Studierende und Postgraduale jenseits von Studiengangs-Curricula
Hier treffen wir auf eine Vielfalt von Angebots-Varianten innerhalb und außerhalb der institutionellen Anbindung an Hochschulen: Einführungen in die Interviewmethodik, in Gruppendiskussion, in die Grounded Theory-Methodologie, die Inhalts-, Gesprächs- oder Metaphernanalyse – etwa an universitären Fortbildungseinrichtungen für Graduierte bzw. Doktorand/innen,10 bei der GESIS in Mannheim oder Köln,11 beim Institut für Qualitative Forschung in Berlin;12 oder in anderen „Summer Schools“ oder Kolloquien; die Einladung von Expert/innen zu Vorträgen und Tagesworkshops zu einer spezifischen Methodik, Fortbildungsangebote privatwirtschaftlicher Einrichtungen – um einige Beispiele zu nennen. Dabei handelt es sich zumeist um intensive und seitens der Beteiligten auf allen Seiten erwartbar gut motivierte Lehr-Lern-Situationen. In kurzer Zeit können Interessierte einen methodischen Ansatz oder ein Verfahren durch identifizierte und erfahrene Vertreter/innen kennenlernen, einen ersten Zugang gewinnen, einen Impuls zur weiteren und vertiefenden Auseinandersetzung erhalten. Derartige Veranstaltungsangebote treffen oft auf große Nachfrage, v. a. im Zusammenhang mit der Vorbereitung oder Durchführung eigener Qualifikationsarbeiten. Es sind hauptsächlich diese Kontexte, in denen Kompensationen des unzulänglichen Lehrangebots in den Studiengängen an den Hochschulen (durch „Lehrbeauftragte“) geleistet werden (Mey 2008).
4.5
Angebote zur Präsentation und Diskussion eigener qualitativ-methodischer Forschungsarbeiten in Tagungsund Workshop-Zusammenhängen
Unter diese Überschrift gehören beispielsweise Workshops des jährlichen „Berliner Methodentreffens Qualitative Forschung“,13 Veranstaltungen des „Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung“ in Magdeburg14 oder Tagungen des „Center for Qualitative Psychology“.15 Bei diesen Gelegenheiten besteht mitunter die Chance, Beratung und Rückmeldung zum eigenen Forschungsprojekt 10
Vier Beispiele: Einrichtungen an den Universitäten Bremen https://www.uni-bremen.de/byrd/ promovierende/, Frankfurt http://www.uni-frankfurt.de/51934152/100_landingpage, Gießen http:// www.uni-giessen.de/cms/fbz/zentren/ggs, München http://www.gsll.fak13.uni-muenchen.de/in dex.html. 11 https://training.gesis.org/?site=pOverview&cat=all. 12 http://www.qualitative-forschung.de/Workshops/ws-termine/. 13 http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/. 14 http://www.zsm.ovgu.de/Methodenworkshop.html. 15 http://www.qualitativepsychology.com/.
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durch qualitativ-methodische „Autoritäten“ und Peers zu erhalten, die mit ähnlichen Problemlagen und Bemühungen befasst sind. Das Besprechen des eigenen Ansatzes, die Kontrastierung und Auseinandersetzung mit den Projekten anderer, die in verwandten Forschungssituationen arbeiten, sowie das Miterleben der Umgangsweisen erfahrener Forscher/innen bieten Aussichten auf eine Bereicherung der eigenen Sichtweise und Kompetenz.
4.6
Geleitete Forschungswerkstätten zur Begleitung eigener Forschungsarbeiten
Dabei handelt es sich um eine kontinuierliche Supervisions- und MentoringSituation wie bei der Betreuung von Qualifikationsarbeiten, ergänzt durch das Feedback und die Anregungen einer Peer-Gruppe (s. auch Allert et al. 2014; Breuer et al. 2018; Reichertz 2013). Probleme können durch die institutionelle Rahmung entstehen, etwa im Verhältnis von Mentoring- und Begutachtungskontext: Ist der Mentor/die Mentorin zugleich Gutachter/in der Qualifikationsarbeit? Wenn der Mentor/die Mentorin der Universität X angehört, die abgeschlossene Arbeit später jedoch von anderen Gutachter/innen an der Universität Y beurteilt wird, kann es zu Abstimmungsschwierigkeiten kommen (Birck 2003). Die Koordinierung von Sichtweisen ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Aufgabe. In den letzten Jahren wird die Einrichtung sogenannter Graduiertenkollegs (größerer und thematisch einigermaßen kohärenter multidisziplinärer Forschungsverbünde von Lehrstühlen und Doktorand/innen, häufig mit eigenem Fortbildungsprogramm) gefördert, die im Idealfall einen Mentoring- und Supervisionscharakter besitzen können. Ebenso bieten Organisationen und Stiftungen, die Forschungs- bzw. Qualifikationsstipendien vergeben, häufig „Doktorandenforen“ o. Ä. an, bei denen eine derartige Projekt-Unterstützung möglich ist.
4.7
Lokale Selbstorganisation der Vernetzung qualitativ Forschender
Diese Lehr- und Lernform erfordert eigenständige Such-, Etablierungs- und Stilbildungsaktivitäten, verlangt und ermöglicht aber zugleich eine engagierte, motivierende und identifikatorische Peer-Zusammenarbeit. Hier ist ein vielgestaltiges Spektrum von Kooperationsweisen möglich – etwa das auf wechselseitige Projektunterstützung angelegte gemeinsame Auswerten bzw. Kodieren eigenen und fremden Datenmaterials bis zur dauerhaften Einrichtung einer Peer- oder Kolloquiumsgruppe, die einen spezifischen Forschungs- und Interpretationsstil sowie eine eigene Gruppenidentität herausbildet. Bei dieser Organisationsform bieten sich Möglichkeiten interdisziplinärer Vernetzung mit anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, Projekten und „Gleichgesinnten“ an.
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
4.8
277
Online-Begleitung von Forschungsprojekten
Im Rahmen bestimmter Projektbegleitungsangebote wird eine ortsunabhängige moderierte Peer-Kooperation mittels internetbasierter Medien etabliert.16 Auch bei dezentraler Situiertheit der Mitglieder wird ein enger und regelmäßiger Austausch möglich gemacht (Mey et al. 2006; Moritz 2008). Dabei kann hohe Gruppenkohärenz entstehen. Die gemeinsame Arbeit in Kleingruppen und die während der Forschungsarbeit anstehenden Fragen werden über Mailinglisten in asynchroner Kommunikation und in verabredeten und moderierten Chats in synchronem Austausch organisiert. Darüber hinaus gibt es zusätzliche Werkzeuge: Dateiablagen, Online-Bibliothek, Linksammlung etc. Schließlich besteht die Möglichkeit der Kombination mit vis-a-vis-Kontakten in Gruppentreffen und Workshops.
4.9
Online-Lehrangebote
Das Angebot an internet-basierten Lehr- und Informations-Angeboten hat rapide zugenommen und wandelt sich schnell. Der heutige Überblick ist morgen u. U. schon veraltet. Zum einen gibt es online verfügbares schriftliches Material auf Plattformen zur qualitativen Forschung (einige Beispiele: aus dem „Institut für Qualitative Forschung“17 in Berlin, das Netzportal Quasus an der PH Freiburg18 oder von „studi-lektor.de“19), Audio-Podcasts (Beispiele: Institut für Medien- und Bildungstechnologie der Universität Augsburg;20 zur Grounded Theory-Methodologie;21 englischsprachig z. B. die Audio-Podcasts des britischen National Center for Research Methods NCRM22) und Videos (Beispiele: Vorlesungen und Vorträge vom „Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung“,23 eine Vortrags-Serie von Graham Gibbs;24 ein Lehrfilm zur objektiven Hermeneutik im Online-Fallarchiv der Universität Kassel, Bereich Schulpädagogik;25 Video-Bibliotheken mit Lehrmaterial des Sage-Verlags;26 Video-Podcasts des NCRM27). In allerjüngster Zeit ist insbesondere die Form sog. MOOCs (Massive Open Online Courses;28 Schulmeister 16
S. z. B. die NetzWerkstatt unter http://www.methodenbegleitung.de/. http://www.qualitative-forschung.de/. 18 https://quasus.ph-freiburg.de/. 19 https://studi-lektor.de/tipps/qualitative-forschung.html. 20 https://onlinekurslabor.phil.uni-augsburg.de/course/text/3618/3444. 21 https://groundedtheoryoldenburg.wordpress.com/. 22 https://ncrm.ac.uk/resources/podcasts/. 23 http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/archiv/video/. 24 https://www.youtube.com/results?search_query=graham+gibbs. 25 http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/lernumgebung/lehrfilm/. 26 https://methods.sagepub.com/video. 27 https://ncrm.ac.uk/resources/video/. 28 https://www.e-teaching.org/lehrszenarien/mooc. 17
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2013) ausgebaut worden. Diese werden auf Plattformen wie Coursera,29 Udacity30 oder EDx31 (im deutschsprachigen Raum z. B. iversity32), die mit namhaften Universitäten und Lehrenden zusammenarbeiten, kostenlos angeboten. Der Erwerb eines Zertifikats, das die erfolgreiche Kursteilnahme bestätigt, ist jedoch kostenpflichtig. Angebote zur Methodenlehre gibt es bisher überwiegend für quantitative Methoden; seit Herbst 2015 werden auf Coursera33 (seitens der University of Amsterdam) auch MOOCs zu qualitativen Forschungsmethoden angeboten. Angesichts des Bedarfs in diesem Bereich ist zu vermuten, dass künftig weitere Lehrangebote hinzukommen. Neben solchen frei zugänglichen Veranstaltungen entwickeln Universitäten zunehmend eigene digitale Lehrangebote zu qualitativen Methoden, die teilweise für sich stehen, teilweise als hybride Seminare mit Präsenzelementen gekoppelt sind (z. B. Flick et al. 2014, S. 241–246; Holtslander et al. 2012; Hunter et al. 2014; Sorrell et al. 2014). Inwieweit digitale Lernumgebungen allerdings geeignet sind, Lehr-Lern-Prozesse innerhalb eines Modells der cognitive apprenticeship zu fördern, bleibt abzuwarten. Die in diesem Bereich gemachten Erfahrungen werden von Lehrenden unterschiedlich beschrieben und gewertet (Flick et al. 2014). Das Spektrum geht von der Ablehnung ausschließlich digitaler Lehr- und Lernformen (Hunter et al. 2014) bis hin zu positiven Beurteilungen (Holtslander et al. 2012). Es zeigt sich, dass in der digitalen Umgebung die Peer-Zusammenarbeit und damit das Lernen voneinander an Bedeutung gewinnt (Holtslander et al. 2012).
