Haftung für Steuerschulden: Beratung - Gestaltung - Verfahren [4. neu bearbeitete Auflage] 9783504385231

Zuverlässige Hilfe bei der Risikoeinschätzung für den Mandanten sowie bei der Problembewältigung. Fundierte Ausführungen

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Haftung für Steuerschulden: Beratung - Gestaltung - Verfahren [4. neu bearbeitete Auflage]
 9783504385231

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Nacke Haftung für Steuerschulden

.

Haftung für Steuerschulden Beratung Gestaltung Verfahren von

Dr. jur. Alois Th. Nacke Richter am BFH München

4. neu bearbeitete Auflage

2017

Zitierempfehlung: Nacke, Haftung für Steuerschulden, 4. Aufl., Rz. 1.1 ff.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-20089-3

©2017 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany

Vorwort Das steuerliche Haftungsrecht gewinnt für die Steuerberatung immer mehr an Bedeutung. Die seit längerem hohe Anzahl der Haftungsfälle nimmt nicht ab. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Neben der großen Anzahl von Unternehmensinsolvenzen spielt auch die Schaffung immer neuer Haftungsvorschriften eine Rolle (zuletzt durch § 72a AO – Haftung Dritter bei Datenübermittlungen an Finanzbehörden – durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.7.20161, der vor allem die Haftung von Steuerberatern betrifft). Aufgrund meiner Erfahrungen als Richter am Finanzgericht in einem Haftungssenat und nun als Richter am Bundesfinanzhof wurde das Werk umfangreich überarbeitet und auf den neuesten Rechtsstand gebracht. So wurde wegen der praktischen Bedeutung z.B. die Haftung nach §§ 34, 69 AO und § 42d EStG ausführlicher als bisher dargestellt. Dagegen wurden an anderer Stelle auch Kürzungen vorgenommen. Vor allem enthält das Werk vermehrt Hinweise für die Beratungspraxis und Checklisten. Die Struktur der Kapitel wurde u.a. durch Schaubilder verbessert. Weiterhin soll ein ABC der Haftungsbegriffe das Verständnis der wichtigsten haftungsrechtlichen Begriffe erleichtern. Die im Anhang aufgenommenen Verwaltungsvorschriften erleichtern den Zugang zu den Standpunkten der Finanzverwaltung. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass nicht jede Haftungsgrundlage, die es im Steuerrecht gibt, behandelt wird. Es wurde eine Auswahl getroffen, wobei u.a. die Haftung nach § 69 AO, die Haftung nach § 42d EStG und die Gesellschafterhaftung wegen ihrer praktischen Bedeutung in den Vordergrund gestellt wurden. Die inhaltliche Ordnung richtet sich dabei – soweit wie möglich – nach den Haftungssituationen (z.B. Haftung bei Betriebs- und Vermögensübergang), so dass man alle in Betracht kommenden Haftungsnormen auf einen Blick erfasst. Darüber hinaus wird im dritten Teil auf das Verfahrensrecht eingegangen. Selbstverständlich wurde die seit der dritten Auflage ergangene Rechtsprechung und Literatur aufgenommen. Für Anregungen und Kritik ist der Autor dankbar. Hannover, im Juli 2017

Alois Th. Nacke

1 BGBl. I 2016, 1679.

V

Inhaltsübersicht Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V IX XI

1. Teil Einführung Kapitel 1

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Teil Haftungstatbestände Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5

Haftung für Pflichtverletzungen während der Betriebsführung (insbesondere gem. § 69 AO) . . . . . . . . . . . . . . Haftung bei Betriebs- bzw. Vermögensübergang . . . . . . Haftung in der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung nach besonderen Steuergesetzen . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

5 121 163 172

Duldungspflichten des Verwalters und Grundbesitzers (§ 77 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG) . . . . . . . .

221 223

3. Teil Duldungstatbestände Kapitel 6 Kapitel 7

4. Teil Verfahren und allgemeine Grundsätze des Haftungsrechts Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12

Im Vorfeld der Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . Einspruchsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klage- und Revisionsverfahren sowie weitere Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

......... .........

253 256

......... ......... .........

294 303 311

VII

Inhaltsbersicht

5. Teil Muster Seite

M1 M2 M3

Muster einer Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster eines Haftungsbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster eines Einspruchs gegen einen Haftungsbescheid . . . . . . . .

315 317 319

Anhang Anhang 1

Drittwirkung der Steuerfestsetzung (Verfügung OFD Hannover vom 29.9.2004) . . . . . . . . . . . . BFH-Rechtsprechung zu den häufigsten Einwendungen gegen Haftungsbescheide auf der Grundlage der §§ 191, 34, 69 AO (übernommen von der OFD Karlsruhe) Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung hinsichtlich der Haftung nach § 69 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung für betriebliche Steuern (ohne Abzugssteuern) . . Korrektur von Haftungsbescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung des Insolvenzverwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anleitung zur Bearbeitung von Haftungsfällen; Haftungsleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung der Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ABC der Haftungsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

..

321

..

325

. . . .

. . . .

352 367 371 382

.. .. ..

385 385 386

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

Anhang 2

Anhang 3 Anhang 4 Anhang 5 Anhang 6 Anhang 7 Anhang 8 Anhang 9

VIII

Literaturverzeichnis Weiterführende oder speziellere Literatur ist jeweils eingangs derjenigen Unterabschnitte aufgeführt, in welchen sie zitiert wird. Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 37. Aufl., München 2016 Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 21. Aufl., München 2017 Bax, Die Haftung nach allgemeinem Abgabenrecht aus steuer- und verfassungsrechtlicher Sicht, Baden-Baden 1992 Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, AO, FGO, Nebengesetze, Kommentar, Bonn (Loseblatt) Blümich, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, München (Loseblatt) Britz, Die Haftung des Geschäftsführers für Steuerschulden der GmbH, 2. Aufl., Herne/Berlin 2002 Brox/Henssler, Handelsrecht mit Grundzügen des Wertpapierrechts, 22. Aufl., München 2016 Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, 41. Aufl., München 2017 Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 10. Aufl., München 2014 Brox/Walker, Erbrecht, 27. Aufl., München 2016 Bunjes, Umsatzsteuergesetz, 15. Aufl., München 2016 Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl., München 2006 Castendiek, Probleme der durch einstweilige Verfügung und im Konkurseröffnungsverfahren angeordneten Sequestration, Diss. Heidelberg 1968 Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 8. Aufl., Heidelberg 2014 Goette, Die GmbH – Darstellung anhand der Rechtsprechung des BGH, 2. Aufl., München 2002 Goutier, Die Haftung im Steuerrecht, Herne/Berlin 1978 Gräber, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., München 2015 Gummert, Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 1: BGB – Gesellschaft, Offene Handelsgesellschaft, Partnerschaftsgesellschaft, Partenreederei, EWIV, 4. Aufl., München 2014, S. 356 ff. Gummert, Die Vorgesellschaft, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 3: Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 4. Aufl., München 2012, S. 229 ff. Guth/Ling, Abgabenordnung, Teil III: Steuerrechtliche Haftung, 2. Aufl., Stuttgart 1983 Haarmeyer/Wutzke/Förster, Handbuch zur Insolvenzordnung InsO/EGInsO, 3. Aufl., München 2001 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Aufl., Herne/Berlin 2013 Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Köln (Loseblatt) Heuermann/Wagner, Lohnsteuer, München (Loseblatt) IX

Literaturverzeichnis

Huber, Anfechtungsgesetz, 11. Aufl., München 2016 Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Köln (Loseblatt) Jakob, Abgabenordnung, 5. Aufl., München 2010 Kirchhof, EStG Kompakt-Kommentar, 15. Aufl., Heidelberg 2016 Klein, Abgabenordnung, 13. Aufl., München 2016 Koenig, Abgabenordnung, 3. Aufl., München 2014 Koller/Roth/Morck, Handelsgesetzbuch, 8. Aufl., München 2015 Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 17. Aufl., München 2016 Kraemer, Anfechtung steuerlicher Haftungs- und Duldungsbescheide, Stuttgart 1989 Kühn/v. Wedelstädt, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, 21. Aufl., Stuttgart 2015 Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, Kommentar, 19. Aufl., Köln 2016 Mösbauer, Die Haftung für die Steuerschuld, Köln u.a. 1990 Offerhaus/Söhn/Lange, Umsatzsteuer, Kommentar, Heidelberg (Loseblatt) Onusseit/Kunz, Steuern in der Insolvenz, 2. Aufl., Köln 1997 Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 76. Aufl., München 2017 Rau/Dürrwächter, Kommentar zum UStG, Köln (Loseblatt) Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl., München 2015 Schiessl, Die Haftung des Gesellschafters, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 3: Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 4. Aufl., München 2012, S. 557 ff. Schmidt, K., Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., Köln u.a. 2002 Schmidt, L., EStG. Einkommensteuergesetz, Kommentar, 36. Aufl., München 2017 Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, Freiburg (Loseblatt) Stöber, Zwangsversteigerungsgesetz, 21. Aufl., München 2016 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 2. Aufl., Köln 2000 Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar zur AO 1977 und FGO, Köln (Loseblatt) Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., Köln 2015 Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 14. Aufl., München 2015

X

Abkürzungsverzeichnis a.A. Abs. Abschn. AdV a.E. AEAO a.F. AG AktG allg. Alt. AnfG Anm. AO AO-StB Art. Aufl. AÜG BB Bd. Beschw. BFH BFH/NV

anderer Ansicht Absatz Abschnitt Aussetzung der Vollziehung am Ende Anwendungserlass zur Abgabenordnung 1977 (AEAO) vom 15. Juli 1998, BStBl. I 1998, 630 ff. alte Fassung Aktiengesellschaft Aktiengesetz allgemein Alternative Anfechtungsgesetz Anmerkung Abgabenordnung AO-Steuerberater Artikel Auflage Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

BStBl. BVerfG BVerfGE bzgl. bzw.

Betriebsberater Band Beschwerde Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH Sammlung amtlich veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs in der Zeitschrift BFH/NV Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundessteuerblatt Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des BVerfG bezüglich beziehungsweise

DB DBA d.h. DStR DStRE DStZ

Der Betrieb Doppelbesteuerungsabkommen das heißt Deutsches Steuerrecht Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst Deutsche Steuerzeitung

BFH/R BGB BGBl. BGH BGHZ

XI

Abkrzungsverzeichnis

EFG ErbStG ESt EStDV EStG EStR etc.

Entscheidungen der Finanzgerichte Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz Einkommensteuer Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz Einkommensteuer-Richtlinien et cetera

FA FG FGO Fn. FN-IDW FR FS

Finanzamt Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Fußnote Fachnachrichten – Institut der Wirtschaftsprüfer Finanz-Rundschau Festschrift

GbR gem. GenG GewSt GewStG GG GmbH GmbHG GmbHR GrESt GrStG GWR

Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß Gesetz betreffend Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Gewerbesteuer Gewerbesteuergesetz Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die GmbH GmbH-Rundschau Grunderwerbsteuer Grundsteuergesetz Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht

HFR HGB HHSp h.L. h.M. HS

Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Handelsgesetzbuch Hübschmann/Hepp/Spitaler herrschende Lehre herrschende Meinung Halbsatz

i.d.F. i. Gr. i. L. INF InsO i.S.d. i.V.m.

in der Fassung in Gründung in Liquidation Die Information über Steuer und Wirtschaft Insolvenzordnung im Sinne des in Verbindung mit

jM

juris – Die Monatszeitschrift

XII

Abkrzungsverzeichnis

KapSt KG KGaA KKZ KO KSt KStG KStZ

Kapitalertragsteuer Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kommunal-Kassen-Zeitschrift Konkursordnung Körperschaftsteuer Körperschaftsteuergesetz Kommunale Steuerzeitschrift

Lfg. LG LSt LStR

Lieferung Landgericht Lohnsteuer Lohnsteuer-Richtlinien

m.E. MHBeG MMR MoMiG m.w. Nachw.

meines Erachtens Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz MultiMedia und Recht Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen mit weiteren Nachweisen

n.F. NJW n.v. NWB NZB

neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift nicht veröffentlicht Neue Wirtschafts-Briefe Nichtzulassungsbeschwerde

OFD OHG OLG OVG

Oberfinanzdirektion Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht

RAO Rev. RFH RFHE rkr. Rspr. RStBl.

Reichsabgabenordnung Revision Reichsfinanzhof Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Reichsfinanzhofs rechtskräftig Rechtsprechung Reichssteuerblatt

sog. StB StBp StBW StEd SteuerStud StGB

sogenannte Die Steuerberatung Die steuerliche Betriebsprüfung Steuerberater Woche Steuer-Eildienst Steuer und Studium Strafgesetzbuch XIII

Abkrzungsverzeichnis

str. StRA StuB StuW StV

streitig Steuerrecht aktuell Unternehmensteuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Steuerliche Vierteljahresschrift

Tz.

Textziffer

u.a. UR Urt. USt UStG u.U.

unter anderem Umsatzsteuer-Rundschau Urteil Umsatzsteuer Umsatzsteuergesetz unter Umständen

VerglO Vfg. VG v.H. VO VSt VStG VwGO VwVfG VZ

Vergleichsordnung Verfügung Verwaltungsgericht vom Hundert (Prozent) Verordnung Vermögensteuer Vermögensteuergesetz Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Veranlagungszeitraum

WM

Wertpapiermitteilungen

z.B. ZfIR ZfZ Ziff. ZInsO ZIP ZPO ZVG

zum Beispiel Zeitschrift für Immobilienrecht Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Ziffer Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zivilprozessordnung Gesetz über Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung

XIV

1. Teil Einführung Kapitel 1 Grundlagen A. Zum Begriff Haftung . . . . . . . . . .

1.1

B. Zum Begriff Duldung. . . . . . . . . .

1.2

C. Rechtsgrund für Haftung und Duldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.3

D. Persönliche Haftung und Sachhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.5

E. Unbeschränkte und beschränkte Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.6

A. Zum Begriff Haftung Die steuerrechtliche Haftung ist der Steuerschuld gegenüberzustellen. Steuer- 1.1 schulden sind Forderungen des Fiskus gegen den Steuerpflichtigen aufgrund von verwirklichten Tatbeständen, an die das Gesetz eine Leistungspflicht knüpft (vgl. § 38 AO). Da diese Steuerschulden ohne Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen des Steuerpflichtigen entstehen, sind diese Ansprüche oft nicht oder nur sehr schwer durchsetzbar. Deshalb hat der Gesetzgeber zur Sicherung von Steueransprüchen materiell-rechtliche Haftungstatbestände geschaffen, die neben oder anstelle der Steuerschulden eigene Anspruchsgrundlagen gegen Dritte darstellen. Haftung bedeutet daher ein Einstehen des Haftungsschuldners oder Haftenden für eine fremde Steuerschuld.1 Dabei ist zu beachten, dass die steuerrechtliche Haftung in bestimmten Fällen sogar der Steuerschuld vorgeht. So kann beispielsweise im Falle des § 42d Abs. 3 Satz 4 EStG unter Umständen nicht der Steuerschuldner (= Arbeitnehmer), sondern nur der Haftungsschuldner (= Arbeitgeber) in Anspruch genommen werden.

B. Zum Begriff Duldung Die steuerrechtliche Duldung stellt wie die steuerrechtliche Haftung eine 1.2 fremde Leistungspflicht dar. Jedoch geht es hier nicht um die Begründung eigener materiell-rechtlicher Ansprüche des Staates gegen Dritte, sondern um die Wegnahme von Einwendungen des Dritten, die diesem ansonsten aus seiner 1 BFH, Urt. v. 19.10.1976 – VII R 63/73, BStBl. II 1977, 255 (256 f.); Urt. v. 2.5.1984 – VIII R 239/82, BStBl. II 1984, 695 (696); Urt. v. 12.10.1999 – VII R 98/98, BStBl. II 2000, 486 (487); Beschl. v. 11.7.2001 – VII R 28/99, BFH/NV 2001, 1467; Urt. v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755; Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 10; Britz, Rz. 4; Mösbauer, S. 3. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht der BFH in den Fällen, in denen Steuerschuld und Zahlungsverpflichtung auseinanderfallen (z.B. bei der Lohnsteuer). Hier soll Haftung auch Einstehen für die eigene Schuld bedeuten können (BFH, Urt. v. 15.4.1987 – VII R 160/83, BStBl. II 1988, 167 [168]; Urt. v. 7.3.2006 – X R 8/05, BFH/NV 2006, 1378); a.A. Halaczinsky, Rz. 1.

1

Kap. 1 Grundlagen

Rechtsstellung zugestanden hätten (z.B. als Eigentümer, Besitzer). Duldungstatbestände enthält § 77 AO. Darüber hinaus ergeben sie sich insbesondere aus dem Anfechtungsgesetz.

C. Rechtsgrund für Haftung und Duldung 1.3

Rechtsgrundlage für die steuerliche Haftung und Duldung ist entweder das Gesetz oder – selten – ein Rechtsgeschäft. Den materiell-rechtlichen Vorschriften tritt das Verfahrensrecht zur Seite. Gem. § 191 AO kann die Finanzverwaltung ihre Haftungsansprüche und die Duldungspflichten mit Hilfe eines Haftungsoder Duldungsbescheids durchsetzen. Dabei ist unerheblich, ob der Haftungsanspruch oder die Duldungspflicht aus dem öffentlichen Recht oder Privatrecht herrührt.

1.4

Das steuerliche Haftungsrecht ist – wie kein anderes Rechtsgebiet – durchdrungen von privat- und öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Neben den speziellen steuerrechtlichen Verfahrensvorschriften (z.B. § 191 AO) und speziellen steuerrechtlichen Haftungsvorschriften (z.B. § 42d EStG) kommen zivilrechtliche Haftungsgrundlagen (z.B. § 128 HGB) und das privatrechtliche Anfechtungsrecht (s. AnfG) zur Anwendung.1 Abgesehen von wenigen Ausnahmen, in denen steuerrechtliche Aussagen der privatrechtlichen Terminologie vorgehen, kann man feststellen, dass sich die verschiedenen Rechtsgebiete rechtstechnisch ohne Reibungsverluste ergänzen. Als Beispiel sei hier auf das Anfechtungsrecht hingewiesen, das sich mit Hilfe von Duldungsbescheiden ohne Mühe auch im Steuerrecht anwenden lässt. Zwar fordert Tipke, dass sich im Steuerrecht gegenüber dem Privatrecht eine spezifische Terminologie entwickeln müsse2; doch im Haftungsrecht sollte m.E. bei Auslegungsproblemen konsequent der Vorrang des jeweils betroffenen Rechtsgebietes gelten. Geht es also z.B. um die Frage, ob die Voraussetzungen einer privatrechtlichen Haftungsnorm erfüllt sind, so hat sich die Antwort am Privatrecht zu orientieren. Ein Verwischen der Grenzen zwischen diesen Rechtssphären beeinträchtigt die Aussagekraft der gefundenen Lösung.

D. Persönliche Haftung und Sachhaftung 1.5

Im Steuerrecht ist zu unterscheiden zwischen persönlicher Haftung und Sachhaftung. Bei der persönlichen Haftung geht es um die Haftung des Vermögens des Haftungsschuldners oder gegenständlich begrenzter Teile desselben, während die Sachhaftung die Haftung eines Gegenstandes für eine bestimmte Steuerschuld bedeutet. Z.B. ist eine solche Sachhaftung in § 76 AO geregelt. Danach sind Gegenstand der Haftung Sachen, auf denen nach dem Zolltarif bzw. Verbrauchsteuergesetzen Zölle oder Verbrauchsteuern ruhen. Die Haftung besteht

1 Kritisch zur Anwendung zivilrechtlicher Haftungsvorschriften Seer in Tipke/Lang, § 6 Rz. 77. 2 Tipke, S. 53.

2

E. Unbeschrnkte und beschrnkte Haftung

unabhängig davon, ob der Eigentümer der Gegenstände auch Schuldner ist. Gutgläubiger lastenfreier Erwerb ist ausgeschlossen.1

E. Unbeschränkte und beschränkte Haftung Neben der Prüfung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Haftungs- 1.6 norm ist stets auch zu beachten, ob die Haftung beschränkt oder unbeschränkt ist. Bei der unbeschränkten Haftung unterliegt das gesamte Vermögen des Haftungsschuldners dem Zugriff der Finanzbehörde. Dagegen kommt bei der beschränkten Haftung nur eine Haftung mit Teilen des Vermögens in Betracht. Diese Differenzierung gilt für steuerrechtliche Haftungsnormen und privatrechtliche Haftungsgrundlagen gleichermaßen. Aus folgender Übersicht kann entnommen werden, wer beschränkt oder unbeschränkt haftet2: Übersicht zur beschränkten und unbeschränkten Haftung Unbeschränkte Haftung nach folgenden Vorschriften

1.7

Beschränkte Haftung nach folgenden Vorschriften

1) Steuerrechtliche Normen 1) Steuerrechtliche Normen – § 74 AO Haftung des Eigentümers – § 69 AO Haftung des Vertreters von Gegenständen – § 71 AO Haftung des Steuerhinter– § 75 AO Haftung des Betriebsüberziehers nehmers – § 72 AO Haftung bei Verletzung der Pflicht aus § 154 Abs. 3 AO: Haftung unbeschränkt mit dem gesamten Vermögen, aber wertmäßig begrenzt durch den Wert des Herausgegebenen – § 72a AO Haftung Dritter bei Datenübermittlungen an Finanzbehörden – § 73 AO Haftung bei Organschaft – § 42d EStG Haftung des Arbeitgebers – § 50a EStG Haftung des Vergütungsschuldners 2) Privatrechtliche Normen 2) Privatrechtliche Normen – §§ 171–176 HGB Haftung der – analog § 128 HGB Haftung der GeKommanditisten sellschafter einer GbR – § 128 HGB Haftung der OHG-Gesellschafter – §§ 161, 128 HGB Haftung der Komplementäre einer KG – § 25 HGB Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäfts – § 28 HGB Haftung bei Teilhaberaufnahme – Haftung nach Rechtsscheinsgrundsätzen

1 Halaczinsky, Rz. 8. 2 Vgl. auch Halaczinsky, Rz. 10.

3

2. Teil Haftungstatbestände Kapitel 2 Haftung für Pflichtverletzungen während der Betriebsführung (insbesondere gem. § 69 AO) A. Haftung des Vertreters, Verfügungsberechtigten bzw. Handelnden (insbesondere gem. § 69 AO) I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung gem. § 69 AO . . . . . . . . . 1. Haftender Personenkreis . . . . . . . a) Gesetzliche Vertreter . . . . . . . aa) Gesetzliche Vertreter natürlicher Personen . . . . bb) Gesetzliche Vertreter juristischer Personen . . . . b) Geschäftsführer nichtrechtsfähiger Personenvereinigungen und Vermögensmassen . . . . . . c) Mitglieder und Gesellschafter nichtrechtsfähiger Personenvereinigungen und Inhaber nichtrechtsfähiger Vermögensmassen . . . . . . . . . . . . . . . d) Vermögensverwalter (§ 34 Abs. 3 AO). . . . . . . . . . . . e) Verfügungsberechtigte (§ 35 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die weiteren Voraussetzungen der Haftung a) Nicht- bzw. nicht rechtzeitige Festsetzung oder Erfüllung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis als Haftungsschaden. . . . . . . . . . . aa) Anspruch nicht festgesetzt bb) Anspruch nicht rechtzeitig festgesetzt . . . . . . . . . . . . . cc) Anspruch nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt . . . . . . . dd) Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt b) Pflichtverletzung aa) Zeitraum der Pflichtverletzung. . . . . . . . . . . . . . . . bb) Formen der Pflichtverletzung. . . . . . . . . . . . . . . . cc) Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung der Finanzbehörde. . . . . . . . . .

2.1 2.4 2.7 2.10 2.11 2.16 2.20

2.24 2.26 2.27

2.39 2.43 2.44 2.45 2.49 2.50 2.54 2.65

dd) Ausnahmen vom Grundsatz der anteiligen Tilgung (1) Einzelne Fallgruppen . . . . (2) Haftungsrechtliche Schlussfolgerungen für die Ausnahmefälle . . . . . . ee) Mittelverwendungsrechnung. . . . . . . . . . . . . . ff) Schätzung der Tilgungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Pflichten bei Aussetzung der Vollziehung, Stundung und Aufrechnungslage . . . c) Ursächlichkeit der Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überholende Kausalität . . bb) Kausalität und Anfechtungsmöglichkeit durch Insolvenzverwalter . . . . . d) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . aa) Beauftragung eines Mitarbeiters . . . . . . . . . . . bb) Beauftragung eines Steuerberaters . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verschulden bei mehreren Vertretern . . . . . . . . . . . . . dd) Verschulden des Strohmanns . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Verschulden des Prokuristen. . . . . . . . . . . . ff) Verschulden von Vereinsvertretern . . . . . . . . . . . . . gg) Verschulden des Nachfolgegeschäftsführers . . . . hh) Mitverschulden der Finanzbehörde . . . . . . . . . ii) Pflichtenkollision zur zivilrechtlichen Pflicht aus § 64 GmbHG . . . . . . . 3. Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . a) Säumniszuschläge . . . . . . . . . b) Verspätungszuschläge . . . . . . c) Lohnsteuer auf den Arbeitslohn des Vertreters . . . . . . . . . 4. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Haftung gem. § 11 Abs. 2 GmbHG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.69 2.92 2.97 2.109 2.118 2.121 2.128 2.130 2.132 2.140 2.143 2.149 2.152 2.153 2.157 2.159 2.160 2.161 2.163 2.164 2.169 2.171 2.172 2.173

5

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

IV. Schadensersatz nach § 823 BGB . B. Haftung des Arbeitgebers für Lohnsteuer (§ 42d Abs. 1 EStG) und die Haftung bei Arbeitnehmerüberlassung (§ 42d Abs. 6 EStG) . . . . . . . . . . . I. Haftung des Arbeitgebers für Lohnsteuer (§ 42d Abs. 1 EStG). . 1. Voraussetzungen der Haftung a) Haftungsschuldner . . . . . . . . . b) Haftungstatbestände aa) § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG . . bb) § 42d Abs. 1 Nr. 2 EStG . . cc) § 42d Abs. 1 Nr. 3 EStG . . dd) § 42d Abs. 1 Nr. 4 EStG . . c) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . d) Drittzahlung des Lohns und Lohnsteuerabzugspflicht Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolgen a) Haftungsumfang . . . . . . . . . . . b) Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entstehung, Bagatellgrenze und Haftungsausschluss . . . . . 3. Verfahren a) Bestimmtheit eines Lohnsteuerhaftungsbescheides . . . . b) Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Anfechtungsberechtigte . . c) Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO. . . . . . . . . . . . d) Verhältnis der Lohnsteuerhaftung zur Pauschalierung der Lohnsteuer aa) Falsche verfahrensrechtliche Behandlung . . . . . . . bb) Wahlrecht des Arbeitgebers (1) Haftung oder Pauschalierung . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Wechsel von Pauschalierung zur Haftung . . . . . (3) Wechsel von der Haftung zur Pauschalierung . . . . . . II. Haftung bei Arbeitnehmerüberlassung (§ 42d Abs. 6 EStG) . . . . . 1. Haftungsvoraussetzungen . . . . . . 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . C. Haftung der Gesellschafter . . . . . I. BGB-Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . 1. Haftung nach bürgerlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung nach Steuerrecht . . . . . . 3. Haftungsbeschränkung . . . . . . . .

6

2.175

2.182 2.184 2.189 2.190 2.217 2.218 2.219 2.220 2.221 2.222 2.224 2.227 2.229 2.232 2.236

2.237

2.238 2.239 2.240 2.242 2.245 2.251 2.257 2.258 2.259 2.261 2.264

4. Rechtsscheinshaftung und Haftungsausschluss . . . . . . . . . . a) Haftung des ausgeschiedenen Gesellschafters . . . . . . . . . . . . b) Haftung des eintretenden Gesellschafters . . . . . . . . . . . . c) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gesellschafterstellung . . . d) Nachhaftung . . . . . . . . . . . . . . 5. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Offene Handelsgesellschaft . . . . III. Kommanditgesellschaft . . . . . . . IV. Gesellschaft mit beschränkter Haftung 1. Gründungsstadien. . . . . . . . . . . . 2. Vorgründungsgesellschaft. . . . . . 3. Gründungsgesellschaft oder Vor-GmbH a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftungsverfassung der Vor-Gesellschaft aa) „Echte“ Vor-GmbH (1) Aktuelle Rechtslage. . . . . (2) Kritik des Schrifttums . . . (3) Konsequenzen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Unechte“ Vor-GmbH. . . c) Spezielle Haftungsnormen. . . 4. Eingetragene Gesellschaft mit beschränkter Haftung a) Keine Haftung der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchgriffshaftung oder Innenhaftung?. . . . . . . . . . . . . c) Spezielle Haftungsvorschriften. . . . . . . . . . . . . . . V. Sonstige Gesellschaftsformen . . D. Sonstige Haftende . . . . . . . . . . . . I. Haftung von Vereinsmitgliedern 1. Nichtrechtsfähiger Verein . . . . . 2. Rechtsfähiger Verein in seinen Entstehungsphasen a) Vorgründungsverein . . . . . . . . b) Vorverein. . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfähiger Verein . . . . . . . 3. Haftung nach Auflösung des Vereins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung von Genossenschaftsmitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Haftung bei einer englischen „private limited company“ . . . . IV. Haftung bei einer Unternehmergesellschaft (UG – haftungsbeschränkt –) . . . . . . . . . . . . . . . .

2.265 2.266 2.267 2.270 2.273 2.274 2.278 2.285

2.292 2.293 2.295

2.296 2.298 2.300 2.303 2.305

2.307 2.308 2.318 2.323 2.328 2.329 2.330 2.331 2.332 2.334 2.335 2.336 2.337

2.339

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

A. Haftung des Vertreters, Verfügungsberechtigten bzw. Handelnden (insbesondere gem. § 69 AO) I. Einführung In diesem Abschnitt werden die Haftungsnormen behandelt, die sich auf Pflicht- 2.1 verletzungen während der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit des Unternehmers beziehen. Dabei werden diejenigen steuerlich relevanten Haftungsgrundlagen genauer betrachtet, die auch in der Praxis häufig von den Finanzbehörden herangezogen werden bzw. werden könnten. Zuerst ist daher die Haftung des Vertreters zu untersuchen. Die Haftung des Geschäftsführers einer GmbH macht neben der Lohnsteuerhaftung den größten Anteil an den Haftungsfällen der Finanzbehörden aus.1 Im Folgenden wird – wegen der besonderen Bedeutung für die Praxis – zunächst 2.2 ausführlich die Haftung der in den §§ 34 und 35 AO genannten Personen nach § 69 AO (Vertreterhaftung) behandelt und anschließend kurz auf die Haftung nach § 11 Abs. 2 GmbHG (Handelndenhaftung) eingegangen. „Haften“ bedeutet „Einstehen müssen“ für die Erfüllung einer Schuld.2 Bei den Ansprüchen gem. § 69 AO – wie auch bei § 11 Abs. 2 GmbHG – handelt es sich um fremde Schulden, so dass „Haften“ als „Einstehen müssen“ für fremde Verbindlichkeiten verstanden werden muss.3 Daher ist der aus diesen Haftungsvorschriften Verpflichtete im Gegensatz zum Steuerschuldner als Haftungsschuldner zu bezeichnen. Somit hat er neben dem Steuerpflichtigen für die Steuerschuld einzustehen. Die Vertreterhaftung nach § 69 AO und die Handelndenhaftung nach § 11 Abs. 2 2.3 GmbHG ist ihrer Art nach eine persönliche und unbeschränkte Haftung. Die unbeschränkte Haftung bedeutet, dass die haftende Person mit ihrem ganzen Vermögen für die Schuld einstehen muss.

II. Haftung gem. § 69 AO Schrifttum: Hoffmann, Haftung des GmbH-Geschäftsführers für einbehaltene Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuer, DB 1986, 467; Lohmeyer, Haftung des Prokuristen für betriebliche Steuerschulden, INF 1988, 268; Spetzler, Die Einschränkung der Haftung des GmbH-Geschäftsführers in § 69 AO durch den Grundsatz der anteiligen Tilgung, GmbHR 1989, 167; Buciek, Zum Einfluss von Lohnsteuerschulden und Lohnsteuerzahlungen auf die Geschäftsführerhaftung für Umsatzsteuer, BB 1989, 2303; Friedl, Die Haftung des Geschäftsführers für Umsatzsteuerschulden der GmbH und der Grundsatz der anteiligen Befriedigung aller Gläubiger, DStR 1989, 162; Friedl, Nochmals: Geschäftsführerhaftung und Grundsatz der anteiligen Tilgung, UR 1992, 38; Prugger, GmbH-Geschäftsführerhaftung für Umsatzsteuer und Lohnsteuer, INF 1988, 265 u. INF 1988, 510; Prugger, GmbH-Geschäftsführerhaftung für Betriebssteuern, INF 1990, 343; Carl, Die steuerliche Haftung des 1 Zu Regressansprüchen des Geschäftsführers gegen seinen steuerlichen Berater wegen der Haftungsinanspruchnahme vgl. BGH, Beschl. v. 13.10.2011 – IX ZR 193/10, GmbHR 2012, 97. 2 BFH, Urt. v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755. 3 BFH, Urt. v. 19.10.1976 – VII R 63/73, BStBl. II 1977, 255 (256); Urt. v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755.

7

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung Geschäftsführers einer GmbH, INF 1992, 169; Schuhmann, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers nach GmbH-Gesetz und nach Steuerrecht, StBp 1992, 7; Beermann, AO-Geschäftsführerhaftung und ihre Grenzen nach der Rechtsprechung des BFH, DStR 1994, 805; Mösbauer, Die Vertretungs- und Verfügungsmacht nach den §§ 34 und 35 AO als Tatbestandsmerkmal der Haftung nach § 69 AO, DB 1995, 1679; Goette, Zur persönlichen Haftung des Geschäftsführers einer GmbH gegenüber Dritten aus Geschäften, die nach Eintritt der Konkursreife mit ihnen geschlossen werden, DStR 1994, 1048; Medicus, Haftung des GmbH-Geschäftsführers gegenüber Dritten aus Geschäften nach Konkursreife, DStR 1995, 1432; Wimmer, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, NJW 1996, 2546; Kerkhoff, Die steuerliche Haftung des GmbH-Geschäftsführers, NWB Fach 18, 3429; Urban, Je strafbarer, desto haftungsfreier? Zur steuerlichen Quotenhaftung des GmbH-Geschäftsführers nach §§ 69, 34 AO bei Konkursverschleppung, DStR 1997, 1145; Biletzki, Steuerrechtliche Haftung des GmbH-Geschäftsführers nach Eintritt der Konkursreife, NJW 1997, 1548; Buciek, Geschäftsführerhaftung und Insolvenzverfahren, DStZ 2002, 112; Breuer, Steuerhaftung des Geschäftsführers, AO-StB 2002, 115 (Teil 1) u. 157 (Teil 2); Müller, Die steuerliche Haftung des GmbH-Geschäftsführers in der Krise, GmbHR 2003, 389; Haunhorst, Die Haftung des Vertreters für Umsatzsteuerschulden der Gesellschaft, DStR 2003, 1907; Werner, Die Haftung des Vorstands für Steuerschulden des Vereins, INF 2004, 20; Sontheimer, Beschränkung der Haftung des Geschäftsführers nach § 69 AO durch § 64 Abs. 2 GmbHG, DStR 2004, 1005; Blesinger, Haftung und Duldung im Steuerrecht, Stuttgart 2005, S. 20 ff.; Mösbauer, Zum Umfang der steuerrechtlichen Haftung der gesetzlichen Vertreter, Vermögensverwalter und Verfügungsberechtigten nach § 69 AO, DB 2005, 1816; Kapischke, Volle und anteilige Haftung nach § 69 AO, NWB Fach 2, 8847; Nacke, Die steuerrechtliche Haftung des Prokuristen nach § 69 AO, AO-StB 2006, 189; Schießl/Küpperfahrenberg, Steuerrechtliche Haftung der Vorstände von Vereinen und Verbänden – Risiko, Vermeidungsstrategie, Versicherbarkeit, DStR 2006, 445; Tiedtke, Haftungsbescheid gegen einen Geschäftsführer, der die von der GmbH geschuldeten Löhne aus seinem Privatvermögen gezahlt hat, GmbHR 2007, 21; Müller, Mitverschulden des Finanzamts?, AO-StB 2007, 19; Bruschke, Die Haftung des Vorstandes im gemeinnützigen Verein, StB 2007, 296; Nacke, Die Haftung des Geschäftsführers nach § 69 AO, SteuerStud 2010, 262; Kamps/Schwedhelm, Haftung des Vorstands für Steuerschulden der AG, AG 2011, 586; Ehlers, Die persönliche Haftung von ehrenamtlichen Vereinsvorständen, NJW 2011, 2689; Berninghaus, Der Geschäftsführer-Haftungsbescheid im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 2012, 1001; Burschke, Die „Geschäftsführerhaftung“ nach § 69 AO, DStZ 2012, 407; Nacke, Steuerliche Haftung in der Insolvenz, DB 2013, 1628; Nacke, Ungeklärte Rechtsfragen des steuerlichen Haftungsrechts, DStR 2013, 335; Krause/Meier, Fallgruppen zur Haftung des „faktischen“ GmbH-Geschäftsführers im Steuerrecht, DStR 2014, 905; Skauradszun/Schmidt, Detailfragen zur steuerlichen Haftung des Insolvenzverwalters, ZInsO 2014, 1784; Sonnleitner/Winkelhog, Unternehmen saniert, Geschäftsführer pleite? – Zur steuerrechtlichen Haftung von Geschäftsführer und Vorstand in der Krise und im Rahmen der vorläufigen Eigenverwaltung, BB 2015, 88; Rose, Haftung des Insolvenzverwalters nach § 69 AO bei Masseunzulänglichkeit, ZIP 2016, 1520; Hannig, Haftung des GmbH-Geschäftsführers für Steuerschulden, SteuerStud 2016, 338. Verwaltungsanweisungen: AO-Handbuch 2017

2.4

Die Haftung des Vertreters nach §§ 34 Abs. 1, 69 AO kommt in der Praxis – wie schon erwähnt – sehr häufig vor. Insbesondere liegt dies an der hohen Zahl der Insolvenzen bei dem Gesellschaftstyp GmbH. Hier liegt eine Haftung des Geschäftsführers meistens sehr nahe. Doch erfassen die §§ 34 Abs. 1 und 35 AO auch andere potentiell Haftende, so dass zunächst der Kreis der in Frage kommenden Haftungsschuldner geklärt werden muss (s. hierzu Rz. 2.7 ff.).

2.5

Die Haftung der für den Steuerschuldner tätig werdenden Personen gem. § 69 AO ist eine schon lange bestehende Einstandspflicht. § 69 AO beruht auf der 8

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Vorschrift des § 109 RAO als seinem direkten Vorgänger, der wiederum identisch war mit § 90 AO 1919.1 Der jetzt geltende § 69 AO entspricht im Wesentlichen der Vorschrift des § 109 RAO. Ebenso wie bei § 109 RAO2 kann auch die Haftungsnorm nach § 69 AO nicht 2.6 durch privatrechtliche Vereinbarung abbedungen werden, denn sie ist eine öffentlich-rechtliche Haftungsnorm.3 Der Zweck der Vorschrift ist es, Steuerausfälle auszugleichen, die durch schuldhafte Pflichtverletzung von für den Steuerschuldner tätig gewordenen Personen verursacht worden sind.4 Die Haftungsnorm hat damit einen Schadensersatzcharakter.5 Die Vorschrift des § 69 AO ist – wie der BFH entschieden hat – verfassungsgemäß.6 1. Haftender Personenkreis Eine Haftung nach § 69 AO erstreckt sich nur auf die in den §§ 34 und 35 AO ge- 2.7 nannten Personen. Es kommen insbesondere die gesetzlichen Vertreter juristischer oder natürlicher Personen, Personen, die für nicht rechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen die Geschäfte führen (= geschäftsführende Personen), Vermögensverwalter und Verfügungsberechtigte als Haftende in Betracht. Alle diese Personen treten durch die §§ 34 und 35 AO in ein unmittelbares Pflichtenverhältnis zur Finanzverwaltung.7 Gem. § 36 AO gehen mit Erlöschen der Vertretungs- oder der Verfügungsmacht 2.8 nicht die Pflichten für die betreffenden Zeiträume, in der die Vertretungs- oder Verfügungsmacht noch bestand, unter. Somit kann z.B. ein in Anspruch genommener Geschäftsführer nicht damit gehört werden, er sei erst nach Niederlegung des Amtes in Haftung genommen worden.8 Wird der Steuerpflichtige von mehreren Vertretern oder Bevollmächtigten ver- 2.9 treten bzw. handeln mehrere Verfügungsberechtigte für ihn, so trifft jeden grundsätzlich die Verantwortung für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten. Im Rahmen des Verschuldens bzw. bei der Ermessensausübung kann aber die interne Zuständigkeit der Betroffenen von Bedeutung sein.

1 2 3 4 5

Paulick in HHSp, § 109 RAO Rz. 1. Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 1. Halaczinsky, Rz. 32. Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 1; Halaczinsky, Rz. 32. BFH, Urt. v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859 (860) = BFHE 153, 512; Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678; Beschl. v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7; Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (272); Urt. v. 26.1.2016 – VII R 3/15, BFH/NV 2016, 893; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 1; Halaczinsky, Rz. 32; Blesinger, S. 21. 6 BFH, Urt. v. 21.1.1972 – VI R 187/68, BStBl. II 1972, 366; vgl. auch Bax, S. 59 u. S. 66 ff.; Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 11. 7 Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 9; vgl. auch Mösbauer, DB 1995, 1679. 8 Halaczinsky, Rz. 51 m.w.N.; Mösbauer, DB 1995, 1679 (1681).

9

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

a) Gesetzliche Vertreter 2.10

Gesetzliche Vertreter natürlicher und juristischer Personen haften gem. §§ 34 Abs. 1, 69 AO für Steuerschulden des Vertretenen. Obwohl im Steuerrecht die Vertretung eine andere Funktion wahrnimmt als im Zivilrecht, knüpft hier die Vorschrift an das bürgerliche Recht an. Es sind hier mit „gesetzliche Vertreter natürlicher und juristischer Personen“ diejenigen nach bürgerlichem Recht gemeint.1 aa) Gesetzliche Vertreter natürlicher Personen

2.11

Gemeint ist hier nicht eine rechtsgeschäftliche Vertretung nach den §§ 164 ff. BGB, sondern eine Vertretungsmacht, die sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt.2 Natürliche Personen werden nach BGB gesetzlich vertreten, wenn sie entweder geschäftsunfähig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt sind. Geschäftsunfähig ist, wer das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 104 Nr. 1 BGB) oder wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2 BGB). Beschränkt geschäftsfähig ist, wer das siebente Lebensjahr, aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat (§§ 2, 106 BGB). Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige dürfen keine Rechtsgeschäfte bzw. nur bestimmte Rechtsgeschäfte vornehmen. Für sie handeln ihre gesetzlichen Vertreter. In den Bereichen, in denen der beschränkt Geschäftsfähige Rechtsgeschäfte tätigen darf, und für Rechtsgeschäfte, für die sein gesetzlicher Vertreter ihn ermächtigt hat (§§ 112, 113 BGB), ist der Minderjährige unbeschränkt geschäftsfähig. Gesetzliche Vertreter können die Eltern oder ein Elternteil (§§ 1626 ff. BGB), ein Vormund (§§ 1773 ff. BGB), ein Betreuer (§§ 1896 ff. BGB), ein Pfleger (§§ 1909 ff. BGB) sein.

2.12

Die Eltern vertreten grundsätzlich gemeinsam die ehelichen minderjährigen Kinder (§ 1629 Abs. 1 BGB, Gesamtvertretung). Ein Elternteil kann aber den anderen Elternteil ermächtigen, in bestimmten Angelegenheiten das Kind zu vertreten. Ohne Zustimmung des anderen Elternteils können getätigte Rechtsgeschäfte noch nachträglich genehmigt werden (§ 1629 Abs. 1 i.V.m. § 177 BGB). Die Vertretung des Kindes durch die Eltern hat aber Grenzen. In den Fällen der §§ 1821 und 1822 Nr. 1, 3, 5, 8–11 BGB ist die Genehmigung des Familiengerichts erforderlich. Weiterhin kommt eine Vertretung dann nicht in Betracht, wenn es sich um sog. Insichgeschäfte handelt, wenn also z.B. die Eltern mit sich selbst als Vertreter des minderjährigen Kindes einen Vertrag abschließen (§§ 1629 Abs. 2, 1795, 181 BGB). In diesen Fällen ist ein Ergänzungspfleger gem. § 1909 BGB zu bestellen.

2.13

Ein Vormund ist der gesetzliche Vertreter minderjähriger Kinder, wenn eine elterliche Sorge fehlt bzw. wenn die Eltern nicht zur Vertretung des Minderjährigen berechtigt sind (§ 1773 Abs. 1 BGB). Jedoch ist auch er in der Vertretungsbefugnis in gleicher Weise eingeschränkt wie die Eltern (§§ 1795, 1821, 1822 BGB). 1 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 10. 2 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 11.

10

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Weitere gesetzliche Vertreter sind ferner die anderen Fälle der Pflegschaften für 2.14 natürliche Personen, wie z.B. der Pfleger für Abwesende (§ 1911 BGB), der Pfleger für unbekannte Beteiligte (§ 1913 BGB) und der Nachlasspfleger (§ 1960 BGB). Letzterer wird bestellt, wenn die Erben noch ermittelt werden müssen bzw. der Nachlass bis zur Annahme der Erbschaft gesichert und erhalten werden muss. Vor einigen Jahren ist das Betreuungsrecht geschaffen worden. Für bestimmte 2.15 Aufgaben wird dem Volljährigen, der aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten nicht ganz oder teilweise besorgen kann, ein Betreuer zugeordnet. Der Betreuer ist für den Aufgabenbereich, für den er bestellt ist, gesetzlicher Vertreter gem. § 1902 BGB. Jedoch kann auch in diesen Aufgabenbereichen der Betreute, soweit er geschäftsfähig ist, rechtswirksam handeln (vgl. aber die Einschränkung in § 1903 BGB).1 Gehören zum Aufgabenbereich, für den der Betreuer bestellt ist, auch steuerliche Angelegenheiten, so haftet er im Fall der Pflichtverletzung auch nach §§ 34 Abs. 1, 69 AO.2 bb) Gesetzliche Vertreter juristischer Personen Neben natürlichen Personen kommen als selbständige Rechtssubjekte auch 2.16 sog. juristische Personen in Betracht. Juristische Personen sind Organisationen, die entweder vom Bestand ihrer Mitglieder unabhängig sind (z.B. Kapitalgesellschaften) oder die zur Verfolgung eines bestimmten Zwecks geschaffen und mit einem diesem Zweck gewidmeten Vermögen ausgestattet sind (z.B. rechtsfähige Stiftungen).3 Von juristischen Personen des Privatrechts lassen sich solche des öffentlichen Rechts unterscheiden. Zu den juristischen Personen des Privatrechts gehören insbesondere rechtsfähige Vereine, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Aktiengesellschaften, Genossenschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und rechtsfähige Stiftungen. Zu den juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören die Gebietskörperschaften (Gemeinde, Land, Bund), sonstige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (z.B. Religionsgemeinschaften, berufsständische Organisationen und Sparkassen). Da juristische Personen nicht selbst handeln können, treten sie nach außen 2.17 durch ihre Organe auf. Diese sind zwar nicht Vertreter im eigentlichen Sinne, d.h., sie handeln als Organe nicht anstelle eines anderen, sondern es ist ein Handeln der juristischen Person; doch kommt ihnen nach bürgerlichem Recht die Stellung eines gesetzlichen Vertreters zu (vgl. z.B. § 26 Abs. 2 Satz 1 2. HS BGB).4 Im Einzelnen lassen sich folgende Organe unterscheiden5:

1 Diederichsen in Palandt, § 1902 BGB Rz. 5. 2 BGH, Urt. v. 18.9.1975 – II ZB 6/74, BB 1975, 1452; BFH, Urt. v. 29.1.1976 – IV R 102/73, BStBl. II 1976, 328; Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 18. 3 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 20. 4 Ellenberger in Palandt, § 26 BGB Rz. 1; Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 23. 5 Vgl. auch Mösbauer, DB 1995, 1679.

11

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

– Vorstand des rechtsfähigen Vereins (§ 26 BGB)1, der rechtsfähigen Stiftung (§§ 26, 86 BGB), der AG (§ 78 AktG)2, der Genossenschaft (§ 24 GenG)3, des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit (§ 188 Abs. 1 Satz 2 VAG i.V.m. § 78 AktG); – Vorsitzender eines Vereins4; – Geschäftsführer der GmbH (§ 35 GmbHG); – persönlich haftender Gesellschafter der KGaA (§ 278 Abs. 2 AktG, §§ 125, 161, 170 HGB); – Abwickler bzw. Liquidator der AG (§ 269 AktG), der Genossenschaft (§ 88 GenG), des rechtsfähigen Vereins (§ 48 BGB) und der GmbH (§ 70 GmbHG5); – Sparkassenvorstand; – Bürgermeister der Gemeinde; – Minister der Länder und des Bundes. 2.18

Die Haftung der oben genannten Vertreter – insbesondere die Haftung des Geschäftsführers einer GmbH – ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des BFH allein aus seiner nominellen Bestellung ohne Rücksicht darauf, ob die Geschäftsführung auch tatsächlich ausgeübt werden kann.6 Der „Strohmann“ kann sich daher nicht auf seine Stellung als „Strohmann“ berufen. Der GmbH-Geschäftsführer kann sich nicht damit entschuldigen, dass er von der ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte ferngehalten wird und die Geschäfte tatsächlich von einem anderen geführt worden sind. Ist der Geschäftsführer nicht in der Lage, sich innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und seiner Rechtsstellung gemäß zu handeln, so muss er als Geschäftsführer zurücktreten und darf nicht im Rechtsverkehr den Eindruck erwecken, als sorge er für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte.7

2.19

Beispiel: Die Gesellschafter einer GmbH sind die Eheleute X. Die Ehefrau wird zur Geschäftsführerin bestellt. Jedoch überlässt sie die gesamte Führung des Unternehmens ihrem Ehemann. Wegen der formellen Bestellung zur Geschäftsführerin kann sich die Ehe1 BFH, Urt. v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814; FG Münster, Urt. v. 23.6.2004 – 7 K 5035/00 L, juris; FG Hamburg, Urt. v. 26.1.2017 – 6 K 132/16, juris; vgl. zur Beschränkung der Haftung Schießl/Küpperfahrenberg, DStR 2006, 446 f.; vgl. zur Haftung von ehrenamtlichen Vereinsvorständen Ehlers, NJW 2011, 2689. 2 FG Thüringen, Urt. v. 28.9.2016 – 3 K 1046/13, EFG 2017, 797; Rev. eingelegt Az. BFH VII R 8/17; zur Haftung des Vorstands einer AG s. Kamps/Schwedhelm, AG 2011, 586 ff. 3 FG Brandenburg, Urt. v. 13.5.1998 – 2 K 775/97. 4 BFH, Urt. v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814; Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, NJW 1998, 3374 = INF 1998, 634 (635) = DB 1998, 2047 m. Anm. v. Wedelstädt = BStBl. II 1998, 761; Urt. v. 13.3.2003 – VII R 46/02, BStBl. II 2003, 556. 5 BFH, Urt. v. 9.1.1997 – VII R 51/96, UR 1998, 108 (109); vgl. Beschl. v. 21.12.2004 – I B 128/04, BFH/NV 2005, 994 (995). 6 BFH, Urt. v. 12.2.1996 – VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657 m.w. Nachw.; Beschl. v. 16.2.2006 – VII B 122/05, BFH/NV 2006, 1051; FG Saarland, Urt. v. 7.12.2016 – 2 K 1072/14, EFG 2017, 974 mit Anm. Bartone, Rev. eingelegt Az. BFH VII R 2/17; Britz, Rz. 92. 7 BFH, Beschl. v. 16.2.2006 – VII B 122/05, BFH/NV 2006, 1051 m.w. Nachw.; Beschl. v. 8.3.2006 – VII B 233/05, BFH/NV 2006, 1252.

12

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden frau bei Inanspruchnahme nicht darauf berufen, nicht sie, sondern der Ehemann habe die steuerlichen Pflichten der GmbH nicht erfüllt.

Û

Hinweis: Die häufig vorgebrachte Argumentation, nicht der nominell bestellte Geschäftsführer, sondern ein Dritter habe die Geschäfte geführt, ist aufgrund der eindeutigen und ständigen Rechtsprechung des BFH nicht erfolgversprechend. Zur Frage, ab wann der (nominell) bestellte Geschäftsführer haftet und bis zu welchem Zeitpunkt er diese Pflichtenstellung innehat, s. Rz. 2.51 f. Zur Frage, ob ein Geschäftsführer einer „englischen Limited“ auch nach §§ 34, 69 AO haftet, s. Rz. 2.337.

b) Geschäftsführer nichtrechtsfähiger Personenvereinigungen und Vermögensmassen Zu den nichtrechtsfähigen Personenvereinigungen gehören Personengesell- 2.20 schaften, da es sich bei diesen nicht um juristische Personen handelt (z.B. GbR, OHG, KG). Sie sind nach bürgerlichem Recht entweder nicht rechtsfähig oder nur teilrechtsfähig (z.B. OHG s. § 124 Abs. 1 HGB). Zu dieser Gruppe der nichtrechtsfähigen Personenvereinigungen gehört auch die GmbH i. Gr., wenn sie sich im Stadium der Vorgründungsgesellschaft befindet oder als „unechte“ VorGmbH zu behandeln ist. Denn dann ist sie als BGB-Gesellschaft bzw. als OHG anzusehen.1 Zu unterscheiden ist davon die Steuerrechtsfähigkeit. Nichtrechtsfähige Personenvereinigungen können im Steuerrecht Rechtsfähigkeit erlangen (z.B. die GbR für die Umsatzsteuer). Für diese Organisationen handeln deren Vertreter. Welche diese sind, richtet 2.21 sich nach bürgerlichem Recht. Dabei knüpft die AO terminologisch an den zivilrechtlichen Begriff der Geschäftsführung an; denn maßgeblich sind im Steuerrecht in der Hauptsache Wissenserklärungen und andere rechtserhebliche Handlungen, nicht aber rechtsgeschäftliche Willenserklärungen.2 Für letztere wäre die nach außen gerichtete zivilrechtliche Vertretungsmacht relevant. Wer die Geschäftsführung einer nichtrechtsfähigen Vereinigung innehat, richtet sich nach der Satzung, dem Gesellschaftsvertrag oder der Stiftungsurkunde. Sind danach keine Geschäftsführer bestimmt, so kann die Finanzbehörde für die Haftung jedes Mitglied oder jeden Gesellschafter in Anspruch nehmen (§ 34 Abs. 2 Satz 1 AO). Wird einem Nichtgesellschafter die Vollmacht erteilt, die Geschäfte der Gesellschaft umfassend wahrzunehmen und nimmt er sie auch tatsächlich wahr, so reicht dies aus, ihn als Geschäftsführer der Gesellschaft anzusehen.3 Treten aber Personen ohne entsprechende Vollmacht als Geschäftsführer auf, so richtet sich die Haftung nach § 35 AO. Im Einzelnen gilt Folgendes: Beim nichtrechtsfähigen Verein werden in der Re- 2.22 gel die Geschäfte vom Vorstand geführt. Bei der GbR steht die Geschäftsführung grundsätzlich allen Gesellschaftern gem. § 709 Abs. 1 BGB zu. Die Geschäftsfüh1 BFH, Urt. v. 16.7.1996 – VII R 133/95, BFH/NV 1997, 4 (5); Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 (534). 2 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 35. 3 BFH, Urt. v. 7.1.2003 – VII B 141/02, BFH/NV 2003, 593.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

rung kann aber auf einen oder mehrere Gesellschafter durch Gesellschaftsvertrag übertragen werden (§ 710 BGB). Bei der OHG sind gem. § 114 Abs. 1 HGB grundsätzlich ebenfalls alle Gesellschafter zur Geschäftsführung befugt. Auch kann durch Gesellschaftsvertrag gem. § 114 Abs. 2 HGB die Geschäftsführung begrenzt werden. Bei der KG obliegt die Geschäftsführung den Komplementären, da die Kommanditisten von der Geschäftsführung ausgeschlossen sind (§§ 114, 161 Abs. 2, 164 HGB). Wie das Rechtssubjekt GmbH & Co KG zeigt, kann der Komplementär selbst wieder eine juristische Person sein, wobei wiederum der Geschäftsführer der GmbH der steuerlich Verpflichtete ist.1 2.23

Der Geschäftsführer einer KG kann auch dann noch in Haftung genommen werden, wenn das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Die Sperrwirkung des § 93 InsO gilt nicht für die Geschäftsführerhaftung.2 Eine Zustimmung zum Insolvenzplan schließt die Haftung des Geschäftsführers nicht aus.3 c) Mitglieder und Gesellschafter nichtrechtsfähiger Personenvereinigungen und Inhaber nichtrechtsfähiger Vermögensmassen

2.24

Ist kein Geschäftsführer vorhanden, so haben die Mitglieder oder Gesellschafter der nichtrechtsfähigen Vereinigung die steuerlichen Pflichten gem. § 34 Abs. 2 Satz 1 AO zu erfüllen. Werden die Pflichten verletzt, kann sich das Finanzamt an jedes Mitglied oder jeden Gesellschafter wegen der steuerlichen Haftung halten. Es kann im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens auch mehrere Mitglieder oder Gesellschafter in Anspruch nehmen. Die Sperrwirkung des § 93 InsO gilt auch hier nicht für die Haftung der Gesellschafter, die nach §§ 34 Abs. 2 Satz 1, 69 AO in Anspruch genommen werden, so dass auch nach Insolvenzeröffnung die Gesellschafter durch das Finanzamt in Haftung genommen werden können.4 Neben der Haftung aus § 69 AO kann auch eine Haftung der Gesellschafter oder Mitglieder nach zivilrechtlichen Vorschriften in Betracht kommen (z.B. bei der GbR § 128 HGB analog, bei der OHG § 128 HGB, bei der KG § 161 HGB; s. Kap. 2 C. zur Haftung der Gesellschafter, Rz. 2.257 ff.).

2.25

Der Begriff Vermögensmasse ist identisch mit dem Begriff Zweckvermögen in § 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG. Er setzt voraus, dass die betreffenden Vermögenswerte eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den sonstigen Vermögenswerten des Eigentümers einnehmen.5 Mehrere Bauobjekte eines Baubetreuungsunternehmens stellen keine Vermögensmasse i.S.d. § 34 AO dar.6 1 BFH, Urt. v. 27.6.1989 – VIII R 73/84, BStBl. II 1989, 955. 2 BFH, Beschl. v. 2.11.2001 – VII B 155/01, BStBl. II 2002, 73; Beschl. v. 15.11.2012 – VII B 105/12, BFH/NV 2013, 587; BGH, Urt. v. 4.7.2002 – IX ZR 265/01, BStBl. II 2002, 786; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 24; zur Frage der Geltendmachung der Haftung durch Klage des Insolvenzverwalters und zur Frage, welches FG örtlich zuständig ist, s. BFH, Beschl. v. 9.4.2014 – III S 4/14, BFH/NV 2014, 1077. 3 BFH, Urt. v. 15.5.2013 – VII R 20/12, BFH/NV 2013, 1543. 4 BGH, Urt. v. 4.7.2002 – IX ZR 265/01, BStBl. II 2002, 786; Beschl. v. 15.11.2012 – VII B 105/12, BFH/NV 2013, 587; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 24. 5 Vgl. auch BFH, Urt. v. 5.11.1992 – I R 39/92, BStBl. II 1993, 388. 6 FG Berlin, Urt. v. 1.9.1981, EFG 1982, 307 (308); bestätigt durch BFH, Beschl. v. 18.6.1984 – IX R 65/81.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

d) Vermögensverwalter (§ 34 Abs. 3 AO) Neben den gesetzlichen Vertretern kommen weitere Verwalter fremder Ver- 2.26 mögen in Betracht, die zur Haftung gem. § 69 AO herangezogen werden können. Aufgrund gesetzlicher Regelung, behördlicher oder gerichtlicher Anordnung oder letztwilliger Verfügung kommen andere als der Eigentümer oder der gesetzliche Vertreter für eine Haftung in Frage. Im Einzelnen fallen unter „Vermögensverwalter“ i.S.d. § 34 Abs. 3 AO Insolvenzverwalter, Konkursverwalter1, vorläufiger Insolvenzverwalter2, Sequester, Zwangsverwalter3, Testamentsvollstrecker4, Nachlassverwalter und gerichtlich bestellte Liquidatoren. Vergleichsverwalter sind keine Vermögensverwalter, da sie keine Verwaltungsund Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners innehaben. e) Verfügungsberechtigte (§ 35 AO) Verfügungsberechtigter ist jeder, der tatsächlich über Mittel, die einem anderen 2.27 gehören, verfügen kann und auch tatsächlich als solcher auftritt.5 Es sind zwei Gruppen von Verfügungsberechtigten i.S.d. § 35 AO zu unterscheiden: 1. die rechtsgeschäftlich bestellten Verfügungsberechtigten und 2. die sich die Verfügungsmacht anmaßenden Verfügungsberechtigten. Maßt sich jemand die Verfügungsmacht an, so ist unerheblich, ob es sich um ei- 2.28 ne auf Gesetz, behördlicher oder gerichtlicher Verordnung oder auf Rechtsgeschäft beruhende Verfügungsmacht handelt. Der sich die Verfügungsmacht anmaßende Verfügungsberechtigte muss am 2.29 Rechtsverkehr teilgenommen haben, wobei aber nicht erforderlich ist, dass er als solcher gegenüber der Finanzbehörde aufgetreten ist.6 Es reicht auch aus, wenn er sich als Verfügungsberechtigter geriert, so dass es nicht darauf ankommt, ob er wirklich die Verfügungsmacht hat.7 Eine rechtsgeschäftlich eingeräumte Verfügungsmacht kommt den Treuhändern, den Bevollmächtigten und den mittelbaren Stellvertretern zu. Im Einzel1 Vgl. BFH, Urt. v. 21.6.1994 – VII R 34/92, BStBl. II 1995, 230. 2 Insbesondere im Fall des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters (§ 21 Abs. 2 InsO), wenn ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet worden ist (BFH, Urt. v. 30.12.2004 – VII B 145/04, BFH/NV 2005, 665); s. Rz. 4.4. 3 BFH v. 10.2.2015 – IX R 23/14, BFH/NV 2015, 1018 (Haftung auch bzgl. der Einkommensteuer; s. auch zum Verhältnis Zwangsverwalter zum Insolvenzverwalter); vgl. FG München, Urt. v. 16.9.1998 – 3 K 831/94, EFG 1999, 99 (100). 4 Vor einer Inanspruchnahme des Testamentsvollstreckers durch Haftungsbescheid ist eine Anhörung der zuständigen Berufskammer gem. § 191 Abs. 2 AO erforderlich (BFH, Urt. v. 13.5.1998 – II R 4/96, BStBl. II 1998, 760 = BFH/NV 1998, 1286 = DStR 1998, 1216). 5 BFH, Urt. v. 16.1.1980 – I R 7/77, BStBl. II 1980, 526 = BFHE 130, 230; Urt. v. 20.7.1988 – I R 104/83, BFH/NV 1989, 478; Urt. v. 16.3.1995 – VII R 38/94, BStBl. II 1995, 859 (860) m.w. Nachw. 6 BFH, Urt. v. 16.3.1995 – VII R 38/94, BStBl. II 1995, 859 (860); Loose in Tipke/Kruse, § 35 AO Rz. 11; Britz, Rz. 103. 7 BFH, Urt. v. 24.4.1991 – I R 56/89, BFH/NV 1992, 76.

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2.30

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

nen lassen sich folgende rechtsgeschäftlich bestellte Verfügungsberechtigte unterscheiden: – Prokurist1 – Treuhänder2 – kommissarischer Vorsitzender eines Vereins3 – Lohnbuchhalter, der innerhalb der Gesellschaft dieselbe Stellung wie ein Gesellschafter einnimmt4 – inländische Leitung einer ausländischen „GmbH“ aufgrund uneingeschränkter Vollmacht5 – angestellter Ehegatte unter bestimmten Voraussetzungen6 – GmbH-Gesellschafter einer „Einmann-GmbH“, wenn kein Geschäftsführer mehr vorhanden ist, unter bestimmten Voraussetzungen7 – Generalbevollmächtigter8. Hinsichtlich des zu fordernden Auftretens nach außen ist es als ausreichend zu erachten, dass der Verfügungsberechtigte gegenüber irgendjemanden – auch gegenüber einer begrenzten Öffentlichkeit – auftritt.9 2.31

Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Rechtsanwälte fallen nicht darunter, wenn sie nur im Rahmen eines gewöhnlichen Auftragsverhältnisses tätig werden. Denn dann sind sie nicht befugt, Verfügungsgeschäfte im Namen ihres Mandanten vorzunehmen.10

2.32

Von den Fällen der rechtsgeschäftlich eingeräumten Verfügungsmacht sind die Fälle der Anmaßung der Verfügungsmacht zu unterscheiden. Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO ist, wer nach dem Gesamtbild der Verhältnisse rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen gehören, verfügen kann und als Verfügungsberechtigter nach außen auftritt.11 Es reicht aus, dass er jedenfalls 1 Boeker in HHSp, § 35 AO Rz. 19. Eine Haftung kommt jedoch nur in Betracht, wenn die Wahrnehmung steuerlicher Pflichten Teil seines durch den Geschäftsherrn bestimmten Wirkungskreises ist (BFH, Urt. v. 19.7.1984 – V R 70/79, BStBl. II 1985, 147 [148]; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 27); handelt er außerhalb seines Wirkungskreises, so kommt eine Haftung als die Verfügungsmacht sich anmaßender Verfügungsberechtigter in Betracht (Niedersächsisches FG, Urt. v. 27.2.1992 – 11 K 484/87, EFG 1992, 498). S. im Einzelnen Nacke, AO-StB 2006, 189. 2 Boeker in HHSp, § 35 AO Rz. 20. 3 BFH, Urt. v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814; Koenig in Koenig, § 35 AO Rz. 16. 4 BFH, Urt. v. 8.3.1988 – VII R 6/87, BStBl. II 1988, 480; Halaczinsky, Rz. 44. 5 FG München, Urt. v. 19.9.2001 – 14 K 3855/97, EFG 2002, 298; Halaczinsky, Rz. 44. 6 BFH, Urt. v. 20.7.1988 – I R 104/83, BFH/NV 1989, 478; Halaczinsky, Rz. 44. 7 BFH, Urt. v. 27.11.1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284; Halaczinsky, Rz. 44. 8 BFH, Urt. v. 11.3.1986 – VII R 124/81, BFH/NV 1987, 69; vgl. auch Urt. v. 12.5.1987 – VII R 159/84, BFH/NV 1988, 139; Beschl. v. 9.1.2013 – VII B 67/12, BFH/NV 2013, 898. 9 BFH, Beschl. v. 9.1.2013 – VII B 67/12, BFH/NV 2013, 898. 10 FG Berlin, Urt. v. 17.1.1989 – V 95/86, EFG 1990, 28; Halaczinsky, Rz. 44; Boeker in HHSp, § 35 AO Rz. 18. 11 BFH, Urt. v. 5.10.2010 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81; FG Hamburg, Urt. v. 29.3.2017 – 3 K 183/15, juris.

16

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

mittelbar rechtlich und tatsächlich in der Lage ist, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters im Hinblick auf die Begleichung der Steuerschulden zu erfüllen.1 Man spricht dann auch von einem faktischen Geschäftsführer. Im Einzelnen lassen sich die Fälle der Anmaßung an folgenden Verhaltensweisen erkennen: – Verfügungsberechtigt ist derjenige, der Schecks und Überweisungen für das Konto eines anderen unterschreibt.2 – Derjenige, der Wechsel entgegennimmt, ist verfügungsberechtigt.3 – Ebenso gehört dazu derjenige, der Steuererklärungen bzw. Steueranmeldungen und Eröffnungsbilanzen einer GmbH unterschreibt.4 – Wer Kreditverhandlungen und Schriftwechsel mit der Bank führt, kann ebenfalls Verfügungsberechtigter sein.5 – Wer die Abläufe im Unternehmen beherrscht und steuert, wann und in welcher Höhe Waren verkauft und Gelder vom Geschäftskonto abgehoben werden, kann ebenfalls als Verfügungsberechtigter angesehen werden.6 Auch eine beherrschende Stellung als Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft kann eine Verfügungsberechtigung i.S. von § 35 AO vermitteln.7 In Betracht kommen daher für eine Haftung nach §§ 35, 69 AO der Alleingesell- 2.33 schafter oder beherrschende Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft, ein kaufmännischer Leiter und der Leiter einer inländischen Betriebsstätte einer ausländischen Kapitalgesellschaft.8 Folgende Beispiele verdeutlichen die Fälle der faktischen Geschäftsführung:

2.34

Beispiel 1: A gründet eine GmbH. Deren Geschäftsführer wird die Ehefrau von A. In Wirklichkeit werden die Geschäfte aber von A selbst geführt. Dies äußert sich darin, dass er u.a. Schecks und Überweisungen unterschreibt und auch sonst nach außen als Verfügungsberechtigter im Rechtsverkehr auftritt. Er übernimmt daher faktisch die Tätigkeit eines Geschäftsführers. Beispiel 2: Der Alleingesellschafter einer GmbH unterschreibt Schecks und Überweisungen der GmbH. Er tritt damit gegenüber der Bank und den Zahlungsempfängern als Verfügungsberechtigter auf. Er ist somit faktischer Geschäftsführer.9

1 BFH v. 7.4.1992 – VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213; v. 27.11.1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284. 2 BFH, Urt. v. 27.11.1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284; Urt. v. 13.9.1988 – VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139; vgl. auch BFH, Urt. v. 7.4.1992 – VII R 104/90, BFH/NV 93, 213; Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 12 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 20.7.1988 – I R 104/83, BFH/NV 1989, 478. 4 BFH, Urt. v. 16.1.1980 – I R 7/77, BStBl. II 1980, 526; v. 13.8.2007 – VII B 20/07, BFH/NV 2008, 10; Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 12. 5 BFH, Urt. v. 20.7.1988 – I R 104/83, BFH/NV 1989, 478; Urt. v. 27.11.1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284 (285); krit. Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 12. 6 BFH, Urt. v. 5.8.2010 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81. 7 BFH, Beschl. v. 13.8.2007 – VII B 20/07, BFH/NV 2008, 10. 8 BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491; Urt. v. 10.5.1989 – I R 121/85, BFH/NV 1990, 7; Beschl. v. 10.10.1994 – I B 228/93, BFH/NV 1995, 662; Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 13. 9 Gl. A. BFH, Urt. v. 27.11.1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284; Britz, Rz. 103.

17

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.35

Ferner ist auch der abberufene Geschäftsführer Verfügungsberechtigter i.S.d. § 35 AO, wenn er nach der Abberufung noch für die GmbH tätig wird.

2.36

Denkbar wäre auch, den Sicherungsnehmer als Verfügungsberechtigten i.S.d. § 35 AO anzusehen. Seine Rechte müssen aber über den bloßen Sicherungszweck hinausgehen.1 Beispielsweise wäre dies der Fall, wenn sich der Sicherungsnehmer alle Forderungen des Unternehmens zur Sicherheit übertragen lässt und nur diejenigen Mittel freigibt, die er für die Unternehmensfortführung für erforderlich hält.2 Im Einzelnen ist hier vieles streitig.3 Da Banken und Sparkassen sich häufig Vermögenswerte des Steuerpflichtigen zur Sicherheit übereignen lassen, könnte auch hier daran gedacht werden, diese als Verfügungsberechtigte i.S.d. § 35 AO anzusehen. Jedoch wird es in der Praxis meistens daran fehlen, dass die Banken oder Sparkassen nicht in der Lage sind, rechtlich verbindlich die Pflichten des gesetzlichen Vertreters des Steuerpflichtigen entweder selbst zu erfüllen oder durch die Bestellung der entsprechenden Organe erfüllen zu lassen. Ihnen wird bei der Einräumung des Sicherungsrechts oder später kaum die bürgerlich-rechtliche Verfügungsmacht gegeben worden sein, im Außenverhältnis wirksam für den Steuerpflichtigen handeln zu dürfen.4

2.37

Die faktische Geschäftsführung endet dann, wenn der Betreffende sich nach außen erkennbar deutlich von seiner bisherigen Position losgesagt hat.5 Es reicht nicht aus, wenn er nur vorübergehend nicht nach außen auftritt.6 Der faktische Geschäftsführer muss daher durch seine Verhaltensweise dies klar zum Ausdruck bringen (neben dem Unterlassen weiterer Verfügungen ist hierfür m.E. erforderlich, den Gläubigern, die von seiner faktischen Geschäftsführung Kenntnis haben, von der Einstellung seiner Tätigkeiten für die GmbH zu unterrichten). Er müsste z.B. dem Finanzamt, dem von ihm unterschriebene Steuererklärungen vorliegen, mitteilen, dass er nicht mehr für die GmbH auftritt.

Û 2.38

Hinweis: Wer wie ein Geschäftsführer für die GmbH auftritt (faktischer Geschäftsführer), sollte seine anmaßenden Verfügungen unverzüglich einstellen und die Gläubiger hiervon in Kenntnis setzen.

Haftender Personenkreis (§ 69 AO) Folgende Personen kommen als potentiell Haftende gem. §§ 34, 35 AO in Betracht: (1) Gesetzliche Vertreter natrlicher Personen (§ 34 Abs. 1 AO) – Eltern – Betreuer – Vormund – Pfleger 1 RFH, Urt. v. 6.11.1929 – VI A 1640/29, RStBl. 1930, 24; Loose in Tipke/Kruse, § 35 AO Rz. 8. 2 AEAO zu § 35 Nr. 3; Boeker in HHSp, § 35 AO Rz. 26; Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 5. 3 Vgl. zum Meinungsstand BFH, Urt. v. 16.3.1995 – VII R 38/94, BStBl. II 1995, 859 (860), vgl. auch Boeker in HHSp, § 35 AO Rz. 26 u. Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 5. 4 BFH, Urt. v. 16.3.1995 – VII R 38/94, BStBl. II 1995, 859 (861); Beschl. v. 11.6.2004 – VII B 342/03, BFH/NV 2004, 1370. 5 Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 20; Koenig in Koenig, § 36 AO Rz. 8. 6 Rüsken in Klein, § 35 AO Rz. 20; Koenig in Koenig, § 36 AO Rz. 8.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

(2) Gesetzliche Vertreter juristischer Personen (§ 34 Abs. 1 AO) – Geschftsfhrer der GmbH – Vorstand der AG, der Genossenschaft, des eingetragenen Vereins, der rechtsfhigen Stiftung – Abwickler und Liquidatoren – berufene Vertreter der juristischen Personen des çffentlichen Rechts (3) Geschftsfhrer nicht rechtsfhiger Personenvereinigungen des privaten Rechts (§ 34 Abs. 1 AO) – Geschftsfhrer der GbR, OHG und KG (4) Mitglieder und Gesellschafter der nichtrechtsfhigen Personenvereinigungen und Vermçgensmassen (§ 34 Abs. 2 AO) – wenn kein Geschftsfhrer vorhanden – die Mitglieder der Personenvereinigung – Vermçgensmassen sind Vermçgenswerte, die als Sondervermçgen vom brigen Vermçgen einer Person getrennt sind. (5) Vermçgensverwalter (§ 34 Abs. 3 AO) Aufgrund gesetzlicher Regelung, behçrdlicher oder gerichtlicher Anordnung oder letztwilliger Verfgung bestellte Personen, die mit Verwaltungsund Verfgungsmacht ausgestattet sind (z.B. Insolvenzverwalter, vorlufiger Insolvenzverwalter, Zwangsverwalter, Nachlassverwalter) (6) Verfgungsberechtigte (§ 35 AO) Hierzu gehçren diejenigen, die die Verfgungsmacht rechtsgeschftlich erhalten haben, und diejenigen, die sich die nicht bestehende Verfgungsmacht anmaßen. (a) Verfgungsberechtigte kraft Rechtsgeschfts kçnnen z.B. sein: – Treuhnder – Prokuristen – evtl. Lohnbuchhalter – evtl. Ehegattenangestellte – mittelbare Stellvertreter (b) Verfgungsberechtigte kraft Anmaßung kçnnen z.B. sein: – faktische Geschftsfhrer (z.B. Alleingesellschafter oder beherrschender Gesellschafter einer GmbH) – Sicherungsnehmer, wenn deren Verfgungsmacht ber den bloßen Sicherungszweck hinausgeht (str.); Banken und Sparkassen kommen als Verfgungsberechtigte nicht in Betracht, wenn ihnen nicht das Recht, fr den Steuerpflichtigen nach außen handeln zu drfen, auch eingerumt worden ist.

19

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2. Die weiteren Voraussetzungen der Haftung a) Nicht- bzw. nicht rechtzeitige Festsetzung oder Erfüllung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis als Haftungsschaden 2.39

Maßgebliche Voraussetzung der Haftung nach § 69 AO ist das Vorhandensein eines Schadens. Ein Schaden ist dann gegeben, wenn Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt worden sind. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind alle Ansprüche i.S.d. § 37 Abs. 1 AO. Damit gehören zu diesen auch die steuerlichen Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 AO)1; insbesondere werden daher Säumniszuschläge (§ 240 AO), Verspätungszuschläge (§ 152 AO), Zinsen (§§ 233 ff. AO), Zwangsgelder (§ 329 AO) und Kosten (§§ 178, 337 ff. AO) von der Haftung erfasst. Zu den Ansprüchen gehören ebenfalls gemeinschaftsrechtliche Schuldtatbestände. Sie können auch mittels nationaler Haftungstatbestände geltend gemacht werden.2 Mösbauer bejaht nur eine Haftung für Säumniszuschläge.3 Er begründet dies damit, dass aufgrund von § 1 Abs. 3 Satz 2 AO eine weitergehende Haftung ausgeschlossen sei. Nach dieser Vorschrift gelten die §§ 155 bis 217 AO – also auch § 191 AO – für steuerliche Nebenleistungen nur, wenn und soweit dies besonders bestimmt ist. Eine besondere Bestimmung enthalte aber nur § 69 Satz 2 AO für die Säumniszuschläge. Der h.M. ist zuzustimmen, da in § 69 Satz 1 AO schon die besondere Bestimmung enthalten („Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis – § 37 AO –“) und der Grund für die Existenz des § 69 Satz 2 AO ein ganz anderer ist. Mit § 69 Satz 2 AO soll nur die Haftung auf solche Säumniszuschläge erweitert werden, die infolge von Pflichtverletzungen nach § 240 AO entstanden sind, weil die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen pflichtwidrig nicht dafür sorgten, dass die Steuern bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wurden, während § 69 Satz 1 AO diejenigen Säumniszuschläge erfasst, bei denen die Verwirklichung des Anspruchs des Staates auf Zahlung der Säumniszuschläge durch Pflichtwidrigkeiten dieser Personen verhindert oder verzögert wurde.4

2.40

Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ist nicht, dass die Steuerschuld gegen den Erstschuldner festgesetzt worden ist.5 Damit kommt es nicht darauf an, ob die Festsetzung gegen den Erstschuldner unanfechtbar war.6 Über das Bestehen der Ansprüche gegen den Erstschuldner kann im Verfahren gegen den Vertreter entschieden werden.7

1 BFH, Urt. v. 22.2.1980 – VI R 185/79, BStBl. II 1980, 375; Urt. v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859; Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271; Loose in Tipke/ Kruse, § 69 AO Rz. 44; Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 24. 2 FG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.10.2016 – 3 K 86/13, juris, Rev. eingelegt Az. BFH VII R 35/16. 3 Mösbauer, S. 56. 4 BFH, Urt. v. 22.2.1980 – VI R 185/79, BStBl. II 1980, 375 (376); Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271. 5 BFH, Beschl. v. 21.5.2004 – V B 212/03, BFH/NV 2004, 1368. 6 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 14. 7 Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 25; beachte jedoch § 166 AO (s. Rz. 9.68).

20

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Aus der Haftungsvoraussetzung, dass infolge der vorsätzlichen oder grob fahr- 2.41 lässigen Pflichtverletzung Steuern nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder entrichtet worden sein müssen, leitet die ständige Rechtsprechung und die Literatur den Schadensersatzcharakter der Vorschrift ab.1 Dieser Schadensersatzcharakter des § 69 AO beinhaltet eine Haftung für den konkreten unmittelbaren Schaden. Es wird der aus der Pflichtverletzung unmittelbare Steuerschaden erfasst. Eine mittelbare Schadensbetrachtung kommt m.E. nicht in Betracht. Es kann daher z.B. nicht vorgetragen werden, der unmittelbare Körperschaftsteuerschaden stelle letztlich für den Steuergläubiger keinen Schaden dar, da bei einer Ausschüttung nach altem Recht wegen der körperschaftsteuerlichen Anrechnung auf die Einkommensteuer ein Schaden nicht eintrete.2 Im Einzelnen lassen sich nun fünf Tatbestandsvoraussetzungen unterscheiden, 2.42 die im Folgenden näher erläutert werden. Die Ansprüche sind – nicht festgesetzt, – nicht rechtzeitig festgesetzt, – nicht erfüllt, – nicht rechtzeitig erfüllt, oder – Steuervergütungen oder Steuererstattungen sind ohne rechtlichen Grund gezahlt worden. aa) Anspruch nicht festgesetzt Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis werden, soweit nichts anderes vor- 2.43 geschrieben ist (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO), durch Bescheid festgesetzt. Ein Fall der Nichtfestsetzung liegt daher vor, wenn überhaupt kein Bescheid erlassen wurde, keine Steuervoranmeldung vorliegt (die Steuervoranmeldung steht der Steuerfestsetzung gem. § 168 Satz 1 AO gleich) und die Steuer nicht im Abzugsverfahren erhoben wurde (z.B. § 38 Abs. 1 Satz 1, § 43 Abs. 1, § 50a Abs. 1 EStG).3 bb) Anspruch nicht rechtzeitig festgesetzt Mit diesem Tatbestandsmerkmal soll das Argument ausgeschlossen werden, der 2.44 Anspruch sei schließlich doch festgesetzt worden. Mit Festsetzung sind hier nicht die gesetzlichen Festsetzungsfristen (§§ 169 ff. AO) angesprochen. Ein Steueranspruch oder ein Haftungsanspruch könnte nach dieser Frist überhaupt nicht mehr festgesetzt werden. Gemeint ist hier vielmehr die Frist, in der die Verwaltung die Steuer festsetzt. Wann eine Steuer oder steuerliche Nebenleistung festzusetzen ist, bestimmt sich nach dem Gang der laufenden Veranla1 BFH, Urt. v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859 (860); Beschl. v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7 (8). 2 Vgl. zur ähnlichen Problematik bei der Haftung für LSt (Ist maßgeblich die LSt oder die nach Ablauf des Kalenderjahres entstehende ESt?) Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 32 ff.; Thomas, DStR 1995, 273 (im Ergebnis wie hier); a.A. Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 2. 3 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 16.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

gungsarbeit.1 Da dieser Zeitpunkt äußerst vage ist, gibt es Stimmen, die daher dieses Tatbestandsmerkmal generell entfallen lassen wollen.2 Maßgeblich ist hier bei den Veranlagungssteuern m.E. der Zeitpunkt, der nach dem mutmaßlichen Geschehensablauf als Abgabefrist in Betracht kommt, wobei im Zweifel der günstigste Zeitpunkt für den Haftungsschuldner angenommen werden sollte.3 Nicht rechtzeitig festgesetzt ist eine Steuer auch dann, wenn der Vertreter eine falsche oder unvollständige Steuererklärung oder Steuervoranmeldung abgibt.4 cc) Anspruch nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt 2.45

Nicht erfüllt sind die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, wenn der Vertreter nicht die geschuldete und fällige Leistung erbringt.

2.46

Nicht rechtzeitige Erfüllung ist gegeben, wenn der Vertreter nicht zum Fälligkeitstermin geleistet hat. Wann eine Steuerschuld fällig ist, bestimmt sich nach den Einzelsteuergesetzen oder nach § 220 Abs. 2 AO. Zu beachten ist aber, dass die Fälligkeit durch Stundung (§ 222 AO), oder Zahlungsaufschub (§ 223 AO) hinausgeschoben wird.5 Eine nach Fälligkeit erteilte Stundung führt jedoch nicht zu einer Hinausschiebung.6 Ob dies auch für den Fall der Aussetzung der Vollziehung (§ 361 Abs. 2 Satz 1 AO) gilt, ist umstritten. M.E. dürfte aber die Pflicht des Vertreters bestehen, auch im Fall der Aussetzung der Vollziehung die Mittel bereitzuhalten.7 Ein Aufschub der Fälligkeit ist jedoch nicht für einen Vollstreckungsaufschub (§ 258 AO) oder eine Niederschlagung (§ 261 AO) gegeben, ebenso nicht für eine Stundung, die erst nach Fälligkeit gewährt wird, selbst wenn von vornherein damit zu rechnen war.8

2.47

Beispiel: Der Geschäftsführer einer GmbH erreicht, bevor die Steueransprüche fällig werden, auf rechtmäßigem Wege eine Stundung dieser Ansprüche für 6 Monate. In dieser Zeit wird die GmbH zahlungsunfähig. Hier hat der Geschäftsführer nicht die Pflicht zur rechtzeitigen Erfüllung der Steueransprüche verletzt.

2.48

Liegt eine verspätete Zahlung vor, so kommt ferner eine Haftung nur dann in Betracht, wenn ein Schaden entstanden ist. Ein Schaden ist dann gegeben, wenn Säumniszuschläge entstanden sind.9

1 FG Berlin, Urt. v. 30.6.2000 – 2 K 2242/00, n.v. 2 Vgl. Hinweis bei Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 16, und zum Streitstand auch Nacke, DStR 2013, 335. 3 Vgl. BGH, Beschl. v. 7.11.2001 – 5 StR 395/01, BStBl. II 2002, 259; BFH, Urt. v. 18.3.1970 – I R 176/69, BStBl. II 1970, 556 (558); vgl. Halaczinsky, Rz. 67; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 19a; Nacke, DStR 2013, 336 ff. 4 BFH, Urt. v. 12.4.1988 – VII R 131/85, BStBl. II 1988, 742 = BFHE 153, 199. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 18; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 20. 6 BFH, Urt. v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. 1982, 521; Urt. v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7; Beschl. v. 25.2.1998 – VII B 191/97, BFH/NV 1998, 1199. 7 Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 20a m.w. Nachw.; s. Rz. 2.118. 8 BFH, Urt. v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7. 9 Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 29.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

dd) Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt Hier entsteht der Schaden dadurch, dass zu Unrecht Steuervergütungen oder 2.49 Steuererstattungen gewährt wurden. Die Haftung für diese Ansprüche war bis 1986 streitig. Sie ist aber durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 mit Wirkung ab 1.1.1987 klarstellend oder rechtsbegründend geregelt worden.1 Nach Ansicht des BFH setzt die Haftung für zu Unrecht erhaltene Steuervergütungen oder –erstattungen voraus, dass formell festgestellt wurde, dass keine solchen Ansprüche bestanden.2 Dem ist zuzustimmen, da erst mit der Aufhebung oder Änderung der Festsetzung der Rückforderungsanspruch entsteht. b) Pflichtverletzung aa) Zeitraum der Pflichtverletzung Schrifttum: Wälzholz, Die Amtsniederlegung des Geschäftsführers, GmbH-StB 2006, 262; Schuhmann, Amtsniederlegung des GmbH-Geschäftsführers, GmbHR 2007, 305.

Bevor auf die Formen der Pflichtverletzung eingegangen wird, ist zunächst da- 2.50 nach zu fragen, wann der Zeitraum beginnt bzw. endet, in dem der Vertreter die steuerlichen Pflichten zu erfüllen hat. Maßgeblich für den Beginn der steuerlichen Pflichten des Geschäftsführers ist der Zeitpunkt der Bestellung zum Geschäftsführer. Dabei kommt es auf den Gesellschafterbeschluss und nicht auf die Handelsregistereintragung an, da letztere nur deklaratorische Wirkung hat.3 Auf den Dienstvertrag zwischen der GmbH und dem Geschäftsführer kommt es ebenfalls nicht an4; jedoch ist die Annahme der Bestellung durch den Bestellten für die Wirksamkeit des Gesellschafterbeschlusses erforderlich.5 Erst ab diesem Zeitpunkt hat der neu bestellte Geschäftsführer seine Pflichten zu erfüllen.6 Das Ende der steuerlichen Pflichten des Geschäftsführers richtet sich nach dem 2.51 Zeitpunkt der Niederlegung des Geschäftsführeramtes, der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, Erteilung eines Verfügungsverbots oder nach der Abberufung, wobei auch hier die Eintragung in das Handelsregister unerheblich ist.7 Wird der Geschäftsführer verhaftet, so ist analog § 29 BGB ein Notgeschäftsführer zu bestellen, es sei denn, ein Prokurist übernimmt die steuerlichen Pflichten. Der Geschäftsführer ist dann nicht mehr verpflichtet. Wird der Geschäftsführer abberufen, so kommt es allein auf die Wirksamkeit des Abberufungsbeschlusses an. Hierzu ist der Zugang des Widerrufs der Bestellung als Geschäftsführer erfor1 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 19, der die Rechtsentwicklung ausführlich darstellt. 2 BFH, Urt. v. 14.3.2012 – XI R 6/10, BStBl. II 2014, 607. 3 BFH, Urt. v. 26.2.1985 – VII R 110/79, BFH/NV 1985, 20; Britz, Rz. 112; vgl. auch Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 39 GmbHG Rz. 15. 4 Britz, Rz. 112. 5 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 46 GmbHG Rz. 23. 6 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 35 GmbHG Rz. 7. 7 BFH, Urt. v. 26.2.1985 – VII R 110/79, BFH/NV 1985, 20; Britz, Rz. 114; Blesinger, S. 22.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

derlich.1 Legt der Geschäftsführer sein Amt nieder, ist der Zugang der Erklärung über die Niederlegung maßgeblich.2 Adressat der Niederlegungserklärung ist das für die Geschäftsführerbestellung zuständige Organ. Dies sind bei der GmbH die Gesellschafter. Dabei reicht eine mündliche Erklärung gegenüber einem Gesellschafter aus.3 Auf eine Benachrichtigung der anderen Gesellschafter kommt es nicht an. Gegenüber einem Mitgeschäftsführer kann der Geschäftsführer einer GmbH jedoch seine Amtsniederlegung nicht wirksam erklären.4 Einen Sonderfall bildet der sog. „Einmann-Geschäftsführer“ (= einziger Geschäftsführer, der zugleich Alleingesellschafter der GmbH ist). Hier ist fraglich, ob er ohne Weiteres wirksam sein Geschäftsführeramt niederlegen kann. Nach der zivilrechtlichen Rechtsprechung soll er nur dann sein Amt wirksam niederlegen können, wenn er gleichzeitig einen neuen Geschäftsführer bestellt.5 Dies soll auch dann gelten, wenn die beiden Gesellschafter-Geschäftsführer einer zweigliedrigen GmbH zeitgleich ihr Amt niederlegen, ohne zugleich einen neuen Geschäftsführer zu bestellen.6 In der Literatur wird wohl überwiegend die Ansicht vertreten, dass der Einmann-Geschäftsführer ohne Bestellung eines neuen Geschäftsführers sein Amt niederlegen kann.7 Wie dies letztlich der BFH entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Zu beachten ist aber, dass sich selbst nach der Literaturauffassung der Geschäftsführer, der sein Amt niedergelegt hat, ohne einen neuen Geschäftsführer zu bestellen, gegenüber der GmbH schadensersatzpflichtig macht. 2.52

2.53

Û

Hinweis: Bereits eine mündlich erklärte Niederlegung des Geschäftsführeramtes gegenüber einem Gesellschafter der GmbH führt zur Niederlegung und damit zum Ende der Pflichtenstellung des Geschäftsführers. Die Feststellungslast (Beweispflicht) trägt insoweit der in Anspruch genommene Geschäftsführer.

Die Pflichtenstellung kann jedoch über den Zeitpunkt der Niederlegung hinausgehen, wenn die Pflicht schon vor Erlöschen der Vertretungsmacht entstanden ist und der Geschäftsführer noch in der Lage ist, sie zu erfüllen. Davon ist aber nicht mehr auszugehen, wenn er die entsprechenden Unterlagen zurückgegeben hat.8 Unter Umständen hat der Geschäftsführer auch nach Löschung der GmbH im Handelsregister seine Pflichten zu erfüllen.9 1 BFH, Urt. v. 27.10.1987 – VII R 12/84, BFH/NV 1988, 485; Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck, § 38 GmbHG Rz. 13. 2 BFH, Urt. v. 27.10.1987 – VII R 12/84, BFH/NV 1988, 485; Britz, Rz. 114. 3 BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 378/99, GmbHR 2002, 26; Sächsisches FG, Urt. v. 1.11.2010 – 8 K 418/09, juris; Wälzholz, GmbH-StB 2006, 264; Lohr, DStR 2002, 2173 (2174). 4 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.6.2005 – I-3 Wx 118/05, GmbHR 2005, 932. 5 OLG Köln, Beschl. v. 1.2.2008 – 2 Wx 3/08, NZG 2008, 340 (342); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.12.2000 – 3 Wx 393/00, GmbHR 2001, 144; KG Berlin, Beschl. v. 1.11.2000 – 23 W 3250/00, GmbHR 2001, 147; BayObLG, Beschl. v. 15.6.1999 – 3Z BR 35/99, NZG 1999, 1003 m. Anm. Schaub, DStR 2000, 290; LG Mainz, Beschl. v. 5.9.2005 – 12 HK T 6/05, RPfleger 2006, 131; OLG Hamm, Beschl. v. 21.6.1988 – 15 W 81/88, GmbHR 1989, 35. 6 KG Berlin v. 1.11.2000 – 23 W 3250/00, GmbHR 2001, 147. 7 Roth/Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 78; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 38 GmbHG Rz. 90. 8 Kerkhoff, NWB Fach 18, 3429; Britz, Rz. 114. 9 S. hierzu BFH, Urt. v. 27.2.1985 – I R 291/83, BFH/NV 1985, 63; Britz, Rz. 116.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

bb) Formen der Pflichtverletzung Schrifttum: Tiedtke, Haftungsbescheid gegen einen Geschäftsführer, der die von der GmbH geschuldeten Löhne aus seinem Privatvermögen gezahlt hat, GmbHR 2007, 21.

Die in §§ 34 und 35 AO aufgeführten Personen haften gem. § 69 AO nur dann, 2.54 wenn sie die ihnen nach §§ 34 und 35 AO obliegenden Pflichten gegenüber dem Finanzamt verletzen. Danach haben sie die Pflichten zu erfüllen, die die Vertretenen nach der AO und den Steuergesetzen zu erfüllen haben. Insbesondere haben sie die Pflicht, die Steuern aus den Mitteln des Vertretenen zu bezahlen. Die Pflicht zur Steuerentrichtung erstreckt sich jedoch nur auf die vorhandenen Mittel. Reichen die vorhandenen Mittel nicht aus, um alle Schulden zu bezahlen, so ist der Vertreter nicht verpflichtet, den Steuergläubiger vorrangig zu befriedigen. Er darf aber auch nicht Forderungen anderer Gläubiger bevorzugt begleichen. Beispiel: Der Geschäftsführer einer GmbH, die Zahlungsschwierigkeiten hat, bezahlt zwar die Lieferantenrechnungen vollständig, um eine Weiterführung des Betriebes zu gewährleisten. Jedoch werden die Steuerforderungen nicht mehr erfüllt. Auch die Löhne werden vollständig an die Mitarbeiter ausgezahlt, obwohl die einbehaltene Lohnsteuer ebenfalls nicht an das Finanzamt abgeführt wird. Hier werden die Lieferanten bevorzugt mit ihren Forderungen bedient, so dass eine Pflichtverletzung gegeben ist.

2.55

Eine Verletzung der Pflicht zur Steuerentrichtung führt aber dann nicht zu einer 2.56 Haftung, wenn vor der Fälligkeit der Steuerforderung ein Verfügungsverbot z.B. im Rahmen der Anordnung eines vorläufigen Insolvenzverfahrens ausgesprochen wurde. Selbst wenn z.B. der Geschäftsführer Lohnabzugsbeträge bereits bei Lohnzahlung abgesondert hat und zur fristgerechten Abführung an das Finanzamt bereithält, darf er im Zeitpunkt der Fälligkeit der Lohnsteuer diese nicht mehr entrichten. Somit kommt es dann nicht zur Haftung, wenn der Geschäftsführer in einem solchen Fall überhaupt keine Lohnsteuer absondert und für die Abführung bereithält.1 Dieser Haftungsausschluss ist aber auf der Ebene der Kausalität zu prüfen (s. unten Rz. 2.121 ff.). Weiterhin entfällt die Pflicht zur Entrichtung der Lohnsteuer auch nicht, wenn die Löhne aus dem Privatvermögen des Gesellschafter-Geschäftsführers entrichtet werden.2 Weitere Pflichtverletzungen können darin liegen, dass der Vertreter nicht den 2.57 allgemein bestehenden Pflichten, die jeder Steuerpflichtige zu erfüllen hat, nachkommt. So hat er insbesondere folgende Pflichten: Anzeige-, Erklärungs-, Anmeldungs-, Auskunfts-, Nachweis-, Berichtigungs-, Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten.3 Gerade die Erklärungspflichten spielen eine wichtige Rolle. So besteht auch die 2.58 Pflicht zur Berichtigung falscher Angaben. Der Vertreter hat nicht nur zutreffende Steuererklärungen (Steuervorauszahlungen) abzugeben. Er hat auch eine 1 BFH, Urt. v. 17.11.1992 – VII R 13/92, BStBl. II 1993, 471 (472). 2 BFH, Urt. v. 22.11.2005 – VII R 21/05, BStBl. II 2006, 397; a.A. für Geschäftsführer, der nicht Gesellschafter ist oder der die Gesellschaftsanteile treuhänderisch für einen Dritten hält, Tiedke, GmbHR 2007, 21. 3 Mösbauer, S. 46; zur Erklärungspflicht s. BFH, Urt. v. 29.11.2006 – I R 103/05, BFH/NV 2007, 1067.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

Berichtigungspflicht nach § 153 AO. Diese gilt auch für Vorauszahlungen, so dass eine Auskunft über voraussichtliche Umsätze zu berichtigen ist, wenn sie unrichtig ist und es dadurch zu einer Steuerverkürzung kommen kann.1 2.59

Beispiel: Der Geschäftsführer macht im Eröffnungsbogen gegenüber der Finanzbehörde falsche Angaben zu den voraussichtlichen Umsätzen. Dies führt zu erheblich zu niedrig festgesetzten Umsatzsteuervorauszahlungen. Der Geschäftsführer berichtigt diese Angaben in der Folgezeit nicht. Hier haftet der Geschäftsführer für den daraus entstandenen Schaden nach § 69 AO.2

2.60

Kommt zwar zunächst der Vertreter selbst als derjenige in Betracht, der die Pflichtverletzung begangen haben muss, um eine Haftung auszulösen, so kann aber auch eine Pflichtverletzung Dritter ihm zugerechnet werden. Überträgt der Vertreter die steuerlichen Pflichten auf einen Mitarbeiter, so können seine Pflichtverletzungen ihm zugerechnet werden, wenn er sich nicht exkulpieren kann. Der Vertreter kann sich aber nicht entlasten, wenn er sich bezüglich der Auswahl oder Überwachung einen Vorwurf gefallen lassen muss (s. im Einzelnen zum Verschulden Rz. 2.132 ff.).

2.61

Auf den Zeitpunkt der Pflichtverletzung kommt es nicht an. Es ist daher unerheblich, ob das pflichtwidrige Verhalten vor Fälligkeit oder auch vor Entstehung der später verkürzten Steueransprüche oder danach liegt.

2.62

Beispiel: (vgl. Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 StH 551, FN-IDW 1998, 211) Der Geschäftsführer überweist die Nettolöhne an die Arbeitnehmer der GmbH, obwohl er genau weiß, dass ihm dann nicht mehr ausreichende Mittel für die Entrichtung der darauf entfallenden Lohnsteuer zur Verfügung stehen. Die Pflichtverletzung liegt vor der Entstehung der Lohnsteuer; der Geschäftsführer hätte vor Überweisung der Löhne die Mittel für die Bezahlung der Lohnsteuer sicherstellen müssen, ggf. durch geringere Nettolohnzahlungen.

2.63

Beispiel: (vgl. Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 StH 551, FN-IDW 1998, 211) Der Geschäftsführer weiß, dass die GmbH für den Monat Juli ca. 50 000 Euro an Umsatzsteuer wird entrichten müssen. Trotzdem befriedigt er gegen Ende des Monats in vollem Umfang die übrigen Gläubiger der GmbH – auch soweit deren Forderungen noch nicht fällig waren –, so dass ihm für die Tilgung der Steuerschuld keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Die Pflichtverletzung (= ausschließliche Befriedigung der übrigen Gläubiger) liegt vor der Entstehung der Umsatzsteuerschuld.

2.64

Eine weitere Pflicht besteht darin, Vertragsgestaltungen nur vorzunehmen, wenn die daraus erkennbar anfallenden Steuern auch abgeführt werden können (str.).3 So handelt der Liquidator einer nicht zahlungsfähigen GmbH nach Auffassung des BFH pflichtwidrig, wenn er – ohne rechtlich dazu gezwungen zu sein – über den Erlös aus der Versteigerung eines Grundstücks der GmbH eine mit Umsatzsteuer ausgewiesene Rechnung an den Zuschlagsempfänger richtet, der er selbst ist, obwohl er weiß, dass die Umsatzsteuer der GmbH nicht mehr abge-

1 FG Düsseldorf, Urt. v. 24.5.1989 – 4 K 397/83 AO, EFG 1989, 491; Niedersächsisches FG, Urt. v. 2.6.2006 – 11 K 45/04, EFG 2006, 1875. 2 Niedersächsisches FG, Urt. v. 2.6.2006 – 11 K 45/04, EFG 2006, 1875. 3 BFH, Urt. v. 20.10.1987 – VII R 6/84, BFH/NV 1988, 428; Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

führt werden kann.1 In einer späteren Entscheidung lehnt der BFH jedoch ab, allgemein eine Pflichtverletzung darin zu sehen, dass der gesetzliche Vertreter zur Umsatzsteuer optiert, obwohl die dadurch entstehende Steuerschuld nicht beglichen werden kann.2 cc) Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung der Finanzbehörde Ein Ausfluss der Pflicht zur Steuerentrichtung ist für den Fall, dass der Ge- 2.65 schäftsführer bei Fälligkeit nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung hat, die Pflicht, das Finanzamt quotenmäßig zu befriedigen. Dieser von der ständigen Rechtsprechung des BFH vertretene Standpunkt wird auch als Grundsatz der anteiligen Tilgung bezeichnet3 und ist im Tatbestand der Haftung zu prüfen.4 Damit ist der Grundsatz voll inhaltlich durch die Finanzgerichte überprüfbar und nicht im Rahmen des Ermessens zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des BFH wird eine haftungsbegründende Pflichtver- 2.66 letzung bei Veranlagungssteuern, insbesondere bei der Umsatzsteuer, in vollem Umfang nur angenommen, wenn der Vertretene trotz vorhandener Mittel nicht oder nicht rechtzeitig zahlt. Stehen nicht genügende Zahlungsmittel zur Verfügung, so besteht die Pflicht der Vertreter darin, alle Gläubiger anteilig zu befriedigen. Jede Benachteiligung der Finanzbehörde stellt dabei eine Pflichtverletzung dar.5 Eine bevorzugte Behandlung der Finanzbehörde ist nicht zu fordern. Stehen überhaupt keine Mittel zur Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung, so entfällt die Haftung mangels Pflichtverletzung. Der BFH wendet in älteren Entscheidungen den Grundsatz der anteiligen Tilgung auch dann an, wenn neben oder statt der 2. Alternative auch die 1. Alternative des § 69 Satz 1 AO erfüllt ist.6 Der Grundsatz der anteiligen Tilgung gilt also danach auch dann, wenn der Geschäftsführer zumindest grob fahrlässig die Steuererklärung nicht bzw. nicht rechtzeitig abgegeben hat.7 Dieser Auffassung der Rechtsprechung wird zum Teil von der Literatur gefolgt.8 Von besonderer Bedeutung ist die Frage nach der Beweislast in den Fällen, in 2.67 denen fraglich ist, ob die Mittel einer GmbH zur vollständigen Begleichung der steuerlichen Verbindlichkeiten ausreichten und ob das Finanzamt gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt worden ist. Hier gilt, dass das Finanzamt für

1 BFH, Urt. v. 9.1.1997 – VII R 51/96, UR 1998, 108 (109) = BFH/NV 1997, 324. 2 BFH, Urt. v. 28.11.2002 – VII R 41/01, BStBl. II 2003, 337. 3 BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776 = BFHE 141, 443; Urt. v. 12.6.1986 – VII R 192/83, BStBl. II 1986, 657 = BFHE 146, 511; Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 = BFHE 164, 203; Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 57/15, BFH/NV 2016, 372; Urt. v. 14.6.2016 – VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672. 4 BFH, Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 = BFHE 164, 203. 5 BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776; Urt. v. 12.4.1988 – VII R 131/85, BStBl. II 1988, 742; Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678. 6 BFH, Urt. v. 12.7.1988 – VII R 4/88, BStBl. II 1988, 980 (981) m.w. Nachw. 7 BFH, Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 = BFHE 164, 203 (einschränkend) m.w. Nachw.; Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570. 8 Prugger, INF 1988, 510 (511); Britz, Rz. 181 ff.

27

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

den Umfang einer etwaigen Benachteiligung des Finanzamtes gegenüber anderen Gläubigern die objektive Beweislast trägt (vgl. auch Rz. 2.109 f.).1 2.68

Û

Hinweis: Es ist mit Sorgfalt zu prüfen, ob das Finanzamt die Verletzung dieser Pflicht in gehöriger Form nachgewiesen hat bzw. nachweisen kann.

dd) Ausnahmen vom Grundsatz der anteiligen Tilgung (1) Einzelne Fallgruppen 2.69

Der Grundsatz der anteiligen Tilgung ist in folgenden Fällen nicht oder nur eingeschränkt anwendbar, so dass in diesen Fällen der Haftende nach dem Tatbestand uneingeschränkt für die Steuerrückstände einzustehen hat.

2.70

Pflicht zur Abgabe oder rechtzeitigen Abgabe der vollständigen Steuererklärung bzw. Steuervoranmeldung ist verletzt worden: Nach einer Ansicht im Schrifttum2, des FG München3 und teilweise im Ergebnis auch des BFH4 differenziert die ältere Rechtsprechung des BFH nicht zur Genüge. Die Vertreter dieser Auffassung beziehen die Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung der Finanzbehörde uneingeschränkt nur auf die Tatbestandsalternative der nicht oder nicht rechtzeitigen Erfüllung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Nur hier sei es generell einsichtig, den Vertreter lediglich insoweit haften zu lassen, als er die Finanzbehörde gegenüber den anderen Gläubigern benachteiligte. Im Falle nicht hinreichend vorhandener Mittel bedeute dies, die Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung der Finanzbehörde zu beachten. Ist aber die Pflicht zur Abgabe oder zur rechtzeitigen Abgabe der vollständigen Steuererklärung bzw. Steuervoranmeldung verletzt worden, so könne es zu einer vollen Haftung kommen. Denn wäre die Steuer festgesetzt/angemeldet bzw. rechtzeitig festgesetzt/angemeldet worden, hätte die Finanzbehörde vollstrecken können bzw. wäre möglicherweise die Steuer vollumfänglich freiwillig noch gezahlt worden. Statt Vollstreckung könne der Schaden auch auf vereitelter Verrechnungs- bzw. Aufrechnungsmöglichkeit beruhen.5 Auf spätere Zahlungsschwierigkeiten komme es daher nicht an. Dieser Auffassung ist zu folgen, denn wäre z.B. die Steuerschuld rechtzeitig festgesetzt worden, hätte die Finanzbehörde von sich aus vollstrecken können, auf die Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung wäre es nicht mehr angekommen. Ob die Finanzbehörde bei ordnungsgemäßer Steuererklärung die Steuerrückstände hätte beitreiben können, ist eine 1 BFH, Urt. v. 2.10.1986 – VII R 190/82, BFH/NV 1987, 223; vgl. auch Britz, Rz. 163 f.; zur Beweislast allg. vgl. BFH, Urt. v. 29.11.2006 – I R 103/05, BFH/NV 2007, 1067. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 45; Spetzler, GmbHR 1989, 167 (168 f.); Friedl, UR 1992, 38; Beermann, DStR 1994, 805 (811); Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 – StH 551, FN-IDW 1998, 211 (212). 3 FG München, Urt. v. 11.11.1987 – III 327/85 AO, EFG 1988, 338; Urt. v. 11.2.1988 – XIV 237/85 AO (rkr.), EFG 1988, 608. 4 BFH, Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 (681); Urt. v. 25.4.1995 – VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97 (100) (obiter dictum); Beschl. v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/ NV 1997, 7 (9); Beschl. v. 20.2.2001 – VII B 111/00, BFH/NV 2001, 1097 (1098). 5 BFH, Urt. v. 25.4.1995 – VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97 (100); Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100 (1102).

28

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Frage, die die Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden betrifft.1 Insofern übersieht m.E. der BFH dies in seiner Entscheidung vom 26.8.1992 zur Haftung des Geschäftsführers, der zu niedrige Umsätze in seiner Umsatzsteuervoranmeldung erklärt hatte.2 Friedl fordert zu Recht wegen der Anknüpfung der Haftung an die Gefährdung der Steuererhebung durch diese Pflichtverletzung dem Geschäftsführer die Feststellungslast dafür aufzubürden, dass der Ausfall der Steuer auch unabhängig von der von ihm geschaffenen Gefährdungslage eingetreten wäre.3 Dies kann aber nicht ohne Außerachtlassung des üblichen Geschehensablaufs erfolgen. So kann nicht unterstellt werden, dass das Finanzamt eine sofortige erfolgreiche Vollstreckung einer angemeldeten, aber nicht entrichteten Steuer vornimmt. Insoweit müssen für den gewöhnlichen Verlauf Feststellungen getroffen werden.4 Hierbei kann es auf die Vollstreckungspraxis des betroffenen Finanzamtes und auf die bestandenen Vollstreckungsmöglichkeiten (z.B. vorhandene Guthaben auf Geschäftskonten) zum betreffenden Zeitpunkt beim Steuerpflichtigen ankommen.5 Ausgezahlte Steuervergütung

2.71

Der Grundsatz der anteiligen Tilgung kommt auch dann nicht zur Anwendung, wenn es aufgrund einer Erklärungspflichtverletzung zu einer unberechtigten Auszahlung einer Steuervergütung gekommen ist. In diesem Fall geht es nicht um eine Zahlungsverpflichtung der GmbH, sondern um eine zu Unrecht an die GmbH ausgezahlte Steuervergütung.6 Beispiel: Der Geschäftsführer erklärt in der Voranmeldung einen erheblich zu hohen Vorsteuerbetrag. Es kommt zur Auszahlung eines sog. Rotbetrages an die GmbH in Höhe von 5000 Euro. Richtigerweise hätte die GmbH an das Finanzamt 10 000 Euro zahlen müssen. Hinsichtlich der 5000 Euro gilt nicht der Grundsatz der anteiligen Tilgung. Der Geschäftsführer haftet insoweit in voller Höhe.

Abzugssteuern werden geschuldet:

2.72

Im Folgenden weiteren Fall ist auch von einer anteiligen Tilgungspflicht abzusehen. Werden Abzugssteuern (Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag auf die Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer, Kapitalertragsteuer, Abzugsbeträge nach § 50a EStG) geschuldet, so kommt ebenfalls eine volle Haftung in Betracht.7 Handelt es sich um Lohnsteuer, so hat in diesem Fall der Vertreter die Lohn- 2.73 ansprüche soweit zu kürzen, wie eine Abführung der Lohnsteuer gesichert ist. Dies folgt aus dem System des Lohnsteuerabzugsverfahrens, wonach es sich bei der abzuführenden Lohnsteuer um einen bei der Lohnzahlung zurückbehaltenen Teil des Lohnes der Arbeitnehmer handelt, die gem. § 38 Abs. 2 EStG die Lohn-

1 2 3 4 5 6 7

BFH, Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 (681). BFH, Urt. v. 26.8.1992 – VII R 50/91, BStBl. II 1993, 8. Friedl, UR 1992, 38 (41). BFH, Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100 (1102). Niedersächsisches FG, Urt. v. 27.1.2011 – 11 K 364/09, EFG 2011, 1486. BFH, Urt. v. 25.4.1995 – VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97 (99). Vgl. BFH, Beschl. v. 18.8.1999 – VII B 106/99, BFH/NV 2000, 541; Jakob, Rz. 402.

29

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

steuer schulden. Der Arbeitgeber zieht die Lohnsteuer treuhänderisch für den Arbeitnehmer und den Steuergläubiger ein.1 2.74

Diese Ansicht stößt bei Loose auf heftige Kritik. Er ist der Ansicht, dass eine solche Sichtweise den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht werde. Es werde nicht die notstandsähnliche Zwangslage des Unternehmers beachtet, der im Krisenfall vor der Wahl stehe, entweder nur die Nettolöhne zu zahlen oder das Unternehmen einzustellen. Letzteres sei praktische Folge der vom BFH geforderten Lohnkürzung, um die Lohnsteuer abführen zu können. Denn in einem solchen Fall würden die Mitarbeiter ihre Tätigkeit einstellen.2

2.75

Der nach ständiger Rechtsprechung des BFH gefestigten Auffassung, von einer in der Regel vollen Haftung bei rückständiger Lohnsteuer auszugehen, ist m.E. zu folgen, da es sich um fremde Gelder der Arbeitnehmer handelt. Die volle Haftung ist aber in dreierlei Hinsicht eingeschränkt:

2.76

Einschränkung der vollen Haftung hinsichtlich der Lohnsteuer 1. Ist ein Unternehmen gesund, so darf der Geschäftsführer die vollen Löhne auszahlen. Die später fälligen Lohnsteuerbeträge müssen nicht zurückgehalten werden. Kommt es nach Auszahlung der Löhne und vor der Fälligkeit der Lohnsteuer zu einer unerwartet eingetretenen Illiquidität, so haftet der Geschäftsführer infolgedessen nicht.3 Dies gilt jedoch nicht, wenn sich die Illiquidität abzeichnet (z.B. die Gewährung von Krediten wird von den Banken bereits vor Auszahlung der Löhne verweigert oder von z.B. Sanierungsmaßnahmen abhängig gemacht). 2. Wegen der gebotenen Kürzung der Löhne ist die Haftung auf die Beträge beschränkt, die der Geschäftsführer bei der beachteten Kürzung der Nettolöhne hätte an das Finanzamt abführen können. Diese Beschränkung greift jedoch dann nicht, wenn der Geschäftsführer wegen fehlender Liquidität über mehrere Monate hinweg immer nur die Nettolöhne ausgekehrt hat; denn in diesem Fall verfügte der Haftungsschuldner über ausreichende Mittel, um die jeweilig fälligen Lohnsteueransprüche zu bezahlen.4 Im Ergebnis kommt daher eine solche Kürzung nur für den oder die letzten Monate der Lohnzahlung z.B. vor Insolvenzantragstellung in Betracht. Wegen der dem Haftungsschuldner obliegenden Feststellungslast (Beweislast) muss dieser nachweisen, dass nach der Auszahlung der Nettolöhne keine Gelder mehr vorhanden waren.5 3. Für den Nachfolgegeschäftsführer gilt die volle Haftung nicht. Für ihn gilt der Grundsatz der anteiligen Tilgung.

2.77

Û 1 2 3 4 5

Hinweis: Wird der Haftungsschuldner für Lohnsteuer voll in Haftung genommen, so ist zu prüfen, ob nicht aufgrund einer plötzlichen Änderung der Liquidität die Lohnsteuerzahlung unterblieben ist.

BFH, Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (272). Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 41; im Ergebnis ebenso Biletzki, NJW 1997, 1548. BFH, Urt. v. 20.4.1993 – VII R 67/92, BFH/NV 1994, 142 (143 f.). BFH, Urt. v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859. BFH, Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589 (591); Beschl. v. 8.5.2001 – VII B 252/00, BFH/NV 2001, 1222.

30

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Weiterhin ist zu prüfen, ob nicht im letzten Monat vor Insolvenzanmeldung nach Auszahlung der letzten Nettolöhne keine Zahlungsmittel mehr vorhanden waren. Feststellungslast (Beweislast) liegt hier beim Haftungsschuldner. Eine weitere Beschränkung gilt bei Lohnsteuerhaftungsfällen hinsichtlich der 2.78 Säumniszuschläge und der Verspätungszuschläge1. Hier wird häufiger vom Finanzamt nicht beachtet, dass eine volle Haftung nur für die Hauptschuld (= Lohnsteuer), nicht aber für die Säumniszuschläge gilt. Hinsichtlich der Säumniszuschläge ist daher der Grundsatz der anteiligen Tilgung wieder zu beachten.

Û

Hinweis: In Fällen der Lohnsteuerhaftung ist zu beachten, dass es hinsicht- 2.79 lich der Säumnis- und Verspätungszuschläge bei dem Grundsatz der anteiligen Tilgung verbleibt.

Die volle Haftung gilt nicht hinsichtlich pauschalierter Lohnsteuer, da diese 2.80 vom Arbeitgeber geschuldet wird. Damit kommt hinsichtlich der pauschalierten Lohnsteuer der Grundsatz der anteiligen Tilgung in Betracht. Wie die Lohnsteuer hat der Abzugsverpflichtete auch die Kapitalertragsteuer für 2.81 den Steuerschuldner (Empfänger der Kapitalerträge) abzuführen. Damit dürfte auch bei der Kapitalertragsteuer wie bei der Lohnsteuer der Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht greifen.2 Ausschüttungen an Anteilseigner, ohne die ausgelöste Körperschaftsteuer ent- 2.82 richten zu können: Ein weiterer Fall, in dem der Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht gilt, ist bei Ausschüttungen an Anteilseigner nach KStG a.F. gegeben. Der Geschäftsführer haftet für rückständige Körperschaftsteuer in voller Höhe, „wenn er, ohne hierzu aufgrund eines den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechenden Gewinnverteilungsbeschlusses ermächtigt oder verpflichtet zu sein, Ausschüttungen an die Anteilseigner vornimmt, die nach § 27 i.V.m. den §§ 28 bis 30 KStG zu einer Erhöhung der Körperschaftsteuer führen. Da die Steuer insoweit nicht im Rahmen eines laufenden Geschäftsbetriebs der Gesellschaft entsteht, sondern Folge einer gezielten Mittelverwendung ist, darf der Geschäftsführer Ausschüttungen nur insoweit vornehmen, als die Gesellschaft auch die hierdurch ausgelöste Körperschaftsteuer entrichten kann.“3

1 BFH, Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (273). 2 So Niedersächsisches FG, Urt. v. 30.7.1996 – XI 4/93, n.v.; im Ergebnis auch FG Hamburg, Urt. v. 7.8.2003 – VII 124/00, EFG 2004, 74; a.A. wohl BFH, Urt. v. 26.2.2003 – I R 30/02, BFH/NV 2003, 1301, der von der Anwendung des Grundsatzes der quotalen Tilgung ausgeht. 3 Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 – StH 551, FN-IDW 1998, 211 (212); vgl. aber BFH, Urt. v. 30.3.1989 – I R 34/87, BStBl. II 1989, 489 für den Fall der verdeckten Gewinnausschüttung durch Grundstücksverkauf.

31

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.83

Keine Verfügungsmacht mehr: Weiterhin sind Fälle denkbar, in denen der Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht in Betracht kommt, weil dem Betreffenden keine andere Verfügungsmöglichkeit blieb, als einen bestimmten Gläubiger bevorzugt zu befriedigen. So hat z.B. der BFH entschieden, dass der Grundsatz der anteiligen Tilgung dann nicht gilt, wenn Kaufpreiszahlungen auf das Konto des Steuerpflichtigen eingehen, das einen Debetsaldo aufweist, mit dem die Bank verrechnet. Hier hat der Pflichtige keinen Einfluss auf den Buchungsvorgang. Die bevorzugte Befriedigung der Bank ist daher zu berücksichtigen.1 Jedoch bedeutet diese Berücksichtigung der bevorzugten Befriedigung eine Reduzierung der Haftungsquote.

2.84

Ab Insolvenzreife: Ein weiterer Fall, in dem die volle Haftung den Geschäftsführer trifft, ist gegeben, wenn die Insolvenzreife der GmbH eingetreten ist und der Geschäftsführer trotzdem die Geschäfte fortführt. Hier verletzt der Geschäftsführer in der Regel vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Pflicht, Geschäfte nur zu tätigen, wenn für die daraus folgenden Steuern Mittel zur Verfügung stehen. Wer weiß, dass er keine Zahlungsmittel mehr hat, muss für den Schaden, der durch die weitere Geschäftstätigkeit entsteht, in vollem Umfang einstehen. Eine hieraus sich ergebende Differenzierung zwischen dem Zeitraum vor Insolvenzreife, in dem eine quotenmäßige Tilgungspflicht zu beachten ist, und für die Zeit danach, in der die volle Haftung zum Tragen kommt, hat der BFH bisher noch nicht vorgenommen.2 Abgesehen von einer Entscheidung des FG Baden-Württemberg3, das für den Zeitraum nach Insolvenzreife die Schadenshaftung der Höhe nach davon abhängig macht, wie ein fiktives Insolvenzverfahren ausgehen würde, ist nur nach BGH-Rechtsprechung eine volle Haftung für die Schäden durch Geschäftstätigkeit nach Insolvenzreife gegenüber den Neugläubigern vorgesehen.4 Die Erwägungen des BGH sind m.E. auch auf die steuerliche Haftung des Geschäftsführers zu beziehen.5 Der Schaden ergibt sich nach BGH-Ansicht im Wesentlichen daraus, dass bei rechtzeitiger Insolvenzantragstellung überhaupt keine weiteren Verpflichtungen gegenüber den Neugläubigern entstanden wären. Auch steuerlich wären keine weiteren Schulden entstanden, wenn rechtzeitig Insolvenzantrag gestellt worden wäre, so dass für den vollen Steuerausfall zu haften ist. Für eine Haftung nach §§ 34, 69 AO kommt jedoch nicht eine Anknüpfung an

1 BFH, Urt. v. 12.5.1987 – VII R 156/84, BFH/NV 1988, 74; vgl. auch Britz, Rz. 185 f. 2 Offenbar ablehnend BFH, Urt. v. 25.4.1995 – VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97; der Hinweis von Biletzki auf zwei Entscheidungen des BFH (NJW 1997, 1548 [1549]), wonach auch nach Insolvenzreife der Grundsatz der anteiligen Tilgung greife, dürfte nicht zutreffend sein. Beide Entscheidungen behandeln die Haftung für Steuerschulden, die vor Eintritt der Insolvenzreife entstanden sind (BFH, Urt. v. 16.3.1993 – VII R 89/90, BFH/ NV 1994, 359; Urt. v. 2.3.1993 – VII R 90/90, BFH/NV 1994, 526). 3 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.6.1993 – 9 K 112/89 (rkr.), EFG 1994, 75. 4 BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 = NJW 1994, 2200 = DStR 1994, 1054; Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, NJW 1998, 2667; zustimmend Goette, DStR 1994, 1048 (1053) u. Medicus, DStR 1995, 1432 (1435). 5 Vgl. auch Urban, DStR 1997, 1145 (1147), Biletzki, NJW 1997, 1548 (1549).

32

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

die Verletzung der handelsrechtlichen Pflicht zur Insolvenzantragstellung gem. § 64 Abs. 1 GmbHG in Betracht, da diese Pflicht gerade keine aus den Steuergesetzen herrührende Pflicht ist1 und deshalb nicht von § 34 AO erfasst wird.2 Anknüpfungspunkt ist m.E. vielmehr die Mittelvorsorgepflicht, d.h., der Geschäftsführer ist verpflichtet, für das Vorhandensein von Mitteln bei Fälligkeit der entstandenen Steuern zu sorgen. Im Fall der Insolvenzreife hat er die Pflicht, nur Geschäfte zu tätigen, wenn er auch Mittel besitzt, die für die Bezahlung der aus dieser Geschäftstätigkeit folgenden Steuern zur Verfügung stehen.3 Ab Insolvenzreife verletzt er diese Pflicht, wenn er weiterhin Geschäfte tätigt. 2.85 Insolvenz liegt dabei vor, wenn der Steuerpflichtige überschuldet oder zahlungsunfähig ist. Zahlungsunfähig ist er gem. § 17 Abs. 2 InsO, wenn er nicht in der Lage ist, fällige Zahlungspflichten zu erfüllen. Nur kurzfristige Zahlungsstockungen werden nicht erfasst. In der Regel ist eine Zahlungsunfähigkeit anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen einstellt und die beteiligten Verkehrskreise dies erkennen. Indizien hierfür sind die häufige Hingabe ungedeckter Schecks, Scheck- und Wechselproteste, Nichteinlösung von Lastschriften, gehäufte Vollstreckungsmaßnahmen oder Einstellung jeglicher Zahlungen auf laufende Verbindlichkeiten.4 Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen die Schulden nicht mehr deckt (s. § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 64 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, § 98 GenG, § 19 Abs. 2 InsO). Gelingt es der Finanzbehörde, diesen Nachweis der Insolvenzreife und ihrer Kenntnis durch den Geschäftsführer zu erbringen und liegen weitere Indizien dafür vor, dass der Geschäftsführer in dieser Situation billigend in Kauf genommen hat, dass der Steuergläubiger unbefriedigt bleibt, so liegt eine vorsätzliche Pflichtverletzung vor.5

Û

Hinweis: Im Falle der Insolvenzreife ist es dem Geschäftsführer nicht nur 2.86 aus strafrechtlicher, sondern auch aus steuerhaftungsrechtlicher Sicht dringend anzuraten, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen.

Verletzung der Mittelvorsorgepflicht:

2.87

Eine Haftung über die Quote hinaus kommt auch dann in Betracht, wenn der Geschäftsführer einer GmbH sich durch Vorwegbefriedigung anderer Gläubiger oder in sonstiger Weise (etwa durch Entnahme liquider Mittel) schuldhaft außerstande setzt, künftig fällig werdende Steuerschulden, deren auch erst künftige Entstehung ihm bekannt ist, zu tilgen.6 Der Vertreter etc. ist bereits vor Fälligkeit von Steuern ganz allgemein verpflichtet, die Mittel des Steuerschuldners so zu verwalten, dass dieser zur pünktlichen Tilgung auch der erst künftig fällig

1 2 3 4 5 6

Ebenso Blesinger, S. 47; vgl. auch Kapischke, NWB Fach 3, 3437. BFH, Urt. v. 7.10.1977 – III R 131/73, DStR 1978, 141 (142). Urban, DStR 1997, 1145 (1148). Vgl. Urban, DStR 1997, 1145 (1149). Vgl. Urban, DStR 1997, 1145 (1151). BFH, Beschl. v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7 (9); Beermann, DStR 1994, 805 (811).

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

werdenden Steuerschulden in der Lage ist.1 Entscheidend ist dabei, dass der gesetzliche Vertreter ungeachtet der erkennbar entstehenden Steueransprüche für deren spätere Tilgung im Zeitpunkt der Fälligkeit keine Sorge trifft. Dies kann auch zur Haftung eines bereits ausgeschiedenen Geschäftsführers führen.2 In folgenden Fällen wird wegen der Verletzung dieser Mittelvorsorgepflicht ebenfalls abgelehnt, den Grundsatz der anteiligen Tilgung anzuwenden. So kommt eine volle Haftung in Betracht, wenn der Umsatzsteuerschuld, für die gehaftet werden soll, keine Geschäftsvorfälle zugrunde liegen, sondern vorsätzlich und pflichtwidrig die Umsatzsteuerschuld nach § 14c Abs. 2 UStG herbeigeführt wurde. Wer unberechtigt Umsatzsteuer ausweist, muss m.E. für die Steuerschuld in voller Höhe einstehen. Er kann sich nicht auf den Grundsatz der anteiligen Tilgung berufen.3 Ebenso ist der Fall zu beurteilen, der der Entscheidung des BFH vom 9.1.19974 zugrunde lag. Dort hatte der Liquidator vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig über den Erlös aus der Versteigerung eines Grundstücks der GmbH i. L. eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis dem Zuschlagsempfänger ausgestellt, obwohl er wusste, dass die GmbH i. L. nicht die Umsatzsteuer werde zahlen können.5 Der haftungsbegrenzende Grundsatz der anteiligen Tilgung greift auch hier nicht durch, zumal der Liquidator als Zuschlagsempfänger die Vorsteuer geltend machen konnte.6 Gleiches gilt m.E. auch bei einem Insolvenzverwalter, der unberechtigt Umsatzsteuer ausweist (§ 14c Abs. 2 Satz 2 UStG), obwohl er weiß, dass diese Umsatzsteuer nicht (im vollen Umfang) entrichtet werden kann.7 2.88

Fraglich ist, ob auch in Fällen, in denen der Vertreter durch sein Handeln im Vorfeld einzelne Gläubiger bevorzugt, von einer Verletzung der Mittelvorsorgepflicht auszugehen ist. Insbesondere kann in Fällen der Globalzession, der Bestellung von Grundpfandrechten und von Forderungsabtretungen für bzw. an Gläubiger eine Verletzung der Mittelvorsorgepflicht gegeben sein. Zwar ist der

1 BFH, Beschl. v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7 (9); Urt. v. 20.5.2014 – VII R 12/12, BFH/NV 2014, 1353. 2 BFH, Urt. v. 25.4.2013 – VII B 245/12, BFH/NV 2013, 1063; Urt. v. 20.5.2014 – VII R 12/12, BFH/NV 2014, 1353. 3 Ähnlich Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 29; zur Haftung des Geschäftsführers wegen Steuerhinterziehung s. BFH, Urt. v. 26.8.1992 – VII R 50/91, BStBl. II 1993, 8. 4 BFH, Urt. v. 9.1.1997 – VII R 51/96, UR 1998, 108 = DStRE 1997, 523; vgl. auch BFH, Urt. v. 5.2.1985 – VII R 124/80, BFH/NV 1987, 2. 5 Zur Frage der Anforderungen an die Voraussehbarkeit der fehlenden Zahlungsmöglichkeit vgl. BFH, Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100 (1102). 6 BFH, Urt. v. 9.1.1997 – VII R 51/96, UR 1998, 108 (110) = DStRE 1997, 523 = BFH/NV 1997, 324; im Gegensatz dazu nimmt der BFH in einer späteren Entscheidung keinen Ausnahmefall an, wenn zwischen GmbH und dem Erwerber keine personelle oder gesellschaftsrechtliche Verbindung festzustellen ist, s. BFH, Urt. v. 16.12.2003 – VII R 77/00, BB 2004, 643 (648). 7 BFH, Urt. v. 21.6.1994 – VII R 34/92, BStBl. II 1995, 230; Beschl. v. 10.12.1996 – V B 55/96, BFH/NV 1997, 637 (638); a.A. BFH, Urt. v. 28.11.2002 – VII R 41/01, BStBl. II 2003, 337, der insoweit eine modifizierte Anwendung des Grundsatzes der anteiligen Tilgung vorsieht. Der Konkursverwalter haftet danach nur für den Schaden, der bei Anwendung der konkursrechtlichen/insolvenzrechtlichen Vorschriften entstanden wäre (ebenso BFH, Urt. v. 16.12.2003 – VII R 42/01, BFH/NV 2004, 908).

34

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Geschäftsführer in seinem wirtschaftlichen Handeln grundsätzlich frei und braucht eine Haftung des Fiskus wegen solcher Handlungen nicht zu befürchten; jedoch ist hier die Grenze erreicht, wenn im Zeitpunkt solcher Handlungen für einen gewissenhaft und ordentlich handelnden Geschäftsführer zukünftige Abgabenforderungen absehbar sind, deren Bezahlbarkeit mit gewisser Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist. Dann ist es Aufgabe des Vertreters, eine Benachteiligung des Fiskus zu verhindern. Notfalls kann dies dazu führen, dass der Geschäftsführer Geschäfte, die mit solchen Forderungen des Gläubigers verbunden sind, abzulehnen hat. Unterlässt er es, begibt er sich in die Gefahr einer Haftung für die daraus entstehenden offenen Steuerforderungen (s. zur Bedeutung solcher Handlungen für die Mittelverwendungsrechnung Rz. 2.90).1 Einfuhrabgaben:

2.89

Weiterhin gilt der Grundsatz der anteiligen Tilgung auch nicht für die Anmeldung von Einfuhrabgaben (Zöllen) sowie deren Entrichtung.2 Abgesehen von den oben genannten Ausnahmen sind weitere nicht ersichtlich. 2.90 Insbesondere kann sich der Geschäftsführer nicht darauf berufen, er sei aufgrund einer Globalzession oder Einzelabtretungen daran gehindert gewesen, das Finanzamt anteilig zu befriedigen. Zwar wird häufig der Geschäftsführer unter dem Druck des beherrschenden Gläubigers, in der Regel der kreditgebenden Bank, eine sog. Globalzession, d.h. die Abtretung sämtlicher Forderungen des Steuerpflichtigen an diesen, vereinbaren; doch handelt es sich um eine Maßnahme, welche aus freien Stücken vorgenommen wird. Um die Grenze zu einem Haftungsausschluss nicht zu verwischen, ist daher eine Entlastungswirkung durch die Globalzession nicht gegeben.3 Gleiches gilt für Einzelabtretungen. Hat der Geschäftsführer durch einzelne Vorausabtretungen, z.B. aufgrund von Sicherungsrechten, seine Verfügungsmacht verloren, so sind gleichwohl die Tilgungen der damit verbundenen Verbindlichkeiten bei der Tilgungsquotenberechnung zu berücksichtigen.4 Ob dies auch für die Fälle der Vorausabtretungen und Sicherungsschulden gilt ist offen.5

1 S. hierzu im Einzelnen Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 29 u. 30 m.w.Nachw. aus der BFH-Rspr. 2 BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491; vgl. auch FG Hamburg, Beschl. v. 7.8.2015 – 4 V 80/15, juris; FG Düsseldorf, Urt. v. 22.11.2016 – 4 K 1746/16 H, ZfZ Beilage 2017, Nr. 2, 28. 3 Vgl. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776 (780); Prugger, INF 1988, 265 (266); vgl. auch Britz, Rz. 126; BFH, Beschl. v. 11.4.1997 – I B 109/96, BFH/NV 1997, 634. 4 BFH, Urt. v. 14.7.1987 – VII R 188/82, BStBl. II 1988, 172, 174; Urt. v. 13.9.1988 – VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139. 5 S. hierzu die Entscheidungen des FG Münster (Urt. v. 16.1.2014 – 9 K 2879/10 L, EFG 2014, 1254; Urt. v. 16.1.2014 – 9 K 2880/10 L, juris).

35

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.91

36

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

(2) Haftungsrechtliche Schlussfolgerungen für die Ausnahmefälle Zunächst könnten sich Probleme bei der Bestimmung des Haftungszeitraumes 2.92 ergeben. Wie der BFH zu Recht hervorgehoben hat, wird der Haftungszeitraum, der grundsätzlich mit Fälligkeit der ältesten noch rückständigen Forderung beginnt, vorverlegt, wenn der Haftungsschuldner seine Pflicht zur Abgabe bzw. rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung verletzt hat. Der Haftungszeitraum beginnt dann in dem Zeitpunkt, in dem bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung die Steuerschuld fällig geworden wäre (s. Rz. 2.98). Da aber die Haftungsschulden, die aus dieser Pflichtverletzung entstehen, in voller Höhe vom Haftungsschuldner zu tragen sind, ergibt sich m.E. das Problem, ob diese Steuerschulden aus der erforderlichen Vergleichsberechnung (s. Rz. 2.97 ff.) herausgenommen werden müssen. Denn nur diejenigen Steuern können in die Berechnung der Tilgungsquote einfließen, die auch nur anteilig erfüllt zu werden brauchen. Es könnte daher sinnvoll sein, die Steuerschulden, die nicht dem Grundsatz der anteiligen Tilgung unterliegen, aus der Vergleichsberechnung herauszunehmen. In dem oben genannten Fall der Vorverlegung des Beginns des Haftungszeitraumes würde dies letztlich zu einer Zweiteilung des Haftungszeitraumes führen. In Bezug auf die Haftungsschuld insgesamt würde der Haftungszeitraum mit dem Zeitpunkt beginnen, zu dem bei Erfüllung der Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung die Steuerschuld fällig geworden wäre. In Bezug auf die Vergleichsberechnung würde dann der Haftungszeitraum mit dem Tag der Fälligkeit der ältesten rückständigen Forderung beginnen, die nur anteilig befriedigt werden muss. Beispiel: Der Geschäftsführer der GmbH gibt für die Voranmeldungszeiträume Januar und Februar 01 erst am 1.12.01 die Umsatzsteuervoranmeldungen ab. Ab Umsatzsteuervoranmeldung Oktober 01 zahlt er nicht mehr die Umsatzsteuer. Am 1.7.02 stellt er Insolvenzantrag. Der Haftungszeitraum für die Gesamtschuld würde am 10.2.01 beginnen (Fälligkeit der Umsatzsteuerzahllast Januar 01 wäre der 10.2.01 gewesen – unterstellt, es wurde kein Antrag auf Dauerfristverlängerung gestellt). Für die Berechnung der Tilgungsquote könnte dagegen nur ein Haftungszeitraum ab 10.11.01 in Betracht kommen, da für die Rückstände aus Januar und Februar 01 der Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht gilt, und im Übrigen erst ab 10.11.01 Steuern rückständig sind.

2.93

Diese Sichtweise ist m.E. aber nicht haltbar. Die Lösung ergibt sich aus der 2.94 Zweckbetrachtung der Vergleichsberechnung. Die Vergleichsberechnung hat den alleinigen Zweck zu ermitteln, mit welcher Quote das Finanzamt hätte befriedigt werden müssen. Diese ohnehin hypothetische Sichtweise unterstellt einen ordnungsgemäß handelnden Geschäftsführer. Dieser aber hätte im oben dargestellten Beispielsfall die Steuerschulden aus den Voranmeldungszeiträumen Januar und Februar 01 rechtzeitig angemeldet und hätte sie auch anteilig befriedigt. Da aber im Beispielsfall seit 10.2.01 faktisch Steuerzahlungen zurückgehalten werden, ist es interessengerecht, den Haftungszeitraum auch mit diesem Datum beginnen zu lassen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der unbeschränkten Haftung im Fall der Pflichtverletzung in Form von § 69 1. Alt. AO. Die unbeschränkte Haftung ist nach Auffassung der h.M. dann gegeben, wenn durch die Pflichtverletzung eine Vollstreckung oder eine Aufrechnung vereitelt wurde. Auch hier ist eine hypothetische Betrachtung des Geschehensablaufs erforderlich. Es fragt sich näm37

2.95

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

lich, wie wäre der Steuerrückstand, wenn die Steuererklärungen rechtzeitig abgegeben worden wären. Auch hier ist die im Steuerrecht anzuwendende Adäquanztheorie maßgeblich. Danach kann nur dann eine Vereitelung angenommen werden, wenn sie im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen eingetreten wäre. 2.96

Beispiel: Wie Beispiel Rz. 2.93. Wäre rechtzeitig die Voranmeldung Januar und Februar 01 erklärt worden, hätte das Finanzamt – unterstellt – keine Vollstreckungsmöglichkeiten gehabt. Nur Aufrechnungsmöglichkeiten aus Vorsteuererstattungen aus April 01 hätten bestanden. Da aber das Finanzamt – unterstellt – normalerweise gegen diese Forderungen als erstes mit Lohnsteuerforderungen aufrechnet, und dieses auch in Wirklichkeit geschehen ist, wäre die Aufrechnung nicht anders erfolgt. Somit wäre durch rechtzeitige Abgabe der Erklärung nicht eine Aufrechnung vereitelt worden. Zwar hätte das Finanzamt auch theoretisch mit den Umsatzsteuerrückständen aus Januar und Februar 01 aufrechnen können. Da aber gewöhnlich zunächst mit Lohnsteuerrückständen aufgerechnet wird, kann ein solch ungewöhnlicher Geschehensablauf nicht unterstellt werden.

ee) Mittelverwendungsrechnung Schrifttum: Blesinger, Zur Haftung von gesetzlichen Vertretern und Verfügungsberechtigten nach § 69 AO – Die Einbeziehung von Lohnsteuern in die Vergleichsberechnung zur Ermittlung der Haftungsquote, DStZ 2008, 747.

2.97

In den meisten Fällen ist aber nach Ansicht des BFH die Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung des Finanzamts zu beachten. Somit haben die in §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen beim Fehlen ausreichender Mittel zur Tilgung sämtlicher Verbindlichkeiten die rückständigen Steuerbeträge ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu tilgen wie die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern. Benachteiligt der Haftungsschuldner das Finanzamt bei der Verteilung der verwalteten Mittel und verletzt er diese Pflicht zumindest grob fahrlässig, so haftet er im Umfang des die durchschnittliche Tilgungsquote unterschreitenden Fehlbetrages.

2.98

Im Einzelnen ist bei der Berechnung der Haftungssumme Folgendes zu beachten: Bei der Beurteilung des Pflichtvorwurfes ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Fälligkeit der Steuerforderung abzustellen. Werden Steuerforderungen mit unterschiedlichen Fälligkeitszeitpunkten über einen längeren Zeitraum hinweg nicht oder nicht vollständig an das Finanzamt abgeführt, so ist die Haftungssumme zeitraumbezogen zu ermitteln. Bei der Berechnung der Haftungssumme ist dann auf den gesamten Haftungszeitraum abzustellen.1 Der Haftungszeitraum beginnt grundsätzlich mit dem Tag der Fälligkeit2 der ältesten rückständigen Forderung und endet in dem Zeitpunkt, in dem der Steuerpflichtige zahlungsunfähig geworden ist. Dies ist z.B. der Tag des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Der Haftungszeitraum verkürzt sich, wenn der Haftungsschuldner vorab aus der Vertreterstellung entlassen worden ist. Er endet dann mit diesem Zeit-

1 BFH, Urt. v. 14.6.2016 – VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672. 2 BFH, Beschl. v. 11.4.1997 – I B 109/96, BFH/NV 1997, 634.

38

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

punkt, so dass später zugeflossene Gelder grds. unberücksichtigt bleiben.1 Der Haftungszeitraum ist vorzuverlegen, wenn auch die erste Alternative der Pflichtverletzung des § 69 AO erfüllt ist, d.h. wenn die Steuer nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt bzw. angemeldet wurde. In diesen Fällen ist nicht auf die Fälligkeit der Jahressteuernachforderung abzustellen, sondern der Haftungszeitraum beginnt vielmehr bereits im Zeitpunkt, in dem bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Pflicht zur Voranmeldung z.B. der Umsatzsteuer diese Vorauszahlungsschuld fällig geworden wäre.2 Zu den zur Verfügung stehenden Mitteln gehören alle der Gesellschaft überlassenen Gelder, unabhängig davon, ob sie von Gesellschaftern oder selbst vom Vertreter zur Verfügung gestellt worden sind.3 Es genügt dabei sogar auch die Anweisung des Geschäftsführers an einen Dritten, den Betrag von seinem Konto zu bezahlen.4 Ferner ist zu beachten, dass in die Vergleichsrechnung auf Seiten der geleisteten Zahlungen auch die vom Finanzamt verrechneten Vorsteuerüberschüsse und sonstige Umbuchungen einfließen müssen.5

Û

Hinweis: Die Ermittlung der Tilgungsquote durch die Finanzbehörde ist 2.99 häufig schon deshalb fehlerhaft, weil die Vorsteuerüberschüsse oder sonstige Umbuchungen nicht als geleistete Zahlungen berücksichtigt wurden.

Bei der Ermittlung der durchschnittlichen Tilgungsquote sind die im Haftungs- 2.100 zeitraum insgesamt zu tilgenden Verbindlichkeiten einzubeziehen.6 Neben den Personalaufwendungen gehören dazu auch sämtliche Steuerschulden. Bei der Umsatzsteuer ist zu beachten, dass als Forderung bzw. Verbindlichkeit die verbleibende Umsatzsteuer bzw. der verbleibende Überschuss aus dem Vordruck zur Umsatzsteuererklärung erfasst wird. Ob auch die Lohnsteuerforderungen einzubeziehen sind, ist fraglich, da sie ohnehin in voller Höhe zu entrichten sind. Nach früherer Ansicht der OFD Hannover7 und der OFD Magdeburg8 sowie nach 2.101 der AO-Kartei NRW9 war die Lohnsteuer, da sie in voller Höhe zu tilgen ist, zwar in die Berechnung der insgesamt zu tilgenden Verbindlichkeiten aufzunehmen, jedoch bei der Ermittlung der Haftungssumme wieder auszuklammern. Nach Auffassung der OFD Düsseldorf sollte genau umgekehrt verfahren werden. Die Lohnsteuer soll danach bei den Verbindlichkeiten unberücksichtigt bleiben,

1 BFH, Urt. v. 14.6.2016 – VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672. 2 BFH, Urt. v. 12.4.1988 – VII R 131/85, BStBl. II 1988, 742. 3 BFH, Beschl. v. 28.6.2006 – VII B 267/05, BFH/NV 2006, 1792; Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 57/15, BFH/NV 2016, 372. 4 BFH, Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 57/15, BFH/NV 2016, 372 zum Geschäftsführer der GmbH, die Komplementärin einer KG war, von deren Konto die Zahlung erfolgte. 5 BFH, Urt. v. 7.11.1989 – VII R 34/87, BStBl. II 1990, 201; Prugger, INF 1990, 343 (346); Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 36 a.E. 6 Auch Aval-Kredite können zu den Verbindlichkeiten gehören BFH, Beschl. v. 4.5.2004 – VII B 318/03, BFH/NV 2004, 1363 (1365). 7 Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 StH 551, FN-IDW 1998, 211 (212). 8 Vfg. OFD Magdeburg v. 23.11.1994, BB 1995, 82. 9 AO-Kartei NRW Karte 801-7/95 Anhang 2 (veröffentlicht in Britz, S.123).

39

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

während sie in die Berechnung der Mittelverwendung einfließen soll.1 M.E. ist die Lohnsteuer nicht nur bei der Berechnung der Haftungssumme außer Acht zu lassen, sondern auch bei der Gesamtsumme der Verbindlichkeiten.2 Der BFH folgt der hier vertretenen Ansicht, dass die Lohnsteuer weder bei den Gesamtverbindlichkeiten noch bei den geleisteten Zahlungen zu berücksichtigen ist.3 Dem folgt auch die Verwaltung.4 2.102

Nach der früheren Rechtsprechung des BFH sind grundsätzlich alle Verbindlichkeiten in die Berechnung der anteiligen Tilgungsquote einzubeziehen, ungeachtet ihres Rechtsgrundes und ihrer Bedeutung für die Fortführung des Unternehmens. Eine Tilgungsvordringlichkeit – mit der Folge der Nichtberücksichtigung einer Zahlung bei der Ermittlung der Haftungsquote – sei grundsätzlich nicht anzuerkennen, auch nicht bei Personalkosten, d.h. den Löhnen und den darauf entfallenden Abgaben.5 Zwar erkennt der BFH die Tilgungsvordringlichkeit der Lohnsteuer an (s. Rz. 2.101); jedoch dürfte dies m.E. auch für die Sozialabgaben (Beiträge zur Sozialversicherung und Arbeitsförderung) gelten. Auch diese unterliegen einer Tilgungsvordringlichkeit. Eine Nichtzahlung unterliegt einer Strafbarkeit nach § 266a StGB.6 M.E. müssen daher diese Aufwendungen auch aus der Vergleichsberechnung herausgenommen werden.

2.103

Soweit im Haftungszeitraum Gewerbesteuer an die erhebende Gemeinde bzw. Stadt gezahlt wurde, sind m.E. diese Beträge in der Berechnung der anteiligen Tilgung nur bei der Mittelverwendung der Gesamtverbindlichkeiten zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Ermittlung der konkreten Haftungssumme dürften sie bei dem Betrag, der tatsächlich auf die Steuerrückstände gezahlt worden ist, nicht zu berücksichtigen sein. Da hier nur die Beträge von Bedeutung sind, die durch einen Haftungsbescheid des Finanzamtes geltend gemacht werden können, gehören hierzu aber nicht Gewerbesteuerbeträge. Diese werden von den Kommunalbehörden selbst als Haftungsschuld geltend gemacht.

2.104

Die OFD Hannover7 (jetzt OFD Niedersachsen) hat folgenden Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme verfügt8:

1 S. Berechnungsschema der OFD Düsseldorf in INF 1990, 344 f. 2 S. hierzu Vorauflage; wie hier ebenso FG Düsseldorf, Urt. v. 28.1.1997 – 11 K 1138/92 H (U), EFG 1997, 648; Buciek, BB 1989, 2303; Tendenzen – Konsequenzen 1997, 21; Prugger, INF 1990, 343 (346); Britz, Rz. 150. 3 BFH, Urt. v. 27.2.2007 – VII R 60/05, BStBl. II 2008, 508; Urt. v. 14.6.2016 – VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672; zur Kritik s. Blesinger, DStZ 2008, 747. 4 OFD Hannover v. 20.11.2009 – S 0190 – 10 – StO 141, AO-Kartei Niedersachsen Karte 3 Anlage. 5 BFH, Urt. v. 27.2.2007 – VII R 60/05, BStBl. II 2008, 508. 6 Blesinger sieht hier, soweit man der h.M. zur Lohnsteuer folgt, auch eine Notwendigkeit der Gleichbehandlung der Sozialabgaben mit der Lohnsteuer (DStZ 2008, 751). 7 Vfg. OFD Hannover v. 20.11.2009 – S 0190 – 10 – StO 141, AO-Kartei Niedersachsen Anlage zu § 69 AO Karte 3; vgl. auch AO-Kartei NRW, § 69 Karte 801 – v. 7.12.2010, Anlage 3 (s. unten S. 363). 8 Der BFH schließt sich dieser Berechnungsmethode an; s. BFH, Beschl. v. 31.3.2000 – VII B 187/99, BFH/NV 2000, 1322 zur Vorgänger-Vfg.

40

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme für den Haftungszeitraum vom _______ bis _______ 1. Berechnung der Gesamtverbindlichkeiten 1.1 Schuldenstand zu Beginn des Haftungszeitraumes (ohne Steuerrückstände) Zugang (+)/Abgang (./., z.B. Forderungsverzicht, Skonti, Rabatte) an Schulden im Sinne von 1.1 (ohne Berücksichtigung geleisteter Zahlungen) bis zum Ende des Haftungszeitraums (z.B. Tag des Antrags auf Eröffnung des Konkursoder Insolvenzverfahrens oder der Amtsniederlegung des Geschäftsführers) 1.2 Zu tilgen waren mithin (bis zur Zahlungseinstellung) insgesamt 1.3. Steuerschulden (ohne Lohnsteuer) zu Beginn des Haftungszeitraums (zu berücksichtigen sind nicht nur die fälligen, sondern auch die bereits entstandenen Steuerschulden) Zugang (+)/Abgang (./., z.B. durch Änderung der Festsetzung oder Erlass nach § 227 AO) an Steuerschulden i.S.d. Nrn. 1.3 im Haftungszeitraum (ohne Berücksichtigung geleisteter Zahlungen) 1.4 Steuerschulden insgesamt (ohne Lohnsteuer) 1.5 Die Gesamtverbindlichkeiten (Nrn. 1.2 und 1.4) betragen 2. Berechnung der Mittelverwendung 2.1 Summe der bezahlten Schulden im Sinne von 1.2 im Haftungszeitraum 2.2 Summe der bezahlten Steuerverbindlichkeit im Sinne von 1.4. (einschließlich Umbuchungen) im Haftungszeitraum + 2.3 Gesamtsumme der bezahlten Verbindlichkeiten 2.4 Durchschnittliche Tilgungsquote (Betrag lt. Nr. 2.3 in % des Betrages lt. Nr. 1.5) 2.5 pauschaler Abschlag für Unsicherheiten der Berechnung 2.6 anzusetzende Tilgungsquote 3. Bei Anwendung des Prozentsatzes lt. Nr. 2.6 auf die Gesamtsumme der Steuerschulden lt. Nr. 1.4 hätte hierauf entrichtet werden müssen ein Betrag von 4. Die Haftungssumme errechnet sich wie folgt: 4.1 Betrag, der bei annähernd gleicher Behandlung von Schulden im Sinne von 1.2 und Steuerschulden im Sinne von 1.4 auf die Steuerschulden hätte gezahlt werden müssen lt. Nr. 3 4.2. Betrag, der tatsächlich auf die Steuerschulden (einschließlich Umbuchungen) gezahlt worden ist lt. Nr. 2.2 ./. 5. Ergebnis: Haftungssumme beläuft sich auf =

Euro

Euro Euro

Euro

Euro Euro Euro

Euro Euro Euro % % %

Euro

Euro Euro Euro

41

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.105

Im Vergleich zum vorhergehenden Berechnungsbogen der OFD Hannover aus dem Jahr 1998 sieht nun die Berechnung neben dem Verzicht auf eine Berücksichtigung der Lohnsteuer auch einen pauschalen Abschlag für Unsicherheiten in % (s. Ziffer 2.5) vor.

2.106

Mit Ausnahme der Berücksichtigung der Tilgungsvordringlichkeit der Lohnsteuer sind m.E. weitere Zahlungsvordringlichkeiten nicht zu beachten. Man könnte insoweit daran denken, dass auch z.B. die Personalkosten, die Kosten für Telefon, Strom, Gas und Wasser vordringlich getilgt werden müssten. Hier ist aber m.E. dem BFH zu folgen. Er hat sich davon leiten lassen, dass die Ermittlung der anteiligen, haftungsrelevanten Tilgungsquote auf die Berechnung einer Pauschale angelegt ist, also eines Durchschnittssatzes, und dass diese Berechnung überschlägig, also unter Inkaufnahme von Ungenauigkeiten, durchzuführen ist. Ungleichmäßigkeiten oder Zufälligkeiten gleichen sich im Wesentlichen – auf die Dauer des Haftungszeitraumes gesehen – wieder aus. Mit Prugger ist daher zu Recht festzuhalten, dass eine Berücksichtigung über die Lohnsteuer hinausgehender Tilgungsvordringlichkeiten zu einer wahren Flut von Ausnahmen und komplizierter werdenden Berechnungen führen würde. Dieses wiederum stünde einer „überschlägigen“ Vergleichsberechnung entgegen.1 Dementsprechend kommt auch eine Aufteilung des Unternehmens in „Geschäftsbereiche“ nicht in Betracht, so dass die anzustellende Vergleichsrechnung nicht auf bestimmte Geschäftsfelder beschränkt werden kann.2

2.107

Die Mittelverwendungsrechnung dient allein dazu, festzustellen, ob der Steuerpflichtige die Steuerschulden im gleichen Verhältnis wie die anderen Schulden beglichen hat. Hält sich der Haftungsschuldner nicht daran, so ist nur in dem Umfang der Missachtung dieses Grundsatzes die Pflichtverletzung kausal für den Schaden. Dies kann bedeutsam sein für die Haftung, wie folgendes Beispiel zeigt:

2.108

Beispiel: Der Geschäftsführer A der GmbH X hat nur ein umsatzsteuerpflichtiges Geschäft im Voranmeldungszeitraum Januar 2011 getätigt. Daraus resultiert eine Umsatzsteuerforderung von 20000 Euro, auf die nicht gezahlt wurde. Im Zeitpunkt der Fälligkeit dieser Forderung hätte A aber die Umsatzsteuer zahlen können. Das Finanzamt ermittelt für den Haftungszeitraum 2010 bis 2011 eine Tilgungsquote von 20 % und eine Haftungssumme von 50000 Euro. Es nimmt den Geschäftsführer mit Haftungsbescheid für die Umsatzsteuerforderung Januar 2011 in Höhe von 20000 Euro in Anspruch, da dieser Betrag von der Haftungssumme in Höhe von 50.000 Euro umfasst sei. Dieses Argument des Finanzamtes mit der Folge der Haftung des A in voller Höhe, ist nicht zutreffend. Kausal für den Schaden ist nur die Pflichtverletzung im Umfang von 20 % (= 4000 Euro). Nur insoweit war A verpflichtet die Umsatzsteuer abzuführen.3

ff) Schätzung der Tilgungsquote 2.109

Um die Ermittlung der Haftungssumme durchführen zu können, ist der Inanspruchgenommene grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen Auskünfte 1 Prugger, INF 1990, 343 (346); ebenso BFH, Beschl. v. 4.5.2004 – VII B 318/03, BFH/NV 2004, 1363 (1365). 2 BFH, Urt. v. 14.6.2016 – VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672. 3 Vgl. BFH, Urt. v. 16.12.2003 – VII R77/00, BStBl. II 2005, 249.

42

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

gem. § 90 Abs. 1 und § 93 Abs. 1 AO über die anteilige Gläubigerbefriedigung im Haftungszeitraum zu erteilen.1 Dies gilt auch für den Fall, dass der Geschäftsführer aus seiner Funktion bereits ausgeschieden ist.2 Jedoch braucht er nicht die Gläubiger zu benennen sowie Angaben über den jeweiligen Schuldgrund und den Zahlungszeitpunkt der einzelnen Verbindlichkeiten zu machen.3 Der Geschäftsführer einer GmbH hat als auskunftspflichtiger Haftungsschuldner zur Erteilung der Auskunft Bücher, Aufzeichnungen und Geschäftspapiere heranzuziehen, soweit diese ihm zur Verfügung stehen. Zur Verfügung stehen nur solche Unterlagen, die sich in der Verfügungsmacht des Auskunftspflichtigen befinden oder hinsichtlich derer er einen Herausgabeanspruch hat. Stehen ihm danach Unterlagen nicht zur Verfügung, so genügt der Geschäftsführer seiner Mitwirkungspflicht schon dann, wenn er nach seiner Erinnerung Auskunft gibt.4 Kommt der Haftungsschuldner der Aufforderung nicht nach, auf den ihm zuge- 2.110 sandten Berechnungsbogen zur Berechnung der Haftungsquote und der Haftungssumme die erforderlichen Angaben zu machen, ist das Finanzamt insbesondere wegen der Bedeutung des Gedankens der Beweisnähe berechtigt, hieraus für den potentiellen Haftungsschuldner nachteilige Schlüsse zu ziehen.5 So kann das Finanzamt die Tilgungsquote schätzen, wenn keine Unterlagen vorliegen.6 Eine Schätzung von 100 v.H. wäre aber zu hoch, da aufgrund der Steuerrückstände, insoweit sind Verbindlichkeiten nicht erfüllt worden, stets die Tilgungsquote unterhalb von 100 v.H. liegen muss.7 Bei der Schätzung hat das Finanzamt die konkrete Situation des Unternehmens zu berücksichtigen. So ist in Fällen der Insolvenz davon auszugehen, dass für den Zeitraum vor der Insolvenz eine erheblich unterhalb von 100 v.H. liegende Haftungsquote anzunehmen ist. Im Allgemeinen muss ein Haftungsschuldner eine Haftungsquote (in der Nähe) von 100 v.H. unter den hier genannten weiteren Bedingungen hinnehmen.8

1 BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570 (571); Beschl. v. 31.3.2000 – VII B 187/99, BFH/NV 2000, 1322 (1324); Beschl. v. 6.9.2004 – VII B 179/04, BFH/NV 2005, 227; Urt. v. 25.5.2004 – VII R 8/03, BFH/NV 2004, 1498; Beschl. v. 16.2.2006 – VII B 122/05, BFH/NV 2006, 1051; FG Münster, Beschl. v. 12.3.1998 – 8 V 6444/97 (rkr.), StEd 1998, 533. 2 BFH, Beschl. v. 16.2.2006 – VII B 122/05, BFH/NV 2006, 1051. 3 BFH, Urt. v. 11.7.1989 – VII R 81/87, BStBl. II 1990, 357 = BFHE 157, 315; Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 StH 551, FN-IDW 1998, 211 (212 f.). Zwar darf nicht die Angabe der einzelnen Fälligkeitszeitpunkte der Verbindlichkeiten gefordert werden; jedoch ist das Auskunftsverlangen insoweit berechtigt, als danach gefragt wird, welche Verbindlichkeiten überhaupt im Haftungszeitraum fällig geworden sind (BFH, Beschl. v. 17.12.1999 – VII B 83/99, BFH/NV 2000, 1068). 4 BFH, Beschl. v. 13.8.2002 – VII B 267/01, BFH/NV 2003, 63. 5 BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570 (571); Urt. v. 8.7.1982 – V R 7/76, BFHE 137, 1; Urt. v. 9.10.1985 – I R 154/82, BFH/NV 1986, 321; Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100; FG Münster, Beschl. v. 12.3.1998 – 8 V 6444/97 (rkr.), StEd 1998, 533. 6 BFH, Beschl. v. 31. 3 2000 – VII B 187/99, BFH/NV 2000, 1322; Beschl. v. 6.9.2004 – VII B 179/04, BFH/NV 2005, 227; Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.11.2002 – 11 K 504/00, EFG 2003, 746. 7 Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.11.2002 – 11 K 504/00, EFG 2003, 746. 8 BFH, Beschl. v. 19.11.2012 – VII B 126/12, BFH/NV 2013, 504 bejahend zu 90 v.H.

43

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.111

Û

Hinweis: Spätestens im finanzgerichtlichen Verfahren werden umfangreichere Ermittlungen vorgenommen, die dazu führen können, eine niedrigere Tilgungsquote als 100 v.H. anzunehmen. So kann sich aus der Insolvenzakte eine niedrigere Tilgungsquote ergeben.

2.112

Beruft sich der Haftungsschuldner auf Schätzungsfehler des Finanzamts bzw. Finanzgerichts, so kann er diese Fehler nur in einem eingeschränkten Umfang geltend machen. Er hat nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür zu liefern, dass die Schätzung des Finanzamts oder Finanzgerichts wirtschaftlich unmöglich, offensichtlich realitätsfremd und damit schlechthin unvertretbar ist. Allein der Umstand, dass eine andere, wie auch immer zu ermittelnde Quote „zutreffender“ sein könnte, rechtfertigt eine Änderung der Schätzung nicht.1 Will er eine für ihn günstige Haftungsquote erreichen, so hat er einen entsprechenden Liquiditätsstatus der GmbH vorzulegen bzw. seine Mitwirkungspflichten im vollen Umfang zu erfüllen. Unterlässt er dies, so kann dies bei der Schätzung berücksichtigt werden.2

2.113

Auch im finanzgerichtlichen Verfahren führt die Verletzung der dem Haftungsschuldner obliegenden Mitwirkungspflicht dazu, dass die eigene Schätzungsbefugnis des FG eingeschränkt ist. Zur Rechtfertigung der selbst ermittelten Haftungsquote des FG ist ein eindeutiges Zahlenmaterial als Berechnungsgrundlage erforderlich. Die Schätzungen des FG müssen überdies in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich sein.3

2.114

Häufig wird bei der Berechnung der Haftungssumme der Fehler begangen, dass eine geschätzte Haftungsquote auf die noch offenen Steuerrückstände angewandt wird. Hier wäre der Haftungsbescheid rechtswidrig, da systembedingt die Haftungsquote auf die gesamten Steuerverbindlichkeiten im Haftungszeitraum angewandt werden muss. Erst nach Abzug der vom Steuerschuldner oder Haftungsschuldner gezahlten Beträge ergibt sich die Haftungssumme.

2.115

2.116

Û

Hinweis: Häufig sind Haftungsbescheide deshalb rechtswidrig, weil die geschätzte Haftungsquote auf die noch bestehenden Steuerrückstände angewandt wird, statt nach dem Berechnungsschema (s. Rz. 2.104) vorzugehen.

Eine Schätzung der Tilgungsquote entfällt aber, wenn das Finanzamt oder das Finanzgericht seine Ermittlungspflicht verletzt hat. Diese Ermittlungspflicht ist zwar durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten begrenzt; jedoch lebt sie voll umfänglich wieder auf, wenn den Beteiligten kein Vorwurf bei der Mitwirkung gemacht werden kann. So ist der Haftungsschuldner im Fall der Insolvenz nicht verpflichtet, den Insolvenzverwalter aufzusuchen und sich durch Einsicht in die dort befindlichen Buchführungsunterlagen die Möglichkeit zur Erteilung der ge-

1 BFH, Beschl. v. 26.8.2004 – II B 117/03, BFH/NV 2004, 1625; Beschl. v. 30.9.2008 – VII S 17/08, BFH/NV 2009, 203. 2 BFH, Urt. v. 25.5.2004 – VII R 8/03, BFH/NV 2004, 1498 (1500 f.); Urt. v. 26.10.2011 – VII R 22/10, BFH/NV 2012, 777. 3 BFH, Urt. v. 26.10.2011 – VII R 22/10, BFH/NV 2012, 777.