5
Anregungen für die Vermittlung qualitativer Methoden – speziell in der Psychologie
Wir geben im Folgenden einen Einblick in die vielfältigen neueren Ansätze und Bemühungen um eine didaktisch reflektierte, medial unterstützte, auf die gegenwärtigen heterogenen Ausbildungsbedingungen und -erfordernisse angepassten Formen der Vermittlung qualitativer Methoden. Wo es möglich ist, richten wir unseren Blick auch speziell auf den disziplinären Kontext der Psychologie. Die meisten Übungen, die auf die Vermittlung einer qualitativen Denkweise und Haltung ausgerichtet sind (Aronson-Fontes und Piercy 2000; Janesick 2015; Poulin 2007), arbeiten – in Anlehnung an die sog. Krisenexperimente Harold Garfinkels (1999 [1967]) – mit dem Prinzip, Selbstverständlichkeiten unseres Alltagshandelns infrage zu stellen, damit einen veränderten Blick auf soziale Wirklichkeit zu initiieren und diese Erfahrung anschließend zu reflektieren. Poulin (2007) integriert entsprechende Übungen in ihre Veranstaltung, wenn sie die Studierenden in der ersten 29
https://www.coursera.org/. https://www.udacity.com/. 31 https://www.edx.org/. 32 https://iversity.org/de. 33 https://www.coursera.org/. 30
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
279
Semestersitzung auffordert, sich als Personen vorzustellen – jedoch nichts zu/über sich selbst sagt. Nach Abschluss der Vorstellungsrunde thematisiert sie die Normverletzung und die Reaktionen der Studierenden darauf. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Übungen, die Kunstwerke unterschiedlicher Genres (bildende Kunst, Dichtung, Film, Musik etc.) sowie Fernsehsendungen und deren Rezeption und Interpretation nutzen, um eine qualitative Einstellung zu fördern (arts-based approach: Lapum und Hume 2015). Barrett (2007) verwendet beispielsweise die Aufzeichnung einer Chorprobe zur Vermittlung von Strategien qualitativer Datenanalyse und -interpretation. Burr und King (2012) stellen ein Veranstaltungsmodul vor, bei dem Ausschnitte der TV-Sendung Big Brother herangezogen werden, um ethische Probleme speziell in der qualitativen Forschung aufzuzeigen (ähnlich Graham und Schuwerk 2017 unter Verwendung einer Episode aus der Serie Undercover Boss). Leblanc verwendet bereits 1997 Filme als Grundlage für die Vermittlung von Prinzipien ethnografischen Forschens. Eine umfangreiche Zusammenstellung von Filmen und deren Anwendbarkeit auf qualitative Lehr-Lern-Prozesse findet sich bei Saldana (2009; für weitere Beispiele einer arts-based Didaktik qualitativer Methoden s. Carawan et al. 2011; Edmonds 2013; Frei et al. 2010; Owen und Riley 2012; Raingruber 2009; Tan und Ko 2004). Auch die Arbeit mit Metaphern ist darauf ausgerichtet, die Entwicklung einer qualitativen Einstellung zu unterstützen. Gerstl-Pepin und Patrizio (2009) verwenden beispielsweise Dumbledores Pensieve aus der Harry Potter-Serie, um die Rolle eigener Erfahrungen und des Teilens dieser Erfahrungen mit anderen im qualitativen Forschungsprozess zu verdeutlichen. Derartige Übungen zur Initiierung einer qualitativen Einstellung überschneiden sich mit solchen, die auf die Förderung von Reflexivität ausgerichtet sind. Als Mittel dafür werden häufig das Forschungstagebuch oder das Schreiben von Memos eingesetzt (Booker 2009; Breuer 2010; Cox 2012; Hein 2004; Janesick 1983; Kleinman et al. 1997; im Überblick: Glesne und Webb 1993; speziell in der Psychologie Sargeant 2012): Parallel zur Konzeptualisierung und Durchführung einer eigenen Studie werden die Lernenden angehalten, ihre Gedanken, Erfahrungen und Gefühle schriftlich festzuhalten. Kleinman et al. (1997) sehen in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Seminardiskussion über die Gefühle der Studierenden gegenüber den Personen im Feld vor, um so verschiedene Grundhaltungen von Forschenden zu identifizieren und deren Einfluss auf die Forschungsaktivitäten und das Datenmaterial herauszuarbeiten. Zusätzlich zum Forschungstagebuch lassen Kleinman et al. (1997) „Notizen-über-Notizen“ erstellen. Damit wird ein zusätzlicher Reflexionsschritt eingeführt: Die Lernenden setzen sich nicht nur mit ihren Reaktionen in der Forschungssituation und auf die Personen dort auseinander, sondern entwickeln darüber hinaus ein Bewusstsein dafür, wie diese Reaktionen ihre Aktivitäten beeinflussen (für ein weiteres Beispiel der Förderung von Reflexion in der Lehre qualitativer Methoden s. Pfadenhauer et al. 2018). Eine Form der Aneignung qualitativer Methoden und ihrer Mentalitäten ist die Auseinandersetzung mit einschlägigen Klassikern aus der Geschichte der Sozialforschung. Ein herausragendes Beispiel dieser Art ist die Feldforschungsstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda et al. (2007 [1933]). Hierzu existieren
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ausführliche Veranschaulichungsdokumentationen und Lehreinheiten im Internet, die u. a. an der Universität Graz34 ausgearbeitet worden sind, sowie zwei Dokumentarfilme („Marienthal 1930–1980“35 der „Gruppe SYNC“ von 1980 und „Einstweilen wird es Mittag“36 von Karin Brandauer 1987). Lehrveranstaltungen zur qualitativen Methodik zielen häufig auch darauf ab, Wissen über Erkenntnistheorie und Methodologie, über das Spektrum qualitativer Ansätze sowie konkreter Methoden und deren Anwendung zu vermitteln. Als besonders schwierig erweist sich dabei die Lehre über erkenntnistheoretische Positionen und qualitative Methodologie. Probleme machen hier sowohl die Unübersichtlichkeit von Positionen als auch die Notwendigkeit, innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen zwischen der Vermittlung von Methodologie einerseits und (Anwendungs-)Wissen über Methoden andererseits abzuwägen (Rogers 2003; Ruckdeschel und Shaw 2002). Dieses Thema wird in der Literatur zur Didaktik qualitativer Methoden recht stiefmütterlich bearbeitet (s. aber Cox 2012; Eisenhart und Jurow 2014; Roulston und Shelton 2015; Rowe und McAllister 2002). Die Konzeptualisierung einer Einführungsveranstaltung über qualitative Methoden von Poulin (2007) bildet eine Ausnahme. Sie ist beinahe ausschließlich auf die Vermittlung von Erkenntnistheorie und Methodologie ausgerichtet. Zur Präsentation verschiedener epistemologischer Positionen nutzt sie u. a. den Spielfilm Mindwalk37 (1990; Regie: Bernt A. Capra; deutscher Titel: „Wendezeit“38): Ein Dichter, ein Politiker und eine Quantenphysikerin diskutieren über die Vor- und Nachteile einer positivistischen im Vergleich zu einer holistisch-systemischen Weltsicht. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch neuere Lehrveranstaltungskonzepte: Hazzan und Nutov (2014) konzipieren und implementieren den Prozess qualitativer Lehre beispielsweise analog dem qualitativen Forschungsprozess; Knudson (2015) nutzt die Diversität der Studierenden für die Vermittlung partizipatorischer Ansätze. Eine andere Vorgehensweise wählt Page (1997) in einem Veranstaltungsmodul zum Thema Validität. Sie lässt die Studierenden zunächst einen Text von Wolcott aus dem Jahr 1983 über dessen berüchtigte Untersuchung zu „Sneaky Kid Brad“ lesen und über Validitäts-Aspekte reflektieren. Für die darauf folgende Woche sind die Studierenden angehalten, einen Folgetext zum selben Thema vom selben Autor aus dem Jahr 1990 zu lesen. Hier berichtet Wolcott über Brads Versuch, ihn (Wolcott) zu ermorden und legt offen, dass er mit Brad eine sexuelle Beziehung eingegangen war. Diese Informationen sowie die Kontrastierung der beiden Wolcott-Texte erlauben eine differenzierte Diskussion über die Bedeutung von Validität und ValiditätsKriterien in der qualitativen Forschung. In ähnlicher Weise nutzen Tolich und Mitarbeiter/innen (2017) Studien von Goffman und von Venkatech, um die Studierenden auf der Grundlage ihres Alltagswissens zur ethischen Reflexion qualitativer
34
http://agso.uni-graz.at/marienthal/00/einfuehrung.htm. http://www.medienwerkstatt-wien.at/cataloge/katalog.php?seite=marienthal. 36 http://agso.uni-graz.at/marienthal/film/1988_einstweilen_wird_es_mittag/00.htm. 37 https://www.youtube.com/watch?v=Uec1CX-6A38. 38 https://www.youtube.com/watch?v=45S4bNSHYDI. 35
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
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Forschung anzuregen (zur Vermittlung forschungsethischer Gesichtspunkte s. auch Noy 2015; Roth 2003). Qualitativ-Methodische Schulrichtungen werden meist vertiefend im Rahmen thematisch spezifischer Lehrveranstaltungen vermittelt und durch eigene Forschungsaktivität erfahrbar gemacht: zur Vermittlung der Ethnografie: Janesick (1983), Kleinman et al. (1997), Rist (1983); zur Grounded-Theory-Methodologie: Huels (2005), Strauss (1988); zur Autoethnografie: Bochner und Ellis (2016); zur narrativen Forschung: Josselson und Lieblich 2003; zur phänomenologischen Analyse: Biggerstaff (2008), Koob (2008); zum Symbolischen Interaktionismus: Koob (2007); zur Handlungsforschung: McNicoll (1999). Schwieriger ist es, den Studierenden in einer Veranstaltung einen forschungspraxis-nahen Einblick in die Vielfalt qualitativer Forschungsansätze zu geben. Harlos et al. (2003) konzentrieren sich in einem vierwöchigen Veranstaltungsmodul auf drei Ansätze: Grounded-Theory-Methodologie, interpretative Sozialforschung und kritische Diskursanalyse. In den ersten drei Wochen stellt ein Vertreter bzw. eine Vertreterin den jeweiligen Ansatz in der Lehrveranstaltung vor und geht dabei auch auf die lebensgeschichtliche Entwicklung der eigenen Forschungspraxis ein. In einer abschließenden Sitzung diskutieren die drei Vertreter/innen gemeinsam mit Studierenden ihre Ansätze und bearbeiten Datenmaterial. Dabei stellen sie dar, welche Aspekte des Materials sie vor ihrem jeweiligen Theoriehintergrund akzentuieren und wie ihre Interpretationspraxis konkret aussieht. Für die anschauliche Vermittlung und Einübung konkreter Erhebungs- und Auswertungsmethoden liegt ein großer Fundus an Vorschlägen und Übungen vor (etwa die Zusammenstellungen bei Ballard und Jensen 2007; Janesick 2015). Für ein Erlernen des Führens von Interviews schlägt Janesick (1983) beispielsweise vor, dass die Studierenden zunächst eine Person, die sie gut kennen, über ein persönliches Thema interviewen und anschließend eine ihnen unbekannte Kommilitonin zu einem eher unpersönlichen Thema befragen. Diese Übung vermittelt nicht nur Erfahrung mit Interview-Interaktionen, sondern kontrastiert darüber hinaus unterschiedliche soziale Forschungssituationen und den Umgang damit; sie beinhaltet also neben dem methodischen auch ein methodologisches Element. Eine didaktische Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Erlernen von Interpretations-Kompetenzen führt Roth (2015) vor, der in einem Seminar eine erfahrene Sozialforscherin ihr bezüglich der Herkunft unbekanntes (den Seminarteilnehmerinnen dagegen bekanntes) Transkript-Material ad hoc analysieren lässt. Ein Modell zur forschungsnahen Vermittlung von Interview-Interpretationen auf der Grundlage von Material aus einem Daten-Archiv zeigt Stiefel (2007). Für die Koppelung von Grounded Theory-Methodologie-Vermittlung mit der einer QDA-Auswertungssoftware (ATLAS.ti) haben Mühlmeyer-Mentzel und Schürmann (2011) ein Seminarkonzept entwickelt (zu didaktischen Konzepten für die Vermittlung von Kompetenzen bei der Nutzung von Software bei der Kodierung qualitativer Daten: Silver und Woolf 2015, zur Vermittlung der thematischen Analyse s. Boström 2019). Im englischsprachigen Raum finden sich zahlreiche Veröffentlichungen zu einer Didaktik qualitativer Sozialforschung unter Berücksichtigung der besonderen Charakteristik qualitativer Methoden. Hervorzuheben sind hier die Zusammenstel-
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lung von Online-Ressourcen für die Lehre qualitativer Methoden seitens der Higher Education Academy,39 die umfangreiche Bibliografie zur Didaktik qualitativer Forschung von Chenail (2012;40 s. auch die Methodspace Community von Sage41). Auch ganze Lehrveranstaltungen einschließlich Themenliste und Literatur sind verfügbar (z. B. Onwuegbuzie et al. 2012). Speziell für Psychologie-Seminare existieren einige Ressourcen: etwa AronsonFontes und Piercy (2000), Danquah (2017), Boeree (2015),42 Navarro (2005), Rogers (2003). Hervorzuheben sind hier die Materialien für die Lehre qualitativer Methoden in der Psychologie, die von der Arbeitsgruppe TQRMUL im Kontext der British Psychological Society zusammengestellt und in Buchform publiziert wurden (Sullivan und Forrester 2019). Die Buchpublikation ist gekoppelt mit Anschauungsund Datenmaterial: Interviews zum Thema Freundschaft, die sowohl als Videos wie auch als Transkripte ins Internet gestellt sind.43 Im Buch wird dieses Material genutzt, um das Vorgehen bei der Anwendung von vier verschiedenen Methoden qualitativer Datenanalyse praxisorientiert zu veranschaulichen.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Als ein wesentliches Ziel der Lehre qualitativer Methoden – über das Kennenlernen von spezifischen Verfahren aus einem „Werkzeugkasten“ hinaus – heben wir die Vermittlung einer qualitativen Denkweise und Haltung hervor. Eine derartige (Neu-) Justierung des Blicks des/der Forschenden gestaltet sich für Studierende bzw. Forschende im Fach Psychologie zumeist deshalb als schwierige Herausforderung, weil die übliche einseitige Ausbildungs-Sozialisation eine gänzlich andere Perspektive favorisiert und zu entsprechenden „Habitus-Einschreibungen“ führt. Hinzu kommt ein steigender Druck im Zuge einer Ökonomisierungs-Tendenz im Bildungswesen, der zwar einer Vermittlung qualitativer Methoden als „Techniken“ nicht entgegen steht, die mit der Aneignung einer qualitativen Einstellung/Haltung jedoch nur schwer zu vereinbaren ist (Waite 2014). Für die Gewinnung einer voll entwickelten forschungsmethodischen Kompetenz in der Psychologie erscheint es uns sinnvoll, Qualifikationen sowohl in quantitativen wie in qualitativen Arbeitsweisen zu vermitteln bzw. zu entwickeln – unter einer Perspektive, dass das eine nicht lediglich die Vorstufe oder der Wurmfortsatz des anderen ist (Groeben 2006). Zu einer solchen Kompetenz kann es gehören, flexibel 39
https://www.heacademy.ac.uk/hub. http://tqr.nova.edu/wp-content/uploads/2015/06/teaching_2012.pdf. 41 http://www.methodspace.com/page/teaching-and-learning. s. auch die Ressourcen des ecampus Ontario http://qualitativeresearchontario.openetext.utoronto.ca/ sowie des Center for Innovation in Research and Teaching https://cirt.gcu.edu/research/developmentresources/research_ready/qualita tive/approaches; für eine Zusammenstellung unterschiedlicher didaktischer Vorgehensweisen s. Richards und Roth 2019) 42 http://webspace.ship.edu/cgboer/qualmeth.html. 43 https://www.heacademy.ac.uk/knowledge-hub/tqrmul-dataset-teaching-resources-user-guide. 40
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zwischen den beiden Denkweisen und Haltungen wählen oder switchen zu können – somit beide Varianten bei konkreten Projekt-Anforderungen verfügbar zu haben, sie u. U. auch kombinieren zu können, etwa in sogenannten Mixed-Methods-Designs (Creswell 2015). Das Lehren und Lernen qualitativer Methodologie und Methodik wird in Kontexten und Curricula der akademischen Psychologie an Universitäten im deutschen Sprachraum derzeit – moderat ausgedrückt – wenig berücksichtigt und begünstigt. Insofern befinden sich Psychologiestudierende, die solche Herangehensweisen kennenlernen oder in eigener Forschung (etwa im Rahmen von Qualifikationsarbeiten) praktizieren möchten, im Verhältnis zum disziplinären Mainstream stets in einer Randlage und besitzen einen gewissen Pionier-Status. Einschlägig interessierte und ambitionierte Lernende sind unter den beschriebenen disziplinären Voraussetzungen zumeist darauf angewiesen, sich Angebote in außercurricularen oder in nachbarwissenschaftlichen Zusammenhängen zu suchen. Dabei ist viel Eigeninitiative und Improvisation erforderlich. Im Zuge des Umbaus des Hochschulwesens sind die Spielräume, in denen derartige kreative Eigensinnigkeiten möglich sind, häufig eng geworden (an Universitäten), mitunter haben sich allerdings auch neue Möglichkeiten aufgetan (etwa an Fach-/Hochschulen oder Privatuniversitäten). In der englischsprachigen Welt sind die didaktischen Konzeptualisierungen und Anregungen zahlreicher, vor allem im Feld der im Internet zugänglichen Vermittlungs- und Unterstützungs-Ressourcen wird das Angebot täglich reichhaltiger. Auf institutioneller Ebene, in hochschul- und fachpolitischer Hinsicht, ist in der Psychologie ein Umdenken und Umsteuern nötig, damit dieser Forschungsstil nicht – zusammen mit anderen überkommenen akademischen Freiräumen – gänzlich aus dem Fach eliminiert und der interdisziplinäre Bezug zu benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften nicht abgeschnitten wird. Entsprechend dem o. g. „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“44 sind u. E. im Rahmen der Lehrpläne an Hochschulen und Universitäten folgende (Minimal-)Angebote notwendig: • Es sollten wissenschaftstheoretische und allgemein-methodologische Grundlagen sowie ethische Leitlinien sozialwissenschaftlich-empirischen Forschens unter quantitativ wie unter qualitativ ausgerichteten Konzeptionen vermittelt werden; • weiterhin sind Überblickskenntnisse über die wichtigsten qualitativen Verfahren, deren Eignung für Forschungsgegenstände und Fragestellungen sowie deren Koordinierbarkeit mit quantitativ orientierten Forschungsschritten erforderlich; • es muss möglich sein, ein ausgewähltes qualitatives Verfahren einzuüben, einschließlich des Sich-Vertrautmachens mit dem Forschungsstil anhand der Bear-
S. Fußnote 2. Ein „Manifest“ zu den „Methoden qualitativer Sozialforschung“, Anfang 2010 herausgegeben von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, enthält ähnliche Maximen bezüglich der Frage: „Wie sollen Methoden der qualitativen Forschung gelehrt werden?“; https://sagw.ch/sagw/aktuell/news/details/news/methoden-qualitativer-sozialforschungmanifest/.
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beitung einer spezifischen empirischen Fragestellung, im besten Fall in einer angeleiteten und supervidierten Projektgruppe; • Studienabschlussarbeiten unter einem qualitativen Forschungsstil müssen möglich sein, sie müssen kompetent begleitet und beraten werden; • eine interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation qualitativen Methodenlernens und Forschens im Rahmen von Lehrplänen, Projektgruppen, Forschungswerkstätten etc. sollen ermöglicht und gefördert werden. Auf der Basis einer solchen institutionellen Grundsicherung der Ausbildungsmöglichkeiten in qualitativer Methodik lassen sich auch für den deutschsprachigen Raum detailliertere hochschuldidaktische Überlegungen zur curricularen Anlage, zur Vorlesungs- und Seminargestaltung, zur Arbeit in und Betreuung von Projektgruppen sowie zum Anfertigen von Studienabschlussarbeiten entwickeln.
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Teil II Erhebung
Ethnografie Stefan Thomas
Inhalt 1 Die Lebenswelt als Forschungsfeld in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte und (sub-)disziplinäre Einordnung der Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen der Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Stationen des ethnografischen Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Psychologische Forschungsperspektiven in der Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Ethnografie ist in der akademischen Psychologie aufgrund der Eliminierung von Subjektivität und Lebenswelt nach wie vor eine vernachlässigte Methode. Ethnografie könnte – so die These im 1. Abschnitt – durch ihre Qualifikation als Feldforschung einen Beitrag zu einer stärkeren Orientierung der Psychologie auf reale Situationen und Handlungen in gesellschaftlichen Kontexten leisten. Ohne den Status eines anerkannten Verfahrens zu haben, lassen sich im 2. Abschnitt jedoch eine Vielzahl an Bezügen auf die Ethnografie historisch herausarbeiten. Im 3. Abschnitt wird gezeigt, dass über die Feldforschung hinaus der multimodale Einbezug des diversen Angebots an Methoden der empirischen Sozialforschung wichtig ist, um eine Kontextualisierung der Forschung in der Sozialwelt zu bewerkstelligen. Entlang der zentralen Stationen werden im 4. Abschnitt typische Herausforderungen des ethnografischen Forschungsprozesses skizziert – vor allem: Feldzugang, Forschungsrollen, Datenerhebung und -auswertung sowie das Schreiben. Ethnografie erfordert, so wird am Ende aufgewiesen, eine gesonS. Thomas (*) Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften, Fachhochschule Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_35
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derte (meta-)theoretische Rahmung, damit diese sich in einer genuin sozialwissenschaftlichen Psychologie verorten lässt. Schlüsselwörter
Ethnografie · Feldforschung · Teilnehmende Beobachtung · Lebenswelt · Ethnografisches Schreiben
1
Die Lebenswelt als Forschungsfeld in der Psychologie
Die Distanz zwischen Ethnografie und Psychologie scheint größer kaum sein zu können. Auf der einen Seite finden wir einen in der Sozialanthropologie und Soziologie bewährten und anerkannten Ansatz, der uns durch seine Forschungsresultate mit der Lebenswelt und Sozialstruktur von Kulturen und Lebensgemeinschaften vertraut gemacht hat, die bis dahin weitgehend unbekannt waren. Viele Studien wurden zu Zeugnissen nun längst untergegangener Gesellschaftsformen, ob es sich um Bronislaw Malinowskis Forschungsreise (1922) an die Südseestrände in der Westpazifischen Karibik handelt; um die soziologische Studie „Middletown“, in der Robert und Helen Lynd (1929) über das soziale Leben einer mittelgroßen US-amerikanischen Stadt berichten; um die Innenansichten, die William F. Whyte (1981 [1943]) in die soziale Organisationsstruktur eines italienischen Immigrant/innenviertels in Boston gibt; um die Dokumentation des Niedergangs indigener Kulturen aufgrund westlicher Kultureinflüsse im Zuge von Kolonialisierung und Globalisierung bei Claude Lévi-Strauss (1978 [1955]) oder um die ironische Selbstbeschreibung der Sozialanthropologie als eine zunehmend orientierungslose und verunsicherte Wissenschaftsdisziplin durch Clifford Geertz (1983). Auf der anderen Seite finden wir die Psychologie, die ihre disziplinäre und methodische Selbstverortung ganz überwiegend durch experimentelle Untersuchungen gewinnt. Hier ist die Forschung zum Zweck der Situations- und Bedingungskontrolle nicht selten in die Kellerräume, wo sich die Laboratorien psychologischer Institute vielfach finden, verbannt. Fernab von Lebenswelt und Alltag, weil sich menschliche Subjektivität nur im strikten Rahmen der Versuchsanordnung artikulieren darf, werden Fragen aufgeworfen und beantwortet, deren Bezug zur wirklichen Welt in viel zu vielen Fällen von fraglicher Natur ist. Das Erkenntnispotenzial, das wir durch die methodische Zurichtung des Forschungsgegenstandes in der Psychologie verschenken, hat Aaron Cicourel im Jahr 2000 in einem Seminar an der Universität Bremen durch einen Vergleich mit den Geschichtswissenschaften veranschaulicht. Was würden wohl Historiker/innen darum geben, wenn sie die Möglichkeit hätten, mit den Menschen, über die sie forschen, wirklich in Kontakt zu treten, um Lebensweise, Kultur und Sitte längst vergangener Epochen aus erster Hand kennenzulernen? Die Psychologie dagegen öffnet diese Tür zur Lebenswelt der von ihr untersuchten Menschen aus epistemologischen Gründen erst gar nicht.
Ethnografie
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2
Entstehungsgeschichte und (sub-)disziplinäre Einordnung der Ethnografie
2.1
Ethnografie in der Sozialanthropologie und Soziologie
Die Geschichte ethnografischer Reiseberichte lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen (Wax 1971, S. 21–41). Doch wird der Beginn der wissenschaftlichen Ethnografie im Sinne von teilnehmender Beobachtung gemeinhin in Bronislaw Malinowskis Studien über die seefahrenden Völker auf den Trobriand-Inseln in den Jahren 1916–1918 verortet. In der Einführung in die Monografie „Argonauts of the Western Pacific“ (1922) wurde das erste Mal von participant observation gesprochen. Bis zu dieser Zeit war es unüblich, dass Wissenschaftler/innen die Anstrengungen und Beschwerden langer Reisen auf sich nahmen, aber mehr noch, dass sie ihre Zelte in den Dörfern der untersuchten Stämme und Völker aufschlugen, um dort über Monate hinweg Feldforschung zu betreiben. Sozialanthropolog/innen beschränkten sich bis dahin vorwiegend auf Armchair-Wissenschaft, welche die Reiseberichte von Kaufmännern, Kolonialherren oder Missionaren am Schreibtisch studierten, um darauf ihre kulturwissenschaftlichen Theorien aufzubauen. Das Aufkommen ethnografischer Forschung lässt sich als traditionelle Phase in der Methodenentwicklung charakterisieren (Denzin und Lincoln 2005). Anfang des 20. Jahrhunderts wurde den Sozialanthropolog/innen deutlich, dass sie sich in einem nicht gewinnbaren Wettrennen gegen die Zeit befanden. Die Zahl der Völker und Kulturen, die noch weitgehend unberührt vom Einfluss westlicher Gesellschaften und Lebensstile zu untersuchen waren, nahm rapide ab. Besonders in den USA unter der Ägide von Franz Boas, aber auch durch Alfred Radcliffe-Brown wurde die neue Methode der Feldforschung unter Studierenden propagiert (Kohl 2012). In der Soziologie dagegen wird die Initialzündung zur Etablierung ethnografischer Feldarbeit als eigenständige Forschungsstrategie allgemein den Arbeiten des Department of Sociology der University of Chicago zugeschrieben; der „Chicago-School“ (Lindner 2004, S. 113–46). Dort vollzog sich ab 1917 unter dem besonderen Einfluss von Robert E. Park und Ernest W. Burgess eine Hinwendung auf die empirische Exploration und Erfassung sozialer Lebenswelten, die in den US-amerikanischen Großstädten anzutreffen waren (Burgess 1984; Salerno 2007; s. auch Becker und Keller 2016). Eine zentrale Entwicklungslinie der methodischen Selbstverortung in der Ethnografie, die ihre Geltung bis in die Gegenwart behaupten kann, hatte ihren Ausgangspunkt in jener modernistischen Phase, die sich insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren Geltung verschaffte. Das Erkenntnisinteresse war auf naturalistische Beschreibungen sozialer Lebenswelten fokussiert, die in ihrer methodischen Strenge durch Methodisierung und Formalisierung an die Standards und Gütekriterien der quantitativen Methodik Anschluss finden sollten (McCall und Simmons 1969). Dieser Entwicklungsschub in der methodologischen Debatte führte zur endgültigen Etablierung und Verwissenschaftlichung der Ethnografie, dem „Goldenen Zeitalter“, was Studien umfasst wie „Boys in White“ (Becker et al. 1961) oder „Soulside“ (Hannerz 1969). Hieran schloss sich eine Phase der weiteren Konsolidierung und
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Ausarbeitung einer qualitativen, interpretativen Methodologie an, die noch bis heute währt (Atkinson et al. 2001; Robben und Sluka 2007). Im deutschsprachigen Raum ist ein bekannter Vertreter des ethnografischen Forschungsansatzes Roland Girtler (1995), der die verschiedensten Randkulturen unserer Gesellschaft untersucht hat; produktive Akzente finden sich auch in den Arbeiten von Ronald Hitzler (2008) zu jugendkulturellen Szenen und von Anne Honer (1993), die Ethnografien der kleinen Lebenswelten von Bodybuilder/innen und Heimwerker/innen erstellte; ebenso ist Hubert Knoblauch (2005) mit seinem methodischen Diskussionsbeitrag zur fokussierten Ethnografie zu erwähnen. Breidenstein et al. legten schließlich 2013 die erste systematische Einführung in die Ethnografie als Monografie für die Sozialwissenschaften auf dem Hintergrund des im deutschsprachigen Raum entwickelten Verständnisses qualitativer Sozialforschung vor, gefolgt von weiteren Bänden (aktuell: Hitzler und Eisenwicht 2016; Thomas 2019). Eine zweite Entwicklungslinie brach dagegen mit dem Selbstverständnis klassischer Ethnografie, d. h. mit dem Wissenschaftsmodell einer naturalistischen Lebensweltforschung. Insbesondere in den USA kamen unter dem Einfluss der „Writing Culture“-Debatte (Clifford und Marcus 1986) prinzipielle Zweifel an dem wissenschaftlichen Repräsentationsmodell der Sozialwissenschaften auf (Berg und Fuchs 1993). Demnach bezeichnet „Krise der Repräsentation“ die teils schockierende Einsicht, dass Ethnografie weniger in der Lage zu einer objektiven Wiedergabe von Realität ist, als dass es sich um einen Konstruktionsprozess handelt. Aus diesem können sich die Forschenden nicht als nüchterne (unattachted) Beobachter/innen herausnehmen, sondern an diesem sind sie zentral beteiligt. Die Legitimität klassischer Objektivität und Wissenschaftlichkeit wird weitgehend infrage gestellt. Das Zerbrechen des ethnografischen Realismus mündete schließlich in einer neuen Nachdenklichkeit und Selbstreflexivität (Geertz 1983), in deren Folge eine Vielzahl an Ansätzen hervorgebracht worden ist: autoethnography (Bochner und Ellis 2016), art-based ethnography (Leavy 2015), feminist ethnography (Olesen 2017), critical ethnography (Denzin und Lincoln 2017). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ethnografie angesichts der Globalisierung sozialen Lebens immer weniger auf das aus westlicher Perspektive stilisierte Fremde, Andere und Exotische blickt. Vielmehr rücken Sozialmilieus und kleine Lebenswelten der jeweils eigenen Kultur in den Interessenfokus.
2.2
Ethnografie in der Psychologie
In der Psychologie muss Ethnografie dagegen in weiten Teilen noch als Methode entdeckt werden. Schon die von Wundt (1900) entworfene Programmatik einer Völkerpsychologie, woraus sich Anschlüsse an ethnografische Forschung hätten ergeben können, muss als verpasste Chance gelten. Es verhält sich eher umgekehrt, dass psychologische Theorien, insbesondere die Psychoanalyse, durch die Sozialanthropologie aufgegriffen worden sind. Malinowski bezog sich in „Sex and Repression in Savage Society“ (1927) explizit auf psychoanalytische Grundbegriffe.