44

A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

forderten Auskünfte zu verschaffen.1 Auch nach Beendigung des Insolvenzverfahrens braucht er sich nicht darum zu bemühen, zum Liquidator der ehemaligen Gemeinschuldnerin bestellt zu werden, um nach Herausgabe der Geschäftsunterlagen der GmbH Auskunft geben zu können.2 In diesen Fällen ist das Finanzamt ggf. aufgrund Verfügung des Finanzgerichts verpflichtet, selbst die Buchführungsunterlagen oder die notwendigen Angaben zu verschaffen und eine an Hand der vorhandenen Unterlagen ermittelte Tilgungsquote zu berechnen.3

Û

Hinweis: Der Haftungsschuldner ist nicht verpflichtet, den Insolvenzver- 2.117 walter aufzusuchen, um die dort befindlichen Buchführungsunterlagen zu verschaffen. Ein Haftungsbescheid ist rechtswidrig, wenn in diesem Fall das Finanzamt die Haftungsquote schätzt, ohne sich die notwendigen Angaben beim Insolvenzverwalter zu verschaffen.

gg) Pflichten bei Aussetzung der Vollziehung, Stundung und Aufrechnungslage In der Praxis tritt folgender Fall nicht selten auf. Werden die Steuerfestsetzungen 2.118 durch den Geschäftsführer einer GmbH angefochten und beantragt er, die Steuerfestsetzung auszusetzen, so stellt sich die Frage, ob er grob fahrlässig handelt, wenn er die Steuerzahlungen zurückhält in der Erwartung, sein Rechtsbehelfsverfahren und sein Antrag würden Erfolg haben. In einem vom FG RheinlandPfalz4 entschiedenen Fall kam es infolge dieser Situation zur Zurückweisung des Rechtsbehelfs und zur Ablehnung des AdV-Antrages. Kurz vor diesen Entscheidungen hatte der Geschäftsführer Konkurs angemeldet. M.E. handelte der Geschäftsführer hier grob fahrlässig, wenn er nicht Zahlungsmittel zur Begleichung der Steuerforderungen zurückhielt.5 Obwohl Vollstreckungsmaßnahmen während des laufenden AdV-Verfahrens praktisch nicht durchgeführt werden, so ist doch zu beachten, dass rechtlich die Finanzbehörde jederzeit Vollstreckungsmaßnahmen durchführen kann. Es sind Situationen denkbar, in denen die Finanzbehörde auch in dieser Lage des Verfahrens vollstrecken würde. Der Geschäftsführer kann daher nicht darauf vertrauen, die Finanzbehörde werde schon nicht vollstrecken.6 Letztlich kommt es darauf auch nicht an, denn durch einen AdV-Antrag ändert sich nichts an der Fälligkeit der Steuerforderungen. Der 1 BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570 (571); BFH, Beschl. v. 14.10.1998 – VII B 102/98, BFH/NV 1999, 447; Urt. v. 4.12.2007 – VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521. 2 BFH, Beschl. v. 14.10.1998 – VII B 102/98, BFH/NV 1999, 447 (449). 3 BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570; Urt. v. 4.12.2007 – VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521. 4 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 25.9.1995 – 5 K 1685/95, EFG 1996, 402 (Urt. aus formalen Gründen aufgehoben, BFH, Urt. v. 19.5.1998 – I R 44/97, BFH/NV 1999, 314). 5 BFH, Beschl. v. 11.5.1993 – VII B 191/92, BFH/NV 1994, 218; FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 25.9.1995 – 5 K 1685/95, EFG 1996, 402 (Urt. aus formalen Gründen aufgehoben, BFH, Urt. v. 19.5.1998 – I R 44/97, BFH/NV 1999, 314); FG München, Urt. v. 22.2.2010 – 14 K 3114/08, juris; FG München, Beschl. v. 17.11.2009 – 14 V 2365/09, juris; a.A. Streck/ Schwedhelm, Stbg 1996, 25. 6 Vergleichbar ist m.E. der Fall, in dem das Finanzamt gegen Erstattungsansprüche aufrechnen könnte. Auch hier hat der BFH die Begründung eines Vertrauenstatbestandes, der sich aus einer Verwaltungspraxis ergeben sollte, abgelehnt (BFH, Urt. v. 16.10.1986 – VII R 161/83, BFH/NV 1987, 616).

45

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

Steuerpflichtige ist auch weiterhin verpflichtet, die Steuern zu zahlen.1 Er ist im Hinblick darauf, dass meistens rückwirkend ab Fälligkeit AdV gewährt wird, zumindest während eines laufenden AdV-Verfahrens verpflichtet, durch Zurückhaltung liquider Mittel eine Befriedigung der Steuerschuld zu gewährleisten. 2.119

Der I. Senat des BFH und auch der VII. Senat des BFH haben diesen Standpunkt auch für den Fall der gewährten Aussetzung der Vollziehung eingenommen. Selbst in dieser Situation, wo das Finanzamt auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide hat, muss der gesetzliche Vertreter mit einem negativen Ausgang des Rechtsbehelfsverfahrens rechnen „und Vorsorge für die rechtzeitige Bezahlung der dann fällig werdenden Steuern und steuerlichen Nebenleistungen treffen“.2 Entscheidend sei nicht die tatsächliche Fälligkeit, sondern die gesetzliche Fälligkeit, die durch eine Aussetzung der Vollziehung nicht berührt werde.3

2.120

Auch eine spätere rückwirkende Stundung von Steuerschulden lässt die Pflicht zur Vorsorge nicht entfallen.4 Gleiches soll gelten, wenn eine spätere Aufrechnung in Betracht kommt. Ein Vertrauen in das Bestehen einer Aufrechnungslage, eine generelle Verrechnungsabrede oder in eine allgemeine Verrechnungspraxis des Finanzamts beseitigt aber nicht ohne weiteres die Pflichtverletzung.5 Dies gilt auch dann, wenn der Geschäftsführer meint, er habe einen Anspruch auf Stundung.6 Jedoch haftet der Geschäftsführer dann nicht, wenn er darauf vertrauen konnte, dass die Steuerschuld aus z.B. einem Umsatzsteuerguthaben der GmbH getilgt werde. Dies setzt aber nach Auffassung des BFH voraus, dass der Geschäftsführer einen Verrechnungsantrag (sog. technische Stundung) gestellt hatte und das Finanzamt in der Vergangenheit derartige Verrechnungen vorgenommen hatte oder eine generelle Verrechnungsabrede besteht.7 c) Ursächlichkeit der Pflichtverletzung

2.121

Ein besonderes Augenmerk ist auf den Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Haftungsschaden zu richten. Es gilt – wie allgemein im Zivil-

1 BFH, Beschl. v. 11.5.1993 – VII B 191/92, BFH/NV 1994, 218; FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 25.9.1995 – 5 K 1685/95, EFG 1996, 402 (Urt. aus formalen Gründen aufgehoben, BFH, Urt. v. 19.5.1998 – I R 44/97, BFH/NV 1999, 314); FG München, Urt. v. 22.2.2010 – 14 K 3114/08, juris; FG München, Beschl. v. 17.11.2009 – 14 V 2365/09, juris. 2 BFH, Beschl. v. 4.5.1998 – I B 116/96, BFH/NV 1998, 1460 (1462); Beschl. v. 12.5.2000 – I B 51/99, n.v.; Urt. v. 28.6.2005 – I R 2/04, GmbHR 2006, 48; Urt. v. 11.3.2004 – VII R 19/02, BStBl. II 2004, 967; ebenso FG Köln v. 15.3.2006 – 13 V 931/06, EFG 2008, 1758. 3 BFH, Urt. v. 11.3.2004 – VII R 19/02, BStBl. II 2004, 967. 4 BFH, Urt. v. 26.2.1991 – VII R 107/89, BFH/NV 1991, 578; Beschl. v. 25.2.1998 – VII B 191/97, BFH/NV 1998, 1199; FG Köln v. 15.3.2006 – 13 V 931/06, EFG 2008, 1758; s. aber Rz. 2.47. 5 BFH, Urt. v. 16.10.1986 – VII R 161/83, BFH/NV 1987, 616; Beschl. v. 24.3.2004 – VII B 317/03, BFH/NV 2004, 1069; vgl. auch BFH, Urt. v. 2.8.1988 – VII R 60/85, BFH/NV 1989, 150. 6 BFH, Urt. v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7. 7 BFH, Urt. v. 29.7.1986 – VII R 132/83, BFH/NV 1987, 74.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

recht – die sog. Adäquanztheorie.1 Danach sollen aus der Schadenszurechnung gänzlich unwahrscheinliche Kausalverläufe ausgeschieden werden. Es sollen somit nur solche Pflichtverletzungen für den Erfolg ursächlich sein, die allgemein oder erfahrungsgemäß geeignet sind, diesen Erfolg zu verursachen. Negativ formuliert bedeutet dies, dass der Schadenseintritt infolge der Pflichtverletzung nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen darf.2 Sofern ein Unterlassen in Betracht kommt, muss, um die Ursächlichkeit bejahen zu können, die unterbliebene Handlung hinzugedacht werden und dies zu dem Ergebnis führen, dass der Schaden ohne das Unterlassen nicht eingetreten wäre; die bloße Möglichkeit oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Nichteintritts genügen dazu nicht.3 Im Einzelnen gilt Folgendes: Verwendet z.B. der Geschäftsführer die Gelder der 2.122 GmbH, ohne Rücksicht auf die Steuerforderungen zu nehmen, so entfällt die Haftung, wenn auch bei pflichtgemäßem Verhalten die Steuerforderungen nicht beglichen worden wären.4 Beispiel: Kurz vor der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters und Auferlegung eines allgemeinen Verfügungsverbotes überweist der Geschäftsführer die Nettolöhne. Die Lohnsteuer wird erst nach Anordnung des Verfügungsverbotes fällig. In dieser Situation ist die pflichtwidrige Auszahlung der Nettolöhne ohne Beachtung der erforderlichen Kürzung der Löhne um den Betrag, der als Lohnsteuer abzuführen ist, nicht kausal für den Schaden. Denn selbst wenn der Geschäftsführer durch Kürzung der Löhne die Abzugsbeträge abgesondert hätte, hätte er im Zeitpunkt der Fälligkeit der Lohnsteuer nicht mehr über die Beträge verfügen dürfen.5

2.123

Ebenso entfällt die Haftung, wenn zwischen Verletzung der Steuererklärungs- 2.124 pflicht und dem eingetretenen Steuerausfall kein Kausalzusammenhang besteht. Dieses ist der Fall, wenn auch bei ordnungsgemäßer Pflichterfüllung durch rechtzeitige Abgabe der vollständigen Steuererklärung mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens die geschuldete Steuer nicht hätte beglichen werden können.6 Bei den häufig vorzufindenden vermögenslosen Gesellschaften mit beschränkter Haftung kann daher dieser fehlende Kausalzusammenhang für einen Großteil der Schuld einen Haftungsausschluss bedeuten.

Û

Hinweis: Für jeden Haftungsanspruch – insbesondere bei der Haftung des 2.125 Geschäftsführers einer GmbH – ist zu prüfen, ob nicht schon bei rechtzeitiger Steuererklärung oder Steueranmeldung die GmbH zum Fälligkeitszeit-

1 BFH, Urt. v. 17.2.1989 – III R 35/85, BStBl. II 1990, 263; Urt. v. 17.11.1992 – VII R 13/92, BStBl. II 1993, 471; Urt. v. 25.4.1995 – VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97 (99); Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100; Urt. v. 4.12.2007 – VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521; Urt. v. 11.11.2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342. 2 BFH, Urt. v. 17.2.1989 – III R 35/85, BStBl. II 1990, 263. 3 BFH, Urt. v. 17.11.1992 – VII R 13/92, BStBl. II 1993, 471 m.w. Nachw.; BGH, Urt. v. 17.10.2002 – IX ZR 3/01, NJW 2003, 295. 4 BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776 (778); BVerwG, Urt. v. 9.11.1988 – 8 C 13/87, NJW 1989, 1873; Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 20. 5 BFH, Urt. v. 17.11.1992 – VII R 13/92, BStBl. II 1993, 471; vgl. Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 32. 6 BFH, Urt. v. 29.11.2006 – I R 103/05, BFH/NV 2007, 1067 (1068); Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 StH 551, FN-IDW 1998, 211 (212).

47

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

punkt der Forderung vermögenslos war. Wegen fehlender Kausalität kommt dann eine Haftung nicht in Betracht. 2.126

Demgegenüber ist die Kausalität zu bejahen, wenn durch verspätete Abgabe von Steuererklärungen aussichtsreiche Vollstreckungsmöglichkeiten des Finanzamtes vereitelt oder dem Finanzamt Aufrechnungsmöglichkeiten genommen worden sind.1

2.127

Zu beachten ist, dass die Kausalität für jeden einzelnen Steueranspruch gesondert zu prüfen ist. Nur dann lässt sich feststellen, ob die Pflichtverletzung auch für den eingetretenen konkreten Haftungsschaden ursächlich war.2 Die Finanzverwaltung trägt die Feststellungslast für die Bejahung der Kausalität.3 aa) Überholende Kausalität

2.128

Die Haftung entfällt, wenn ein Fall der sog. hypothetischen oder überholenden Kausalität vorliegt, d.h. wenn ein anderes Ereignis eintritt, das die Pflichtverletzung überholt. Gibt der Vertreter z.B. nicht nach Ablauf des Voranmeldungszeitraumes die Steuervoranmeldung ab und setzt das Finanzamt unmittelbar nach Ablauf der Frist die Steuer im Wege einer Schätzung in etwa in richtiger Höhe oder überhöht fest, so fehlt es an der Kausalität der Pflichtverletzung für den späteren Schaden. Ein Fall der überholenden Kausalität ist insbesondere auch bei mitwirkendem Verschulden des Finanzamtes anzunehmen (s. Rz. 2.160, 9.87). Davon zu unterscheiden ist der Fall, in dem ein völlig neues Ereignis eintritt, das ohne die Pflichtverletzung ebenfalls z.B. zur Nichtfestsetzung der Steuerschuld geführt hätte. In diesem Fall entfällt die Kausalität nicht.

2.129

Wird z.B. später ein neuer Geschäftsführer bestellt, der ebenfalls keine Steuererklärungen abgibt, so entfällt die Haftung nicht.4 bb) Kausalität und Anfechtungsmöglichkeit durch Insolvenzverwalter Schrifttum: Adamek, Haftung bei Anfechtung durch den Insolvenzverwalter, EFG 2004, 1427; Bartone, Anfechtbarkeit von Lohnsteuerzahlungen in der Insolvenz, jurisPR-SteuerR 46/2005 Anm. 1; Bartone, Zur Geschäftsführerhaftung und Anfechtung von Lohnsteuerzahlungen in der Insolvenz, jurisPR-SteuerR 18/2006 Anm. 2; Frotscher, Zur Anfechtung von Lohn- und Umsatzsteuerzahlungen im Vorfeld der Insolvenzeröffnung, BB 2006, 351; Haunhorst, „Hätte, wäre und wenn im Haftungsrecht, DStZ 2006, 369; Huber, Zur Anfechtung von Lohnsteuerzahlungen im Insolvenzverfahren, NZI 2006, 54; Laws/Stahlschmidt, Hypothetische Kausalität bei der Geschäftsführerhaftung in der Insolvenz der GmbH im Rahmen des § 69 AO, BB 2006, 1031; Loose, Haftung nach § 69 AO bei Anfechtung durch den Insolvenzverwalter, AO-StB 2006, 14; Nacke, Haftung des Geschäftsführers im Fall der Anfechtung durch den Insolvenzverwalter, Gestaltende Steuerberatung 2006, 181; Nacke, Auswirkung der insolvenzrechtlichen Anfechtungsmöglichkeit auf die 1 BFH, Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 = BFHE 164, 206; Urt. v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100 (1102); s. auch Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 20. 2 FG Schl.-Holst., Urt. v. 15.11.1983 – IV 236/80 (V), EFG 1984, 421; Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 20; Carl, INF 1992, 169 (171). 3 FG Münster, Urt. v. 18.6.2007 – 1 K 6201/03, EFG 2007, 1566. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 22.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden steuerrechtliche Haftung, DB 2006, 1182; Singer, Steuerliche GmbH-Geschäftsführer-Haftung infolge Insolvenzanfechtung, StuB 2006, 123; Stahlschmidt/Laws, Die Auswirkungen insolvenzrechtlicher Anfechtungsmöglichkeiten auf die Haftung des Geschäftsführers für Steuerschulden der insolventen GmbH, GmbHR 2006, 410; Urban, Befreit die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit den GmbH-Geschäftsführer von seiner (lohn-)steuerlichen Haftung?, DStR 2006, 1256; Zimmers/Holst, Unterbrochene Kausalkette, GmbH-Steuerpraxis 2006, 65; Nacke, Verschuldenshaftung in der Zeit vor Stellung des Insolvenzantrags – Bedeutung der zivilrechtlichen Pflicht aus § 64 GmbHG für die steuerliche Haftung nach § 69 AO, NWB Fach 2, 9775; Tiedtke/Peterek, Zu den Pflichten des organschaftlichen Vertreters einer Kapitalgesellschaft, trotz Insolvenzreife der Gesellschaft Sozialabgaben und Lohnsteuer abzuführen, GmbHR 2008, 617; Rüsken, Lohnsteuerabführungspflicht bei drohender Insolvenz, NWB 2009, 196; Hermanski-Pfohl, Auswirkung der auch nur hypothetischen Anfechtung auf die steuerrechtliche Haftung des gesetzlichen Vertreters, AnwZert InsR 8/2016 Anm 3.

Eine nicht unerhebliche Bedeutung hatte die Kausalitätsproblematik in den letz- 2.130 ten Jahren in den Fällen, in denen der Haftungsschuldner für Steuerschulden aus den letzten Monaten vor der Antragstellung bzgl. Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Anspruch genommen wurde. Es stellte sich die Frage, ob bei der Prüfung des Kausalitätszusammenhangs auch hypothetische Kausalverläufe zu berücksichtigen sind. Kann dem Geschäftsführer ein Schaden zugerechnet werden, wenn auch bei 2.131 pflichtgemäßem Handeln (Entrichtung der Steuerschuld) dem Staat ein Schaden entstanden wäre? Denn der Insolvenzverwalter hat nach §§ 129, 131 InsO ein Anfechtungsrecht, das zur Rückzahlung von Steuern an die Insolvenzmasse führen kann, wenn innerhalb der letzten drei Monate vor Antragstellung die Steuern an das Finanzamt abgeführt worden sind. Wie kann dann ein Zurückbehalten von Steuerbeträgen in diesem Zeitraum durch den Geschäftsführer zu einem kausal verursachten Schaden führen? Nachdem in der Literatur und Rechtsprechung der Finanzgerichte diese Streitfrage unterschiedlich beantwortet wurde, hat der BFH nunmehr diese Fälle in der Weise entschieden, dass im Rahmen der Kausalitätsprüfung hypothetische Kausalitätsfragen nicht zu berücksichtigen sind, so dass von einem kausalen Schaden in diesen Fällen auszugehen ist.1 d) Verschulden Die Pflichtverletzung muss gem. § 69 AO vorsätzlich oder grob fahrlässig be- 2.132 gangen worden sein. Das Verschuldenserfordernis bezieht sich allein auf die Pflichtverletzung. Der aus der Pflichtverletzung resultierende Haftungsschaden

1 BFH, Urt. v. 5.6.2007 – VII R 65/05, BStBl. II 2008, 273; Urt. v. 5.6.2007 – VII R 30/06, BFH/ NV 2008, 1; Beschl. v. 4.7.2007 – VII B 268/06, BFH/NV 2007, 2059; Urt. v. 19.9.2007 – VII R 39/05, BFH/NV 2008, 18; Urt. v. 4.12.2007 – VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521; Beschl. v. 22.4.2009 – VII B 225/08, juris; Beschl. v. 15.6.2009 – VII B 196/08, BFH/NV 2009, 1605; Urt. v. 11.11.2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342; Urt. v. 26.1.2016 – VII R 3/15, BFH/NV 2016, 893; zur Kritik s. Rüsken, NWB 2009, 196; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 131a; Nacke, NWB Fach 2, 9775; Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 32g; Tiedtke/Peterek, GmbHR 2008, 617 (624).

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

braucht nicht vom Verschuldensmaßstab umfasst zu werden.1 Auch bezieht sich die Schuld nicht darauf, dass die Ansprüche nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt wurden.2 2.133

Aus der Pflichtverletzung resultiert nicht automatisch der Schuldvorwurf. Die Pflichtwidrigkeit indiziert aber den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit.3 Das schließt allerdings nicht aus, dass besondere, vom Haftungsschuldner glaubhaft zu machende Gründe im Einzelfall die Pflichtverletzung entschuldigen oder nur den Vorwurf leichter Fahrlässigkeit rechtfertigen.4 Das Verschulden ist gesondert zu prüfen. Insbesondere müssen Anhaltspunkte vorliegen, die auf ein Verschulden schließen lassen. Im Zweifel scheidet ein Verschulden grundsätzlich aus. Liegt z.B. ein entschuldbarer Rechtsirrtum über das Bestehen einer Steuerschuld vor, so entfällt das Verschulden.5

2.134

Als Schuldform kommt nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit in Betracht. Damit entfällt die Haftung bei leichter Fahrlässigkeit.

2.135

Vorsätzlich handelt, wer wissentlich und willentlich die Pflichten verletzt hat. Es genügt der bedingte Vorsatz, d.h., es reicht aus, wenn die Pflichtverletzung billigend in Kauf genommen wird.

2.136

Beispiel: Der Geschäftsführer lässt die aufbewahrungspflichtigen Buchführungsunterlagen zwischen den sonstigen Geschäftsunterlagen im Aktenkeller liegen. Er weiß, dass die Altakten nach einer gewissen Zeit vernichtet werden, und nimmt billigend in Kauf, dass dabei auch die aufbewahrungspflichtigen Buchführungsunterlagen vernichtet werden. Hier wird die Pflichtverletzung vorsätzlich und damit schuldhaft begangen.6

Für den Vorsatz kommt es nicht auf eine besondere Absicht an. 2.137

Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dabei gilt nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB.7 Im Steuerrecht ist auf den subjektiven Sorgfaltsmaßstab abzustellen. Dies bedeutet, es ist auf die Sorgfalt zu achten, die nach den Umständen und nach den persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten des Betreffenden zu fordern ist und zu der er imstande war.8 Dies kann dazu führen, dass z.B. einem Volljuristen eine steuerliche 1 BFH, Urt. v. 11.12.1990 – VII R 85/88, BStBl. II 1991, 282 (284); Jatzke in Beermann/ Gosch, § 69 AO Rz. 56; Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 23. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 23. 3 BFH, Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325 (1327); Beschl. v. 14.9.1999 – VII B 33/99, BFH/NV 2000, 303; Urt. v. 13.3.2003 – VII R 46/02, BStBl. II 2003, 556 (560); Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129; Urt. v. 11.11.2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342; Urt. v. 16.5.2017 – VII R 25/16; DB 2017, 1821. 4 BFH, Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129. 5 BFH, Urt. v. 26.4.1988 – VII R 105/85, BFH/NV 1988, 625; Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 60; Carl, INF 1992, 169 (172). 6 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 24. 7 BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491; Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 25; Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 59; a.A. Goutier, S. 33; Friedl, DStR 1991, 1616. 8 BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491 (493); Urt. v. 22.11.2005 – VII R 21/05, BStBl. II 2006, 397; Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129; Beschl. v. 18.1.2008 – VII B 63/07, BFH/NV 2008, 754; FG München, Urt. v. 16.9.1998 – 3 K

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Pflichtverletzung nicht vorgeworfen werden kann, weil er keine steuerliche Ausbildung erfahren und aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen auch solche steuerlichen Kenntnisse nicht nach der Juristenausbildung erworben hat.1 Man unterscheidet zwei Formen der Fahrlässigkeit (bewusste oder unbewusste Fahrlässigkeit). Unbewusst fahrlässig handelt, wer den Erfolg bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt hätte voraussehen können, aber nicht vorausgesehen hat. Bewusst fahrlässig handelt, wer den Eintritt des Erfolges zwar für möglich hält, aber darauf vertraut, er werde schon nicht eintreten. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt, anders formuliert, wer außer Acht lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen2, oder wer die einfachsten, ganz naheliegenden Überlegungen nicht anstellt.3 Beispiel: Der Geschäftsmann X gründet eine GmbH. Zum Geschäftsführer wird die Ehefrau des X, die bisher als Hausfrau tätig war und keinerlei kaufmännische Kenntnisse besitzt, bestellt, ohne dass sie sich über ihre Pflichten als Geschäftsführerin vorher informiert hat. Hier handelt die Ehefrau grob fahrlässig, weil sie es vor Übernahme der Geschäftsführerstellung unterlassen hat, sich mit den elementarsten handelsrechtlichen Pflichten des Geschäftsführers einer GmbH vertraut zu machen und keine Erkundigungen über die hierfür zu beachtenden allgemeinen Pflichten des Steuerrechts eingezogen hat. Sie kann sich also nicht auf ihre mangelnden Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen berufen.4

2.138

Hinsichtlich des Verfahrens ist zu berücksichtigen, dass das Verschulden von 2.139 Amts wegen festzustellen ist. Wie schon angesprochen wurde, darf das Verschulden nicht einfach unterstellt werden, sondern es müssen konkrete Anhaltspunkte für ein schuldhaftes Verhalten vorliegen. Das Finanzgericht hat dies in der Tatsacheninstanz festzustellen. Der BFH kann im Revisionsverfahren nur noch prüfen, ob der Rechtsbegriff „Vorsatz“ oder „grobe Fahrlässigkeit“ richtig erkannt und keine bedeutenden Umstände außer Acht gelassen wurden.5 aa) Beauftragung eines Mitarbeiters Welche Sorgfalt vorausgesetzt werden kann, wenn sich der Vertreter einer Hilfs- 2.140 person bedient, ist umstritten. Nach einer Ansicht gilt der Maßstab des § 278 BGB, so dass der Vertreter sich das Verschulden seiner Hilfsperson zurechnen lassen muss.6 Nach h.M. haftet der Geschäftsführer nur für eigenes Verschulden, und zwar gerade auch dann, wenn er sich zur Erfüllung seiner Pflichten fremder

1 2 3 4 5 6

831/94, (rkr.), EFG 1999, 99 (100); Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 25; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 69. FG München, Urt. v. 16.9.1998 – 3 K 831/94, (rkr.), EFG 1999, 99 (100). Grüneberg in Palandt, § 277 BGB Rz. 5; vgl. auch BFH, Beschl. v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941 m.w. Nachw.; vgl. auch BFH, Beschl. v. 4.4.1998 – I B 116/96, BFH/ NV 1998, 1460 (1462). Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 26. Vgl. BFH, Urt. v. 12.4.1992 – VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785 m.w. Nachw.; Beschl. v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325 (1327). BGH, Urt. v. 30.11.1971 – VI ZR 100/70, NJW 1972, 475 (476); Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 29; vgl. auch Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 43. Wilcke, StV 1990, 149.

51

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

Hilfe bedient. Er hat aber ein Auswahl- oder Überwachungsverschulden zu vertreten.1 Der Vertreter bzw. Verfügungsberechtigte darf sich Dritter bei der Erfüllung der steuerlichen Pflichten bedienen. Er muss aber zunächst diese Mitarbeiter sorgfältig auswählen. Darüber hinaus ist er verpflichtet, sie bei der Verwirklichung der steuerlichen Aufgaben zu überwachen. Das bedeutet, er hat z.B. darauf zu achten, dass die Steuerzahlungen pünktlich erfolgen. Der BFH hält sich bei der Konkretisierung der Überwachungsmaßnahmen eines Geschäftsführers zurück und macht diese weitgehend von den Umständen des Einzelfalls abhängig.2 Werden die steuerlichen Aufgaben nicht erfüllt, muss der Vertreter einschreiten und selbst für die Pflichterfüllung sorgen. Dem Hinweis des Finanzamtes auf Unregelmäßigkeiten muss er nachgehen.3 Es kommt also der Maßstab zum Tragen, der sonst im Zivilrecht gem. § 831 BGB bei Verrichtungsgehilfen angewandt wird. Es ist nicht möglich, den Verschuldensmaßstab anzuwenden, der bei mehreren Geschäftsführern wirksam wird. Jeder Geschäftsführer hat in bestimmtem Umfang selbst für die steuerlichen Pflichten einzustehen, während ein Angestellter keinen selbständigen Pflichtenstatus gegenüber der Finanzbehörde einnimmt. 2.141

Beispiel: Überträgt der Geschäftsführer die Buchführungsarbeiten einem Mitarbeiter, so muss er schon bei der Auswahl des Mitarbeiters darauf achten, ob derjenige imstande ist, solche Tätigkeiten zu verrichten. Die Überwachungspflicht besteht darin, den Betreffenden gelegentlich zu kontrollieren und bei festgestellten Mängeln die erforderlichen personellen und sachlichen Konsequenzen zu treffen.

2.142

Gerät das Unternehmen in eine Krise, muss sich der Geschäftsführer nunmehr persönlich um die Erfüllung der steuerlichen Verpflichtungen der GmbH kümmern.4 bb) Beauftragung eines Steuerberaters

2.143

Bedient sich der Vertreter bei der Erstellung der Steuererklärung eines Steuerberaters, so braucht er sich ein Verschulden dieser Person ebenfalls nicht nach § 278 BGB zuzurechnen lassen. Seine Pflicht besteht nur darin, dass er den Steuerberater sorgfältig auswählt und seinen Organisations- und Überwachungspflichten laufend nachkommt. Der BFH hat dies folgendermaßen formuliert: „Es ist vielmehr generell davon auszugehen, dass der Geschäftsführer einer GmbH, der die Sachkunde eines ihm als zuverlässig bekannten – und als Angehöriger ei1 BFH, Urt. v. 10.4.1988 – VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72 (74); Beschl. v. 25.4.1989 – VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757; vgl. auch Urt. v. 2.6.1987 – VII R 162/84, BFH/NV 1988, 220 f.; Urt. v. 30.8.1994 – VII R 101/92, BStBl. II 1995, 278 = BFHE 175, 509; Urt. v. 30.6.1995 – VII R 85/94, BFH/NV 1996, 2 (3); Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325 (1326 f.); OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 1.5.2000 – A 2 S 240/98, juris; FG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 24.11.2016 – 6 K 822/13, juris, auch für den Fall schwerer Erkrankung. 2 BFH, Urt. v. 30.8.1994 – VII R 101/92, BStBl. II 1995, 278 = BFHE 175, 509; Urt. v. 30.6.1995 – VII R 85/94, BFH/NV 1996, 2 (3); Beschl. v. 28.8.2008 – VII B 240/07, BFH/NV 2008, 1983; Beschl. v. 26.11.2008 – V B 210/07, BFH/NV 2009, 362. 3 BFH, Beschl. v. 26.6.1990 – VII B 20/90, BFH/NV 1991, 209; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 89. 4 FG Münster, Urt. v. 1.9.1997 – 1 K 1959/97, (rkr.), EFG 1998, 617.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

nes rechts- oder steuerberatenden Berufs befugten steuerlichen Beraters in Anspruch nimmt, sich auf diesen verlässt und bei gewissenhafter Ausübung seiner Überwachungspflichten keinen Anlass findet, die steuerliche Korrektheit der Arbeit des steuerlichen Beraters in Frage zu stellen, im Hinblick auf die ihm durch die Vorschrift des § 34 AO als Vertreter auferlegten Pflichten nicht grob fahrlässig handelt.“1 Beispiel: Der Geschäftsführer einer GmbH verletzt nicht die Erklärungspflicht, wenn er die Lohnsteueranmeldung der GmbH, die der Steuerberater erstellt hat und die hinsichtlich der Höhe der Lohnsteuer einen falschen Betrag ausweist, unterschreibt und beim Finanzamt einreicht.2

2.144

Das Maß der Verpflichtungen des Vertreters hängt allerdings von den jeweiligen 2.145 Umständen des Einzelfalls ab.3 Gleiches gilt für den Fall, dass der Geschäftsführer mehrere Steuerberater beauftragt hat.4 Fertigt aber ein Vertreter seine Steuererklärung selbst und übergibt sie dem Steu- 2.146 erberater zur Prüfung, so entfällt die Verantwortung des Vertreters nicht, wenn der Steuerberater vertraglich nicht verpflichtet ist, eine sofortige Prüfung vorzunehmen.5 Ebenso stellt die Vermutung strafbaren Handelns eines als Steuerberater für die Gesellschaft Tätigen einen Umstand dar, der erhöhte Aufmerksamkeit des Geschäftsführers hinsichtlich der Erfüllung der steuerlichen Pflichten durch den Steuerberater gebietet.6 Die Auswahl-, Organisations- und Überwachungspflichten gelten auch, wenn 2.147 der Vertreter sich eine Auskunft bei dem Steuerberater oder Rechtsanwalt einholt. Hat er ihn sorgfältig ausgewählt, so darf er sich auf den Inhalt der Auskunft verlassen und sich entsprechend verhalten. Einschränkend ist jedoch zu beachten, dass die Auskunft nur dann als Grundlage des Handelns genommen werden darf, wenn der Vertreter den Steuerberater auch vorher zutreffend und umfassend über den zu beurteilenden Sachverhalt informiert hat.7 Beispiel: Der Geschäftsführer einer GmbH erhält bei einem sorgfältig ausgewählten Steuerberater die Auskunft, ein bestimmter Veräußerungsumsatz brauche nicht der Umsatzsteuer unterworfen und erklärt zu werden. Der Geschäftsführer unterlässt es daraufhin, in seiner selbst erstellten Umsatzsteuervoranmeldung diesen Umsatz zu erfassen. Später stellt sich heraus, dass der Veräußerungsumsatz steuerpflichtig war. Hat der Geschäftsführer den Steuerberater umfassend über den Veräußerungsvorgang informiert, so kommt eine Haftung wegen fehlenden Verschuldens nicht in Betracht.

1 BFH, Urt. v. 30.8.1994 – VII R 101/92, BStBl. II 1995, 278 (281); ebenso BFH, Beschl. v. 4.5.2004 – VII B 318/03, BFH/NV 2004, 1363 (1364); Beschl. v. 28.8.2008 – VII B 240/07, BFH/NV 2008, 1983; Beschl. v. 26.11.2008 – V B 210/07, BFH/NV 2009, 362. 2 Vgl. BFH, Urt. v. 11.5.1962 – VI 195/60 U, BStBl. III 1962, 342. 3 BFH, Beschl. v. 4.5.2004 – VII B 318/03, BFH/NV 2004, 1363 (1364); OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 1.5.2000 – A 2 S 240/98, juris. 4 BFH, Beschl. v. 26.11.2008 – V B 210/07, BFH/NV 2009, 362. 5 BFH, Beschl. v. 7.1.2003 – VII B 196/01, BFH/NV 2003, 445. 6 BFH, Beschl. v. 10.10.2006 – VII B 87/06, BFH/NV 2007, 197 (198). 7 BFH, Urt. v. 19.9.1985 – VII R 88/85, BFH/NV 1986, 133; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 128; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 90.

53

2.148

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

cc) Verschulden bei mehreren Vertretern 2.149

Sind mehrere Vertreter vorhanden, z.B. zwei Geschäftsführer, so kann die Wahrnehmung der steuerlichen Pflichten intern auf einen Geschäftsführer übertragen worden sein. Ist diese interne Aufgabenverteilung weder im Gesellschaftsvertrag noch in schriftlich niedergelegten Gesellschafterbeschlüssen oder Vereinbarungen festgehalten worden, haften alle Geschäftsführer solidarisch.1 Deshalb kann sich ein Geschäftsführer nicht damit entschuldigen, dass er von der ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte ferngehalten wurde und diese tatsächlich von einem anderen geführt worden sind.2 Ist die Aufgabenverteilung in der oben beschriebenen Form aber erfolgt, so kann eine evtl. Pflichtverletzung des intern Zuständigen nicht ohne weiteres dem anderen zugerechnet werden. Er hat aber dann kraft seiner Allzuständigkeit eine Überwachungspflicht. Der nicht unmittelbar zuständige Geschäftsführer muss sich Gewissheit darüber verschaffen, dass der intern zuständige Geschäftsführer die steuerlichen Pflichten ordnungsgemäß erfüllt.3 Er ist aber zum Eingreifen genötigt, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Aufgaben durch den zuständigen Geschäftsführer nicht mehr gewährleistet ist.4 Treten Zahlungsschwierigkeiten auf oder ist der Vertretene überschuldet, so hat sich auch der intern nicht zuständige Geschäftsführer um die Gesamtbelange des Vertretenen zu kümmern und die steuerlichen Pflichten selbst zu verantworten.5 Unerheblich ist, mit welchen Anteilen die Gesellschafter-Geschäftsführer am Kapital beteiligt sind.6

2.150

Haftungsbegrenzung bei mehreren Geschäftsführern Grundsatz: Allzustndigkeit der Geschftsfhrer Jeder Geschftsfhrer haftet. Ausnahme: Schriftliche Regelung der Aufgabenteilung im Gesellschaftsvertrag, Gesellschafterbeschluss oder sonstiger Vereinbarung.

1 BFH, Beschl. v. 4.3.1986 – VII S 33/85, BStBl. II 1986, 384 (385); Urt. v. 17.5.1988 – VII R 90/85, GmbHR 1989, 170 (171); vgl. auch BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, NJW 1998, 3374 (3375) = INF 1998, 634 (635); Beschl. v. 27.5.2009 – VII B 231/08, juris; Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 52. 2 BFH, Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; Beschl. v. 26.11.1997 – I B 81/97, BFH/NV 1998, 559 (560). 3 Mösbauer, S. 48 m.w.Nachw.; vgl. auch BFH, Beschl. v. 22.7.1997 – I B 44/97, BFH/NV 1998, 11 und Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 52. 4 Vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, INF 1997, 31 (32) m.w. Nachw.; Beschl. v. 12.3.1997 – II B 71/96, BFH/NV 1997, 642; Beschl. v. 4.5.1998 – I B 116/96, BFH/NV 1998, 1460; BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761 = INF 1998, 634 (635). 5 BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776 (777 f.); Urt. v. 17.5.1988 – VII R 90/85, GmbHR 1989, 170 (171) m.w. Nachw.; Beschl. v. 20.4.2006 – VII B 280/05, BFH/ NV 2006, 1441; Beschl. v. 7.7.2009 – VII B 248/08, juris; BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, INF 1997, 31 (32); FG Münster, Urt. v. 1.9.1997 – 1 K 1959/97 (rkr.), EFG 1998, 617; Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 53 m.w. Nachw.; Jatzke in Beermann/Gosch, § 69 AO Rz. 52; Britz, Rz. 86. 6 BFH, Urt. v. 29.5.1990 – VII R 85/89, BStBl. II 1990, 1008.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Der fr steuerliche Aufgaben nicht zustndige Geschftsfhrer haftet nicht, wenn er der berwachungspflicht gengt. Ausnahme von der Ausnahme: Die Gesellschaft befindet sich in der Krise. Es gilt wieder der Grundsatz der Allzustndigkeit mit der Folge jeder Geschftsfhrer haftet.

Û

Hinweis: Aus haftungsrechtlichen Gründen ist im Fall mehrerer vorhan- 2.151 dener Vertreter zu beachten, ob schon im Gesellschaftsvertrag oder später durch einen schriftlich niedergelegten Gesellschafterbeschluss die interne Zuständigkeit für die steuerlichen Pflichten geregelt wurde. Zwar kann damit die Haftung nicht ausgeschlossen werden (s. Rz. 2.149 für den Fall einer Krisensituation); jedoch kann sie beschränkt werden. Z.B. würde die Haftung für ältere Steuerrückstände entfallen, wenn der intern nicht zuständige Geschäftsführer seiner Überwachungspflicht nachgekommen ist.

dd) Verschulden des Strohmanns Tritt der Geschäftsführer nur als Strohmann auf bzw. werden die Geschäfte der 2.152 Gesellschaft unter Ausschaltung des Geschäftsführers tatsächlich von einer anderen Person geführt, so darf der Geschäftsführer dieses nicht dulden. Fehlt ihm die Durchsetzungskraft und Handlungsmöglichkeit, so hat er die Pflicht zum Rücktritt vom Amt als Geschäftsführer.1 Dies gilt auch für Kinder und Angehörige, selbst wenn ihnen das Amt gegen ihren Willen aufgedrängt worden ist. Erst für die Zeit nach dem Rücktritt entfällt die Haftung.2 Ferner ist unerheblich, ob der Geschäftsführer zurückgetreten ist, nachdem er erfahren hat, dass mit seiner Person Missbrauch getrieben wurde.3 Auch kann er sich nicht darauf berufen, er sei wegen eines Treuhandvertrages von den Geschäftsführeraufgaben ausgeschlossen gewesen.4 Anders ist jedoch der Fall gelagert, wenn er zur Übernahme des Amtes durch eine strafbare Handlung gezwungen worden ist. Er haftet dann nicht.5 ee) Verschulden des Prokuristen Schrifttum: Nacke, Die steuerrechtliche Haftung des Prokuristen nach § 69 AO, AO-StB 2006, 189.

Den Prokuristen trifft grundsätzlich der gleiche Verschuldensmaßstab. Er ist 2.153 gem. §§ 49, 50 HGB ermächtigt, alle Geschäfte und Rechtshandlungen vor1 BFH, Urt. v. 2.7.1987 – VII R 104/84, BFH/NV 1988, 6; Beschl. v. 25.4.1989 – VII S15/89, BFH/NV 1989, 757; Beschl. v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; Beschl. v. 13.2.1996 – VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657; Beschl. v. 22.7.1997 – I B 44/97, BFH/NV 1998, 11; Beschl. v. 12.5.2009 – VII B 266/08, BFH/NV 2009, 1589; Beschl. v. 29.7.2009 – VI B 42/09, juris. 2 BFH, Beschl. v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941. 3 BFH, Beschl. v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941. 4 BFH, Beschl. v. 13.2.1996 – VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657 (658). 5 Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 77.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

zunehmen, die der Betrieb des Unternehmens mit sich bringt. Grundsätzlich ist er daher für alle Geschäfte, also auch für die steuerlichen Angelegenheiten, verantwortlich. Jedoch kann sein Aufgabenkreis durch den Geschäftsherrn eingeschränkt worden sein. Dieser vom Geschäftsherrn zugewiesene Wirkungskreis ist dann für die Beurteilung des Verschuldens maßgeblich.1 Ist der Prokurist danach für die steuerlichen Angelegenheiten des Unternehmens zuständig, so hat er auch die steuerlichen Pflichten zu erfüllen. Tritt er nach außen auf (s. § 35 AO) und verletzt die steuerlichen Pflichten, so haftet er in diesem Fall ebenfalls nach §§ 35, 69 AO. Ist dem Prokuristen durch den Geschäftsherrn die Zuständigkeit für steuerliche Angelegenheiten im Innenverhältnis entzogen worden, dann handelt er nicht schuldhaft, wenn er sich nicht um die steuerlichen Angelegenheiten kümmert.2 2.154

2.155

2.156

Überschreitet der Prokurist seinen durch den Geschäftsherrn eingeschränkten Wirkungskreis, so kann jedoch eine Haftung gem. § 35 AO wieder aufleben.3 Kümmert sich der Prokurist um die steuerlichen Angelegenheiten nach außen, obwohl er im Innenverhältnis nicht dazu berechtigt ist, so handelt er schuldhaft, wenn er z.B. grob fahrlässig falsche Steueranmeldungen fertigt.

Û

Hinweis: Die Haftung des Prokuristen entfällt, wenn aufgrund einer Weisung des Geschäftsherrn der Prokurist nicht für die steuerlichen Angelegenheiten zuständig ist und der Prokurist sich an diese Weisung hält.

Der Geschäftsführer darf zwar die in seinem Ressort anfallenden Aufgaben auf andere Personen delegieren; kraft seiner Organisationsgewalt muss er aber sicherstellen, dass die Aufgaben der Gesellschaft durch die beauftragten Arbeitnehmer erfüllt werden. Somit hat der Geschäftsführer auch bei einem Verschulden des Prokuristen in der Regel seine Überwachungspflichten zu beachten (s. Rz. 2.140 „Beauftragung eines Mitarbeiters“).4 ff) Verschulden von Vereinsvertretern

2.157

Der gesetzliche Vertreter eines Vereins (Vorstand, Vereinsvorsitzender) kann ein Verschulden nicht dadurch beseitigen, dass er sich darauf beruft, dass er nicht – wie etwa ein angestellter GmbH-Geschäftsführer – entgeltlich und hauptberuflich, sondern nur ehrenamtlich für den Verein tätig wurde.5 Demgegenüber hat das FG Brandenburg ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Lohnsteuerhaftungsbescheides gegen ein Vorstandsmitglied, wenn die Erfüllung der Steuerpflicht laut Satzung einer hauptamtlichen Geschäftsstelle zugewiesen ist, ein

1 BFH, Beschl. v. 23.4.2007 – VII B 92/06, BStBl. II 2009, 622. 2 BFH, Urt. v. 19.7.1984 – V R 70/79, BStBl. II 1985, 147; FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 23.3.1979 – IV 211/76, EFG 1979, 527 (528); FG Bremen, Urt. v. 17.3.1992 – II 135/86 K, EFG 1992, 496; FG Nürnberg, Urt. v. 22. 7 1999 – VII 181/96, n.v.; vgl. auch Lohmeyer, INF 1988, 268; Nacke, AO-StB 2006, 189. 3 BFH, Urt. v. 19.7.1984 – V R 70/79, BStBl. II 1985, 147; Nacke, AO-StB 2006, 189. 4 Vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, INF 1997, 31 (32). 5 BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, NJW 1998, 3374 = INF 1998, 634.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Geschäftsführer für diese Geschäftsstelle bestellt ist und der haftbar gemachte Vorstand keine Anhaltspunkte für die Nichterfüllung der Steuerpflichten hatte.1 Für die Haftung mehrerer Vereinsvorsitzender und der Vorstandsmitglieder gilt 2.158 auch hier der Grundsatz der Gesamtverantwortung. Die Haftung eines Vorsitzenden oder eines Vorstandsmitgliedes kann aber – wie bei mehreren Geschäftsführern – beschränkt sein, wenn die steuerlichen Aufgaben auf (Unter-)Abteilungen oder auf bestimmte Vorstandsmitglieder oder Vorstandsvorsitzende delegiert wurden.2 Wie bei mehreren Geschäftsführern setzt diese Beschränkung aber voraus, dass eine schriftliche Regelung vorlag, woraus sich diese Beschränkung ergab. Aber auch dann bleiben Überwachungspflichten bestehen. In der „Krisensituation“ des Vereins lebt die Gesamtverantwortung aller Vorstandsmitglieder und Vorstandsvorsitzender wieder auf.3 gg) Verschulden des Nachfolgegeschäftsführers Auch der Nachfolgegeschäftsführer kommt als Verantwortlicher für eine Haf- 2.159 tung in Betracht. Er ist nach § 34 Abs. 1 AO, insbesondere nach dessen Satz 2, verpflichtet, fällige Steuerbeträge, die er bei seinem Amtsantritt als Steuerrückstände der GmbH vorfindet, an das Finanzamt zu entrichten. Dem steht nicht entgegen, dass schon der Vorgänger eine Pflichtverletzung begangen hat. Der Nachfolgegeschäftsführer hat wie jeder andere Geschäftsführer im Rahmen der verfügbaren Mittel die Steuerschulden anteilig zu tilgen.4 Anders als beim die Löhne auszahlenden Geschäftsführer kann man dem Nachfolgegeschäftsführer die fehlende Kürzung der Löhne nicht vorwerfen, so dass der Grundsatz der anteiligen Tilgung hier auch für die Lohnsteuer gilt.5 hh) Mitverschulden der Finanzbehörde Schrifttum: Müller, Mitverschulden des Finanzamts? – Folgen behördlichen Fehlverhaltens bei Haftungs- und Änderungsbescheiden, AO-StB 2007, 19.

Zu beachten ist ferner ein Mitverschulden der Finanzbehörde, denn es wirkt 2.160 sich auf die Höhe der Haftung aus. § 254 BGB ist Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens und daher auch im Steuerrecht zu beachten.6 Diese in der Literatur und vom FG Münster7 vertretene Auffassung wird jedoch ansonsten 1 FG Brandenburg, Beschl. v. 6.5.1998 – 4 V 426/98 H, (rkr.), EFG 1998, 1106. 2 BFH, Urt. v. 13.3.2003 – VII R 46/02, BStBl. II 2003, 556; Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761. 3 BFH, Beschl. v. 21.8.2000 – VII B 260/99, BFH/NV 2001, 413. 4 BFH, Urt. v. 17.1.1989 – VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71 (72); Urt. v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143 (144); Beschl. v. 6.9.2004 – VII B 179/04, BFH/NV 2005, 227; Beermann, DStR 1994, 805 (807 f.). 5 BFH, Urt. v. 17.1.1989 – VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71 (72); Urt. v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143 (144). 6 Schäuble, DStR 1979, 284; Kanzler, DStR 1985, 339; Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 28 m.w. Nachw.; Carl, INF 1992, 169 (172); Mösbauer, S. 52 u.71; Intemann in Koenig, § 69 AO Rz. 130. 7 FG Münster, Urt. v. 29.9.1995 – 2 K 5006/93 L, EFG 1996, 82.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

von der Rechtsprechung des BFH abgelehnt.1 Ein etwaiges Mitverschulden der Finanzbehörde könne eine Haftung nach § 69 AO schon deshalb nicht ausschließen, weil der Haftungsanspruch des § 69 AO allein an die Verwirklichung der dort genannten Tatbestandsmerkmale anknüpft, zu denen nicht gehöre, dass die Haftung im Falle des Mitverschuldens der Verwaltung ganz oder teilweise entfalle.2 Das Mitverschulden der Finanzbehörde ist nicht nur bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (s. Rz. 9.87), sondern m.E. auch auf der Tatbestandsebene. Ein Beispiel für ein mitwirkendes Verschulden der Finanzbehörde ist die verspätete Festsetzung einer Steuer. Auch eine unterlassene Vollstreckungsmaßnahme kann als Mitverschulden berücksichtigt werden, obwohl eine solche erst erforderlich ist, wenn der Steuerpflichtige nicht zahlt.3 ii) Pflichtenkollision zur zivilrechtlichen Pflicht aus § 64 GmbHG 2.161

Der BFH hat seinen früheren Standpunkt aufgegeben und die Ansicht vertreten, dass sich der Geschäftsführer in insolvenzreifer Zeit in einem Dilemma zur zivilrechtlichen Pflicht aus § 64 GmbHG befindet. Einerseits sei er ab Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit nach § 64 Satz 1 GmbHG verpflichtet, keine Zahlungen mehr vorzunehmen; andererseits sei er aus haftungsrechtlicher Sicht verpflichtet, die Steuerschulden zu begleichen, um nicht in Haftung genommen zu werden. Diese Pflichtenkollision entschuldige das Verhalten des Geschäftsführers. Die steuerrechtliche Pflicht des Geschäftsführers zur Abführung der Lohnsteuer werde durch die gesellschaftsrechtliche Pflicht des Geschäftsführers zur Sicherung der Masse in den drei Wochen aufgehoben, die dem Geschäftsführer ab Kenntnis der Überschuldung bzw. Zahlungsunfähigkeit der GmbH nach § 64 Abs. 1 Satz 1 GmbHG a.F. bzw. nunmehr § 15a InsO eingeräumt sind, um die Sanierungsfähigkeit der GmbH zu prüfen und Sanierungsversuche durchzuführen. In dieser Zeit entfalle die grobe Fahrlässigkeit, wenn er die Steuerschuld nicht zahlt.4

2.162

Diese Beurteilung des BFH ist mit der Entscheidung des BGH vom 14.5.20075 obsolet geworden. Danach hat der BGH entschieden, dass es mit den Pflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters i.S. des § 64 Satz 2 GmbHG als vereinbar angesehen werden kann, wenn sich der Geschäftsführer entsprechend den steuerlichen Vorschriften verhält. Somit macht sich der Geschäftsführer nicht nach § 64 GmbHG haftbar, wenn er die Steuern in insolvenzreifer Zeit abführt. Eine Pflichtenkollision besteht infolgedessen nicht mehr.6 Das gilt auch für die Pflicht zur Abführung der Einfuhrumsatzsteuer, die innerhalb von drei 1 Zuletzt BFH, Urt. v. 23.4.2014 – VII R 28/13, BFH/NV 2014, 1489; Urt. v. 23.4.2014 – VII R 29/13, BFH/NV 2014, 1491; Urt. v. 23.4.2014 – VII R 30/13, BFH/NV 2014, 1492; Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 69/15, BFH/NV 2016, 177. 2 BFH, Beschl. v. 21.1.1986 – VII S 30/95, BFH/NV 1986, 518; Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; BFH, Beschl. v. 11.5.2000 – VII B 217/99, BFH/NV 2000, 1442. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 28a; vgl. im Einzelnen die dort aufgeführten Fälle. 4 BFH, Urt. v. 27.2.2007 – VII R 67/05, BStBl. II 2009, 348. 5 BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, BFH/NV 2007, Beilage 4, 470. 6 BFH, Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129 (131); FG Münster, Beschl. v. 6.2.2017 – 7 V 3973/16 U, EFG 2017, 452 für den Fall der vorläufigen Eigenverwaltung.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

Wochen vor dem Antrag der GmbH auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig geworden ist.1 3. Haftungsumfang Die gesetzlichen Vertreter haften nach § 69 AO unbeschränkt mit ihrem ge- 2.163 samten eigenen Vermögen. Von der Haftung nach § 69 AO werden alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i.S.d. § 37 AO erfasst, die durch schuldhafte Pflichtverletzung entstanden sind. Somit erfasst die Haftung nach h.M. (s. Rz. 2.39) auch steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 3 AO). Hierzu gehören die Säumniszuschläge, Verspätungszuschläge, Zinsen, Zwangsgelder und Kosten. Die Haftung für diese Nebenleistungen setzt grundsätzlich voraus, dass der entstandene Schaden kausal auf einer Pflichtverletzung des Haftungsschuldners beruht. Für nach dem Haftungszeitraum entstandene Nebenleistungen (außer für Säumniszuschläge) wird daher nicht gehaftet.2 Im Einzelnen gelten folgende weitere Besonderheiten. a) Säumniszuschläge Für Säumniszuschläge wird auch gehaftet, wenn sie nach dem Haftungszeit- 2.164 raum entstehen. Dies ergibt sich aus der Regelung des § 69 Satz 2 AO. Die Haftung gem. § 69 Satz 2 AO umfasst auch Säumniszuschläge, die nur infolge der Pflichtverletzung entstehen. Damit kommt es nicht darauf an, ob die Verwirklichung des Anspruchs des Staates auf Zahlung der Säumniszuschläge durch Pflichtverletzungen des Haftungsschuldners verhindert oder verzögert wurde.3 Für diese Säumniszuschläge haftet er somit unabhängig davon, ob er sie pflichtwidrig nicht entrichtet hat oder ob sie erst nach Beendigung seiner Tätigkeit für den Vertretenen entstanden sind.4 Jedoch ist die Haftung für Säumniszuschläge regelmäßig begrenzt. Im Hinblick 2.165 auf die Säumniszuschläge, die ab dem Zeitpunkt der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners entstanden sind, besteht nämlich ein Anspruch auf Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen, der wegen der Akzessorietät der Haftung auf die Haftungsschuld durchschlägt.5 Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass der Haftungsschuldner mit der Haftungsschuld betragsmäßig nicht höher belastet werden kann als der Steuerschuldner mit der Schuld aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO 1977).6 Regelmäßig ist die Hälfte

1 FG Düsseldorf, Urt. v. 22.11.2016 – 4 K 1746/16 H, juris, Rev. eingelegt: Az. BFH VII R 40/16. 2 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.11.1987 – VII K 377/85, EFG 1988, 94; Loose in Tipke/ Kruse, § 69 AO Rz. 44. 3 BFH, Urt. v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814 (816) m.w. Nachw. 4 Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 51 m.w. Nachw. 5 BFH, Urt. v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859; Beschl. v. 4.1.1996 – VII B 209/95, BFH/NV 1996, 526. 6 BFH, Beschl. v. 24.1.1989 – VII B 188/88, BStBl. II 1989, 315; Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 52.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

der Säumniszuschläge zu erlassen.1 Außerdem kommt, sofern die wirtschaftliche Situation die Voraussetzungen einer zinslosen Stundung erfüllt, auch ein darüber hinausgehender Erlass in Betracht.2 Ob der Erlass gegenüber dem Steuerschuldner ausgesprochen wurde, ist unerheblich.3 2.166

Zwar haftet der Geschäftsführer unabhängig von einer Pflichtverletzung für die Säumniszuschläge die später entstanden sind; gleichwohl ist im Fall der Verletzung der Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung die Haftung für Säumniszuschläge auch aus diesem Grunde begrenzt, denn nur in Höhe der Tilgungsquote war der Geschäftsführer verpflichtet, auf die Steuerschulden zu zahlen, so dass auch nur insoweit ein Schaden dem Fiskus entstanden ist. Dies schlägt auch auf die Säumniszuschläge durch, egal ob sie im Haftungszeitraum oder später entstanden sind.4 Daraus folgt auch, dass die Tilgungsquote des maßgeblichen Haftungszeitraums anzuwenden ist, auch wenn die Säumniszuschläge einen viel späteren Zeitraum betreffen.

2.167

Der Grundsatz der anteiligen Tilgung gilt auch in den Fällen der Haftung für Lohnsteuer, in denen eine volle Haftung für die Lohnsteuer besteht. In diesen Fällen handelt es sich hinsichtlich der Säumniszuschläge nicht um eine treuhänderisch verwaltete Schuld eines Dritten, sondern um eine eigene Schuld z.B. der GmbH. Fehlten insoweit Mittel zur vollen Bezahlung der Säumniszuschläge, so gilt der Grundsatz der anteiligen Tilgung.5

2.168

Jedoch in den Fällen, in denen wegen der Erklärungspflichtverletzung eine volle Haftung des Haftungsschuldners bzgl. der Hauptschulden besteht, schlägt diese volle Haftung auch auf die Säumniszuschläge durch. Der Grundsatz der anteiligen Tilgung kann dann nicht zur Anwendung kommen.6 b) Verspätungszuschläge

2.169

Eine Haftung für Verspätungszuschläge scheidet im vollen Umfang aus, wenn der Steuerschuldner im Zeitpunkt der Festsetzung der Verspätungszuschläge bereits zahlungsunfähig ist.7 Unerheblich ist, ob wegen einer Insolvenz ein Erlass nicht mehr ausgesprochen werden kann. Maßgeblich ist der Schadensersatzcha1 BFH, Urt. v. 19.12.2000 – VII R 63/99, BStBl. II 2001, 217; Vfg. OFD Hannover v. 12.1.1998 – S 0190 – 10 – StO 321/S 0190 – 75 – StH 551, FN-IDW 1998, 211 (212); a.A. FG Köln, Urt. v. 27.12.1995 – 10 K 4482/95, EFG 1996, 634, das im Fall der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit von einem vollständigen Erlass ausgeht. 2 BFH, Beschl. v. 4.1.1996 – VII B 209/95, BFH/NV 1996, 526; Urt. v. 16.7.1997 – XI R 32/96, BStBl. II 1998, 7 (8); Urt. v. 19.12.2000 – VII R 63/99, BStBl. II 2001, 217. 3 BFH, Urt. v. 16.11.2004 – VII R 8/04, BFH/NV 2005, 494; Blesinger, S. 38 m.w. Nachw.; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 15. 4 Niedersächsisches FG, Urt. v. 26.8.2008 – 11 K 307/07, n.v.; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 15; Blesinger, S. 37. 5 Vgl. FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 9.3.2011 – 9K 9141/09, EFG 2011, 1680; FG München, Urt. v. 23.1.1987 – VIII 161/83 L, EFG 1987, 331; Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 15; Blesinger, S. 37. 6 So bereits Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 15. 7 FG München, Urt. v. 23.1.1987 – VIII 161/83L, EFG 1987, 331; FG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.11.1987 – VII K 377/85 (rkr.), EFG 1988, 94.

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

rakter des § 69 AO, so dass eine Erlasslage bei der Steuerschuld zu berücksichtigen ist. Im Übrigen gilt grundsätzlich auch bei der Haftung für Verspätungszuschläge 2.170 der Grundsatz der anteiligen Tilgung.1 Dies gilt auch für Fälle der Lohnsteuerhaftung.2 Eine volle Haftung für Verspätungszuschläge kann jedoch m.E. dann bestehen, wenn eine Erklärungspflichtverletzung vorausgegangen ist.3 c) Lohnsteuer auf den Arbeitslohn des Vertreters Die Haftung umfasst auch die Lohnsteuer, die auf den Arbeitslohn des Vertreters 2.171 entfällt. Zwar ist der Vertreter bezüglich der auf seinen Arbeitslohn entfallenden Lohnsteuer Steuerschuldner und könnte daher nicht als Haftender in Anspruch genommen werden. Doch wird er für die Haftungsschuld seines Arbeitgebers in Anspruch genommen, so dass ein Einstehen für eine fremde Schuld auch hier vorliegt.4 Gleiches gilt für die Kapitalertragsteuer, die auf seine eigenen Kapitaleinkünfte entfällt.5 4. Verfahren Die Inanspruchnahme des Vertreters etc. durch das Finanzamt erfolgt mit einem 2.172 Haftungsbescheid gem. § 191 Abs. 1 AO. Durch das Gesetz zur Datenermittlung für den Verteilungsschlüssel des Gemeindeanteils am Umsatzsteueraufkommen und zur Änderung steuerlicher Vorschriften v. 23.6.19986 wurde – nachdem der BFH in einer Entscheidung aus dem Jahre 1997 Säumniszuschläge auf Haftungsschulden abgelehnt hat – § 240 AO in der Weise geändert, dass § 240 Abs. 1 Satz 2 AO auch die Entstehung von Säumniszuschlägen auf Haftungsschulden vorsieht. Zahlt der Haftungsschuldner, so können die von ihm geleisteten Zahlungen als (nachträgliche) Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu beachten sein.7 Im Übrigen vgl. zu verfahrensrechtlichen Fragen den Abschnitt Verfahren, Rz. 12.3.

III. Haftung gem. § 11 Abs. 2 GmbHG Neben einer Haftung nach §§ 34, 35, 69 AO ist auch eine Haftung nach § 11 2.173 Abs. 2 GmbHG denkbar, wenn z.B. der Geschäftsführer einer Vor-GmbH für diese Gesellschaft als Handelnder Verpflichtungen begründet. Wie der BFH zu Recht 1 BFH, Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (273). 2 Vgl. BFH, Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (273). 3 So bereits Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 15; a.A. BFH, Urt. v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (273): FG München, Beschl. v. 10.11.2011 – 14 V 2066/11, juris, wonach ein Schaden des Fiskus nicht darin liegen kann, dass der Vertreter bei rechtzeitiger Erklärungsabgabe einen Anspruch auf Leistung eines Verspätungszuschlages bzw. der Zinsen nicht zur Entstehung gebracht hätte. 4 BFH, Urt. v. 15.4.1987 – VII R 160/83, BStBl. II 1988, 167 (168). 5 BFH, Urt. v. 26.2.2003 – I R 30/02, BFH/NV 2003, 1301. 6 BGBl. I 1998, 1496 = BStBl. I 1998, 873 (875). 7 Boeker in HHSp, § 69 AO Rz. 58.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

klarstellt, greift diese Haftung nicht bei Steuern. Nach § 11 Abs. 2 GmbHG kommt eine Haftung des Handelnden gegenüber Dritten nur in Betracht, wenn ein rechtsgeschäftliches oder rechtsgeschäftsähnliches Handeln für die Vorgesellschaft vorliegt.1 § 11 Abs. 2 GmbHG erfasst daher nicht die Haftung im Rahmen gesetzlicher Schuldverhältnisse und damit keine Haftung des für die Vor-GmbH tätigen Geschäftsführers für Steuern.2 2.174

Prüfungsschema für eine Haftung gem. § 69 AO 1. Haftungsvoraussetzungen a) Haftender Personenkreis betroffen (s. hierzu berblick Rz. 2.38) b) Anspruch aus dem Steuerschuldverhltnis ist – nicht festgesetzt – nicht rechtzeitig festgesetzt – nicht erfllt – nicht rechtzeitig erfllt – oder Steuervergtungen oder Steuererstattungen sind ohne rechtlichen Grund gezahlt worden. c) Pflichtverletzung Folgende Pflichten (Auswahl) kçnnen verletzt sein: – Pflicht zur Steuerentrichtung – Pflicht zur quotenmßigen Befriedigung der Finanzbehçrde (Beachte aber die Ausnahmen, s. hierzu berblick Rz. 95) – Anzeige-, Erklrungs-, Anmeldungs-, Auskunfts-, Nachweis-, Berichtigungs-, Buchfhrungs-, und Aufzeichnungspflichten – Mittelvorsorgepflicht d) Kausalitt Es gilt die Adquanztheorie. Die Kausalitt ist in Bezug auf jeden einzelnen Steueranspruch zu prfen. Kausalitt

(–) wenn pflichtgemßes Verhalten ebenso zum Schaden gefhrt htte (–) bei berholender Kausalitt (–) bei fehlender Zurechnung

e) Verschulden Die Pflichtverletzung muss vorstzlich oder grob fahrlssig begangen worden sein. Die Pflichtverletzung indiziert die grobe Fahrlssigkeit. – Hilfspersonen sind sorgfltig auszuwhlen und zu berwachen. – Die berwachungspflicht ist bei Steuerberatern eingeschrnkt. 1 H.M., s. Fastrich in Baumbach/Hueck, § 11 GmbHG Rz. 49 m.w. Nachw. 2 BFH, Urt. v. 16.7.1996 – VII R 133/95, BFH/NV 1997, 4 (6).

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A. Haftung des Vertreters, Verfgungsberechtigten bzw. Handelnden

– Bei mehreren Geschftsfhrern gilt: – Liegt eine schriftliche Aufgabenverteilung vor, so kann sich der intern fr die Steuern nicht Zustndige grundstzlich exkulpieren. – Fehlt eine solche Vereinbarung, so bleibt eine berwachungsfunktion bestehen. – Mitverschulden der Finanzbehçrde ist zu beachten (str.). 2. Rechtsfolge Die Haftung erfasst neben den Steuerrckstnden auch die Nebenleistungen gem. § 3 Abs. 3 AO. Haftungseinschrnkungen sind insbesondere bei den Sumniszuschlgen zu beachten.

IV. Schadensersatz nach § 823 BGB Schrifttum: Goette, Zur persönlichen Haftung des Geschäftsführers einer GmbH gegenüber Dritten aus Geschäften, die nach Eintritt der Konkursreife mit ihnen geschlossen werden, DStR 1994, 1048; Haack, Durchgriff und Eigenhaftung bei der GmbH, NWB Fach 18, 3355; Medicus, Haftung des GmbH-Geschäftsführers gegenüber Dritten aus Geschäften nach Konkursreife, DStR 1995, 1432; Wimmer, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, NJW 1996, 2546; Urban, Je strafbarer, desto haftungsfreier? Zur steuerlichen Quotenhaftung des GmbH-Geschäftsführers nach §§ 69, 34 AO bei Konkursverschleppung, DStR 1997, 1145; Beyer, Keine Haftung gem. § 71 AO bei Subventionsbetrug, AO-StB 2014, 168.

Die Schadensersatzansprüche gem. § 823 BGB sind deliktische Ansprüche, die 2.175 zivilrechtlich verfolgt werden müssen, und keine Haftungsansprüche des Fiskus gegen den Bürger. Letztere sind eigenständige Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO), die sowohl nach ihrer Entstehung als auch nach ihrem Inhalt und ihrer Durchsetzung eigenen, von den zivilrechtlichen Deliktsansprüchen unterschiedlichen Regeln unterliegen.1 Gleichwohl sollen sie hier kurz behandelt werden, da sie sich gegen die gleichen Personen richten und auf gleichen Lebenssachverhalten beruhen. Ein Schadensersatz nach § 823 Abs. 1 BGB kommt in den Haftungsfällen kaum 2.176 in Betracht, da der Schaden des Steuergläubigers – in der Regel Steuerschulden oder Ansprüche auf Nebenleistungen – stets einen Vermögensschaden darstellt und Vermögen als solches kein absolut geschütztes Rechtsgut i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB ist.2 Dagegen ist ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB nicht von vorn- 2.177 herein ausgeschlossen. Der Vertreter eines Steuerpflichtigen verwirklicht nicht selten in den Fällen hoher Steuerrückstände strafgesetzliche Tatbestände, die als

1 BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BStBl. II 1997, 308 (311); Urt. v. 19.12.2013 – III R 25/10, BStBl. II 2015, 119; s. auch zum Begriff Haftung Rz. 1.1 ff. 2 BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BStBl. II 1997, 308 (312); Medicus, DStR 1995, 1432.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

„Schutzgesetze“ i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB anzusehen sein könnten. Im Einzelnen lassen sich insbesondere folgende Vorschriften unterscheiden: 2.178

– § 370 AO. Diese Vorschrift kommt als Schutzgesetz nicht in Betracht. Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist jede Norm, die nach Zweck und Inhalt wenigstens auch auf den Schutz von Individualinteressen vor einer näher bestimmten Art ihrer Verletzung ausgerichtet ist.1 In § 370 AO ist das geschützte Rechtsgut der Anspruch des Staates auf den vollen und rechtzeitigen Ertrag aus jeder einzelnen Steuer. Dieser Anspruch liegt aber allein im Interesse der Allgemeinheit. Ein Individualschutz ist daher augenscheinlich nicht vom Gesetzgeber bezweckt, so dass § 370 AO als Schutzgesetz ausscheidet.2

2.179

– § 378 AO. Auch die leichtfertige Steuerverkürzung hat als Schutzgut nur den Anspruch des Staates auf den vollen und rechtzeitigen Ertrag aus jeder einzelnen Steuer. Ein Individualschutzinteresse wird nicht verfolgt, so dass auch diese Vorschrift kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist.3

2.180

– §§ 263, 264 StGB. Zwar handelt es sich bei diesen Vorschriften um Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB4; jedoch geht § 370 AO als lex specialis diesen Vorschriften vor5, so dass bei Vorliegen der Voraussetzungen für § 370 AO ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 oder § 264 StGB nicht hergeleitet werden kann. Zwar gelten die Konkurrenzregeln zunächst nur für die Strafbarkeit einer Handlung. Gleichwohl hat der Gesetzgeber nach dem Grundsatz der Spezialität die Vorschrift geschaffen. Liegen die Voraussetzungen des § 370 BGB nicht vor, so steht einem Schadensersatzanspruch gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 oder § 264 StGB nichts im Wege.6

2.181

– § 15a Abs. 1 InsO. Diese Vorschrift ist als Schutzgesetz zu § 823 Abs. 2 BGB anerkannt.7 Ein solcher Schadensersatzanspruch kommt in Betracht, wenn der Geschäftsführer trotz Insolvenzreife einen Insolvenzeröffnungsantrag nicht stellt. Für die in den Zeitraum ab Insolvenzreife bis zur Antragstellung fallenden Steuerforderungen haftet der Geschäftsführer in voller Höhe.8

1 BGH, Urt. v. 3.2.1987 – VI ZR 32/86, BGHZ 100, 13; BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BStBl. II 1997, 308 (312). 2 BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BStBl. II 1997, 308 (313). 3 A.A. Halaczinsky, Rz. 591; Goutier, S. 99. 4 BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BStBl. II 1997, 308 (312) m.w. Nachw. 5 BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BStBl. II 1997, 308 (312); Jäger in Klein, § 370 AO Rz. 255. 6 FG München, Urt. v. 10.6.1985 – XII (XIII) 161/82 AO, EFG 1986, 266. 7 BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 = NJW 1994, 2200 = BGHZ 126, 181; Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, NJW 1998, 2667; Urt. v. 10.6.2002 – II ZR 162/00, WM 2003, 595; vgl. auch Wimmer, NJW 1996, 2546; Goette, DStR 1994, 1048 (1051); Medicus, DStR 1995, 1432 (1433 f.). 8 Vgl. auch Urban, DStR 1997, 1145 (1147); s. auch Blesinger, S. 124.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

B. Haftung des Arbeitgebers für Lohnsteuer (§ 42d Abs. 1 EStG) und die Haftung bei Arbeitnehmerüberlassung (§ 42d Abs. 6 EStG) Schrifttum: Mösbauer, Möglichkeiten des Haftungsausschlusses bei der Lohnsteuerhaftung des Arbeitgebers, FR 1995, 173; Dißars/Dißars, Die Anrufungsauskunft nach § 42e EStG – Schutz des Arbeitgebers vor der Lohnsteuerhaftung, DStR 1995, 1817; Thomas, Die Ermittlung der Haftungsschuld bei unterbliebenem Lohnsteuerabzug, DStR 1995, 273; Mösbauer, Zur Haftung des Entleihers von Arbeitnehmern für deren Lohnsteuer, FR 1996, 281; Olbertz, Die Lohnsteuer-Haftung des Arbeitgebers, DB 1998, 1787; Winter, Der Arbeitgeber im Lohnsteuerrecht, (Diss.) 1998; Siegers, Form der Inanspruchnahme (Haftungsoder Steuerbescheid) eines Arbeitgebers für rückständige Lohnsteuer, Beilage EFG 2000, 190; Kloubert, Ordnungs- und Regelungsfunktion des Steuerrechts bei Störungen am Beispiel des Gesamtschuldnerausgleichs beim Lohnsteuerabzug, FR 2001, 465; Pust, Zur Haftung des Arbeitgebers wegen unterbliebenen Lohnsteuerabzugs, HRF 2001, 771; Gosch, Geltendmachung von Abzugssteuern durch Nachforderungs- oder Haftungsbescheid, StBp 2001, 113; Giloy, Haftung des Arbeitgebers für die Lohnsteuer, NWB Fach 6, 4267; Eisgruber, Lohnsteuerhaftung des Arbeitgebers aufgrund einer unterlassenen Anzeige nach § 38 Abs. 4 S. 2 EStG, DStR 2003, 141; Gersch, Haftungs- und Nachforderungsbescheid, Wahlrecht sollte kritisch überprüft werden, AO-StB 2004, 176; Drüen, Grenzen der Steuerentrichtungspflichten, FR 2004, 1134; Kruse, Über Dienstleistungspflichten und Haftung, in GS Trzaskalik, 2005, S. 169; Nacke, Zweifelsfragen und Prüfungsschwerpunkte bei der Lohnsteuerhaftung, DStR 2005, 1297; Blesinger, Haftung und Duldung im Steuerrecht, Stuttgart 2005, S. 96 ff.; Nacke, Ermessensfehler bei der Lohnsteuerhaftung: In folgenden Fällen sollten Sie sich wehren, Gestaltende Steuerberatung 2006, 446; Heuermann, Was ist eigentlich eine Entrichtungssteuerschuld?, StuW 2006, 332; Nacke, Ungeklärte Rechtsfragen des steuerlichen Haftungsrechts, DStR 2013, 335; Bruschke, Arbeitgeberhaftung nach § 42d EStG – Risiken bei der Lohnversteuerung vermeiden, StB 2014, 76; Geserich, Zur Lohnsteuerhaftung des Arbeitgebers bei Fehlverhalten von Dritten, HFR 2014, 618; Bergkemper, Haftung des Arbeitgebers bei Pflicht des Dritten Lohnsteuer einzubehalten, FR 2014, 770; Reuker/Wagner, Steuer(straf)rechtliche Risiken berufsbedingter Aufwendungen des Syndikusanwalts durch den Arbeitgeber, BB 2016, 215; Steinhauff, Die Haftung für Lohnsteuer gem. § 42d EStG, AO-StB 2017, 29; Meyer, Die Rolle des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, DStJG 40 (2017), 177. Verwaltungsanweisungen: Lohnsteuer-Handbuch 2017

Die Vorschrift des § 42d EStG enthält zwei unterschiedliche Haftungstatbestän- 2.182 de: Die Haftung des Arbeitgebers oder Dritter (§ 42d Abs. 1 bis 5, 9 EStG) und die Haftung bei Arbeitnehmerüberlassung (§ 42d Abs. 6 bis 8 EStG). Ausgangspunkt der Haftung nach § 42d EStG ist die Steuerschuld des Arbeitneh- 2.183 mers. Der Arbeitnehmer ist Schuldner der Lohnsteuer (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG) – abgesehen von der pauschalen Lohnsteuer (§§ 40 Abs. 3, 40a und 40b EStG). Bei der pauschalen Lohnsteuer ist der Arbeitgeber der Steuerschuldner. Die pauschale Lohnsteuer wird daher mit Steuerbescheid direkt beim Arbeitgeber eingefordert. Hinsichtlich der Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers kommt dagegen insbesondere eine Haftung des Arbeitgebers oder Entleihers für diese Steuerschuld in Betracht. Aus § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG folgt die Gesamtschuldnerschaft des haftenden Arbeitgebers und des Arbeitnehmers. Wird der Arbeitgeber in Haftung genommen, kann dieser zivilrechtlich beim Arbeitnehmer Regress nehmen.1

1 S. im Einzelnen Meyer, DStJG 40 (2017), 210 f.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

I. Haftung des Arbeitgebers für Lohnsteuer (§ 42d Abs. 1 EStG) 2.184

Erklärt bzw. entrichtet der Arbeitgeber nicht die Lohnsteuer, die auf die Löhne an seine Arbeitnehmer entfallen, so hat das Finanzamt verschiedene Möglichkeiten, die Lohnsteuer einzufordern (s. Schaubild Rz. 2.187). Das Finanzamt kann einen Steuerbescheid in Form eines Schätzungsbescheides an die Arbeitnehmer richten (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO). Ebenso kann es auch einen Steuerbescheid in Form eines Schätzungsbescheides an den Arbeitgeber erlassen (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO). Aus der Formulierung des Gesetzes kann man entnehmen, dass auch gegen den Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber ein Steuerbescheid erlassen werden kann.1 Die Finanzbehörde kann aber auch einen Haftungsbescheid nach § 42d Abs. 1 EStG an den Arbeitgeber richten. Weiterhin kann es einen Haftungsbescheid nach §§ 34, 35 i.V.m. 69 AO an den Arbeitgeber verfügen. Welche Vorgehensweise das Finanzamt wählt, hängt von den jeweils erforderlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme ab: Während Haftungsbescheide eine Ermessensausübung erfordern, bedarf es bei einem Steuerbescheid nach § 167 Abs. 1 Satz 1 AO keiner Ermessensausübung.2 Statt einer verschuldensabhängigen Haftung nach §§ 34, 35 i.V.m. § 69 AO ist eine Haftung nach § 42d EStG verschuldensunabhängig.3 Aufgrund der neueren Entscheidungen des BFH zur Inanspruchnahme des Arbeitgebers durch Schätzungsbescheid nach § 167 Abs. 1 Satz 1 AO wird in Zukunft die Finanzverwaltung vermehrt von diesem Instrument der Inanspruchnahme Gebrauch machen, da es einer Verschuldensprüfung und Ermessensausübung augenscheinlich nicht bedarf.

2.185

Die Haltung der Verwaltung und des BFH ist jedoch nicht unumstritten.4 Diese Möglichkeiten der Inanspruchnahme lassen sich nämlich schwerlich mit der Dogmatik des Haftungsrechts in Einklang bringen. Zwar kann formell mit einem Nachforderungsbescheid ein Lohnsteueranspruch geltend gemacht werden; jedoch fragt man sich, um welchen materiellrechtlichen Anspruch es sich dabei handelt. Von einer Steuerentrichtungsschuld kann man m.E. nicht sprechen, denn es gibt nur eine Steuerschuld, die der Steuerpflichtige schuldet, und eine Haftungsschuld, die der Haftungsschuldner schuldet. Materiell-rechtlich ist daher die Inanspruchnahme des Arbeitgebers eine Inanspruchnahme wegen einer Haftungsschuld. Die Steuerentrichtungspflicht ist eine Verpflichtung die nicht auf einer eigenen Schuld beruht. Es wird daher in der Literatur m.E. zu Recht die Kritik geäußert, dass der Gesetzgeber hier Klarheit schaffen sollte, bei der die sys1 BFH, Urt. v. 7.7.2004 – VI R 171/00; BFH/NV 2004, 1569; Urt. v. 7.7.2004 – VI R 168/01, n.v. 2 Es handelt sich bei der Entrichtungsschuld zwar materiell-rechtlich um einen Haftungsanspruch, die Inanspruchnahme erfordert aber keine Ermessensausübung, s. zur vergleichbaren Haftung des § 44 Abs. 5 EStG: BFH, Urt. v. 13.9.2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67 (69); offen gelassen BFH, Urt. v. 30.10.2008 – VI R 10/05, BStBl. II 2009, 354 (355). 3 Die Haftung des Arbeitgebers nach § 42d EStG ist zwar verschuldensunabhängig (h.M., Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 54 m.w. Nachw.; a.A. noch Drenseck in Schmidt, 30. Aufl. 2011, § 42d EStG Rz. 7). Ein schuldloses Verhalten oder nur ein geringfügiges Verschulden ist aber im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen (Blesinger, S. 99). 4 S. z.B. FG Münster, Urt. v. 20.9.2000 – 15 K 6695/98 L, EFG 2000, 1388; Niedersächsisches FG, Urt. v. 29.6.1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468; Heuermann, StuW 2006, 332; Kruse in GS Trzaskalik, S. 179; Drüen, DB 2005, 299; Cöster in Koenig, § 167 AO Rz. 15; Gersch, AO-StB 2004, 176.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

tematische Abgrenzung zwischen Steuerschuld und Haftungsschuld auch verfahrensmäßig beachtet wird. Bis zu einer gesetzgeberischen Änderung vertreten die Kritiker der Rechtspre- 2.186 chung des BFH, dass wegen der materiell-rechtlichen Inanspruchnahme einer Haftungsschuld auch die Voraussetzungen der Haftungsvorschriften zu beachten seien, insbesondere die Beachtung einer rechtmäßigen Ausübung des Ermessens.1 Folgende Übersicht spiegelt die Möglichkeiten des Finanzamtes wider: Möglichkeiten für eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers bzw. Arbeitnehmers 2.187 wegen nicht abgeführter bzw. angemeldeter Lohnsteuer

Neben der Haftung des Vertreters usw. nach §§ 34, 35 i.V.m. 69 AO kommt in 2.188 der Praxis am häufigsten die Lohnsteuerhaftung nach § 42d Abs. 1 EStG vor. In erster Linie betrifft diese Vorschrift die Haftung des Arbeitgebers für einbehaltene, aber nicht abgeführte Lohnsteuerbeträge. Sie ergibt sich daraus, dass die GmbH als Arbeitgeber gem. § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG verpflichtet ist, die Lohnsteuer des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten, diese gem. § 41a Abs. 1 Nr. 1 EStG dem Betriebsstättenfinanzamt anzumelden und nach Nr. 2 an das Finanzamt abzuführen. Unterlässt er dies, so haftet er gem. § 42d EStG. An der Verfassungsmäßigkeit dieser Haftung des Arbeitgebers bestehen keine Bedenken.2 Wird der Arbeitgeber für die pauschalierte Lohnsteuer (§§ 40–40b EStG) in Anspruch genommen, so ist er nicht Haftungsschuldner, sondern Steuerschuldner (s. § 40 Abs. 3 EStG). Dagegen bleibt es bei der Haftung des Arbeitgebers für die Lohnsteuer, wenn eine sog. Nettolohnvereinbarung vorliegt. Hier bleibt der Arbeitnehmer Schuldner der Lohnsteuer. Die Nettolohnvereinbarung findet man in zwei Formen vor. Bei einer abgeleiteten Nettolohnvereinbarung wird zwar ein bestimmter Bruttolohn vereinbart. Dieser soll aber so 1 Kruse in GS Trzaskalik, S. 179; Drüen, DB 2005, 299; Cöster in Koenig, § 167 AO Rz. 15; Heuermann, StuW 2006, 332; Meyer, DStJG 40 (2017), 216; s. zum Streitstand auch Nacke, DStR 2013, 339 ff. 2 BFH, Urt. v. 5.7.1963 – VI 270/62 U, BStBl. II 1963, 468 (469); Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 1.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

bemessen sein, dass dem Arbeitnehmer ein im Voraus festgelegter Nettobetrag verbleibt. Bei einer originären Nettolohnvereinbarung wird ein konstanter Nettolohn vereinbart, ohne dass ein Bruttolohn Geschäftsgrundlage der Vereinbarung ist.1 Wirken Arbeitgeber und Arbeitnehmer kollusiv bei der Hinterziehung der Lohnsteuer zusammen – Fälle der Schwarzarbeit –, so kann darin keine Nettolohnvereinbarung gesehen werden.2 Daraus folgt, dass in Fällen, in denen „schwarze“ Löhne gezahlt wurden, nur der Bruttosteuersatz und nicht der höhere Nettolohnsteuersatz berücksichtigt werden darf.3 1. Voraussetzungen der Haftung a) Haftungsschuldner 2.189

Als Haftungsschuldner kommt der inländische Arbeitgeber in Betracht. Im Einzelfall kann auch der Bauherr Arbeitgeber sein, wenn er Gewerke in größerem Umfang von Bauhandwerkern erstellen lässt, ohne ordnungsgemäße Unternehmerrechnungen vorlegen zu können.4 b) Haftungstatbestände aa) § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG

2.190

Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber, wenn die Lohnsteuer, die sich aus der Lohnsteuertabelle unter Zugrundelegung der Lohnsteuerkarte ergibt, unzutreffend einbehalten oder abgeführt wird. Dabei haftet er auch, wenn er die Frage nach der Steuerpflicht falsch beantwortet.5 Andererseits entfällt eine Haftung, wenn der Arbeitgeber entsprechend einer telefonischen Auskunft oder einer verbindlichen Zusage des Finanzamtes verfahren ist. Hat er dementsprechend die Lohnsteuer einbehalten und an das Finanzamt abgeführt, kommt es auf die Erfüllung der Rechtsgrundlage für die Haftung nicht mehr an.6 Die volle Haftung kommt auch dann nicht in Betracht, wenn statt einer nach den gesetzlichen Vorschriften einzubehaltenden Lohnsteuer eine gesetzwidrig zu hoch einbehaltene Lohnsteuer nicht abgeführt wird. Der Arbeitgeber haftet nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für diejenige Lohnsteuer, die „einzubehalten“ er gesetzlich verpflichtet ist.7

2.191

Unzutreffend wird die Lohnsteuer häufig deshalb einbehalten, weil ein geldwerter Vorteil nicht der Lohnsteuer unterworfen wurde. Nach Auffassung des BFH 1 Vgl. Krüger in Schmidt, § 39b EStG Rz. 10 ff. 2 BFH, Urt. v. 21.2.1992 – VI R 41/88, BStBl. II 1992, 443; Krüger in Schmidt, § 39b EStG Rz. 13. 3 In Schätzungsfällen ist nicht zu beanstanden, wenn der Eingangssteuersatz für Berechnungen herangezogen wird. Folgende Bruttoeingangssteuersätze sind für die letzten Jahre zu berücksichtigen: 19,5 v.H. (1990–1995); 25,9 (1996–1998); 23,9 (1999); 22,9 (2000); 19,9 (2001–2003); 18 (2004); 15 (2005–2008); 14 (ab 2009). 4 Vgl. FG Düsseldorf, Beschl. v. 21.4.1997 – 7 V 6073/96 A (H [L]), EFG 1997, 1117. 5 Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 3. 6 Gersch in HHR, § 42d EStG Rz. 92, 106; Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 51; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 3; zur Anrufungsauskunft nach § 42e EStG im Allgemeinen vgl. auch Dißars/Dißars, DStR 1995, 1817. 7 BFH, Urt. v. 22.6.1993 – VI R 116/90, BStBl. II 1993, 775 (777).

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

ist in diesen Fällen die Haftungsschuld nach dem niedrigeren Bruttosteuersatz und nicht nach dem höheren Nettosteuersatz zu bemessen. Denn selbst wenn das Finanzamt die Gewissheit hat, der Arbeitgeber werde nach der Zahlung der Lohnsteuer keinen Ausgleichsanspruch (§ 426 Abs. 2 BGB) geltend machen, fließt dem Arbeitnehmer der Vorteil bezüglich der Lohnsteuer erst zu, wenn der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer als dem Steuerschuldner endgültig die Steuer trägt.1 Daraus folgt, dass nach Entrichtung der Lohnsteuer der Arbeitgeber wegen des 2.192 darin enthaltenen weiteren Zuflusses von Lohn bei den Arbeitnehmern erneut in Haftung genommen werden kann, freilich wiederum nur mit dem Bruttosteuersatz.2 Beispielhafte Anwendungsfälle:

2.193

Keine Lohnsteuerabführung Führt der Arbeitgeber trotz angemeldeter oder geschätzter Lohnsteuer die festgesetzte Lohnsteuer nicht ab, so haftet er nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG. In der Praxis handelt es sich häufig um Fälle der bevorstehenden Insolvenz. Die Lohnsteuern werden zwar angemeldet, sie werden wegen fehlender Mittel aber nicht mehr abgeführt. Hier ist zu beachten, dass nicht der angemeldete Lohn, sondern der im Anmeldungszeitraum gezahlte Lohn für die Besteuerung maßgeblich ist. Es kann insoweit zu überraschenden Ergebnissen führen, wenn sich die Zahlung der Löhne verzögert und sie nicht am Ende des Monats, sondern im Folgemonat erfolgt.3 Da sich im Einzelfall der Nachweis der Zahlung nur schwer belegen lässt, kann 2.194 es auf die Feststellungslast (Beweislast) ankommen. Wurde die Höhe der Lohnsteuer vom Finanzamt geschätzt, weil z.B. keine Lohnsteueranmeldungen abgegeben wurden, so ist es im Zweifel Sache des Finanzamtes nachzuweisen, dass Gehälter in entsprechender Höhe im Anmeldungszeitraum gezahlt wurden.4 Dies gilt jedoch nicht, wenn die Lohnsteuerforderung ihren Ausgangspunkt in der Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers hat. Behauptet der Arbeitgeber später, die Löhne seien nicht oder nicht vollständig ausgezahlt worden, so liegt die Aufklärung dieses Widerspruchs in seinem Verantwortungsbereich. Die Feststellungslast trägt dann der Arbeitgeber.5 Im Rahmen der Haftung für nicht abgeführte Lohnsteuer ist zu beachten, dass 2.195 der Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht gilt. Gleichwohl kann es zu Ausnahmen vom Grundsatz der vollen Haftung für Lohnsteuer kommen.6 Darüber 1 BFH, Urt. v. 29.10.1993 – VI R 26/92, BStBl. II 1994, 197 (198); vgl. auch BFH, Urt. v. 16.11.1995 – VI R 82/95, BFH/NV 1996, 285 (286); Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.8.2009 – 11 K 533/07, EFG 2010, 2051. 2 BFH, Urt. v. 29.10.1993 – VI R 26/92, BStBl. II 1994, 197 (200). 3 S. Nacke, DStR 2005, 1299. 4 BFH, Urt. v. 12.7.1988 – VII R 3/85, BFH/NV 1989, 7. 5 BFH, Urt. v. 12.7.1988 – VII R 3/85, BFH/NV 1989, 7; Beschl. v. 8.5.2001 – VII B 252/00, BFH/NV 2001, 1222; Nacke, DStR 2005, 1299. 6 S. Rz. 2.76 und Nacke, DStR 2005, 1300.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

hinaus ist in den Insolvenzfällen darauf zu achten, dass insbesondere bei Steuerschulden aus den letzten drei Monaten vor Stellung eines Insolvenzeröffnungsantrags eine Haftung nicht wegen des Anfechtungsrechts des Insolvenzverwalters entfallen kann (s. hierzu Rz. 2.130). 2.196

Privatnutzung betrieblicher Pkws Die Überlassung eines betrieblichen Pkw an einen Arbeitnehmer oder die Nutzung eines betrieblichen Pkw durch den Inhaber des Betriebs führte nach bisheriger Ansicht des BFH unter Beachtung weiterer Umstände dazu, dass diese Nutzung auch eine Privatnutzung umfasste. War die Privatnutzung umstritten, so ging die Rechtsprechung davon aus, dass ein Anscheinsbeweis (Indizienbeweis) dafür sprach. Dieser konnte jedoch durch den Steuerpflichtigen erschüttert werden. Der Maßstab hierfür war davon abhängig, ob es sich um einen Arbeitnehmer oder um einen Geschäftsführer oder Inhaber des Betriebs handelte. Darüber hinaus konnte auch der Besitz eines oder weiterer Pkw im Privatvermögen gegen den Anscheinsbeweis der Privatnutzung sprechen.

2.197

Seit der Entscheidung vom 21.4.20101 hat der BFH nun eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des Anscheinsbeweises konstatiert. Danach führt nicht die Nutzung eines betrieblichen Pkw als solches nach der allgemeinen Lebenserfahrung zu der Annahme, dass die Nutzung auch für private Zwecke erfolgt. Der BFH schränkt diese Annahme der Privatnutzung in der Weise ein, dass man nach allgemeiner Lebenserfahrung eine tatsächliche Privatnutzung nur dann annehmen kann, wenn dem Arbeitnehmer das Fahrzeug auch zur Privatnutzung überlassen worden ist. Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt die Privatnutzungsmöglichkeit voraus.

2.198

Der BFH formuliert dies so: „Steht nicht fest, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Dienstwagen zur privaten Nutzung überlassen hat, kann auch der Beweis des ersten Anscheins diese fehlende Feststellung nicht ersetzen. Denn der Anscheinsbeweis streitet nur dafür, dass ein vom Arbeitgeber zur privaten Nutzung überlassener Dienstwagen auch tatsächlich privat genutzt wird. Der Anscheinsbeweis streitet aber weder dafür, dass dem Arbeitnehmer überhaupt ein Dienstwagen … zur Verfügung steht, noch dafür, dass er einen solchen unbefugt auch privat nutzt. Denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist zwar typischerweise davon auszugehen, dass ein dem Arbeitnehmer auch zur privaten Nutzung überlassener Dienstwagen von ihm tatsächlich auch privat genutzt wird. Weiter reicht dieser allgemeine Erfahrungssatz aber nicht.“2 Für die Besteuerung des Vorteils ist unbeachtlich, ob der Arbeitnehmer nachweisen kann, dass er das Fahrzeug tatsächlich nicht genutzt hat.3

2.199

Diese Einschränkung des Anwendungsbereiches des Anscheinsbeweises hat weitreichende Folgen für die Praxis. Im Folgenden werden einige unterschiedliche Fallgestaltungen dargestellt. 1 BFH, Urt. v. 21.4.2010 – VI R 46/08, BFH/NV 2010, 1707; s. z.B. BFH, Urt. v. 6.10.2011 – VI R 56/10, BFH/NV 2012, 315. 2 BFH, Urt. v. 21.4.2010 – VI R 46/08, BFH/NV 2010, 1707. 3 BFH, Urt. v. 21.3.2013 – VI R 26/10, BFH/NV 2013, 1396.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

Wie der BFH ausdrücklich entschieden hat, ist Voraussetzung für die Anwen- 2.200 dung des Anscheinsbeweises, dass die Privatnutzung arbeitsvertraglich zugelassen ist. Ist somit im Arbeitsvertrag eine Privatnutzung ausgeschlossen, kommt der Beweis des ersten Anscheins nicht zum Tragen. Beispiel: A, der Einzelunternehmer ist, schließt mit seinem Arbeitnehmer B einen schriftlichen Arbeitsvertrag, in dem die Nutzung des dem B überlassenen Pkw ausschließlich nur zu dienstlichen Zwecken erlaubt ist. Weitere Feststellungen kann der Betriebsprüfer bzgl. einer Privatnutzung des dienstlichen Pkw nicht treffen. In diesem Fall kommt der Anscheinsbeweis nicht zur Geltung, Der Beweis des ersten Anscheins setzt eine private Nutzungsmöglichkeit voraus.

2.201

Beispiel: Wie im vorherigen Beispiel (Rz. 2.201), jedoch wurde der Ausschluss der Privatnutzung nur mündlich vereinbart. Es fehlt eine schriftliche Fixierung im Arbeitsvertrag oder in einem Dienstwagenüberlassungsvertrag. Auch hier bleibt es bei dem Ergebnis, dass eine Privatnutzung nicht aufgrund des Anscheinsbeweises angenommen werden kann. Eine private Nutzungsmöglichkeit bestand nicht, die Voraussetzung für die allgemeine Lebenserfahrung ist, dass das Fahrzeug auch tatsächlich privat genutzt wurde.

2.202

Neben einer ausdrücklichen Erlaubnis, das dienstliche Fahrzeug auch privat zu 2.203 nutzen, kann es im Einzelfall auch zu einer konkludenten vertraglichen Vereinbarung kommen, aus der sich ergibt, dass eine Privatnutzung durch den Arbeitnehmer erlaubt ist. Hierzu bedarf es Feststellungen von Umständen, die auf eine vertragliche Vereinbarung schließen lassen. Beispiel: Bei der GmbH X wird eine Lohnsteuer-Außenprüfung durchgeführt. Der Betriebsprüfer macht folgte Feststellungen. Nach einem Dienstwagenüberlassungsvertrag mit dem Arbeitnehmer B war die Privatnutzung ausgeschlossen. B hat ihm gegenüber aber bestätigt, dass er das ihm von der GmbH überlassene Fahrzeug mit Zustimmung des Geschäftsführers auch privat genutzt hat. Auch stellt der Prüfer fest, dass das Fahrzeug aktuell (außerhalb des Prüfungszeitraums) von B privat genutzt wird, ohne das eine Lohnversteuerung dieser Nutzung erfolgte. Hier kann von einer konkludenten Vereinbarung einer Privatnutzung ausgegangen werden. Des Anscheinsbeweises bedarf es nicht, da aufgrund der festgestellten Umstände von einer tatsächlichen Privatnutzung ausgegangen werden kann.

2.204

Beispiel: Die GmbH X schließt mit dem Arbeitnehmer A einen schriftlichen Arbeitsvertrag, in dem die Nutzung des dem A überlassenen Pkw ausschließlich nur zu dienstlichen Zwecken erlaubt ist. Jedoch erlaubt der Arbeitgeber, dass das Fahrzeug am Wochenende vom Arbeitnehmer mit nach Hause genommen werden darf. Ebenso erlaubt er die Nutzung des Fahrzeugs für Urlaubsreisen des Arbeitnehmers. Das tatsächliche Handeln des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers zeigen an, dass eine konkludente vertragliche Vereinbarung getroffen wurde, wonach eine Privatnutzung trotz der arbeitsvertraglichen Regelung erlaubt war. Der Anscheinsbeweis der tatsächlichen Privatnutzung kann angewandt werden.

2.205

Der Fall ist m.E. gänzlich anders gelagert, wenn hinsichtlich des Umfangs der 2.206 Nutzung keine Vereinbarung getroffen wurde. Wird im (schriftlichen) Arbeitsvertrag nur geregelt, dass dem Arbeitnehmer ein dienstlicher PKW überlassen wird und wird auch ansonsten eine Privatnutzung ausdrücklich oder konkludent vertraglich nicht geregelt, so dürfte m.E. auch nach der neuen Rechtsprechung des VI. Senats der Beweis des ersten Anscheins für eine Privatnutzung sprechen, da die Überlassung zur Nutzung die dienstliche und private Nutzung umfasst.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.207

Beispiel: Der Prokurist B erhält von seinem Arbeitgeber, der X-GmbH, einen Pkw zur Nutzung überlassen. Ob B den Pkw nur dienstlich oder auch privat nutzen darf, ist arbeitsvertraglich nicht geregelt und ist zwischen dem Finanzamt und dem Arbeitgeber streitig. Hier spricht m.E. weiterhin der Beweis des ersten Anscheins für eine private Nutzung, da arbeitsvertraglich weder ausdrücklich noch konkludent die Privatnutzung ausgeschlossen ist.

2.208

Eine andere Fallgestaltung betrifft den auch vom BFH in seiner neuen Entscheidung aufgegriffenen Sachverhalt, wonach eine Privatnutzung trotz arbeitsvertraglichen Ausschlusses erfolgte. Hier liegt kein Fall der befugten Privatnutzung des betrieblichen Pkw vor. Die unbefugte Privatnutzung hat aber keinen Lohncharakter. Denn ein Vorteil, den der Arbeitnehmer gegen den Willen des Arbeitgebers erlangt, wird nicht „für“ eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt und zählt damit nicht zum Arbeitslohn nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 EStG.1

2.209

Beispiel: Dem Arbeitnehmer A ist untersagt, den ihm überlassenen Pkw privat zu nutzen. Trotzdem nutzt A den Wagen heimlich privat. A hat keinen geldwerten Vorteil erlangt, der lohnsteuerpflichtig ist.

2.210

Im Ergebnis zeigen die unterschiedlichen Fallgestaltungen, dass die neue Sichtweise des BFH auf den Anscheinsbeweis in der Praxis zu beachten ist. In vielen Fällen kann nunmehr eine Privatnutzung des dienstlichen Pkw nicht ohne Weiteres angenommen werden. Es bedarf weiterer Ermittlungen, die durch den Außenprüfer des Finanzamtes häufig nur schwer durchgeführt werden können.

2.211

Ein anderes Problem stellt sich in diesem Zusammenhang insoweit, als es um die Nutzung des Pkw durch den Gesellschafter-Geschäftsführer geht. Hier kommt eine verdeckte Gewinnausschüttung in Betracht, wenn die Nutzung des Pkw im Anstellungsvertrag des Geschäftsführers nicht vorgesehen ist. Eine Inanspruchnahme der Gesellschaft durch Haftungsbescheid wäre dann nicht möglich.2

2.212

Wurde ein Fahrtenbuch geführt, so stellt sich die Frage, ob das Fahrtenbuch anerkannt werden kann. Der BFH hat hierzu mehrere Entscheidungen getroffen.3 Nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 3 wie auch § 8 Abs. 2 Satz 4 EStG muss das Fahrtenbuch „ordnungsgemäß“ sein, um es für steuerliche Zwecke berücksichtigen zu können. Dies ist der Fall, wenn die Fahrten zeitnah und in einer geschlossenen

1 Vgl. BFH, Urt. v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 1016; Urt. v. 21.4.2010 – VI R 46/08, BFH/NV 2010, 1707; Urt. v. 6.10.2011 – VI R 56/10, BFH/NV 2012, 315 (s. auch die Parallelentscheidungen vom gleichen Tag zu den Az. VI R 54/10, VI R 57/10, VI R 58/10, VI R 63/10 u. VI R 64/10). 2 BFH, Urt. v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882; Urt. v. 17.7.2008 – I R 83/07, BFH/ NV 2009, 417; Urt. v. 23.1.2008 – I R 8/06, BFH/NV 2008, 1057; FG Brandenburg, Urt. v. 26.10.2005 – 2 K 1763/02, EFG 2006, 115; BFH, Urt. v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFH/NV 2009, 1311, jedoch mit Einschränkungen für den Fall einer nachhaltigen „vertragswidrigen“ privaten Nutzung (Aufgabe der bisher ablehnenden Haltung des VI. Senats). 3 BFH, Urt. v. 9.11.2005 – VI R 27/05, BFH/NV 2006, 858; Urt. v. 16.11.2005 – VI R 64/04, BFH/NV 2006, 864; Urt. v. 16.3.2006 – VI R 87/04, DStR 2006, 749 = BFH/NV 2006, 1205; Urt. v. 15.3.2007 – VI R 94/04, BFH/NV 2007, 1302.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

Form erfasst wurden.1 Wird ein Computerprogramm benutzt, so genügt es diesen Anforderungen nur, wenn die Eingaben nachträglich nicht mehr veränderbar sind bzw. die Reichweite der Veränderungen in der Datei selbst dokumentiert und offengelegt wird.2 Die beruflich geführten Fahrten sind grundsätzlich mit Angaben zum Datum, zum Reiseziel, zum aufgesuchten Kunden oder Geschäftspartner bzw. zum Gegenstand der dienstlichen Verrichtung und zu dem bei Abschluss der Fahrt erreichten Gesamtkilometerstand des Fahrzeugs anzugeben. Mehrere Teilabschnitte einer einheitlichen beruflichen Reise können miteinander zu einer zusammenfassenden Eintragung verbunden werden.3 Besteuerung von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit

2.213

Eine Haftung des Arbeitgebers für Lohnsteuer kann sich auch daraus ergeben, dass er Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit in unzulässiger Weise steuerfrei gestellt hat. Dies geschieht häufig dann, wenn er pauschal Teile des Gehaltes steuerfrei stellt, ohne die erforderliche Abrechnung vorzunehmen, die spätestens bis zum Ende des Wirtschaftsjahres bzw. zur Ausstellung der Jahreslohnsteuerbescheinigung erfolgen muss.4 Besondere Umstände, bei denen die Rechtsprechung des BFH Ausnahmen von diesem Grundsatz macht, können vorliegen, wenn fast ausschließlich Arbeitsleistungen zur Nachtzeit (§ 3b Abs. 2 Satz 2 EStG) erbracht werden. In diesem Fall sind die Anforderungen an die Nachweispflicht gemindert.5 Werden Zuschläge für Arbeiten an Sonn- und Feiertagen an einen Gesellschafter-Geschäftsführer gezahlt, sind diese grundsätzlich als verdeckte Gewinnausschüttungen zu behandeln und können daher nicht der Lohnsteuer unterliegen.6 Der BFH hat den Fall der fehlenden Anzeige nach § 38 Abs. 4 Satz 2 EStG auch 2.214 unter § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG subsumiert. Diese Entscheidung wird in der Literatur zu Recht kritisiert. Es handelt sich m.E. bei dieser Vorgehensweise um eine haftungsbegründende Analogie, da der Wortlaut des § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG überdehnt wird.7 Eine in der Praxis sich immer wieder stellende Frage betrifft die Höhe der Haf- 2.215 tungsschuld. Es geht dabei um die Situation, dass zwar Lohnsteueranmeldungen abgegeben wurden; jedoch eine Entrichtung der Lohnsteuer an das Finanzamt nicht mehr erfolgt ist, weil zwischenzeitlich Insolvenz eingetreten ist. Hier ist stets zu beachten, dass maßgeblich für die Haftung der im Voranmeldungszeitraum gezahlte Lohn ist. Die Lohnsteuer entsteht nämlich nach § 38 Abs. 2 Satz 2 1 BFH, Urt. v. 9.11.2005 – VI R 27/05, BFH/NV 2006, 858. 2 BFH, Urt. v. 16.11.2005 – VI R 64/04, BFH/NV 2006, 864. 3 Vgl. im Einzelnen BFH, Urt. v. 16.3.2006 – VI R 87/04, BStBl. II 2006, 625; Urt. v. 1.3.2012 – VI R 33/10, juris. 4 BFH, Urt. v. 25.5.2005 – IX R 72/02, BStBl. II 2005, 725; Beschl. v. 18.5.2005 – IX B 178/04, BFH/NV 2005, 1553; Beschl. v. 18.11.2003 – VI B 123/03, BFH/NV 2004, 335; Urt. v. 8.12.2011 – VI R 18/11, BFH/NV 2012, 633. 5 BFH, Urt. v. 24.11.1989 – VI R 92/88, BStBl. II 1990, 315; Urt. v. 22.10.2009 – VI R 16/08, BFH/NV 2010, 201. 6 S. BFH, Urt. v. 3.8.2005 – I R/05, BFH/NV 2006, 131 mit Hinweis auf Ausnahmen. 7 S. im Einzelnen Eisgruber, DStR 2003, 141; Eisgruber in Kirchhof, § 42d EStG Rz. 25 und § 38 Rz. 16; Nacke, DStR 2005, 1298.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Wird der Lohn März 04 erst am 5.4.04 gezahlt, so ist die Lohnsteuer erst im Monat April 04 entstanden. Sie ist daher auch erst in der Voranmeldung für den Monat April 04 anzumelden. Neben diesem Problem wird es vorkommen, dass vor der Insolvenz Lohnzahlungen angemeldet wurden, die gar nicht mehr zur Auszahlung gelangt sind. Hilfreich ist wegen der damit häufig zusammenhängenden Nachweisproblematik der Rückgriff auf Nachweise über gezahlte Insolvenzausfallgelder des Arbeitsamtes, die relativ einfach zu beschaffen sind.1 2.216

Û

Hinweis: Sind mehr Steuern angemeldet worden als in Wirklichkeit an Lohn entsprechend gezahlt wurde, so trägt der Haftungsschuldner die Feststellungslast (Beweislast). Wurden die Beträge vom Finanzamt geschätzt, so ist dagegen die Finanzbehörde beweispflichtig.

bb) § 42d Abs. 1 Nr. 2 EStG 2.217

Nach § 42d Abs. 1 Nr. 2 EStG haftet der Arbeitgeber auch für die Lohnsteuer, die er beim Lohnsteuer-Jahresausgleich zu Unrecht erstattet hat. Mit dem Lohnsteuer-Jahresausgleich ist der Jahresausgleich des Arbeitgebers und nicht der des Finanzamts gemeint. Die Vorschrift hat nur klarstellenden Charakter. Denn die unrichtige Erstattung lässt sich auch unter § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG einordnen.2 cc) § 42d Abs. 1 Nr. 3 EStG

2.218

Ferner haftet der Arbeitgeber, wenn aufgrund fehlerhafter Angaben im Lohnkonto oder in der Lohnsteuerbescheinigung die Einkommensteuer (Lohnsteuer) gekürzt wird (§ 42d Abs. 1 Nr. 3 EStG). Diese Haftung ist auf Kritik gestoßen, weil der Haftungstatbestand u.a. auf das Veranlagungsverfahren ausgedehnt wird. Jedoch kann diese Kritik im Rahmen des Ermessens berücksichtigt werden. Hätte das Finanzamt den Fehler erkennen können, wäre eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers ermessensfehlerhaft.3 Tatbestandliche Voraussetzung des § 42d Abs. 1 Nr. 3 EStG ist das Vorliegen einer Steuerverkürzung. Folglich fehlt es an dieser Voraussetzung, wenn z.B. der Arbeitnehmer in seiner Steuerfestsetzung von der ausgestellten fehlerhaften Lohnsteuerbescheinigung nicht Gebrauch gemacht hat.4 dd) § 42d Abs. 1 Nr. 4 EStG

2.219

Als weiterer Haftungstatbestand ergibt sich aus § 42d Abs. 1 Nr. 4 EStG eine Haftung des Dritten, der anstelle des Arbeitgebers Lohnansprüche zahlt. Die zugrunde liegende Vorschrift (§ 38 Abs. 3a EStG) gilt ab 2004 und ist durch ein Urteil des BFH ausgelöst worden5. Die Zahlungen der Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft waren nach dieser Entscheidung nicht lohnsteuerpflichtig gewe1 2 3 4 5

S. im Einzelnen Nacke, DStR 2005, 1299. BFH, Urt. v. 24.1.1975 – VI R 121/72, BStBl. II 1975, 420. Ebenso Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 5. Olbertz, DB 1998, 1787. BFH, Urt. v. 21.2.2003 – VI R 74/00, BStBl. II 2003, 496.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

sen. Der Gesetzgeber hat diese Lücke mit § 38 Abs. 3a EStG und der dazugehörenden Haftungsnorm in § 42d Abs. 1 Nr. 4 EStG geschlossen. c) Verschulden Die Haftung des Arbeitgebers ist nach h.M. vom Verschulden unabhängig.1 2.220 Gleichwohl ist es aber im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen. Der Ansicht, das Verschulden als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu beachten, ist m.E. nicht zu folgen, da der Wortlaut des § 42d EStG keine Anhaltspunkte dafür hergibt.2 d) Drittzahlung des Lohns und Lohnsteuerabzugspflicht Dritter Die Haftung greift auch bei Lohnzahlungen von Seiten Dritter. Es handelt sich 2.221 nämlich um eine Erfolgshaftung und nicht um eine Sanktion für Pflichtverletzungen.3 Jedoch muss der Lohnzufluss in der Herrschaftssphäre des Arbeitgebers erfolgen. Somit kommt eine Haftung nicht in Betracht, wenn der Arbeitnehmer z.B. freiwillige Trinkgelder, die nicht mehr nach § 3 Nr. 51 EStG als steuerfreie Trinkgelder gelten4, erhält. Denn maßgeblich ist, dass der Arbeitgeber in den Zahlungsvorgang eingeschaltet wird bzw. konkrete Kenntnis über die Höhe der Trinkgelder hat. Nur dann ist es ihm auch möglich, hierauf den Lohnsteuerabzug gem. § 38 Abs. 1 Satz 2 EStG vorzunehmen.5 Darüber hinaus muss der Arbeitnehmer den Vorteil aus den Trinkgeldern wirtschaftlich als unmittelbare „Entlohnung“ infolge seiner Dienstleistung für den Arbeitgeber betrachtet haben.6 Erbringt der Organträger Leistungen an die Arbeitnehmer einer Tochtergesellschaft, so darf auch er grundsätzlich nicht in Anspruch genommen werden.7 Eine besondere Regelung enthält § 42d Abs. 9 EStG. Übernimmt nach § 38 Abs. 3a EStG ein Dritter die Pflichten des Arbeitgebers, haftet er nach § 42d Abs. 9 Satz 1 EStG neben dem Arbeitgeber. Alle drei (Dritter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer) sind insoweit dann Gesamtschuldner (§ 42d Abs. 9 Satz 3 EStG). Ein Fall dieser Art ist z.B. die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft. Zu beachten ist, dass die im Verhältnis des Finanzamtes zum Dritten bestehenden Umstände ebenso für das Verhältnis zum Arbeitgeber gelten. So kann m.E. der Arbeitgeber nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Dritte die Lohnsteuer anstelle des Arbeitgebers nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat (§ 42d Abs. 3 Satz 4 EStG analog).8 Wenn also der 1 Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 58; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 54; offengelassen in BFH, Urt. v. 29.10.1993 – VI R 26/92, BStBl. II 1994, 197 (198); a.A. noch Schick, BB 1983, 1044 ff.; Drenseck in Schmidt, 30. Aufl. 2011, § 42d EStG Rz. 7. 2 Wagner in Blümich § 42d EStG Rz. 59 f. 3 Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 8. 4 Nacke in Kanzler/Kraft/Bäuml, § 3 Nr. 51 EStG Rz. 462; von Beckerath in Kirchhof, § 3 Nr. 51 EStG Rz. 133. 5 Olbertz, DB 1998, 1787 (1790). 6 Vgl. BFH, Urt. v. 2.4.1982 – VI R 34/79, BStBl. II 1982, 502; Olbertz, DB 1998, 1787 (1790). 7 BFH, Urt. v. 21.2.1986 – VI R 9/80, BStBl. II 1986, 768. 8 Ebenso Bergkemper, FR 2014, 770, 771. Er ist darüber hinaus der Ansicht, dass eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers grundsätzlich ermessenswidrig sei, da der Arbeitgeber

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

Dritte entsprechend einer Anrufungsauskunft den Lohnsteuerabzug vornimmt, so kann das Finanzamt nicht später unter Abweichung von dieser Auskunft den Arbeitgeber durch Haftungsbescheid in Anspruch nehmen.1 Auch der Arbeitgeber kann sich auf diese Auskunft berufen. Gleiches gilt für eine Lohnsteuernachforderung gegenüber dem Arbeitnehmer. Auch er kann sich auf die Anrufungsauskunft des Arbeitgebers berufen, so dass auch diese Lohnsteuernachforderung rechtswidrig wäre.2 2. Rechtsfolgen a) Haftungsumfang 2.222

Für die abzuführende Lohnsteuer haftet – so die Haftungsvorschrift des § 42d Abs. 1 EStG – der Arbeitgeber. Wegen der Akzessorietät der Haftung kommt es daher auf die konkret durch die Arbeitnehmer geschuldete Lohnsteuer an. Das Finanzamt kann deshalb grundsätzlich nicht mit einem durchschnittlichen Steuersatz oder nach Pauschalierungsgrundsätzen die geschuldete Lohnsteuer ermitteln. Auch bei einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern hat das Finanzamt trotz des damit verbundenen Arbeitsaufwandes grundsätzlich individuell die Höhe der Lohnsteuer zu ermitteln. Etwas anderes gilt nur dann, wenn entweder die Voraussetzungen des § 162 AO für eine Schätzung der Lohnsteuer vorliegen oder der Arbeitgeber mit der Berechnung der Haftungsschuld mit einem durchschnittlichen Steuersatz einverstanden ist.3

2.223

Der Arbeitgeber haftet für die Lohnsteuer. Fraglich ist, was darunter konkret zu verstehen ist. Insbesondere ist umstritten, ob sich die Haftung mit dem Entstehen der Einkommensteuerschuld weiterhin auf den Lohnsteueranspruch oder aber auf den Einkommensteueranspruch bezieht.4 M.E. ist der Ansicht zu folgen, die weiterhin an der Lohnsteuer anknüpft, denn ansonsten käme es zu einer „Schattenveranlagung“, die mit vielerlei Problemen konfrontiert wäre.5 Auch der Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte sprechen gegen eine Berücksichtigung der Einkommensteuer. Das Erheben der Einkommensteuer soll durch die Einschaltung des Arbeitgebers beim Lohnsteuerabzug erleichtert werden. Dem widerspräche es aber, wenn der Arbeitgeber bei der Sicherung seiner Pflichten durch den Haftungsbescheid persönliche Einwendungen seiner Arbeitnehmer vorbringen könnte.6

1 2 3 4

5 6

den Lohnsteuerabzug nicht selbst vornehmen darf und – anders als der Arbeitnehmer – auch nicht Schuldner der Lohnsteuer ist. BFH, Urt. v. 20.3.2014 – VI R 43/13, BStBl. II 2014, 592. BFH, Urt. v. 17.10.2013 – VI R 44/12, BStBl. II 2014, 892. BFH, Urt. v. 17.3.1994 – VI R 120/92, BStBl. II 1994, 536; FG Brandenburg, Urt. v. 26.6.1996 – 2 K 1162/94 H (L) (rkr.), EFG 1997, 78. Für die Grundlage Lohnsteuer: Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 28 ff. m.w. Nachw.; Wagner in Heuermann/Wagner, J Rz. 18; Thomas, DStR 1995, 273; für die Grundlage Einkommensteuer: FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 23.2.2017 – 4 K 4109/15, juris; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 2 m.w. Nachw. Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 36 m.w. Nachw. Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 37; s. auch Wagner in Heuermann/Wagner, J Rz. 18.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

b) Ermessen Die Inanspruchnahme des Arbeitgebers kann nicht generell erfolgen. Die Recht- 2.224 sprechung hat vielmehr seit langem klargestellt, dass die „Überbürdung“ der Lasten, die aus dem Lohnsteuerabzugsverfahren resultieren und wozu auch die Haftung für die Lohnsteuer gem. § 42d EStG gehört, nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie ermessensgerecht gem. § 5 AO ist. Der Haftungsbescheid steht daher im Ermessen der Finanzbehörde. Da hier Besonderheiten gelten, werden diese im Folgenden kurz erörtert. Ausführlich wird auf die Ermessensausübung bei Lohnsteuerhaftungsbescheiden im Kapitel „Verfahren und allgemeine Grundsätze des Haftungsrechts“ Rz. 8.1 ff. insbesondere Rz. 9.98 ff. eingegangen, da diese Erwägungen auch eine Rolle spielen bei einer Haftung nach §§ 34, 69 AO. Neben dem Arbeitgeber kommt auch der Arbeitnehmer als Schuldner der Lohn- 2.225 steuer in Betracht. Wird dieser in Anspruch genommen, so handelt es sich um eine gebundene Entscheidung.1 Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für seine Einwendungen. Er kann nicht damit gehört werden, dass der Arbeitgeber als der Haftende vorrangig heranzuziehen sei. Für das Entschließungsermessen, den Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen, gelten spezielle Grundlagen. Es ist zu unterscheiden, ob der Arbeitgeber die Lohnsteuer zwar einbehalten, aber nicht abgeführt oder ob er den Lohnsteueranteil an den Arbeitnehmer ausgezahlt hat. Im ersten Fall kann der Arbeitgeber im Regelfall zur Haftung herangezogen werden. Im zweiten Fall ist dagegen zu prüfen, ob nicht aus Treu und Glauben von einer Inanspruchnahme des Arbeitgebers abgesehen werden muss. Eine solche ist im Übrigen dann zu erwägen, wenn er grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat. Im Hinblick auf das Auswahlermessen gibt es keine Prärogative für eine Inanspruchnahme des Steuerschuldners, also des Arbeitnehmers. Es wird näher liegen, den Arbeitgeber in Haftung zu nehmen, denn hierfür setzt der Tatbestand kein Verschulden voraus. Im Übrigen wird wegen der Ermessensausübung auf das Kapitel „Verfahren und allgemeine Grundsätze des Haftungsrechts“ Rz. 8.1 ff. verwiesen. Ermessenskriterien, die für eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers sprechen: – Eine Inanspruchnahme der Arbeitnehmer wäre mit einem größeren Aufwand verbunden. BFH hat dies im Einzelfall bei 40 Arbeitnehmern angenommen (BFH, Urt. v. 24.1.1992 – VI R 177/88, BStBl. II 1992, 696). – Der Arbeitgeber hat die Lohnsteuer ordnungsgemäß schon einbehalten aber nicht abgeführt (arg. ex § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG). – Der Arbeitgeber hat sich mit einer Inanspruchnahme einverstanden erklärt (BFH, Urt. v. 21.6.1989 – VI R 31/86, BStBl. 1989, 909 [912]). – Der Arbeitgeber hat die zur Inanspruchnahme des Arbeitnehmers erforderlichen Mitwirkungshandlungen unterlassen (BFH, Urt. v. 7.12.1984 – VI R 164/79, BStBl. II 1985, 164 [169]). – Der Arbeitnehmer ist ins Ausland verzogen (BFH, Urt. v. 6.4.1977 – I R 252/74, BStBl. II 1977, 575). – Nachforderung beim Arbeitnehmer ist schwer oder gar nicht möglich (FG Sachs.-Anh. Urt. v. 4.5.2006 – 1 K 1938/03, juris). 1 Zuletzt BFH, Beschl. v. 11.7.2016 – VI B 14/16, BFH/NV 2016, 1540.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

– In Fällen der Vorprägung bei Straftaten (BFH, Urt. v. 12.2.2009 – VI R 40/07, BStBl. II 2009, 478 [480]; hierzu unten zur Haftung nach § 71 AO). Ermessenskriterien, die gegen eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers sprechen: – Die Steuer kann ebenso schnell bei den Arbeitnehmern eingezogen werden, weil z.B. weniger als acht Arbeitnehmer betroffen und deren Namen und Adressen bekannt sind (FG Köln, Urt. v. 7.6.1990 – 2 K 246/85, EFG 1990, 611). – Der Arbeitnehmer ist bereits aus dem Unternehmen ausgeschieden (BFH, Urt. v. 14.4.1967 – VI R 23/66, BStBl. III 1967, 469; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 60). – Die Arbeitnehmer haben gegenüber dem Arbeitgeber unvollständige oder unrichtige Angaben gemacht, so dass der Arbeitgeber zu wenig Lohnsteuer einbehalten hat. Der Arbeitgeber hat den Lohnsteuerabzug daher nicht bewusst oder leichtfertig versäumt (vgl. R 42d.1 Abs. 4 S. 2 LStR 2017). – Der Arbeitnehmer war für den Lohnsteuereinbehalt im Betrieb zuständig (z.B. als Geschäftsführer [FG Münster, Urt. v. 28.10.1975 – VIII 1477/72 L, EFG 1976, 309, rkr.], oder als Angestellter [BFH, Urt. v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. II 1982, 521]). 2.226

Problematisch ist die Handhabung der Verwaltung, in Lohnsteuer-Haftungsbescheiden einen automatisiert erstellten Textbaustein aufzunehmen, um die Ausübung des Ermessens zu dokumentieren. Abgesehen davon, dass die Erwägungen in diesem Textbaustein häufig nicht zutreffend sind, ist die Vorgehensweise bereits an sich bedenklich, da sie keine auf den Einzelfall bezogene Ermessensabwägung darstellen kann. Das Niedersächsische Finanzgericht hat insoweit erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit solcher Textbausteine erhoben.1 c) Entstehung, Bagatellgrenze und Haftungsausschluss

2.227

Der Haftungsanspruch entsteht, wenn die einzubehaltende Lohnsteuer am Fälligkeitstag nicht abgeführt wird. Auf den Erlass eines Haftungsbescheides kommt es damit nicht an.2 Zu beachten ist die Bagatellgrenze des § 42d Abs. 5 EStG. Maßgeblich ist nach h.M. ein Nachforderungsbetrag von insgesamt 10 Euro3, so dass die Bagatellgrenze nicht auf jeden einzelnen Arbeitnehmer zu beziehen ist. Bei Großbetrieben mit tausenden Arbeitnehmern wäre sonst die geringe Grenze schon beachtlich. In der Praxis wird die Bagatellgrenze daher für die Beanspruchung des Haftungsschuldners keine Bedeutung haben. Sie spielt aber dort eine Rolle, wo der einzelne Arbeitnehmer als Lohnsteuerschuldner in die Pflicht genommen wird. Liegt hier der Betrag unter 10 Euro, entfällt eine Haftung. Hat der in Haftung genommene Großbetrieb in diesem Fall die Haftungs-

1 Niedersächsisches FG v. 20.8.2009 – 11 K 121/08, EFG 2009, 1805. 2 BFH, Urt. v. 15.10.1996 – VII R 46, BStBl. II 1997, 171; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 10. 3 Wagner in Blümich, § 42d EStG Rz. 214; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 33.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

schuld beglichen, so hat er einen Ausgleichsanspruch gem. § 426 Abs. 2 BGB gegen seine Arbeitnehmer.1 In § 42d Abs. 2 EStG sind einige Fälle des Haftungsausschlusses aufgeführt. So 2.228 haftet der Arbeitgeber nicht, wenn beim Arbeitnehmer die Lohnsteuer wegen falscher Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte gem. § 39 Abs. 4 oder § 39a Abs. 5 EStG nachzufordern sind. Auch im Fall der Anzeige nach § 38 Abs. 4 Satz 2 EStG durch den Arbeitgeber entfällt die Haftung.2 Weiterhin ist der Haftungsausschluss gem. § 42d Abs. 2 EStG im Fall des § 41c Abs. 4 EStG zu beachten.3 Erkennt der Arbeitgeber, dass er die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig einbehalten hat und zeigt er dies dem Finanzamt unverzüglich (= ohne schuldhaftes Zögern s. § 121 BGB) an, so ist seine Haftung ausgeschlossen (s. § 42d Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 41c Abs. 4 und Abs. 1 EStG). Der Haftungsausschluss greift jedoch dann nicht, wenn der Arbeitgeber entgegen einer Anrufungsauskunft des Finanzamtes die Lohnsteuerberechnung durchführt und u.a. die Abwicklung und die Differenzbeträge dem Finanzamt bei den monatlichen Lohnsteueranmeldungen mitteilt.4 Der Haftungsausschluss greift nach zutreffender Auffassung auch dann, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer leichtfertig nicht oder nicht zutreffend einbehalten hat. 3. Verfahren a) Bestimmtheit eines Lohnsteuerhaftungsbescheides Besondere Bedeutung kann der Bestimmtheit des Haftungsbescheides zukom- 2.229 men. Da der Lohnsteuerhaftungsbescheid akzessorisch ist, ist er von dem Bestehen der Lohnsteuer der einzelnen Arbeitnehmer abhängig. Ähnlich wie bei der Ermittlung der Haftungsschuld stellt sich auch hier die Frage, ob die einzelnen Lohnsteuerforderungen gegen die Arbeitnehmer gesondert im Haftungsbescheid aufgenommen werden müssen. Der BFH vertritt die Ansicht, dass grundsätzlich wegen der Akzessorietät der Arbeitgeberhaftung im Haftungsbescheid die auf die einzelnen Arbeitnehmer entfallenden Steuerschulden, für die der Arbeitgeber in Haftung genommen wird, nach Jahren getrennt ausgewiesen werden müssen. In folgenden Fällen kann – so der BFH – hiervon abgewichen werden: – Eine Aufschlüsselung der Steuerschulden ist dem Finanzamt nicht möglich. 2.230 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Arbeitgeber die Namen der Arbeitnehmer dem Finanzamt vorenthält.5 Liegen die Voraussetzungen des § 162 AO für eine Schätzung der Lohnsteuer vor, so ist ebenfalls eine Aufschlüsselung nicht ausführbar.6 Im Schätzungsfall ist auch eine Berechnung der Haftungsschuld nach durchschnittlichen Steuersätzen möglich.7 1 2 3 4 5

Gl. A. Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 33. S. zur Frage der Haftung im Fall der unterlassenen Anzeige Rz. 2.14. Vgl. zum Haftungsausschluss Mösbauer, FR 1995, 173 (174 f.). BFH, Urt. v. 4.6.1993 – VI R 95/92, BStBl. II 1993, 687. BFH, Urt. v. 8.11.1985 – VI R 237/80, BStBl. II 1986, 274; Urt. v. 28.11.1990 – VI R 55/87, BFH/NV 1991, 600. 6 LStR Abschn. 145 Abs. 8. 7 BFH, Urt. v. 14.6.1985 – VI R 167/81, BFH/NV 1986, 303; Urt. v. 17.3.1994 – VI R 120/92, BStBl. II 1994, 536.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

– Der Arbeitgeber hat viele Arbeitnehmer beschäftigt, und die Nachforderungen sind meistens klein, weil im Wesentlichen gleichgelagerte Sachverhalte gegeben sind. – Es ist eine Nettolohnvereinbarung getroffen worden, oder der Arbeitgeber erklärt sich bereit, die Lohnsteuer zu übernehmen.1 Hier ist eine Aufteilung nicht erforderlich, weil dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit geboten werden muss, den Arbeitnehmer in Regress zu nehmen.2 – Der Arbeitgeber hat der Berechnung der Haftungsschuld mit einem durchschnittlichen Steuersatz zugestimmt.3 2.231

Enthält der Haftungsbescheid keine Aufgliederung des Haftungsbetrages auf die Anmeldungszeiträume, so kann deshalb noch nicht die Nichtigkeit des Haftungsbescheides angenommen werden.4 Die Ansicht des BFH, Ausnahmen vom Grundsatz der getrennten Aufführung des Haftungsbetrages nach Lohn- und Lohnkirchensteuer zu machen, wird vor allem von Loose kritisiert. Er hält die Aufteilung des Haftungsbetrages nach Arbeitnehmern für unabdingbar. Wegen der Bedeutung für die Klarstellungs-, Vollstreckungs- und Bestandskraftfunktion sei es erforderlich, dass der Haftungsbescheid nach Arbeitnehmern aufgeteilt sei. Erst dann sei er hinreichend bestimmt i.S.d. § 119 AO.5 M.E. ist dem zuzustimmen, soweit nicht der Arbeitgeber auf eine Aufteilung des Haftungsbetrages und damit auf Einwendungen verzichtet, die eine Aufteilung voraussetzen. Das von Loose gebildete Beispiel macht dies deutlich. Wendet sich der Arbeitgeber gegen den Haftungsanspruch für einen bestimmten Arbeitnehmer, so ist – im Fall eines undifferenzierten Haftungsbetrages – unklar, welcher Teil des Bescheides angegriffen und welcher Teil bestandskräftig wird.6 Überdies beachtet der BFH nicht, dass es für die Ausnahmen von der inhaltlichen Bestimmtheit an gesetzlichen Regelungen fehlt.7 Nach Ablauf des Veranlagungszeitraumes ist bei der Lohnsteuer eine Aufgliederung des Haftungsbetrages auf die einzelnen Voranmeldungszeiträume nicht erforderlich.8 Der Grund hierfür liegt darin, dass die auf den jeweiligen Monatslohn entfallenden Lohnsteuerbeträge eine Art Vorauszahlung auf die Jahreslohnsteuer, die der Arbeitgeber schuldet, darstellt.9 Im Übrigen gelten zur Aufteilung der Haftungssumme auf einzelne Besteuerungszeiträume die allgemeinen Ausführungen zur Bestimmtheit des Haftungsbescheides (s. Rz. 9.17 ff.). 1 BFH, Urt. v. 8.11.1985 – VI R 237/80, BStBl. II 1986, 274; vgl. auch BFH, Urt. v. 20.5.1980 – VI R 169/77, BStBl. II 1980, 669 = BFHE 130, 461 u. Urt. v. 7.12.1984 – VI R 164/79, BStBl. II 1985, 164 = BFHE 142, 483; a.A. FG Brandenburg, Beschl. v. 5.7.1996 – 3 V 365/96 H (rkr.), EFG 1997, 81, wonach stets das Aufteilungsgebot zu beachten ist; vgl. Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 46. 2 Vgl. Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 135. 3 BFH, Urt. v. 17.3.1994 – VI R 120/92, BStBl. II 1994, 536; LStR Abschn. 145 Abs. 8. 4 BFH, Urt. v. 22.11.1988 – VII R 173/85, BStBl. II 1989, 220; LStR Abschn. 145 Abs. 8. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 91. 6 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 91. 7 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 92. 8 BFH, Urt. v. 7.5.1985 – VII R 175/82, BFH/NV 1986, 313; Urt. v. 16.7.1992 – VII R 59/91, BFH/NV 1993, 146. 9 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 94 m.w. Nachw.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

b) Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Anfechtungsberechtigte Ist ein Haftungsbescheid gem. § 42d EStG erlassen worden, so kann neben dem 2.232 Arbeitgeber auch der Arbeitnehmer hiergegen Einspruch einlegen. Denn auch der Arbeitnehmer ist regelmäßig durch den Lohnsteuerhaftungsbescheid beschwert.1 Wurde der Haftungsbescheid dem Arbeitnehmer nicht bekannt gegeben, kann er gem. § 356 Abs. 2 Satz 1 AO noch binnen eines Jahres seit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes Einspruch einlegen.2 In einem Einspruchsverfahren, das allein vom Arbeitnehmer geführt wird, ist gem. § 360 AO der Arbeitgeber hinzuzuziehen.3

Û

Hinweis: Ist die Monatsfrist für einen Einspruch gegen einen Lohnsteuer- 2.233 haftungsbescheid, der nur an den Arbeitgeber adressiert ist, abgelaufen, so kann der betroffene Arbeitnehmer noch Einspruch einlegen.

Der Arbeitnehmer kann in dem Rechtsstreit wegen eines Haftungsbescheides 2.234 nach § 42d EStG nur Einwendungen geltend machen, wenn eine Beeinträchtigung seiner Rechtssphäre und nicht nur seiner Interessenssphäre vorliegt.4 Der Arbeitnehmer kann daher nicht Teile des Haftungsbescheides anfechten, die ihn nicht betreffen. Hierzu gehören nicht nur die Haftungsbeträge, die andere Arbeitnehmer betreffen, sondern auch die Ausübung des Auswahlermessens. Beispiel: Das Finanzamt ist auf Grund seiner Ermessensausübung zu dem Ergebnis gekommen, anstelle der Arbeitnehmer den Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen. Wendet sich der Arbeitnehmer hiergegen, so ist er durch dieses Auswahlermessen nicht beschwert und damit nicht in seiner Rechtssphäre beeinträchtigt, denn das Finanzamt hat mit der Ausübung seines Auswahlermessens gerade zum Ausdruck gebracht, nicht den Arbeitnehmer, sondern den Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen.5

2.235

c) Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO Ist aufgrund einer Lohnsteueraußenprüfung der Vorbehalt der Nachprüfung auf- 2.236 gehoben worden, so kann nach einer weiteren Prüfung – z.B. einer allgemeinen Betriebsprüfung – ein Haftungsbescheid gem. § 42d EStG nicht mehr ohne weiteres ergehen. Seinem Erlass steht § 173 Abs. 2 Satz 1 AO entgegen.6 Gleiches gilt 1 BFH, Urt. v. 29.6.1973 – IV R 311/69, BStBl. II 1973, 780 = BFHE 109, 502; FG Münster, Urt. v. 26.2.1997 – 8 K 5883/94 L (rkr.), EFG 1997, 783; Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.8.2009 – 11 K 533/07, EFG 2010, 2051; FG Münster, Urt. v. 21.9.2016 – 7 K 990/12, juris, Rev. eingelegt Az. BFH VI R 37/16; H 42d.1 LStH 2017 „Rechtsbehelf gegen den Haftungsbescheid“; vgl. auch Meyer, DStJG 40 (2017), 213 f. 2 FG Münster, Urt. v. 26.2.1997 – 8 K 5883/94 L (rkr.), EFG 1997, 783. 3 H 42d.1 LStH 2017 „Rechtsbehelf gegen den Haftungsbescheid“. 4 BFH, Urt. v. 29.6.1973 – IV R 311/69, BStBl. II 1973, 780; Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.8.2009 – 11 K 533/07, EFG 2010, 2051. 5 Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.8.2009 – 11 K 533/07, EFG 2010, 2051. 6 BFH, Urt. v. 15.5.1992 – VI R 106/88, BStBl. II 1993, 840 = BFHE 168, 532; Urt. v. 15.5.1992 – VI R 183/88, BStBl. II 1993, 829 = BFHE 168, 505; H 42d.1 LStH 2017 „Haftungsverfahren“; Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO Rz. 95; BMF-Schreiben v. 8.11.1993, BStBl. II 1993, 922; a.A. noch BFH, Urt. v. 21.6.1989 – VI R 31/86, BStBl. II 1989, 909, wonach wegen der Sachverhaltsbezogenheit ein erneuter Haftungsbescheid stets für möglich gehalten wurde.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

auch für den Fall, dass das Finanzamt dem Arbeitgeber nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO mitteilt, die Lohnsteueraußenprüfung habe nicht zu einer Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt (s. § 173 Abs. 2 Satz 2 AO).1 Es steht § 173 Abs. 2 Satz 1 AO auch dann entgegen, wenn nach einer Lohnsteueraußenprüfung bereits ein Lohnsteuerhaftungsbescheid erlassen wurde und später für den gleichen Zeitraum neue Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 AO bekannt werden.2 d) Verhältnis der Lohnsteuerhaftung zur Pauschalierung der Lohnsteuer aa) Falsche verfahrensrechtliche Behandlung 2.237

Wird im Anschluss an eine Außenprüfung pauschale Lohnsteuer fälschlicherweise mittels Haftungsbescheid geltend gemacht, so kann mit der Aufhebung des Haftungsbescheides die Unanfechtbarkeit i.S.d. § 171 Abs. 4 Satz 1 AO und damit das Ende der Ablaufhemmung für die Festsetzungsfrist eintreten.3 Der Eintritt der Festsetzungsverjährung kann nur verhindert werden, wenn vor Aufhebung des falschen Haftungsbescheides der erforderliche Nachforderungsbescheid erlassen worden ist.4 bb) Wahlrecht des Arbeitgebers (1) Haftung oder Pauschalierung

2.238

Der Arbeitgeber steht häufig vor der Wahl, ob er einen Haftungsbescheid über die nachzufordernde Lohnsteuer hinnehmen will oder eine Pauschalierung der Lohnsteuer möchte. Sie spielt quasi stets eine Rolle nach der Durchführung einer Lohnsteuer-Außenprüfung. Erzielt der Lohnsteuerprüfer ein Mehrergebnis, so wird die Lohnsteuer entweder im Wege einer Lohnsteuernachforderung (oder auch Lohnsteuerpauschalierungsbescheid) oder durch einen Haftungsbescheid geltend gemacht. Das Verhältnis Pauschalierung zur Haftung ist an einigen wichtigen Stellen in der Rechtsprechung noch ungeklärt. Vor allem beim Wechsel von Pauschalierung zur Haftung oder von der Haftung zur Pauschalierung sind Fragen, die im Zusammenhang mit der Beantragung/Anmeldung der pauschalierten Lohnsteuer bzw. dem Widerruf dieser Erklärungen stehen, noch ungeklärt. (2) Wechsel von Pauschalierung zur Haftung

2.239

Widerruft der Arbeitgeber seine früher getroffene Entscheidung zur pauschalierten Besteuerung, stellt sich die Frage, ob dies rechtlich möglich ist. Dies wird von der Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich gesehen. Deshalb sollte der Berater an diese Haftungsfolge bei Widerruf denken und prüfen, ob überhaupt ein Widerruf wirksam erfolgt ist. Der Meinungsstand zum Widerruf eines ausgeübten Pauschalierungswahlrechts ist im folgenden Schaubild dargestellt. 1 BFH, Urt. v. 31.8.1990 – VI R 78/86, BStBl. II 1991, 537. 2 BMF-Schreiben v. 8.11.1993, BStBl. I 1993, 922. 3 BFH, Urt. v. 6.5.1994 – VI R 47/93, BStBl. II 1994, 715; H 42d.1 LStH 2017 „Haftungsverfahren“. 4 H 42d.1 LStH 2017 „Haftungsverfahren“.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

Widerruf einer Pauschalierung Kein Widerruf mçglich Zu § 37b EStG z.B. BMF v. 19.5.2015, BStBl. I 2015, 468; Gesetzesbegrndung BTDrucks. 16/2712, 55; Graw in Kirchhof/Sçhn/Mellinghoff, § 37b EStG Rz. B 64; Eisgruber in Kirchhof, § 37b EStG Rz. 27 Widerruf bis zur Wirksamkeit des Pauschalierungsbescheides Zu § 40 EStG BFH, Urt. v. 5.3.1993 – VI R 79/91, BStBl. II 1993, 692 Widerruf bis zur formellen/materiellen Bestandskraft – Zu § 40 EStG BFH, Urt. v. 5.11.1982 – VI R 219/80, BStBl. II 1983, 91; offen gelassen BFH, Urt. v. 21.9.1990 – VI R 97/86, BStBl. II 1991, 262 – jedenfalls nicht mehr im Revisionsverfahren – Zu § 37b EStG BFH, Urt. v. 15.6.2016 – VI R 54/15, BStBl. II 2016, 1010 bis zur formellen/materiellen Bestandskraft Folgt man der neuen Rechtsprechung des BFH, so ist also bis zur formellen/materiellen Bestandskraft die Pauschalierung widerrufbar. Vor allem bei Festsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung kann daher wegen fehlender materieller Bestandskraft ein Widerruf der Pauschalierung erfolgen. Die absolute Grenze stellt aber die Festsetzungsverjährung dar.1 Zu beachten ist jedoch auch, dass der Widerruf bei antragslosen Wahlrechten (z.B. § 37b u. § 40 Abs. 2 EStG) durch eine entsprechende Lohnsteuer-Anmeldung (s. bei Pauschalierung von Sachzuwendungen § 37b Abs. 4 EStG) erfolgt.2 Es reicht also nicht ein einfaches Widerrufsschreiben. (3) Wechsel von der Haftung zur Pauschalierung Der umgekehrte Fall eines Wechsels von der Haftung zur Pauschalierung zeigt sich in folgendem vom BFH entschiedenen Fall3: Der Arbeitgeber A schloss mit einem Verkehrsverbund eine Vereinbarung über die Ausgabe von Job-Tickets an seine Arbeitnehmer. Er entrichtete im Streitjahr für 5547 Arbeitnehmer einen monatlichen Grundbetrag i.H.v. durchschnittlich 6,35 t je Arbeitnehmer. Dadurch erhielt jeder Mitarbeiter das Recht, ein sog. Jobticket als ermäßigte Jahreskarte zu erwerben. A unterwarf die Grundbeträge an den Verkehrsverbund nicht dem LSt-Abzug. Das FA beurteilte nach einer Außenprüfung den geleisteten Grundbetrag für ein Kalenderjahr (12 × 6,35 t = 73,62 t) als steuerbaren geldwerten Vorteil je Arbeitnehmer, der nicht monatlich, sondern sofort und in vollem Umfang zugeflossen sei, denn es handele sich bei den erworbenen Jobtickets ausnahmslos um Jahreskarten. Die Lohnsteuer hierauf berechnete es mit durchschnittlich 30,1 %. Das FA nahm den A mit Haftungsbescheid in Anspruch. A beantragt im Revisionsverfahren eine nachträgliche

1 BFH, Urt. v. 15.6.2016 – VI R 54/15, BStBl. II 2016, 1010. 2 BFH, Urt. v. 15.6.2016 – VI R 54/15, BStBl. II 2016, 1010. 3 BFH, Urt. v. 24.9.2015 – VI R 69/14, BStBl. II 2016, 176.

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2.240

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

Pauschalierung der Besteuerungsgrundlagen nach § 40 Abs. 2 Satz 2 EStG (15 %). Der BFH weist in seiner Entscheidung zunächst darauf hin, dass das Pauschalierungsbegehren schon deshalb keinen Erfolg hat, weil es nicht durch Antragstellung geschehen kann. Für eine Pauschalierung nach § 40 Abs. 2 Satz 2 EStG sieht das Gesetz keinen Antrag vor. Die Pauschalierung erfolgt durch Anmeldung. Der Arbeitgeber hätte eine Lohnsteueranmeldung pauschaler Lohnsteuer einreichen müssen. Zu beachten ist aber, dass bei einer Pauschalierung nach § 40 Abs. 1 EStG ein Antrag und eine nachträgliche Genehmigung oder vorherige Einwilligung erforderlich ist. 2.241

Hätte der Kläger im Entscheidungsfall die pauschale Lohnsteuer angemeldet, wäre aber weiterhin fraglich gewesen, ob und bis wann noch ein Pauschalierungsantrag gestellt bzw. ein Pauschalierungswahlrecht ausgeübt kann. Dies ist in Rechtsprechung und Literatur ebenfalls ungeklärt, wie folgende Übersicht verdeutlicht. Begrenzung der Ausübung des Pauschalierungswahlrechts durch Haftungsbescheid Pauschalierungswahlrecht kann noch im Klageverfahren (nicht mehr im Revisionsverfahren) gegen den Haftungsbescheid geltend gemacht werden (BFH, Urt. v. 25.5.1984 – VI R 223/80, BStBl. II 1984, 569; Urt. v. 16.3.1990 – VI R 88/86, BFH/ NV 1990, 639). Pauschalierungswahlrecht kann nur bis zum Erlass des Einspruchsbescheides gegen den Haftungsbescheid geltend gemacht werden (zur Kritik s. BFH, Urt. v. 24.9.2015 – VI R 69/14, BStBl. II 2016, 176; Geserich, jurisPR-SteuerR 4/2016, Anm. 4; Schneider, BFH/PR 2016, 30). Hier ist die Ansicht problematisch, wonach die Ausübung des Pauschalierungswahlrechts nur bis zum Ende des Einspruchsverfahrens möglich sein soll. Geserich meint, es sei eine Ausübung des Pauschalierungswahlrechts im Klageverfahren deshalb nicht möglich, weil der Ermessensverwaltungsakt Haftungsbescheid durch das FG nur in Form der Einspruchsentscheidung überprüft werde. Es sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblich. Daher sei wie bei späteren Zahlungen auf die Haftungsschuld auch hier kein Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides durch diese Wahlrechtsausübung im Klageverfahren möglich.1 Dem ist an sich m.E. zuzustimmen; jedoch ist m.E. fraglich, warum im Klageverfahren nicht noch ein Pauschalierungswahlrecht ausgeübt werden kann. Die Rechtsfolge einer wirksamen Ausübung würde in der Tat an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides nichts mehr ändern. Jedoch würde dies nur dazu führen, dass wegen der Akzessorietät der Haftungsschuld der Haftungsbescheid ins Leere geht, denn die zugrundeliegende Lohnsteuerschuld ist durch Ausübung des Pauschalierungswahlrechts erloschen. Durch Ausübung des Pauschalierungswahlrechts wird der Arbeitgeber selber Steuerschuldner. Der Haftungsbescheid wäre dann nach § 131 Abs. 1 AO zu widerrufen. 1 Geserich, jurisPR-SteuerR 4/2016, Anm. 4.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

II. Haftung bei Arbeitnehmerüberlassung (§ 42d Abs. 6 EStG) Schrifttum: Stahl, Entleiherhaftung für Lohnsteuer, KÖSDI 1986, 6227; Mösbauer, Zur Haftung des Entleihers von Arbeitnehmern für deren Lohnsteuer, FR 1996, 281; Bruschke, Die Haftung des Entleihers bei Arbeitnehmerüberlassung, StB 2014, 389.

2.242

Verwaltungsanweisungen: Amtliches Lohnsteuer-Handbuch 2017

Nach § 42d Abs. 6 EStG haftet der Entleiher für die Lohnsteuer des Arbeitgebers. 2.243 Mit diesem Haftungstatbestand, der seit 1986 gilt, sollte eine Regelungslücke im Gesetz geschlossen werden, die insoweit bestand, als bei unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung der Entleiher für die Lohnsteuer nicht herangezogen werden konnte. Die Regelung war erforderlich, da der BFH der Ansicht war, steuerrechtlich bestehe entgegen § 10 Abs. 1 AÜG auch in den Fällen der unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung kein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und den Arbeitnehmern, so dass der Entleiher nicht nach § 42d Abs. 1 EStG haftete.1 War der Verleiher, der die Arbeitnehmer dem Entleiher überließ und steuerrechtlich Arbeitgeber war, im Ausland, konnte er allein schon wegen des Auslandssachverhalts häufig nicht in Haftung genommen werden. Der inländische Entleiher konnte nicht haftbar gemacht werden, weil er kein Arbeitgeber war. Nach der seit 1986 vorliegenden Haftungsgrundlage kann der Entleiher auch zur Haftung herangezogen werden. Folgende Graphik verdeutlicht die Rechtsbeziehungen: 2.244

1. Haftungsvoraussetzungen Wegen der Akzessorietät setzt die Haftung eine Schuld des Verleihers voraus. 2.245 Dies kann eine Haftungsschuld sein (z.B. nach § 42d Abs. 1 EStG) oder eine Steuerschuld des Verleihers (Fälle der Lohnsteuerpauschalierung).

1 BFH, Urt. v. 2.4.1982 – VI R 34/79, BStBl. II 1982, 502.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.246

Weiterhin war bis VZ 2012 nach § 42d Abs. 6 EStG Voraussetzung, dass eine gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung vorlag.1 Gewerbsmäßig ist die Überlassung, wenn sie nicht nur gelegentlich erfolgt, sondern auf gewisse Dauer angelegt ist und eine auf die Erzielung wirtschaftlicher Vorteile ausgerichtete selbständige Tätigkeit darstellt. Mit der Neuregelung des § 42d Abs. 6 Satz 1 EStG durch das Amthilferichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 26.6.20132 ab VZ 2013 wurde der Anwendungsbereich erweitert. Sie beruhte auf der Erweiterung des AÜG durch das Gesetz zur Änderung des AÜG v. 28.4.20113. Der Anwendungsbereich der Leiharbeitsrichtlinie wurde erweitert und erfasst natürliche und juristische Personen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht. Daher stellt § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG nunmehr darauf ab, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt wird. Auf die Gewerbsmäßigkeit der Arbeitnehmerüberlassung im Sinne des Gewerberechts kommt es für die Erlaubnispflicht der Arbeitnehmerüberlassung nicht mehr an. Aus Gründen der Gleichbehandlung soll der erweiterte Verleiherkreis in die steuerlichen Regelungen einbezogen werden.4

2.247

Weiterhin muss eine Überlassung der Arbeitnehmer vorliegen. Kein Überlassen liegt vor, wenn der Personaleinsatz der Erfüllung eines Werkvertrages des Entleihers dient, die Arbeitnehmer in Wirklichkeit also Subunternehmer sind. Bei der Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag kommt es im Einzelfall auf den Geschäftsinhalt an, nicht auf die gewünschte Rechtsfolge oder eine bloße Bezeichnung des Vertrages. Es kommt somit auf die tatsächliche Durchführung des Vertrages an.5 Die Beantwortung dieser Frage richtet sich danach, ob die Mitarbeiter in den Betrieb des Entleihers eingegliedert sind und bei der Ausführung ihrer Arbeitsleistung seinen Weisungen unterstehen. Ob dies der Fall war, ist – für jeden einzelnen Mitarbeiter – unter Abwägung sämtlicher für und gegen das Vorliegen von Dienstverhältnissen i.S.d. § 19 Abs. 1 EStG sprechenden Kriterien nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Folgende Kriterien, die für ein Dienstverhältnis i.S.d. § 19 Abs. 1 EStG sprechen, können herangezogen werden6:

2.248

– Eingliederung der eingesetzten Kräfte in die Betriebsorganisation des Entleihers, ähnlich wie dessen Stammarbeitskräfte; – Berechtigung des Entleihers, bestimmte Qualifikationen der eingesetzten Kräfte zu verlangen und bestimmte Mitarbeiter zurückzuweisen; – Weisungsgebundenheit der eingesetzten Kräfte gegenüber dem Entleiher; – Vergütung der Leistungen nach Zeiteinheiten; – besondere Vergütung für geleistete Überstunden;

1 Statt gewerbsmäßiger soll in Zukunft nur noch eine wirtschaftliche Tätigkeit erforderlich sein, s. § 42d Abs. 6 Satz 1 EStG-E (Referentenentwurf zum JStG 2013). 2 BGBl. I 2013, 1809. 3 BGBl. I 2011, 642. 4 BR-Drucks. 139/13, 132. 5 BFH, Urt. v. 18.1.1991 – VI R 122/87, BStBl. II 1991, 409. 6 BFH, Urt. v. 18.1.1991 – VI R 122/87, BStBl. II 1991, 409 (412); s. auch R 42d.2 LStH 2012.

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B. Haftung des Arbeitgebers fr Lohnsteuer und Haftung bei Arbeitnehmerberlassung

– Haftung des Verleihers gegenüber dem Entleiher für ein etwaiges Verschulden bei der Auswahl der eingesetzten Kräfte, d.h. dafür, dass die Kräfte für die vorgesehenen Aufgaben tauglich und geeignet sind; – Pflicht des Entleihers, die vereinbarte Vergütung unabhängig von dem Ergebnis der von den eingesetzten Kräften erbrachten Leistungen zu entrichten. Dementsprechend kann für Arbeitnehmerüberlassung und gegen die Annahme von Werkverträgen sprechen, dass die Haftung für mangelhafte (Werk-)Leistungen ganz oder weitgehend ausgeschlossen wurde. Im Rahmen des Werk- oder Dienstvertrages haftet der Unternehmer für das Verschulden seiner Arbeitnehmer (= Erfüllungsgehilfen); bei der Arbeitnehmerüberlassung findet diese Bestimmung hingegen keine Anwendung. Zu beachten ist dabei, dass es dem Wesen der Arbeitnehmerüberlassung ent- 2.249 spricht, dass die überlassenen Arbeitnehmer in den Betrieb des Entleihers und nicht des Verleihers eingegliedert sind.1 Der Entleiher wird dadurch jedoch nicht zum Arbeitgeber. Eine Haftung des Entleihers entfällt nach § 42d Abs. 6 Satz 2 EStG, wenn eine 2.250 erlaubte Arbeitnehmerüberlassung vorliegt. Kumulativ setzt der Haftungsausschluss voraus, dass der Überlassung eine Erlaubnis nach § 1 AÜG zugrunde liegt und der Entleiher einen Nachweis über die Einhaltung der Meldepflichten nach §§ 28a ff SGB IV vorlegen kann. Ebenso entfällt eine Haftung nach § 42d Abs. 6 Satz 3 EStG, wenn der Entleiher über das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung ohne Verschulden irrte. Schließt der Entleiher Werkverträge mit den „Arbeitnehmern“, so hat er die geringsten Zweifel zu vertreten. Unterlässt der Entleiher z.B. eine gebotene Erkundigung beim Finanzamt oder Arbeitsamt, so handelt er schuldhaft. 2. Rechtsfolgen Der Entleiher haftet nur für die Lohnsteuer, die auf die Zeit der Überlassung der 2.251 Arbeitnehmer entfällt. Lässt sich die Lohnsteuer nicht mehr genau bestimmen, sieht § 42d Abs. 6 Satz 7 einen Durchschnittssteuersatz von 15 v.H. vor. Der Entleiher kann aber eine niedrigere Steuer glaubhaft machen. Voraussetzung für den Erlass eines Haftungsbescheides ist, dass die Vollstre- 2.252 ckung in das inländische Vermögen des Arbeitgebers fehlgeschlagen ist oder keinen Erfolg verspricht oder ein Fall des § 219 Satz 2 AO vorliegt (§ 42d Abs. 5 Satz 6 EStG). Entleiher, Arbeitnehmer und Verleiher sind Gesamtschuldner (§ 42d Abs. 6 2.253 Satz 5, 6 EStG). Es handelt sich bei dem Haftungsbescheid um eine Ermessensentscheidung, so dass auch hinsichtlich des Auswahlermessens, insbesondere im Hinblick auf eine Inanspruchnahme des Verleihers und der Arbeitnehmer im Haftungsbescheid, spätestens jedoch in der Einspruchsentscheidung Stellung genommen werden muss. 1 BFH, Urt. v. 20.4.1988 – X R 40/81, BStBl. II 1988, 804 (808); Urt. v. 18.1.1991 – VI R 122/87, BStBl. II 1991, 409 (412).

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.254

§ 42d Abs. 7 EStG sieht eine Umkehrung der Rollen und damit auch der Haftung vor. Ist der Entleiher als Arbeitgeber anzusehen, haftet der Verleiher nach § 42d Abs. 6 EStG als Entleiher. Dieser Fall der Haftung des Entleihers als Arbeitgeber kommt nur in Betracht, wenn neben der Weisungsgebundenheit der Arbeitnehmer gegenüber dem Entleiher, der Unterordnung der Arbeitnehmer unter die Leitung des Entleihers, dieser auch die Löhne im eigenen Namen und auf eigene Rechnung (unmittelbar) auszahlt (= lohnsteuerrechtlicher Arbeitgeberbegriff).1

2.255

Ob der Haftungsschuldner als Entleiher (Arbeitnehmer wurden ihm überlassen) nach § 42d Abs. 6 EStG oder als Arbeitgeber nach § 42d Abs. 1 EStG in Anspruch genommen wird, ist für die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides entscheidend. Ein Austausch der Haftungsgrundlage z.B. im Klageverfahren aufgrund der Beweisaufnahme ist rechtsfehlerfrei nicht möglich.2 Übersicht zur Haftung des Arbeitgebers gem. § 42d Abs. 1 EStG

2.256

I. Haftungsschuldner/Gesamtschuldner Arbeitnehmer als Steuerschuldner und Arbeitgeber als Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner gem. § 42d Abs. 3 EStG i.V.m. § 44 AO. II. Haftungstatbestnde 1. § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG: „Einzubehalten“ bedeutet, es wird fr die Lohnsteuer gehaftet, die der Arbeitgeber aufgrund gesetzlicher Verpflichtung an das Finanzamt abfhren muss. Dazu gehçrt nicht die zuviel (gesetzwidrig) einbehaltene Lohnsteuer oder die aufgrund einer falschen Auskunft oder Zusage des Finanzamtes einbehaltene Lohnsteuer. 2. § 42d Abs. 1 Nr. 2 EStG: zu Unrecht erstattete Lohnsteuer beim Lohnsteuerjahresausgleich. 3. § 42d Abs. 1 Nr. 3 EStG: Verkrzung der Einkommensteuer (Lohnsteuer) aufgrund falscher Angaben im Lohnkonto oder in der Lohnsteuerbescheinigung. Die Verkrzung muss tatbestandlich feststehen. 4. § 42d Abs. 1 Nr. 4 EStG: Haftung des Dritten, der anstelle des Arbeitgebers Lçhne zahlt. III. Verschulden (str.; nach h.M. nicht erforderlich), jedoch zumindest im Rahmen des Ermessens zu prfen. IV. Haftungsausschluss gem. § 42d Abs. 2 Nr. 1 3. Fall EStG (wichtigster Fall) Voraussetzung: Kenntnis von falschem Lohnsteuerabzug u. unverzgliche Anzeige beim Finanzamt. V. Ermessensentscheidung Das Finanzamt darf den Arbeitgeber nur nach rechtmßiger Ausbung des Entschließungsermessens und Auswahlermessens in Anspruch nehmen. 1 BFH, Urt. v. 23.3.1999 – I R 64/98, BStBl. II 2000, 41; Urt. v. 19.2.2004 – VI R 122/00, BStBl. II 2004, 620. 2 FG Düsseldorf, Urt. v. 14.3.2001 – 17 K 2973/97 H (L), EFG 2001, 754 u. s. Rz. 10.11.

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C. Haftung der Gesellschafter

VI. Haftungsumfang Nur die individuell vom Arbeitnehmer geschuldete Lohnsteuer kann gefordert werden. Grundstzlich daher keine Berechnung nach durchschnittlichen Steuerstzen. VII. Verfahren Im Rahmen der Bestimmtheit ist zu beachten, dass die Steuerschulden grundstzlich im Haftungsbescheid nach Arbeitnehmern aufgeschlsselt sein mssen. Auch Arbeitnehmer kçnnen gegen den Haftungsbescheid Einspruch einlegen.

C. Haftung der Gesellschafter Schrifttum: Priester, Mantelverwendung und Mantelgründung bei der GmbH, DB 1983, 2291; Stork, Haftungsbeschränkung bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, NWB Fach 18, 3269; Preißer, Steuerliches Haftungsvakuum bei der BGB-Gesellschaft, NJW 1986, 3188; Wiedemann, Begrenzte Nachhaftung ehemaliger BGB-Gesellschafter analog § 159 HGB, DB 1989, 1809; Paulus, Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Steuerschuldner am Beispiel des § 5 GewStG, DStR 1994, 544; Dißars, Die gesellschaftsrechtliche Haftung der Gesellschafter für steuerliche Verbindlichkeiten von Personen- und Kapitalgesellschaft, DStR 1995, 1510; Timm, Die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und ihre Haftungsverfassung, NJW 1995, 3209; v. Rechenberg, Die Haftung in der Gründungsphase der GmbH, INF 1996, 756; Goette, Die GmbH nach der BGH-Rechtsprechung. Zivilrechtliche Grundlagen steuerlicher Beratung, München 1997; Gummert, Die Haftungsverfassung der Vor-GmbH nach der jüngsten Rechtsprechung des BGH, DStR 1997, 1007; Mösbauer, Die Haftung des BGB-Gesellschafters für die Steuerschulden der Gesellschaft, DStZ 1997, 813; Flume, Die Rechtsprechung zur Haftung der Gesellschafter der Vor-GmbH und die Problematik der Rechtsfortbildung, DB 1998, 45; Nacke, Steuerrechtliche Haftung der Gesellschafter einer Personengesellschaft, NWB Fach 2, 7023; Bärwaldt/ Schabacker, Keine Angst vor Mantel- und Vorratsgesellschaften, GmbHR 1998, 1005; Haack, Durchgriff und Eigenhaftung bei der GmbH, NWB Fach 18, 3355; Haack, Das neue Nachhaftungsbegrenzungsgesetz, NWB Fach 18, 3325; Haack, Haftungsfragen bei der GmbH-Gründung, NWB Fach 18, 3523; Stork, Haftungsbeschränkung bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, NWB Fach 18, 3269; Harenberg, Haftung der GbR-Gesellschafter für Steuerschulden der Gesellschaft, NWB Fach 2, 5491; Ulmer, Die höchstrichterlich „enträtselte“ Gesellschaft bürgerlichen Rechts, ZIP 2001, 585; Altmeppen, Gesellschafterhaftung und „Konzernhaftung“ bei der GmbH, NJW 2001, 3212; K. Schmidt, Gesellschafterhaftung und „Konzernhaftung“ bei der GmbH, NJW 2001, 3577; Lange, Haftung des eintretenden GbR-Gesellschafters für Alt-Schulden, NJW 2002, 2002; Haunhorst, Die Haftung der Gesellschafter für Steuerschulden der Gesellschaft bürgerlichen Rechts – Neue Haftung für alte Schulden?, DStZ 2003, 751; Ulmer, die Haftungsverfassung der BGB-Gesellschaft, ZIP 2003, 1114; K. Schmidt, Die Gesellschafterhaftung bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als gesetzliches Schuldverhältnis, NJW 2003, 1897; Buchta, Die Haftung des Vorstandes einer Aktiengesellschaft; aktuelle Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung, DStR 2003, 694; Hofmeister, Beginn der Enthaftung des ausscheidenden Personengesellschafters nach § 160 Abs. 1 S. 2 HGB, NJW 2003, 93; Arnold/Dötsch, Persönliche Haftung für Altschulden beim Eintritt in eine GbR, DStR 2003, 1398; Benecke, Existenzvernichtender Eingriff statt qualifiziert faktischer Konzern: Die neue Rechtsprechung des BGH zur Haftung von GmbH-Gesellschaftern, BB 2003, 1190; Altmeppen, Verfassungswidrigkeit der akzessorischen Haftung der GbR?, NJW 2004, 1563; Haack, Durchgriff und Eigenhaftung bei der GmbH, NWB Fach 18, 4207; Klein, Haftung der BGB-Gesellschafter für Steuerschulden der Gesellschaft, DStR 2009, 1963; Wiesner, Haftung ausgeschiedener OHG-Gesellschafter für öffentlich-rechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten, in FS Hell-

89

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung wig, 2010, S. 413; Schüppen, Straf- und zivilrechtliche Haftung des Vorstands bei steuerlichem Fehlverhalten im Konzern und Haftung des Aufsichtsrats für (Steuer-)Straftaten des Vorstands, in JbFfSt 2014/2015, 177; Schreiber, Die Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe im Zivil- und Ertragsteuerrecht, Der Konzern 2014, 435.

2.257

Im Folgenden wird die steuerrechtliche Haftung der Gesellschafter behandelt, wobei die Haftung getrennt nach den verschiedenen Gesellschaftsformen untersucht wird. Außer Acht bleiben neben der Partnerschaftsgesellschaft1 die Partenreederei, die Europäische Gesellschaft2 und die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung. Die Haftung der Geschäftsführer, die ja auch Gesellschafter sein können, wurde schon gesondert behandelt (s. Rz. 2.2 ff.).

I. BGB-Gesellschaft 2.258

Zunächst wird die Haftung der Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft oder Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) genauer betrachtet. Mit ihr zu beginnen ist deshalb sinnvoll, weil sie der Grundtypus der anderen Gesellschaften ist, soweit es sich um Personengesellschaften handelt.3 Die anderen Personengesellschaften sind Weiterentwicklungen der GbR. So findet z.B. ihr Recht (§§ 705–740 BGB) subsidiär Anwendung auf die Handelsgesellschaften.4 Die Rolle der GbR ist in der Praxis nicht zu unterschätzen. Die freien Berufe – vor allem Rechtsanwälte u. Ärzte –, Grundstücksgemeinschaften, Interessengemeinschaften und Arbeitsgemeinschaften in der Bauwirtschaft bestehen häufig als GbR. Infolgedessen spielt auch die Haftung für die Steuern und steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 3 AO) der GbR eine wichtige Rolle. Im Folgenden wird die Haftung der GbR insoweit behandelt, als es sich um eine Außengesellschaft handelt. Die Innengesellschaft ist demgegenüber nur ein Zusammenschluss der Gesellschafter, der auf Innenbeziehungen gerichtet ist. 1. Haftung nach bürgerlichem Recht

2.259

Ausgangspunkt der Haftung ist die zivilrechtliche Haftung der Gesellschafter. Erst aus ihrem Verständnis heraus ist auch die steuerrechtliche Haftung der Gesellschafter nachvollziehbar. Die zivilrechtliche Haftung der GbR-Gesellschafter war aber bis zur Entscheidung des BGH im Jahr 20015 dogmatisch umstritten. Die Änderung der Rechtsprechung des BGH beendete einen seit Jahrzehnten andauernden Grundlagenstreit. Der bisherige Meinungsstreit lässt sich im Wesentlichen an Hand von drei Theorien darstellen. Zunächst lässt sich hier die in der Literatur vertretene Einheitstheorie nennen.6 Nach dieser Auffassung schuldet eine Leistung nur die Gesamthandsgemeinschaft. Die Gesellschafter der GbR 1 Zur Haftung der Gesellschafter einer Partnerschaftsgesellschaft vgl. Nacke, NWB Fach 2, 7023. 2 Zur Haftung im Gründungsstadium vgl. Schäfer, NZG 2004, 785. 3 Roth in Baumbach/Hopt, Einl. Vor § 105 HGB Rz. 14. 4 Roth in Baumbach/Hopt, Einl. Vor § 105 HGB Rz. 14. 5 BGH, Urt. v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, DStR 2001, 310. 6 Flume, S. 60 ff.