Ethnografie
297
Bei Margret Mead (1935), die sich mit der psychosexuellen Entwicklung heranwachsender Mädchen in unterschiedlichen Kulturen beschäftigte, floss nicht nur Freuds Werk als Hintergrundtheorie ein, sondern sie verwendete wie viele andere Sozialanthropolog/innen psychologische Testverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik. Umgekehrt findet sich eine methodische Öffnung gegenüber der Ethnografie aufseiten der Psychoanalyse, wobei den Forschungsarbeiten von Georges Devereux ein besonderer Verdienst zukommt (1985 [1951]). Im deutschsprachigen Raum konnte sich im Anschluss an Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy ParinMatthèy in Form der Ethnopsychoanalyse schließlich eine eigenständige Theorieund Methodentradition durchsetzen (Reichmayr 2003). Bekannt wurden die methodologischen Überlegungen von Mario Erdheim (1988) und die Studie von Maya Nadig (1986) über „Die verborgene Kultur der Frau“ in Mexiko. Zudem werden aus der Ethnologie heraus Möglichkeiten der Feldforschungssupervision diskutiert, um durch die Deutungsarbeit Zugang zu den subjektiven Gehalten der Felderfahrung zu erhalten (Bonz et al. 2017). Erst viel später kam es über die Psychoanalyse hinaus mit der Herausbildung einer psychological anthropology zu einer ernsthaften Beschäftigung mit Ethnografie (D’Andrade 1995). Durch den cognitive turn findet sich eine Erweiterung auch des methodischen Interesses gerade in den USA, wo die Kognitionspsychologie unter einer Kulturperspektive fruchtbar gemacht wird. Der Herausbildung einer psychological anthropology steht in Deutschland die Debatte um eine Kulturpsychologie gegenüber (Hildebrand-Nilshon et al. 2002; Staeuble 1992). Hier geht es jedoch mehr um die konzeptuelle Selbstverortung, wohingegen ethnografisch inspirierte Forschung eher eine Ausnahme bleibt. Offenheit für einen ethnografischen Ansatz kann zumindest in der Frühphase der Entwicklungspsychologie ausgemacht werden, die hier im Sinne einer „Ethnografie des Kindesstubenlebens“ betrieben wurde (Mey 2003). Dabei wurde nicht so sehr das Individuum in seinem sozialkulturellen Lebenszusammenhang erforscht, sondern die Aufmerksamkeit galt der individuellen Entwicklung. William und Clara Stern hielten etwa das Heranwachsen ihrer Kinder in umfänglichen Tagebuchaufzeichnungen fest. Martha und Hans Heinrich Muchow (1935) führten Beobachtungsstudien zu räumlichen Aneignungs- und Spielformen von Großstadtkindern durch (Mey 2018). In den Erziehungswissenschaften finden sich zudem ethnografische Studien und methodologische Reflexionen in den Themenbereichen Sozialisation, Kindheit und Jugend sowie in pädagogischen Handlungskontexten (Friebertshäuser et al. 2012; Hünersdorf et al. 2008). Im Schnittbereich von Sozialpsychologie und Soziologie ist besonders auf die Marienthal-Studie (Jahoda et al. 1975 [1933]), aber auch auf die Institutionsforschung in Psychiatrien von Goffman (1973) zu verweisen. In der Arbeits- und Organisationspsychologie finden sich ethnografische Forschungselemente etwa in der Hawthorne-Studie (Roethlisberger und Dickson 1939) und in der Aktionsforschung bei Kurt Lewin (1953). Ebenso finden sich Bezüge auf die Ethnografie in der Angewandten Psychologie, etwa der Beratungspsychologie (Suzuki et al. 2005) oder der Sportpsychologie (Krane und Baird 2005).
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Gelegentlich wird Ethnografie in der Community Psychology aufgegriffen, um Gemeinschaften vor allem im Hinblick auf Prozesse sozialen Wandels zu untersuchen (Case et al. 2014). Esposito (2017) reflektiert etwa ihre Positionierung als gemeindepsychologische Feldforscherin in einem italienischen Geflüchtetenlager. Legewie (1987) hat eine gemeindepsychologische Studie über den Berliner Stephankiez durchgeführt, wo er gesellschaftliche Wandlungs- und Verdrängungsprozesses aus der Innenansicht der Bewohner/innen untersuchte. Auch im Bereich der transkulturellen klinischen Psychologie und Psychiatrie finden sich vereinzelt ethnografische Studien (Angermeyer und Zaumseil 1997).
3
Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen der Ethnografie
3.1
Die methodologische Selbstverortung
Ethnografie ist die klassische Methode zur Erforschung der sozialen Lebenswelt. Der Aufgabenbereich der ethnografischen Methode besteht darin, Instrumentarien und Verfahrensweisen zur methodisch angeleiteten und reflektierten Kartografierung kultureller Welten bereitzustellen. Dabei lässt sich eine Vielfalt von Begriffen zur Beschreibung ganz ähnlicher methodischer Vorgehensweisen finden: field work, participant observation, teilweise auch case study etc. Im deutschsprachigen Raum wurden lange Zeit nur die Ausdrücke „Feldarbeit“ oder „Feldforschung“ gebraucht; die Bezeichnung Ethnografie kam erst später hinzu. Feldforschung bzw. teilnehmende Beobachtung gehören zum festen Kernbestandteil jeder ethnografischen Studie (Gobo 2008, S. 4–5). Denn die Untersuchung richtet sich auf das „wirkliche“ Leben, wie es von den Menschen in ihrer Alltagswelt erlebt und gelebt wird (Blumer 1969; Cicourel 1964, S. 28). Die Möglichkeit, das „wirkliche Leben“ objektiv zu erfassen, wird zwar kontrovers diskutiert (Hammersley 1992, S. 43–56). Aber in jedem Fall ziehen die Ethnograf/innen in die Welt, um ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen beim Kennenlernen und Untersuchen einer (Sub-)Kultur zu machen: „The ethnographer participates, overtly or covertly, in people’s daily lives for an extended period of time, watching what happens, listening to what is said, asking questions; in fact collecting whatever data are available to throw light on the issues with which he or she is concerned.“ (Hammersley und Atkinson 2007, S. 2)
Ethnografie lässt sich aber keineswegs auf die Anwendung von Feldforschung und teilnehmender Beobachtung reduzieren. Das Erkenntnisinteresse ist ambitionierter: Es werden nicht allein einzelne lebensweltliche Ausschnitte, Situationen und Ereignisse untersucht. Vielmehr porträtiert eine Ethnografie das soziokulturelle Leben einer besonderen Gruppe von Menschen, wobei sowohl soziale Strukturen, Weltanschauungen, Diskurse, Werte als auch Interaktionen, Kognitionen, Gefühle, Lebensgeschichten und Handlungen von Interesse sind. Für Ethnograf/innen besteht
Ethnografie
299
die Herausforderung darin, das „wirkliche“ Leben als eine kulturelle Welt, die als Wirklichkeitstotalität für sich steht, zu erfassen. Damit geht es nicht allein um die „objektive“ Beobachtung von realen Situationen und lokalen Handlungspraxen. Zugleich sollen die kulturellen Bedeutungen erfasst werden, wodurch Situationen und Handlungen erst ihre soziale Wirklichkeit erlangen. Daher ist der erkenntnislogische Anspruch ethnografischer Forschung ein zweiseitiger: Die Situierung des Forschungsprozesses im „wirklichen“ Leben ist einerseits notwendig, weil Forschende in der Regel nur im geringen Maße mit der übergreifenden Kultur und den sozialen Bedeutungen der beforschten Welt vertraut sind. Sie versuchen, „den Bezugsrahmen zu entdecken und zu explizieren, in dem das [. . .] beobachtete Verhalten als soziales, d. h. sinnvolles Handeln im Kontext spezifischer Kultur-, Milieu- und Situationszusammenhänge beschreibbar wird“ (Schmitt 1992, S. 28). Durch die Teilnahme an dem kulturellen Leben gewinnen sie die einzigartige Möglichkeit, die Menschen und ihre Wirklichkeit durch die Übernahme einer Innenperspektive zu ergründen: „to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realise his version of his world“ (Malinowski 1922, S. 25). Andererseits konstituiert sich aus einer mikrosozialen Perspektive die Wirklichkeit gerade erst über die kleinen Interaktionen, kurzen Handlungssequenzen und situationsspezifischen Geschehensverläufe, wie diese sich an dem Ort der Beobachtung ereignen. Das einzelne Wort, die für sich stehende Handlung, das isolierte Ereignis, jeweils zu unscheinbar und unwichtig, um protokolliert und festgehalten zu werden, schichtet sich schließlich zu jener Dichte des Alltags auf, in der sich die untersuchte Lebenswelt selbst erblickt. Ethnografie ist dem Anspruch verpflichtet, die strukturelle Fremdheit, die der Untersuchungsgegenstand für die Wissenschaftler/innen hat, in einer methodisch reflektierten Weise zu überwinden und in ein positives Wissen über die andere Lebensform zu verwandeln. Die Exploration einer kulturell fremden Welt macht daher eine besondere Haltung der Forschenden gegenüber dem Untersuchungsfeld notwendig. Während die meisten Methoden der Sozialforschung von der Fiktion ausgehen, dass man die Anderen schon irgendwie verstehen wird, geht Ethnografie von der Annahme einer strukturellen Differenz von Wissenschaftler/in und Alltagsmensch aus. Eine ganz wesentliche Bedeutung kommt dabei dem „Fremdheitspostulat“ bzw. einer Haltung der „Befremdung“ zu (Amman und Hirschauer 1997, S. 12). Indem die Wahrnehmung der im Feld stehenden Personen als Fremde angestrebt wird, wird der Gefahr vorgebeugt, die unbekannte Lebenswelt innerhalb des eigenen Verständnishorizontes einfach zu subsumieren und zu vereindeutigen. Vielmehr geht es darum, was sich generell als Grundanspruch qualitativer Sozialforschung formulieren lässt, in der Erkenntnis dem Leben der Anderen zum eigenen Recht zu verhelfen.
3.2
Der methodische Werkzeugkoffer
Das breit gefächerte Interesse der Ethnograf/innen an der Lebenswelt anderer Menschen findet seine Entsprechung in der Triangulation von Methoden und Daten
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S. Thomas
(Flick 2004, S. 51–74). Daher bezeichnet Ethnografie kein einzelnes Verfahren, sondern es handelt sich vielmehr um einen Sammelbegriff, der die Anwendung des ganzen Arsenals an Methoden unterstützt, welche die Sozialforschung zu bieten hat, unabhängig davon, ob diese dem qualitativen oder quantitativen Paradigma zuzuordnen sind. Durch das methodenplurale Vorgehen der Ethnografie wird der Anspruch nach Gegenstandsangemessenheit der Methodik am strengsten gewährleistet. Methodische Entscheidungen, Abgrenzungen und Ausschlüsse werden nicht ad hoc vollzogen, sondern die Festlegung der methodischen Umsetzung entwickelt sich im sukzessiven Fortschreiten des Forschungsprozesses. Trotz dieser Methodenoffenheit kommt keine Ethnografie ohne den direkten Feldkontakt qua teilnehmender Beobachtung aus. Über Erzählungen, Diskussionen und Fragemöglichkeiten, die sich aus der Situation ergeben, hinaus zielen die in der Ethnografie am häufigsten angewandten Verfahren auf die Erhebung von Fragebögen, Interviews, Bildern und Videos, Dokumenten und Artefakten aller Art. Diesen gegenüber der direkten Feldforschung „ergänzenden“ Forschungsmethoden ist jedoch gemeinsam, dass diese sehr viel weniger innerhalb des „wirklichen“ Lebens situiert sind. Denn selbst bei Interviewstudien ist der Feldkontakt auf wenige Stunden beschränkt. Fragebögen eignen sich beispielsweise, um repräsentative Erhebungen über die statistische Verteilung wichtiger Merkmale in der untersuchten Gesamtpopulation durchzuführen. Auch subjektive Sichtweisen, Einstellungen und Überzeugungen sind nicht allein über die teilnehmende Beobachtung zu erhalten. Vielmehr werden Interviews durchgeführt, um abseits von den „normalen Störungen“ des Feldes eine ausführliche und konzentrierte Themenexploration zu ermöglichen (Spradley 1979). Insbesondere biografische Erzählungen brauchen Ruhe und Zeit, um den lebensgeschichtlichen Faden in aller Ausführlichkeit und Detailliertheit entwickeln zu können. Gruppeninterviews sind besonders gut dazu geeignet, den Diskurs zu fixieren, der unter den Akteur/innen im Feld zu einem spezifischen Thema gemeinsam geführt wird. Ebenso lassen sich partizipative Forschungsmethoden in einer gemeinsamen Exploration der Lebenswelt mit den Akteur/innen integrieren (Bergold und Thomas 2012). Schließlich vergegenständlicht sich die soziale Praxis immer auch in kulturellen Artefakten (alle Formen von im Alltag gebräuchlichen Kulturgegenständen) und Dokumenten (etwa Briefe, Tagebücher, Zeugnisse, Urkunden auf der persönlichen Ebene, Schriften aller Art – Zeitungen, Bücher, Akten, Reporte – mit Blick auf Öffentliches) (Gobo 2008, S. 129–130).