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C. Haftung der Gesellschafter

haften für diese Schulden nur, wenn nach BGB oder HGB eine Einstandspflicht besteht. Nach einer zweiten von der älteren Rechtsprechung1 und Teilen der Literatur2 vertretenen Ansicht ist eine aus gemeinsamer Tatbestandsverwirklichung herrührende primäre Haftung der Gesellschafter und des Gesamthandsvermögens maßgeblich. Insbesondere nach der sog. Doppelverpflichtungstheorie steht neben der Schuld der Gesamthandsgemeinschaft eine Verpflichtung der Gesamthänder, die aus ihrem Handeln namens der Gesellschaft schuldrechtlich begründet wurde. Deshalb hafte auch der Gesamthänder unmittelbar und primär, so dass gem. §§ 714, 421, 427, 431 BGB eine gesamtschuldnerische Haftung der Gesellschafter bestehe. Nach der dritten Ansicht3, die auch vom BGH4 vertreten wird, ist der BGB-Gesellschaft eine Teilrechtsfähigkeit zuzubilligen, so dass die Haftung der Gesellschafter entsprechend § 128 HGB besteht. Bei der zivilrechtlichen Haftung der Gesellschafter ist aber zu beachten, dass 2.260 eine Haftungsbeschränkung greifen kann, wenn bei einem Vertrag mit einem Dritten diese vereinbart wurde, so dass nur eine Gesamthandsschuld besteht.5 Ansonsten verbietet § 128 Satz 2 HGB eine weitergehende Haftungsbeschränkung. Eine Beschränkung kommt insbesondere nicht in Betracht, wenn im Briefkopf der GbR eine solche Einschränkung aufgenommen wurde. Z.B. ist die Haftung nicht beschränkt, wenn eine Rechtsanwaltssozietät sich als „GbR mit beschränkter Haftung“ bezeichnet.6 Eine gesetzlich durch § 128 HGB normierte Haftung kann nicht einseitig durch einen solchen Zusatz ausgeschlossen werden.7 2. Haftung nach Steuerrecht Entsprechend dem Meinungsstreit zur Haftung im Zivilrecht, war auch im Steu- 2.261 errecht die dogmatische Begründung der Haftung der Gesellschafter einer BGBGesellschaft umstritten.8 Mit dem Meinungswechsel des BGH im Zivilrecht folgt nun aber auch das Steuerrecht der Ansicht, dass sich eine Haftung der Gesellschafter für Steuerschulden der BGB-Gesellschaft aus § 128 HGB analog er1 BGH, Urt. v. 30.4.1979 – II ZR 137/78, BGHZ 74, 240 (241) = NJW 1979, 1821; Urt. v. 15.12.1980 – II ZR 52/80, BGHZ 79, 374 (377) = NJW 1981, 1213; OLG Hamm, Urt. v. 7.12.1984 – 20 U 151/84, NJW 1985, 1846. 2 Z.B. Geck, DStR 1988, 93; Stirnberg, DB 1990, 1634. 3 OLG Hamm, Urt. v. 19.5.1989 – 11 U 158/88, BB 1989, 1218 f. = NJW-RR 1990, 615; Paulus, DStR 1994, 544 (546); K. Schmidt, § 60 III 2, der die analoge Anwendung auf unternehmenstragende Gesellschaften beschränkt; K. Schmidt, NJW 1997, 2201 (2205); Timm, NJW 1995, 3209 (3216); vgl. Gummert in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts 1, § 18 Rz. 25 ff. 4 BGH, Urt. v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, DStR 2001, 310; Urt. v. 22.1.2004 – IX ZR 65/01, DStR 2004, 609. 5 Sprau in Palandt, § 714 BGB Rz. 18. 6 BGH, Urt. v. 25.6.1992 – I ZR 120/90, NJW 1992, 3037; Urt. v. 27.9.1999 – II ZR 371/98, DStR 1999, 1704; vgl. auch LG München I, Urt. v. 14.5.1998 – 17 HKO 2282/98, DB 1998, 1322; OLG Jena, Urt. v. 28.4.1998 – 3 U 580/97, ZIP 1998, 1797; OLG München, Beschl. v. 27.8.1998 – 29 W 2437/98, DB 1998, 2012; vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 24.9.1998 – 3 Z BR 58/98, DB 1998, 2319 u. Stork, NWB Fach 18, 3269. 7 BGH, Urt. v. 27.9.1999 – II ZR 371/98, NJW 1999, 3483. 8 S. zum Meinungsstand 1. Aufl. Rz. 123 ff.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

gibt.1 Der BFH lässt zwar in einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 den Meinungsstreit noch offen2; jedoch hat er nun entschieden, dass er der Ansicht des BGH folgt. Die Haftung der Gesellschafter einer GbR ergibt sich auch nach Auffassung des BFH entsprechend § 128 HGB.3 Die früher auch im Steuerrecht insbesondere vertretene Doppelverpflichtungstheorie, nach der auch für Steuerschulden nur dann eine Haftung der Gesellschafter in Betracht kam, wenn sich eine durch gemeinsame Tatbestandsverwirklichung ergebende Verpflichtung der einzelnen Gesellschafter feststellen ließ, dürfte somit obsolet sein. 2.262

Bezogen auf die Steuerschulden der BGB-Gesellschaft folgt daraus, dass die Gesellschafter stets mit ihrem Privatvermögen hierfür haften. Dies gilt unabhängig davon, um welche steuerliche Verbindlichkeit es sich handelt. So haften die Gesellschafter z.B. für die Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Grunderwerbsteuer, Lohnsteuer und die steuerlichen Nebenleistungen4 (§ 3 Abs. 3 AO). BFH stellt nunmehr klar, dass außer der Gesellschafterstellung keine weiteren Voraussetzungen für die Haftung nach § 191 AO i.V.m. § 128 HGB erforderlich sind.5

2.263

Eine Haftung kann aber nach § 93 InsO entfallen. Die Sperrwirkung des § 93 InsO erstreckt sich nur auf die Haftung der Gesellschafter nach § 128 HGB.6 3. Haftungsbeschränkung

2.264

Ein anderes Problem ist die Frage nach der Haftungsbeschränkung im Steuerrecht. Folgt man dem Paradigmenwechsel des BGH auch auf der Ebene des Steuerrechts, so ergibt sich aus § 128 Satz 2 HGB, dass eine Beschränkung durch bloße Vereinbarung der Gesellschafter untereinander nicht in Betracht kommt. Eine Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen kann allenfalls durch entsprechende Individualvereinbarung zwischen dem Gesellschafter bzw. der Gesellschaft und dem Gläubiger, also dem Fiskus, erreicht werden. Eine Freistellungsvereinbarung wegen Haftungsansprüchen zwischen Gesellschaftern ist im Verhältnis zum Finanzamt unbeachtlich.7Ansonsten bleibt es bei der umfassenden Haftung, die über das Gesellschaftsvermögen hinausgeht.8

1 Z.B. BFH, Urt. v. 28.10.2008 – VII R 32/07, BFH/NV 2009, 355; Beschl. v. 4.5.2011 – VII B 236/10, BFH/NV 2011, 1473; FG Saarland, Gerichtsbescheid v. 17.7.2001 – 2 K 314/97, n.v.; FG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 19.1.2004 – 4 V 819/03, EFG 2004, 669; Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 45; Blesinger in Kühn/v. Wedelstädt, § 69 AO Rz. 7; Intemann in Koenig, § 191 AO Rz. 30; Haunhorst, DStZ 2003, 752. 2 BFH, Beschl. v. 7.10.2004 – VII B 46/04, n.v. 3 BFH, Beschl. v. 28.1.2005 – III B 91/04, BFH/NV 2005, 1141; Urt. v. 9.5.2006 – VII R 50/05, BStBl. II 2007, 600. 4 So gehören dazu auch Säumniszuschläge, s. BFH, Beschl. v. 4.5.2011 – VII B 236/10, BFH/NV 2011, 1473. 5 BFH, Beschl. v. 4.5.2011 – VII B 236/10, BFH/NV 2011, 1473. 6 BFH, Beschl. v. 15.11.2012 – VII B 105/12, BFH/NV 2013, 587; s. aber Rz. 2.23f. 7 Vgl. BFH, Beschl. v. 11.12.2007 – VII B 346/06, BFH/NV 2008, 733. 8 BFH, Urt. v. 27.3.1990 – VII R 26/89, BStBl. II 1990, 939.

92

C. Haftung der Gesellschafter

4. Rechtsscheinshaftung und Haftungsausschluss Wenn eine Gesellschaft gar nicht bestanden hat, so folgt daraus nicht auto- 2.265 matisch ein Haftungsausschluss. Ist sie als GbR aufgetreten, so haften die Gesellschafter nach Rechtsscheinsgrundsätzen für die Steuerschulden der Scheingesellschaft.1 Ferner kommt es – wie allgemein im Haftungsrecht – nicht darauf an, dass die Steuer vor Erlass des Haftungsbescheides festgesetzt worden ist. Der Akzessorietät ist auch hier Genüge getan, wenn bei Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ein Steueranspruch bestand.2 a) Haftung des ausgeschiedenen Gesellschafters Tritt ein Gesellschafter aus der BGB-Gesellschaft aus, so haftet dieser Gesell- 2.266 schafter nur noch für die bis zum Austritt begründeten Steuerschulden. Diese Haftung bleibt auch gem. §§ 159, 160 HGB nach dem Austritt bestehen. Nach § 160 Abs. 1 HGB setzt die Haftung aber voraus, dass die Steuerschuld vor Ablauf von fünf Jahren fällig wird. b) Haftung des eintretenden Gesellschafters Folgt man der Doppelverpflichtungslehre, so ergibt sich der Haftungsausschluss 2.267 für den eintretenden Gesellschafter daraus, dass nur für die Schulden gehaftet wird, die aus der gemeinsamen Tatbestandsverwirklichung als haftungsauslösendes Element herrühren. Daraus folgt, dass derjenige, der in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts eintritt, nicht für deren vorher begründete Verbindlichkeiten haftet.3 Eine Haftung des Gesellschafters für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten kommt danach nur in Betracht, wenn das Rechtsgeschäft auch im Namen und zu Lasten des in Anspruch genommenen Gesellschafters abgeschlossen wurde (Doppelverpflichtungstheorie). Die auf demselben Rechtsgedanken beruhende Haftung des Gesellschafters für kraft Gesetzes entstehende Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erfordert dementsprechend dessen Mitwirkung an der (vertraglichen oder tatsächlichen) Gestaltung, die den Steuertatbestand ausgelöst hat. War der Gesellschafter an rechtsgeschäftlichem Handeln der Gesellschaft, das steuerliche Folgen nach sich zieht, beteiligt, haftet er auch der Finanzbehörde gegenüber für die sich hieraus ergebende Steuerschuld.4 Im Ergebnis kam nach dieser Auffassung nur eine Haftung für Steuerschulden in Betracht, die nach dem Eintritt in die Gesellschaft begründet wurden. Der BGH hat in einer neueren Entscheidung hinsichtlich der Haftung der Neugesellschafter seine Rechtsprechungsänderung (Aufgabe der Doppelverpflich1 BFH, Urt. v. 4.3.1986 – VII R 133/80, BFH/NV 1986, 646; Urt. v. 19.1.1988 – VII R 161/84, BFH/NV 1988, 615; Urt. v. 9.5.2006 – VII R 50/05, BFH/NV 2006, 1898; s. aber auch Rz. 3.119. 2 FG Brandenburg, Urt. v. 14.5.1998 – 5 K 1514/96 H, AO, EFG 1998, 1180. 3 Vgl. BGH, Urt. v. 30.4.1979 – II ZR 137/78, BGHZ 74, 240 = NJW 1979, 1821; BFH, Urt. v. 21.6.1995 – II R 7/91, BStBl. II 1995, 817 (Leitsatz) = DB 1995, 1795 = BFH/NV 1996, 71 (72). 4 BFH, Urt. v. 21.6.1995 – II R 7/91, BStBl. II 1995, 817 (Leitsatz) = DB 1995, 1795 = BFH/ NV 1996, 71 (72).

93

2.268

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

tungslehre) weiterentwickelt.1 Folgt man der Ansicht des BGH auch im steuerlichen Haftungsrecht, so führt dies dazu, dass der eintretende Gesellschafter auch für die Steuerschulden der BGB-Gesellschaft, die vor seinem Eintritt entstanden sind, grundsätzlich haftet.2 Die Haftung der Neugesellschafter für die Altschulden resultiert nicht notwendigerweise aus dem Akzessorietätsprinzip, sondern aus dem Wesen der Personengesellschaft und damit zusammenhängend aus dem Verkehrsschutzinteresse der Gläubiger. Die Haftung sei auch nicht unangemessen, denn schließlich erwerbe der Neugesellschafter mit seiner Aufnahme in die Gesellschaft einen Anteil u.a. am Vermögen und der Marktstellung, die die Gesellschaft durch ihre bisherige wirtschaftliche Tätigkeit begründet habe. Da der BGH auch insoweit seine Rechtsprechung im Jahr 2003 geändert hat, kommt für ihn aufgrund des Vertrauensschutzes grundsätzlich nur eine Haftung für Altschulden in Beitrittsfällen nach der Veröffentlichung des Urteils vom 7.4.2003 in Betracht, es sei denn, der Neugesellschafter kannte die Altverbindlichkeiten zum Beitrittszeitpunkt.3 In der steuerlichen Literatur folgt man dieser neuen Leitlinie des BGH im Prinzip4, so dass eine Haftung für Steuerschulden, die vor dem Beitritt begründet worden sind, dann bejaht wird, wenn der Beitritt nach Bekanntwerden der Entscheidung des BGH erfolgte. Dem ist zuzustimmen. Die Teilrechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft mit der Folge der Haftung nach § 128 HGB führt konsequenterweise auch zu einer Haftung des neu eintretenden Gesellschafters für die Altschulden. Der Vertrauensschutz gebietet aber eine Haftung für Altschulden nur für Beitritte nach Bekanntwerden der BGH-Entscheidung im Jahr 2003, es sei denn, der Neugesellschafter kannte die Altschulden. Ein Neugesellschafter kann ab diesem Zeitpunkt nicht mehr auf die bisherige Rechtslage vertrauen. 2.269

Die Haftung des Neugesellschafters für die Altschulden ist jedoch nur dann zu bejahen, wenn es sich um Altschulden der Gesellschaft handelt. Schließt sich jemand mit einem Einzelunternehmer zu einer BGB-Gesellschaft zusammen, so haftet er nicht für die Steuerschulden des Einzelunternehmers.5 c) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gesellschafterstellung

2.270

Ob jemand Gesellschafter ist oder nicht, richtet sich danach, ob er Unternehmerinitiative entfalten kann und Unternehmerrisiko trägt.6 Dies ergibt sich aus den Rechtsgrundsätzen zu § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG.

2.271

Mitunternehmerrisiko bedeutet gesellschaftsrechtliche (oder eine dieser wirtschaftlich vergleichbare) Teilnahme am Erfolg oder Misserfolg eines gewerblichen Unternehmens. Dieses Risiko wird im Regelfall durch Beteiligung am Gewinn und Verlust sowie an den stillen Reserven des Anlagevermögens einschließlich eines Geschäftswerts vermittelt. Ein solches Risiko wird beispiels1 BGH, Urt. v. 7.4.2003 – II ZR 56/02, BB 2003, 1081; vgl. auch K. Schmidt, NJW 2003, 1897 ff. 2 Ebenso Rüsken in Klein, § 69 AO Rz. 166. 3 BGH, Urt. v. 12.12.2005 – II ZR 283/03, BB 2006, 118. 4 Haunhorst, DStZ 2003, 753; Neu, EFG 2002, 66. 5 BGH, Urt. v. 22.1.2004 – IX ZR 65/01, BB 2004, 794. 6 BFH, Urt. v. 28.10.2008 – VII R 32/07, BFH/NV 2009, 355.

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C. Haftung der Gesellschafter

weise von einem Kommanditisten getragen, indem er einerseits am laufenden Gewinn, im Falle seines Ausscheidens und der Liquidation auch an den stillen Reserven (§§ 168, 161 Abs. 2 i.V.m. § 155 HGB, §§ 738 ff. BGB), andererseits nach Maßgabe des § 167 Abs. 3 HGB am Verlust beteiligt ist. Mitunternehmerinitiative bedeutet vor allem Teilnahme an unternehmerischen 2.272 Entscheidungen, wie sie z.B. Gesellschaftern oder diesen vergleichbaren Personen als Geschäftsführern, Prokuristen oder anderen leitenden Angestellten obliegen. Ausreichend ist indes schon die Möglichkeit zur Ausübung von Gesellschafterrechten, die wenigstens den Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechten angenähert sind, die einem Kommanditisten nach dem HGB zustehen oder die den gesellschaftsrechtlichen Kontrollrechten nach § 716 Abs. 1 BGB entsprechen. d) Nachhaftung Der ausgeschiedene Gesellschafter haftet zeitlich begrenzt. Mit dem Nachhaf- 2.273 tungsbegrenzungsgesetz vom 18. März 1994 wurde die Nachhaftung jedoch neu geregelt.1 Gem. § 736 Abs. 2 BGB i.V.m. § 160 HGB ist die Haftung des ausscheidenden Gesellschafters auf einen Zeitraum von fünf Jahren, innerhalb dessen der Anspruch fällig ist und auch grundsätzlich gerichtlich geltend gemacht sein muss, beschränkt. Auf eine gerichtliche Geltendmachung ist zu verzichten, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Verbindlichkeit handelt. Hier genügt der Erlass eines Verwaltungsaktes. Wurden die Steuerschulden somit durch Haftungsbescheid gegen ihn innerhalb dieser Frist geltend gemacht, so haftet der ausgeschiedene Gesellschafter hierfür. 5. Verjährung Ob die Ansprüche gegen die BGB-Gesellschafter einer verkürzten Verjährung un- 2.274 terliegen, ist in der Literatur umstritten. Nach überwiegender Meinung und der Ansicht des BGH geht man von einer fünfjährigen Verjährung analog § 159 Abs. 1 HGB aus.2 Dem ist der BFH gefolgt.3 Über § 191 Abs. 4 AO kann § 159 HGB analog auch für Haftungsfälle im Steuerrecht angewandt werden. Die Verjährungsfrist des § 159 Abs. 1 HGB beginnt bei der BGB-Gesellschaft 2.275 nicht wie bei einer OHG gem. § 159 Abs. 2 HGB mit Eintragung der Auflösung ins Handelsregister, sondern sobald der Gläubiger Kenntnis von der Auflösung der Gesellschaft oder vom Ausscheiden eines Gesellschafters erlangt hat.4 Im Fall der steuerlichen Haftung ist auf den Zeitpunkt der Kenntnis des Finanz-

1 BGBl. I 1994, 560. 2 BGH, Urt. v. 10.2.1992 – II ZR 54/91, NJW 1992, 1615 (1616); Wiedemann/Frey, DB 1989, 1809 (1815); Dißars, DStZ 1996, 37 (40); Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 46. 3 BFH, Urt. v. 26.8.1997 – VII R 63/97, BStBl. II 1997, 745 = BFH/NV 1998, 242; offengelassen BFH, Urt. v. 23.3.1998 – II R 7/95, BFH/NV 1998, 1329 (1330); s. auch FG SachsenAnhalt v. 21.6.2007 – 3 K 1528/05, juris. 4 BGH, Urt. v. 10.2.1992 – II ZR 54/91, NJW 1992, 1615 (1618); BFH, Urt. v. 26.8.1997 – VII R 63/97, BStBl. II 1997, 745, 747.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

amts abzustellen.1 Dabei dürfte – neben der aktenkundigen Kenntnis – die positive Kenntnis des zuständigen Sachbearbeiters, seines Sachgebietsleiters oder des Vorstehers maßgeblich sein.2 Hier gelten die gleichen Kriterien wie bei der Kenntnisnahme i.S.v. § 173 Abs. 1 AO. 2.276

Der Neubeginn der Verjährung und ihre Hemmung nach § 204 BGB gegenüber der aufgelösten Gesellschaft wirken nach § 159 Abs. 4 HGB auch gegenüber den Gesellschaftern, die der Gesellschaft zur Zeit der Auflösung angehört haben. Fraglich ist, ob eine Aussetzung der Vollziehung der Steuerschulden der BGB-Gesellschaft diese Wirkung erzielt. Nach der Formulierung vor der Schuldrechtsreform erfasste der Wortlaut des § 159 Abs. 4 HGB auch den Fall der Unterbrechung der Verjährung. Nach § 231 AO wird die Verjährung durch Aussetzung der Vollziehung unterbrochen. Da insoweit die steuerrechtlichen Verjährungsvorschriften gelten3, war somit mit der Aussetzung der Vollziehung der Steuerbescheide gegen die BGB-Gesellschaft auch die Verjährung der Haftungsansprüche gegen den Gesellschafter unterbrochen.4 Dies dürfte nach dem eindeutigen Wortlaut des § 159 Abs. 4 HGB nicht mehr gelten.5 Die Aussetzung der Vollziehung wird vom Wortlaut dieser neuen Vorschrift nicht erfasst, so dass eine Verjährung der Haftungsansprüche droht.

2.277

Beispiel: Die BGB-Gesellschaft wird im Jahr 2014 aufgelöst. Das Finanzamt erfährt noch im gleichen Jahr von der Auflösung der Gesellschaft. Die Steuerschulden der Gesellschaft wurden im Jahr 2016 von der Vollziehung ausgesetzt. Erst im Jahr 2021 erlässt das Finanzamt einen Haftungsbescheid gegen die Gesellschafter. Hier wird die Verjährung der Steuerschulden gem. § 231 AO unterbrochen. Diese Unterbrechung wirkt aber nicht gem. § 159 Abs. 4 HGB gegenüber den Gesellschaftern, so dass die Haftungsansprüche gem. § 159 Abs. 1 HGB analog verjährt sind.

II. Offene Handelsgesellschaft 2.278

Die Haftung der Gesellschafter einer OHG ist im Gegensatz zur GbR im HGB speziell geregelt. Nach § 128 Satz 1 HGB haften die Gesellschafter persönlich für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wozu auch die Steuerschulden gehören.6 Nach § 191 Abs. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Damit können die Gesell1 BFH, Urt. v. 26.8.1997 – VII R 63/97, BStBl. II 1997, 745. 2 BFH, Beschl. v. 16.1.2002 – VIII B 96/01, BFH/NV 2002, 621, 622 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 26.8.1997 – VII R 63/97, BStBl. II 1997, 745, 748; FG München, Urt. v. 29.11.2000 – 4 K 2739/97, n.v. 4 Nach der Rechtsprechung des BFH und der Ansicht der Literatur kommt es dabei nicht darauf an, ob die Aussetzung der Vollziehung vor oder nach der Auflösung der BGB-Gesellschaft erfolgte (BFH, Beschl. v. 21.4.1999 – VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440). Im Fall der Aussetzung der Vollziehung nach der Auflösung muss jedoch die Aussetzung der Vollziehung vor dem Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist erfolgt sein, um die Unterbrechung nach § 159 Abs. 4 HGB a.F. zu erreichen (BFH, Beschl. v. 21.4.1999 – VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440). 5 K. Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 4. Aufl., München 2016, § 159 HGB Rz. 33; K. Schmidt/Schneider, BB 2003, 1969. 6 BFH, Urt. v. 24.2.1987 – VII R 4/84; BStBl. II 1987, 363 = BFHE 149, 125; Urt. v. 10.11.1994 – V R 45/93, BStBl. II 1995, 395.

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C. Haftung der Gesellschafter

schafter der OHG für die Steuerschulden der OHG mittels Haftungsbescheides in Anspruch genommen werden.1 Die Gesellschafter können bei Haftungsinanspruchnahme durch das Finanzamt 2.279 die Einwendungen aus § 129 HGB geltend machen, also Einwendungen der Gesellschaft (z.B. Erfüllung, Erlass, Verjährung) selbst erheben.2 Eine Haftungsbeschränkung kommt nicht in Betracht. Eine Vereinbarung der 2.280 Haftungsbeschränkung der Gesellschafter untereinander ist gem. § 128 Satz 2 HGB Dritten gegenüber unwirksam. Auf einen guten Glauben des Gläubigers kommt es nicht an, so dass sie selbst bei positiver Kenntnis des Gläubigers von der abweichenden Vereinbarung haften.3 Natürlich steht einer Vereinbarung im Hinblick auf eine Haftungsbeschränkung mit dem Gläubiger nichts entgegen.4 Die Haftung für die Steuerschulden der OHG bleibt auch bestehen, wenn der 2.281 Gesellschafter aus der OHG ausgeschieden ist. Jedoch ist auch hier auf die Regelung des § 160 HGB hinzuweisen. Zur Haftungsbeschränkung nach § 160 HGB vgl. die Ausführungen zur BGB-Gesellschaft Rz. 2.273. Die Haftung für Steuerschulden der OHG entfällt aber, wenn diese nach dem Ausscheiden entstehen. Dabei ist die Eintragung des Ausscheidens in das Handelsregister unerheblich, weil die Finanzbehörde sich nicht auf § 15 HGB stützen kann. Nach Abs. 1 der Vorschrift soll sich ein Dritter bei seinem geschäftlichen Verhalten auf das Handelsregister – hier Nichteintrag des Ausscheidens des Gesellschafters – verlassen können. Damit soll der Schutz im Geschäftsverkehr gewährleistet sein. Nicht geschützt sind dagegen Ansprüche aus Vorgängen ohne Zusammenhang mit dem Geschäftsverkehr. Nach § 38 AO entstehen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Da die Steueransprüche und damit auch die Haftungsansprüche gegen den Gesellschafter ohne Mitwirkung des Finanzamtes erwachsen, ist ein Zusammenhang zwischen der Entstehung der Steuerschuld und dem Geschäftsverkehr ausgeschlossen.5 Die Haftung aus § 128 HGB erstreckt sich wie bei der BGB-Gesellschaft auf 2.282 sämtliche auf Zahlung gerichteten Verbindlichkeiten der OHG ohne Rücksicht auf den Rechtsgrund ihrer Entstehung, so dass neben den Steuerschulden auch steuerliche Nebenleistungen zu dem Haftungsverband gehören.6 Der Haftungsanspruch gegen die Gesellschafter verjährt gem. § 159 HGB nach 2.283 fünf Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt mit der Auflösung der OHG oder mit dem Ausscheiden des Gesellschafters. Maßgeblich ist gem. § 159 Abs. 2 HGB die Eintragung in das Handelsregister. Diese Verjährungsfrist ist auch bei In1 BFH, Urt. v. 6.3.1985 – I R 119/82, BStBl. II 1985, 541 = BFHE 143, 444; Urt. v. 28.10.2008 – VII R 32/07, BFH/NV 2009, 355. 2 Halaczinsky, Rz. 538; s. auch BFH, Beschl. v. 21.4.1999 – VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440. 3 Roth in Baumbach/Hopt, § 128 HGB Rz. 37. 4 S. die verschiedenen Möglichkeiten bei Roth in Baumbach/Hopt, § 128 HGB Rz. 38. 5 BFH, Urt. v. 13.4.1978 – V R 94/74, BStBl. II 1978, 490 (491); Hopt in Baumbach/Hopt, § 15 HGB Rz. 8; a.A. FG München, Urt. v. 23.5.1958 – I 87/58, EFG 1959, 28. 6 BFH, Urt. v. 24.2.1987 – VII R 4/84, BStBl. II 1987, 363.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

anspruchnahme durch einen Haftungsbescheid gem. § 191 Abs. 4 AO zu berücksichtigen. Zur Bedeutung von § 159 Abs. 4 HGB für die Haftung des Gesellschafters s. Rz. 2.275. 2.284

Wird die Gesellschaft aufgelöst, bleibt gleichwohl die Haftung der Gesellschafter bestehen. Eine Auflösung der Gesellschaft – sei es z.B. durch Beschluss der Gesellschafter oder aufgrund einer Insolvenzeröffnung (s. § 131 HGB) – hat nur zur Folge, dass eine Liquidationsgesellschaft vorliegt. Gem. §§ 156, 128 HGB haften die Gesellschafter in dieser Situation weiterhin.1 Somit ist unerheblich, ob die Firma bei der zuständigen Gemeinde abgemeldet und die werbende Tätigkeit eingestellt worden ist.2

III. Kommanditgesellschaft Schrifttum: Geissler, Haftung und Haftungsrisiken der Kommanditisten in der GmbH & Co. KG, GmbHR 2014, 458.

2.285

Für die Haftung der KG-Gesellschafter gilt grundsätzlich das zu der Haftung bei einer OHG Gesagte gleichermaßen. Bei der KG ist aber zwischen dem Komplementär und dem Kommanditisten zu unterscheiden.

2.286

Für die Komplementäre ergibt sich die persönliche Haftung mit dem gesamten Vermögen für Schulden der Gesellschaft aus §§ 161 Abs. 2, 128 HGB.3 Diese Haftung erstreckt sich auf alle Verbindlichkeiten, die von der Gesellschaft begründet wurden, also auch auf die Betriebssteuern.4 Scheidet ein Komplementär aus, so ändert dies nichts an der Haftung der anderen persönlich haftenden Gesellschafter. Handelt es sich um eine GmbH & Co KG, so haftet der Geschäftsführer der GmbH nach §§ 34, 69 AO beschränkt, während die vorausgehende Haftung der Komplementär-GmbH noch unbeschränkt ist.5 Im Rahmen des Ermessens ist eine Abwägung zwischen der Haftung der GmbH und des Geschäftsführers vorzunehmen.6

2.287

Der Kommanditist haftet den Gläubigern nur bis zur Höhe seiner nicht gezahlten Einlage.7 Die Haftung ist aber ausgeschlossen, wenn der Kommanditist seine Einlage geleistet hat (§ 171 Abs. 1 HGB). Rechnet der Kommanditist die Einlageverbindlichkeit mit einer eigenen Forderung gegen die KG – die wegen der wirtschaftlichen Lage der KG nicht vollwertig ist – auf, entfällt jedoch die Haftung für Steuerschulden nur insoweit, wie seine Forderung objektiv werthaltig

1 2 3 4 5 6

Roth in Baumbach/Hopt, § 156 HGB Rz. 4. Niedersächsisches FG, Urt. v. 9.10.1997 – XI 204/93, n.v. BFH, Urt. v. 13.12.1994 – VII R 54/94, BFH/NV 1995, 850. BFH, Urt. v. 24.2.1987 – VII R 4/84, BStBl. II 1987, 363 zur OHG. FG Nürnberg, Urt. v. 27.6.2002 – II 379/99, juris. Vgl. BFH, Urt. v. 9.7.1985 – VII R 127/80, BFH/NV 1986, 129; FG Nürnberg, Urt. v. 12.6.2007 – II 144/2004, juris. 7 BFH, Beschl. v. 11.2.2004 – VII B 224/03, BFH/NV 2004, 1060; Beschl. v. 12.12.2012 – XI B 70/11, BFH/NV 2013, 705.

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C. Haftung der Gesellschafter

ist.1 Die Haftung des Kommanditisten lebt wieder auf, wenn ihm die Einlage zurückgezahlt wird (§ 172 Abs. 4 Satz 1 HGB). Es ist dabei zu beachten, dass als Rückzahlung jede Zuwendung aus dem Gesellschaftsvermögen zu verstehen ist, mit der diesem Vermögenswerte in Höhe der geleisteten Einlage ohne Erbringung einer gleichwertigen Gegenleistung entzogen werden, womit die Fähigkeit der Gesellschaft vermindert wird, die Gläubiger zu befriedigen.2 Nach § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB kommt es der Rückzahlung gleich, wenn Gewinnanteile entnommen werden, während der Kapitalanteil durch Verlust oder durch Entnahme unter den Betrag der geleisteten Einlage herabgemindert wird. Mit dieser Regelung soll erreicht werden, dass der durch Verlust geminderte Kapitalanteil des Kommanditisten zunächst wieder aufgefüllt wird.3 Weiterhin haftet der Kommanditist beschränkt nach § 173 Abs. 1 HGB auch für die Verbindlichkeiten, die bereits vor seinem Eintritt begründet waren. Die Haftung ist aber unbeschränkt, wenn bei Gründung einer KG die Verbind- 2.288 lichkeiten vor Eintragung der Stellung als Kommanditist entstanden sind und der Kommanditist dem Geschäftsbetrieb zugestimmt hat. Dieses gilt jedoch dann nicht, wenn dem Gläubiger die Stellung als Kommanditist bekannt war (§ 176 Abs. 1 Satz 1 HGB). Nach h.M. gilt das Gleiche, wenn der Kommanditist in eine bestehende KG eintritt. Zwischen Eintritt und Eintragung haftet der Kommanditist ebenfalls unbeschränkt für die in diesem Zeitraum begründeten Verbindlichkeiten.4 Die Eintragung in das Handelsregister hat dabei konstitutive Wirkung. Dem steht nicht § 176 Abs. 1 Satz 1 2. HS. HGB entgegen, da dieses Recht nur eine Einrede des Kommanditisten bewirkt.5 Der Anspruch aus § 176 Abs. 1 HGB verjährt entsprechend § 160 HGB nach fünf Jahren.6 Über § 191 Abs. 4 AO findet diese Vorschrift auch im steuerlichen Haftungsrecht Anwendung.

Û

Hinweis: Die Haftung für Verbindlichkeiten zwischen Eintritt als Komman- 2.289 ditist in eine KG und Eintragung in das Handelsregister kann durch eine aufschiebend bedingte Übertragung des Geschäftsanteils bis zur Eintragung vermieden werden.7

Scheidet der Kommanditist aus, so haftet er für alle Verbindlichkeiten der KG, 2.290 die vorher entstanden sind, d.h. deren Rechtsgrundlage bereits vor diesem Zeitpunkt gelegt worden ist.8 Jedoch ist eine zeitliche Beschränkung der Haftung zu berücksichtigen. Über §§ 172 Abs. 4, 161 Abs. 2 HGB gelten auch die Nachhaf1 2 3 4 5 6 7 8

FG Saarland, Urt. v. 30.6.1987 – 2 K 85/86, EFG 1987, 486 (487). K. Schmidt, § 54 II; Dißars, DStR 1995, 1510 (1512). Roth in Baumbach/Hopt, § 172 HGB Rz. 8. Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 38; Dißars, DStR 1995, 1510 (1512); a.A. FG Berlin, Urt. v. 20.10.1982 – II 439/79, EFG 1983, 396. Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 38. Roth in Baumbach/Hopt, § 176 HGB Rz. 13. So BGH, Urt. v. 28.1.1981 – II ZR 129/80, BGHZ 82, 209 (212) = NJW 1982, 883; Urt. v. 21.3.1983 – II ZR 113/82, NJW 1983, 2258 (2259); Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 38. BGH, Urt. v. 21.12.1970 – II ZR 258/67, BGHZ 55, 267 (269); BFH, Urt. v. 24.6.1986 – VII R 193/82, BStBl. II 1986, 872 = BFHE 147, 200 = DB 1986, 2419–2420; vgl. auch Roth in Baumbach/Hopt, § 128 HGB Rz. 29.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

tungsbeschränkungen des § 160 HGB n.F.1 Im Einzelnen treffen hier die Ausführungen zur Nachhaftung bei einer BGB-Gesellschaft entsprechend zu. Die Haftung aufgrund einer mittelbaren Beteiligung über einen Treuhandkommanditisten ist ebenso unter bestimmten Bedingungen möglich.2 Befindet sich die KG in Liquidation, so bleibt gleichwohl die Haftung bestehen (s. zur OHG Rz. 2.278). 2.291

Û

Hinweis: Um dieser Haftung zu entgehen, kann im Fall des Ausscheidens des Kommanditisten ein vorheriger Formwechsel der KG in eine Kapitalgesellschaft ratsam sein.3

IV. Gesellschaft mit beschränkter Haftung 1. Gründungsstadien 2.292

Die Haftung der GmbH-Gesellschafter richtet sich danach, in welchem Gründungsstadium sich die GmbH befindet. Man unterscheidet die Vorgründungsgesellschaft, die Gründungsgesellschaft (= Vor-GmbH) und die eingetragene GmbH. Die Übergänge werden bestimmt durch den Gesellschaftsvertrag und durch die Eintragung in das Handelsregister. 2. Vorgründungsgesellschaft

2.293

Diese Phase beginnt mit dem Entschluss der Gesellschafter, eine GmbH zu gründen, und endet mit Abschluss des notariellen Gesellschaftsvertrages. Die Vorgründungsgesellschaft wird als Gesellschaft bürgerlichen Rechts behandelt, es sei denn, sie betreibt schon ein Handelsgewerbe gem. § 1 HGB. Im letzteren Fall liegt eine OHG vor. Für die steuerrechtliche Haftung ergibt sich daraus nach der Rechtsprechung die Haftung der Gesellschafter gem. § 128 HGB analog bzw. im Falle der OHG unmittelbar aus § 128 HGB. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen (Rz. 2.258) verwiesen werden.

2.294

Rechtsprechung und Literatur gehen davon aus, dass die Vorgründungsgesellschaft nicht identisch ist mit der Gründungsgesellschaft oder mit der eingetragenen GmbH.4 Daraus ergibt sich, dass die Haftung bei Entstehen der Vor-GmbH oder der GmbH nicht erlischt.5 Diese Schlussfolgerung ist m.E. richtig, da die Vorgründungsgesellschaft personengesellschaftlich geprägt und streng von der

1 2 3 4

Roth in Baumbach/Hopt, § 160 HGB Rz. 1. BGH, Urt. v. 30.3.1987 – II ZR 163/86, NJW 1987, 2677. Vgl. Bärwaldt/Schabacker, NJW 1998, 1909 ff. BGH, Urt. v. 7.5.1984 – II ZR 276/83, BGHZ 91, 148 (151 f.); Urt. v. 17.12.1984 – II ZR 69/84, WM 1985, 479; BFH, Urt. v. 8.11.1989 – I R 174/86, BStBl. II 1990, 91; FG Hamburg, Urt. v. 23.4.2014 – 6 K 248/13, EFG 2014, 1782; Fastrich in Baumbach/Hueck § 11 HGB Rz. 35; Dißars, DStR 1995, 1510 (1513) m.w. Nachw. 5 BGH, Urt. v. 20.6.1983 – II ZR 200/82, BB 1983, 1433; Urt. v. 13.1.1992 – II ZR 63/91, GmbHR 1992, 164; OLG Hamm, Urt. v. 24.1.1992 – 11 U 30/91 (rkr.), GmbHR 1993, 105.

100

C. Haftung der Gesellschafter

Kapitalgesellschaft zu trennen ist. Die Haftung endet aber, wenn dieses mit dem Gläubiger vereinbart worden ist.1 3. Gründungsgesellschaft oder Vor-GmbH a) Einleitung Mit dem Abschluss der notariellen Beurkundung des Gesellschaftsvertrages 2.295 beginnt das Gründungsstadium. Es entsteht eine sog. Vorgesellschaft. Sie endet mit Eintragung ins Handelsregister. Die Vorgründungsgesellschaft wird mit der Schaffung der Vorgesellschaft aufgehoben. Bei der Vorgesellschaft ist mittlerweile anerkannt, dass es sich um eine mit einem Sonderrecht ausgestattete Organisation handelt, die weder Personengesellschaft noch Kapitalgesellschaft ist.2 Da es sich um eine werdende GmbH handelt, unterliegt sie bis auf die Vorschriften über die Rechtsfähigkeit dem GmbH-Recht.3 Jedoch wird ihr durch die Rechtsprechung neben der passiven4 auch die aktive5 Parteifähigkeit zuerkannt. Die oben genannten Ausführungen betreffen jedoch nur die sog. „echte“ Vor-GmbH. Sie liegt vor, wenn und solange die Gesellschafter der Vorgesellschaft die Geschäftstätigkeit einverständlich aufgenommen haben und mit dem Ziel der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister betreiben. Die Vor-GmbH wird aber als sog. „unechte“ Vor-GmbH bezeichnet, auf die die Regeln einer zivilrechtlichen Personengesellschaft angewandt werden, wenn die Gesellschaft nicht in das Handelsregister eingetragen wird, weil u.a. die Gründer von vornherein nicht die Absicht hatten, die Eintragung als GmbH zu erreichen, oder wenn der Eintragungsantrag nicht ernsthaft weiterbetrieben wird. Indizien hierfür sind z.B.: Bestehende Eintragungshindernisse werden nicht beseitigt, Eintragungsunterlagen werden nicht unverzüglich beschafft oder die Gesellschaft betreibt trotz Ablehnung des Eintragungsantrags und Wegfalls des Gründungsziels ihre Geschäfte weiter.6 b) Haftungsverfassung der Vor-Gesellschaft aa) „Echte“ Vor-GmbH (1) Aktuelle Rechtslage Die Haftung der Gesellschafter im Stadium der Gründung war bisher sehr um- 2.296 stritten. Nachdem höchstrichterliche Entscheidungen zu diesem Thema vorliegen, zeichnet sich folgendes Meinungsbild ab:7 Nach einer Ansicht in der Lite-

1 BGH, Urt. v. 20.6.1983 – II ZR 200/82, BB 1983, 1433; Urt. v. 13.1.1992 – II ZR 63/91, GmbHR 1992, 164; OLG Hamm, Urt. v. 24.1.1992 – 11 U 30/91 (rkr.), GmbHR 1993, 105; Dißars, DStR 1995, 1510 (1513) m.w. Nachw. 2 Vgl. auch FG Berlin, Urt. v. 25.9.1997 – 1492/96, EFG 1998, 228 m.w. Nachw. 3 S. Goette, § 1 Rz. 32. 4 BGH, Urt. v. 23.1.1981 – I ZR 30/79, BGHZ 79, 239 (241) = DB 1981, 980. 5 BGH, Urt. v. 28.11.1997 – V ZR 178/96, DB 1998, 302 (303). 6 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 m.w. Nachw. 7 Vgl. Goette, § 1 Rz. 38 ff.; Haack, NWB Fach 18, 3523; v. Rechenberg, INF 1996, 756.

101

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

ratur ist jegliche Haftung der Gesellschafter abzulehnen.1 Nach einer anderen Auffassung ist vom Gegenteil auszugehen, so dass eine unbeschränkte und unmittelbare Haftung des Gesellschafters angenommen wird.2 Nach früherer Rechtsprechung des BGH hafteten die Gesellschafter einer nicht zur Eintragung gelangten Vor-GmbH den Gläubigern der Vor-GmbH auch persönlich mit ihrem Privatvermögen bis zur Höhe der noch nicht geleisteten Einlagen.3 Nach der Rechtsprechung des BGH4, des BSG5, des BFH6 und des BAG7, der sich auch Finanzgerichte angeschlossen haben8, haften die Gesellschafter grundsätzlich im Innenverhältnis gegenüber der Gesellschaft persönlich und unbeschränkt als Teilschuldner. Ist die Vor-GmbH nicht zur Eintragung gelangt, handelt es sich um eine Verlustdeckungshaftung. Ist sie zur fertigen GmbH durch Eintragung geworden, besteht eine Unterbilanzhaftung, die auch Vorbelastungshaftung genannt wird (s. zur Vorbelastungshaftung Rz. 2.313).9 Nur ausnahmsweise ist im Fall der Verlustdeckungshaftung eine Durchgriffshaftung des Gesellschafters 1 Dreher, DStR 1992, 33 (35); Fleck, GmbHR 1983, 5 (7); vgl. Lutter/Hommelhoff, § 11 GmbHG Rz. 7. 2 BSG, Urt. v. 28.2.1986 – 2 RU 21/85, ZIP 1986, 645 (646); OLG Saarbrücken, Urt. v. 17.1.1992 – 4 U 175/90, GmbHR 1992, 307; LAG Köln, Urt. v. 21.3.1997 – 4 Sa 1288/96, ZIP 1997, 1921; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.7.1997 – L 4 Kr 1317/96, ZIP 1997, 1651 = GmbHR 1997, 893; Flume, NJW 1981, 1753 (1754); Gummert in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts 1, § 16 Rz. 58, der die unbeschränkte Außenhaftung dann bejaht, wenn die Gesellschaft bereits am Geschäftsleben aktiv teilnimmt; der BFH nahm für eine unechte Vorgesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, die von vornherein nicht ernsthaft die Eintragung ins Handelsregister betrieben hat, eine unbeschränkte Haftung der Gesellschafter gem. § 128 HGB (bei OHG) bzw. aufgrund ihrer Eigenschaft als Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts an (BFH, Urt. v. 1.12.1987 – VII R 206/85, BFH/NV 1988, 477). 3 BGH, Urt. v. 15.12.1975 – II ZR 95/73, BGHZ 65, 378 (382); Urt. v. 7.5.1984 – II ZR 276/83, BGHZ 91, 148 (152). 4 BGH, Vorlagebeschl. v. 4.3.1996 – II ZR 123/94, GmbHR 1996, 279 = INF 1996, 478 = NWB-EN Nr. 570/97; Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94, NJW 1997, 1507 = DStR 1997, 625; Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, GmbHR 2003, 97. 5 BSG, Beschl. v. 31.5.1996 – 2 S (U) 3/96, NJW 1996, 3165 = GmbHR 1996, 763; Urt. v. 8.12.1999 – B 12 KR 10/98 R, GmbHR 2000, 425. 6 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 (534) = DStR 1998, 1129 = INF 1998, 601; Urt. v. 18.3.2010 – IV R 88/06, BStBl. II 2010, 991. 7 BAG, Beschl. v. 10.7.1996 – 10 AZR 908/94 (B), NJW 1996, 3165 = DB 1996, 1915 = GmbHR 1996, 763; Urt. v. 22.1.1997 – 10 AZR 908/94, DB 1997, 1822; Urt. v. 27.5.1997 – 9 AZR 482/96 u. 9 AZR 483/96, DB 1997 1240; Urt. v. 15.12.1999 – 10 AZR 165/98, GmbHR 2000, 1041; Urt. v. 25.1.2006 – 10 AZR 238/05, GmbHR 2006, 756. 8 FG Köln Urt. v. 12.3.1997 – 11 K 2598/95, EFG 1997, 934; FG Düsseldorf Urt. v. 28.11.1996 – 10 K 3462/92 – Haftung, EFG 1997, 325; FG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 9.1.2002 – 1 K 202/00, EFG 2002, 1131; FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.11.2011 – 9 K 9021/08, EFG 2012, 1228. 9 Vgl. BGH, Urt. v. 6.3.2012 – II ZR 56/10, ZIP 2012, 817 m.w. Nachw.; die Differenz zwischen dem Stammkapital und dem Wert des Gesellschaftsvermögens zum Zeitpunkt der Eintragung ist nach der zum Zeitpunkt der Eintragung zu erstellenden Vermögensbilanz (Vorbelastungsbilanz) zu ermitteln, die einen Geschäftswert für das Unternehmen enthält, der nach der Ertragswertmethode ermittelt werden kann (KG, Urt. v. 14.2.1997 – 5 U 3967/96, DB 1997, 1863). Der Gründungsaufwand, den die Gesellschaft nicht durch förmliche Regelung in der Satzung übernommen hat, darf in der Vorbelastungsbilanz nicht aktiviert werden (BGH, Urt. v. 29.9.1997 – II ZR 245/96, DB 1997, 2372).

102

C. Haftung der Gesellschafter

gegenüber einem Gläubiger der Gesellschaft gegeben. Dieser Ausnahmefall wird angenommen, wenn die Vor-GmbH vermögenslos war, eine Einmann-VorGmbH bestand oder weitere Gläubiger nicht vorhanden sind.1 Im Einzelnen gilt nach der Rechtsprechung: Die Verlustdeckungshaftung ist un- 2.297 beschränkt. Haften mehrere Gesellschafter, so haften sie als Teilschuldner im Verhältnis der Beträge ihrer Stammeinlagen zueinander (quotale Haftung)2, jedoch wird § 24 GmbHG für anwendbar gehalten. Damit entspricht die Haftung insgesamt gesehen der eines Gesamtschuldners.3 Eine Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen, also ein Ausschluss persönlicher Gesellschafterhaftung, ist nur durch eine diesbezügliche Vereinbarung mit den Gläubigern erreichbar.4 Eine Firmierung als „GmbH“ oder „GmbH i. Gr.“ reicht für einen Haftungsausschluss nicht aus. Ebenso können die Gesellschafter die Haftung nicht durch vertragliche Vereinbarung untereinander begrenzen oder ausschließen.5 Offengeblieben ist, ob die Verlustdeckungshaftung voraussetzt, dass alle Gesellschafter mit der Aufnahme der Geschäftstätigkeit vor Eintragung einverstanden gewesen sein müssen.6 Auch ist umstritten, ob der Verlustdeckungsanspruch der Gesellschaft schon vor dem Scheitern der Vor-GmbH mit der Konsequenz der Pfändungsmöglichkeit besteht.7 (2) Kritik des Schrifttums Die Rechtsprechung oberster Gerichte hat im Schrifttum Kritik erfahren.8 We- 2.298 sentliches Argument dieser Kritik ist es, dass die Last der Abwicklung für Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft, wenn es nicht zu ihrer Eintragung in das Handelsregister kommt, den Gläubigern der Gesellschaft auferlegt werde. Diese müssten zunächst die Vor-GmbH und erst danach gegebenenfalls die einzelnen Gesellschafter zur Haftung heranziehen. Stattdessen wäre es gerechter, durch ei-

1 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 (534) = DStR 1998, 1129 = INF 1998, 601; Urt. v. 18.3.2010 – IV R 88/06, BStBl. II 2010, 991. 2 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 (543) = INF 1998, 601; BAG, Urt. v. 22.1.1997 – 10 AZR 908/94, NJW 1997, 3331; Urt. v. 27.5.1997 – 9 AZR 483/96, NJW 1998, 628 = DB 1997, 2493; a.A. Hessisches LAG, Urt. v. 22.12.1997 – 16 Sa 1135/96, GmbHR 1998, 782. 3 Gummert, DStR 1997, 1007 (1009); für eine unbeschränkte Haftung auch FG Saarland, Urt. v. 16.10.1997 – 2 K 97/97, EFG 1998, 261 (262), das sich auf Entscheidungen des BGH beruft. 4 BGH, Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94, NJW 1997, 1507 = DStR 1997, 625 (626). 5 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 = INF 1998, 601. 6 Gummert, DStR 1997, 1007 (1009); fraglich ist auch, ob alle Gesellschafter haften, also auch diejenigen, die mit der Aufnahme der unternehmerischen Tätigkeit nicht einverstanden waren (vgl. Gummert in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts 1, § 16 Rz. 83). 7 Gummert, DStR 1997, 1007 (1009 f.), der dazu neigt, dass ein Scheitern der Vor-GmbH erst evident sein muss, bevor der Verlustdeckungsanspruch entsteht. 8 Raiser/Veil, BB 1996, 1344; Wilhelm, DB 1996, 921; K. Schmidt, ZIP 1996, 353; K. Schmidt, § 34 III. 3. c.; Ulmer, ZIP 1996, 733; Flume, DB 1998, 45; s. aber Goette, der für die Praxis davon ausgeht, dass sich das Modell des BGH auf Dauer halten wird (vgl. Anm. Goette, DStR 1998, 1132 f.).

103

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

ne Außenhaftung das Insolvenzrisiko bei den Gründern zu belassen.1 Der BGH stützt aber zu Recht seine Auffassung auf das Modell einer einheitlichen Gründerhaftung. Die unbeschränkte Haftung der Gesellschafter in der Gründungsphase einer Gesellschaft beruht darauf, dass nach allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts derjenige, der als Einzelperson oder in Gemeinschaft mit anderen Geschäfte betreibt, für die daraus entstehenden Verbindlichkeiten einzustehen hat. Denn die Geschäfte werden für Rechnung der Gründungsgesellschafter getätigt. Dabei kommt es auf die hinreichende Warnung der Gläubiger durch die Art der Firmierung (z.B. „GmbH i. Gr.“), den gegenständlichen Umfang der Vertretungsmacht des Geschäftsführers oder auf den Willen der einzelnen Gesellschafter nicht an.2 Dass es sich um eine Innenhaftung handelt, ist mit der Geltung des Unversehrtheitsgrundsatzes zu begründen. Eine in das Handelsregister eingetragene Gesellschaft soll ein Gesellschaftsvermögen aufweisen, das den Gläubigern genügend Sicherheit bietet. Dieses ist nur möglich, wenn die Gesellschafter zum Ausgleich vorhandener Kapitallücken verpflichtet sind. Sollte die Gesellschaft nicht zur Eintragung gelangen, so gilt auch dann diese Innenhaftung, da die Vorgesellschaft generell soweit wie nach dem Gesetz zulässig dem Bild der eingetragenen GmbH folgen soll. Auch dem Gesichtspunkt, dass die Gesellschaft die Abwicklungslast bei einer missglückten Gründung tragen soll, kommt besondere Bedeutung zu. So wird z.B. im Insolvenzfall der „Wettlauf der Gläubiger“ zu den Gesellschaftern durch dieses Modell verhindert. 2.299

Zweifelhaft bleibt insbesondere, ob das Konzept insoweit zu befürworten ist, als es eine Durchgriffshaftung im Fall der Vermögenslosigkeit der Vor-GmbH bzw. der eingetragenen GmbH zulässt. Denn die scheinbar vermögenslose Gesellschaft hat zumindest in ihrem Vermögen noch die Haftungsansprüche gegen die Gesellschafter.3 Nach Auffassung von Gummert ist der BGH der Ansicht, vermögenslos müsse die Gesellschaft mit Ausnahme der Verlustdeckungsansprüche sein.4 Der BGH habe weiter auch offen gelassen, ob es sich bei der Durchgriffshaftung um eine Gesamtschuld oder Teilschuld handele.5 Abschließend bleibt festzuhalten, dass ein Ende der Rechtsentwicklung nicht zu erkennen ist. (3) Konsequenzen für die Praxis

2.300

Richtet man sich nach der Ansicht oberster Bundesgerichte, so ergeben sich folgende praktische Konsequenzen. Allgemein ist dieses Haftungsmodell für alle Verbindlichkeiten einer Gesellschaft – gleichermaßen aufgrund rechtsgeschäft1 K. Schmidt, § 34 III 3. c. 2 BGH, Vorlagebeschl. v. 4.3.1996 – II ZR 123/94, GmbHR 1996, 279. 3 So schon FG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.1996 – 10 K 3462/92 H, EFG 1997, 327; vgl. auch BGH, Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94, GmbHR 1997, 405; BAG, Urt. v. 25.1.2006 – 10 AZR 238/05, GmbHR 2006, 756; Gummert, DStR 1997, 1007 (1010). 4 Gummert, DStR 1997, 1007 (1010). 5 Gummert, DStR 1997, 1007 (1010); BAG nimmt Teilschuld an (BAG, Urt. v. 22.1.1997 – 10 AZR 908/94, NJW 1997, 3331; Urt. v. 27.5.1997 – 9 AZR 483/96, NJW 1998, 628 = DB 1997, 2493; Urt. v. 4.4.2001 – 10 AZR 305/00, GmbHR 2001, 919; Urt. v. 25.1.2006 – 10 AZR 238/05, GmbHR 2006, 756); ebenso auch BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 (543).

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C. Haftung der Gesellschafter

licher wie gesetzlicher Schuldverhältnisse, z.B. Steuerschuldverhältnisse – anerkannt. Weiterhin ist zu beachten, dass eine Durchgriffshaftung, also die direkte Inanspruchnahme der Gesellschafter durch einen Haftungsbescheid, der auf einen originären Anspruch der Finanzbehörde gegen die Gesellschaft gestützt wird, insbesondere bei Vermögenslosigkeit der Gesellschaft nach der Rechtsprechung oberster Gerichte möglich ist. Praktisch ist dieses der Fall, wenn ein Insolvenzverfahren mangels Masse eingestellt worden ist.1 Dem Finanzamt bleibt es aber auch überlassen, den Ausgleichsanspruch der Gesellschaft gegen die Gesellschafter im Rahmen der Vollstreckung des Steuerbescheides gegen die VorGmbH zu pfänden und sich zur Einziehung überweisen zu lassen.2

Û

Hinweis: Der Gesellschafter kann einer unbeschränkten persönlichen Haf- 2.301 tung für Verbindlichkeiten der Vor-Gesellschaft zunächst dadurch entgehen, dass er mit seinen Mitgesellschaftern zügig die Eintragung der GmbH in das Handelsregister bewirkt. Damit sind die nach Eintragung entstandenen Verbindlichkeiten nur noch solche der eingetragenen GmbH.

Denkbar wäre auch, die Haftung durch Verwendung eines GmbH-Mantels aus- 2.302 zuschließen. Unter Mantelverwendung versteht man die wirtschaftliche Neugründung eines Unternehmens im rechtlichen Gewande einer bestehenden, noch oder wieder unternehmenslosen GmbH. Sie erfolgt durch entsprechende Satzungsänderungen (z.B. Gegenstand u. Firma werden den neuen Zwecken angepasst, Sitz wird verlegt) und zumeist mittels Gesellschafteraustausch durch Erwerb der Geschäftsanteile.3 Es ist heute h.M., dass eine offene Vorratshaltung an GmbH-Mänteln möglich ist.4 Der Erwerb eines GmbH-Mantels verstößt auch grds. nicht gegen § 134 BGB.5 Es wird nur erörtert, inwieweit dabei Gründungsvorschriften unzulässigerweise umgangen werden. Fraglich ist, ob auch bei der Mantelverwendung, ähnlich wie bei der Vor-GmbH, die Gesellschafter im Innenverhältnis persönlich haften. Es ließe sich der Zeitraum zwischen dem Erwerb der Geschäftsanteile und der Eintragung der Änderungen in das Handelsregister mit der Situation im Vor-GmbH-Stadium vergleichen. In der Literatur wird zum Teil der Ausschluss der Gesellschafterhaftung durch eine Mantelverwendung befürwortet.6 Der BGH hat nunmehr entschieden, dass in den Fällen des Mantelkaufs die Gründungsvorschriften des GmbHG zur Anwendung kommen. Damit kommt es zu einer Unterbilanzhaftung (Vorbelastungshaftung) und auch zu einer Handelndenhaftung analog § 11 Abs. 2 GmbHG.7 Nach dieser Rechtsprechung ist somit der (Innen-)Haftung der Gesellschafter nicht durch einen Mantelkauf zu entgehen. 1 2 3 4 5

FG Köln, Urt. v. 12.3.1997 – 11 K 2598/95, EFG 1997, 934. BGH, Vorlagebeschl. v. 4.3.1996 – II ZR 123/94, GmbHR 1996, 279. Priester, DB 1983, 2291. Vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, § 3 GmbHG Rz. 11 m.w. Nachw. in Fn. 31. Fastrich in Baumbach/Hueck, § 3 GmbHG Rz. 11; Bärwaldt/Schabacker, GmbHR 1998, 1005 (1007). 6 Priester, DB 1983, 2291 (2296); Gummert, DStR 1997, 1007 (1011); a.A. Ahrens, DB 1998, 1069: Er tritt für eine unbeschränkte Innenhaftung ein, wie sie die Rechtsprechung auch für die Gesellschafterhaftung bei einer Vor-GmbH vorsieht (1073). 7 BGH, Beschl. v. 7.7.2003 – II ZB 4/02, NJW 2003, 3198; Beschl. v. 9.12.2002 – II ZB 12/02, NJW 2003, 892.

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

bb) „Unechte“ Vor-GmbH 2.303

2.304

Im Fall der „unechten“ Vor-GmbH, also wenn u.a. die Gesellschaft nach Aufgabe der Eintragungsabsicht den Gesellschaftsbetrieb fortführt, bleibt es bei der Haftung, wie sie für die zivilrechtlichen Personengesellschaften gilt.1 Der Grund hierfür ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts, wonach derjenige, der zusammen mit anderen Geschäfte betreibt, für die daraus entstehenden Verpflichtungen, hier gem. § 128 HGB analog oder direkt, haftet. Einer besonderen Behandlung im Hinblick auf die bevorstehende Eintragung der Gesellschaft als GmbH bedarf es dann nicht mehr, wenn die Gesellschafter die Eintragung nicht weiterverfolgen, aber trotzdem weiter wirtschaften. In diesen Fällen kann daher nicht das Recht der Vor-GmbH angewandt werden. Die Vorgesellschaft ist bloßes Durchgangsstadium bei der Entstehung einer GmbH. Allein darauf gründet sich die rechtliche Anerkennung, die bereits weitgehend GmbH-Recht zur Geltung bringt.2 Eine Personengesellschaft ohne diese Zielrichtung kann daher nicht Vorgesellschaft sein, sondern unterliegt dem Recht der BGB-Gesellschaft oder der OHG.3 Damit kommt es bei der „unechten“ Vor-GmbH zur persönlichen unbeschränkten und gesamtschuldnerischen Außenhaftung.4 Die volle Außenhaftung gilt nicht nur für die ab der Aufgabe der Eintragungsabsicht eingegangenen Verbindlichkeiten, sondern auch rückwirkend für die Schulden, die während der Zeit des Bestehens der Eintragungsabsicht entstanden sind.5 Zu berücksichtigen ist aber, dass bei der Inanspruchnahme eines Gesellschafters, die Aufgabe der Eintragungsabsicht vorliegen muss.6

Û

Hinweis: Will man der unbeschränkten Haftung aus dem Wege gehen, so kann man dies dadurch erreichen, dass man in dem Zeitpunkt, in dem der angestrebte Gesellschaftszweck nicht mehr durch Eintragung realisiert werden kann, den Geschäftsbetrieb der GmbH i.Gr. erkennbar einstellt und die GmbH liquidiert.

c) Spezielle Haftungsnormen 2.305

Weitere gesetzliche Haftungsansprüche ergeben sich aus dem GmbH-Gesetz. Zunächst ist hier die Haftung nach § 11 Abs. 2 GmbHG zu nennen. Danach 1 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531 m.w. Nachw.; Urt. v. 18.3.2010 – IV R 88/06, BStBl. II 2010, 991; FG Brandenburg, Urt. v. 23.10.1997 – 5 K 1401/96 H, EFG 1998, 260 (rkr.); Urt. v. 10.2.1998 – 3 K 1708/96 H, EFG 1998, 983 m.w. Nachw. (rkr.); BGH Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, GmbHR 2003, 97; OLG Dresden, Urt. v. 17.12.1997 – 12 U 2364/97, GmbHR 1998, 186. 2 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531; BGH, Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94, BGHZ 134, 333 = NJW 1997, 1507. 3 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531; BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, GmbHR 2003, 97. 4 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531; Goette, DStR 1998, 179 (181); BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, GmbHR 2003, 97. 5 BFH, Urt. v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531; vgl. auch BAG, Urt. v. 27.5.1997 – 9 AZR 483/96, NJW 1998, 628 = DB 1997, 2493 u. Goette, DStR 1998, 179 (181); vgl. aber BGH, Urt. v. 18.1.2000 – XI ZR 71/99, DStR 2000, 740. 6 FG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 9.1.2002 – 1 K 202/00, EFG 2002, 1131.

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C. Haftung der Gesellschafter

haftet derjenige, der vor der Eintragung im Namen der Gesellschaft handelt. Die Handelndenhaftung wird als Organhaftung verstanden, die nur den Gründer, der bei der Führung der Geschäfte für die künftige GmbH persönlich oder durch andere verantwortlich mitgewirkt hat, verpflichtet. Somit werden die Geschäftsführer oder die wie ein Geschäftsführer tätig werdenden Personen erfasst. Diese müssen sich ein rechtsgeschäftliches Handeln ihrer Bevollmächtigten zurechnen lassen.1 Wie der BFH in einer Entscheidung zu Recht klarstellt, greift diese Haftung nicht bei Steuern. Nach § 11 Abs. 2 GmbHG kommt eine Haftung des Handelnden gegenüber Dritten nur in Betracht, wenn ein rechtsgeschäftliches oder rechtsgeschäftsähnliches Handeln für die Vorgesellschaft vorliegt.2 § 11 Abs. 2 GmbHG bezieht daher nicht die Haftung im Rahmen gesetzlicher Schuldverhältnisse und damit keine Haftung des für die Vor-GmbH tätigen Geschäftsführers oder der wie ein Geschäftsführer tätig werdenden Personen für Steuern ein.3 Nach § 9a GmbHG haften die Gesellschafter und Geschäftsführer für schuldhaft falsche Angaben, die zum Zwecke der Errichtung ihrer Gesellschaft gemacht werden, und insbesondere für fehlende Einzahlungen. Dieses gilt nicht nur für die Bareinlagen, sondern auch für die Sacheinlagen entgegen dem Wortlaut.4 Weiterhin ist die Haftung für eine Vergütung, die nicht unter den Gründungsaufwand aufgenommen ist, zu ersetzen. Nicht im Gesellschaftsvertrag festgesetzte und ordnungsgemäß angegebene Zahlungen sind zu erstatten.5 Eine Haftung ist nur ausgeschlossen, wenn die Gesellschafter schuldlos handelten. Jedoch wird das Verschulden bei den Gesellschaftern und dem Geschäftsführer gem. § 9a Abs. 3 GmbHG vermutet. Dieses gilt auch für Hintermänner gem. Abs. 4 des § 9a GmbHG, die sich das Verschulden des Strohmannes oder Treuhänders zurechnen lassen müssen.6 Eine gesonderte Haftungsbestimmung findet sich auch in § 9a Abs. 2 GmbHG, wonach der Gesellschafter dann haftet, wenn er die Gesellschaft durch Einlagen oder Gründungsaufwand vorsätzlich oder grob fahrlässig schädigt, ohne dass falsche Angaben gemacht wurden. Dieses ist z.B. der Fall, wenn die eingebrachten Maschinen zwar ihren Wert haben, aber für das Unternehmen vollkommen ungeeignet sind, oder der Gründungsaufwand satzungsgemäß erstattet wird, der aber außer jedem Verhältnis zur Größe und Bedeutung der Gesellschaft steht.7 Als weitere Anspruchsgrundlage für eine Haftung kommt die Differenzhaftung gem. § 9 GmbHG in Betracht, die die Pflicht zur ergänzenden Geldeinlage des Gesellschafters in Höhe des Betrages vorsieht, um den der Wert einer wirksam vereinbarten Sacheinlage den Betrag der dafür übernommenen Stammeinlage zum Anmeldezeitpunkt nicht erreicht. Maßgeblich ist der objektive Wert der Sacheinlage.8

1 BGH, Urt. v. 17.1.1983 – II ZR 89/82, WM 1983, 230; Gummert, DStR 1997, 1007 (1011). 2 H.M. Fastrich in Baumbach/Hueck, § 11 GmbHG Rz. 49 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 16.7.1996 – VII R 133/95, BFH/NV 1997, 4 (6). 4 Fastrich in Baumbach/Hueck, § 9a GmbHG Rz. 14. 5 Fastrich in Baumbach/Hueck, § 9a GmbHG Rz. 15. 6 Fastrich in Baumbach/Hueck, § 9a GmbHG Rz. 17. 7 Haack, NWB Fach 18, 3523 (3526). 8 Haack, NWB Fach 18, 3523 (3525).

107

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.306

Diese Ansprüche sind auf den Gesamtbetrag der Stammeinlagen begrenzt. Sie stehen zunächst nur der Gesellschaft zu. Das Finanzamt kann aber als Gläubiger der GmbH diese Ansprüche pfänden und sich zur Einziehung überweisen lassen.1 Wegen des speziellen Charakters der Haftungsvorschriften wird es wohl selten zu einer solchen Inanspruchnahme kommen. 4. Eingetragene Gesellschaft mit beschränkter Haftung a) Keine Haftung der Gesellschafter

2.307

Mit Eintragung der Gesellschaft ins Handelsregister wird aus der Gründungsgesellschaft die fertige GmbH. Auf sie sind die Regelungen des GmbHG anzuwenden. Sie ist eine eigenständige juristische Person und eine Haftung der Gesellschafter ist grundsätzlich nicht gegeben. Dieses ergibt sich aus § 13 Abs. 2 GmbHG, wonach für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft den Gläubigern nur das Gesellschaftsvermögen haftet. b) Durchgriffshaftung oder Innenhaftung?

2.308

Aufgrund dieser gesetzlichen Gestaltung neigt der BGH dazu, Ausnahmen zu § 13 Abs. 2 GmbHG nur bei Beachtung ganz strenger Anforderungen zuzulassen, da über die Rechtsform einer juristischen Person „nicht leichtfertig und schrankenlos hinweggegangen werden“ darf.2 Er formuliert den Ausnahmetatbestand wie folgt: „Regelmäßig ist daher sowohl eine Haftung des hinter einer juristischen Person stehenden Berechtigten (Gesellschafters) für die Schulden der juristischen Person … als auch umgekehrt die Haftung der juristischen Person für Verbindlichkeiten des hinter ihr stehenden Berechtigten (Gesellschafters) ausgeschlossen. Eine Ausnahme muss jedoch dann gelten, wenn die Anwendung dieses Grundsatzes zu Ergebnissen führen würde, die mit Treu und Glauben nicht in Einklang stehen, und wenn die Ausnutzung der rechtlichen Verschiedenheit zwischen der juristischen Person und den hinter ihr stehenden natürlichen Personen einen Rechtsmissbrauch bedeutet. Es ist Aufgabe des Richters, einem treuwidrigen Verhalten der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen entgegenzutreten und die juristische Konstruktion hintanzusetzen, wenn die Wirklichkeit des Lebens, die wirtschaftlichen Bedürfnisse und die Macht der Tatsachen eine solche Handhabung gebieten …“3 Abstrakt-generelle Tatbestandsmerkmale für diese Ausnahmefälle können nach dem Stand der Entwicklung bisher nicht formuliert werden,4 so dass eine Einzelfallbetrachtung erforderlich ist. Eine Durchgriffshaftung des Gesellschafters kommt z.B. nicht schon deshalb in Betracht, weil ein Treuhänder eingeschaltet wurde, da der Treuhänder normalerweise ernsthaft eine echte Gesellschafter-

1 v. Rechenberg, INF 1996, 756 (758). 2 BGH, Urt. v. 14.5.1974 – VI ZR 8/73, NJW 1974, 1371 (1372); Urt. v. 22.10.1987 – VII ZR 12/87, DB 1988, 282 (283); s. auch BSG, Urt. v. 7.12.1983 – 7 RAr 20/82, NJW 1984, 2117 (2118). 3 BGH, Urt. v. 5.11.1980 – VIII ZR 230/79, BGHZ 78, 318 (333) = NJW 1981, 522. 4 Ellenberger in Palandt, Einf. v. § 21 BGB Rz. 12; Haack, NWB Fach 18 S. 4209.

108

C. Haftung der Gesellschafter

stellung mit allen Pflichten einschließlich der vollen Einlagenhaftung begründen will.1 Auch das Vorliegen einer Einmann-GmbH rechtfertigt nicht eine Durchgriffs- 2.309 haftung.2 Eine Haftungssituation ist auch dann nicht gegeben, wenn eine eigenständige Verpflichtung des Gesellschafters neben der GmbH besteht, insbesondere bei eigens vertraglich begründeter Zurechnung oder zusätzlicher Haftung, z.B. Bürgschaft, Garantieversprechen, weiterhin bei einer Haftung aus unerlaubter Handlung (§ 826 BGB), nach Rechtsscheingrundsätzen oder aus culpa in contrahendo (§ 311 Abs. 2 BGB).3 In folgenden Fällen wurde in der Vergangenheit eine zivilrechtliche Durchgriffs- 2.310 haftung der Gesellschafter jedoch angenommen: – So haftet der Gesellschafter, wenn er die Rechtsform der GmbH objektiv 2.311 missbraucht bzw. wenn die Berufung auf die Vorschrift des § 13 Abs. 2 GmbHG gegen Treu und Glauben verstößt.4 K. Schmidt macht das Durchgriffsproblem an einem Beispiel deutlich: „Wer nach Herzenslust Gesellschaften m.b.H. gründet, sie im Fall eines Misserfolgs auf Kosten der Gläubiger liquidiert und dann durch neue, schuldenfreie Gesellschaften ersetzt, muss mit haftungsrechtlichen Konsequenzen rechnen.“5 Beispiel: Ist eine GmbH mit hohen Steuerschulden in Insolvenz gegangen und hat der Geschäftsführer eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, so kann es ein Rechtsformmissbrauch sein, wenn der Geschäftsführer sich eines bisher unbescholtenen Treuhänders bedient, damit eine zweite Gesellschaft ins Handelsregister eingetragen werden kann und er wieder als faktischer Geschäftsführer eine GmbH zu führen in der Lage ist. Erfolgt der Missbrauch auch in Kenntnis des Treuhänders, so kann eine Durchgriffshaftung des Treuhänders für die Steuerschulden der zweiten GmbH gerechtfertigt sein.

– Bei genereller Sphärenvermischung/Vermögensvermischung, z.B. wenn man- 2.312 gelnde oder undurchsichtige Buchführung die Vermögenstrennung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen verschleiert, kann ebenfalls eine Durchgriffshaftung gegeben sein. Mindestens setzt diese Haftung aber voraus, dass der Gesellschafter den die Sphärenvermischung begründenden Sachverhalt kannte oder dass dieser Sachverhalt evident war.6 Der BGH geht noch weiter und fordert, dass der Gesellschafter aufgrund des ihm in dieser Stellung gegebenen Einflusses für den Vermischungstatbestand verantwortlich gewesen

1 H.M., BGH, Urt. v. 3.11.1976 – I ZR 156/74, WM 1977, 73 (75); Urt. v. 13.4.1992 – II ZR 225/91, GmbHR 1992, 525; zur Kritik s. Fastrich in Baumbach/Hueck, § 1 GmbHG Rz. 44. 2 BSG, Urt. v. 1.2.1996 – 2 RU 7/95, NJW-RR 1997, 94 (95); Fastrich in Baumbach/Hueck, § 13 GmbHG Rz. 12. 3 Fastrich in Baumbach/Hueck, § 13 GmbHG Rz. 13. 4 BGH, Urt. v. 29.11.1956 – II ZR 156/55, BGHZ 22, 226 (230); Urt. v. 4.5.1977 – VIII ZR 298/75, BGHZ 68, 312 (315 f.); Urt. v. 14.5.1974 – VI ZR 8/73, NJW 1974, 1371; Urt. v. 8.10.1987 – VII ZR 12/87, DB 1988, 282 (283); BSG, Urt. v. 7.12.1983 – 7 RAr 20/82, NJW 1984, 2117; Fastrich in Baumbach/Hueck, § 13 GmbHG Rz. 11; vgl. auch Haack, NWB Fach 18, 3355 (3359). 5 K. Schmidt, § 9 IV 1. c.; vgl. auch BSG, Urt. v. 1.2.1996 – 2 RU 7/95, NJW-RR 1997, 94. 6 K. Schmidt, § 9 IV 2. a.; vgl. auch Haack, NWB Fach 18, 3355 (3357).

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Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

sein muss.1 In diesen und weiteren Fällen kann folgende Leitlinie herangezogen werden: Werden bei bloß formaljuristischer Beurteilung untragbare Ergebnisse erzielt, so ist ein billiger Interessenausgleich herbeizuführen.2 2.313

– Als weiterer Fall der Durchgriffshaftung wird in der Literatur und Rechtsprechung die Unterkapitalisierung angesehen.3 Darunter versteht man Sachverhalte, in denen die GmbH von vornherein mit völlig unzureichendem Eigenkapital – im Hinblick auf den Zweck der Gesellschaft und das Auftreten im Geschäftsverkehr – ausgestattet ist. Der BGH und das BAG begegnen der Durchgriffshaftung in diesen Fällen mit Zurückhaltung.4 Der BGH nahm in diesen Fällen eine Innenhaftung an.5 Für die Inanspruchnahme des Gesellschafters griff er auf den Anspruch aus § 826 BGB zurück und betrachtete diese Fallgestaltungen als Anwendungsfälle einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung und werde dies wohl auch in Zukunft so sehen.6 Die bei der Verlustdeckungshaftung anerkannte Durchbrechung des Innenhaftungsprinzips (s. Rz. 204) komme nicht zur Anwendung.7 In einer neueren Entscheidung lässt nun der BGH offen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen unter dem Aspekt der Unterkapitalisierung eine persönliche Haftung des Gesellschafters nach § 826 BGB in Betracht kommt.8

2.314

– Ein weiterer Fall der Durchgriffshaftung des Gesellschafters konnte nach früherer Ansicht des BGH auch bei einem „existenzvernichtenden“ Eingriff in das Haftungskapital der GmbH in Betracht kommen.9 Ein solcher existenzvernichtender Eingriff liegt insbesondere vor, wenn der Gesellschafter auf die Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens keine Rücksicht nimmt und der Gesellschaft durch offene oder verdeckte Entnahmen ohne angemessenen Ausgleich Vermögenswerte entzieht, die sie zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten benötigt.10 Diese Rechtsfigur löst die früher geltende Haftung im sog. „qualifiziert faktischen GmbH-Konzern“ ab.11 Der BGH hat jedoch sein Haftungskonzept zur Durchgriffshaftung des Gesellschafters bei existenzvernich1 BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, NJW 1994, 1801 (1802); ebenso Schiessl/Böhm in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts 3, § 35 Rz. 19; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 13 GmbHG Rz. 14, der auf eine Verschleierung durch den Gesellschafter abstellt. 2 BGH, Urt. v. 8.10.1987 – VII ZR 12/87, DB 1988, 282 (284). 3 OLG Naumburg, Urt. v. 21.12.1999 – 9 U 804/97, OLG-Report 2000, 467; Lutter/Hommelhoff, § 13 GmbHG Rz. 15; K. Schmidt, § 9 IV 4 m.w. Nachw. in Fn. 83; vgl. auch Haack, NWB Fach 18, 3355 (3357) und Fach 18, 4207 (4211 f.). 4 Z.B. BGH, Urt. v. 4.5.1977 – VIII ZR 298/75, NJW 1977, 1449. 5 BGH, Urt. v. 27.1.1997 – II ZR 123/94, GmbHR 1997, 405, Goette, DStR 1997, 628. 6 BGH, Urt. v. 29.9.2004 – II ZR 302/02, DB 2004, 2468; vgl. Goette, § 9 Rz. 31. 7 BGH, Urt. v. 24.10.2005 – II ZR 129/04, GmbHR 2006, 88. 8 BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, DStR 2008, 1293. 9 BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, DStR 2001, 1853; Urt. v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, DStR 2002, 1010; Urt. v. 24.6.2002 – II ZR 300/00, GmbHR 2002, 902; Urt. v. 13.12.2004 – II ZR 256/02, DB 2005, 328; OLG Rostock, Urt. v. 10.12.2003 – 6 U 56/03, ZIP 2004, 118; offen gelassen, da eine Haftung nach § 826 BGB angenommen wurde, in BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 302/02, DB 2004, 2468. 10 S. Haack, NWB Fach 18, 4107 (4213 f.). 11 BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, NJW 2001, 3622; vgl. zum existenzvernichtenden Eingriff auch Dißars/Dißars, StB 2007, 101.

110

C. Haftung der Gesellschafter

tendem Eingriff als eigenständige Haftungsfigur in neuerer Zeit aufgegeben. Statt einer Außenhaftung soll nunmehr der Anspruch aus Existenzvernichtungshaftung nur im Innenverhältnis gelten, so dass eine Durchgriffshaftung nicht mehr in Betracht kommt.1 Anknüpfungspunkt der Haftung ist nunmehr auch hier § 826 BGB. Eine Haftung kommt nicht in Betracht, wenn ein Fall der §§ 30, 31 GmbHG gegeben ist.2 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Rechtsprechung bemüht ist, so- 2.315 weit wie möglich andere, insbesondere deliktische oder gesellschaftsrechtliche Anspruchsgrundlagen heranzuziehen. Befindet sich die GmbH in Liquidation, so soll der Ersatzanspruch wegen eines 2.316 existenzvernichtenden Eingriffs auch gelten.3 Für die Praxis der Finanzverwaltung dürfte in Zukunft gelten, dass bei Insolvenz 2.317 des Steuerschuldners der Insolvenzverwalter die Innenhaftung geltend machen kann.4 Bei masseloser Insolvenz kann nach Abschluss des Verfahrens das Finanzamt zunächst einen Titel gegen die Gesellschaft wegen des Ersatzanspruchs der GmbH nach Pfändung und Überweisung erwirken, um dann anschließend gegen den Gesellschafter vorzugehen.5 c) Spezielle Haftungsvorschriften Abgesehen von der Durchgriffshaftung bestehen Einstandspflichten im Bereich 2.318 der Einlageverpflichtung der Gesellschafter. So haften sie persönlich für nicht eingezahlte Einlagen gem. § 24 GmbHG. Darüber hinaus behandeln die §§ 26 ff. GmbHG Nachschusspflichten. Auch durch eine Insolvenzverschleppung kann es zu Ansprüchen der Gläubiger gegen den Geschäftsführer kommen.6 Eine bedeutende Anspruchsgrundlage ist dabei § 31 Abs. 1 i.V.m. § 30 GmbHG. 2.319 Dieser Erstattungsanspruch entspricht in seiner Funktion dem Einlageanspruch und wird demgemäß auch als „Wiederaufleben der Einlagepflicht“ bezeichnet.7 Danach haftet der Gesellschafter einer GmbH für zurückgezahlte kapitalersetzende Darlehen. Gesellschafterdarlehen, die zur Abwendung der Insolvenzantragspflicht (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) gegeben werden, dür-

1 BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, GmbHR 2007, 927; Beschl. v. 7.1.2008 – II ZR 314/05, GmbHR 2008, 257; Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, DStR 2008, 1293; Beschl. 2.6.2008 – II ZR 104/07, GmbHR 2008, 929; Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 292/07, DStR 2009, 915; s. auch Fastrich in Baumbach/Hueck, § 13 GmbHG Rz. 49. 2 BGH, Urt. v. 15.9.2014 – II ZR 442/13, GmbHR 2015, 644. 3 BGH, Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 292/07, GmbHR 2009, 601. 4 BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, GmbHR 2007, 927 = juris Rz. 34. 5 Vgl. BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, GmbHR 2007, 927 = juris Rz. 36; zu Kritik an dieser Rechtsprechung s. z.B. Altmeppen, NJW 2007, 2657 (2660); Habersack, ZGR 2008, 533. 6 S. im Einzelnen Goette, § 8 Rz. 147 ff.; zur Ausfallhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG vgl. Müller, DB 1998, 1117. 7 Hessisches FG, Urt. v. 24.9.1992 – 4 K 4142/86, EFG 1993, 208; Fastrich in Baumbach/ Hueck, § 31 GmbHG Rz. 3.

111

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

fen wie haftendes Kapital nicht zurückgezahlt werden, solange der Insolvenzabwendungszweck nicht nachhaltig erreicht ist.1 Dabei muss das Darlehen nicht für den Insolvenzabwendungszweck bestimmt sein oder verbraucht werden, denn maßgeblich ist allein die Abwendung der Insolvenzreife.2 Wird das Darlehen zu einem Zeitpunkt gewährt, zu dem die Insolvenzreife noch nicht vorlag, so ist die Rückzahlung zulässig.3 Wird das Darlehen an einen Dritten, d.h. eine Person, die nicht Gesellschafter ist, zurückgezahlt, so ist umstritten, ob ein Erstattungsanspruch besteht. Nach h.M. ist in diesem Fall eine Einlagepflicht dann gegeben, wenn eine besonders enge persönliche oder rechtliche Verbindung des Dritten zu dem Gesellschafter besteht, die zur Leistung an den Dritten führte.4 Eine Beschränkung der Erstattungspflicht ergibt sich aus § 31 Abs. 2 GmbHG. Danach kann von einem Empfänger in gutem Glauben eine Erstattung nur verlangt werden, soweit sie zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich ist. Weiterhin ist zu beachten, dass der Anspruch aus § 31 Abs. 1 GmbHG gem. Abs. 5 nach fünf Jahren verjährt, es sei denn, dem Verpflichteten fällt eine bösliche Handlungsweise zur Last. Eine „bösliche“ Handlungsweise i.S.v. § 31 Abs. 5 Satz 2 GmbHG, bei deren Vorhandensein der Erstattungsanspruch nicht in fünf, sondern in dreißig Jahren verfällt, liegt nicht bereits dann vor, wenn der Gesellschafter mit der Entgegennahme der Leistung Steuern hinterziehen will und damit in dem Bewusstsein handelt, Gläubiger der Gesellschaft zu schädigen. Vielmehr handelt nach der Rechtsprechung böslich nur derjenige Gesellschafter, der die Auszahlung in Kenntnis ihrer Unzulässigkeit entgegennimmt, also weiß, dass bereits eine Überschuldung oder eine Unterbilanz besteht oder dass infolge der Auszahlung das zur Deckung des Stammkapitals erforderliche Vermögen nunmehr angegriffen wird.5 2.320

Auch das „Basisschutzkonzept“ der §§ 30, 31 GmbHG ist wie bei der Existenzvernichtungshaftung nur eine Ersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft selbst als Trägerin des geschädigten Gesellschaftsvermögens und damit eine Innenhaftung. Auch hier gilt im Fall der Insolvenz, dass der Ersatzanspruch vom Insolvenzverwalter geltend zu machen ist. Nur im Fall der masselosen Insolvenz kann das Finanzamt über dem Umweg der Inanspruchnahme der Gesellschaft anschließend gegen den Gesellschafter vorgehen.6

2.321

Mit dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)7 trat eine Neuregelung des § 30 Abs. 1 GmbHG in Kraft. Rückzahlungen von Gesellschafterdarlehen führen nicht zu einen Erstattungsanspruch bei kapitalersetzenden Darlehen, sondern jegliche Darlehensrückzahlungen sind aus dem Anwendungsbereich des Erstattungsanspruchs he1 BGH, Urt. v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258; Urt. v. 29.11.1971 – II ZR 121/69, WM 1972, 74 (75); vgl. auch BGH, Urt. v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, DB 1997, 1706 (1708). 2 BGH, Urt. v. 27.9.1976 – II ZR 162/75, BGHZ 67, 171 (182); Urt. v. 26.11.1979 – II ZR 104/77, BGHZ 75, 334 (336). 3 BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 269/84, BGHZ 95, 188 (194). 4 Vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, § 31 GmbHG Rz. 10 ff. 5 BGH, Urt. v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, DB 1997, 1706 (1708). 6 BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, GmbHR 2007, 927 = juris, Rz. 34 ff. 7 MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026.

112

C. Haftung der Gesellschafter

rausgenommen worden. Die Behandlung von Gesellschafterdarlehen erfolgt ausschließlich nach den Regelungen des Insolvenz- und Anfechtungsrecht.1 Die Neuregelung gilt seit 1.11.2008. Auf vor diesem Datum vorgenommene 2.322 Rechtshandlungen ist sie nur anzuwenden, soweit diese nicht nach dem früheren Recht der Anfechtung entzogen oder in geringerem Umfang unterworfen waren; andernfalls sind die bis zum 1.11.2008 anwendbaren Vorschriften weiter anzuwenden (§ 20 Abs. 3 AnfG).

V. Sonstige Gesellschaftsformen Während die Haftung der Gesellschafter bei den bisher behandelten Gesell- 2.323 schaftsformen durchaus häufiger in der Praxis eine Rolle spielen kann, wird dieses bei den nachfolgend behandelten Gesellschaftstypen nicht der Fall sein. Es werden daher nur kurz die Grundaussagen zu der Haftung bei diesen Typen vorgestellt. Wie bei der GmbH haftet gem. § 1 Abs. 1 AktG auch bei der Aktiengesellschaft 2.324 für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nur das Gesellschaftsvermögen. Nur in ganz besonderen Fällen kann eine Haftung der Aktionäre in Betracht kommen, z.B. wenn die Aktionäre verbotene Leistungen in Empfang nehmen (§ 62 AktG) oder wenn Vorstandsmitglieder (§ 93 AktG) bzw. Aufsichtsratsmitglieder (§§ 116, 93 AktG) Sorgfaltspflichten verletzen. Wie bei § 11 Abs. 2 GmbHG haftet gem. § 41 Abs. 1 AktG derjenige persönlich, der vor der Eintragung der AG in ihrem Namen handelt.2 Die Haftung beginnt mit der Feststellung der Satzung. Diese Haftung erfasst nicht die Haftung im Rahmen gesetzlicher Schuldverhältnisse, so dass keine Haftung für Steuern nach dieser Vorschrift in Betracht kommt (s. Rz. 2.305). Die Haftung der Gründungsgesellschafter einer Vor-AG richtet sich nach der Gründungshaftung bei der GmbH.3 Bei einer Kommanditgesellschaft auf Aktien haftet mindestens ein Gesellschaf- 2.325 ter persönlich unbeschränkt und die übrigen sind am Grundkapital in Form von Aktien beteiligt. Da sie für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht haften, bezeichnet man sie als Kommanditaktionäre. Es gelten für diese Gesellschaftsform die Vorschriften des ersten Buches über die Aktiengesellschaft (§§ 1–277 AktG) entsprechend. Dieses ergibt sich aus § 278 Abs. 3 AktG. Eine Haftung bei einer stillen Gesellschaft entfällt für den stillen Gesellschaf- 2.326 ter. Eine stille Gesellschaft ist eine Innengesellschaft. Nur der Inhaber des Handelsgeschäfts wird gegenüber Dritten verpflichtet. Der stille Gesellschafter ist am Gewinn und ggf. auch am Verlust beteiligt. In Form der atypisch stillen Gesellschaft ist der stille Gesellschafter im Verhältnis zu dem Inhaber des Handelsgewerbes an dem ganzen Gesellschaftsvermögen beteiligt, auch an dem vor der Einlage vorhandenen. Er nimmt in diesem Fall z.B. an den stillen Reserven teil. Da nur der Inhaber des Handelsgewerbes gegenüber Dritten gem. § 230 1 S. im Einzelnen Lips/Randel/Werwigk, DStR 2008, 2225. 2 BAG, Urt. v. 12.7.2006 – 5 ZAR 613/05, NJW 2006, 3230. 3 OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.12.1997 – 1 U 170/97, FN-IDW 1999, 32.

113

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

Abs. 2 HGB verpflichtet ist, haftet der stille Gesellschafter Gläubigern gegenüber nicht. Dieses gilt auch für einen atypisch stillen Gesellschafter.1 2.327

Überblick zur Haftung der Gesellschafter Haftung der Gesellschafter

Allgemeine Haftungsgrundlage

(+)

§ 128 HGB analog

(+)

§ 128 HGB

§§ 161, 128 Komplementär (+); HGB Kommanditist (–, +)

(+)

Haftungsumfang

Hinweis auf spez. Haftungsnormen

BGB-Gesellschaft keine Persönliche, unbeschränkte Gesamtschuld für Betriebssteuern [USt, GewSt, GrESt u. steuerliche Nebenleistungen (str.)] u. LSt grds. bei Neugesellschaften auch für Altschulden OHG Persönliche, unbeschränkte Gesamtschuld für Betriebssteuern (USt, GewSt, GrESt u. steuerliche Nebenleistungen, str.) u. LSt KG Komplementär: Persönliche, unbeschränkte Gesamtschuld für Betriebssteuern (USt, GewSt, GrESt u. steuerliche Nebenleistungen, str.) u. LSt Kommanditist: Persönliche, auf zu leistende Einlage beschränkte Haftung

Verjährung der allg. Haftung 5 Jahre gem. § 159 Abs. 1 HGB analog

keine

5 Jahre gem. § 159 Abs. 1 HGB

Kommanditist: § 176 Abs. 1 HGB

5 Jahre gem. § 159 Abs.1 HGB analog

GmbH I. Vorgründungsgesellschaft u. „unechte“ Vor-GmbH s. oben BGB-Gesellschaft II. „Echte“ Vor-GmbH §§ 9, 9a, 5 Jahre Rspr. des BGH Persönliche, unbeschränkte Teil11 Abs. 2 gem. § 159 schuld für Betriebssteuern (USt, (GmbHR GmbHG Abs. 1 GewSt, GrESt u. steuerliche Ne2003, 97), HGB BAG (GmbHR benleistungen, str.) u. LSt, jedoch analog grds. nur gegenüber der Gesell2006, 756), BSG (GmbHR schaft; Ausnahme Durchgriffshaftung, wenn 2000, 425) u. BFH (BStBl. II – Einmann-Vor-GmbH – Gesellschaft vermögenslos 2010, 991) – nur ein Gläubiger

1 BFH, Urt. v. 22.5.1969 – V R 28/66, BStBl. II 1969, 603; FG Saarland, Beschl. v. 21.2.1989 – 2 V 12/89 (rkr.), EFG 1989, 388; Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 41.

114

D. Sonstige Haftende Haftung der Gesellschafter (–, +)

Allgemeine Haftungsgrundlage

Grds. (–), im Ausnahmefall § 826 BGB (z.B. bei Rechtsformmissbrauch, beim existenzvernichtenden Eingriff)

Haftungsumfang

III. Eingetragene Gesellschaft Im Ausnahmefall persönliche, unbeschränkte Gesamtschuld für Betriebssteuern [USt, GewSt, GrESt u. steuerliche Nebenleistungen, (str.)] u. LSt

Hinweis auf spez. Haftungsnormen §§ 24, 26 ff. 30, 31 GmbHG

Verjährung der allg. Haftung 5 Jahre gem. § 159 Abs. 1 HGB analog

D. Sonstige Haftende Schrifttum: Dißars, Die vereinsrechtliche Haftung der Vereinsmitglieder für (steuerliche) Verbindlichkeiten des Vereins, DStZ 1996, 37; Werner, Die Haftung des Vorstands für Steuerschulden des Vereins, INF 2004, 20; Küntzel, Die Haftung des Kontrollorgans bzw. von Kontrollorganmitgliedern einer Stiftung, DB 2004, 2303; Jachmann/Klein, Die englische „private limited company“ im deutschen Haftungs- und Steuerrecht, StB 2005, 374.

Neben den Gesellschaftern und Geschäftsführern kommen als weitere Haften- 2.328 de die Vereinsmitglieder und die Genossenschaftsmitglieder in Betracht.1 Auf spezielle Körperschaftsformen wie den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit wird nicht eingegangen. Zunächst wird die Haftung für Vereinsverbindlichkeiten behandelt.

I. Haftung von Vereinsmitgliedern Schrifttum: Bruschke, Die Haftung für Vorstände, Organ- und Vereinsmitglieder unter Geltung des „Ehrenamtsstärkungsgesetzes“, StB 2013, 278.

Zu unterscheiden ist zwischen dem rechtsfähigen und nichtsrechtsfähigen Ver- 2.329 ein. Beim rechtsfähigen Verein, der seine Rechtsfähigkeit entweder durch Eintragung in das Vereinsregister oder durch staatliche Verleihung erlangt hat, haftet grundsätzlich nur das Vereinsvermögen. Die Mitglieder eines eingetragenen Vereins haften daher grundsätzlich nicht persönlich. Jedoch ist auch hier – wie bei der GmbH – zwischen den einzelnen Entstehungsphasen zu unterscheiden. Bevor die Haftung beim rechtsfähigen Verein in seinen Entwicklungsstufen dargestellt wird, ist auf das Haftungsrecht beim nichtrechtsfähigen Verein einzugehen.

1 Zur Haftung der Organe des Vereins oder Genossenschaft s. Haftung nach § 69 AO (Rz. 2.1 ff.) und Werner, INF 2004, 20.

115

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

1. Nichtrechtsfähiger Verein 2.330

Zu den Verbindlichkeiten eines nichtrechtsfähigen Vereins können Steuerschulden gehören, da auch ein solcher steuerrechtsfähig ist. Für diese Verbindlichkeiten des Vereins haftet zunächst das Vereinsvermögen. Ob auch die Vereinsmitglieder für diese Schulden einzustehen haben, ist fraglich. Nach § 54 Satz 1 BGB finden auf den nichtrechtsfähigen Verein die Vorschriften zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts Anwendung. Dieses hätte zur Folge, dass das Vereinsmitglied persönlich und unbeschränkt entsprechend § 128 HGB als Gesamtschuldner haften würde.1 Die persönliche Haftung will aber das Vereinsmitglied gewöhnlich ausschließen, wenn es in einen Verein eintritt. Dieses gilt zumindest für den Idealverein, der keine wirtschaftlichen Zwecke verfolgt. Da auch der Rechtsverkehr eine Haftung nicht erwartet, ist man der einhelligen Auffassung, dass die Mitglieder eines nichtrechtsfähigen Vereins, der keine wirtschaftlichen Zwecke verfolgt, nicht für Verbindlichkeiten des Vereins haften.2 Die Haftung des Mitglieds wird im Übrigen regelmäßig aufgrund der Satzung aber auf seinen Anteil am Vereinsvermögen beschränkt sein. Anders kann es sich beim nichtrechtsfähigen Verein mit wirtschaftlichem Zweck verhalten. Dieser Verein, der einem wirtschaftlichen Zweck i.S.d. § 22 BGB dient, kann sich wirtschaftlich betätigen wie eine AG oder GmbH, so dass es sachgerecht erscheint, hier die unbeschränkte Haftung des Mitglieds eintreten zu lassen.3 Ob dieser Standpunkt aufgrund der neueren Rechtsprechung des BGH, BAG und BSG gehalten werden kann, ist fraglich (vgl. hierzu die Ausführungen zum Vorverein Rz. 2.332). Neben dieser Haftung der Mitglieder tritt eine Haftung des Handelnden ein, der im Namen des Vereins Verpflichtungen eingeht. Unabhängig von seiner Stellung im Verein hat er für die Schulden zu haften. Auch Steuerschulden fallen nach h.M. darunter.4 Die Haftung bezieht sich – wie bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts – auch auf die steuerlichen Nebenleistungen.5 Der Anspruch aus § 54 Satz 2 BGB verjährt nicht nach fünf Jahren, wie es gem. § 159 HGB bei Ansprüchen gegen die Gesellschafter einer OHG, KG oder einer BGB-Gesellschaft der Fall ist. Die Verjährung richtet sich nach den Verjährungsfristen, die für den Anspruch gegen den Verein gelten.6 2. Rechtsfähiger Verein in seinen Entstehungsphasen a) Vorgründungsverein

2.331

Der Vorgründungsverein besteht in der Phase zwischen dem Entschluss, einen Verein gründen zu wollen, und der Errichtung der Vereinssatzung und ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts.7 Soweit er tätig wird und Steuerschulden entstehen, haften die Vereinsmitglieder für diese Steuerverbindlichkeiten – wie 1 2 3 4 5 6

S. Rz. 2.258 ff. zur Haftung der Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. BGH, Urt. v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, BGHZ 50, 325 (329); K. Schmidt, § 25 III. 2. Dißars, DStZ 1996, 37 (39) m.w. Nachw. Dißars, DStZ 1996, 37 (39) m.w. Nachw. So h.M., s. Rz. 2.258 ff. Haftung der Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft. LG Frankfurt, Urt. v. 25.5.1976 – 2/16 S 286/75, DB 1976, 2058; Ellenberger in Palandt, § 54 BGB Rz. 13. 7 Ellenberger in Palandt, § 21 BG Rz. 12; Dißars, DStZ 1996, 37 (40).

116

D. Sonstige Haftende

bei der Vorgründungsgesellschaft – unbeschränkt und persönlich als Gesamtschuldner analog § 128 HGB.1 Es ist auch hier zu beachten, dass das eintretende Mitglied wie bei der BGB-Gesellschaft auch für die Steuerschulden haftet, die vor Eintritt entstanden sind. Dabei dürfte eine Haftung für Altschulden nur für die Zeit nach Kenntnisnahme vom Urteil des BGH aus dem Jahr 2003 in Betracht kommen (s. oben Haftung der BGB-Gesellschafter Rz. 2.268). Ebenso ist hier die fünfjährige Verjährungsfrist der Ansprüche gegen die Gesellschafter gem. § 159 Abs. 1 HGB analog zu berücksichtigen.2 Die Ansprüche gegen die Gesellschafter erlöschen nicht, wenn es zum Vorverein oder zum eingetragenen Verein kommt, denn der Vorgründungsverein ist nicht identisch mit dem Vorverein und dem eingetragenen Verein. Letztere sind schon geprägt durch ihren körperschaftlichen Charakter (s. Rz. 2. 293 zur Haftung bei der Vorgründungsgesellschaft). b) Vorverein Mit der Errichtung der Satzung entsteht der Vorverein, der bis zur Eintragung 2.332 in das Vereinsregister bzw. bis zur Verleihung der Rechtsfähigkeit Bestand hat. Er ist – wie die Vor-GmbH – noch keine juristische Person. Anders als bei der GmbH ist er aber keine Gesellschaft sui generis, sondern ein nichtrechtsfähiger Verein. Die Haftung der Vereinsmitglieder richtet sich dementsprechend nach der Haftung der Mitglieder eines nichtrechtsfähigen Vereins. Somit ist zwischen wirtschaftlichem und nichtwirtschaftlichem Verein zu unterscheiden. Die Mitglieder eines nichtwirtschaftlichen Vereins haften nicht für dessen Steuerverbindlichkeiten. Beim wirtschaftlichen Verein haften die Vereinsmitglieder nach bisherigen Rechtsauffassungen unbeschränkt und persönlich für die Schulden des Vorvereins.3 Fraglich ist, ob nicht aufgrund der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe zur Haftung der Gesellschafter einer Vor-GmbH die Haftung nur im Innenverhältnis zum Verein besteht (s. Rz. 2. 296), so dass eine Außenhaftung in Form einer Durchgriffshaftung grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Die systematischen Erwägungen des BGH (s. Rz. 2. 298) könnten m.E. auch bei der Haftung der Vereinsmitglieder angeführt werden. Es bleibt abzuwarten, wie hier die Entwicklung weitergeht. Tritt jemand im Namen des Vereins als Handelnder auf, so haftet er persönlich 2.333 und unbeschränkt nach § 54 Satz 2 BGB. Diese Haftung des Handelnden ist von seiner Stellung innerhalb des Vereins unabhängig.4 Sie erlischt, wenn der Vorverein rechtsfähig wird,5 da wegen der Identität des Vorvereins mit dem eingetragenen Verein die Verpflichtungen auf letzteren übergehen.

1 S. zur Haftung der BGB-Gesellschafter Rz. 2.258 ff. und Dißars, DStZ 1996, 37 (40). 2 S. Rz. 2.274 zur Verjährung der Haftung der BGB-Gesellschafter; Dißars, DStZ 1996, 37 (40). 3 Ellenberger in Palandt, § 54 BGB Rz. 12 a.E. m.w. Nachw; K. Schmidt, § 18 IV 1.b.bb.; Dißars, DStZ 1996, 37 (40). 4 Ellenberger in Palandt, § 54 BGB Rz. 13. 5 OLG Celle, Urt. v. 7.11.1975 – 2 U 45/75, NJW 1976, 806; Ellenberger in Palandt, § 54 BGB Rz. 13.

117

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

c) Rechtsfähiger Verein 2.334

Mit Eintragung bzw. mit der Verleihung beim wirtschaftlichen Verein entsteht der rechtsfähige Verein. Wie erwähnt, gehen mit der Erlangung der Rechtsfähigkeit die Verbindlichkeiten des Vorvereins auf den rechtsfähigen Verein über.1 Es haftet nun für die Verbindlichkeiten des Vereins nur noch das Vereinsvermögen.2 Eine Haftung der Vereinsmitglieder ist grundsätzlich ausgeschlossen, da über die Rechtsform einer juristischen Person nicht leichtfertig oder schrankenlos hinweggegangen werden darf. Nur in den Fällen, in denen das Ergebnis zu untragbaren Lösungen führt, kann eine Durchgriffshaftung in Betracht kommen.3 Nähere Einzelheiten sind den Ausführungen über die Haftung der Gesellschafter bei einer eingetragenen GmbH zu entnehmen, die auch bei der Haftung der Vereinsmitglieder gelten (Rz. 2.307). 3. Haftung nach Auflösung des Vereins

2.335

Ist der Verein aufgelöst worden, so bleibt die Haftung der Vereinsmitglieder bestehen, wenn ihre Haftung während des Bestehens des Vereins begründet wurde.4 Die Ansprüche verjähren nach 5 Jahren analog § 159 HGB nach Auflösung des Vereins.

II. Haftung von Genossenschaftsmitgliedern 2.336

Die Genossen haften für Verbindlichkeiten der Genossenschaft nicht unmittelbar. Es besteht gem. § 105 GenG nur eine Nachschusspflicht im Insolvenzfall. Bei Genossenschaften mit unbeschränkter Nachschusspflicht ist jeder Genosse mit seinem gesamten Privatvermögen nachschusspflichtig. Er haftet auch für Verbindlichkeiten, die vor seinem Eintritt in die Genossenschaft entstanden sind (§ 23 Abs. 2 GenG). Bei Genossenschaften mit beschränkter Nachschusspflicht ist die Haftpflicht auf eine bestimmte Haftungssumme beschränkt, die nicht niedriger sein darf als der Geschäftsanteil (§ 119 Abs. 1 GenG) und in dem Statut der Genossenschaft festgehalten wird. Diese Haftpflicht kann aber später nach einem bestimmten Verfahren herabgesetzt oder ganz aufgehoben werden (vgl. §§ 22, 120 GenG).5 Auch nach Auflösung der Genossenschaft haben die Genossen für die Nachschusspflicht einzustehen.6

1 BGH, Urt. v. 14.11.1977 – II ZR 107/76, WM 1978, 115 (117). 2 Zur Inanspruchnahme des Vereins wegen unberechtigter ausgewiesener USt durch ein nichtberechtigtes Organ s. Hessisches FG, Urt. v. 28.4.2003 – 6 K 3750/99, EFG 2003, 1423. 3 Vgl. Ellenberger in Palandt, Einf. Vor § 21 BGB Rz. 12. 4 Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 58. 5 S. auch zur Haftung der Genossen Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 57. 6 Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 57.

118

D. Sonstige Haftende

III. Haftung bei einer englischen „private limited company“ Schrifttum: Eidenmüller, Geschäftsleiter- und Gesellschafterhaftung bei europäischen Auslandsgesellschaften mit tatsächlichem Inlandssitz, NJW 2005, 1618; Fittkau, Haftungssituationen bei ausländischen Gesellschaften, insbesondere am Beispiel der Limited, StBp 2005, 255; Heinz, Die Haftung in GmbH und englischer limited, AnwBl 2005, 417; Jachmann/Klein, Die englische „private limited company“ im deutschen Haftungs- und Steuerrecht, StB 2005, 374; Ressos, Zur Haftung des Geschäftsführers einer private limited company nach § 11 Abs. 2 GmbHG analog, DB 2005, 1048; Schröder/Schneider, Geschäftsführerhaftung bei einer Private Limited Company mit Verwaltungssitz in Deutschland, GmbHR 2005, 1288; Römermann, Die Limited in Deutschland – eine Alternative zur GmbH?, NJW 2006, 2065; Möhlenbrock, Die Behandlung einer britischen „Schein“-Limited im deutschen Recht, in FS Schaumburg, 2009, S. 913; Langer/Hammerl, Limited gelöscht: Die Umsatzsteuerkatastrophe, NWB 2012, 2054; Römermann, Limited: Anwendung des § 64 GmbHG auf den Direktor einer Limited englischen oder walisischen Rechts, GmbHR 2016, 24.

Es erfreut sich immer größerer Beliebtheit, statt als GmbH im Inland aufzutre- 2.337 ten, eine englische „private limited company“ in Großbritannien zu gründen und unter der Limited in Deutschland wirtschaftlich aktiv zu werden. Wegen der Niederlassungsfreiheit steht dem rechtlich nichts entgegen. Fraglich ist aber, nach welchem Recht die Akteure der Limited haften. Da der „Director“ der Limited dem deutschen Geschäftsführer ähnlich ist, kommt insbesondere seine Haftung in Betracht. Hier ist jedoch zu differenzieren. Soll der Director nach zivilrechtlichen Vorschriften, die gesellschaftsrechtlicher Natur sind, in Haftung genommen werden, so richtet sich die Haftung nach englischem Recht. Somit kommt eine Handelndenhaftung nach deutschem Recht, z.B. nach § 11 Abs. 1 GmbHG, womöglich auch eine Haftung aus existenzvernichtendem Eingriff und Unterkapitalisierung, nicht in Betracht. Der BGH hat hierzu entschieden, dass gesellschaftsrechtliche Ansprüche grundsätzlich dem Gesellschaftsstatut und damit dem englischen Recht unterliegen. Eine zivilrechtliche Haftung des Geschäftsführers oder Gesellschafters kommt daher nur nach einer Norm des englischen Rechts in Betracht.1 Dies gilt aber nicht für die Haftung nach § 64 Satz 1 GmbHG. Sie wird auch auf den Geschäftsführer einer Limited angewandt.2 Abgesehen davon gilt, dass sich die Haftung nach deutschem Recht richtet, wenn der Director der Limited nach einer öffentlich-rechtlichen Norm in Anspruch genommen wird. Somit kann daher der Director z.B. nach §§ 34, 35 i.V.m. § 69 AO oder nach § 71 AO in Haftung genommen werden.3 Dies gilt auch bei Zwischenschaltung einer weiteren Limited.4 1 BGH, Urt. 14.3.2005 – II ZR 5/03, GmbHR 2005, 630; AG Bad Segeberg, Urt. v. 24.3.2005 – 17 C 289/04, GmbHR 2005, 884; s. auch Schröder/Schneider, GmbHR 2005, 1288; Eidenmüller, NJW 2005, 1618; s. aber BGH, Urt. v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, GmbHR 2016, 592, wonach § 64 Satz. 1 GmbHG zur Anwendung kommen kann. 2 BGH, Urt. v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, GmbHR 2016, 592; s. auch Jäger, jM 2016, 319; Römermann, GmbHR 2016, 24. 3 Z.B. Sächsisches FG, Urt. v. 29.5.2008 – 6 K 40/07, juris; FG München, Beschl. v. 25.3.2010 – 14 V 244/10, GmbHR 2010, 951; FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 26.11.2015 – 9 V 9170/14, EFG 2016, 257; Jachmann/Klein, StB 2005, 374; Schwind, EFG 2016, 392; Cranshaw, jurisPR-InsR 25/2008 Anm. 6. 4 FG München, Beschl. v. 26.4.2006 – 14 V 133/06, juris.

119

Kap. 2 Haftung fr Pflichtverletzungen whrend der Betriebsfhrung

2.338

Beispiel: Der Director der Limited A ist die Limited B, deren Director die natürliche Person X ist. Hier kann nach §§ 34, 35 i.V.m. § 69 AO die Limited B und auch X in Anspruch genommen werden.

IV. Haftung bei einer Unternehmergesellschaft (UG – haftungsbeschränkt –) Schrifttum: Weber, Die Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), BB 2009, 842.

2.339

Am 1.11.2008 trat das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) in Kraft. Ein wesentliches Ziel dieses Gesetzes war es, das GmbHG grundlegend zu modernisieren und zugleich zu deregulieren. Zu diesen Deregulierungen zählt das Gesetz das Erleichtern, Beschleunigen und Verbilligen der Gründung der GmbH u.a. durch die Zulassung einer haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft ohne Mindeststammkapital (§ 5a GmbHG). Die Unternehmergesellschaft ist nach ihrer Konzeption eine GmbH, für die das GmbHG und alle die GmbH betreffenden anderen deutschen Gesetze und somit auch die steuerlichen Vorschriften gelten. Damit ist haftungsrechtlich die Unternehmergesellschaft wie eine GmbH zu behandeln (s. Rz. 2.307 ff.). Es kommt somit auch der Geschäftsführer einer Unternehmergesellschaft als gesetzlicher Vertreter einer juristischen Person als Haftungsschuldner gem. §§ 34, 69 AO in Betracht.1

1 FG Köln, Beschl. v. 24.11.2014 – 13 V 2905/14, juris; s. OFD Magdeburg, Leitfaden Haftung Stand 7.8.2013, S 0370-7-St 257, juris, unter B 1.2.1 Gesetzliche Vertreter (§ 34 Abs. 1 AO).

120

Kapitel 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermögensübergang A. Haftung des Betriebsübernehmers (§ 75 AO) I. Rechtsentwicklung, Zweck und Wesen der Betriebsübernehmerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen der Haftung 1. Unternehmen und gesondert geführter Betrieb . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff „Übereignung“ . . . . . 3. Übereignung eines lebenden Betriebs bzw. Unternehmens . . . 4. Übertragung der wesentlichen Grundlagen des Betriebs bzw. Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kein Haftungsausschluss (§ 75 Abs. 2 AO) . . . . . . . . . . . . . . a) Kein Erwerb aus der Insolvenzmasse . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kein Erwerb im Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . 6. Kein Dispositionsrecht . . . . . . . . III. Haftungsumfang 1. Haftung für Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge . . . . . . . a) Betriebssteuern . . . . . . . . . . . . b) Steuerabzugsbeträge . . . . . . . . 2. Haftungszeitraum . . . . . . . . . . . . 3. Festsetzungs- bzw. Anmeldungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gegenständliche Beschränkung der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Folgen für das zivilrechtliche Rechtsverhältnis des Veräußerers zu dem Erwerber . . . . . . . . . . . . . V. Ermessenshinweise . . . . . . . . . . . B. Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäfts (§ 25 HGB) . . .

3.1

3.7 3.14 3.27 3.32 3.34 3.36 3.37 3.38

3.39 3.44 3.46 3.47 3.52 3.57

3.62 3.66

I. Voraussetzungen der Haftung nach § 25 Abs. 1 HGB . . . . . . . . . II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausschluss der Haftung . . . . . . . IV. Besonderer Verpflichtungsgrund

3.72 3.81 3.83 3.84

C. Haftung bei Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB). . . . . . . . . . . . I. Voraussetzungen der Haftung . . II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . .

3.86 3.87 3.92

D. Haftung der Erben eines Handelsgeschäfts (§ 27 HGB) . . . . . . I. Voraussetzungen der Haftung . . II. Haftungsausschluss . . . . . . . . . . III. Besonderer Verpflichtungsgrund

3.95 3.98 3.100 3.102

E. Haftung der Erben nach BGB . . . I. Haftungsbeschränkungen. . . . . . 1. Eröffnung der Nachlassinsolvenz 2. Nachlassverwaltung . . . . . . . . . . 3. Einrede der Dürftigkeit des Nachlasses. . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftungsbeschränkung bei Miterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unbeschränkbare Haftung in bestimmten Fällen . . . . . . . . . . . IV. Problem Minderjährigenhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.103 3.106 3.109 3.110 3.111 3.112 3.113 3.114 3.115

F. Haftung beim Erbschaftskauf (§§ 2382, 2383 BGB) . . . . . . . . . .

3.116

G. Haftung nach Rechtsscheinsgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.119

3.69

A. Haftung des Betriebsübernehmers (§ 75 AO) Schrifttum: Heinke, Der Umfang der Haftung des Erwerbers in § 75 AO, DStZ 1980, 208; Mösbauer, Die Haftung des Betriebsübernehmers im Steuerrecht, INF 1989, 462; Brune, Der Erwerb eines vermieteten Grundstücks als zur Haftung nach § 75 AO führender Unternehmenskauf?, DStZ 1992, 135; Depping, Zur Haftung des Betriebsübernehmers gem. § 75 AO, DStZ 1994, 208; Brune, Die Haftung beim Erwerb eines Unternehmens nach § 75 AO, NWB Fach 2, 5805 ff.; Mösbauer, Übereignung eines Unternehmens oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes als Voraussetzung der Betriebsübernehmerhaftung nach § 75 AO, DStZ 1995, 481; Mösbauer, Zur sachlichen, zeitlichen und gegenständlichen Beschränkung der Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 AO, DStZ 1995, 705; Lutz, Die Haftung nach § 75 AO, StW 1999, 218; Krüger, Wege

121

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang zur Vermeidung der Haftung für Betriebssteuern beim Unternehmskauf, INF 2000, 173; Leibner/Pump, Die Vorschrift des § 75 AO und § 25 HGB – Wege zur zivilrechtlichen und steuerrechtlichen Haftungsvermeidung, DStR 2002, 1689; Stoscheck/Peter, Grundstückserwerber als Haftungsschuldner, AO-StB 2002, 414; Breuer, Haftung des Betriebsübernehmers – Reaktionsmöglichkeiten auf ein Haftungsrisiko, AO-StB 2002, 271; Leibner/Pump, Die Vorschriften des § 75 AO und § 25 HGB – Wege zur zivilrechtlichen und steuerlichen Haftungsvermeidung, DStR 2002, 1689; Leibner/Loy, Die Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäftes für Steuerverbindlichkeiten des Veräußerers nach § 191 AO i.V.m. § 25 HGB, StBp 2003, 313; Blesinger, Haftung und Duldung im Steuerrecht, Stuttgart 2005, S. 83; Klein, Steuerliche Haftungsrisiken beim Immobilienerwerb, DStR 2005, 1753; Zerres, Inhaberwechsel und haftungsrechtliche Konsequenzen, Jura 2006, 253; Watermeyer, Steuerhaftung bei Betriebsübergang, GmbH-StB 2006, 259; Schmittmann, Unternehmensübertragungen in der Krise, StuB 2006, 945; Nacke, Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 AO – Risiken und Möglichkeiten zur Vermeidung einer Haftung, NWB Heft 2/2007 Fach 2, 9241; Nacke, Die Haftung des Betriebsübernehmers, SteuerStud 2011, 9; Banerjee, Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag – effiziente Risikominimierung beim Unternehmenskauf, BB 2012, 1518; Wollweber, Steuerklauseln in Unternehmenskaufverträgen – Typische Problemstellungen in der Praxis, AG 2012, 789; Günther, Die Haftung des Betriebsübernehmers, StBW 2013, 988; Gehm, Die Haftung des Betriebsübernehmers gemäß § 75 AO – Risikoprofil in der Praxis, StBp 2015, 317; Froehner, Die Haftung des Erwerbers für rückständige Sozialversicherungsbeiträge beim Unternehmenskauf im Rahmen eines Asset Deals, GWR 2015, 202. Verwaltungsanweisungen: AO-Handbuch 2017

I. Rechtsentwicklung, Zweck und Wesen der Betriebsübernehmerhaftung 3.1

Wie die Fülle der finanzgerichtlichen Entscheidungen zeigt, ist die Haftung des Betriebsübernehmers in der Praxis nicht von untergeordneter Bedeutung. Eine detaillierte Betrachtung macht jedoch deutlich, dass die Haftung von vielen Voraussetzungen abhängig ist. Eine Inanspruchnahme des Erwerbers eines Betriebes bzw. Unternehmens kommt daher häufig nicht in Betracht. Versucht der zusammenveranlagte Ehegatte durch Übereignung seines Unternehmens auf den anderen Ehepartner und Aufteilungsantrag in Bezug auf die Steuerschuld der Inanspruchnahme durch das Finanzamt zu entgehen, kann eine Haftung nach § 75 AO für das Finanzamt der umständlichere Weg sein. Es wird unter Umständen in dieser Situation gem. § 278 Abs. 2 AO bis zur Höhe des gemeinen Werts des Unternehmens die Steuerschulden auch beim anderen Ehepartner vollstrecken können. Bevor die Voraussetzungen im Einzelnen behandelt werden, wird nachfolgend kurz ein Überblick über die Haftung gegeben.

3.2

Wird ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im Ganzen übereignet, so haftet der Erwerber gem. § 75 AO für die Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge. Diese Vorschrift entspricht dem § 116 Abs. 1 und 3 RAO von 1934, der wiederum auf § 96 der AO von 1919 beruht.1

1 v. Wallis in HHSp (1.–6. Aufl.), § 116 AO Rz. 1.

122

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Der Zweck der Vorschrift ist der Schutz vor dem Verlust der in dem Unterneh- 3.3 men als solcher liegenden Sicherung für die sich auf seinen Betrieb gründenden Steuerschulden durch den Übergang des Unternehmens in andere Hände.1 Die Haftung knüpft deshalb an die Übereignung eines Unternehmens (oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes) im Ganzen an. Die Übereignung eines Unternehmens im Ganzen bedeutet danach „den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens“, d.h. der durch das Unternehmen repräsentierten „organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen“, die dem Unternehmen dienen oder zumindest seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so dass der Übernehmer das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann.2 Der Zweck des § 75 AO unterscheidet sich damit von § 419 BGB a.F. und § 25 3.4 HGB. § 419 BGB a.F. lag der Gedanke zugrunde, das Unternehmen sei die „Kreditunterlage“ des Unternehmers. Er stellte auf den Vermögensübergang ab, während § 75 AO die wirtschaftliche Kraft erfasst.3 § 25 HGB verfolgt den Zweck einer Rechtsscheinhaftung. Der Gläubiger soll im Rechtsverkehr geschützt werden.4 Somit stehen die Anspruchsgrundlagen § 75 AO und § 25 HGB selbständig nebeneinander.5 Um den Erwerber zu schützen, sieht § 75 AO einige wesentliche Haftungs- 3.5 beschränkungen vor. So ist die Haftung des Erwerbers auf den Bestand des übernommenen Vermögens beschränkt. Damit gilt hier die gleiche Beschränkung wie in § 419 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. Auch entfällt die Haftung im Falle des Erwerbs aus einer Konkursmasse bzw. Insolvenzmasse (§ 75 Abs. 2 AO). Eine weitere Einschränkung liegt im Haftungsumfang. Der Erwerber haftet nur für die Steuern, die spätestens bis zum Ablauf eines Jahres nach Anmeldung des Betriebes durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet werden, darüber hinaus nur für die seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahres entstandenen Steuern. Bax hat zu Recht die Vorschrift des § 75 AO für verfassungsgemäß erachtet, 3.6 nicht zuletzt auch aufgrund der gesetzesimmanenten zeitlichen und sachlichen Haftungsbeschränkung.6

1 BFH, Urt. v. 27.5.1986 – VII R 183/83, BStBl. II 1986, 654 (655); Urt. v. 16.3.1982 – VII R 105/79, BStBl. II 1982, 483 (484) m.w. Nachw.; Urt. v. 28.11.1973 – I R 129/71, BStBl. II 1974, 145 = BFHE 111, 17; Mösbauer, S. 199; Halaczinsky, Rz. 291. 2 BFH, Urt. v. 27.5.1986 – VII R 183/83, BStBl. II 1986, 654 (655); Urt. v. 30.8.1962 – V 32/60 U, BStBl. III 1962, 455 = BFHE 75, 518. 3 Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 11. 4 FG Saarland, Urt. v. 11.12.2001 – 1 K 133/00, n.v.; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 2. 5 Koller/Roth/Morck, § 25 HGB Rz. 9; Brune, NWB Fach 2, 5805. 6 Vgl. Bax, S. 142 ff.

123

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

II. Voraussetzungen der Haftung 1. Unternehmen und gesondert geführter Betrieb 3.7

Die Haftung setzt zunächst voraus, dass ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im Ganzen übereignet wird.

3.8

Unternehmen i.S.d. § 75 AO ist dabei jede organisatorische Zusammenfassung von persönlichen und sachlichen Mitteln zur Verfolgung eines wirtschaftlichen oder ideellen Zwecks.1 Der Unternehmensbegriff i.S.d. § 75 AO ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH und der h.M. in der Literatur identisch mit dem Unternehmensbegriff in § 2 Abs. 1 UStG.2 Die inhaltliche Ausrichtung des haftungsrechtlichen Unternehmensbegriffs auf den umsatzsteuerlichen des § 2 Abs. 1 UStG wird auch durch die Entstehungsgeschichte des § 75 AO und seiner Vorgängervorschrift, des § 116 RAO, belegt. Die Gesetzesbegründung zu § 116 RAO nahm sogar ausdrücklich auf die umsatzsteuerrechtliche Begriffsbestimmung Bezug.3 Unternehmen i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 2 UStG ist die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit eines Unternehmers. Gewerblich ist dabei jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen. Auf die Absicht, Gewinn zu erzielen, kommt es u.a. nicht an. Unternehmer ist gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, wer die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt.

3.9

Problematisch ist u.a. die Haftung bei freiberuflicher Tätigkeit, insbesondere bei Schriftstellern und jungen Ärzten und Rechtsanwälten. Es kann in diesen Fällen an den persönlichen und sächlichen Mitteln fehlen, weil die Einrichtung und eine feste Praxis oder ein fester Mandanten- bzw. Patientenstamm fehlt. Eine Haftung aus diesem Grunde entfallen zu lassen4, ist m.E. nicht sachgerecht. Denn die Haftung knüpft an die wirtschaftliche Kraft des Unternehmens an. Zudem würde – wie Loose zu Recht hervorhebt – eine weite Auslegung des Unternehmensbegriffs nicht übermäßig die Haftung erweitern, da gem. § 75 Abs. 1 Satz 2 AO die Haftung ohnehin auf den Bestand des übernommenen Vermögens beschränkt wäre.5

1 BFH, Urt. v. 27.11.1979 – VII R 12/79, BStBl. II 1980, 258 (259); Urt. v. 28.11.1973 – I R 129/71, BStBl. II 1974, 145 (146); Mösbauer, S. 201; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 4. 2 BFH, Beschl. v. 7.3.1996 – VII B 242/95, BFH/NV 1996, 726; Urt. v. 11.5.1993 – VII R 86/92, BStBl. II 1993, 700 = BFHE 171, 27; Urt. v. 14.5.1970 – V R 117/66, BStBl. II 1970, 676; FG Köln, Urt. v. 5.8.2014 – 11 K 654/09, EFG 2014, 2106; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 4; Blesinger in Kühn/v. Wedelstädt, § 75 AO Rz. 1; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 22. Anders erfolgt die Auslegung des Begriffes der Übereignung eines Unternehmens oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes im Ganzen, der auch in § 1 Abs. 1a UStG genannt wird. Da die Vorschrift des § 1 Abs. 1a UStG auf EU-Recht beruht, können insoweit Unterschiede in der Auslegung bestehen (BFH, Urt. v. 18.1.2005 – V R 53/02, BFH/NV 2005, 810; Urt. v. 28.11.2002 – V R 3/01, BFH/NV 2003, 436). 3 S. Gesetzesbegründung zu § 116 RAO, RStBl. 1934, 1415; Mösbauer, DStZ 1995, 481 (482) m.w. Nachw. 4 So Mösbauer, S. 201 f.; Mösbauer, INF 1989, 462 (463). 5 FG Nürnberg, Urt. v. 13.11.1990, EFG 1991, 710; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 5.

124

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Umstritten ist auch die Haftung des Erwerbers von vermieteten Objekten. Der 3.10 Veräußerer ist umsatzsteuerlich als Unternehmer einzustufen, so dass der Erwerber für den Fall, dass der Veräußerer zur Umsatzsteuer optiert hat, für die Umsatzsteuer des Veräußerers haftet. Von der Literatur wird Letzteres zum Teil abgelehnt, weil die Haftung eines Einzelrechtsnachfolgers nicht mit dem Sinn und Zweck dieser Haftungsnorm vereinbar sei1 – oder die Verkehrsauffassung würde bei allen Fällen der vermögensverwaltenden Vermietung und Verpachtung dazu zwingen, den Unternehmensbegriff des § 75 AO einschränkend zu beurteilen2. Darüber hinaus könne die „Warnfunktion“ des Haftungstatbestands, wie sie Brune annimmt – vgl. das von ihm gebildete Beispiel des Erwerbs einer Eigentumswohnung, deren gewerbliche Zwischenvermietung dem Erwerber unbekannt ist –, in Sonderfällen zu einer einschränkenden Auslegung führen.3 M.E. ist der bisherigen Rechtsprechung zu folgen, die herausstellt, dass die Haftung nach § 75 AO nicht auf einem reinen Vermögensübernahmeprinzip beruht, sondern auf dem Gedanken, dass auf den Erwerber ein lebendes Unternehmen übergeht, dessen wirtschaftliche Kraft die Annahme rechtfertigt, der Erwerber werde Gewinne erwirtschaften oder sonstige Vorteile ziehen, mit denen er in die Lage versetzt wird, die Steuerschulden seines Vorgängers zu begleichen.4 Unbedingt gilt dieses in den Fällen, in denen dem Erwerber die gewerbliche Zwischenvermietung bekannt ist. Zur Haftung nach § 75 Abs. 1 AO kommt es auch dann, wenn zwar kein gan- 3.11 zes Unternehmen, wohl aber ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb (Teilbetrieb) vorliegt. Dieses ist dann der Fall, wenn ein organisch geschlossener Teil des gesamten Unternehmens mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet und für sich allein lebensfähig ist. Es muss eine Untereinheit im Sinne eines selbständigen Zweigbetriebs im Rahmen des Gesamtunternehmens vorliegen, die als eigenes Unternehmen bestehen könnte.5 Maßgebend ist die Gestaltung der Verhältnisse beim Veräußerer.6 Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, ist nach dem Gesamtbild 3.12 der tatsächlichen Verhältnisse zu entscheiden.7 Folgende Abgrenzungsmerkmale können u.a. herangezogen werden:

1 Halaczinsky, Rz. 296. 2 Rüsken in Klein, § 75 AO Rz. 8; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 6; Brune, DStZ 1992, 135 (138). 3 Brune, DStZ 1992, 135 (137). 4 Vgl. BFH, Beschl. v. 7.3.1996 – VII B 242/95, BFH/NV 1996, 726 (727); Urt. v. 11.5.1993 – VII R 86/92, BStBl. II 1993, 700 = BFHE 171, 27 = DStR 1993, 1256 = DStZ 1993, 669; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 23 ff.; Intemann in Koenig, § 75 AO Rz. 5. 5 St. Rspr., BFH, Urt. v. 13.2.1980 – I R 14/77, BStBl. II 1980, 498 = BFHE 130, 384; Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486. 6 BFH, Urt. v. 19.2.1976 – IV R 179/72, BStBl. II 1976, 415 = BFHE 118, 323; Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486; a.A. Halaczinsky, Rz. 298, der stärker auf die Sicht des Erwerbers und weniger auf die Sicht des Veräußerers abstellt. 7 BFH, Urt. v. 13.2.1980 – I R 14/77, BStBl. II 1980, 498 = BFHE 130, 384; Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486; Mösbauer, S. 202.

125

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

– Eine vom Hauptbetrieb getrennte Buchführung,1 – eine selbständige Geschäftsführung, – ein eigenes Inventar,2 – ein selbständiges Auftreten des Betriebsteils in der Art eines Zweigbetriebs im Rechtsverkehr,3 – die Tatsache, dass die selbständig geführte Betriebseinheit andere Aufgaben wahrnimmt als der Hauptbetrieb,4 – eine räumliche Trennung des Teilbetriebes von anderen Betriebsteilen,5 – die Möglichkeit eigener Preisgestaltung.6 Es ist nicht erforderlich, dass sämtliche Merkmale erfüllt sind, denn die Teilbetriebseigenschaft setzt nur eine gewisse Selbständigkeit voraus. 3.13

Beispielsweise hat der BFH einen selbständig geführten Teilbetrieb bei der Veräußerung eines von mehreren verlegerisch betreuten Fachgebieten an einen anderen Verlag angenommen.7 Die Veräußerung einer Filiale reicht nicht aus, wenn sie nicht selbst einkaufen und kalkulieren kann.8 Es kommt nicht darauf an, dass der Teilbetrieb noch aus einem anderen Betriebszweig herausgelöst werden muss.9 2. Der Begriff „Übereignung“

3.14

Eine weitere Voraussetzung für eine Haftung gem. § 75 Abs. 1 AO ist die Übereignung des Unternehmens. Übereignung im bürgerlichen Recht bedeutet die rechtsgeschäftliche Übertragung von Eigentum. Ein Unternehmen wird aber bürgerlich-rechtlich als solches nicht übereignet, sondern vielmehr seine einzelnen Wirtschaftsgüter.10 Somit werden bewegliche Sachen durch Einigung und Übergabe (§§ 929 ff. BGB), Immobilien durch Auflassung und Grundbucheintragung (§§ 873, 925 BGB), Forderungen durch Abtretung (§§ 398 ff. BGB) und sonstige Rechte ebenfalls durch Abtretung (§ 413 BGB) übereignet. Die Rechtsprechung wendet in diesem Sinne den Übereignungsbegriff an. An einer haftungsbegründenden Übereignung fehlt es danach, wenn eine Gesellschaft das Unternehmen als solches erwirbt, einzelne wesentliche Betriebsgrundlagen aber 1 BFH, Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486. 2 BFH, Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486; OLG Köln, Urt. v. 18.3.1994 – 6 U 211/93, DStR 1994, 1664. 3 BFH, Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486; Halaczinsky, Rz. 297. 4 BFH, Urt. v. 4.7.1973 – I R 154/71, BStBl. II 1973, 838 = BFHE 110, 245; OLG Köln, Urt. v. 18.3.1994 – 6 U 211/93, DStR 1994, 1664. 5 BFH, Urt. v. 2.8.1978 – I R 78/76, BStBl. II 1979, 15 = BFHE 126, 24 u. BStBl. II 1979, 557 = BFHE 128, 54. 6 BFH, Urt. v. 2.8.1978 – I R 78/76, BStBl. II 1979, 15 = BFHE 126, 24 u. BStBl. II 1979, 557 = BFHE 128, 54. 7 BFH, Urt. v. 15.3.1984 – IV R 189/81, BStBl. II 1984, 486. 8 BFH, Urt. v. 12.9.1979 – I R 146/76, BStBl. II 1980, 51 (53); Urt. v. 24.4.1980 – IV R 61/77, BStBl. II 1980, 690 (691); Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 7. 9 FG Bremen, Urt. v. 9.6.2004 – 2 K 279/03 (1), EFG 2004, 1268. 10 Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, § 1 Rz. 8.

126

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

von einem Gesellschafter erworben werden.1 Auf Veräußererseite und auf Erwerberseite müssen bei der Übereignung die gleichen Personen stehen.2 Auch fehlt es an einer Übereignung i.S.d. § 75 AO, wenn nicht alle wesentlichen Betriebsgrundlagen durch den Veräußerer übereignet werden. So hat der BFH im folgenden Fall entschieden.3 Die wesentlichen Betriebsgrundlagen des Veräußerungsgeschäfts waren in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall das Inventar von zwei Eiscafés und die gemieteten Geschäftslokale. Das Eigentum des Inventars eines Eiscafés befand sich im Miteigentum des Veräußerers (Unternehmers) und seiner Ehegattin, die bei der Übereignung des Inventars mitwirkte. Der BFH sah wegen des sachenrechtlichen Ausgangspunktes des § 75 AO keine Identität des veräußernden Unternehmers hinsichtlich der wesentlichen Betriebsgrundlagen für gegeben an. In den Fällen, in denen die Güter nicht im bürgerlich-rechtlichen Sinne übereignet werden können (z.B. bei Erfahrungen, Geheimnissen, Beziehungen zu Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern), genügt es, wenn sie im wirtschaftlichen Sinne übergehen, dass also ein eigentümerähnliches Herrschaftsverhältnis an den sachlichen Grundlagen des Unternehmens auf den Erwerber übergegangen ist.4 Dieses gilt ebenso für die Fälle, in denen der Veräußerer das zivilrechtliche Eigentum nicht innehat (z.B. als Sicherungsgeber).5 Entscheidend bei der Übereignung ist nicht die Erlangung des bürgerlichrecht- 3.15 lichen Eigentums. Nach der im Steuerrecht herrschenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist unter einer Übereignung i.S. von § 75 AO zum einen die zivilrechtliche Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern zu verstehen, allerdings in einem Umfang, der die Fortführung des vom Veräußerer betriebenen Unternehmens ermöglicht. Zum anderen reicht der Übergang eines Unternehmens auf einen anderen dergestalt aus, dass der Erwerber in der Lage ist, wirtschaftlich wie ein Eigentümer darüber zu verfügen, gleichgültig, ob er im bürgerlichrechtlichen Sinne Eigentümer geworden ist oder nicht.6 Für die Mandantenberatung ist aber festzuhalten:

Û

Hinweis: Bei Übertragung eines Unternehmens oder eines Betriebsteiles 3.16 kann durch bürgerlich-rechtliche Übertragung wesentlicher Betriebsgrundlagen auf verschiedene Rechtssubjekte nach der BFH-Rechtsprechung eine Haftung gem. § 75 Abs. 1 AO ausgeschlossen werden (z.B. Übertragung des Betriebsgrundstücks vom Veräußerer auf den Erwerberehegatten, während

1 BFH, Urt. v. 16.3.1982 – VII R 105/79, BStBl. II 1982, 483; FG Nürnberg, Urt. v. 26.1.1993 – II 190/92, EFG 1993, 559 (rkr). 2 Vgl. hierzu BFH, Beschl. v. 3.5.1994 – VII B 265/93, BFH/NV 1994, 762. 3 BFH, Beschl. v. 3.5.1994 – VII B 265/93, BFH/NV 1994, 762. 4 BFH, Urt. v. 16.3.1982 – VII R 105/79, BStBl. II 1982, 483 (485) = BFHE 135, 239; Urt. v. 18.3.1986 – VII R 146/81, BStBl. II 1986, 589 (591) = BFHE 146, 492; Urt. v. 19.1.1988 – VII R 74/85, BFH/NV 1988, 479; Beschl. v. 3.5.1994 – VII B 265/93, BFH/NV 1994, 762; FG Nürnberg, Urt. v. 24.9.1996 – II 118/94, EFG 1997, 195 (rkr). 5 BFH, Urt. v. 18.3.1986 – VII R 146/81, BStBl. II 1986, 589 (591) = BFHE 146, 492; Urt. v. 21.2.1989 – VII R 164/85, BFH/NV 1989, 617 (618); Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/ NV 1992, 712 (714); Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215 (216). 6 BFH, Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992 S. 712, 714; FG Nürnberg v. 30.3.2007 – II 299/2004, juris; FG München v. 25.11.2009 – 3 K 2360/06, EFG 2010, 689; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 24.

127

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

der andere Ehegatte als Unternehmer die anderen wesentlichen Betriebsgrundlagen erwirbt). Umgekehrt ist eine Haftung des Betriebsübernehmers auch dann ausgeschlossen, wenn er das Eigentum an einzelnen wesentlichen Betriebsgrundlagen nicht vom Veräußerer, sondern von einem Dritten erlangt.1 3.17

Folgt man der Rechtsprechung, so ergeben sich folgende Einzelfalllösungen: Eine Übereignung i.S.d. § 75 AO ist keine rechtsgeschäftliche Verpflichtung zur Übertragung2 Auch im Fall der Sicherungsübereignung liegt kein Veräußerungsgeschäft vor, da der Sicherungsnehmer zwar rechtlicher, aber nicht auch wirtschaftlicher Eigentümer geworden ist, denn der Sicherungsnehmer darf von seinen Rechten nur im Rahmen des Sicherungszwecks Gebrauch machen.3 Ebenso fehlt es an einer Übereignung im Fall der Bestellung eines Treuhänders, da er im Innenverhältnis an Weisungen des Treugebers gebunden ist.4 § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO rechnet daher die Wirtschaftsgüter auch dem Treugeber bzw. dem Sicherungsgeber zu. Hat z.B. der Veräußerer schon vor der Übereignung des Unternehmens wesentliche Betriebsgrundlagen einem Dritten zur Sicherheit übereignet, so ist er zwar nicht im strengen zivilrechtlichen Sinne Eigentümer. Er kann aber noch das wirtschaftliche Eigentum, d.h. die Möglichkeit, über den Einsatz der Gegenstände allein entscheiden zu können, auf den Erwerber übertragen, was für eine Haftung nach § 75 AO dann ausreicht.5 Im Fall der Übereignung wesentlicher Betriebsgrundlagen unter Eigentumsvorbehalt ist der Veräußerungsgegenstand dem Erwerber zuzurechnen, da er schon ein Anwartschaftsrecht an der Sache erlangt hat6 und wirtschaftlich eine eigentümerähnliche Herrschaftsstellung innehat.7

3.18

Beispiel: A liefert unter Eigentumsvorbehalt Waren an B. Gleichzeitig lässt sich A wesentliche Grundlagen des Unternehmens von B zur Sicherheit übereignen. Später überträgt B an A das Unternehmen. Die Haftung des A nach § 75 AO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil er vor der Übertragung des Unternehmens noch Eigentümer der Waren unter Eigentumsvorbehalt war und als Sicherungsnehmer rechtlich auch Eigentümer des Sicherungsgutes war8; denn das wirtschaftliche Eigentum befand sich im Zeitpunkt der Veräußerung bei B.

1 BFH, Beschl. v. 3.5.1994 – VII B 265/93, BFH/NV 1994, 762; vgl. auch Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 51. 2 FG Bremen, Urt. v. 9.6.2004 – 2 K 279/03 (1), EFG 2004, 1268; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 28. 3 BFH, Urt. v. 30.8.1962 – V 32/60 U, BStBl. III 1962, 455 = BFHE 75, 518; Urt. v. 20.7.1967 – V 240/64, BStBl. III 1967, 684; Mösbauer, S. 206; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 54. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 28; Mösbauer, S. 206; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 54. 5 BFH, Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712; Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215 (216); FG Baden-Württemberg, Urt. v. 31.8.1994 – 12 K 96/91, EFG 1995, 146 (148). 6 Putzo in Palandt, § 449 BGB Rz. 9; Brox, JuS 1984, 657. 7 BFH, Urt. v. 20.7.1967 – V 240/64, BStBl. III 1967, 684; Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712. 8 Vgl. BFH, Urt. v. 20.7.1967 – V 240/64, BStBl. III 1967, 684; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 54.

128

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Die Einzelfälle zeigen, dass es nicht allein auf das bürgerlich-rechtliche Eigen- 3.19 tum ankommt. Darüber hinaus ist der Begriff „Übereignung“ i.S.d. § 75 AO auch nach der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auszulegen, wie v. Wallis dieses zu Recht hervorhebt.1 Der Sinn und Zweck der Vorschrift, an der wirtschaftlichen Kraft des Unternehmens die Steueransprüche haften zu lassen, bestätigt überdies diese Auslegung. Bei Miet- oder Pachtrechten, die nicht bürgerlich-rechtlich übereignet werden, 3.20 reicht zur Übertragung der Rechte des Mieters oder Pächters aus, dass der bisherige Betriebsinhaber bei der Übertragung in irgendeiner Form mitwirkt. Hierfür ist es ausreichend, wenn er den Neuabschluss des Nutzungsvertrages initiierte, vermittelte, befürwortete oder auch nur billigte.2 Jedoch sind hierfür grundsätzlich eigene Handlungen und Tätigkeiten des Veräußerers erforderlich, die auf eine Übertragung seiner Rechte aus dem bestehenden Mietvertrag auf den Erwerber oder ein sonstiges Sorgen dafür, dass der Erwerber einen neuen Mietvertrag abschließen kann, schließen lassen.3 Ausnahmsweise kommt es auf eine Mitwirkung in diesem Sinne nicht an, wenn der Erwerber, vertreten durch seinen alleinigen Gesellschafter und Geschäftsführer, die Betriebsräume von diesem als dem Grundstückseigentümer gemietet hat und der Veräußerer damit einverstanden war.4 Beispiel: Der Veräußerer hat seine Geschäftsräume von der Brauerei gepachtet. Es fehlt am Erfordernis der Mitwirkung, wenn der Erwerber ohne Zutun des Veräußerers mit der Brauerei (Dritter) einen Pachtvertrag abschließt. Auch wenn die übrigen wesentlichen Betriebsgrundlagen vom Veräußerer übernommen wurden, liegen die Haftungsvoraussetzungen dann nicht vor, weil der Erwerber die Nutzungsmöglichkeit aufgrund des Pachtvertrages als wesentliche Betriebsgrundlage ohne Mitwirkung des Veräußerers erlangt hat.5

Û

3.21

Hinweis: Wird ein Unternehmen übertragen, zu dessen wesentlichen 3.22 Grundlagen auch gemietete Räume gehören, so entfällt die Haftung, wenn der Veräußerer an dem Abschluss des Mietvertrages mit dem Erwerber in keinerlei Weise mitwirkt.

Kein Fall des § 75 AO ist dagegen der Erwerb eines vermieteten Unternehmens. 3.23 Der Erwerber als neuer Verpächter oder Vermieter haftet nicht für die Betriebssteuern des Pächters.6 Auch liegt keine Übereignung i.S.d. § 75 AO vor, wenn der bisherige Unternehmensinhaber nicht sein bestehendes Eigentum am Betriebsgrundstück mit übereignet, sondern nur einen Miet- oder Pachtvertrag mit dem Erwerber als Pächter abschließt.7 1 v. Wallis in HHSp (vor Lfg. 157), § 75 AO Rz. 15. 2 BFH, Urt. v. 17.2.1988 – VII R 97/85, BFH/NV 1988, 755; Urt. v. 21.2.1989 – VII R 164/85, BFH/NV 1989, 617 (618); Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712 (714); Beschl. v. 19.5.1998 – VII B 281/97, BFH/NV 1999, 4; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 47. 3 BFH, Urt. v. 6.11.1990 – VII R 81/88, BFH/NV 1991, 718; FG Nürnberg, Urt. v. 24.9.1996 – II 118/94, EFG 1997, 195 (196) (rkr.); Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 47. 4 BFH, Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712. 5 BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 164/85, BFH/NV 1989, 617 (618). 6 BFH, Urt. v. 14.5.1970 – V R 117/66, BStBl. II 1970, 676; a.A. FG Baden-Württemberg, Urt. v. 27.2.2002 – 2 K 170/99, EFG 2002, 734. 7 BFH, Urt. v. 18.3.1986 – VII R 146/81, BStBl. II 1986, 589; Urt. v. 29.10.1985 – VII R 194/82, BFH/NV 1987, 358.

129

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

3.24

Wie schon erwähnt, können nicht alle Wirtschaftsgüter bürgerlichrechtlich übereignet werden. Insoweit ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise erforderlich. So ist zum Beispiel die Übertragung gewisser wirtschaftlich wertvoller Kenntnisse (technisches Know-how, Kundenlisten, Lieferantenbeziehungen etc.) aus wirtschaftlicher Betrachtungsweise zu beurteilen. Sind sie wesentliche Grundlagen des Unternehmens, so ist für die Bejahung der Haftung auch die Übertragung dieser Wirtschaftsgüter erforderlich.

3.25

Die Übereignung des Unternehmens muss nicht in einem Akt vollzogen werden. Sie kann auch in Teilakten erfolgen. Maßgeblich ist nur, dass die Übertragung der einzelnen Wirtschaftsgüter in einem engen wirtschaftlichen Zusammenhang erfolgt und von dem Willen des Erwerbers getragen ist, das Unternehmen im Ganzen zu erwerben.1 So fehlt es m.E. an der Übereignung des Unternehmens, wenn die einzelnen wesentlichen Grundlagen über einen längeren Zeitraum hinweg übertragen werden. Beabsichtigt z.B. ein Unternehmer, sich langsam aus dem Wirtschaftsleben zurückzuziehen, so kann er über mehrere Jahre hinweg seine einzelnen Wirtschaftsgüter (z.B. Grundstücke etc.) auf den späteren potentiellen Nachfolger übertragen, ohne diesen in die Haftung nach § 75 AO hineinwachsen zu lassen, denn es wird schwierig sein, z.B. noch den wirtschaftlichen Zusammenhang der ersten Grundstücksübertragungen mit der Übertragung der restlichen Wirtschaftsgüter, die einige Jahre später erfolgt, herzustellen. Der BFH verneinte einen einheitlichen Vorgang schon bei einer Zeitspanne von neun Monaten zwischen den Teilakten.2

3.26

Der Klarheit halber ist zu bemerken, dass § 75 AO nur eine rechtsgeschäftliche bzw. rechtsgeschäftsähnliche Übertragung des Unternehmens erfasst. Ein Eigentumsübergang kraft Gesetzes führt nicht zu einer Haftung nach § 75 AO. So fehlt es an der rechtsgeschäftlichen Übertragung, wenn der vorletzte Gesellschafter aus einer Personengesellschaft ausscheidet und sein Anteil am Gesellschaftsvermögen dem als Alleininhaber zurückbleibenden Gesellschafter kraft Gesetzes anwächst.3 3. Übereignung eines lebenden Betriebs bzw. Unternehmens

3.27

Da dem § 75 AO der Zweck zugrunde liegt, das übergegangene Unternehmen für die entstandenen Haftungsschulden einstehen zu lassen, indem der Erwerber damit Gewinne erwirtschaftet, aus denen diese Schulden bezahlt werden können, kann eine Haftung nur dann in Betracht kommen, wenn ein lebendes Unternehmen oder ein lebender Betrieb übereignet wird. Für die Beurteilung dieser Voraussetzung sind die Verhältnisse im Augenblick des Übergangs entscheidend.4 1 BFH, Urt. v. 16.3.1982 – VII R 105/79, BStBl. II 1982, 483 (485); Urt. v. 17.2.1988 – VII R 97/85, BFH/NV 1988, 755 (757); Beschl. v. 3.5.1994 – VII B 265/93, BFH/NV 1994, 762; Beschl. v. 19.5.1998 – VII B 281/97, BFH/NV 1999, 4; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 26; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 51. 2 BFH, Urt. v. 19.1.1988 – VII R 74/85, BFH/NV 1988, 479. 3 BFH, Urt. v. 9.2.1961 – V 107/59 U, BStBl. III 1961, 174; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 56. 4 BFH, Urt. v. 19.1.1988 – VII R 74/85, BFH/NV 1988, 479; Beschl. v. 21.6.2004 – VII B 345/03, BFH/NV 2004, 1509.

130

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Es reicht aus, wenn die tatsächliche Möglichkeit eines lebenden Unternehmens bzw. Betriebs gegeben ist. Ein lebendes Unternehmen geht vor allem dann über, wenn der Erwerber in der Lage ist, das erworbene Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortzuführen.1 Es sind zwei Phasen zu unterscheiden. In der Phase vor der Übereignung ist ein lebendes Unternehmen auch noch dann 3.28 zu bejahen, wenn das Unternehmen zwar im Zeitpunkt der Übereignung nicht mehr tätig ist – es liegt still –, jedoch die wirtschaftliche Kraft des Unternehmens noch existiert, so dass es ohne wesentlichen Aufwand wieder aktiviert werden kann.2 So ist eine kurzfristige Stilllegung des veräußerten Unternehmens von ca. vier Wochen unerheblich.3 Im Gegensatz dazu ist aber von keinem lebenden Unternehmen auszugehen, wenn der Veräußerer sein Unternehmen endgültig aufgegeben hatte und es daraufhin längere Zeit vor dem Erwerb stillag. So hat der BFH in einer älteren Entscheidung ein lebendes Unternehmen verneint, weil der Veräußerer 11 Monate vor der Übereignung den Betrieb stillgelegt hat und der Erwerber ihn nur mit großem Aufwand wieder in Gang gebracht hat.4 In einer späteren Entscheidung hat der BFH hervorgehoben, dass bei einer Stilllegungszeit von 21/2 Jahren eine Haftung gem. § 75 AO von vornherein ausgeschlossen ist.5 Bei der Beurteilung der Phase nach der Übereignung ist zu beachten, dass aus ei- 3.29 ner Stilllegung im Anschluss an die Übereignung nicht der Schluss gezogen werden kann, es sei kein lebendes Unternehmen übergegangen. Es kann auch für den Erwerber Sinn machen, ein lebendes Unternehmen aufzugeben, wenn z.B. ein bisheriges Konkurrenzunternehmen ausgeschaltet werden soll. Für die Haftung nach § 75 AO ist es auch bedeutungslos, ob der Erwerber das Unternehmen selbst fortführt, es verpachtet oder veräußert. Erforderlich ist allein, dass alle wesentlichen Betriebsgrundlagen erlangt wurden, die eine Fortführung des Unternehmens möglich machen würden.6 Der veräußerte Betrieb bzw. das Unternehmen muss mit dem erworbenen Un- 3.30 ternehmen bzw. Betrieb identisch sein. Werden umfangreiche Gestaltungsänderungen am Unternehmen vorgenommen, so fehlt es an der Übernahme eines lebenden Organismus. Dagegen sind Modernisierungsmaßnahmen für die Frage, ob ein lebendes Unternehmen übergegangen ist, ohne Belang.7 Auch eine Weiterführung des Betriebs nur im eingeschränkten Umfang schließt nach der Rechtsprechung des VII. Senats des BFH die Haftung des Erwerbers nicht aus.8 1 BFH, Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712; BFH, Urt. v. 7.11.2002 – VII R 11/01, BStBl. II 2003, 226; Urt. v. 12.1.2011 – XI R 11/08, BStBl. II 2011, 477. 2 BFH, Urt. v. 4.2.1974 – IV R 172/70, BStBl. II 1974, 434 (435); Urt. v. 9.7.1985 – VII R 126/80, BFH/NV 1986, 65; FG Saarland, Urt. v. 11. 12 2001 – 1 K 133/00, n.v. 3 BFH, Urt. v. 12.3.1985 – VII R 140/81, BFH/NV 1986, 62 (63); Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 17. 4 BFH, Urt. v. 13.12.1962 – V 246/60, HFR 1963, 410. 5 BFH, Beschl. v. 12.1.1988 – VII R 44/87, BFH/NV 1988, 615; vgl. auch Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 37. 6 Brune, NWB Fach 2, 5805 (5808). 7 v. Wallis in HHSp (vor Lfg. 157), § 75 AO Rz. 10. 8 BFH, Urt. v. 2.7.1985 – VII R 129/80, BFH/NV 1986, 573 (576); Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712.

131

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

Die Frage, ob umfangreiche Gestaltungsänderungen oder nur Modernisierungen vorgenommen worden sind, ist nur an Hand des Einzelfalles zu beantworten. 3.31

An einem lebenden Unternehmen kann es fehlen, wenn die Insolvenzeröffnung mangels Masse abgelehnt worden ist und die wesentlichen verwertbaren Betriebsgegenstände des Unternehmens im Eigentum Dritter stehen.1 Die Ablehnung der Insolvenzeröffnung mangels Masse ist zumindest ein Indiz für das Fehlen eines lebenden Unternehmens.2 Wird das Unternehmen mit den gleichen Kunden nur im eingeschränkten Umfang vom Erwerber weiter betrieben, dürfte dagegen ein lebender Betrieb noch angenommen werden können.3 Dagegen kommt es auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens in der Regel nicht an.4 Dessen Überschuldung steht der Annahme eines lebenden Unternehmens nicht entgegen.5 4. Übertragung der wesentlichen Grundlagen des Betriebs bzw. Unternehmens

3.32

Die Haftung des Erwerbers für bestimmte Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge des Veräußerers nach § 75 AO setzt voraus, dass ein Betrieb bzw. Unternehmen im Ganzen übereignet wird. Die Übereignung eines Unternehmens im Ganzen bedeutet den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens, d.h. der durch das Unternehmen repräsentierten organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen, die dem Unternehmen dienen oder mindestens seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so dass der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann.6 Hieraus folgt, dass eine Übernahme der Passiva nicht erforderlich ist. Denn die Haftung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Unternehmen ohne Forderungen und Verbindlichkeiten übernommen wird.7

3.33

Die Zurückbehaltung einzelner unbedeutender Gegenstände ist unbeachtlich.8 Umgekehrt schließt die Neuanschaffung einzelner Inventarstücke die Haftung nicht aus.9 Auch ist unerheblich, ob der Betrieb nur in eingeschränktem Um1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH, Urt. v. 8.7.1982 – VR 138/81, BStBl. II 1983, 282 (283). BFH, Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215 (216). Vgl. Niedersächsisches FG, Urt. v. 16.8.2010 – 11 K 245/09, EFG 2010, 2064. FG München, Urt. v. 24.1.2008 – 14 K 4361/06, juris. BFH, Urt. v. 9.7.1985 – VII R 126/80, BFH/NV 1986, 65; Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712; FG Baden-Württemberg, Urt. v. 31.8.1994 – 12 K 96/91, EFG 1995, 146 (147); FG Saarland, Urt. v. 7.11.2000 – 1 K 91/00, n.v.; Halaczinsky, Rz. 304. BFH, Urt. v. 27.11.1979 – VII R 12/79, BStBl. II 1980, 258 (259); Urt. v. 18.3.1986 – VII R 146/81, BStBl. II 1986, 589 (591) = BFHE 146, 492; Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/ NV 1992, 712 (714). FG Baden-Württemberg, Urt. v. 31.8.1994 – 12 K 96/91, EFG 1995, 146 (rkr.); FG Bremen, Urt. v. 9.6.2004 – 2 K 279/03 (1), EFG 2004, 1268; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 20. BFH, Urt. v. 20.11.1962 – I 238/61 U, BStBl. III 1963, 58; Urt. v. 19.12.1968 – V 225/65, BStBl. II 1969, 303; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 18; Mösbauer, INF 1989, 462 (463). BFH, Urt. v. 9.7.1985 – VII R 126/80, BFH/NV 1986, 65; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 18.

132

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

fang – bedingt z.B. durch organisatorische Veränderungen – weitergeführt wird.1 Entscheidend ist nur, dass der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte Investitionen fortführen könnte.2 Ob die Rechtsbeziehungen zu den Arbeitnehmern wesentliche Grundlage des Unternehmens sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls.3 In jedem Fall reicht dann für die Haftung aus, wenn ein Teil der Arbeitnehmer des veräußerten Unternehmens vom Erwerber übernommen wurden.4 Im Übrigen kommen als wesentliche Grundlagen vor allem das Warenlager, das Geschäftsgrundstück, die Maschinen, das Inventar, die Firma, der Internetauftritt5 und der Kundenstamm6 in Betracht, aber auch vermögenswerte Rechte und Kenntnisse können dazu gehören.7 Auch ein Händlervertrag kann wesentliche Grundlage sein.8 Im Einzelfall kann allein die Übertragung nur eines Grundstücks eine Haftung nach § 75 AO auslösen, wenn das Geschäftsgrundstück die wesentliche Betriebsgrundlage bildet.9 Auch die Übertragung eines eingeschränkten Restbetriebes (z.B. nur ein Teil der Maschinen wird übereignet) kann zur Haftung führen, wenn zu den wesentlichen Grundlagen andere Vermögenswerte zusätzlich gehören, die auch übereignet wurden.10 Eine Haftung ist auch für den Fall nicht ausgeschlossen, wenn der Erwerber im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Übergang des Betriebes erhebliche Investitionen in das Anlagevermögen vornimmt.11 Weiterhin muss es für die Haftung nicht schädlich sein, dass einzelne Gegenstände, die zwar zum Betrieb gehören, aber nicht als wesentliche Betriebsgrundlage anzusehen sind, vom Erwerber gekauft werden (z.B. die Schankanlage einer Gaststätte).12 5. Kein Haftungsausschluss (§ 75 Abs. 2 AO) In § 75 Abs. 2 AO sind Fälle geregelt, in denen von vornherein eine Haftung ausgeschlossen ist. Nach § 75 AO kommen zwei Haftungsausschlüsse in Betracht: 1 BFH, Urt. v. 7.11.2002 – VII R 11/01, BStBl. II 2003, 226. 2 BFH, Urt. v. 7.11.2002 – VII R 11/01, BStBl. II 2003, 226 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 26.3.1985 – VII R 147/81, BFH/NV 1986, 64; Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712 (714). 4 BFH, Urt. v. 26.3.1985 – VII R 147/81, BFH/NV 1986, 64; Urt. v. 10.12.1991 – VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712 (714). In dem der zuletzt genannten Entscheidung zugrunde liegenden Fall wurden die Arbeitnehmer wieder eingestellt und somit war die Frage, ob arbeitsrechtlich vorherige Kündigungen der Arbeitsverhältnisse nach § 613a BGB wirksam waren, nicht zu entscheiden. 5 FG Nürnberg, Urt. v. 11.3.2014 – 2 K 929/12, EFG 2014, 1642 zum Gebrauchtwagenhandel. 6 BFH, Urt. v. 27.11.1979 – VII R 12/79, BStBl. II 1980, 258 (260); Urt. v. 7.11.2002 – VII R 11/01, BStBl. II 2003, 226; Beschl. v. 21.6.2004 – VII B 345/03, BFH/NV 2004, 1509; FG Nürnberg, Urt. v. 11.3.2014 – 2 K 929/12, EFG 2014, 1642 zum Gebrauchtwagenhandel; Rüsken in Klein, § 75 AO Rz. 16. 7 Mösbauer, INF 1989, 462 (464). 8 BFH, Beschl. v. 21.6.2004 – VII B 345/03, BFH/NV 2004, 1509. 9 BFH, Urt. v. 25.11.1965 – V 173/63 U, BStBl. III 1966, 333; Mösbauer, INF 1989, 462 (464); Leibner/Pump, DStR 2002, 1689 (1691). 10 BFH, Urt. v. 7.11.2002 – VII R 11/01, BStBl. II 2003, 226 (227 f.). 11 BFH, Urt. v. 7.11.2002 – VII R 11/01, BStBl. II 2003, 226 (228); FG Bremen, Urt. v. 9.6.2004 – 2 K 279/03 (1), EFG 2004, 1268. 12 FG Nürnberg, Urt. v. 14.3.2000 – II 95/98, II 95/1998, n.v.

133

3.34

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

– kein Erwerb im Zwangsvollstreckungsverfahren sowie – kein Erwerb im Insolvenzverfahren. 3.35

Diese Regelung ist in vielen Fällen genau zu prüfen, da häufig die Zahlungsschwierigkeiten des Veräußerers damit im Zusammenhang stehen, dass das Unternehmen kurz vor der Insolvenz steht. Im Einzelnen gilt Folgendes zum Haftungsausschluss: a) Kein Erwerb aus der Insolvenzmasse

3.36

Gem. § 75 Abs. 2 AO kommt eine Haftung für den Erwerb aus einer Insolvenzmasse nicht in Betracht.1 Dieser schon in § 116 Abs. 3 RAO enthaltene Ausschluss erfasst Veräußerungen von Unternehmen bzw. Betrieben aus einer Insolvenzmasse. Dabei muss die Veräußerung im Fall der Insolvenz zwischen Insolvenzeröffnung und Aufhebung des Insolvenzverfahrens erfolgt sein. Ist die Eröffnung mangels Masse abgelehnt worden, greift § 75 Abs. 2 AO nicht ein.2 Ebenso kommt es nicht zum Haftungsausschluss, wenn das Unternehmen bzw. der Betrieb nicht zur Insolvenzmasse gehört. Z.B. gilt dies, wenn der Betrieb unpfändbar ist oder ein Aussonderungsrecht gem. §§ 43 ff. AO besteht (z.B. Sicherungseigentum). In den Fällen der abgesonderten Befriedigung nach §§ 47 ff. InsO erfolgt diese zwar außerhalb des Insolvenzverfahrens, so dass ein Erwerb aus der Insolvenzmasse nicht erfolgt; gleichwohl ist die Haftung wegen eines Erwerbs im Vollstreckungsverfahren gem. § 75 Abs. 2 AO nicht gegeben. b) Kein Erwerb im Vollstreckungsverfahren

3.37

Auch der Erwerb im Vollstreckungsverfahren ist gem. § 75 Abs. 2 AO von der Haftung ausgeschlossen.3 Zu dem Vollstreckungsverfahren gehören alle Verfahren nach Maßgabe des 8. Buches der ZPO, des ZVG, der Verwaltungsvollstreckungsgesetze des Bundes und der Länder und solche nach dem 6. Teil der AO. Beim Erwerb vom Zwangsverwalter tritt nach Ansicht von Halaczinsky ein Haftungsausschluss nicht ein, da keine Verwertung nach dem Vollstreckungsrecht gegeben ist.4 M.E. ist dem nicht zuzustimmen, da auch die Zwangsverwaltung als eine Vollstreckungsart anzusehen ist5 und somit auch hier ein Erwerb im Vollstreckungsverfahren erfolgt. Der Fall des Erwerbs vom vorläufigen Insolvenzverwalter ist auch ein solcher im Vollstreckungsverfahren, wenn er im Ein-

1 Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und anderer Gesetze v. 19.12.1998, BGBl. I 1998, 3840. 2 FG München, Urt. v. 24.1.2008 – 14 K 4361/06, juris. 3 Diese Regelung war in § 116 RAO nicht enthalten, so dass eine Haftung bejaht wurde, vgl. v. Wallis in HHSp (1.–6. Aufl.), § 116 AO Rz. 7. 4 Halaczinsky, Rz. 329. 5 Stöber, § 146 Rz. 2.

134

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

vernehmen mit dem Insolvenzgericht erfolgt.1 Das vorläufige Insolvenzverfahren ist ein dem Insolvenzverfahren vorgeschaltetes Verfahren zur Sicherung des Schuldnervermögens. Der Unternehmenserwerb vom vorläufigen Insolvenzverwalter führt somit ebenfalls zum Haftungsausschluss. Dies gilt zumindest dann, wenn anschließend das Insolvenzverfahren eröffnet wird.2 6. Kein Dispositionsrecht Die Haftung nach § 75 Abs. 1 AO ist nicht abdingbar. Durch private Verein- 3.38 barung mit dem Veräußerer ist ein Haftungsausschluss nicht zu erreichen. § 75 Abs. 1 AO verfolgt den Zweck, dass aus den Erträgen des übernommenen Unternehmens die Steuerrückstände beglichen werden sollen. Ein vereinbarter Haftungsausschluss würde dem entgegenstehen.3

III. Haftungsumfang 1. Haftung für Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge Der Betriebsübernehmer haftet gem. § 75 Abs. 1 AO für die sog. Betriebssteu- 3.39 ern und für die Steuerabzugsbeträge, ebenso für die Vorauszahlungsschulden auf die betreffende Steuer, denn die Vorauszahlungsschulden sind auflösend bedingte Steuerschulden. Neben den Steuern muss er auch für Ansprüche des Finanzamts auf Erstattung von Steuervergütungen gem. § 37 Abs. 2 AO einstehen, weil der Erstattungsanspruch des Finanzamts für ohne rechtlichen Grund erstattete Steuern den Steuern gleichsteht (§ 75 Abs. 1 Satz 3 AO).4 Eine Haftung für Nebenleistungen i.S.d. § 3 Abs. 3 AO entfällt nach h.M., da es 3.40 sich nicht um Steuern i.S.d. § 75 AO handelt.5 Insbesondere ist somit die Haftung für Verspätungszuschläge, Zinsen, Säumniszuschläge, Zwangsgelder und Kosten ausgeschlossen. Fraglich ist, ob die Steuern beim Veräußerer entstanden sein müssen oder ob es 3.41 auch schon Steuern des Vorgängers sein können, für die der Veräußerer seinerseits zu haften hat.6 Denkt man zunächst nur an den Zweck der Haftungsvorschrift, Schutz vor dem Verlust der in dem Unternehmen als solchem liegenden Sicherung für die sich auf seinem Betrieb gründenden Steuerschulden zu gewähren, so könnte man hier an Einschränkungen der Haftung denken. Mit Übereignung auf den Letzterwerber geht ein Unternehmen über, dessen wirtschaftliche 1 Zum Erwerb vom Sequester BFH, Urt. v. 23.7.1998 – VII R 143/97, BStBl. II 1998, 765 = BFH/NV 1999, 99; FG Schleswig-Holstein, Urt. v. 30.9.1997 – IV 193/94, EFG 1998, 163 (164) (Vorinstanz); Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 67 ff. 2 FG München, Urt. v. 24.1.2008 – 14 K 4361/06, juris. 3 BGH, Urt. v. 20.9.2007 – III ZR 33/07, NJW 2008, 1085. 4 v. Wallis in HHSp (vor Lfg. 157), § 75 AO Rz. 32; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 38; a.A. Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 77. 5 FG Düsseldorf, Beschl. v. 13.3.1989 – 15 V 12/89, EFG 1989, 329 (330); Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 79; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 38; Rüsken in Klein, § 75 AO Rz. 34. 6 Bejahend Mösbauer, S. 208; Mösbauer, INF 1989, 464; Rüsken in Klein, § 75 AO Rz. 34.