3.3
Das produktive Spannungsverhältnis von teilnehmender Beobachtung
Für die Ethnografie wird in jedem Fall das Spannungsverhältnis, das sich zwischen den widersprüchlichen Anforderungen von Teilnahme und Beobachtung entwickelt, virulent (Murchison 2010, S. 84–87; Pfadenhauer 2017). Einerseits ist eine empathische Teilnahme an der Lebenspraxis notwendig, andererseits die auf Distanz
Ethnografie
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gehende Beobachtung von alltäglichen Gegebenheiten und Vorkommnissen im Forschungsfeld. Die Beobachtung versucht das soziale Leben unabhängig von den Selbstverständnisformen und subjektiven Sichtweisen der Akteure und Akteurinnen im Forschungsfeld zu untersuchen. Methodisch wird zwischen Einstellungen – warum man glaubt, etwas zu tun – und dem wirklich beobachtbaren Verhalten unterschieden. Die Beobachtungen dienen dazu, Daten zur Beantwortung von Fragen nach der Art zu generieren: Wie wird tatsächlich gehandelt? Wie ist die Situation zu beschreiben? Welche Situationsmerkmale definieren den (Handlungs-)Kontext? Dementsprechend wird gerade zu Beginn auf die Verwendung von strukturierten Beobachtungsleitfäden verzichtet, um eine möglichst unvoreingenommene Haltung gegenüber dem sozialen Leben einzunehmen. Die Relevanzstrukturen der beobachteten Lebenswelt sollen gleichsam von selbst hervortreten. Feldforschung möchte aber in der Regel mehr, als nur vom äußeren Standpunkt der unbeteiligten Beobachtenden Einblicke in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Die Teilnahme zielt über Immersion auf den Aufbau einer kommunikativen Forschungssituation, in der die individuellen Sicht-, Begründungs- und Reflexionsformen zur Sprache gebracht werden. Das Erlernen der Rolle des Teilnehmers/der Teilnehmerin durch den Ethnografen bzw. die Ethnografin erfordert einen Forschungsprozess, der sich Zeit nimmt, den Kontakt zu den Menschen sucht, ihr Vertrauen gewinnt, um im Gespräch zu gemeinsamen Situationsdeutungen zu gelangen, die sich zugleich im Alltag praktisch bewähren. Sicherlich verändert die Anwesenheit der Forschenden die Reaktions- und Verhaltensweisen des Feldes. Andererseits wird es möglich, systematisch zu untersuchen, wie die Akteure auf äußere Störungen typischerweise reagieren (Devereux 1973 [1967], S. 29). Die über die Kommunikations- und Verständnisprozesse zu erfassenden Daten sollen daher eine Antwort auf folgende Fragen liefern: Wie stellt sich die Welt vom Standpunkt des Akteurs/der Akteurin dar? Wie beurteilen diese ein Ereignis, eine Handlung oder eine besondere Situation? Welche Absichten und Ziele werden in der Situation verfolgt? Erst die Konvergenz von Innen- und Außenperspektive ermöglicht das analytische In-Beziehung-Setzen von Handlung und Sinn. Während die Beobachtung einen direkten Blick auf Situation und Handlung eröffnet, ist der subjektive Sinn, den Lebenswelt und Lebenspraxis für die Handelnden haben, allein durch die kommunikative Verständigung über Sichtweisen und Intentionen möglich. Das Vertrautwerden mit den Selbstverständlichkeiten und Basisprinzipien der untersuchten Lebenswelt wird als zweite Sozialisation bzw. in eher abfälliger Weise als going native bezeichnet. Der Anspruch nach Nähe, um die Sozialwelt durch die empathische Identifikation mit den Handelnden von innen kennenzulernen, und der Anspruch nach Distanz, um die kritische Haltung außenstehender Betrachtung zu wahren, verhalten sich gegensätzlich. Trotz des Versuchs, dieses methodische Dilemma über die Typisierung verschiedener Ausprägungsverhältnisse des Zueinanders von Teilnahme und Beobachtung zu überwinden (Gold 1969), ist eine prinzipielle Aufhebung dieses inhärenten Widerspruchs kaum denkbar. Das Sich-Einmischen in die Lebenswelt bringt ein hohes Maß an Reaktivität des Untersuchungsfeldes auf die
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Intervention der Forschenden mit sich. Deshalb muss in Bezug auf Fragestellung und Gegenstand das Verhältnis von Nähe und Distanz im Forschungsprozess immer wieder neu reflektiert und austariert werden. Mehr noch: Durch das Engagement im Feld sind die Forschenden in der Regel mit Werbungs- und Einnahmeversuchen der Praxis konfrontiert. Gerade zu Beginn wird von den Akteur/innen das Interesse der Forschenden sehr positiv aufgenommen. Einerseits zeigen sich die Forschenden mit ihrer empathischen Erkenntnishaltung interessiert für die „Geschichten“ des Feldes. Andererseits ergibt sich für die Lebenswelt die Gelegenheit, außenstehenden Zuhörenden von den Problemen und Herausforderungen des Alltags zu berichten. Ethnografische Forschung wird nicht selten zu einer Art von Supervision für die Alltagspraxis (Amann und Hirschauer 1997, S. 14). Diese Einnahmeversuche der Forschung reflektieren dabei die Rechtfertigungs- und Legitimierungsformen der Lebenswelt selbst. Für die Akteur/e/innen steht in den Handlungspraxen ihrer Lebenswelt stets etwas auf dem Spiel. Sie müssen ihre Interessen und Absichten in den Machtstrukturen des Feldes gegenüber konfligierenden Ansprüchen legitimieren und durchsetzen. Das naive Erkenntnisinteresse an der „fremden Welt der Anderen“ ist aus diesem Grund um eine kritische Reflexion der Machstrukturen des Feldes zu korrigieren (Bourdieu 1997; Thomas 2017). Aus Sicht der Praxis wird die Einmischung der Ethnograf/innen aber auch zum Problem. Denn die Teilnahme der Forschenden bringt sehr einseitig Aufwand und Arbeit mit sich, ohne selbst von Nutzen zu sein (Wolff 2000, S. 348). Das Problem verschärft sich, weil die „offene“ Erkenntnishaltung stets ein intellektuelles Infragestellen und Delegitimieren der eingeübten Selbstverständlichkeiten, Routinen und Machtbalancen mit sich bringt. Was in der Lebenswelt klar erscheint und nicht mehr in Frage gestellt wird, öffnet sich in der dezentrierenden Betrachtung der Ethnograf/ innen, weil es sich nur um eine Möglichkeit unter vielen anderen handelt. Daher treten spätestens, wenn die Forschenden zu eigenen Erkenntnissen und damit zu einer anderen Definition, was die Wirklichkeit ist, als die Alltagsraxis gelangen, häufig Enttäuschungen und Konflikte auf.
4
Stationen des ethnografischen Forschungsprozesses
4.1
Fragestellung und Forschungsdesign
Am Anfang eines jeden qualitativen Forschungsprozesses steht immer die klare und explizite Formulierung der Fragestellung. Diese ist in der Ethnografie von besonderer Wichtigkeit. Gerade aufgrund der Offenheit gegenüber dem Erkenntnisgegenstand sollte aus der Totalität sozialer Wirklichkeit ein Untersuchungsbereich herausgeschnitten sein, der ausreichend eingegrenzt ist, um nicht die Ethnograf/innen angesichts eines undifferenzierten Empirieüberschusses zu überfordern. Vielmehr noch begründet sich jede einzelne methodische Entscheidung aus der Befragung der Forschungsfrage: Was ist begründeterweise als nächster Schritt zu tun, um etwas Neues zu erfahren? Die Antwort kann sich nicht aus der Methode ergeben, es verhält
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sich im Sinne des theoretical samplings umgekehrt: die Entscheidungen über das Forschungsdesign werden im Bearbeitungsprozess im Zuge einer sukzessiven Theorieentwicklung getroffen: die Auswahl des Untersuchungsfeldes, des Feldzugangs, der Stichprobe, der Forschungsrollen, der Methoden zur Datenerhebung, der Operationalisierung der Erhebungsinstrumente, der Auswertungsschritte etc. (sehr anschaulich: Strauss 1998, S. 72–82).
4.2
Der Feldzugang
Zu Beginn des ethnografischen Forschungsprozesses ist entscheidend, dass der Feldzugang gelingt, um sich in der untersuchten Lebenswelt als teilnehmende/r Beobachter/in zu etablieren (Poferl und Reichertz 2015; Sutterlüty und Imbusch 2008). Zunächst setzt dies die Identifikation von Forschungsfeld und Untersuchungsgruppe voraus, wobei schon diese Abgrenzung Probleme bereiten kann. Forschende haben es im Feld häufig mit natürlichen Sozialeinheiten wie etwa Dorfund Stadtgemeinschaften, Straßengangs, Schulklassen, Firmenabteilungen etc. zu tun. Aufgrund der Verstricktheit in heterogene Netzwerke ist oftmals nicht leicht zu überblicken, wer zur Untersuchungsgruppe gehört. Dennoch wird das Feld in der Lebenswelt nicht einfach vorgefunden, sondern konstituiert sich vor dem Hintergrund der Fragestellung, des untersuchten Wirklichkeitsausschnitts und des konkreten Verlaufs des Forschungsprozesses (Breidenstein et al. 2014, S. 59). Nach Bestimmung der potenziellen Untersuchungseinheiten sind aus der Gesamtstichprobe die relevanten Personen und Ereignisse auszuwählen. Eine repräsentative Erhebung ist in der qualitativen Forschung in der Regel nicht zu erreichen, sodass nach theoretischen und pragmatischen Erwägungen eine Auswahl anhand der Frage erfolgt: Welche Personen und welche Ereignisse können mir Informationen liefern, die meine Erkenntnisse über das Feld erweitern? Auch hier kommt das theoretical sampling zu Anwendung, das als Untersuchungsstrategie den Forschungsprozess beständig begleitet, indem neue Erkenntnisse, Fragen und Hypothesen immer wieder ans Untersuchungsfeld zurückgeführt werden (Glaser und Strauss 1967, Kap. 3). Sind Forschungsfeld und zu untersuchende Stichprobe schließlich eingegrenzt, wird es in einem weiteren Schritt möglich, den Feldzugang zu klären. Dabei ist der Zugang zu formellen von informellen Forschungsfeldern zu unterscheiden. In Institutionen und Organisationen wird zumeist sehr weit oben in der Hierarchie darüber entschieden, ob den Forschenden überhaupt Einlass gewährt wird. Daher sollte schon sehr früh die Genehmigung des Zugangs über die verschiedenen Hierarchiestufen hinweg eingeholt werden. Die formelle Genehmigung der Forschung bedeutet jedoch nicht, dass sich damit auch der Zugang zu der angezielten Untersuchungsgruppe öffnet. Vielmehr begegnen die unteren Hierarchieebenen den Forschenden, die „vom Chef geschickt werden“, nicht selten mit einem hohen Maß an Misstrauen (etwa Bergner 2002). Auch in informellen Feldern übernehmen einzelne Personen, die in der sozialen Gemeinschaft des Feldes eine herausgehobene Position innehaben, die Funktion eines gatekeepers (Burgess 1991; Girtler 1984, S. 84–85). In jedem Fall ist der Aufbau einer Vertrauensebene zu den direkten Kontaktpersonen
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von herausragender Bedeutung für das Gelingen des Forschungsprozesses. Das auf das Untersuchungsfeld bezogene „to get in and to keep in“, sodass eine Kopräsenz des Forschers in den sozialen Praxen des Feldes möglich wird (Amann und Hirschauer 1997, S. 21), hängt daher ganz von der Akzeptanz der Forschenden als Person ab. Dagegen interessieren sich die Feldangehörigen oftmals gar nicht für die thematischen Details der Feldforschung: „If I was all right, then my project was all right; if I was no good, then no amount of explanation could convince them that the book was a good idea“ (Whyte 1981 [1943], S. 300).
4.3
Die Rolle der Forschenden im Feld
Die teilnehmende Beobachtung kennt keine optimale Rolle, die während des Forschungsprozesses anzustreben wäre, sondern erfordert ein flexibles und situationsangemessenes Reagieren. Dies steht dem Versuch der methodischen Formalisierung und Standardisierung der Feldforschung konträr gegenüber (Lüders 2000). In Abhängigkeit von der vorliegenden Situation, von den anwesenden Personen, von den angeschnittenen Gesprächsthemen muss entschieden werden, wie die Rolle als Teilnehmer/in weiter ausgestaltet wird, ob es die Rolle des/der Forschenden selbst, des/der guten Bekannten, einer flüchtigen Begegnung oder einer vertrauten Person etc. ist. Daher muss die eingenommene Rolle auch vor dem Hintergrund kritisch reflektiert werden, welche Ausschnitte des Feldes überhaupt in den Blick gelangen und von welchen Ansichten und Ereignissen man grundsätzlich ausgeschlossen bleibt (Fine 1993; Flick 2007, S. 283). Im Mittelpunkt des Feldeinstiegs steht der Aufbau einer Vielzahl von Kontakten, sodass die Anwesenheit des oder der Forschenden bald allgemein bekannt und akzeptiert ist. Das Verhältnis zu den Informationspartner/innen soll sich durch Loyalität und Vertraulichkeit auszeichnen. In institutionellen Praxiszusammenhängen scheint speziell die Praktikant/innen- bzw. Hospitant/innen-Rolle für die Durchführung von Feldforschung ideal zu sein, weil die Menschen in ihrem Lebensweltkontext bei der Ausübung ihrer Tätigkeit möglichst wenig gestört werden, die ganze Zeit interessiert zugeschaut werden darf und keine Frage „zu dumm“ ist, als dass sie nicht gestellt werden dürfte. Aufgrund dieser harmlosen Positionierung im Feld ist es kaum zu befürchten, in Auseinandersetzungen, Konflikte und Streitereien hineingezogen zu werden, gerade weil die/der Ethnograf/in als neutrale Person gilt. Zugleich kann Neutralität auch bedeuten, dass für die Feldangehörigen unklar bleiben muss, ob sich Forschende als loyal und vertrauenswürdig erweisen, sodass diese von heiklen Feldeinsichten ausgeschlossen werden (Bergner 2002).