135

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

Kraft nicht durch Steuerschulden des Vorunternehmers belastet ist, sei es z.B. weil die Haftungsvoraussetzungen nicht vorlagen oder weil Haftungsbescheide nicht erlassen worden sind, so dass auch eine Haftung des Letzterwerbers für Steuerschulden des Vorgängers nicht in Betracht käme.1 Bei dieser Sichtweise wird aber der Zweck der Vorschrift verkannt. Die Haftung ist allein sachbezogen an das übereignete Unternehmen und nicht an die Person des Eigentümers und Unternehmers geknüpft. Somit haftet der Letzterwerber für alle Betriebssteuern, egal ob es solche des Veräußerers oder seines Vorgängers sind.2 Ein anderer Fall ist die Haftung für Steuerschulden, die erst durch die Veräußerung entstehen. So hat der BFH die Inanspruchnahme des Erwerbers für Umsatzsteuer aus dem Veräußerungsgeschäft bejaht, weil diese Veräußerung den letzten Akt der sich auf seinen Betrieb gründenden Tätigkeit des Unternehmers darstellt.3 3.42

3.43

Û

Hinweis: Um die Haftung für die Umsatzsteuer aus dem Veräußerungsgeschäft aufzufangen, ist dem Erwerber zu empfehlen, einen Sicherheitseinbehalt in Höhe der Umsatzsteuer mit dem Veräußerer zu vereinbaren.4

Die Haftung für Umsatzsteuer aus der Veräußerung des Geschäfts ist jedoch durch die Einführung des § 1 Abs. 1a UStG wesentlich entschärft worden, wonach mit Wirkung v. 1.1.1994 Umsätze im Rahmen einer Geschäftsveräußerung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen nicht der Umsatzsteuer unterliegt.5 Da es aber auch nach neuem Recht umsatzsteuerauslösende Übertragungen gibt (z.B. im Wege der vorweggenommenen Erbfolge oder im Fall der unberechtigt ausgewiesenen nach § 14c Abs. 2 UStG geschuldeten Umsatzsteuer) und die Neuregelung im Schrifttum kritisiert wird, bleibt in Zukunft die Problematik erhalten.6 a) Betriebssteuern

3.44

Mit Betriebssteuern sind Steuern gemeint, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb eines Unternehmens gründet. Dies trifft zu, wenn die Steuerpflicht durch bestimmte, in den einzelnen Steuergesetzen enthaltene Tatbestandsmerkmale an den Betrieb eines Unternehmens geknüpft ist.7 Es muss sich daher um eine Steuer handeln, die ihrer Art nach nicht bei einem Nichtunternehmer anfallen kann. Bei Gemeindesteuern ist zu prüfen, ob § 75 AO überhaupt anwendbar

1 Vgl. Brune, NWB Fach 2, 5805 (5809). 2 BFH, Urt. v. 4.2.1974 – IV R 172/70, BStBl. II 1974, 434 (435); Rüsken in Klein, § 75 AO Rz. 34; Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 80; Mösbauer, S. 208; Mösbauer, INF 1989, 464. 3 BFH, Urt. v. 6.10.1977 – V R 50/74, BStBl. II 1978, 241 (242). 4 BFH, Urt. v. 11.5.1993 – VII R 86/92, BStBl. II 1993, 700 (702) = BFHE 171, 27 = DStR 1993, 1256 = BB 1993, 1648 = DStZ 1993, 669; Stellungnahme der Bundesregierung BTDrucks. VI/1982 zu § 16, 219. 5 S. Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts v. 21.12.1993 (BGBl. I, 2310). 6 Vgl. OFD Hannover v. 26.2.2002 – S 0012; zur Kritik Husmann, UR 1994, 333; Ammann, UR 1998, 285; zur Steuerbarkeit bei unentgeltlichen Übertragungen s. auch A 5 Abs. 5 UStR. 7 BFH, Urt. v. 6 10.1977 – V R 50/74, BStBl. II 1978, 241 (242); RFH, Urt. v. 15.6.1927 – IV A 192/27, RFHE 21, 217.

136

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

ist.1 Im Übrigen müssen auch für sie die Haftungsvoraussetzungen erfüllt sein. In Betracht kommen als Verbrauchsteuern z.B. die Getränkesteuer, die Speiseeissteuer, die Verpackungssteuer und die Vergnügungssteuer.2 Im Einzelnen handelt es sich insbesondere um folgende Betriebssteuern:

3.45

– Umsatzsteuer: Die Umsatzsteuer knüpft tatbestandlich an die Lieferung oder sonstige Leistung eines Unternehmers im Rahmen seines Unternehmens an. Mithin handelt es sich um eine Betriebssteuer. – Gewerbesteuer: Sie ist ebenfalls eine Betriebssteuer. Gem. § 2 Abs. 1 GewStG unterliegt jeder stehende Gewerbebetrieb, soweit er im Inland betrieben wird, grundsätzlich der Gewerbesteuer. – Verbrauchsteuern: Soweit sie bei der Herstellung anfallen, wie z.B. Biersteuer, Tabaksteuer und Schaumweinsteuer. b) Steuerabzugsbeträge Steuerabzugsbeträge sind Haftungsschulden des Betriebsinhabers. Es haftet also 3.46 der Betriebsübernehmer insoweit für Haftungsschulden des Betriebsveräußerers. Insbesondere fallen unter Steuerabzugsbeträge die Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer3, die Kapitalertragsteuer und die bei beschränkt Steuerpflichtigen im Steuerabzugsverfahren zu erhebende Einkommensteuer (§ 50a Abs. 5 EStG). 2. Haftungszeitraum Zwei Voraussetzungen werden in zeitlicher Hinsicht durch § 75 Abs. 1 Satz 1 3.47 2. HS AO festgesetzt: Die Steuern müssen seit dem Beginn des letzten vor der Übereignung liegenden Kalenderjahres entstanden und bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet worden sein. Der Zeitpunkt der Übereignung entscheidet somit über den Beginn des Haftungszeitraumes. Übereignungszeitpunkt ist der Tag, an dem wirtschaftlich das Unternehmen übergeht, also der Erwerber das Geschäft aufnehmen kann. Dabei ist auf die wesentlichen Betriebsgrundlagen abzustellen. Der Zeitpunkt der Entstehung der Steuer richtet sich nach der Bestimmung durch die Einzelsteuergesetze. Es lassen sich folgende Entstehungszeitpunkte unterscheiden. – Umsatzsteuer:

3.48

a) Bei Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG) entsteht die Steuer materiell-rechtlich mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 1a UStG). b) Bei Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten (§ 20 UStG) entsteht die Umsatzsteuer mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 1b UStG). 1 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 46. 2 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 43. 3 BFH, Beschl. v. 17.3.2008 – V B 173/06, BFH/NV 2008, 1108.

137

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

– Gewerbesteuer: Der Gewerbesteueranspruch entsteht mit Ablauf des Erhebungszeitraums, für den die Festsetzung vorgenommen wird (§ 18 GewStG). Der Vorauszahlungsanspruch entsteht gem. § 21 GewStG mit Beginn des Kalendervierteljahres, in dem die Vorauszahlung zu entrichten ist. – Verbrauchsteuern: Die Steuerschuld entsteht durch den tatsächlichen Übergang der steuerbefangenen Ware aus dem Herstellungsbetrieb in den freien Verkehr. – Steuerabzugsbeträge: Gem. § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG entsteht die Lohnsteuer in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Der laufende Arbeitslohn gilt als im Kalenderjahr bezogen, in dem der Lohnzahlungszeitraum endet (§ 38a Abs. 1 Satz 2 EStG). So ist z.B. die Lohnsteuer für den Monat Dezember 01 in 01 entstanden, selbst wenn der Lohn erst im Januar 02 ausgezahlt wurde. Die Kapitalertragsteuer entsteht gem. § 44 Abs. 1 Satz 2 EStG in dem Zeitpunkt, in dem die Kapitalerträge dem Gläubiger zufließen. 3.49

Fraglich ist nun, wann der Haftungszeitraum endet. Das Gesetz gibt keine Bestimmung her, wann das Ende des Haftungszeitraums konkret anzusetzen ist. Mit der Regelung, dass die Steuer seit dem Beginn des letzten vor der Übereignung liegenden Kalenderjahres entstanden sein muss, wurde lediglich der Beginn des Zeitraums, auf den sich die Haftung des Erwerbers für die Steuerrückstände des Veräußerers erstreckt, festgelegt. Ebenso wie in § 116 RAO ist mit dieser Fassung das Ende der Zeitspanne, über die sich die Haftung des Erwerbers für die fremde Steuerschuld hinzieht, nicht angesprochen. Bezüglich der Umsatzsteuer ist für das Ende des maßgeblichen Zeitraums darauf abzustellen, ob der bewirkte Umsatz dem Veräußerer oder dem Erwerber zuzurechnen ist. Unbeschadet des Umstandes, dass eine Umsatzsteuerschuld erst nach der Geschäftsveräußerung entstanden ist, kann sie gleichwohl von der Haftung nach § 75 AO erfasst werden, wenn der Umsatz dem Veräußerer zuzurechnen1, also wenn der Tatbestand für die Entstehung der Steuerschuld vor der Übereignung des Unternehmens an den Erwerber verwirklicht ist.2 Diese Bestimmung des Endes des Haftungszeitraums lässt sich über die Umsatzsteuer hinaus als Kriterium heranziehen. Denn – wie Loose hervorhebt – kann auch hier die Gesetzgeberintention angeführt werden. Es sollen zusätzliche Sicherheiten für die durch den Betrieb begründeten Steuern geschaffen werden.3

3.50

Beispiel: Die Übereignung des Betriebes erfolgt im März des Jahres 2011. Damit beginnt der Haftungszeitraum am 1.1.2010. Der Übernehmer haftet somit z.B. für die USt 2010 und für die USt ab Voranmeldungszeitraum Januar 2010 (§ 13 Abs. 1 UStG), für die Gewerbesteuer 2010, die mit Ablauf des Jahres 2010 entsteht (§ 18 GewStG), und für die Gewerbesteuervorauszahlungen ab 1.1.2010 (§ 21 GewStG).4

1 BFH, Urt. v. 28.1.1982 – V S 13/81, BStBl. II 1982, 490 (491); FG Baden-Württemberg, Urt. v. 31.8.1994 – 12 K 96/91, EFG 1995, 146 (148). 2 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 54; Mösbauer, INF 1989, 465. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 54. 4 Vgl. v. Wallis in HHSp (vor Lfg. 157), § 75 AO Rz. 34.

138

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Folgende Zeitschiene verdeutlicht den Haftungszeitraum

3.51

3. Festsetzungs- bzw. Anmeldungszeitraum Die Betriebssteuern bzw. Steuerabzugsbeträge, die in den Haftungszeitraum fallen, müssen weiterhin bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber angemeldet bzw. festgesetzt worden sein.

3.52

Der Beginn des Festsetzungs- bzw. Anmeldungszeitraums fällt mit dem Beginn 3.53 des Haftungszeitraums zusammen, da frühestens ab diesem Zeitpunkt die entstandene Steuer angemeldet bzw. festgesetzt wird. Das Ende des Festsetzungs- bzw. Anmeldungszeitraums ist mit einem Jahr nach 3.54 Anmeldung des Betriebs vorgegeben. Mit der Anmeldung ist die Anmeldung des Betriebs beim Finanzamt gem. § 138 AO gemeint.1 Damit ist dem Schutz des Erwerbers gedient. Er soll spätestens nach Ablauf eines Jahres seit der Anmeldung des Betriebes wissen, ob und in welcher Höhe er mit einer Haftung gem. § 75 AO zu rechnen hat.

Û

Hinweis: Der Erwerber kann diese Unsicherheit im Übereignungsvertrag 3.55 berücksichtigen, indem z.B. die Kaufpreishöhe von den Festsetzungen bzw. Anmeldungen der Steuern für den Haftungszeitraum abhängig gemacht und auf den Kaufpreis bis zum Ablauf der Festsetzungs- bzw. Anmeldungsfrist nur ein Abschlag gezahlt wird.2 Ersatzweise ist es möglich, einen selbständigen Erstattungsanspruch des Erwerbers für später festgesetzte oder angemeldete Steuern des Haftungszeitraums gegen den Veräußerer aufzunehmen oder von vornherein einen geminderten Kaufpreis zu vereinbaren, der die Unsicherheiten wegen der noch festzusetzenden bzw. noch anzumeldenden Steuern des veräußerten Betriebs schätzungsweise berücksichtigt. Die zuletzt genannte Möglichkeit hat den Vorteil, dass bestehende Unsicherhei-

1 FG Nürnberg, Urt. v. 16.1.2007 – II 128/2004, DStRE 2007, 1192. 2 Vgl. zu weiteren Möglichkeiten der Vermeidung von Unsicherheiten auch Leibner/ Pump, DStR 2002, 1689 (1691 f.).

139

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

ten wegen der Haftungsbeträge, die aufgrund von eingelegten Einsprüchen, Klagen etc. sehr lange bestehen bleiben können, endgültig mit dem Veräußerungsvertrag aus dem Weg geräumt sind. Bei dieser Regelung ist zu berücksichtigen, dass sich die Haftungssumme durch Änderungsbescheide nach Ablauf der Jahresfrist zwar verringern, aber nicht erhöhen kann.1 Damit sich Kaufinteressenten über rückständige Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge Klarheit verschaffen können, wäre eine Auskunft des Finanzamts hilfreich. Die Verwaltung weist in Verfügungen darauf hin, dass Auskünfte dieser Art mit Rücksicht auf das Steuergeheimnis nur mit Zustimmung des potentiellen Veräußerers erteilt werden dürfen.2 Werden Auskünfte erteilt, kann der Fall eintreten, dass später eine Inanspruchnahme für weitere nicht mitgeteilte Rückstände ermessensfehlerhaft ist. Der Hinweis, dass sich die festgesetzten Steuern im Zuge einer Außenprüfung erhöhen können, kann einen Ermessensfehler verhindern.3 3.56

Die Anmeldung des Gewerbes bei der Gemeinde reicht aber aus, wenn die Gemeinde die Finanzbehörde informiert.4 Dementsprechend steht der Anmeldung gleich, wenn das Finanzamt auf andere Weise Kenntnis von der Betriebsübernahme erlangt (z.B. durch eine Außenprüfung).5 Ergänzend ist zu beachten, dass es bei der Jahresfrist seit Anmeldung auf die Kenntnis derjenigen Behörde ankommt, die die Steuer festsetzt bzw. bei der die Steuer angemeldet werden muss. Bei der Gewerbesteuer ist dieses grundsätzlich die Gemeinde, während bei der Umsatzsteuer die Kenntnis des Finanzamts maßgeblich ist.6 4. Gegenständliche Beschränkung der Haftung

3.57

Die Haftung beschränkt sich gem. § 75 Abs. 1 Satz 2 AO auf den Bestand des übernommenen Vermögens. Anders noch die Regelung des § 116 RAO, die eine derartige Haftungsbeschränkung nicht vorsah.7 Das bedeutet, dass der Erwerber – wie bei § 419 Abs. 2 Satz 1 1. HS BGB a.F. – nur mit diesem Vermögen haftet. Die Haftung ist damit gegenständlich eingeschränkt, nicht jedoch wertmäßig, so dass ohne Rücksicht auf den Wert des übernommenen Unternehmens in einem auf § 75 AO gestützten Haftungsbescheid alle rückständigen betrieblichen Steuern und Steuerabzugsbeträge aufgenommen werden können.8 Aufgrund der gegenständlichen Haftungseinschränkung ist eine Vollstreckung des Haftungsbescheids nur in die übernommenen Gegenstände möglich bzw. treten an ihre 1 v. Wallis in HHSp (vor Lfg. 157), § 75 AO Rz. 38. 2 OFD München, Vfg. v. 23.11.2001 – S 0130 – 62 St311 –, StED 2001, 750; OFD Koblenz, Vfg. v. 16.10.1996 – S 0130 A – St 531, INF 1997 Heft 7, IV = FN-IDW 1997, 68; OFD Hannover, Vfg. v. 31.1.2002 – S 0196 – 9 – StO 321 –, StED 2002, 237; AEAO zu § 75 i.d.F. 12.1.2004. 3 Halaczinsky, Rz. 373; Mösbauer, INF 1989, 462. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 58; Schwarz in Schwarz/Pahlke, § 75 AO Rz. 48; a.A. Heinke, DStZ 1980, 208 (210). 5 Rüsken in Klein, § 75 AO Rz. 38. 6 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 58. 7 BFH, Urt. v. 14.1.1986 – VII R 111/79, BFH/NV 1986, 384 (386); Urt. v. 21.2.1989 – VII 164/85, BFH/NV 1989, 617 (619). 8 Blesinger, S. 92; Halaczinsky, Rz. 356.

140

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Stelle die Surrogate. Eine Haftung mit den Surrogaten ist in der Literatur umstritten. Insbesondere wird die Ansicht vertreten, der Erlös aus dem Verkauf des Haftungsgegenstandes würde für eine Vollstreckung aus dem Haftungsbescheid nicht zur Verfügung stehen.1 Das in § 281 BGB enthaltene Surrogationsprinzip sei nicht ein auch im öffentlichen Recht allgemein geltender Rechtssatz. Der Gesetzgeber habe im Hinblick darauf keine entsprechende Anwendung im Haftungsrecht geregelt, so dass er eine solche Geltung nicht beabsichtigt habe.2 Dem ist m.E. nicht zuzustimmen, da das Surrogationsprinzip dem Haftungszweck und selbst im zivilrechtlichen Gleichordnungsverhältnis dem mutmaßlichen Parteiwillen entspricht3, so dass ebenfalls im öffentlichen Recht dieses Prinzip gelten kann.4 Dies gilt nicht nur für Wirtschaftsgüter, die im Wege z.B. eines Tausches an die Stelle des übernommenen Vermögens treten, sondern auch für den Erlös aus einer Veräußerung des übernommenen Vermögens.5 Der Herausgabeanspruch hat sich hier in einen Zahlungsanspruch (zurück-)verwandelt. Auch der Anwendungserlass zur AO geht in Nr. 4.3. zu § 75 AO von der Haftung der Surrogate aus. Die Haftung mit den Surrogaten findet auch dort keine Grenze, wo mit dem Erlös aus dem Verkauf des Gegenstandes andere Wirtschaftsgüter angeschafft werden.6 Loose vertritt die Ansicht, dass eine Inanspruchnahme des Erwerbers über den 3.58 Wert des Unternehmens oder des Betriebs hinaus unzulässig sei, da man nur so zu vertretbaren Ergebnissen gelangt. Durch eine Verpflichtung zur Duldung der Vollstreckung bestehe die Gefahr, dass ein lebensfähiges Unternehmen unnötig zerschlagen werde.7 Diese Ansicht ist abzulehnen. Nicht eine rechnerische Haftung wurde in § 75 AO geregelt. Auf Wertschwankungen braucht keine Rücksicht genommen zu werden. Durch freiwillige Zahlung kann ohnehin die Vollstreckung verhindert werden.8 Im Rahmen der Prüfung der Haftungsbeschränkung wird zuweilen vorgetragen, 3.59 dass zum übernommenen Vermögen z.B. nicht das Inventar oder die Warenbestände gehören, da diese Gegenstände bereits vorher – wegen bestehender Darlehnshingaben – zur Sicherheit auf den Erwerber übertragen worden seien. Dieser Einwand ist nicht haltbar. Es kommt insoweit auf das wirtschaftliche Eigentum an, das erst mit der Übereignung des Unternehmens auf den Erwerber übergeht. Beim Sicherungsgut fällt dieses – mit Ausnahme des Eintritts des Sicherungsfal-

1 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 62; Rössler, NWB Fach 2, 3710; Halaczinsky Rz. 357; Schwarz in Schwarz/Pahlke, § 75 AO Rz. 50. 2 Rössler, NWB Fach 2, 3710. 3 Grüneberg in Palandt, § 285 BGB Rz. 2. 4 Im Ergebnis gl. A. BFH, Urt. v. 21.2.1996 – VII B 243/95, BFH/NV 1996, 661 (662 f.); FG München, Urt. v. 21.5.1985 – XI (XIII) 76/80 AO 2, EFG 1985, 587 (589); Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 103 f.; Brune, NWB Fach 2, 5805 (5812); Intemann in Koenig, § 75 AO Rz. 57; vgl. zur Surrogatshaftung auch Kommentierung zu § 74 AO. 5 Ebenso FG München, Urt. v. 21.5.1985 – XI (XIII) 76/80 AO 2, EFG 1985, 587 (589). 6 Boeker in HHSp, § 75 AO Rz. 104. 7 Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 61. 8 Gl. A. FG Nürnberg, Urt. v. 13.11.1990 – II 211/89 (rkr.), EFG 1991, 710; Loose in Tipke/ Kruse, § 75 AO Rz. 61; Brune, NWB Fach 2, 5805 (5811).

141

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

les – erst mit der Unternehmensübergabe dem Erwerber zu. Damit gehört das Sicherungsgut, obwohl es vorher zur Sicherheit auf den Sicherungsnehmer zivilrechtlich übergegangen ist, zur Haftungsmasse nach § 75 AO.1 3.60

Kommt es nach der Übereignung der Wirtschaftsgüter zu einer Anfechtung (z.B. nach § 133 InsO durch den Insolvenzverwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens beim Veräußerer), wird der Übertragungsakt rückabgewickelt. Diese Rückabwicklung führt dann dazu, dass das Wirtschaftsgut nicht mehr für eine Haftung zur Verfügung steht.2

3.61

Die gegenständliche Haftungsbeschränkung gem. § 75 Abs. 1 Satz 2 AO ist ein Prüfungspunkt, der grundsätzlich erst im Zwangsvollstreckungsverfahren und nur auf Einwendung hin relevant wird.3 Für die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides genügt der bloße Hinweis auf die gegenständliche Haftungsbeschränkung im Bescheid.4 Nur ausnahmsweise ist die Haftungsbeschränkung bereits im Verfahren gegen den Haftungsbescheid zu berücksichtigen, wenn unzweifelhaft feststeht, dass kein verwertbares Vermögen übernommen wurde.5

IV. Folgen für das zivilrechtliche Rechtsverhältnis des Veräußerers zu dem Erwerber 3.62

Liegen die oben erörterten Voraussetzungen der Haftung des Erwerbers gem. § 75 AO vor, so hat es zunächst den Anschein, dass der Veräußerer bei Haftungsinanspruchnahme des Erwerbers insoweit keine Zahlungsverpflichtungen mehr hat. Gegenüber dem Finanzamt ist dieses im Fall der Tilgung der Haftungsschuld durch den Erwerber zu bejahen. Jedoch gegenüber dem Erwerber kann die Zahlungspflicht bestehen bleiben. Verschweigt der Veräußerer dem Erwerber z.B. die Tatsache, dass noch Umsatzsteuerschulden aus vergangenen Voranmeldungszeiträumen bestehen, so kann der Erwerber ihn gem. § 826 BGB für die gezahlte Haftungsschuld in Anspruch nehmen.6 Regelmäßig ist der Veräußerer nämlich verpflichtet, auf die offene Steuerschuld hinzuweisen, da dieser Umstand für die Kaufentscheidung des Erwerbers von erheblicher Bedeutung ist. Auch liegt Arglist vor. Er hat zumeist bedingten Vorsatz und nimmt daher die Schädigung des Erwerbers billigend in Kauf. Er muss nicht konkret gewusst haben, dass der Erwerber gem. § 75 AO haften werde. Es reicht vielmehr aus, dass der Veräußerer die Möglichkeit der Inanspruchnahme in Kauf genommen hat. Da die arglistige

1 Vgl. BFH, Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215 (216). 2 Niedersächsisches FG, Urt. v. 16.8.2010 – 11 K 245/09, EFG 2010, 2064 mit Anm. Leitner. 3 BFH, Urt. v. 18.3.1986 – VII 146/81, BStBl. II 1986, 589 (590) = BFHE 146, 492 = DStR 1986, 723; Beschl. v. 2.11.2007 – VII S 24/07 (PKH), BFH/NV 2008, 333. 4 BFH, Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215 (217); Beschl. v. 27.10.2008 – XI B 202/07, BFH/NV 2009, 118; Leibner/Pump, DStR 2002, 1689 (1692). 5 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 31.8.1994 – 12 K 96/91, EFG 1995, 146 (148) (rkr.); FG Nürnberg, Urt. v. 13.11.1990 – II 211/89, EFG 1991, 710. 6 OLG Köln, Urt. v. 18.3.1994 – 6 U 211/93 (rkr.), DStR 1994, 1664.

142

A. Haftung des Betriebsbernehmers (§ 75 AO)

Täuschung regelmäßig sittenwidrig ist, hat der Veräußerer mit einer Inanspruchnahme zu rechnen. Auch ist der Veräußerer ausnahmsweise aufgrund einer Nebenpflicht zum Kauf- 3.63 vertrag verpflichtet, die Umsatzsteuer, die auf das Veräußerungsgeschäft entfällt, unverzüglich abzuführen (beachte aber Rz. 3.43). Unterlässt er dieses, so kann dem Erwerber aufgrund der Haftungsinanspruchnahme ein Schaden entstehen (z.B. Zinsschaden für die Inanspruchnahme eines Kredits), für den dann der Veräußerer ebenfalls haftet.1

Û

Hinweis: Um späteren Beweisproblemen im Vorfeld einer Unternehmens- 3.64 veräußerung aus dem Wege zu gehen, ist es ggf. ratsam, bestehende Steuerschulden (z.B. USt-Schulden aus den letzten Voranmeldungszeiträumen), die auf den Erwerber übergehen sollen, im Übertragungsvertrag nachrichtlich aufzunehmen. Damit kann ein späterer Arglistvorwurf vermieden werden.

Auch sollte die USt aus dem Veräußerungsgeschäft unverzüglich durch den Ver- 3.65 äußerer abgeführt werden, um einen Schaden, der durch die Inanspruchnahme des Käufers entsteht, zu verhindern.

V. Ermessenshinweise Die Beschränkung der Haftung nach § 75 Abs. 1 Satz 2 AO wird zwar grundsätz- 3.66 lich erst in der Zwangsvollstreckung und auch dann nur auf Einwendung hin relevant. Steht aber fest, dass die übernommenen Vermögenswerte untergegangen oder wertlos geworden sind, so ist eine Inanspruchnahme des Betriebsübernehmers ermessensfehlerhaft. Maßgeblich für diese Beurteilung ist insoweit letztlich der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung.2 Im Rahmen des Ermessens ist aber nicht zu prüfen, ob die Gegenstände unpfändbar sind. Diese Frage ist erst im Vollstreckungsverfahren relevant.3 Weiterhin ist zu beachten, dass neben einer Haftung nach § 75 AO auch eine Haftung des Geschäftsführers nach § 69 AO in Betracht kommen kann. Der Haftungsbescheid ist rechtswidrig, wenn in ihm insoweit nicht die fehlerfreie Ausübung des Auswahlermessens dokumentiert wurde.4

1 BGH, Urt. v. 29.4.1994 – V ZR 280/92, DStR 1994, 1193. 2 Niedersächsisches FG, Urt. v. 16.8.2010 – 11 K 245/09, EFG 2010, 2064; FG Düsseldorf, Urt. v. 17.1.1980 – VII 491/77 H, EFG 1980, 262; FG München, Urt. v. 21.5.1985 – XI (XIII) 76/80 AO 2, EFG 1985, 587; FG Nürnberg, Urt. v. 13.11.1990 – II 211/89, EFG 1991, 710; FG Saarland, Urt. v. 13.8.2001 – 1 K 123/00, EFG 2001, 1582; FG Saarland, Urt. v. 4.12.2001 – 1 K 111/00, n.v. 3 BFH, Urt. v. 14.5.2013 – VII R 36/12, BFH/NV 2013, 1905. 4 Zum Verhältnis zwischen §§ 75 AO und 69 AO s. auch BFH, Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215.

143

3.67

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

3.68

Prüfungsschema für eine Haftung des Betriebsübernehmers gem. § 75 AO I. Haftungsvoraussetzungen 1. bereignung eines Unternehmens oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert gefhrten Betriebes a) Unternehmen (+), wenn der Unternehmensbegriff des § 2 Abs. 1 UStG erfllt ist. b) Gesondert gefhrter Betrieb (+), wenn ein organisch geschlossener Teil des gesamten Unternehmens mit einer gewissen Selbstndigkeit ausgestattet und fr sich allein lebensfhig ist. c) bereignung (+), wenn brgerlich-rechtliches und wirtschaftliches Eigentum (§ 39 Abs. 2 AO) bergegangen ist. 2. Es muss ein lebendes Unternehmen/lebender Betrieb sein (+), wenn im Zeitpunkt der bereignung ein Unternehmen/Betrieb mit wirtschaftlicher Kraft vorliegt. 3. bertragung der wesentlichen Grundlagen des Unternehmens/Betriebes Die Bestimmung der wesentlichen Grundlagen erfolgt danach, ob auf den Erwerber die Grundlagen des Unternehmens bergehen, die den Erwerber in die Lage versetzen, das Unternehmen (den Betrieb) in der bisherigen Art weiterzufhren. 4. Kein Haftungsausschluss (§ 75 Abs. 2 AO) II. Rechtsfolge 1. Haftung fr die Betriebssteuern und Steuerabzugsbetrge, wenn a) Steuern seit Beginn des letzten vor der bereignung liegenden Kalenderjahres entstanden sind und b) diese Steuern bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebes festgesetzt bzw. durch den Erwerber angemeldet worden sind. 2. Keine Haftung ber den Bestand des bernommenen Vermçgens hinaus (§ 75 Abs. 1 Satz 2 AO). Betriebssteuern = insbesondere GewSt, USt, Verbrauchsteuern Steuerabzugsbetrge = insbesondere LSt, KapSt

B. Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäfts (§ 25 HGB) Schrifttum: Mösbauer, S. 177; Halaczinsky, Rz. 186; Canaris, Handelsrecht, S. 98; Brox/ Henssler, Handelsrecht, Rz. 136; Weimar/Grote, Die Haftung des Erwerbers bei Firmenfortführung, NWB Fach 18, 3511; K. Schmidt, Das Handelsrechtsreformgesetz, NJW 1998, 2161; Brune, Überblick über das Handelsrechtsreformgesetz, NWB Fach 18, 759; Leibner/ Pump, Die Vorschrift des § 75 AO und § 25 HGB – Wege zur zivilrechtlichen und steuer-

144

B. Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschfts (§ 25 HGB) rechtlichen Haftungsvermeidung, DStR 2002, 1689; Leibner/Loy, Die Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäftes für Steuerverbindlichkeiten des Veräußerers nach § 191 AO i.V.m. § 25 HGB, StBp 2003, 313; App, Zur Inanspruchnahme des Erwerbers eines Handelsgeschäftes, das unter der bisherigen Firma fortgeführt wird, als Haftenden, KStZ 2004, 10; App, Firmenfortführung und Haftung des Erwerbers, NWB F. 18, 829; Zerres, Inhaberwechsel und haftungsrechtliche Konsequenzen, Jura 2006, 253; Bruschke, Die Haftung des Betriebsübernehmers nach § 25 HGB, StB 2009, 28; Blöse, Fallstricke bei der Erwerberhaftung nach § 25 HGB, GStB 2010, 98; Mettler, Die Mithaftung des Firmennachfolgers durch Fortführung einer Firmenhomepage – Haftungsrisiko nach § 25 HGB am Beispiel einer Betriebsgesellschaft eines Gastronomiebetriebs, MDR 2012, 1005; K. Schmidt, Alles klar bei § 25 HGB? Hinweise zu einem Hinweisbeschluss, ZGR 2014, 844; K. Schmidt, Handelsrecht: Haftung aus Fortführung eines insolventen Unternehmens, JuS 2014, 454.

§ 25 HGB regelt die Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäfts. Sie tritt nur ein, wenn der Erwerber unter der alten Firma das Handelsgeschäft weiterführt, wobei ein Ausschluss der Haftung gem. § 25 Abs. 2 HGB möglich ist.

3.69

Der Leitgedanke dieser Vorschrift wird unterschiedlich angegeben. Zum Teil 3.70 sieht man in § 25 HGB eine Haftungsübernahme gegenüber dem Veräußerer oder eine Vertragsübernahme.1 Folgt man einem Teil der Rechtsprechung, so ist der Zweck der Vorschrift auf eine Rechtsscheinhaftung gerichtet. Es soll die nach außen in Erscheinung tretende Kontinuität des Unternehmens für die Haftung maßgeblich sein.2 Ein anderer Ansatz ist der Gedanke einer Zusammengehörigkeit von Aktiva und Passiva. Diese Haftungsfondstheorie findet vereinzelt Anhänger.3 Es ist Canaris zuzustimmen, wenn er daher zum Ergebnis kommt, dass die dogmatische Einordnung des § 25 Abs. 1 Satz 1 AO nicht eindeutig möglich sei. Zur Auslegung des Gesetzes könne man sich deshalb nur an den Wortlaut und die Gesetzesmaterialien halten.4 Nach den Gesetzesmaterialien soll § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB zum Schutz der Haftungserwartungen des Verkehrs dienen.5 Wegen der Abgrenzung zu § 75 AO s. die Ausführungen zum Zweck und Wesen der Betriebsübernehmerhaftung nach § 75 AO (Rz. 3.4). § 25 HGB ist auch dann anwendbar, wenn ein in Insolvenz befindliches Unternehmen von einem Dritten außerhalb des Insolvenzverfahrens ohne Mitwirkung des Insolvenzverwalters lediglich tatsächlich fortgeführt wird.6

1 Mösbauer, S. 178 f. 2 BGH, Urt. v. 13.10.1955 – II ZR 44/54, BGHZ 18, 250; Urt. v. 10.2.1960 – V ZR 39/58, BGHZ 32, 62; Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/91, BB 1992, 87; Urt. v. 5.7.2012 – III ZR 116/11, WM 2012, 1482; BFH, Urt. v. 11.6.2012 – VII B 198/11, BFH/NV 2012, 1572; s. auch BAG, Urt. v. 24.3.1987 – 3 AZR 384/85, ZIP 1987, 1474 (1477); Urt. v. 15.3.2004 – II ZR 324/01, DB 2004, 1204; Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, DB 2006, 444; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 1. 3 Schricker, ZGR 1972, 150 f. 4 Canaris, S. 105. 5 Canaris, S. 106. 6 BGH, Urt. v. 23.10.2013 – VIII ZR 423/12, DB 2014, 46 mit Besprechung von K. Schmidt, JuS 2014, 454.

145

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

3.71

Bei § 25 HGB handelt es sich um eine zivilrechtliche Vorschrift, die im Rahmen der steuerlichen Haftung nach den in der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur geltenden Gesichtspunkten auszulegen ist.1

I. Voraussetzungen der Haftung nach § 25 Abs. 1 HGB 3.72

§ 25 Abs. 1 HGB setzt zunächst ein Handelsgeschäft voraus. Damit ist ein kaufmännisches Handelsgeschäft i.S.d. § 1 HGB gemeint.2 Auf Nichtkaufleute – Minderkaufleute i.S. des § 4 HGB i.d.F vor dem Handelsrechtsreformgesetz (HRefG) – findet die Norm keine Anwendung.3 § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB gilt auch bei dem Erwerb eines Unternehmensteils, wenn es sich um den wesentlichen Kernbereich handelt.4 So haftet der Erwerber einer im Verkehr selbständigen Zweigniederlassung, selbst wenn die Niederlassung weisungsabhängig ist. Die Haftung ist aber dann auf die bei der Zweigniederlassung begründeten Schulden begrenzt.5 Sie entfällt jedoch, wenn die Zweigstelle ohne eigene Buch-, Kassenund Kontenführung sowie Kundenabrechnung betrieben wird.6

3.73

Das Handelsgeschäft muss unter Lebenden erworben worden sein, sonst gilt § 27 HGB. Unter Erwerb i.S.d. § 25 HGB ist jede Unternehmensübertragung und -überlassung zu verstehen. Es kommt nicht darauf an, dass ein rechtsgeschäftlicher, derivativer Erwerb zugrunde liegt.7 Zunächst ist daher an einen Kauf zu denken; aber es kommt auch eine Schenkung, Erbteilung, Vermächtnis, Pacht oder Nießbrauch in Betracht.8 Die Pacht eines Unternehmens reicht nach h.M. aus, da auch den Pächter die Haftungserwartungen des Verkehrs treffen.9 Canaris bejaht folgerichtig auch einen Erwerb i.S.d. § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB beim Rückerwerb, d.h. der Rückgabe des Unternehmens vom Pächter an den Verpächter.10 Ebenso wird der Erwerb im Rahmen einer Erbauseinandersetzung oder vom vorläufigen Insolvenzverwalter von § 25 HGB erfasst11, nicht aber der vom Insolvenzverwalter. Der Grund liegt nach einer Ansicht darin, dass sich sonst eine Veräußerung des Handelsgeschäfts schwer gestalten könnte. Die Altgläubiger

1 BFH, Urt. v. 17.9.1991 – VII R 72/88, BFH/NV 1992, 360; FG Saarland, Urt. v. 11.12.2001 – 1 K 133/00, n.v.; FG Nürnberg, Urt. v. 4.5.2001 – II 229/1999, EFG 2001, 949. 2 BGH, Urt. v. 13.10.1955 – II ZR 44/54, BGHZ 18, 250; Urt. v. 16.9.1981 – VIII ZR 111/80, NJW 1982, 577; Urt. v. 17.9.1991 – XI ZR 256/90, NJW 1992, 112; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 2; Canaris, S. 106. 3 FG Münster, Urt. v. 1.7.2010 – 3 K 2689/06 U, EFG 2010, 2062. 4 BGH, Beschl. v. 7.12.2009 – II ZR 229/08, DStR 2010, 177. 5 Canaris, S. 107. 6 Weimar/Grote, NWB Fach 18, 3511 (3512). 7 BGH, Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, DB 2006, 444 m.w. Nachw. 8 BFH, Urt. v. 17.9.1991 – VII R 72/88, BFH/NV 1992, 360 (361); Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 4 m.w. Nachw. 9 BGH, Urt. v. 29.3.1982 – II ZR 166/81, NJW 1982, 1647; Urt. v. 16.1.1984 – II ZR 114/83, NJW 1984, 1186 (1187); Canaris, S. 104. 10 Canaris, S. 107. 11 Jedenfalls dann, wenn kein Insolvenzverfahren folgt, s. BGH, Urt. v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, NJW 1988, 1912 (zur früheren Sequestration); a.A. Canaris, S. 109.

146

B. Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschfts (§ 25 HGB)

erhalten nur ihre Quote aus dem Erlös der Veräußerung.1 Canaris stellt zu Recht fest, dass diese Begründung nicht überzeugt. Der Verkauf des Unternehmens würde mit Geltung der Haftungsvorschrift nicht erschwert, da ein Haftungsausschluss gem. § 25 Abs. 2 HGB erreicht werden kann. Vielmehr ist es richtiger, die Haftung deshalb ausfallen zu lassen, weil der Erlös unmittelbar an die Insolvenzgläubiger fließt. Eine zusätzliche Haftung des Erwerbers würde zu einer ungerechtfertigten Privilegierung der Gläubiger führen.2 Dagegen ist es für den Zeitraum vor der Insolvenz unbeachtlich, ob das übernommene Handelsgewerbe weitgehend vermögenslos ist und kurz vor der Insolvenz steht. Maßgeblich ist hier allein die nach außen zum Ausdruck kommende Unternehmenskontinuität.3 Auch ein sog. stiller Erwerb begründet grundsätzlich keine Haftung des Erwerbers.4 Unter stillem Erwerb versteht man die Fortführung des Unternehmens durch den bisherigen Inhaber, obwohl das Unternehmen durch einen anderen erworben worden ist. Mängel des Übernahmevertrags sind unerheblich. Es kommt allein auf den tatsächlichen Erwerb an. So ist es nicht relevant, wenn der Übernahmevertrag nichtig oder schwebend unwirksam ist.5 Selbst der bloße Rechtsschein des Erwerbs kann unter Umständen zu einer Rechtsscheinhaftung führen. Jedoch ist dieser Anspruch nicht auf § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB begründet.6 Auch kommt es bei der Fortführung eines gepachteten Handelsgeschäfts nicht darauf an, ob es zwischen dem Erwerber und dem Vorpächter überhaupt zu rechtsgeschäftlichen Beziehungen gekommen ist.7 Weiterhin sind die Fortführung des Handelsgeschäfts und die Fortführung der 3.74 Firma erforderlich, sonst fehlt es an der Kontinuität, die nach außen erkennbar sein muss. Eine Fortführung des Handelsgeschäfts bedeutet, dass die notwendigen Teile des 3.75 Geschäftsbetriebs fortgeführt werden. Dies verlangt den Fortbestand der wesentlichen Teile.8 Von einer Fortführung des Handelsgeschäfts geht der maßgebliche Verkehr daher aus, wenn ein Betrieb von einem neuen Inhaber in seinem wesentlichen Bestand unverändert weitergeführt wird, der Tätigkeitsbereich, die innere Organisation und die Räumlichkeiten ebenso wie Kunden- und Lieferantenbeziehungen jedenfalls im Kern beibehalten und/oder Teile des Personals übernom-

1 BAG, Urt. v. 29.4.1966 – 3 AZR 208/65, NJW 1966, 1984; Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 215/06, BB 2007, 401; BGH, Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/91, NJW 1992, 911; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 4; vgl. auch Saarl. OLG, Urt. v. 28.7.1998 – 4 U 577/97, FN-IDW 1999, 108. 2 Canaris, S. 109; s. auch Brox/Henssler, Rz. 137. 3 BGH, Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, DB 2006, 444 m.w. Nachw. 4 BGH, Urt. v. 29.3.1982 – II ZR 166/81, NJW 1982, 1648; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 4. 5 BFH, Urt. v. 17.9.1991 – VII R 72/88, BFH/NV 1992, 360 (361); Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 5; a.A. Canaris, S. 107 f. 6 Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 5. 7 BFH, Urt. v. 17.9.1991 – VII R 72/88, BFH/NV 1992, 360 (361); Beschl. v. 19.1.2006 – VII B 13/05, BFH/NV 2006, 1110. 8 BGH, Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/81, NJW 1992, 911; Brandenburgisches OLG, Urt. v. 14.3.2007 – 4 U 134/06, juris.

147

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

men werden.1 Ob das Unternehmen in seinem Kern übernommen worden ist, richtet sich daher im Wesentlichen nach folgenden Kriterien2: – Übernahme von Personal, – Übernahme von Betriebsräumen oder -gegenständen, – Übernahme von Warenbeständen, – Eintritt in Aufträge und bestehende Kunden- und Lieferantenverträge, – Übereinstimmung im Unternehmensgegenstand. 3.76

Problematisch ist die sukzessiv erfolgende Übernahme des Unternehmens und Fortführung desselben.3

3.77

Die Fortführung des Handelsgeschäfts bedeutet auch, dass das Unternehmen nicht stillgelegt sein darf.4 Eine vorübergehende Stilllegung schadet wie bei der Haftung aus § 75 AO nicht.5 Es kann sogar die Stilllegung des Geschäftsbetriebs während eines Insolvenzverfahrens unerheblich sein, wenn die Möglichkeit einer Wiederaufnahme und Fortführung des Unternehmens durch den Unternehmer besteht.6 Eine 14 Monate dauernde Stilllegung ist dagegen schädlich.7 Bei der Subsumtion des Einzelfalles unter die Vorschrift des § 25 Abs. 1 HGB ist ohnehin maßgeblich, ob und wie „der Verkehr die neue Firma trotz vorgenommener Änderungen noch mit der alten identifiziert“.8 Es ist somit nicht erforderlich, dass das neue Handelsgeschäft wort- und buchstabengetreu in Übereinstimmung mit dem alten Handelsgeschäft betrieben wird. Der Gesamteindruck ist bestimmend. So fehlt es an einer Fortführung, wenn z.B. eine Gaststätte in anderen Gasträumen weiterbetrieben wird, obwohl der Erwerber den Gaststättennamen nebst Logo, das Speiseangebot sowie das Personal übernimmt. Bei einer Gaststätte gehören zum Kern des Handelsgeschäfts nämlich auch die Gasträume.9

3.78

Letzteres gilt auch für die Fortführung der Firma, also des Namens, unter dem der Kaufmann sein Handelsgeschäft betreibt.10 Entscheidendes Merkmal einer Firma ist, dass dieser Name geeignet ist, den Geschäftsinhaber – den Schuldner der Verbindlichkeit – im Rechtsverkehr zu individualisieren. Eine Geschäftsoder Etablissementbezeichnung, die lediglich das Geschäftslokal oder den Betrieb allgemein, nicht aber den Geschäftsinhaber kennzeichnet, ist keine Fir1 BGH, Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, DB 2006, 444 m.w. Nachw. 2 Brandenburgisches OLG, Urt. v. 14.3.2007 – 4 U 134/06, juris; OLG Köln, Urt. v. 21.4.2004 – 11 U 81/02, juris; FG München, Urt. v. 11.12.2007 – 14 K 4045/05, juris. 3 BGH, Urt. v. 24.9.2008 – VIII ZR 192/06, DStR 2009, 383. 4 Halaczinsky, Rz. 514. 5 BGH, Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/81, NJW 1992, 911; FG Saarland, Urt. v. 11.12.2001 – 1 K 133/00, n.v.; Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 25 HGB Rz. 5; Weimar/Grote, NWB Fach 18, 3511 (3512). 6 BGH, Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/81, NJW 1992, 911. 7 OLG Hamm, Urt. v. 22.2.2008 – 19 U 115/07, juris; Roth in Koller/Kindler/Roth/ Morck, § 25 HGB Rz. 5. 8 BGH, Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/81, NJW 1992, 911 (912). 9 OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.1.1998 – 10 U 30/97, NJW-RR 1998, 965. 10 BFH, Urt. v. 20.5.2014 – VII R 46/13, BStBl. II 2015, 107.

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B. Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschfts (§ 25 HGB)

ma.1 Allein die Weiternutzung des Firmenlogos, die Personenidentität des Geschäftsführers und die Weiterbenutzung der Geschäftsräume reichen nicht aus.2 Auch der Kern (der prägende Teil) der Firma muss fortgeführt werden.3 Umgekehrt kann nach der Verkehrsauffassung eine Firmenfortführung gegeben sein, obwohl die alte und neue Firma nicht wort- und buchstabengetreu gleich sind.4 Firmierungen, die mit einem Nachfolgezusatz versehen sind, gelten schon kraft Gesetzes als Fortführung des Handelsgeschäfts (§ 25 Abs. 1 Satz 1 HGB). Aber auch andere unwesentliche Änderungen sind nicht haftungsausschließend. So kommt es auf die Änderung der Gesellschaftsform, unter der die spätere Firma betrieben wird, nicht an.5 Auch ist das Weglassen von Zusätzen unerheblich. Auch kommt es nicht auf das Klangbild an.6 Selbst wenn der Vorname weggelassen wird, ist von einer Firmenfortführung auszugehen.7 Wie der Wegfall eines Vornamens ist auch die Hinzufügung eines Gesellschafterzusatzes oder die Hinzufügung eines einzelnen Anfangsbuchstabens für die Firmenfortführung unschädlich.8 Die Erklärung gegenüber dem Registergericht, der Kommunalverwaltung oder gegenüber dem Finanzamt ist irrelevant.9 Wird nur der Rechtsschein der Firmenfortführung erzeugt, so genügt dieses nicht für eine Haftung nach § 25 HGB, wohl aber für eine Rechtsscheinhaftung.10 Wird nur vorübergehend nach dem Erwerb das Firmenschild belassen, so kann daraus aber keine Firmenfortführung hergeleitet werden.11

1 BFH, Urt. v. 20.5.2014 – VII R 46/13, BStBl. II 2015, 107; Beschl. v. 11.6.2012 – VII B 198/11, BFH/NV 2012, 1572. 2 Weimar/Grote, NWB Fach 18, 3511 (3512). 3 BGH, Urt. v. 15.3.2004 – II ZR 324/01, DStR 2004, 1136; Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, DB 2006, 444 m.w. Nachw.; Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 25 HGB Rz. 6 m.w. Nachw. 4 BGH, Urt. v. 4.11.1991 – ZR II 85/81, NJW 1992, 911; BFH, Urt. v. 21.1.1986 – VII R 179/83, BStBl. II 1986, 383; BGH, Urt. v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, DB 2006, 444 m.w. Nachw.; OLG Hamm, Beschl. v. 17.9.1998 – 15 W 297/98, DB 1998, 2590; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 7; vgl. auch BGH, Urt. v. 16.9.2009 – VIII ZR 321/08, DStR 2009, 2440. 5 BFH, Urt. v. 21.1.1986 – VII R 179/83, BStBl. II 1986, 383; FG Saarland, Urt. v. 11.12.2001 – 1 K 133/00, n.v.; BGH, Urt. v. 15.3.2004 – II ZR 324/01, DStR 2004, 1136; Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 25 HGB Rz. 6. 6 BGH, Urt. v. 15.3.2004 – II ZR 324/01, DStR 2004, 1136; Roth in Koller/Kindler/Roth/ Morck, § 25 HGB Rz. 6. 7 BGH, Urt. v. 10.10.1985 – IX ZR 153/84, NJW 1986, 581; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 7; Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 25 HGB Rz. 6; a.A. LG Koblenz, Urt. v. 15.2.1995 – 3 HO 148/93, NJW-RR 1995, 797 u. FG München, Urt. v. 18.9.1997 – 14 K 227/94, EFG 1998, 617, die mit Hinweis auf § 18 Abs. 1 HGB a.F. die Fortführung des gesamten Namens einschließlich des Vornamens fordern. Denn entscheidendes Element des Vertrauens, welches der Verkehr einer Einzelhandelsfirma entgegenbringt, sei der Name des Inhabers und damit letztlich dieser selbst. 8 FG München, Beschl. v. 28.10.2004 – 6 V 680/04, n.v. 9 BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 303/85, NJW 1987, 1633; Urt. v. 4.11.1991 – II ZR 85/81, NJW 1992, 911 (912); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.5.2004 – I-24 U 34/04, OLGR Düsseldorf 2005, 171; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 7. 10 So auch Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 7; a.A. OLG Frankfurt, Urt. v. 20.11.1979 – 5 U 36/79, NJW 1980, 1398. 11 Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 8 m.w. Beispielen für keine Fortführung.

149

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

3.79

Da maßgeblich die Firma ist, kommt der Geschäftsbezeichnung keine Bedeutung zu. So entfällt z.B. die Haftung, wenn die übernommene Gaststätte „Rathauskeller“ oder eine „Adlerapotheke“ unter derselben Bezeichnung weitergeführt wird.1 Ferner ist der Kern der Firma nicht das Emblem (z.B. bei der Firma Peter Panter: „PP PEPA Sportwaren“). Es handelt sich bei ihm lediglich um einen Zusatz i.S.d. § 18 Abs. 2 Satz 2 HGB a.F.2 Selbst wenn der Veräußerer nur unter dem Emblem aufgetreten ist, liegt in dessen Weiterführung keine Firmenfortführung, da sich ein Einzelkaufmann nach bisherigem Recht nicht im Kern mit einem Emblem als Firma bezeichnen darf.3 Nach § 18 HGB n.F. können aber nun alle Kaufleute frei zwischen einer Personen-, Sach- oder Phantasiefirma wählen.4

3.80

Problematisch kann die Fortführung der Internetpräsenz des übernommenen Unternehmens sein. Keine Firmenfortführung bei Nutzung des Namens einer Internetplattform nimmt das LG Aachen an.5 Hier ist jedoch insbesondere auch im Hinblick auf die Übernahme der Firmenhomepage noch Vieles ungeklärt.6

II. Rechtsfolgen 3.81

Nach h.M. ist die Rechtsfolge der Geschäfts- und Firmenfortführung ein gesetzlicher Schuldbeitritt des Erwerbers.7 Er haftet kraft Gesetzes daher als Gesamtschuldner neben dem bisherigen Inhaber des Handelsgeschäfts. Wie allgemein beim Schuldbeitritt kann der Erwerber entsprechend § 417 Abs. 1 Satz 1 BGB die Einwendungen, die in der Person des bisherigen Inhabers des Handelsgeschäfts bis zur Fortführung entstanden sind, sowie die Einreden eines Gesamtschuldners gem. § 422 Abs. 1 BGB gegenüber dem Gläubiger geltend machen. Er haftet aufgrund seiner Gesamtschuldnerstellung mit seinem gesamten Vermögen. Die Haftung erstreckt sich auf alle Verbindlichkeiten aus der Geschäftstätigkeit des Veräußerers. Damit haftet der Erwerber für alle Steuerschulden, Abzugsbeträge8 und Nebenleistungen. Nicht zum Haftungsverband gehören die privaten Steuerschulden (z.B. ESt, VSt). Auch die Körperschaftsteuer als „Personensteuer“ (§ 10 Nr. 2 KStG) wird nicht vom Haftungsumfang des § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB erfasst.9 Im Einzelnen steht er für Grund-, Grunderwerb-, Kraftfahrzeug-, Gewerbe- und Umsatzsteuer, Zölle, Säumniszuschläge, Verspätungszuschläge und gesetzliche Zinsen ein.10

1 BGH, Urt. v. 29.11.1956 – II ZR 32/56, BGHZ 22, 234 (237); FG Münster, Urt. v. 12.3.2009 – 8 K 2496/06, EFG 2009, 989; Canaris, S. 110. 2 FG München, Urt. v. 18.9.1997 – 14 K 227/94, EFG 1998, 617 (618) m.w. Nachw. 3 OLG Köln, Urt. v. 8.12.1992 – 3 U 118/92, NJW-RR 1994, 725. 4 Brune, NWB Fach 18, 759 (761). 5 LG Aachen, Urt. v. 8.5.2009 – 6 S 226/08, MMR 2010, 258. 6 S. auch Mettler, MDR 2012, 1005. 7 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – I R 19/14, BFH/NV 2016, 1491; Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 10; Weimar/Grote, NWB Fach 18, 3511 (3513). 8 Z.B. Steuerabzug nach § 50a IV EStG s. Sächsisches FG, Beschl. v. 5.5.2006 – 2 V 1752/05, juris. 9 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – I R 19/14, BFH/NV 2016, 1491. 10 Vgl. Halaczinsky, Rz. 516.

150

B. Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschfts (§ 25 HGB)

Die Gesamtschuldnerschaft ist aber im Hinblick auf den Veräußerer des Han- 3.82 delsgeschäfts durch das Nachhaftungsbegrenzungsgesetz v. 18. März 1994 beschränkt worden.1 Danach ist § 26 HGB neu gefasst worden. Der bisherige Geschäftsinhaber haftet nach § 26 Abs. 1 HGB nur für Verbindlichkeiten, die vor Ablauf von fünf Jahren fällig und grundsätzlich gerichtlich geltend gemacht worden sind. Handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Verbindlichkeit, so genügt der Erlass eines Verwaltungsaktes. Bei Steueransprüchen und Ansprüchen auf die steuerlichen Nebenleistungen genügt also ein Steuerbescheid gegen den Veräußerer. Die Frist beginnt mit Eintragung des neuen Inhabers in das Handelsregister. Wird der frühere Geschäftsinhaber Kommanditist und haftete die Gesellschaft für die im Betrieb seines Geschäfts entstandenen Verbindlichkeiten, so ist für die Begrenzung seiner Haftung § 26 HGB entsprechend anwendbar (vgl. § 28 Abs. 3 HGB). Die Haftung aufgrund seiner Kommanditistenstellung bleibt unberührt (§ 28 Abs. 3 Satz 3 HGB).

III. Ausschluss der Haftung Die Haftung des Erwerbers kann ausgeschlossen werden. Jedoch ist hierfür er- 3.83 forderlich, dass der Haftungsausschluss ins Handelsregister eingetragen und bekannt gemacht wurde (§ 25 Abs. 2 HGB). Alternativ ist der Haftungsausschluss auch zu bewirken, indem er dem Dritten mitgeteilt wird. Ein Ausschluss, der durch bloße Vereinbarung im Innenverhältnis zustande gekommen ist, gilt nicht gegenüber Dritten.2 Die Handelsregisterpublizität oder die Mitteilung ist maßgeblich. Erfährt ein Gläubiger von einem solchen Ausschluss im Innenverhältnis, so ändert sich am Bestehenbleiben der Haftung nichts. Umgekehrt ist aber bei Eintragung und Bekanntmachung unerheblich, ob ein Gläubiger davon Kenntnis erlangt hat. Der Haftungsausschluss ist auch dann ihm gegenüber wirksam.3 Die Anmeldung zum Handelsregister bzw. die Mitteilung an die Altgläubiger müssen unverzüglich nach Übernahme des Unternehmens erfolgen4, wobei unerheblich ist, ob die Eintragung erst viel später erfolgt.5 Es ist wegen der Haftungserwartung im Geschäftsverkehr erforderlich, dass die Altgläubiger zügig vom Haftungsausschluss Kenntnis erlangen.6 Es wird deutlich, dass ein Ausschluss der Haftung des Erwerbers gem. § 25 Abs. 2 HGB auch für Steuerschulden möglich ist, während er im Rahmen des § 75 AO überwiegend nicht angenommen wird.7

1 2 3 4

BGBl. I 1994, 560. Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 13; Weimar/Grote, NWB Fach 18, 3511 (3513). Hopt in Baumbach/Hopt, § 25 HGB Rz. 13. BGH, Urt. v. 1.12.1958 – II ZR 238/57, BGHZ 29, 1 (4 ff.); Urt. v. 16.1.1984 – II ZR 114/83, NJW 1984, 1186 (1187); Canaris, S. 110; Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 25 HGB Rz. 8d. 5 OLG Hamm, Urt. v. 17.9.1998 – 15 W 297/98, DB 1998, 2590 = GmbHR 1999, 77 = FNIDW 1999, 37. 6 Zur Mitteilung erst nach acht Monaten nach Übernahme des Betriebs vgl. BFH, Beschl. v. 19.1.2006 – VII B 13/05, BFH/NV 2006, 1110. 7 Zur Schadensersatzpflicht des beurkundenden Notars bei fehlender Belehrung zu § 75 AO vgl. BGH, Urt. v. 20.9.2007 – III ZR 33/07, NJW 2008, 1085.

151

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

IV. Besonderer Verpflichtungsgrund 3.84

Liegen die Voraussetzungen für eine Erwerberhaftung gem. § 25 Abs. 1 HGB nicht vor, so kann gleichwohl eine Haftung nach § 25 Abs. 3 HGB in Betracht kommen. Der Erwerber haftet dann für die früheren Geschäftsverbindlichkeiten, wenn er z.B. in Zeitungsanzeigen, Mitteilungen etc. an die Gläubiger die Übernahme der Verbindlichkeiten bekannt gemacht hat. Es handelt sich bei dieser Haftung um einen Ausfluss der Haftung nach Rechtsscheingrundsätzen oder um eine Verpflichtung aufgrund rechtsgeschäftlicher Erklärung. Im Hinblick auf die Haftungsbeschränkung des § 26 HGB ist statt auf eine Eintragung auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Übernahme abzustellen.

3.85

Eine solche Haftung aufgrund besonderer Verpflichtung kann auch im Wege eines Haftungsbescheids verfolgt werden.

C. Haftung bei Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB) Schrifttum: Mösbauer, S. 191; Halaczinsky, Rz. 519; Canaris, Handelsrecht, S. 128; Mösbauer, Zur steuerlichen Haftung bei Eintritt eines Dritten in das Geschäft eines Einzelkaufmanns, DStZ 1996, 257; Brox/Henssler, Handelsrecht, Rz. 150; K. Schmidt, Analoge Anwendung von § 28 HGB auf die Sachgründung freiberuflicher und gewerbetreibender BGB-Gesellschaften, BB 2004, 785; K. Schmidt, Die Sozietät als Sonderform der BGB-Gesellschaft – Wandlung einer klassischen Rechtsform im Lichte der Rechtsprechung, NJW 2005, 2801; Klein, Haftung der BGB-Gesellschafter für Steuerschulden der Gesellschaft, DStR 2009, 1963; Simon/Brünkmans, Die Ausgliederung von sanierungswürdigen Betriebsteilen mithilfe des Insolvenzplanverfahrens, ZIP 2014, 657; Posegga, Die Haftung der Mitglieder einer freiberuflichen Sozietät, DStR 2013, 547.

3.86

Tritt jemand als persönlich haftender Gesellschafter oder als Kommanditist in das Geschäft eines Einzelkaufmanns ein, so haftet nach § 28 HGB „die Gesellschaft, auch wenn sie die frühere Firma nicht fortführt, für alle im Betriebe des Geschäfts entstandenen Verbindlichkeiten des früheren Geschäftsinhabers“. Die Regelung zu den Altforderungen in § 28 Abs. 1 Satz 2 HGB entspricht der Regelung in § 25 Abs. 1 Satz 2 HGB. Ebenso stimmt die Normierung des Haftungsausschlusses in § 28 Abs. 2 HGB mit der Regelung in § 25 Abs. 2 HGB überein. Bei der dogmatischen Einordnung dieser Vorschrift entstehen die gleichen Probleme wie bei den §§ 25, 27 HGB. Mit Canaris ist daher auf die Gesetzesmaterialien zurückzugreifen, wonach auch hier der Schutz der Haftungserwartungen des Verkehrs maßgeblich ist.1

I. Voraussetzungen der Haftung 3.87

Zunächst fällt auf, dass es auf die Beibehaltung der Firma nicht ankommt. Dieses erklärt sich daraus, dass der bisherige Geschäftsinhaber auch nach Übergang des Unternehmens auf die Gesellschaft am Unternehmen beteiligt bleibt. 1 Vgl. Canaris, S. 129.

152

C. Haftung bei Eintritt in das Geschft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB)

Einer Einschränkung der Haftung im Hinblick auf die Haftungserwartungen des Verkehrs bedarf es daher nicht.1 Wenn das Gesetz von „Eintritt“ eines persönlich haftenden Gesellschafters oder Kommanditisten in das Geschäft eines Einzelkaufmanns spricht, dann ist diese Wortwahl ungenau. In Wirklichkeit geht es um ein entgegengesetztes Ereignis. Nicht der neue Gesellschafter tritt in ein Unternehmen ein, sondern der bisherige Unternehmensinhaber bringt sein Unternehmen in eine Gesellschaft ein.2

3.88

Nach h.M.3 ist die Wirksamkeit des Einbringungsvertrages (= Gesellschaftsver- 3.89 trag) nicht für die Haftung gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB notwendig. Zur Begründung wird angeführt, dass nach dem heutigen Stand der Dogmatik eine fehlerhafte Gesellschaft grundsätzlich nicht nichtig, sondern nur mit ex nunc-Wirkung auflösbar ist.4 Hieraus folgt, dass im Falle der Nichtigkeit die Haftung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 HGB entfällt.5 Zu beachten ist aber die Frage, ob der Schein eines Eintritts erzeugt worden ist. Dann könnte unter Umständen eine Rechtsscheinhaftung eintreten.6 Weitere Voraussetzung ist die Fortführung des Handelsgeschäfts. Darunter ist 3.90 der Erwerb i.S.d. § 25 HGB zu verstehen (s. zur Haftung nach § 25 HGB Rz. 3.75). Erwerb in diesem Sinne ist auch die Pacht eines Unternehmens.7 Die bloße Invollzugsetzung der neu geschaffenen Gesellschaft reicht aus.8 Eine danach erfolgte Einstellung oder Veräußerung der Gesellschaft ist unerheblich.9 Für die Haftung ist die Einbringung eines „Geschäfts eines Einzelkaufmanns“ 3.91 erforderlich. Der BGH hat entschieden, dass es gleichgültig ist, ob es sich um ein vollkaufmännisches Geschäft oder um ein Geschäft eines Minderkaufmannes handelt.10 Nach Wegfall der Rechtsform des Minderkaufmanns durch das Handelsrechtsreformgesetz entfällt ohnehin die Differenzierung. Jedoch kommt bei der neuen Gesellschaft nur ein vollkaufmännisches Geschäft in Form einer Personengesellschaft in Betracht, so dass eine BGB-Gesellschaft ausscheidet.11 Zur Begründung wird in der Literatur u.a. angeführt, dass eine Registerpflicht, wovon § 28 Abs. 2 HGB spricht, für eine BGB-Gesellschaft äußerst zweifelhaft 1 Vgl. Brox/Henssler, Rz. 151. 2 Hopt in Baumbach/Hopt, § 28 HGB Rz. 1; Canaris, S. 114. 3 BGH, Urt. v. 22.11.1971 – II ZR 166/69, NJW 1972, 1466 (1467); Hopt in Baumbach/ Hopt, § 28 HGB Rz. 3; Brox/Henssler, Rz. 152; Mösbauer, DStZ 1996, 258. 4 Vgl. Canaris, S. 132. 5 Vgl. Canaris, S. 132. 6 Hopt in Baumbach/Hopt, § 28 HGB Rz. 3. 7 Mösbauer, DStZ 1996, 258. 8 Hopt in Baumbach/Hopt, § 28 HGB Rz. 4; Mösbauer, DStZ 1996, 258. 9 Hopt in Baumbach/Hopt, § 28 HGB Rz. 4; Mösbauer, DStZ 1996, 258. 10 BGH, Urt. v. 6.7.1966 – VIII ZR 92/64, NJW 1966, 1917; vgl. auch Hopt in Baumbach/ Hopt, § 28 HGB Rz. 2. 11 BGH, Urt. v. 29.11.1971 – II ZR 181/68, WM 1972, 21 (22); Roth in Koller/Kindler/Roth/ Morck, § 28 HGB Rz. 5; Canaris, S. 131; Mösbauer, DStZ 1996, 258; vgl. auch Hopt in Baumbach/Hopt, § 28 HGB Rz. 2; offen gelassen BGH, Urt. v. 22.1.2004 – IX ZR 65/01, DStR 2004, 609; Beschl. v. 23.11.2009 – II ZR 7/09, NJW 2010, 3720; a.A. K. Schmidt, ZHR 145 (1981), 23; NJW 2003, 1897 (1903); NJW 2005, 2801 (2807 m.w. Nachw.).

153

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

ist.1 Aber auch die Einbringung in eine Kapitalgesellschaft oder in eine echte oder spätere unechte Vor-GmbH führt dazu, dass eine Haftung nach § 28 HGB ausscheidet.2 Überdies ist zu beachten, dass eine analoge Anwendung der Vorschrift auf den nichtkaufmännischen Bereich nicht in Betracht kommt.3

II. Rechtsfolgen 3.92

Die neue Gesellschaft haftet gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB für alle im Betrieb des Unternehmens entstandenen Altschulden. Zu diesen Verbindlichkeiten gehören auch die Steuerschulden sowie die darauf entfallenden Nebenleistungen.4 Ebenso fällt darunter ein Erstattungsanspruch aus § 37 Abs. 2 AO.5 Die Haftung besteht im Hinblick auf alle betrieblichen Verbindlichkeiten. Es muss daher ein innerlicher Zusammenhang zwischen der Schuld und dem Betrieb bestehen. Im Zweifel handelt es sich um betriebliche Verbindlichkeiten (s. § 344 Abs. 1 HGB). Daneben besteht die Haftung des bisherigen Geschäftsinhabers weiter. Ob der „Eintretende“, aber auch der bisherige Geschäftsinhaber – er haftet evtl. doppelt6 – mit seinem Privatvermögen haftet, ist aus der Vorschrift des § 28 HGB nicht zu entnehmen. Mit den Gesetzesmaterialien und der h.M.7 ist von einer Haftung mit dem Privatvermögen nur dann auszugehen, wenn das Gesetz eine solche für den Gesellschafter bzw. Kommanditisten regelt (z.B. §§ 128 u. 171 HGB). Die Haftung des persönlich haftenden Gesellschafters einer OHG ergibt sich z.B. daher gem. §§ 28, 128 HGB.8

3.93

Da neben der Gesellschaft der bisherige Geschäftsinhaber haftet, ist von einem gesetzlichen Schuldbeitritt auszugehen, so dass der bisherige Inhaber und die neue Gesellschaft wie auch der „eintretende“ Gesellschafter im Falle seiner persönlichen Haftung zu Gesamtschuldnern i.S.d. § 421 BGB werden.9 Danach sind sie auch im Steuerrecht gem. § 44 AO als Gesamtschuldner zu behandeln. Zum Haftungsausschluss gem. § 28 Abs. 2 HGB gilt das zu § 25 Abs. 2 HGB (Rz. 3.83) Gesagte entsprechend.10

3.94

Die Haftungsbeschränkung nach § 26 HGB gilt gem. § 28 Abs. 3 HGB – die Vorschrift ist aufgrund des Nachhaftungsbegrenzungsgesetzes 199411 eingefügt worden – für den bisherigen Geschäftsinhaber nur dann, wenn er Kommanditist der

1 Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 28 HGB Rz. 5; Canaris, S. 131. 2 BGH, Urt. v. 18.1.2000 – XI ZR 71/99, DStR 2000, 740; Roth in Koller/Kindler/Roth/ Morck, § 28 HGB Rz. 9 (str., m.w. Nachw.). 3 Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 11.3.2011 – 17 U 38/10, juris. 4 Mösbauer, DStZ 1996, 258. 5 Mösbauer, DStZ 1996, 258. 6 Brox/Henssler, Rz. 153. 7 BGH, Urt. v. 22.11.1971 – II ZR 166/69, NJW 1972, 1466; a.A. Canaris, S. 118 f. 8 Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 28 HGB Rz. 11; Brox/Henssler, Rz. 153. 9 Mösbauer, DStZ 1996, 260. 10 Vgl. auch Mösbauer, DStZ 1996, 260 f. 11 BGBl. I 1994, 560.

154

D. Haftung der Erben eines Handelsgeschfts (§ 27 HGB)

neu geschaffenen KG geworden ist und die Gesellschaft die Haftung übernommen hat.1

D. Haftung der Erben eines Handelsgeschäfts (§ 27 HGB) Schrifttum: Mösbauer, S. 186; Halaczinsky, Rz. 518; Canaris, Handelsrecht, S. 135 ff.; Brox/Henssler, Rz. 157; Zerres, Inhaberwechsel und haftungsrechtliche Konsequenzen, Jura 2006, 253; Küpper, Haftung und Bindung des Nacherben aus der Nachlassverwaltung des Vorerben: erläutert am Abschluss eines Leihvertrages über eine Nachlassimmobilie, ZEV 2017, 61.

Neben der zivilrechtlichen Haftung der Erben nach BGB enthält das Handels- 3.95 gesetzbuch eine selbständige Haftungsnorm für Erben eines Handelsgeschäfts in § 27 HGB. Danach haftet der Erbe eines zum Nachlass gehörenden Handelsgeschäfts für die Verbindlichkeiten des Handelsgeschäfts, wenn es von ihm fortgeführt wird. Die Vorschriften des § 25 HGB gelten entsprechend. Nach § 27 Abs. 2 HGB tritt die unbeschränkte Haftung nicht ein, „wenn die Fortführung des Geschäfts vor dem Ablaufe von drei Monaten nach dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfalle der Erbschaft Kenntnis erlangt hat, eingestellt wird“. Die Haftung nach § 27 HGB ist unbeschränkt, während die Haftung nach BGB 3.96 beschränkbar ist. Der Erbe haftet bei Nachlassverwaltung und bei -insolvenz gem. § 1975 BGB nur mit dem Nachlass und kann die Haftungsbeschränkung auch bei einer den Kosten nicht entsprechenden Masse gem. § 1990 BGB durch die Einrede der „Dürftigkeit“ schaffen. Somit ist die handelsrechtliche Erbenhaftung weitreichender als die bürgerlichrechtliche. Die ratio legis bei § 27 HGB richtet sich – wie die Gesetzesmaterialien ausweisen – nach denselben „Erwägungen“ wie sie für § 25 HGB maßgeblich waren. Es soll der Schutz der Haftungserwartungen des Verkehrs verfolgt werden, was jedoch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten fragwürdig ist.2

3.97

I. Voraussetzungen der Haftung Die Haftung trifft den Erben. Ebenso haftet der Miterbe entsprechend seinem 3.98 Anteil. Schlägt der Erbe die Erbschaft aus, so haftet er auch nach handelsrechtlicher Einstandspflicht nicht mehr.3 Weiterhin ist Voraussetzung gem. § 27 Abs. 1 Satz 1 HGB, dass es sich um ein Handelsgeschäft handelt. Hierzu siehe oben den Abschnitt zur Haftung nach § 25 HGB (Rz. 3.72). Darüber hinaus ist

1 Vgl. Mösbauer, DStZ 1996, 260. 2 Canaris, S. 136, der auch auf weitere Gesetzeszwecke in der Literatur eingeht. 3 Canaris, S. 138.

155

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

die Fortführung des Unternehmens erforderlich. Der Fortführung durch den gesetzlichen Vertreter oder einen Bevollmächtigten steht die durch den Erben selbst gleich.1 Auch die Fortführung durch den Testamentsvollstrecker im Namen der Erben begründet die Haftung,2 ebenso wenn im Namen und mit Willen der Erben das Unternehmen durch einen Nachlasspfleger fortgeführt wird.3 Gleiches gilt für den vorläufigen Insolvenzverwalter nach der InsO. Dagegen liegt keine Fortführung vor, wenn ein Insolvenzverwalter tätig wird.4 Die Anwendung des § 27 HGB hängt weiterhin von der Beibehaltung der Firma, also des Namens, unter dem der Kaufmann sein Handelsgeschäft betreibt, ab. Ändert demnach der Erbe die Firma, so entfällt die Haftung. Sie erlischt aber noch nicht dadurch, dass der Erbe die Firma mit Nachfolgezusatz versieht (s. §§ 22 Abs. 1 Satz 1, 25 Abs. 1 Satz 1 HGB). Liegen die Voraussetzungen vor, haftet er wie ein Erwerber nach § 25 HGB (s. Abschnitt zur Haftung nach § 25 HGB Rz. 3.69 ff.). 3.99

Die Haftung tritt jedoch nicht mit dem Erbfall ein, sondern der Erbe hat nach § 27 Abs. 2 Satz 1 eine Bedenkzeit von drei Monaten. Während dieser Zeit hat er die aufschiebende Einrede nach §§ 2014 ff. BGB. Stellt er den Betrieb innerhalb dieser Frist ein, so haftet er nicht für die Verbindlichkeiten.5 Ebenso gilt dieses, wenn das Unternehmen innerhalb der Frist durch Nachlassinsolvenz eingestellt wird. Dagegen bleibt es bei der Haftung, wenn das fortgeführte Unternehmen fristgerecht verkauft wird. Ist ein nicht voll geschäftsfähiger Erbe vorhanden, so beginnt die Frist mit Eintritt der vollen Geschäftsfähigkeit bzw. mit Bestellung eines Vertreters (s. § 27 Abs. 2 Satz 2 HGB i.V.m. § 210 Abs. 1 Satz 2 BGB).6

II. Haftungsausschluss 3.100

Eine Streitfrage in der Literatur ist, ob der Haftungsausschluss des § 25 Abs. 2 HGB auch für den Erben eines Handelsgeschäfts gilt. Nach h.M. wird dieses bejaht.7 Diese Auffassung steht im Einklang mit dem Wortlaut des § 27 HGB. Die Vorschrift weist nicht nur auf § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB hin, sondern ausdrücklich auf „die Vorschriften [sic!] des § 25“. Somit gilt für die Erbenhaftung des § 27 HGB also auch § 25 Abs. 2 HGB. Der Haftungsausschluss durch „Vereinbarung“ entfällt wegen der Natur der Sache. § 25 HGB ist ohnehin nur „entsprechend“ anzuwenden. Weiterhin ergibt sich aus dem Gesetzeszweck diese Einschränkung. Die Haftungserwartungen des Verkehrs bestehen nicht mehr, wenn eine

1 BGH, Urt. v. 24.9.1959 – II ZR 46/59, BGHZ 30, 391 (395); Urt. v. 27.3.1961 – II ZR 294/59, BGHZ 35, 13 (19); Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 3. 2 Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 3 m.w. Nachw. 3 Str., s. Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 3. 4 BGH, Urt. v. 27.3.1961 – II ZR 294/59, BGHZ 35, 13 (17); Roth in Koller/Kindler/Roth/ Morck, § 27 HGB Rz. 5. 5 Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 5. 6 Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 27 HGB Rz. 9; Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 6. 7 Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, § 27 HGB Rz. 8; Canaris, S. 139; Brox/Henssler, Rz. 162; Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 8.

156

E. Haftung der Erben nach BGB

Ausschlusserklärung in vorgeschriebener Form bekannt gemacht wird.1 Anders als bei einem Erwerb unter Lebenden entfällt hier der Erblasser als Schuldner. Zu einem Haftungsdefizit führt dieser Ausschluss gleichwohl nicht. Zwar scheidet durch Ausschluss die Haftung des Erben gem. § 27 HGB aus; die nach bürgerlichem Recht, also eine interessengerechte Erbenhaftung zumindest mit dem Nachlass, bleibt aber bestehen. Der Haftungsausschluss erfordert eine gehörige Kundmachung. Eine Regelung 3.101 im Testament reicht hierzu nicht aus.2 Wegen des Verweises auf § 25 Abs. 2 HGB sind die Einzelheiten oben im Abschnitt „Haftung des Erwerbers eines Handelsgeschäfts (§ 25 HGB)“ (Rz. 3.69) nachzulesen.

III. Besonderer Verpflichtungsgrund Die Haftung des Erben kann sich trotz Haftungsausschlusses aus Rechtsschein- 3.102 grundsätzen (s. Rz. 3.119) oder aus Erklärung ergeben. So kommt eine Haftung in Betracht, wenn in Anzeigen die Haftungsübernahme erklärt wird.3

E. Haftung der Erben nach BGB Schrifttum: Siegmann/Siegmann, Einkommensteuerschuld und Erbenhaftung, StV 1993, 337; Welzel, Erbenhaftung im Steuerecht, DStR 1993, 425; Halaczinsky, Rz. 504; Stegmaier, Die Haftungsbeschränkung des Erben, DStZ 1997, 298; Hiestand, Minderjährigenhaftung – Keine zeitliche Beschränkung der Haftungsbeschränkungseinrede, DB 1997, 1218; Gluth, Die Erbenhaftung bei Nachlassverwaltung, AO-StB 2003, 20; Loose, Geltendmachung der ErbSt im Nachlassinsolvenzverfahren – Zugleich Anmerkung zum BFH-Urteil vom 20.01.2016 – II R 34/14, DB 2016, 870, 1343; Witt, Beschränkte Erbenhaftung für vom Nachlassverwalter verursachte Steuerschulden (Anm.), HFR 2016, 581.

Der Erbe haftet gem. § 1967 Abs. 1 BGB für die Nachlassverbindlichkeiten. Auf- 3.103 grund der Gesamtrechtsnachfolge (Universalsukzession) tritt er in vollem Umfang in die Position des Erblassers. Die Haftung ist daher grundsätzlich unbeschränkt. Zu den Nachlassverbindlichkeiten gehören neben den Schulden des Erblassers 3.104 (Erblasserschulden) – z.B. auch Steuer- und Haftungsschulden (s. § 45 Abs. 1 AO) – alle Verbindlichkeiten, die aufgrund der Erbschaft entstanden sind. Hierzu zählen Schulden aus Pflichtteilsansprüchen, Vermächtnissen und Auflagen (sog. Erbfallschulden) und die erst nach dem Erbfall entstehenden Nachlassverbindlichkeiten (Nachlasskosten, Erbschaftsverwaltungskosten). Beruht der Verpflichtungsgrund auf einem eigenen Handeln des Erben, so spricht man von Nachlass-Erbenschulden bzw. Nachlass-Eigenschulden, für die der Erbe auch

1 Canaris, S. 139. 2 Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 8; a.A. K. Schmidt, § 8 IV 3b. 3 Hopt in Baumbach/Hopt, § 27 HGB Rz. 9.

157

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

persönlich einzustehen hat.1 Die Erbschaftssteuer gehört ebenfalls zu den Nachlassverbindlichkeiten.2 Sie wird zu den Erbfallschulden gezählt.3 3.105

Stellt sich nun im Erbfall heraus, dass die Erbschaft überschuldet ist bzw. die Schulden so groß sind, dass eine Vollstreckung in das Vermögen des Erben droht und eine Erbschaftsausschlagung nicht mehr möglich ist, weil die Ausschlagungsfrist abgelaufen ist, steht die Frage nach Haftungsbeschränkungen im Raum.

I. Haftungsbeschränkungen 3.106

Das Gesetz kennt verschiedene Möglichkeiten der Haftungsbeschränkung, die sich grundsätzlich auf sämtliche Arten von Nachlassverbindlichkeiten beziehen.

3.107

Die Nachlasserbenschulden (z.B. Einkommensteuerschulden aufgrund der Erzielung von Einkünften nach dem Erbfall) sind jedoch nach früherer Rechtsprechung des BFH nicht beschränkbar, da sowohl der Nachlass haftet als auch eine persönliche Haftung des Erben besteht.4 Der BFH nimmt jedoch nunmehr an, dass eine Haftungsbeschränkung auch in diesen Fällen gilt.5

3.108

Soweit sich der Erbe auf eine Haftungsbeschränkung stützen will, kann er sie jedoch nur im Zwangsvollstreckungsverfahren geltend machen.6 Im Einzelnen sind folgende Haftungsbeschränkungen von Bedeutung: 1. Eröffnung der Nachlassinsolvenz

3.109

Gem. § 317 Abs. 1 InsO ist zu dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über den Nachlass jeder Erbe, der Nachlassverwalter oder -pfleger, der Testamentsvollstrecker, dem die Verwaltung des Nachlasses zusteht, sowie jeder Nachlassgläubiger berechtigt. Nach § 320 InsO sind Gründe für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Zahlungsunfähigkeit und die Überschuldung. Unter Umständen reicht schon die drohende Zahlungsunfähigkeit nach § 320 Satz 2 1 Vgl. zum Zusammenhang Einkommensteuerschuld aufgrund von nach dem Tode des Erblassers aus Nachlassmitteln erzielten Einkünften und Erbenhaftung Siegmann/Siegmann, StV 1993, 337 ff. 2 BFH, Urt. v. 20.1.2016 – II R 34/14, DB 2016, 870; Loose, DB 2016, 1343. 3 BFH, Urt. v. 20.1.2016 – II R 34/14, BStBl. II 2016, 482 m.w. Nachw.; Urt. v. 11.8.1998 – VII R 118/95, BStBl. II 1998, 705; Urt. v. 28.4.1992 – VII R 33/91, BStBl. II 1992, 781; Weidlich in Palandt, § 1967 BGB Rz. 7. 4 Für den Fall der Nachlassverwaltung s. BFH, Urt. v. 5.6.1991 – XI R 26/89, BStBl. II 1991, 820 (821); Urt. v. 28.4.1992 – VII R 33/91, BStBl. II 1992, 781; offen gelassen BFH, Urt. v. 11.8.1998 – VII R 118/95, BStBl. II 1998, 705 (709); zur Kritik s. Welzel DStR 1993, 425; Siegmann/Siegmann, StV 1993, 337; Paus, DStZ 1993, 82; Depping, DStR 1993, 1246; Siegmann, ZEV 1999, 52; Gluth, AO-StB 2003, 20. 5 BFH, Urt. v. 10.11.2015 – VII R 35/13, HFR 2016, 581 m. Anm. Witt. 6 BFH, Beschl. v. 24.6.1981 – I B 18/81, BStBl. II 1981, 729; Urt. v. 11.8.1998 – VII R 118/95, BStBl. II 1998, 705; Urt. v. 1.7.2003 – VIII R 45/01, BStBl. II 2004, 35; FG Münster, Urt. v. 22.2.2006 – 1 K 3381/04 F, EFG 2006, 701.