4.4
Forschungsphasen
Eng verknüpft mit der Frage nach der Teilnehmendenrolle ist der Wechsel der Forschungsphasen. Auf einer horizontalen Achse werden mit dem Fortschreiten des Forschungsprozesses zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Arten
Ethnografie
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der Teilnahme möglich und – je nach Erkenntnisinteresse – auch erforderlich. Zu Beginn jeder Untersuchung beginnen die Forschenden vordergründig als passive Beobachter/innen des sozialen Geschehens. Wenn dann im weiteren Verlauf vertrauensvolle Beziehungen etabliert werden, kann die Rolle „reiner“ Beobachtung zurückgelassen werden, ohne aber umfassend ins Feld integriert zu sein. Die anfänglich geringe Identifikation mit der Teilnehmendenrolle muss kein Manko sein, sondern bietet den Forschenden die Gelegenheit zu Beobachtungen, die noch nicht durch die sich einschleichende Alltagsblindheit, durch das going native verzerrt sind. Jedoch erst mit wachsender Einbindung in das soziale Feld können sich die Forschenden aktiver an den sozialen Lebensformen beteiligen und allmählich zu ebenbürtige Teilnehmende aufsteigen. Durch die Kombination der verschiedenen Rollenkonfigurationen wird es möglich, sich als Teilnehmer/in in der fremden Lebenswelt zu qualifizieren und zugleich als Beobachter/in wieder vom eigenen Engagiertsein zurückzutreten, um aus wohlwollend-kritischer Distanz das soziale Leben zu betrachten (Thomas 2019). Die Beobachtungsperspektive ändert sich im Forschungsverlauf aber auch, weil die offene Haltung, die die Ethnograf/innen zu Beginn der Untersuchung einnehmen, zunehmend auf für ihre Forschungsfrage relevante Themenbereiche zu konkretisieren und in einzelne Untersuchungsdimensionen auszudifferenzieren ist. Die Feldforschung beginnt daher idealtypisch mit einer orientierenden und explorativen Anfangsphase, in der alle Beobachtungen zunächst wichtig genommen werden, geht über in eine fokussierende Phase, um sich auf jene Ereignisse und Phänomene zu konzentrieren, die sich als zentrale Aspekte der Forschungsarbeit erwiesen, um schließlich in der selektiven Phase ergänzende Details zu erheben (Spradley 1980).
4.5
Protokollierung und Dokumentation
Ethnografie umfasst nur zum einen Teil die interessierte Zerstreuung in der Welt, um in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen von Wirklichkeit zu neuen An- und Einsichten zu gelangen. Der zweite wesentliche Teil des Forschungsprozesses konzentriert sich wesentlich auf die schreibende Aneignung der untersuchten Sozialwelt. Erst am Schreibtisch werden die Daten durch ihre Dokumentation in Beobachtungsbögen, Protokollen und Tagebüchern fixiert (Emerson et al. 1995). Hier entscheiden Forschende darüber, welche Eindrücke und Ereignisse der Flüchtigkeit des Augenblicks enthoben werden. Damit stellt sich die Frage, was denn überhaupt protokolliert werden soll. Der schlichte Verweis darauf, dass die Feldprotokolle eine Antwort auf die Frage: „What is going on?“ geben sollen (Charmaz und Mitchell 2001, S. 162), greift zu kurz. Den Beobachtenden wird sofort deutlich, dass angesichts der unendlichen Fülle an Begebenheiten, Situationsmerkmalen und Handlungsformen es nicht auf der Hand liegt, was in die Protokolle einbezogen werden soll. Die Dokumentation von Daten sollte sich an folgenden Fragen orientieren: Was ist für die Forschenden neu, überraschend, außergewöhnlich, erstaunlich? Was ist an Hintergrundwissen notwendig, damit auch Außenstehende verstehen können, wie die Menschen im Forschungsfeld ihre Welt sehen? Welche verschiedenen Beobach-
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tungsebenen sind aufgrund der Forschungsfrage zu berücksichtigen? Es soll dabei sowohl das Neue zur Darstellung gebracht werden, weil es über das beschränkte Vorverständnis und Allgemeinwissen der Forschenden hinausweist, als auch das nur schwer zu explizierende tacit knowledge, über welches die sozialisierten Mitglieder einer fremden Sozialgemeinschaft verfügen. Das einzelne Ereignis, eingebettet in seinem kulturellen Bedeutungshorizont, ist besonders gut in Situationen zu beobachten, die Agar (1996) als rich points des Forschungsprozesses bezeichnet. Bei den rich points handelt es sich um Begebenheiten, aufgrund derer Forschende mit einem Mal, wie bei einer optischen Kippfigur, einen neuen Blick auf das Forschungsfeld gewinnen. Bei der Explikation dieser rich points besteht in besonderer Weise die Notwendigkeit, die Hintergrundüberzeugungen und Kontextbedingungen des Feldes soweit zu verdeutlichen, dass auch die Lesenden das Augenfällige, Überraschende, Exemplarische des Ereignisses verstehen. Die Dokumentation der Beobachtungsdaten erfolgt durch die Anfertigung von Beobachtungsprotokollen bestenfalls im direkten Anschluss an den Feldaufenthalt. Die ersten Aufzeichnungen werden – etwa auch unter Einsatz eines Diktiergerätes – schon auf dem Nachhauseweg gemacht, um für die weitere Protokollierung eine Skizze (sketch notes) der wesentlichen Begegnungen und Vorfälle zur Hand zu haben. Es sollte mindestens so viel Zeit für das Schreiben wie für den reinen Feldaufenthalt aufgewendet werden (Lofland et al. 2006, S. 111). Ziel ist eine deskriptive Protokollierung der erlebten Ereignisse in chronologischer Ordnung als running description (Lofland et al. 2006, S. 116). Dennoch ist es schon bei der Protokollierung wichtig, dass neben den „objektiven“ Situationsfaktoren auch die kulturellen Situationsbedeutungen als rich description dokumentiert werden.
4.6
Datenauswertung
Was wird nun aber mit der großen Menge an erhobenen Daten gemacht? Für die Ethnografie gibt es nicht das eine Auswertungsverfahren. In jedem Fall beschränkt sich der Anspruch von Ethnografie nicht auf die deskriptive Darstellung der untersuchten Sozialwelt. Ethnografie verfolgt nach Burawoy (1991) einen zweifachen Erkenntnisanspruch: eine verstehende, immanente Deskription des Feldes aus der Innenansicht und eine erklärend-analytische Rekonstruktion der psychischen und sozialen Struktur aus der Außenperspektive. In der analytischen Theoriegenerierung wird ausgehend von der Sammlung empirischer Phänomene und Fälle über einen abstrahierenden Theoriegeneseprozess ein systematisierendes Begriffssystem entwickelt. Zudem wird die „dichte Beschreibung“ im Sinne von Geertz (1983) nach wie vor als zentraler Bezugspunkt für die Datenauswertung angesehen. Die einzelne Beobachtung erlangt hier den Status eines paradigmatischen Ereignisses, woran der kulturelle Kontext expliziert wird, um verstehen zu können, warum sich an dem untersuchten Ort und zur untersuchten Zeit genau die beobachtete Kulturform als Antwort auf existenzielle Herausforderung beobachten ließ.
Ethnografie
4.7
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Schreiben
Im Zuge der „Writing Culture“-Debatte (Clifford und Marcus 1986) wurden literarische und ästhetische Darstellungsstile, d. h. verschiedene Formen ethnografischen Schreibens zum Thema. Die Möglichkeit einer „objektiven“ Repräsentation von Kulturen in Form von wissenschaftlichen Berichten wird grundsätzlich in Frage gestellt. In der Analyse der Schreibstile namhafter Ethnograf/innen zeigt sich insbesondere der konstruktive Charakter ethnografischer Reports. Die paradoxale Anforderung wissenschaftlichen Schreibens besteht darin, dass die Autor/innen in ihren Darstellungen einerseits auf ihre subjektiven Erfahrungen im Feld rekurrieren müssen (die Autorität des being there), denen zugleich der Status von objektiven Daten zu verleihen ist (die Autorität wissenschaftlicher Dignität) (Geertz 1988). In einer Typisierung verschiedener Schreibstile gelangt van Maanen (1988) zu drei charakteristischen Grundformen ethnografischer Darstellungen: a) „Realist Tales“ stellen den Versuch dar, durch Verbergen sowohl des subjektiven Erfahrungsanteils als auch der Autor/innenschaft „objektive“ Schilderungen des Feldes anzufertigen. b) „Confessional Tales“ orientieren sich am Genre des Erfahrungsberichtes, indem besonderer Nachdruck auf den persönlichen Charakter der eigenen Erfahrungen und Reflexionen gelegt wird. c) „Impressionist Tales“ lassen sich als Verschmelzung der beiden anderen Darstellungsstilen verstehen, indem eigene Erfahrungsbezüge an „objektiven“ Situationsbeschreibungen ausgewiesen werden. d) Darüber hinaus ist eine ganze Formvielfalt an weiteren Schreib- und Darstellungsstilen identifiziert worden: critical tales im Rahmen einer kritischen Sozialtheorie, formal tales in einer auf generalisierte Befunde zielenden Ethnografie, literary tales als eine mit literarischen Stilelementen arbeitenden Ethnografie, dialogic tales unter Einschluss der Stimmen des Feldes etc. (van Maanen 1988, S. 127–138).
5
Psychologische Forschungsperspektiven in der Ethnografie
In der Psychologie liegt die Vernachlässigung von Ethnografie nur teilweise an dem dezidiert quantitativen Selbstverständnis der akademischen Psychologie. Es finden sich daneben Anwendungs- bzw. Übertragungshindernisse, die in der Methode selbst begründet liegen. Hier muss zuvorderst geklärt werden, was Forschungsthemen der Psychologie sein können, die den Einsatz der Ethnografie notwendig machen. Denn in der Psychologie würde weniger die Erforschung von Kultur, Lebensgemeinschaften oder Sozialwelt im Mittelpunkt stehen. Vielmehr gilt es die soziale Situierung, die Wahrnehmung, die Handlungsweisen des Individuums als Gegenstandsebene herauszuheben.
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Dies würde der Ethnografie die Möglichkeit einer Rejustierung psychologischer Forschung auf die konkrete Alltagswelt des Individuums bieten als der vorgegebenen Lebensbedingung, auf die das gesamte menschliche Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln zielt. Das Individuum wäre hier nicht mehr die solipsistische Monade, die in die artifiziellen Welten experimenteller Situationskontrolle eingeschlossen ist. Insbesondere könnte sich durch die Einbettung des Individuums in seinen sozialen Kontext die Chance ergeben, an die Gegenwartsdiagnosen der Sozialwissenschaften – Individualisierung, Subjektivierung von Arbeit, Prekarisierung etc. – anzuschließen. Hierdurch ergäbe sich ein Forschungsprogramm, in dem die psychische Seite, d. h. die Auswirkungen moderner Lebensverhältnisse auf Subjektivität, zu untersuchen ist (Thomas 2009). Die Anwendung der Ethnografie in der Psychologie braucht eine konzeptuelle bzw. metatheoretische Rahmung, die auch dem psychologischen Gegenstand entspricht. Die Diskussion zentraler Konzepte, die einer psychologischen Ethnografie zugrunde gelegt werden können, würde Themenstellungen wie Bewusstsein, Sinn, Identität, Motivation oder Handlung denkbar machen. Unterschiedliche Themenstellungen erfordern daher verschiedene Interpretationsparadigmen. Als Beispiel möchte ich das Interpretationsparadigma vorstellen, dass ich in einer ethnografischen Studie über „Exklusion und Selbstbehauptung“ junger Menschen entwickelt habe (Thomas 2010). Die Fragestellung richtete sich auf die Herstellung und Bewältigung von Alltag unter der Bedingung von Armut und sozialem Ausschluss am Berliner Szenetreffpunkt „Bahnhof Zoo“. Zur Rekonstruktion der psychischen Situation wurden drei kategoriale Elemente in die Analyse einbezogen: Lebenswelt, Sinn und Handlung. Es wurde zuerst die soziale Strukturierung der individuellen Position innerhalb der Lebenswelt in Form von vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen untersucht, wie diese sich etwa in den Chancen auf dem Arbeitsmarkt zeigen. An der Erfassung und Beschreibung der Lebenswelt schloss sich dann die subjektive Situationsanalyse an: Bei den Jugendlichen kam es zur Dissoziation subjektiver Sinnbezüge, sodass sozialer Ausschluss vor allem als tiefe Verunsicherung des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses erfahren wurde. Drittens wurden die individuellen Handlungsmotive rekonstruiert: Für die Bahnhofsgänger/innen wurde der Rückzug in die subkulturelle Jugendgemeinschaft zu einer funktionalen Strategie der Alltags- und Armutsbewältigung.
6
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Ethnografie verfügt über Potenziale und Leistungsmerkmale, die ihr nicht nur einen festen Platz im sozialwissenschaftlichen Methodenarsenal, sondern auch in der Psychologie zuweisen. Die Stärken finden sich in der Situierung des Forschungsprozesses in der realen Lebenswelt, der Rekonstruierbarkeit real beobachtbarer Handlungsweisen, dem Interesse an den Bedeutungs- und Handlungsstrukturen des Feldes, an den Sinnzuschreibungen und alltäglichen Lebenspraxisformen der Akteure. Ein besonderer Stellenwert wird der Gegenstandangemessenheit der
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Theoriebildung durch das Fremdheitspostulat und die prozessuale Entfaltung des Forschungsprozesses gegeben. Zu den Schwächen zählen der hohe Ressourcen- und Zeitaufwand für die Durchführung einer ethnografischen Studie. Dabei sind Forschende nicht nur mit dem sich in seiner gesamten Komplexität vergegenwärtigenden Untersuchungsfeld konfrontiert. Vielmehr müssen sie sich überhaupt eine gewisse Zeit im Feld aufhalten, um über eine sekundäre Sozialisation mit der Insider-Perspektive des Feldes vertraut zu werden. Eine weitere Schwäche ist der schwierige Status der eigenen Subjektivität im Forschungsprozess, der m. E. als unvermeidbar für jede Sozialforschung anzusehen ist, aber sich als praktisch zu lösende Aufgabe in besonderem Maße in der teilnehmenden Beobachtung stellt. Zur Verunsicherung der Forschenden trägt sicherlich auch die unabgeschlossene Diskussion über die Herausforderungen des ethnografischen Schreibens bei. Vor dem Hintergrund der prävalenten Schwächen sollten einer weiteren Klärung zumindest folgende drei Problempunkte zugeführt werden: Erstens kann die Objektivitätsfrage im Umgang mit Reaktivität und Subjektivität sicherlich nicht auf der Ebene des einzelnen Forschungsprojekts zu lösen sein, sondern erfordert eine methodologische Debatte grundsätzlicher Art. Zweitens wäre mit Blick auf wissenschaftliche Objektivierungsformen zu fragen, wie eine Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven des Feldes methodisch ermöglicht werden kann, um eine ethnozentrische Vereindeutigung der untersuchten Lebenswelt zu vermeiden. Drittens sollte insbesondere im Hinblick auf die Psychologie eine Debatte über sinnvolle Anschluss- und Konzeptualisierungsmöglichkeiten ethnografischen Forschens geführt werden.
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Ethnografie
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Qualitative Interviews Günter Mey und Katja Mruck
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Interviewverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zentrale Fragen der Interviewdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In dem vorliegenden Beitrag wird zunächst ein Überblick über Interviewverfahren gegeben, die innerhalb der Psychologie entwickelt oder aus anderen Disziplinen importiert wurden. Im Anschluss folgen Ausführungen zu den Interviewteilnehmenden, der Wahl des räumlich-zeitlichen Settings, der Konstruktion von Leitfäden sowie zu Aufzeichnung und Schulung mit Blick auf die Interviewführung und dazugehörige Arbeitsschritte. Abgeschlossen wird der Beitrag mit Reflexionen zu Interviews als sozialen Arrangements und zu deren spezifischer Interaktionscharakteristik.
G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_33
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G. Mey und K. Mruck
Schlüsselwörter
Interview · Leitfaden · Narration · Interaktion · Transkription · Postskript · Reflexivität
1
Einleitung
Das Interview gehört prinzipiell und auch in der Psychologie zu den gängigsten Verfahren der qualitativen Forschung (Breuer et al. 2014, S. 262–270). In der Psychologie haben die Arbeiten von Charlotte Bühler zum Lebenslauf (1933) und vor allem ab den 1950er-Jahren die Einführung der „biografischen Methode“ durch Hans Thomae (1952) dem Interview schon früh zum Durchbruch verholfen. Auch das „psychologische Gespräch“ war und ist insbesondere im Kontext der Klinischen Psychologie für Anamnese, psychologische Beratung und Therapie selbstverständlich; gleichwohl verläuft hier zuweilen eine deutliche Trennlinie zwischen in der Praxis angewandten Gesprächen und dem Interview als Forschungsinstrument (Hunt et al. 2011). Mittlerweile finden sich in allen Teilbereichen der Psychologie Interviewstudien, wenn auch mit deutlichem Überhang in der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie sowie der Klinischen Psychologie und angrenzenden Bereichen der Psychotherapie- und Gesundheitsforschung. Ebenso ist die Fülle an Themen beinahe unbegrenzt, hier insbesondere mit einem Schwerpunkt in Forschungen zu Identität oder z. B. „subjektiven Theorien“ von Gesundheit sowie zu Erfahrungen mit und Einstellungen zu Handlungskontexten wie Familie oder Arbeit. Allerdings werden zumeist sogenannte „halb-“ oder „teilstrukturierte Interviews“ (ohne theoretischen Unterbau) favorisiert. Eine solche Selbstbeschränkung verkennt, dass theoretisch fundierte Interviewformen in der Psychologie selbst hervorgebracht wurden, und dass auch aus anderen Disziplinen wie insbesondere der Soziologie stammende Verfahren für psychologische Fragestellungen genutzt werden und zum Teil methodische Leerstellen für die Erforschung psychologischer Phänomene füllen helfen können. Eine weitere Selbstbeschränkung findet sich mit einem Verständnis von Interviews als Ereignissen, in denen über Meinungen, Motive oder soziale Praxis berichtet wird, teilweise verbunden mit dem Anspruch, Wirklichkeit „abbilden“ zu können. Dem steht eine Perspektive gegenüber, die Interviews als Momente gelebter sozialer Praxis versteht, in denen die Beteiligten sich in einem in situ konstituierten Raum positionieren und eben auch erst in actu Einstellungen bilden. Arnulf Deppermann (2013) zufolge verläuft die Trennlinie zwischen einem Verständnis von „Interview als Text“ versus „Interview als Interaktion“. Im Folgenden geben wir einen Überblick über den mittlerweile breiten Fundus an Interviewverfahren (Abschn. 2), um dann einige zentrale Fragen der Interviewführung zu diskutieren (Abschn. 3). Danach skizzieren wir besondere Herausforderungen, die mit dem Einsatz von Interviews einhergehen (Abschn. 4).
Qualitative Interviews
2
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Interviewverfahren
Mittlerweile existiert im deutschsprachigen Raum eine Fülle an Interviewvarianten, die sich unter Einbezug einer internationalen Perspektive noch zusätzlich erweitert.1 In vielen Einführungsartikeln oder Lehrbüchern zu qualitativer Forschung findet sich deshalb eine mehr oder weniger begründete Auswahl an Verfahren, und es finden sich zusätzlich einige Überschneidungen, die auf einen scheinbar kanonisierten Grundbestand qualitativer Interviews verweisen. Ein solcher Grundbestand soll mit Blick auf die Psychologie zunächst skizziert werden, bevor daran anschließend kurz Hinweise für die Auswahl von Interviewverfahren gegeben werden.
2.1
Die wichtigsten Verfahren im Überblick
Im Folgenden stellen wir aus dem Umfeld der Psychoanalyse hervorgegangene Verfahren vor, um uns dann ausführlicher dem „narrativen Interview“ und allgemeiner „offenen Interviews“ zuzuwenden, gefolgt von einer Darstellung des „problemzentrierten Interviews“ (PZI) und von dem PZI ähnlichen Verfahren. Bei Letzteren geht es uns insbesondere darum, strukturierende Verfahrensweisen und mit ihnen verbundene Fragemöglichkeiten kenntlich zu machen. Abgeschlossen wird die Übersicht mit einigen spezifischen Varianten und zudem Verfahren, die den klassischen Rahmen einer bilateralen Kommunikation überschreiten. Psychoanalytisch-orientierte Interviews Aus dem Umfeld der psychoanalytischen Sozialforschung stammen mehrere Varianten wie das Tiefeninterview,2 das szenische Interview oder das themenzentrierte Interview. Das Tiefeninterview entstammt dem psychotherapeutischen Kontext. Gearbeitet wird mit speziellen Befragungstechniken wie Rekapitulation, Spiegeln, assoziativen und projektiven Verfahren oder dem Aufgreifen von Schlüsselwörtern, um die Befragten zum Erzählen zu veranlassen und Emotionales für die Analyse zugänglich zu machen. Ähnlich verhält es sich mit dem szenischen Interview, das in Anlehnung an das psychoanalytische Erstinterview (Argelander 1970) vorgeschlagen wurde (zur Technik des szenischen Verstehens s. Lorenzer 1970). Zentral sind die psychoanalytischen Grundregeln der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ und der „freien Assoziation“; Interviewende sollen sich möglichst abstinent verhalten. Eine umfassende Dokumentation bietet das „Sage Handbook of Interview Research“ von Gubrium et al. (2012), das allerdings weniger die für den deutschsprachigen Raum typische Darstellung spezieller Verfahren bietet, sondern die Diskussion verläuft eher über das Interviewen als Tätigkeit. 2 Der Terminus Tiefeninterview wird zuweilen alltagssprachlich begründet, wenn versucht wird, über die Ebene allgemein gehaltener Aussagen hinauszugehen. Für die standardisierte Sozialforschung hat Jürgen Friedrichs (1983 [1973]) den Begriff des Tiefeninterviews synonym mit dem des sog. Intensivinterviews verwandt. Mittlerweile wird von Tiefeninterviews insbesondere im Kontext der Marktforschung gesprochen. 1
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Abwandlungen ergeben sich allerdings dadurch, dass Interviewende i. d. R. nicht psychoanalytisch ausgebildet sind und insofern die Gegenübertragung weniger zentral gestellt wird (Horn et al. 1983; Wolf 1981). Auch mit dem „themenzentrierten Interview“ (Schorn 2000) sollen über die Erhebung subjektiver und manifester Sinnbezüge hinaus „abgewehrte“ und latente Sinngehalte erschlossen werden (zusammenfassend zu psychoanalytischen Interviews s. Kvale 2003). Narratives Interview Als eine zentrale Interviewtechnik, um biografische Prozesse und damit verbunden Erfahrungsaufschichtungen und Deutungsmuster zu erheben, gilt insbesondere das „narrative Interview“ von Fritz Schütze. In den 1970er-Jahren zunächst für die Untersuchung politischer Entscheidungsstrukturen entwickelt, etablierte es sich als „narrativ-biographisches Interview“ (Schütze 1983) vor allem innerhalb der soziologischen/erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung und fand auch Berücksichtigung in Teilen der Psychologie (z. B. Wiedemann 1986); abgewandelt wird es auch im nicht-deutschsprachigen Raum angewendet (Wengraf 2001).3 Das narrativ-biografische Interview verläuft in drei Phasen („Eröffnung“, „Nachfrageteil“, „Bilanzierung“). In der Regel wird kein Leitfaden eingesetzt, denn Schütze vertraut ganz auf die „Zugzwänge“ des Erzählens: Hiernach sind die Interviewten „gezwungen“, subjektiv Bedeutsames hervorzuheben („Relevanzsetzung“) und zu raffen („Kondensierung“), aber auch so detailliert und ausführlich zu sein (unter Darstellung der relevanten Schauplatzcharakteristiken, der beteiligten Akteur/innen und der eigenen Selbst-Positionierung), dass die Erzählung für Zuhörende verständlich wird („Detaillierung“). Und sie sind „gezwungen“, ihre (Lebens-) Geschichte vom (durch die Interviewenden gesetzten zeitlichen) Beginn bis zum Ende zu erzählen, damit diese nachvollziehbar wird („Gestaltschließung“). Über die Erzählungen werden Schütze zufolge die Deutungsmuster („subjektiven Theorien“) und die Prozessstrukturen des Lebenslaufs (institutionelle Ablauf- und biografische Handlungsmuster sowie Verlaufskurven und Wandlungsprozesse) zugänglich. Schütze geht hierbei von der Homologie von Erzähltem und Erlebtem aus (zur Kritik siehe Bude 1985; Küsters 2006, S. 32–34). Bei der Anwendung des narrativen Interviews wird sehr viel Wert auf die „erzählgenerierende“ Eröffnungsfrage gelegt, die eine Stegreiferzählung hervorrufen soll. Auch im Nachfrageteil sollen durch sog. „immanente Nachfragen“ weitere Erzählungen generiert werden. Erst der dritte Teil des Interviews zielt auf eine abstraktere Darstellung und auf andere Textsorten (insbesondere Argumentationen und Begründungen statt Erzählung). Die Rolle der Interviewenden besteht zunächst darin, interessiert zuzuhören und das Erzählverhalten durch eine wohlwollende Haltung Das narrativ-biografische Interview sollte nicht mit dem „biografischen Interview“ von Hans Thomae (1952) verwechselt werden, einem Versuch, systematisiert und theoriegeleitet Lebensgeschichten und darin vorkommende Ereignisse zu erfragen. Thomae hat (gemeinsam mit Ursula Lehr) sein Verfahren im Rahmen seiner gerontologischen Studien zunehmend an dem nomologischen Paradigma ausgerichtet, sodass mögliche Anschlüsse an die aus der interpretativen Soziologie hervorgegangene Biografieforschung nicht geleistet wurden (Straub 1989).
3
Qualitative Interviews
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und mittels nonverbaler Signale zu fördern. Im Interviewverlauf können sie dann zu interessiert Nachfragenden werden, und erst zum Schluss („Bilanzierung“) sollen sie aktiver in die Gesprächsgestaltung eingreifen. Rezeptives Interview Eine dem narrativen Interview ähnliche (allerdings nicht erzähltheoretisch fundierte) Variante hat Gerhard Kleining (1994) vor dem Hintergrund seines heuristischen Ansatzes mit dem „rezeptiven Interview“ vorgeschlagen: In dieser explizit einseitig konzipierten Kommunikation sind Interviewende fast ausschließlich wohlwollend Zuhörende in unmittelbar sozialen Situationen. Die Interviewpartner/innen sind die eigentlichen Akteur/innen von der Themenauswahl bis hin zur konkreten Gesprächsgestaltung, da für Kleining das explorative Potenzial des Interviews im Mittelpunkt steht und der Einfluss der Interviewenden möglichst gering gehalten werden soll. Ethnografisches Interview und ero-episches Gespräch Offene, nicht vorab strukturierte Gespräche kommen insbesondere in der Feldforschung zum Einsatz, so das „ethnografische Interview“ (Spradley 1979) oder das „ero-epische Gespräch“4 (Girtler 2002). Das ethnografische Interview entsteht zumeist unmittelbar in informellen Feldforschungssituationen, wobei anders als beim rezeptiven Interview Forschende entlang ihrer Interessen und Fragen den Gesprächsverlauf durchaus strukturieren. Girtler zielt – anders als Kleining – gemäß dem Prinzip der Egalität auf die gleichberechtigte Kommunikation zwischen Forschenden und Beforschten, mit der die „künstliche Interviewsituation“ zugunsten der Nähe zum Alltag aufgegeben werden soll. Er wendet sich damit allgemein gegen den Begriff und das Konzept des Interviews und im Besonderen gegen das narrative Interview oder gegen Tiefeninterviews wegen der dort aufgehobenen Reziprozität und wegen des Verstoßes gegen die Konventionen von Alltagsgesprächen. Problemzentriertes Interview Wie das narrative Interview in der Biografieforschung, so ist das „problemzentrierte Interview“ von Andreas Witzel (1982, 2000; Witzel und Reiter 2012) in den Sozialwissenschaften und – weil es zuweilen irrtümlich als halbstrukturiert bezeichnet wird und Witzel zudem Psychologe ist – auch in der Psychologie sehr weit verbreitet. Erstmals eingeführt und breiter rezipiert wurde es in kondensierter Fassung in einem Psychologie-Sammelband (Jüttemann 1985). Das problemzentrierte Interview gründet u. a. auf ethnomethodologische Überlegungen sowie auf die Vorarbeit Cicourels (dazu Witzel und Mey 2004) und grenzt sich explizit gegen das narrative Interview ab, da die Interviewsituation viel deutlicher als bei Schütze als kommunikatives Geschehen verstanden wird: Während Fragen im narrativen Interview als die Erzählung „störend“ bzw. als Ablenkung der Interviewten vom eigenen Erleben gelten, kommt ihnen nach Witzel eine aktive, das Gespräch mitgestaltende Explorationsfunktion zu. Zu den Fragetypen, durch die das Interview
Zusammengesetzt aus erotan – fragen und eipon (epos) – reden, mitteilen.
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„gesteuert“ und (gemeinsam mit den Befragten) gestaltet werden kann, gehören insbesondere die „allgemeinen Sondierungen“, die im Dienste der „Materialgenerierung“ stehen („Sachnachfragen“ und „Erzählaufforderungen“) und die „spezifischen Sondierungen“, die basierend auf gesprächspsychologischen Überlegungen auf eine „diskursive Verständnisgenerierung“ zielen („Zurückspiegelung“, „Verständnisfragen“ und „Konfrontation“). Das problemzentrierte Interview hat keinen festen Ablauf (auch wenn ein dem narrativen Interview vergleichbarer Erzählbogen als wünschenswert erachtet wird), sondern die Interviewenden können schon sehr früh strukturierend und nachfragend in das Gespräch eingreifen, Themen einführen, Kommentare und Bewertungen erbitten oder bereits im Interview selbst beginnen, die eigenen Interpretationen kommunikativ zu validieren. Sie sollten das Gespräch im Sinne eines dialogisch-diskursiven Vorgehens dabei selbstredend trotzdem nicht dominieren. (Einen detaillierten Vergleich des problemzentrierten und des narrativen Interviews gibt Mey 2000.) Der für das Interview zu nutzende Gesprächsleitfaden dient nach Witzel lediglich als Gedächtnisstütze für die Interviewenden (s. Abschn. 3.3). Zusätzlich wird ein Kurzfragebogen (wahlweise vor oder nach dem Interview) eingesetzt, mit dem wesentliche Rahmendaten erhoben und Faktenfragen behandelt werden können. Insbesondere Leitfäden – aber auch Kurzfragebögen – werden mittlerweile häufig auch jenseits des problemzentrierten Interviews verwand. Partnerschaftliches Gespräch Mittlerweile finden sich einige Varianten, die dem problemzentrierten Interview ähnlich sind, aber mit etwas anderen Akzentuierungen versehen werden und damit verdeutlichen, wie sich das Spektrum an Interviewformen ausdifferenziert hat. So hat Wilhelm Kempf (1987) mit dem „partnerschaftlichen Gespräch“ ähnlich wie Witzel vorgeschlagen, stärker auf eine klient/innenzentrierte Interviewführung abzuheben. Er begründet dies damit, dass es in psychologischen Kontexten immer um eine Bereitschaft zur „Preisgabe privater Realität“ gehe, was eine besondere emotionale und kommunikative Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten voraussetze und die Sichtbarkeit der Forschenden und ihrer (Forschungs-)Interessen auch in der Interviewsituation impliziere. Episodisches Interview Mit dem „episodischen Interview“ zielt Uwe Flick (2002) auf eine systematischere Verknüpfung von Textsorten als es ihm im problemzentrierten Interview gegeben scheint, um „narrativ-episodisches Wissen“ über Erzählungen (Episoden) und „semantisches Wissen“ über konkret-zielgerichtete Fragen zugänglich zu machen. Personzentriertes Interview Claudia Woelfer (2000) wiederum differenziert für ihr „personzentriertes Interview“ unter Bezug auf die klient/innenzentrierte Gesprächsführung a la Rogers, die auch für Witzel leitend ist, spezifische Frage- und Interventionsformen (so etwa „Symbolisieren“, „Spiegeln“, „Differenzieren“, „Initiativfragen“ etc.), mit denen das Gespräch gestaltet werden soll.
Qualitative Interviews
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Systemisches Interview Auch Schorn und Mey (2005) plädieren für den Einbezug von systemischen und zirkulären Frageformen, die üblicherweise im Kontext der Beratungsarbeit (von Schlippe und Schweitzer 1999) Anwendung finden. Auf diese Weise lassen sich in systemischen Interviews Sachverhalte aus der ersten, zweiten oder dritten Wahrnehmungsposition erfragen: In der ersten Wahrnehmungsposition beschreiben die Interviewten den Sachverhalt aus der eigenen Sicht, in der zweiten wird die Perspektive gewechselt und aus der Sicht vertrauter Anderer berichtet, in der dritten aus der „Vogelperspektive“ bzw. aus der Perspektive unbeteiligter Dritter. Ähnliche (zirkuläre) Fragetypen sind „Klassifikationsfragen“ („Wer freut sich am meisten darüber, dass . . .?“), „hypothetische Fragen“ („Einmal angenommen, es wäre . . ., was wäre dann anders?“), „Kontextualisierungsfragen“ („Wie verhält sich . . .?“), Fragen nach Visionen oder Utopien („Welches Leben würden Sie führen, wenn . . .?“) und „Metaphernfragen“ („Wenn Sie versuchen würden, ein Bild oder eine Überschrift für die beschriebene Situation zu finden, . . .“). Fokussiertes Interview Ein Grundkonzept des Nachfragens ist bereits in der „Urfassung“ aller leitfadenbasierten Interviews, dem „fokussierten Interview“ von Robert Merton und Patricia Kendall (1979 [1946]), enthalten, für das erstmals systematisch Ziellinien des Interviewens (allerdings nicht in Form von Handlungsanleitungen) benannt wurden. Demnach richten sich alle (Nach-)Fragen auf Spezifität (Hinausgehen über die Ebene allgemein gehaltener Aussagen), auf die Erfassung der relevanten Themen (von den Interviewenden „vorgegeben“ und von den Interviewten „eingebracht“), auf eine affektive, kognitive und evaluative Vertiefung über „kürzelhafte“ Benennungen hinaus und auf eine Exploration des biografischen Hintergrundes (bzw. des „personalen Kontexts“) als Voraussetzung für eine angemessene Interpretation. Struktur-Dilemma-Interview Die Idee, ein Interview mit vorgegebenem „Reizmaterial“ zu eröffnen, findet sich schon beim „fokussierten Interview“, in dem – da in der Medienrezeptionsforschung begründet – zumeist Filme oder Zeitungskommentare genutzt werden. Vergleichbar werden beim „Struktur-Dilemma-Interview“ der psychologischen Moralforschung (Kohlberg 1995 [1984]) Dilemmata (Geschichten) aus miteinander unvereinbaren Werten oder Handlungsoptionen vorgegeben und Gründe für deren Lösung durch systematische Nachfragen exploriert. Carol Gilligan (1988), eine langjährige Mitarbeiterin Kohlbergs, die sich insbesondere für die weibliche Moralentwicklung interessiert, nutzt im Unterschied hierzu leitfadenorientierte Interviews, die an realen Lebenssituationen ausgerichtet sind (Kiegelmann 2009). Halbstrukturiertes Interview Das „halbstrukturierte Interview“ – gemeint ist hier nicht ein alltagssprachliches Verständnis teilstrukturierter Befragungen, sondern eine von Norbert Groeben und Brigitte Scheele (2000) vorgeschlagene Variante – beinhaltet zwei Teile: Im ersten Teil, dem eigentlichen halbstrukturierten Interview, werden über offene Fragen
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explizit verfügbare Annahmen und Bestandteile „subjektiver Theorien“ ermittelt. Dabei werden stärker implizite Wissensbestände über theoriegeleitete Fragen und schließlich über Konfrontationsfragen eruiert, um die sich entwickelnden subjektiven Theorien selbstkritisch zu „prüfen“. Im zweiten Teil werden dann mittels der sog. Struktur-Lege-Technik die Aussagen aus dem ersten Interview gemeinsam mit den Befragten strukturiert und kommunikativ validiert. Am Ende steht eine ausgearbeitete subjektive Theorie zu dem untersuchten Themenbereich. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich bei den Grid-Interviews (Fromm 1995; s. auch Dick 2000). Selbstkonfrontations-Interview Ähnlich – wenn auch nicht dem Anspruch auf Theorie so stark verpflichtet, aber nach kritischer Auseinandersetzung mit dem Ansatz des „Lauten Denkens“ (Konrad 2010) – ist das „Selbstkonfrontations-Interview“ ausgerichtet, das Franz Breuer (1995) im Kontext von Beratungsgesprächen entwickelte. Darin werden den Interviewten (i. d. R. per Video aufgezeichnete) Interaktions-/Handlungssequenzen vorgeführt mit der Bitte, diese hinsichtlich der (erinnerten) „inneren Handlungsanteile“ zu erläutern, um so deren subjektive (Mikro-)Perspektive zu erfassen. Expert/inneninterview Bei dem „Expert/inneninterview“, das von Michael Meuser und Ulrike Nagel (1991) eingeführt wurde, tritt die Biografie (und damit der/die Interviewte als „Person“) in den Hintergrund: Die Interviewten werden – die wissenssoziologische Unterscheidung von „Laie/Laiin“ und „Experte/Expertin“ sowie „Allgemeinwissen“ und „spezialisiertem Wissen“ vorausgesetzt – als Akteur/innen in dem von ihnen repräsentierten Funktionskontext angesprochen (s. dazu auch die frühen Überlegungen zum elite interviewing, Dexter 2006 [1970]). Allerdings bleibt trotz der wissenssoziologischen Fundierung in der Forschungspraxis recht oft vage, wer als Experte/Expertin bzw. Spezialist/in anzusehen ist und wer nicht. Dies gilt noch mehr für die von Jochen Gläser und Grit Laudel (2010) vorgenommene konzeptionelle Ausdehnung über den „engen“ Expert/innenbegriff hinaus: Dass alle Befragten Expert/innen ihrer selbst und ihrer Lebenswelt sind, trifft zwar den Kern qualitativer Forschung, taugt aber nicht als Kriterium für die Nutzung dieser Interviewform. Wer Experte/Expertin ist und um wessen Spezialwissen es geht, lässt sich nur aufgrund der Forschungsfrage bestimmen (Littig 2008). Paarinterview Ähnlich wie das „Expert/innen-Interview“ hat das „Paarinterview“ seinen Namen aufgrund der einbezogenen Befragten erhalten. Angezeigt ist ein solches Arrangement, wenn das Erkenntnisinteresse auf relationale Aspekte der Interaktion, Aushandlung oder auch auf Performances und Präsentationen von miteinander in Beziehung stehenden Personen zielt. Eingrenz- und abgrenzbar sind Christine Wimbauer und Mona Motakef (2017, S. 22) zufolge Paarinterviews von anderen Formen dyadischer Interviews eben durch den Gegenstandsbezug. Solche Interviewformen, bei der eine Person zwei Personen interviewt, werden in der eng-
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lischsprachigen Forschung als joint interviews, dyadic interviews oder eben spezieller couple interviews insbesondere in Forschungen zu chronischer Krankheit und zu Disability seit Langem genutzt und zunehmend auch methodologisch reflektiert (Polak und Green 2016). Gruppeninterview Anders als bei der Gruppendiskussion, in der Kommunikation als aufeinander bezogener Aushandlungsprozess initiiert und auf die „Selbstläufigkeit“ solcher Gespräche gesetzt wird (Bohnsack und Przyborski 2007), wird mit dem Terminus Gruppeninterview akzentuiert, dass hier mehrere Personen gleichzeitig befragt werden, um so möglichst schnell und effizient Informationen über das interessierende Forschungsthema zu erhalten. Dabei stehen weniger die gruppendynamischen Prozesse oder die wechselseitige Bezogenheit der Teilnehmenden im Vordergrund. Breite Anwendung finden sog. Gruppeninterviews – in Anlehnung an die angloamerikanische Herkunft wird zuweilen auch von Fokusgruppen gesprochen – in der Marktforschung (Bohnsack und Przyborski 2007; Krueger und Casey 2000). Weitere Varianten und Variationen Die Liste möglicher Interviewverfahren wird noch länger, wenn Varianten berücksichtigt werden, die ihre Bezeichnung aufgrund des Einbezugs spezifischer Elemente in die Interviewsituation erhalten. So wurde z. B. die Darbietung von visuellem Material (z. B. Fotos, Filme), die schon für das fokussierte Interview (Merton und Kendall 1979 [1946]) vorgesehen war, ausgeweitet zum „photo-elicitation interview“ (Epstein et al. 2006). Für Kinder finden sich u. a. das „PuppenspielInterview“ bzw. genereller „spielbasierte“ Interviews (Sturzbecher 2001, s. auch Mey 2005a). Auch werden in der psychologischen Forschung einige sehr spezifische Varianten für eng umgrenzte Untersuchungsfelder genutzt, so das Adult-Attachment-Interview (George et al. 2001) im Kontext der Bindungsforschung und – noch deutlich begrenzter – das Identity-Status-Interview in der Identitätsforschung (bzw. in dem Teil der Identitätsforschung, die sich dem dazugehörigen Identity-Status-Modell von Marcia verpflichtet fühlt, s. Mey 2007; Watzlawik und Born 2007). Für andere Verfahren wie das „erinnerungszentrierte Interview“, ein Leitfadeninterview zur Exploration von Erinnerungen, oder das „Erwachseneninterview“ (das Fragen zu Vorstellungen über das Erwachsensein beinhaltet) sind die Grenzen bzw. ist gerade die Unbegrenztheit solcher Namensschöpfungen offensichtlich (dazu Mey 2005b).
2.2
Probleme der Auswahl
Interviews sind eine Verfahrensgruppe, die neben den theoretischen Bezugstheorien (Ethnomethodologie, Forschungsprogramm Subjektive Theorien, Heuristik, Narrationstheorie, Psychoanalyse etc.) entlang der Dimensionen Interviewsteuerung (Standardisierung/Strukturierung) – und damit dem Gestaltungsspielraum der am Interview Beteiligten – sowie evozierte Textsorten (Erzählung, Bericht, Argumen-
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tation, Sachverhaltsdarstellung, Kenndaten, Meinungen etc.) geordnet werden kann. Je nach Forschungsinteresse und Anwendungsbereich ist der Rückgriff auf bestimmte Interviewvarianten nahe liegender als auf andere. Vor dem Hintergrund der Fülle an Verfahren ist es für Forschende mitunter schwierig, die Übersicht zu behalten und eine begründete Auswahl zu treffen: Teilweise sind die Bezeichnungen recht unscharf (z. B. „problemzentriertes“ oder „themenzentriertes“ Interview, denn in gewisser Weise werden in allen Interviews „Themen“ behandelt, und oft sind „Probleme“ Ausgangspunkt für die Zentrierung von Gesprächen); teilweise werden gleiche Namen für unterschiedliche Verfahren verwandt (so im Falle von sogenannten halbstrukturierten, biografischen oder Tiefeninterviews). Auch ist zuweilen die Differenz zwischen den einzelnen Verfahren auf der Ebene der Interviewführung oder der Frag