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E. Haftung der Erben nach BGB

InsO. Der Erbe ist nach § 1980 BGB angehalten, unverzüglich (§ 121 BGB) die Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens zu beantragen, wenn er von der Überschuldung des Nachlasses Kenntnis erlangt. Dabei ist nicht die positive Kenntnis erforderlich, sondern es genügt eine auf Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis (§ 1980 Abs. 2 Satz 1 BGB). Kommt der Erbe dieser Pflicht nicht nach, so entsteht eine Schadensersatzpflicht gem. § 1980 Abs. 1 Satz 2 BGB gegenüber den Gläubigern. Im Übrigen ist der Erbe im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sämtlichen Nachlassgläubigern gegenüber nicht mehr mit seinem Privatvermögen haftbar (§ 1975 BGB). Dieses gilt auch im folgenden Fall: Hat der Erblasser durch eine Rechtshandlung einen Geschehenslauf in Gang gesetzt, kraft dessen es nach dem Erbfall und nach Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens im Nachlassvermögen automatisch, ohne irgendeine Handlung des Erben und ohne Möglichkeit der Verhinderung, zu einem Güteraustausch gekommen ist, so handelt es sich bei den daraus resultierenden ESt-Schulden (wegen Veräußerungsgewinns) um Nachlassverwaltungskosten, die damit beschränkbar sind gem. § 1975 BGB.1 2. Nachlassverwaltung Bei Anordnung der Nachlassverwaltung tritt die Haftungsbeschränkung des 3.110 § 1975 BGB ebenfalls ein.2 Hier sind antragsberechtigt der Erbe (§ 1981 Abs. 1 BGB) und die Gläubiger, wozu auch das Finanzamt gehört (§ 1981 Abs. 2 BGB). Eine Nachlassverwaltung kommt stets dann in Betracht, wenn eine Befriedigung aus dem Nachlass wegen Verhaltens der Erben oder wegen ihrer schlechten Vermögenslage gefährdet erscheint. 3. Einrede der Dürftigkeit des Nachlasses Deckt der Nachlass die Kosten der Nachlassverwaltung oder des Nachlassinsol- 3.111 venzverfahrens nicht, so können die Erben die Einrede der Dürftigkeit des Nachlasses gem. §§ 1990 bis 1992 BGB geltend machen.

II. Haftungsbeschränkung bei Miterben Gem. § 2058 BGB haften mehrere Erben für die gemeinschaftlichen Nachlass- 3.112 verbindlichkeiten als Gesamtschuldner. Der Miterbe haftet zwar grundsätzlich unbeschränkt. Jedoch hat er selbst nach Teilung des Nachlasses zwei Möglichkeiten der Haftungsbeschränkung. Hinsichtlich der Haftungsmasse stehen ihm die oben genannten Maßnahmen offen. Den Haftungsumfang kann er gem. § 2060 Nr. 2 BGB beschränken, wenn z.B. das Finanzamt als Gläubiger seine Forderung erst nach Ablauf von fünf Jahren seit dem Erbfall geltend macht und er die Forderung nicht kannte.3

1 BFH, Urt. v. 11.8.1998 – VII R 118/95, BStBl. II 1998, 705 = StEd 1998, 648 = BFH/NV 1999, 101. 2 S. hierzu BFH, Urt. v. 10.11.2015 – VII R 35/13, HFR 2016, 581 m. Anm. Witt. 3 Vgl. Streck/Mack/Schwedhelm, Stbg 1997, 16.

159

Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

III. Unbeschränkbare Haftung in bestimmten Fällen 3.113

Der Erbe kann seine Haftung nicht auf den Nachlass beschränken, wenn er pflichtwidrig handelt. Insbesondere sieht das Gesetz in § 1994 BGB eine solche Sanktion vor, wenn der Erbe die ihm gesetzte Frist zur Errichtung eines Inventars fruchtlos verstreichen lässt. Die gleiche Rechtsfolge tritt gem. § 2005 BGB ein, wenn er ein unvollständiges Inventar abgibt bzw. in der Absicht, Nachlassgläubiger zu benachteiligen, die Aufnahme einer nicht bestehenden Verbindlichkeit bewirkt. Weiterhin gilt die Haftungsbeschränkung auch dann nicht, wenn der Erbe auf Antrag eines Nachlassgläubigers die eidesstattliche Versicherung hinsichtlich der Vollständigkeit des Inventars verweigert (§ 2006 BGB).

IV. Problem Minderjährigenhaftung 3.114

Mit dem Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz – MHbeG – wurde eine Haftungsbeschränkung für Minderjährige eingeführt.1 Ziel dieses Artikelgesetzes war die Haftungsbeschränkung Minderjähriger, die ein Handelsgeschäft geerbt haben. Es sollte verhindert werden, dass die gesetzlichen Vertreter – meistens die Eltern – gem. § 1629 BGB das minderjährige Kind unbeschränkt verpflichten können. Hierzu wurde im BGB § 1929a aufgenommen. Mit § 1629a Abs. 1 BGB hat der volljährig Gewordene die Möglichkeit erhalten, die Haftung für Verbindlichkeiten, die seine Eltern ihm gegenüber im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht oder sonstige vertretungsberechtigte Personen durch Rechtsgeschäft oder eine sonstige Handlung im Rahmen ihrer Vertretungsmacht zu seinen Lasten begründet haben oder die aufgrund eines während der Minderjährigkeit erfolgten Erwerbs von Todes wegen entstanden sind, auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens des Kindes zu beschränken. Durch die Verweisung des § 1629a Abs. 1 Satz 2 BGB auf § 1990 BGB wird dem volljährig Gewordenen die Erschöpfungseinrede zugesprochen.2

V. Verfahren 3.115

Da der Erbe durch die Erbschaft an die Stelle des Erblassers tritt, wird seine Haftung als Gesamtrechtsnachfolger so geltend gemacht, wie sie gegen den Rechtsvorgänger hätte geltend gemacht werden müssen. Die zivilrechtliche Haftung wird über § 45 Abs. 2 Satz 1 AO ins Steuerrecht überführt. Daneben kann der Erbe aber eigene steuerrechtliche Haftungstatbestände erfüllen (§ 45 Abs. 2 Satz 2 AO). Auf die Erben übergegangene Steuerschulden werden somit durch Steuerbescheid festgesetzt.3 Haftungsschulden des Erblassers werden durch Haftungsbescheid gegen den Gesamtrechtsnachfolger eingefordert.4 Eigene steuerrecht1 BGBl. I 1998, 2487. 2 Zur Kritik am Entwurf vgl. Hiestand, DB 1997, 1218. 3 BFH, Urt. v. 28.3.1973 – I R 100/71, BStBl. II 1973, 544; Rüsken in Klein, § 45 AO Rz. 5. 4 BFH, Beschl. v. 23.9.1959 – II 96/56 U, BStBl. III 1960, 54; FG Berlin, Urt. v. 31.10.2005 – 9 K 9002/05, EFG 2006, 701; Beckmann, StB 2007, 223.

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F. Haftung beim Erbschaftskauf (§§ 2382, 2383 BGB)

liche Haftungstatbestände, die durch Handlungen des Erben begründet werden, werden durch Haftungsbescheid gegen den Erben, z.B. gem. § 71 AO wegen Verkürzung von Erbschaftsteuern, durchgesetzt.1 Auch im Hinblick auf die Ermessensausübung gilt das Gleiche wie beim Erblasser. Die Geltendmachung der Haftungsschuld des Erblassers liegt im Ermessen des Finanzamts, während die Inanspruchnahme des Erben wegen der Steuerschuld des Erblassers eine gebundene Entscheidung ist.

F. Haftung beim Erbschaftskauf (§§ 2382, 2383 BGB) Schrifttum: Mösbauer, S. 241; Halaczinsky, Rz. 510; Blesinger, S. 152.

Die Haftung des Erbschaftskäufers für die Nachlassverbindlichkeiten gegen- 3.116 über den Nachlassgläubigern spielt zwar in der Praxis wohl eine geringe Rolle. Jedoch soll kurz darauf eingegangen werden, denn sie entspricht im Umfang der Haftung des Erben. Ein Erbschaftskauf liegt vor, wenn jemand die Erbschaft vom Erben, von den Miterben oder das Anwartschaftsrecht vom Nacherben schuldrechtlich erwirbt. Gem. § 2382 Abs. 1 BGB haftet der Käufer ab dem Zeitpunkt des Abschlusses des schuldrechtlichen Kaufvertrags gegenüber den Nachlassgläubigern für sämtliche Nachlassverbindlichkeiten. Diese Haftung tritt neben die Haftung des Verkäufers, die bestehen bleibt. Der Umfang der Haftung richtet sich nach der des Erben (§ 1967 BGB).2 Zu den Nachlassverbindlichkeiten gehören daher die Schulden des Erblassers, also auch seine Steuerverbindlichkeiten3, und – wie bei der Haftung des Erben – die Erbschaftsteuer.4 Der Vertragsgegenstand des Erbschaftskaufes ist die ganze oder nahezu ganze 3.117 Erbschaft. Der Erbschaftskäufer braucht keine Kenntnis von den Nachlassverbindlichkeiten zu haben. Jedoch muss er davon ausgehen, dass es sich beim Vertragsgegenstand um die ganze oder nahezu ganze Erbschaft handelt, oder zumindest die Verhältnisse kennen, aus denen sich dies ergibt.5 Der schuldrechtliche Vertrag bedarf der notariellen Beurkundung (§ 2371 BGB). Ist die Form nicht eingehalten, ist der Vertrag nach § 125 BGB nichtig. Der Formmangel kann auch nicht durch Erfüllung geheilt werden. § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB ist nicht analog anzuwenden, da die Einschaltung eines Notars bei der Erfüllung nicht unbedingt erforderlich ist, wenn die Nachlassgegenstände einzeln übertragen werden. Im Gegensatz zur Grundstücksübertragung kann daher die Warnfunktion der notariellen Beurkundung – wie sie bei dem dinglichen Grundstücksrechtsgeschäft stets zu beachten ist – nicht greifen.6 Die Haftung des Käufers eines Anwartschaftsrechts des Nacherben tritt erst ein, wenn der Nacherbfall gegeben ist;

1 2 3 4 5

Halaczinsky, Rz. 508. Weidlich in Palandt, § 2382 BGB Rz. 2. Mösbauer, S. 241. Halaczinsky, Rz. 511. BGH, Urt. v. 26.2.1965 – V ZR 227/62, BGHZ 43, 174; a.A. Weidlich in Palandt, § 2382 BGB Rz. 1. 6 Brox/Walker, Erbrecht, Rz. 799; Mösbauer, S. 242.

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Kap. 3 Haftung bei Betriebs- bzw. Vermçgensbergang

denn der Nacherbe haftet ja selbst erst in diesem Fall.1 Maßgeblich ist der schuldrechtliche Vertrag. Für die Haftung kommt es daher nicht auf die Übertragung des Nachlasses an.2 Kommt es zur Aufhebung des schuldrechtlichen Vertrages, so entfällt zugleich auch die Haftung des Erbschaftskäufers.3 3.118

Die Haftung des Erbschaftskäufers kann nicht durch eine Vereinbarung mit ihm zu Lasten der Nachlassgläubiger beschränkt werden (s. § 2382 Abs. 2 BGB). Mösbauer weist zu Recht auf die theoretische Möglichkeit einer Vereinbarung des Erbschaftskäufers mit dem Nachlassgläubiger hin, die auf einen Haftungsausschluss gerichtet ist.4 Der Erbschaftskäufer hat allerdings die Möglichkeit, seine Haftung nach den Vorschriften über die Beschränkung der Erbenhaftung zu begrenzen (§§ 2383 Abs. 1 Satz 1, 1975 ff. BGB). Haftet der Erbschaftsverkäufer jedoch schon unbeschränkt, so muss auch er die unbeschränkte Haftung hinnehmen (§ 2383 Abs. 1 Satz 2 BGB). Nach § 2383 Abs. 1 Satz 3 BGB muss der Erbschaftskäufer die Vollstreckung in seine Ansprüche gegen den Erbschaftsverkäufer dulden, wenn die Haftung auf die Erbschaft beschränkt ist. Zum Verfahren: Eine Inanspruchnahme durch Haftungsbescheid ist möglich, da es sich um eine Haftung kraft Gesetzes i.S.d. § 191 Abs. 1 AO handelt.5

G. Haftung nach Rechtsscheinsgrundsätzen 3.119

Die Rechtsprechung nimmt neben positiv normierten Haftungsgrundlagen des Zivilrechts auch die zivilrechtliche Haftung nach Rechtsscheinsgrundsätzen in den Anwendungsbereich des § 191 AO hinein.6 Wer gegenüber der Finanzbehörde den Rechtsschein begründet, Gesellschafter einer Personengesellschaft zu sein, kann unter bestimmten Voraussetzungen für Abgaben der Gesellschaft in Haftung genommen werden. In der wiederholt als Grundsatzurteil bezeichneten Entscheidung vom 20.1.19777 hat sich der BFH der im bürgerlichen Recht und im Handelsrecht anerkannten Auffassung angeschlossen, dass derjenige, der sich nach außen hin als Gesellschafter geriert, sich nach dem Maß des von ihm zurechenbar erweckten Rechtsscheins von einem Dritten, der hierauf vertrauen durfte, auch als Gesellschafter behandeln lassen muss.8 Dieser aus dem Prinzip von Treu und Glauben gewonnene Grundsatz gilt danach auch für das Rechtsverhältnis zwischen dem Steuergläubiger und dem Steuerschuldner oder den Personen, die für den Steuerschuldner haften. Bei der Anwendung dieser Haftungsgrundlage ist aber Zurückhaltung geboten. So kommt eine Haftung nach Rechtsscheinsgrundsätzen dann nicht in Betracht, wenn der Haftungsschuldner sich völlig passiv verhalten hat.9 1 2 3 4 5 6 7 8

Mösbauer, S. 242. Mösbauer, S. 243. Mösbauer, S. 243. Mösbauer, S. 244. Mösbauer, S. 244. BFH, Urt. v. 9.5.2006 – VII R 50/05, BStBl. II 2007, 600. BFH, Urt. v. 20.1.1977 – V R 153/72, BStBl. II 1977, 364. Vgl. auch BFH, Urt. v. 4.3.1986 – VII R 133/80, BFH/NV 1986, 646; Urt. v. 19.1.1988 – VII R 161/84, BFH/NV 1988, 615. 9 BFH, Urt. v. 9.5.2006 – VII R 50/05, BFH/NV 2006, 1898.

162

Kapitel 4 Haftung in der Insolvenz A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Haftung vor Insolvenzeröffnung I. Steuerrechtliche Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters. II. Zivilrechtlicher Schadensersatz des vorläufigen Insolvenzverwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Steuerrechtliche Haftung des Vertreters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Praktische Konsequenzen . . . . . . C. Haftung nach Insolvenzeröffnung

4.1

4.4

4.7 4.8 4.11

I. Änderungen durch die Insolvenzrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . II. Steuerrechtliche Haftung des Insolvenzverwalters . . . . . . . . . . III. Zivilrechtlicher Schadensersatz des Insolvenzverwalters . . . . . . . IV. Haftung des Schuldners und Vertreters. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.12 4.13 4.19 4.20

D. Haftung nach Beendigung der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.21

E. Zum Verbraucherinsolvenzverfahren/vereinfachten Insolvenzverfahren nach §§ 304 ff. InsO . .

4.23

Schrifttum: Urban, Der Sequester gem. § 106 Konkursordnung in der Umsatzbesteuerung, UR 1984, 153; Milatz, Die Haftung des Sequesters für Steuern, INF 1988, 534; Pape, Sequester contra Finanzverwaltung vice versa, NJW 1994, 89; Depping, Geschäftsführerhaftung bei gerichtlich angeordneter Sequestration, DStZ 1995, 173; Depping/Nikolaus, Haftungsschulden im Konkurs, DStZ 1996, 176; Feldhausen, Die Bedeutung der neuen Insolvenzordnung für zahlungsunfähige Steuer- und Haftungsschuldner, Stbg 1998, 469; Wessel, Der vorläufige Insolvenzverwalter, NWB Fach 19, 2437; Mösbauer, Die Haftung des Insolvenzverwalters im Steuerecht, DStZ 2000, 443; Bartone, Insolvenz des Abgabenschuldners, 2000; Loose, Geschäftsführerhaftung in der Insolvenz, AO-StB 2002, 246; Blesinger, S. 152; Bartone, Ausgewählte Fragen des steuerlichen Verfahrensrechts in der Insolvenz der GmbH, GmbHR 2005, 865; Abenheimer, Steuerliche Pflichten und Haftungsrisiken des Geschäftsführers und Insolvenzverwalters in Krise bzw. Insolvenz der GmbH, GmbHR 2005, 869; Urban, Steuerhaftung des GmbH-Geschäftsführers wegen Widerrufs von Lastschriften durch den vorläufigen Insolvenzverwalter?, GmbHR 2010, 248; Schwedhelm, Verkannte Haftungsgefahren des Vorstands zwischen Insolvenzantrag und Insolvenzeröffnung, AG 2010, 407; Frotscher, Besteuerung in der Insolvenz, 8. Aufl., Heidelberg 2014; Meyer, Die Geschäftsleiterhaftung für nicht entrichtete Steuern (§§ 69, 34 Abs. 1 AO) in Krise und Insolvenz der Kapitalgesellschaft, DStZ 2014, 228; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 66 ff.; Schmittmann in K. Schmidt, Insolvenzordnung, 19. Aufl. 2016, Anhang Steuerrecht Rz. 82 ff.; Schädlich, Vertreterhaftung in der vorläufigen Eigenverwaltung, NWB 2016, 1600.

A. Allgemeines Die steuerrechtliche Haftung während der Insolvenz bedarf einer gesonderten 4.1 Betrachtung. Die Rechtsprechung des BFH und des BGH hat hinsichtlich der Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters und des Insolvenzverwalters spezielle Entscheidungsgrundlagen geschaffen. Soweit der Geschäftsführer gem. §§ 34, 69 AO für Steuerschulden durch Haf- 4.2 tungsbescheid in Anspruch genommen werden soll, die vor der Insolvenzeröffnung begründet wurden, steht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem nicht 163

Kap. 4 Haftung in der Insolvenz

entgegen. Die Geschäftsführerhaftung nach § 69 AO kann somit auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Haftungsbescheid geltend gemacht werden.1 Eine Beschränkung gilt jedoch für die Inanspruchnahme der Gesellschafter nach den zivilrechtlichen Haftungsvorschriften bei Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit (z.B. § 128 HGB bei Gesellschaftern einer OHG). Hier gilt die Sperrwirkung nach § 93 InsO. 4.3

Hinsichtlich der Steuerforderungen, die nach Bestellung eines (vorläufigen) Insolvenzverwalters begründet wurden, stellt sich die Frage, wer als Haftender in Betracht kommt und ob überhaupt eine Inanspruchnahme durch Haftungsbescheid erfolgen kann. Ob ein Haftungsbescheid nach § 191 AO erlassen werden kann, richtet sich danach, ob eine steuerrechtliche Pflichtverletzung und nicht eine insolvenzrechtliche Pflichtverletzung gegeben ist. Letztere löst eine Haftung nach §§ 60, 61 InsO aus, die zivilrechtlich geltend zu machen ist.2 Im Folgenden wird die Rechtslage vor und nach der Insolvenzeröffnung untersucht.

B. Haftung vor Insolvenzeröffnung I. Steuerrechtliche Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters 4.4

Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners geht im Fall eines allgemeinen Verfügungsverbotes (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. InsO) auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO), der damit zum Vermögensverwalter wird.3 Er wird dann als „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter bezeichnet. Die Stellung des vorläufigen Insolvenzverwalters ähnelt dem des Sequesters. Er haftet somit nicht für Steueransprüche, insbesondere für Umsatzsteuer aus Geschäften, die während der vorläufigen Insolvenz begründet werden. Insoweit handelt es sich um Insolvenzforderungen, die von ihm nicht zu begleichen sind.4 Dagegen haftet er aber nach §§ 34, 69 AO für die Lohnsteuer, da es sich insoweit um Steuerschulden des Arbeitnehmers handelt, die er treuhänderisch einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen hat.5 Es ist jedoch fraglich, ob eine Haftung für die Lohnsteuerbeträge in der Zeit vor Insolvenzeröffnung wegen fehlender Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden in Betracht kommt, da eine Anfechtungsmöglichkeit bestand (s. Rz. 2.130).

4.5

Im Fall ohne Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes („schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter), in dem der Schuldner die Verfügungsmacht mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters hat (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. InsO), ist der vorläufige Insolvenzverwalter nicht Vermögensverwalter i.S.d. § 34

1 BFH, Urt. v. 2.11.2001 – VII B 155/01, BStBl. II 2002, 73; s. im Übrigen Rz. 2.4 ff. 2 S. Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 66. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 34 AO Rz. 14; Koenig in Koenig, § 34 AO Rz. 31; Wessel, NWB Fach 19, 2437 (2439); Frotscher, S. 45; vgl. allg. Bartone, AO-StB 2002, 22. 4 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 77b. 5 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 77d.

164

B. Haftung vor Insolvenzerçffnung

Abs. 3 AO.1 Er kann somit nicht nach § 69 AO in Haftung genommen werden. Denn im Falle der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters ohne Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO) verbleibt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wie auch die Prozessführungsbefugnis beim Schuldner. Daran vermag auch der Zustimmungsvorbehalt nichts zu ändern. Es kann ein Entzug der allgemeinen Verfügungsbefugnis auch nicht der Ermächtigung an den vorläufigen Insolvenzverwalter entnommen werden, in dringenden Fällen mit rechtlicher Wirkung für den Schuldner zu handeln. Denn diese Ermächtigung bezieht sich nicht auf die Übernahme des Geschäftsbetriebs schlechthin, sondern lediglich auf einzelne, zur Erfüllung des Sicherungszwecks unabweisbar erforderliche Rechtsgeschäfte.2 Überschreitet der vorläufige Insolvenzverwalter seine vom Gericht gezogenen Grenzen und verhält er sich wie ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter, so wird er hierdurch nicht zum faktischen Vermögensverwalter.3 Weiterhin kann ein vorläufiger Insolvenzverwalter Vermögensverwalter i.S.d. 4.6 § 34 Abs. 3 AO sein, wenn sich dies gem. § 22 Abs. 2 InsO aus dem vom Gericht bestimmten Pflichtenumfang ergibt.4 Dies bedeutet, dass er durch den Beschluss des Gerichts zur Erfüllung steuerlicher Pflichten, insbesondere zur Abführung der Lohnsteuer, verpflichtet worden ist. Dies dürfte aber in der Regel nicht der Fall sein.

II. Zivilrechtlicher Schadensersatz des vorläufigen Insolvenzverwalters Nach § 21 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 60 InsO ist der vorläufige Insolvenzverwalter al- 4.7 len Beteiligten gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach der InsO obliegen. Diese Schadensersatzpflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters betrifft spezifische insolvenzrechtliche Pflichten, die im Fall der Verletzung zu einem deliktischen Anspruch gegen den vorläufigen Insolvenzverwalters führen und somit nur im Zivilrechtsweg geltend gemacht werden können.5

III. Steuerrechtliche Haftung des Vertreters Ist ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden, so entfällt die 4.8 Haftung des Vertreters. Wie beim Sequester mit Anordnung eines Verfügungsverbotes für den Schuldner, kommt eine Haftung nach §§ 34, 69 AO nicht in Betracht (s. zur Haftung des Geschäftsführers Rz. 2.4).6 Im Fall eines „schwachen“ 1 BFH, Beschl. v. 30.12.2004 – VII B 145/04, BFH/NV 2005, 665; Beschl. v. 27.5.2009 – VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591; Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 79. 2 BFH, Urt. v. 30.12.2004 – VII B 145/04, BFH/NV 2005, 665. 3 BFH, Beschl. v. 27.5.2009 – VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591; FG Münster, Beschl. v. 16.8.2011 – 11 V 1844/11 AO, ZIP 2011, 1731. 4 Vgl. Rüsken in Klein, § 34 AO Rz. 23. 5 Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 9; Neeb, DStZ 1989, 407; a.A. wohl Blesinger, S. 124 i.V.m. 152 ff. 6 Sächsisches FG, Beschl. v. 26.6.2003 – 5 V 2210/02, FGReport 2003, 3.

165

Kap. 4 Haftung in der Insolvenz

vorläufigen Insolvenzverwalters haftet der Geschäftsführer jedoch weiterhin für aufgrund von Pflichtverstößen entstandene Steuerausfälle.1 Jedoch begeht der Vertreter keine Pflichtverletzung, wenn er die Zustimmungsverweigerung des vorläufigen Insolvenzverwalters zu einzelnen Überweisungsaufträgen hinnimmt. Ihm obliegt keine umfassende Kontrolle der Tätigkeit des vom Insolvenzgericht eingesetzten Verwalters.2 Dies gilt m.E. auch dann, wenn er andere Gläubiger bei der Schuldentilgung bevorzugt, weil der vorläufige Insolvenzverwalter Zahlungen aus dem Steuerschuldverhältnis nicht zustimmt.3 Etwas anderes kann jedoch dann gelten, wenn das Verhalten des Insolvenzverwalters offensichtlich geltendem Recht widerspricht und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist.4 Der Vertreter kann sich aber nicht darauf berufen, er habe die Zahlung nur deshalb nicht vorgenommen, weil er die Erwartung gehabt habe, der schwache Insolvenzverwalter werde der Zahlung nicht zustimmen.5 4.9

4.10

Û

Hinweis: Um für eine spätere Haftungsinanspruchnahme durch das Finanzamt gut gerüstet zu sein, sollte z.B. der Geschäftsführer die Verweigerung der Zustimmung durch den schwachen Insolvenzverwalter an Hand von Nachweisen dokumentieren.

Soweit seine Haftung in Betracht kommt, ist jedoch zu beachten, dass auch seine Rechtshandlungen in der Zeit vor Insolvenzeröffnung, insbesondere Zahlungen an den Fiskus, anfechtbar sind.6

IV. Praktische Konsequenzen 4.11

Im Ergebnis führt die Haftungsfreistellung des vorläufigen Insolvenzverwalters und des Geschäftsführers im Fall der Weiterführung des Geschäftsbetriebs häufig zu einem faktischen Forderungsausfall beim Fiskus, da die Steuerforderungen aus dem weitergeführten Geschäftsbetrieb nur Insolvenzforderungen sind. Nach § 55 Abs. 2 InsO werden sie aber nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu Masseverbindlichkeiten, wenn sie von einem starken Insolvenzverwalter begründet wurden. Nach § 55 Abs. 4 InsO i.d.F. des Haushaltsbegleitgesetzes 20117 werden aber auch durch den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter begründete Steuerforderungen nunmehr (seit 1.1.2011) Masseverbindlichkeiten, wenn es zu einer Verfahrenseröffnung kommt.8 1 Vgl. BFH, Urt. v. 30.12.2004 – VII B 145/04, BFH/NV 2005, 665; Urt. v. 16.5.2017 – VII R 25/16, DB 2017, 1821. 2 BFH, Urt. v. 3.12.2004 – VII B 178/04, BFH/NV 2005, 661; Urt. v. 5.6.2007 – VII R 19/06, BFH/NV 2007, 2225. 3 Ebenso FG Münster, Beschl. v. 3.4.2017 – 7 V 492/17 U, EFG 2017, 883 mit Anm. Wackerbeck. 4 BFH, Urt. v. 3.12.2004 – VII B 178/04, BFH/NV 2005, 661; Beschl. v. 19.2.2010 – VII B 190/09, BFH/NV 2010, 1120. 5 Vgl. FG Münster, Urt. v. 2.7.2009 – 10 K 1549/08, EFG 2009, 1868; Schwedhelm, AG 2010, 407. 6 OLG Bremen, Urt. v. 16.4.2004 – 4 U 68/03, juris. 7 BGBl. I 2010, 1885. 8 S. Trottner, NWB 2011, 309 und BMF v. 17.1.2012, BStBl. I 2012, 120 mit ausführlicher Darstellung des Anwendungsbereichs von § 55 Abs. 4 InsO.

166

C. Haftung nach Insolvenzerçffnung

C. Haftung nach Insolvenzeröffnung I. Änderungen durch die Insolvenzrechtsreform Die Insolvenzrechtsreform hat Änderungen gebracht, die sich auch auf die Haf- 4.12 tung im Insolvenzfall auswirken. Das Konkursvorrecht nach § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO ist entfallen. Steuerforderungen und auch Haftungsansprüche werden wie alle anderen Ansprüche entsprechend der Quote befriedigt. Nur seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens laufende Zinsen der Insolvenzforderungen oder Kosten der Insolvenzgläubiger für die Teilnahme am Verfahren werden nach den Insolvenzforderungen beglichen (§ 39 InsO).

II. Steuerrechtliche Haftung des Insolvenzverwalters Die Rechte und Pflichten des Insolvenzverwalters entsprechen im Wesentlichen 4.13 denen des früheren Konkursverwalters.1 Er ist ebenso wie der Konkursverwalter Vermögensverwalter i.S.d. § 34 Abs. 3 AO.2 Der Insolvenzverwalter hat ferner wie der Konkursverwalter alle steuerrechtlichen Pflichten zu erfüllen. Zu seinen steuerrechtlichen Pflichten gehört es, noch ausstehende Steuer- 4.14 erklärungen des Schuldners zu erstellen und ggf. vom Schuldner abgegebene Steuererklärungen zu berichtigen. Insbesondere ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, für die durch seine Handlungen begründeten, zu den sonstigen Masseverbindlichkeiten rechnenden Abgabenforderungen Steuererklärungen oder Steueranmeldungen abzugeben. Zu den Abgabenforderungen, die zu den Masseverbindlichkeiten gehören, zählt die Umsatzsteuer auf Umsätze nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, Einkommensteuer/Körperschaftsteuer aus Einkünften nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, Lohnsteuer auf nach der Eröffnung gezahlte Löhne an die Mitarbeiter des Schuldners, Kfz-Steuer auf Entrichtungszeiträume nach der Eröffnung und Gewerbesteuer aus der Weiterführung des Gewerbebetriebs des Schuldners.3 Der Insolvenzverwalter ist auch bei einer masselosen Insolvenz verpflichtet, 4.15 Steuererklärungen abzugeben. Zwar ist der Insolvenzverwalter hierzu bis zur Beendigung des Insolvenzverfahrens verpflichtet; doch ist der Kausalzusammenhang zwischen Schaden (Steuerausfall) und Pflichtverletzung bei Masselosigkeit nicht gegeben, so dass der Insolvenzverwalter für eine solche Pflichtverletzung nicht in Haftung genommen werden könnte.4 Soweit der vorläufige Insolvenzverwalter Verbindlichkeiten begründet hat, gel- 4.16 ten diese nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten. Gleiches gilt für Verbindlichkeiten aus Dauer1 Koenig in Koenig, § 34 AO Rz. 28. 2 Schmittmann in K. Schmidt, Anhang Steuerrecht Rz. 82; Loose in Tipke/Kruse, § 34 AO Rz. 13. 3 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 75b; vgl. Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 66. 4 BFH, Urt. v. 19.12.1995 – VII R 53/95, BFH/NV 1996 522 (523) = UR 1997, 34 m.w. Nachw.; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 67.

167

Kap. 4 Haftung in der Insolvenz

schuldverhältnissen, soweit der vorläufige Insolvenzverwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. Zu diesen Verbindlichkeiten gehören auch Steuerschulden.1 Insoweit ist daher auch der Insolvenzverwalter verpflichtet entsprechend Steuererklärungen bzw. Voranmeldungen abzugeben. 4.17

Für die Pflichtverletzung ist es irrelevant, ob der Insolvenzverwalter die ihm obliegenden Pflichten persönlich oder durch einen Dritten vornimmt. Denn die Pflichtverletzung des Dritten kann dem Insolvenzverwalter zugerechnet werden. Hier gelten hinsichtlich des Verschuldens die gleichen Grundsätze wie bei der Geschäftsführerhaftung. Bedient er sich eines Dritten (z.B. Steuerberater), so hat er ein Auswahl- und Überwachungsverschulden zu verantworten (s. Rz. 2.140 ff. zum Verschulden des Geschäftsführers bei der Haftung nach § 69 AO).2

4.18

Soweit Steuern als Masseverbindlichkeiten entstehen, sind diese durch einen Steuerbescheid gegen den Insolvenzverwalter geltend zu machen.3 Die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind als Insolvenzschulden (§ 38 InsO) nach Verwertung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens anteilig zu berücksichtigen. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den Insolvenzverwalter begründete Steueransprüche, die zu den Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 InsO) gehören, hat er aus der Insolvenzmasse vorweg zu befriedigen. Gleiches gilt für die vom vorläufigen Insolvenzverwalter begründeten Verbindlichkeiten (§ 55 Abs. 2 InsO). Dabei ist bei Masseunzulänglichkeit der Grundsatz der anteiligen Tilgung auch vom Insolvenzverwalter zu beachten.4

III. Zivilrechtlicher Schadensersatz des Insolvenzverwalters 4.19

Neben steuerrechtlichen Pflichten bestehen insolvenzrechtliche Pflichten. Verletzt der Insolvenzverwalter spezielle insolvenzrechtliche Pflichten, so hat er gem. § 60 Abs. 1 InsO Schadensersatz zu leisten. Verschuldensmaßstab ist die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters, so dass nicht der Sorgfaltsmaßstab eines Kaufmanns, Geschäftsleiters oder eines Geschäftsmanns zugrunde zu legen ist. Für Erfüllungsgehilfen hat er gem. § 278 BGB einzustehen, es sei denn, er bedient sich gem. § 60 Abs. 2 InsO offensichtlich nicht ungeeigneter Angestellter des Schuldners im Rahmen ihrer bisherigen Tätigkeit – was häufig der Fall sein wird.5 In diesem Fall hat er nur für deren Überwachung und für Entscheidungen von besonderer Bedeutung verantwortlich einzustehen. Die Schadensersatzpflicht für insolvenzrechtliche Pflichtverletzungen verjährt gem. § 62 InsO nach den Regelungen über die regelmäßige Verjährung nach dem BGB. Eine weitere insolvenzrechtliche Schadensersatz1 Boeker in HHSp, § 34 AO Rz. 75b. 2 Vgl. Mösbauer, DStZ 2000, 446. 3 BFH, Urt. v. 15.3.1994 – XI R 45/93, BStBl. II 1994, 601; Urt. v. 9.2.2011 – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000; Urt. v. 24.8.2011 – V R 53/09, BStBl. II 2012, 256; Werth in Klein, § 251 AO Rz. 21. 4 Mösbauer, DStZ 2000, 447 f. 5 Vgl. Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 68.

168

D. Haftung nach Beendigung der Insolvenz

pflicht enthält § 61 InsO. Danach hat der Insolvenzverwalter dem Massegläubiger Schadensersatz dafür zu leisten, dass er eine Masseverbindlichkeit begründete, die nicht aus der Insolvenzmasse erfüllt werden kann. Voraussetzung ist aber, dass er bei Begründung der Verbindlichkeit die Masseunzulänglichkeit erkennen konnte. Dieser Anspruch spielt im Steuerrecht z.B. bei der Umsatzsteuer eine Rolle. Verkauft der Insolvenzverwalter Gegenstände der Insolvenzmasse, so handelt es sich bei der dabei entstandenen Umsatzsteuer um Masseverbindlichkeiten nach der InsO. Die Schadensersatzpflicht für diese Steuer gem. § 61 InsO ist mit den Gründen des BGH nicht mit Haftungsbescheid, sondern auf dem Zivilrechtsweg geltend zu machen; denn es handelt sich nicht um ein Einstehen für eine Steuerschuld eines anderen, sondern um einen Schadensersatzanspruch für eine eigene Pflichtverletzung.1

IV. Haftung des Schuldners und Vertreters Im Zeitraum nach Insolvenzeröffnung kommt eine Inanspruchnahme des 4.20 Schuldners oder des Vertreters grundsätzlich nicht in Betracht. Hier gilt das Gleiche wie im Fall eines Konkurses. Ausnahmsweise ist jedoch von einer Inanspruchnahme des Schuldners auszugehen, wenn er nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sein Unternehmen weiterbetreibt und hierzu der Insolvenzverwalter das Unternehmen als solches aus der Insolvenzmasse nach § 35 InsO freigibt oder die Gegenstände des Unternehmens zu den unpfändbaren Vermögensgegenständen, z.B. nach § 811 Nr. 5 ZPO, gehören2. Da der Unternehmer in diesem Fall der Insolvenzschuldner ist, sind Steuerforderungen (z.B. Umsatzsteuer) durch einen Bescheid gegen ihn und nicht gegen den Insolvenzverwalter geltend zu machen. Wurde neben der Freigabe eine Gewinnabführung an die Insolvenzmasse vereinbart, so kann das Finanzamt diese Ansprüche pfänden.3 Ist die Lohnsteuer betroffen, so kommt es nicht auf die Freigabe des Unternehmens, sondern allein darauf an, wer Arbeitgeber ist.4

D. Haftung nach Beendigung der Insolvenz Mit Beendigung des Insolvenzverfahrens (durch Einstellung des Verfahrens – 4.21 §§ 207 ff. InsO) erlangt der Schuldner wieder die Verfügungsmacht über das noch vorhandene Vermögen (§ 215 Abs. 2 InsO). Soweit Insolvenzforderungen nicht befriedigt wurden, können sie nun vom Gläubiger unbeschränkt auch im Wege der Einzelvollstreckung geltend gemacht werden (§§ 215 Abs. 2 Satz 2, 201 Abs. 1 InsO).5 Der Insolvenzverwalter verliert gleichzeitig seine Stellung, die er im Insolvenzverfahren innehatte. Daraus ergeben sich folgende haftungsrechtliche Konsequenzen: Für den Insolvenzverwalter bedeutet die Beendigung der Insolvenz den Verlust seiner Verfügungs- und Verwaltungsrechte. Jedoch braucht 1 2 3 4 5

BGH, Urt. v. 1.12.1988 – IX ZR 61/88, NJW 1989, 303 zu § 82 KO. BFH, Urt. v. 7.4.2005 – V R 5/04, BStBl. II 2005, 848. K. Schmidt in FS Kruse, 2001, S. 671. S. Niedersächsisches FG, Urt. v. 8.3.2007 – 11 K 565/06, EFG 2007, 1272. Jatzke in HHSp, § 251 AO Rz. 323.

169

Kap. 4 Haftung in der Insolvenz

er auch nicht mehr die steuerrechtlichen Pflichten zu erfüllen, die er mit Eröffnung der Insolvenz übernommen hat, so z.B. die Pflicht zur Erstellung von Steuererklärungen. Diese – wie alle anderen steuerlichen Pflichten – liegen wieder beim Schuldner. Auch endet mit der Einstellung des Insolvenzverfahrens die Erfüllungspflicht des Insolvenzverwalters. Es kommt infolgedessen nicht mehr zu einer Haftung desselben. Der Schuldner ist wieder wie jeder andere potentiell Haftende in Anspruch zu nehmen. 4.22

Während beim Konkurs nach seiner Beendigung eine Einzelvollstreckung gegen den Schuldner möglich war, sind bei einer Beendigung des Insolvenzverfahrens mittels rechtskräftig bestätigten Insolvenzplans die Abgabenforderungen, auf die nach dem Insolvenzplan kraft Gesetzes verzichtet werden muss, nicht mehr gegenüber dem Schuldner geltend zu machen. Das diesbezüglich bestehende Vollstreckungs- und Aufrechnungsverbot hindert aber nicht, die nicht bedienten Abgabenansprüche bei etwaigen Haftungsschuldnern einzufordern (sog. unvollkommene Verbindlichkeiten). Ausgenommen sind nur die Gesellschafter einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit oder einer Kommanditgesellschaft auf Aktien gem. § 227 Abs. 2 InsO. § 191 Abs. 5 Nr. 2 AO ist nicht anwendbar, da kein förmlicher Erlass vorliegt.1

E. Zum Verbraucherinsolvenzverfahren/vereinfachten Insolvenzverfahren nach §§ 304 ff. InsO 4.23

Neben dem eigentlichen Insolvenzverfahren wurde ein sog. Verbraucherinsolvenzverfahren nach den §§ 304 ff. InsO geschaffen, das von natürlichen Personen, die keine oder nur eine geringfügige selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausüben, beantragt werden kann. Bevor der Verbraucher jedoch ein solches Verfahren beantragt, ist er zuvor verpflichtet, in Verhandlungen mit seinen Gläubigern eine außergerichtliche Schuldenbereinigung zu versuchen. An die Stelle des Insolvenzverwalters wurde in den bis zum 30.6.2014 beantragten Insolvenzverfahren ein Treuhänder bestellt (§ 313 InsO a.F.). Seit dem 1.7.2014 nimmt die Aufgabe der Insolvenzverwalter wahr.2

4.24

Zu den Antragsberechtigten können auch Haftungsschuldner gehören, wenn sie im Zeitpunkt der Antragstellung die vorstehenden Voraussetzungen erfüllen.3 Wird das vereinfachte Insolvenzverfahren durch den Steuerpflichtigen beantragt, so wird durch den angenommenen Schuldenbereinigungsplan gem. § 308 Abs. 1 Satz 2 InsO die Wirkung eines (Prozess-)Vergleichs i.S.d. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erzielt. Soweit danach auf Forderungen verzichtet wird, liegen auch hier sog. „unvollkommene“ Forderungen vor, die zwar gegenüber dem Schuldner nicht mehr geltend gemacht werden dürfen (Vollstreckungsverbot, Aufrechnungsverbot), aber gleichwohl erfüllbar sind. Solche Forderungen können aber weiterhin etwaigen Haftungsschuldnern gegenüber geltend gemacht

1 Vgl. BMF-Schreiben v. 17.12.1998 – IV A 4 - S 0550 - 28/98, BStBl. I 1998, 1500 (1505). 2 Sternal in Uhlenbruck, § 313 InsO. 3 Vgl. BMF-Schreiben v. 10.12.1998 – IV D 6 - S 1900 - 45/98, BStBl. I 1998, 1497.

170

E. Zum Verbraucherinsolvenzverfahren/vereinfachten Insolvenzverfahren

werden.1 Gleiches gilt für eine Restschuldbefreiung, wonach der redliche Schuldner nach Ablauf von sechs Jahren unter bestimmten Bedingungen von der Restschuld befreit werden kann. Auch hier können gem. § 301 Abs. 2 InsO etwaige Haftungsschuldner noch in Anspruch genommen werden.2 Ebenso bleiben vor der Insolvenzeröffnung erlassene Haftungsbescheide Rechtsgrundlage für eine freiwillige Erfüllung.3 Übersicht zur Haftung in der Insolvenz

4.25

Haftung whrend des vorlufigen Insolvenzverfahrens – Haftung des Geschftsfhrer Eine Haftung des Geschftsfhrers kommt nur in Betracht, wenn ein „schwacher“ vorlufiger Insolvenzverwalter bestellt wurde. – Haftung des vorlufigen Insolvenzverwalters Der „starke“ vorlufige Insolvenzverwalter haftet grundstzlich fr die Lohnsteuer. Der „schwache“ vorlufige Insolvenzverwalter haftet nicht. Haftung nach Insolvenzerçffnung – Haftung des Insolvenzschuldners bzw. Geschftsfhrers Whrend des Insolvenzverfahrens besteht grundstzlich keine Haftung. – Haftung des Insolvenzverwalters Es besteht ein insolvenzrechtlicher Schadensersatzanspruch (§ 60 InsO). Eine Haftung nach §§ 34, 69 AO besteht bei spezifisch steuerrechtlichen Pflichtverletzungen. Haftung nach Beendigung des Insolvenzverfahrens – Haftung des Insolvenzschuldners Nach Beendigung des Insolvenzverfahrens besteht seine Haftung wieder. – Haftung des Insolvenzverwalters Mit Beendigung des Insolvenzverfahrens entfllt seine Haftung.

1 Vgl. BMF-Schreiben v. 17.12.1998 – IV A 4 - S 0550 - 28/98, BStBl. I 1998, 1500 (1506 i.V.m. 1505). 2 Vgl. BMF-Schreiben v. 17.12.1998 – IV A 4 - S 0550 - 28/98, BStBl. I 1998, 1500 (1507); a.A. Feldhausen, Stbg 1998, 469. 3 FG Münster, Urt. v. 9.6.2016 – 4 K 2154/15, EFG 2016, 1891 mit Anm. Reddig.

171

Kapitel 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen A. Sachhaftung (§ 76 AO). . . . . . . . .

5.1

B. Haftung bei Organschaft (§ 73 AO) I. Voraussetzungen der Haftung . . . II. Umfang der Haftung . . . . . . . . . . III. Geltendmachung der Haftung. . .

5.6 5.10 5.17

C. Haftung des Eigentümers von Gegenständen (§ 74 AO) I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen der Haftung . . . III. Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . IV. Geltendmachung der Haftung. . .

5.19 5.21 5.41 5.46

D. Haftung nach § 72 AO . . . . . . . . .

5.52

E. Haftung des Steuerhinterziehers und des Steuerhehlers (§ 71 AO) I. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . .

5.56 5.62

F. Spendenhaftung gem. § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG . . . . . . . . . . . . I. Ausstellerhaftung . . . . . . . . . . . . II. Veranlasserhaftung . . . . . . . . . . . III. Ermessensausübung . . . . . . . . . . IV. Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . V. Zum Verfahrensrecht . . . . . . . . .

5.66 5.68 5.70 5.74 5.75 5.76

G. Haftung beim Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen (§ 50a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entstehung der Steuer . . . . . . . . . II. Bemessungsgrundlage für die Höhe der Steuer . . . . . . . . . . . . . . 1. Pauschalierte Berücksichtigung der Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten . . . . . . . . . . . . .

5.79 5.81 5.82 5.83

2. Reisekosten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Steuerabzugssperre . . . . . . . . . . . 4. Berücksichtigung konkret entstandener Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten in EU- u. EWR-Fällen . . . . . . . . . . . III. Einbehaltung der Steuer . . . . . . . IV. Säumniszuschläge. . . . . . . . . . . . V. Zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . VI. Europarechtliche Bedenken . . . .

5.84 5.85

5.87 5.89 5.91 5.92 5.93

H. Haftung bei Abtretung von Forderungen nach § 13c UStG . . I. Haftungsvoraussetzungen . . . . . II. Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . III. Geltendmachung der Haftung . .

5.97 5.99 5.104 5.107

J. Haftung bei Mietkauf bzw. Leasing nach § 13d UStG . . . . . . I. Haftungsvoraussetzungen . . . . . II. Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . III. Geltendmachung der Haftung . . IV. Aufhebung des § 13d UStG . . . .

5.109 5.112 5.114 5.117 5.119

K. Haftung für schuldhaft nicht abgeführte Umsatzsteuer gem. § 25d UStG . . . . . . . . . . . . . I. Haftungsvoraussetzungen . . . . . II. Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . III. Geltendmachung der Haftung . .

5.120 5.123 5.128 5.129

L. Haftung des Leistungsempfängers für Bauleistungen gem. § 48a Abs. 3 EStG I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . II. Geltendmachung der Haftung . .

5.133 5.137

M. Haftung nach § 72a AO . . . . . . .

5.138

A. Sachhaftung (§ 76 AO) Schrifttum: Halaczinsky, Rz. 381; Olgemöller, Haftung für Zollschulden, ZfZ 2006, 744; Schmittmann, Biersteuer, Anfechtung und Sachhaftung, ZInsO 2009, 1949.

5.1

Die Vorschrift des § 76 AO, die ihren Vorgänger in § 121 RAO hat, bezieht sich auf Zölle und Verbrauchsteuern. Damit wird sie auch auf die Einfuhrumsatz-

172

A. Sachhaftung (§ 76 AO)

steuer angewandt. Die inländische Umsatzsteuer gilt als Verkehrssteuer und fällt daher nicht unter § 76 AO.1 Die Vorschrift ist veraltet, da sie von einer Steuerpflicht von Waren (Sachen) 5.2 ausgeht. Träger von steuerlichen Rechten und Pflichten können aber nur Personen sein.2 Die Sachhaftung ist daher ein Pfandrecht an beweglichen Sachen. Sie kann daher im Insolvenzverfahren eine Rolle spielen. Zwar ergibt sich aus der Sachhaftung kein Vorrecht der gesicherten Steuerschuld im Insolvenzverfahren. Sie ist eine einfache Insolvenzforderung. Die auf § 76 AO beruhende Sachhaftung bewirkt aber den Erwerb einer erstrangigen dinglichen Pfandberechtigung, die ein entsprechendes Absonderungsrecht gem. § 51 Nr. 4 InsO begründet.3 Sie begründet ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis. Gegenstand der Haftung sind also Sachen, auf denen nach dem Zolltarif bzw. Verbrauchsteuergesetzen Zölle oder Verbrauchsteuern ruhen. Die Haftung entsteht gem. § 76 Abs. 2 AO mit dem Verbringen der Sachen in 5.3 den Geltungsbereich der AO oder bei verbrauchsteuerpflichtigen Waren auch mit Beginn ihrer Gewinnung oder Herstellung. Damit kann sie auch schon vor Entstehung der Steuerschuld begründet sein. Z.B. ergibt sich in der Regel die Einfuhrzollschuld erst u.a. dann, wenn die Ware in den freien Verkehr überführt worden ist. Die Haftung endet mit dem Erlöschen der Zoll- oder Steuerschuld (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AO). Gem. § 47 AO wird die Steuerschuld durch Zahlung (§§ 224, 225 AO), Aufrechnung (§ 226 AO) sowie Verjährung (§§ 169 ff., 228 ff. AO) getilgt, nicht aber dadurch, dass der Steuerschuldner verstirbt.4 Dann geht sie auf den Gesamtrechtsnachfolger gem. § 45 Abs. 1 Satz 1 AO über.5 Die Vorschrift des § 76 Abs. 4 AO ist abschließend, so dass die Haftung nicht erlischt, wenn das Zollgut aus dem Zollgebiet austritt. Gem. § 76 Abs. 3 AO kann die Finanzbehörde die Sachen durch Beschlagnahme 5.4 vor Beeinträchtigungen tatsächlicher Art schützen. Die Beschlagnahme ist ab dem Zeitpunkt der Entstehung der Haftung zulässig.6 Die Steuer braucht somit noch nicht entstanden zu sein.7 Die Beschlagnahme ist ein vollziehbarer Verwaltungsakt. Sie erfolgt dadurch, dass das Hauptzollamt – nicht aber ein Zollfahndungsamt – als zuständige Behörde die Waren in Gewahrsam nimmt. Gegen die Beschlagnahme ist gem. § 347 AO das Rechtsmittel des Einspruchs gegeben. Die Finanzverwaltung kann die Waren zum Zwecke der Steuertilgung verwerten. Die Verwertung erfolgt durch öffentliche Versteigerung (§ 327 Satz 2 i.V.m. § 296 Abs. 1 AO). Diese darf jedoch erst stattfinden, wenn dem Eigentümer der haftenden Sache die Verwertungsabsicht bekannt gegeben wurde und seitdem eine Woche vergangen ist.

1 2 3 4 5 6 7

Halaczinsky, Rz. 381; Loose in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 1. Loose in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 2. BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, NJW-RR 2010, 118. Halaczinsky, Rz. 386. Loose in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 7. Loose in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 8. Loose in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 8; Halaczinsky, Rz. 389; Rüsken in Klein, § 76 AO Rz. 5.

173

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

5.5

Die Haftung wird geltend gemacht, indem die Finanzbehörde die Verwertung anordnet. Eines eigenständigen Haftungsbescheids gem. § 191 Abs. 1 AO bedarf es nicht1, denn die Sachhaftung lastet als ein öffentlich-rechtliches Pfandrecht kraft Gesetzes auf den Waren.

B. Haftung bei Organschaft (§ 73 AO) Schrifttum: Mösbauer, Haftung bei der Organschaft nach Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuerrecht, INF 1989, 265; Maus, Die steuerliche Organschaft in der Insolvenz, FS Uhlenbruck, 2000, S. 813; Becker, Die Haftung nach §§ 73 und 74 AO, StBp 2000, 278; Breuer, Haftung bei Organschaft, AO-StB 2003, 342; Gehm, Haftung für Steuern bei Organschaft nach § 73 AO, BuW 2003, 406; Rondorf, Auswirkungen der Insolvenz auf die umsatzsteuerliche Organschaft; INF 2003, 463; Onusseit, Die umsatzsteuerliche Organschaft in der Insolvenz, ZIP 2003, 743; Halaczinsky, Rz. 231; Blesinger, S. 69 ff.; Urban, Keine Haftung der Organgesellschaft für steuerliche Nebenleistungen des Organträgers, KFR Fach 2 AO § 73 1/05, 99; Bröder, Die Haftung im Organkreis nach § 73 AO, NWB Fach 2, 9037; Lüdicke, Die Haftung in der körperschaftsteuerlichen und gewerbesteuerlichen Organschaft, FS Herzig, 2010, S. 259; Meyer, Asset deal wegen § 73 AO? – Reichweite der Haftung bei Unternehmensverkäufen, DStR 2011, 109; Elicker/Hartrott, Angriffspunkte gegen die Haftung im Organkreis Teil 1, BB 2011, 2775 und Teil 2 BB 2011, 3093; Gehm, Die Haftung bei Organschaft gemäß § 73 AO – Risikoprofil in der Praxis, StBp 2016, 37; Sonnleitner, „Einer für alle – wie weit geht die Haftung nach § 73 AO?“, BB 2016, 744. Verwaltungsanweisungen: AO-Handbuch 2017; BMF v. 26.8.2003, BStBl. I 2003, 437.

I. Voraussetzungen der Haftung 5.6

Die Vorschrift des § 73 AO, deren Vorgänger § 114 RAO war, regelt die Haftung der Organgesellschaft für Steuern des Organträgers. Der Haftung liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Organgesellschaft für die Steuern des Organträgers einstehen soll, für die die Organschaft von Bedeutung ist. Denn der Organträger wird bei steuerlicher Anerkennung der Organschaft auch mit den Steuern belastet, die ansonsten die Organgesellschaft zu tragen hätte.2 Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners gem. § 73 AO bezieht sich nicht auf Steuern, die sich rechtlich als „eigene“ Steuerschulden des Haftungsschuldners darstellen. Das Einkommen der Organgesellschaft wird dem Organträger zugerechnet und damit von diesem versteuert. Bezogen auf das zugerechnete Einkommen ist Steuerschuldner somit der Organträger.3 Hiervon geht auch § 73 AO aus, der die Haftung der Organgesellschaft „für Steuern des Organträgers“ regelt. Das Gesellschaftsvermögen soll für die Entrichtung der Steuern zur Verfügung stehen.

5.7

Zunächst ist das Bestehen einer Organschaft für die Haftung Voraussetzung. Ob eine Organschaft i.S.d. § 73 AO vorliegt, richtet sich nach den Bedingungen 1 Loose in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 16; Boeker in HHSp, § 76 AO Rz. 28; Halaczinsky, Rz. 394. 2 Vgl. BT-Drucks. VI/1982, 120. 3 FG Münster, Urt. v. 4.8.2016 – 9 K 3999/13 K,G, EFG 2017, 149, Rev. eingelegt Az. BFH I R 78/16.

174

B. Haftung bei Organschaft (§ 73 AO)

in den Steuergesetzen.1 Eine Organschaft ist gegeben, wenn eine Kapitalgesellschaft (= Organgesellschaft) nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in ein anderes Unternehmen (= Organträger) integriert ist. Organgesellschaft kann nur eine Kapitalgesellschaft sein.2 Im Einzelnen sind aber die Voraussetzungen für eine Organschaft unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um eine Organschaft im Körperschaft- und Gewerbesteuerrecht einerseits oder im Umsatzsteuerrecht andererseits handelt. So kommen bei der Gewerbesteuer3 und auch bei der Körperschaftsteuer grundsätzlich nur inländische Gesellschaften als Organträger und Organgesellschaft in Betracht. Es genügt aber z.B. bei der Gewerbesteuer, wenn sich gem. § 2 Abs. 2 Satz 3 GewStG eine Betriebsstelle im Inland befindet. Bei der Umsatzsteuer sind die Anforderungen strenger. Ein Organschaftsverhältnis ist dort generell nur zwischen inländischen Unternehmen möglich. Weiter erfordert die Organschaft bei der Gewerbe- und Körperschaftsteuer nach außen in Erscheinung tretende Gewerbebetriebe mit Geschäftsleitung und Sitz im Inland. Dagegen reicht bei der Umsatzsteuer aus, wenn der Organträger erst durch die dienende Funktion der Organgesellschaft zum Unternehmer wird. Je nachdem, für welche Steuer die Organgesellschaft haften soll, sind auch die entsprechenden Anforderungen an die Organschaft zu beachten. Im Einzelnen lassen sich folgende Steuern, für die die Organgesellschaft haftet, 5.8 unterscheiden: Die Umsatzsteuer wird gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG dem Organträger zugerechnet. Bezüglich der Gewerbesteuer gilt gem. § 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG bei einer Organschaft die Organgesellschaft als Betriebsstätte des anderen Unternehmens, so dass der Gewerbesteuermessbetrag bei dem Organträger festgestellt wird. Neben dem Vorliegen einer Organschaft ist bei der Körperschaftsteuer noch ein Gewinnabführungsvertrag erforderlich, damit die Steuer dem Organträger zugerechnet werden kann. Der Gewinnabführungsvertrag beinhaltet die Verpflichtung der Organgesellschaft, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen. Liegen diese Voraussetzungen vor, wird das Einkommen des Organs gem. § 14 Abs. 1 KStG dem Organträger zugerechnet. Haftungsschuldner ist die Organgesellschaft. Sind mehrere Organgesellschaften 5.9 vorhanden, unterliegen alle der Haftung des § 73 AO.4

II. Umfang der Haftung Die Haftung des § 73 AO ist sachlich beschränkt auf die Steuern, für welche ei- 5.10 ne Organschaft besteht. Beispiel: Es besteht nur eine umsatzsteuerliche Organschaft. Dann haftet die Organgesellschaft auch nur für die Umsatzsteuer. Die Haftung erstreckt sich nicht auch auf die Körperschaftsteuer oder Gewerbesteuer der Muttergesellschaft.5 1 2 3 4 5

AEAO zu § 73 Nr. 2. BFH, Urt. v. 7.12.1978 – V R 22/74, BStBl. II 1979, 356 (357). Vgl. auch Nacke, Verwaltungsrundschau 1996, 197. A.A. Elicker/Hartrott, BB 2011, 2775. AEAO zu § 73 Nr. 1.

175

5.11

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

5.12

Die Haftung ist aber nicht auf den Anteil der Steuer beschränkt, der von der Organgesellschaft herrührt, sondern umfasst gem. § 73 Satz 1 AO die gesamte Steuer des Organträgers („haftet für … Steuern des Organträgers“).1

5.13

Beispiel: Es besteht eine umsatzsteuerliche Organschaft. Die Organgesellschaft macht im Jahr 01 steuerpflichtige Umsätze in Höhe von 1160000 Euro (USt: 160000 Euro). Der Organträger macht im gleichen Zeitraum Umsätze in Höhe von 2320000 Euro. Die Umsatzsteuerlast des Organträgers beträgt 480000 Euro. Die Organgesellschaft haftet gem. § 73 AO nicht nur für 160000 Euro USt, sondern für den Gesamtbetrag von 480000 Euro USt.

5.14

Diese Haftung gilt auch für Steuern, die bei einer anderen Organtochter angefallen sind.2 Die Haftung gem. § 73 AO greift auch bei mittelbaren Organschaftsverhältnissen ein (z.B. im Verhältnis der Enkelgesellschaft zur Muttergesellschaft).3 Eine solche Regelung wird in der Literatur abgelehnt.4 Man begründet dieses damit, dass es eine verfassungsrechtlich bedenkliche Inanspruchnahme von Minderheitsgesellschaftern, die an der Tochtergesellschaft beteiligt sind, darstelle, wenn diese auch für Steuern haften sollen, die beim Organträger oder sogar einer anderen Tochter angefallen sind. Das Argument aus den Gesetzesmaterialien, wonach eine Aufteilung der Steuerschulden zu „unüberwindlichen Schwierigkeiten“ führe, sei unhaltbar. Wegen der eigenständigen Bilanzierung bei den Tochtergesellschaften sei es ein leichtes, die Aufteilung der Steuer vorzunehmen. Auch würden die Umsätze der Tochtergesellschaft gesondert erfasst, so dass der Umsatzsteueranteil ohne weiters ermittelt werden könne. M.E. ist aber die umfassende Haftung zu bejahen.5 Schon nach § 114 RAO haftete die Organgesellschaft für die gesamte Steuer. Dies ist u.a. dadurch gerechtfertigt, dass wirtschaftlich das Organ ein unselbständiger Teil des Organträgers ist. Das wirtschaftlich einheitliche Unternehmen hat auch für die Steuerschulden einheitlich zu haften.6 Außerdem soll die Finanzbehörde zu Recht von der Ermittlungspflicht freigestellt werden, die nicht ohne weiteres durchschaubaren Verpflichtungen innerhalb der Organschaft aufzuklären.7 Im Übrigen entstehen die Steuernachforderungen, für die die Organgesellschaft in Haftung genommen werden soll, in Zeiten, in denen die Buchführung häufig schon Mängel aufweist und für die Bilanzen nicht vorliegen. Nach Ansicht des FG Nürnberg8 ist es ermessensgerecht, wenn man unter bestimmten Umständen eine Haftungsbeschränkung vornimmt.

1 FG Düsseldorf, Urt. v. 19.2.2015 – 16 K 932/12 H(K), GmbHR 2015, 1116, Rev. eingelegt Az. BFH I R 54/15; a.A. Elicker/Hartrott, BB 2011, 2775 (2776 ff.); Sonnleitner, BB 2016, 744. 2 Mösbauer, INF 1989, 269. 3 FG Düsseldorf, Urt. v. 19.2.2015 – 16 K 932/12 H(K), GmbHR 2015, 1116, Rev. eingelegt Az. BFH I R 54/15; kritisch Sonnleitner, BB 2016, 744. 4 Goutier, S. 59; Loose in Tipke/Kruse, § 73 AO Rz. 8; a.A. Rüsken in Klein, § 73 AO Rz. 7; vgl. auch Lüdicke, FS Herzig, S. 259. 5 Ebenso FG Saarland, Urt. v. 19.3.2002 – 2 K 206/98, Der Konzern 2003, 74. 6 v. Wallis in HHSp (1.–6. Aufl.), § 73 AO Rz. 1 a.E. 7 Vgl. BFH, Beschl. v. 21.11.2003 – V B 104/02, n.v.; Rüsken in Klein, § 73 AO Rz. 7. 8 FG Nürnberg, Urt. v. 11.12.1990 – II 238/86, EFG 1991, 437 (438) m.w. Nachw.

176

B. Haftung bei Organschaft (§ 73 AO)

Die Haftung umfasst alle Steuerarten. Eine Beschränkung auf Betriebssteuern, 5.15 wie sie noch § 114 RAO vorsah, entfällt.1 Für Steuerabzugsbeträge wird nicht gehaftet, weil sie keine Steuern sind2, ebenso wenig für steuerliche Nebenleistungen wie schon am Wortlaut des § 73 AO erkennbar ist.3 Somit wird auch nicht für Nachforderungszinsen gehaftet.4 Gehaftet wird sowohl für Steuern als auch gem. § 73 Satz 2 AO für Ansprüche auf Erstattung von zu Unrecht gewährten Steuervergütungen. Von § 73 AO werden aber auch Ansprüche auf Erstattung von zu Unrecht gewährten Steuererstattungen erfasst.5 Zu diesen gehören vor allem Umsatzsteuerfestsetzungen oder -anmeldungen mit negativer Zahllast, die aufgehoben oder zum Nachteil für den Steuerpflichtigen geändert worden sind. Die Haftung ist zeitlich beschränkt auf die Steuern und auch Erstattungsan- 5.16 sprüche, die nach Begründung der Organschaft und vor dem Wegfall der Organschaftsvoraussetzungen entstanden sind.6 Es ist aber zu beachten, dass bei Wegfall des Organschaftsverhältnisses innerhalb eines Wirtschaftsjahres je nach Steuerart eine unterschiedliche Berechnung der Steuern, für die gehaftet werden soll, eintreten kann. Die USt entsteht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraumes, in dem entweder die Leistungen ausgeführt oder die Entgelte vereinnahmt worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und b UStG). Die Haftung kann sich daher auf USt-Forderungen für Voranmeldungszeiträume innerhalb eines Wirtschaftsjahres beziehen. Anders ist jedoch die Situation bei der KSt. Gem. § 14 KStG ist für eine beim Organträger vorzunehmende Einkommenszurechnung erforderlich, dass die Organschaft von Beginn bis zum Ende eines Wirtschaftsjahres ununterbrochen bestanden hat, denn es handelt sich bei der KSt um eine Jahressteuer. Endet die Organschaft innerhalb eines Wirtschaftsjahres, so kommt eine Haftung für dieses Jahr nicht in Betracht.7

III. Geltendmachung der Haftung Die Haftung hat ihre Rechtsgrundlage in § 73 AO. Damit handelt es sich um ei- 5.17 ne Haftung kraft Steuergesetzes. Wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet, kann gem. § 191 Abs. 1 AO mit Haftungsbescheid in Haftung genommen werden. Die Geltendmachung der Haftung kann auch dann noch erfolgen, wenn die Organschaft bereits aufgehoben ist.8 Im Rahmen der Ermessensentscheidung ist nach 1 FG Düsseldorf, Urt. v. 19.2.2015 – 16 K 932/12 H(K), GmbHR 2015, 1116, Rev. eingelegt Az. BFH I R 54/15. 2 Rüsken in Klein, § 73 AO Rz. 10. 3 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 76/03, BFH/NV 2005, 95; a.A. wohl Mösbauer, INF 1989, 269. 4 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 76/03, BFH/NV 2005, 95; Niedersächsisches FG, Urt. v. 4.3.2003 – 11 K 262/02, FGReport 2004, 3. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 73 AO Rz. 7; a.A. Boeker in HHSp, § 73 AO Rz. 17; Intemann in Koenig, § 73 AO Rz. 16; offen gelassen FG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.2016 – 6 K 4464/12 H(K), juris. 6 Mösbauer, INF 1989, 269; Boeker in HHSp, § 73 AO Rz. 20. 7 FG München, Urt. v. 18.9.1991 – 3 K 4202/88, EFG 1992, 373, das jedoch auf eine Ausnahme hinweist. 8 FG Düsseldorf, Urt. v. 18.5.1978 – XI 68/73 U, EFG 1978, 528.

177

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

überwiegender Ansicht auf die Frage nach der Haftungsbeschränkung einzugehen.1 Dabei soll geklärt werden, inwieweit die betreffende Organgesellschaft keinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Gestaltung gezogen hat oder inwieweit ihr Vermögenswerte übertragen wurden.2 5.18

Prüfungsschema für eine Organhaftung gem. § 73 AO I. Haftungsvoraussetzungen 1. Organschaft Ob eine Organschaft vorliegt, richtet sich nach dem jeweiligen Steuergesetz, das fr die einzelne Steuer von Bedeutung ist (z.B. § 14 KStG, § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, § 2 Abs. 2 GewStG). 2. Haftungsschuldner ist die Organgesellschaft. II. Rechtsfolge Sachliche Beschrnkung auf Steuern des Organtrgers a) Alle Steuerarten kçnnen in Betracht kommen (nicht nur Betriebssteuern). b) Steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 3 AO) und Steuerabzugsbetrge werden nicht erfasst. c) Die Haftung ist auf die Steuerart beschrnkt, fr die eine Organschaft besteht. d) Es wird fr die gesamte Steuerschuld des Organtrgers gehaftet; unabhngig davon, ob sie beim Organtrger oder einer Organgesellschaft angefallen ist (str.). Zeitliche Beschrnkung auf Steuern, die whrend des Bestehens der Organschaft entstanden sind. III. Zur Geltendmachung der Haftung Nach berwiegender Auffassung ist im Rahmen der Ermessensausbung auf eine Beschrnkung der Haftung auf die Steuern einzugehen, die bei der Organgesellschaft angefallen sind.

C. Haftung des Eigentümers von Gegenständen (§ 74 AO) Schrifttum: Milatz, Haftung für Steuerschulden des Unternehmens, INF 1985, 320; Mösbauer, Die Haftung des Eigentümers von Gegenständen für Steuern des Unternehmens bei tatsächlicher oder fiktiver wesentlicher Beteiligung, DStZ 1996, 513; Becker, Die Haftung nach § 73 und 74 AO, StBp 2000, 278; Braun, Voraussetzung und Umfang einer Haftung nach § 74 AO, EFG-Beilage 2000, 33; Adamek/Loose, Die Haftung der GmbH-Gesellschafter nach § 74 AO, GmbHR 2001, 649; Bröder, Haftung des Eigentümers von Gegenständen nach § 74 AO, NWB Fach 2, 8233; Halaczinsky, Rz. 251; Bruschke, Die Haftung des Eigen-

1 Halaczinsky, Rz. 244. 2 FG Saarland, Urt. v. 19.3.2002 – 2 K 206/98, Der Konzern 2003, 74; Loose in Tipke/Kruse, § 73 AO Rz. 8; Halaczinsky, Rz. 244; Rüsken in Klein, § 73 AO Rz. 12.

178

C. Haftung des Eigentmers von Gegenstnden (§ 74 AO) tümers von Gegenständen für die Steuerschulden des Nutzers nach § 74 AO, StB 2008, 168; Haritz, Renaissance der Gesellschafterhaftung nach § 74 AO, DStR 2012, 883; Dißars, Haftung des Eigentümers von Gegenständen nach § 74 AO, NWB 2013, 3763; Dusch, Rechtscharakter des Haftungsanspruchs nach § 74 AO, DStR 2013, 19. Verwaltungsanweisungen: AO-Handbuch 2017

I. Allgemeines Der Vorschrift ging § 115 RAO voraus. Wie bei der Haftung des Betriebsüber- 5.19 nehmers gem. § 75 AO geht es auch hier um die Sicherung der Vollstreckung von Betriebssteuern. Gehören Gegenstände eines Unternehmens einer an dem Unternehmen wesentlich beteiligten Person, so haftet diese für die Betriebssteuern. Den Haftungsgrund nach § 74 Abs. 1 Satz 1 AO bildet nicht die wesentliche Beteiligung am Unternehmen als solche, sondern der objektive Beitrag, den der Gesellschafter durch die Bereitstellung von Gegenständen, die dem Unternehmen dienen, für die Weiterführung des Gewerbebetriebes geleistet hat.1 Diese Haftung ist aber – ebenso wie bei der Haftung des Betriebsübernehmers – auf diese Gegenstände des am Unternehmen Beteiligten beschränkt (§ 74 Abs. 1 Satz 1 AO: „… mit diesen …“). Wie für steuerrechtliche Haftungsvorschriften typisch, hat die am Unternehmen beteiligte Person gem. § 74 AO für eine fremde Schuld einzustehen. Infolgedessen setzt dies eine Steuerschuld des Unternehmens voraus. Diese ist gegeben, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber dem Steuerschuldner – hier dem Unternehmen – entstanden und nicht nach § 47 AO durch Zahlung (§§ 224, 224a, 225 AO), durch Aufrechnung (§ 226 AO), Erlass (§§ 163, 227 AO) oder Verjährung (§§ 169 ff., 228 ff. AO) erloschen ist. Die Steuer muss entstanden sein. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis 5.20 entstehen nach § 38 AO, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den die Einzelsteuergesetze die Leistungspflicht knüpfen. Die Vorschrift ist verfassungsgemäß und verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.2

II. Voraussetzungen der Haftung Im Einzelnen müssen für die Haftung nach § 74 AO folgende Voraussetzungen 5.21 erfüllt sein: Zunächst müssen Gegenstände des Inanspruchgenommenen einem Unternehmen dienen. Was Gegenstände sind, ergibt sich aus dem Zivilrecht. Das BGB definiert diesen Begriff nicht. Gegenstand ist alles, was Objekt von Rechten sein kann.3 Die §§ 90 ff. BGB regeln einige dieser Objekte. Danach gehören dazu vor allem bewegliche und unbewegliche Sachen, aber auch Forderungen, immaterielle Wirtschaftsgüter und sonstige Vermögensgegenstände.

1 BFH, Urt. v. 13.11.2007 – VII R 61/06, BStBl. II 2008, 790. 2 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.12.1966 – 1 BvR 496/65, BStBl. III 1967, 166; Loose in Tipke/ Kruse, § 74 AO Rz. 2; Bax, S. 138 ff.; a.A. Milatz, INF 1985, 321. 3 Ellenberger in Palandt, vor § 90 BGB Rz. 2.

179

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

Keine Gegenstände sind aber Persönlichkeits-, Familien- und sonstige Gestaltungsrechte (z.B. Kündigungs- und Anfechtungsrechte).1 5.22

Ob zu den Gegenständen i.S.d. § 74 AO auch immaterielle Wirtschaftsgüter gehören, ist umstritten.2 Da aber immaterielle Wirtschaftsgüter, die auch dem Unternehmen dienen können und einem anderen gehören, nach dem Gesetzeszweck wie materielle Gegenstände zu behandeln wären, hat der BFH die Haftung hierauf ausgedehnt. Somit haften auch immaterielle Wirtschaftsgüter (z.B. Erbbaurechte und andere grundstücksgleiche Rechte).3

5.23

Die Gegenstände müssen weiterhin einem Unternehmen dienen. Unternehmen ist jede organisatorische Zusammenfassung zur Verfolgung eines wirtschaftlichen oder ideellen Zwecks. Damit ist der Unternehmensbegriff nicht nur auf gewerbliche Unternehmen begrenzt, sondern es kommen auch land- und forstwirtschaftliche oder freiberufliche Unternehmen in Betracht.4 Dieses ergibt sich auch aus der Abgrenzung zu der Vorgängernorm. Nach § 115 Abs. 1 RAO war die Haftung noch auf Gegenstände beschränkt, die „einem gewerblichen Unternehmen“ dienten. § 74 AO spricht nur noch von „Unternehmen“.

5.24

Die Gegenstände müssen ferner diesem Unternehmen „dienen“. Der Terminus ist vergleichbar mit dem Begriff der wesentlichen Betriebsgrundlage bei der Betriebsaufspaltung. Letzterer ist durch Rechtsprechung und Lehre genauer umrissen. Ein Gegenstand dient dem Unternehmen, wenn er durch dasselbe benutzt, verwertet oder sonst wie sinnvoll eingesetzt wird.5 Die Gegenstände dürfen für das Unternehmen nicht von untergeordneter Bedeutung sein.6

5.25

Beispiel: Eine KG nutzt in den Jahren 01 bis 02 ein Kiesgrubengrundstück eines Gesellschafters. Ab 03 liegt das Grundstück brach, wird aber in einer Sonderbilanz der KG weitergeführt. Hier fehlt es an einem wesentlichen Beitrag des Grundstücks ab dem Jahr 03.7

5.26

Auch dürfen sie nicht nur vorübergehend dem Betrieb des Unternehmens dienen. Mösbauer weist zu Recht darauf hin, dass eine geringe Nutzung für andere Zwecke die Haftung nicht ausschließt.8 Wird z.B. ein Grundstück, das dem Unternehmen zu mehr als 80 % dient, im Übrigen anderweitig genutzt, so dient es

1 Ellenberger in Palandt, vor § 90 BGB Rz. 2; Mösbauer, DStZ 1996, 514; a.A. AEAO zu § 74 Nr. 1, wonach der Inhaber von Rechten (immateriellen Wirtschaftsgütern) nicht haftet. 2 Ablehnend z.B. Mösbauer, DStZ 1996, 513. 3 BFH, Urt. v. 23.5.2012 – VII R 28/10, BStBl. II 2012, 763 zu Erbbaurechten; bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 17.9.2013 – 1 BvR 1928/12, HFR 2013, 1156; BFH, Urt. v. 23.5.2012 – VII R 29/10, BFH/NV 2012, 1924; zustimmend Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 5; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 20; Jatzke in Beermann/Gosch, § 74 AO Rz. 7. 4 Milatz, INF 1985, 323. 5 Mösbauer, DStZ 1996, 514. 6 BFH, Urt. v. 27.6.1957 – V 298/56 U, BStBl. III 1957, 279 (280); FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162; FG Düsseldorf, Urt. v. 12.10.2006 – 11 K 2025/06 F, EFG 2007, 13; Milatz, INF 1985, 323; Rüsken in Klein, § 74 AO Rz. 8; Halaczinsky, Rz. 258. 7 FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162. 8 Mösbauer, DStZ 1996, 514.

180

C. Haftung des Eigentmers von Gegenstnden (§ 74 AO)

gleichwohl dem Unternehmen.1 Außer beweglichen Gegenständen kommen als Haftungsmassen auch Grundstücke in Betracht. Neben einer ganzen Grundstücksfläche können ebenso Teilflächen in den Haftungsverband einfließen. Die Teilfläche muss aber dem Betrieb dienen und vor allem vom übrigen Grundstück abgrenzbar sein, wobei eine grundbuchmäßig gesonderte Eintragung nicht erforderlich ist.2 Es muss jedoch die Möglichkeit einer grundbuchmäßigen Verselbständigung der betreffenden Teilflächen bestehen.3 Die bloße Möglichkeit der Schaffung von Wohnungseigentum reicht aber nicht aus, so dass einzelne Räume für eine Zwangsvollstreckung nicht zur Verfügung stehen.4 Die Wohnungsgrundbuchblätter müssen, wie Loose zu Recht hervorhebt, bereits vorhanden sein.5 Der Haftung steht auch nicht entgegen, wenn der Gegenstand von mehreren Unternehmen benutzt wird. Beispiel: Autohaus A GmbH hat von seinem Alleingesellschafter B ein Grundstück zur Nutzung überlassen bekommen. Gleichzeitig wird das Grundstück als Parkplatz für Lkws des B benutzt, die dieser in sein Speditionsunternehmen B eingebracht hat. B haftet mit dem Grundstück für Steuerschulden der A GmbH, auch wenn das Grundstück durch sein anderes Unternehmen benutzt wird.6

5.27

Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob der Gegenstand 5.28 unmittelbar oder nur mittelbar durch den Eigentümer dem Unternehmen dient. So reicht es, wenn der Gegenstand im Rahmen eines Schuldverhältnisses mit einem zwischengeschalteten Dritten zur Verfügung gestellt wird.7 Weiterhin brauchen die Haftungsgegenstände im Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht mehr dem Unternehmen zu dienen.8 Zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme muss der Haftende Eigentümer des Ge- 5.29 genstandes gewesen sein, welcher dem Unternehmen dient.9 Im Zeitpunkt des Entstehens der Betriebssteuern braucht er noch nicht zivilrechtlicher Eigentümer des betreffenden Gegenstandes zu sein.10 Da die Vorschrift des § 74 AO die Vollstreckung in die Gegenstände ermöglichen will, ist daher das zivilrechtliche Eigentum maßgeblich.11 Die besonderen steuerrechtlichen Zurechnungsvor-

1 FG Bremen, Urt. v. 1.3.1956 – I 363/55, EFG 1956, 224; Milatz, INF 1985, 323; Mösbauer, DStZ 1996, 514; Rüsken in Klein, § 74 AO Rz. 8; Halaczinsky, Rz. 259. 2 Milatz, INF 1985, 323; Mösbauer, DStZ 1996, 514. 3 BFH, Urt. v. 2.2.1961 – IV 395/58 U, BStBl. III 1961, 216; Halaczinsky, Rz. 259. 4 FG Bremen, Urt. v. 9.9.1977 – II 27/75, EFG 1978, 2; Milatz, INF 1985, 323; Mösbauer, DStZ 1996, 514; Halaczinsky, Rz. 259. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 6; a.A. Adamek/Loose, GmbHR 2001, 652. 6 Vgl. BFH, Urt. v. 23.2.1988 – VII R 99/85, BFH/NV 1988, 617; Beschl. v. 14.6.1994 – VII B 239/93, BFH/NV 1995, 89; FG Baden-Württemberg, Urt. v. 30.4.1985 – I 10/81, EFG 1985, 533. 7 FG Köln, Urt. v. 9.12.1999 – 15 K 1756/91, EFG 2000, 203. 8 Niedersächsisches FG, Urt. v. 24.9.1980 – VI 264/77, EFG 1981, 58. 9 FG Düsseldorf, Urt. v. 12.10.2006 – 11 K 2025/06 F, EFG 2007, 13; FG Münster, Urt. v. 15.9.2009 – 2 K 32/09 U, EFG 2010, 287. 10 FG Münster, Urt. v. 15.9.2009 – 2 K 32/09 U, EFG 2010, 287. 11 FG München, Urt. v. 15.9.2005 – 14 K 2643/02, juris; FG Köln, Urt. v. 9.12.1999 – 15 K 1756/91, EFG 2000, 203.

181

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

schriften wie § 39 AO kommen deshalb nicht zur Anwendung.1 Somit kann der Sicherungseigentümer als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden.2 Auch derjenige, der sich als Verkäufer das Eigentum vorbehalten hat, kann unter den weiteren Voraussetzungen des § 74 AO als Haftungsschuldner herangezogen werden.3 Jedoch ist der Eigentumsvorbehaltskäufer, wenn er den Gegenstand dem Unternehmen zur Verfügung stellt, nicht als Haftungsschuldner tauglich.4 5.30

Träger der Beteiligung können natürliche und auch juristische Personen sein. Auch die Haftung eines Miteigentümers kommt in Betracht. Der Miteigentümer haftet, wenn er wesentlich beteiligt oder beherrrschenden Einfluss ausübt. In seinen Miteigentumsanteil kann gesondert vollstreckt werden. Daneben kommt auch die Haftung der Gesamthandseigentümer in Betracht. Jedoch setzt dies voraus, dass alle Personen der Gesamthandsgemeinschaft wesentlich an dem Unternehmen beteiligt sind.5 Der Grund dafür liegt darin, dass eine Vollstreckung nur in den zum Gesamthandsvermögen gehörenden Gegenstand, nicht aber in einen Anteil der zum Gesamtvermögen gehörenden Gegenstände erfolgen kann.6 Weitere Voraussetzung ist, dass die überlassenen Gegenstände das gesamte Vermögen der Gesellschaft ausmachen.7

5.31

Die Haftung nach § 74 AO setzt weiter voraus, dass der Inanspruchgenommene am Unternehmen wesentlich beteiligt war. Gem. § 74 Abs. 2 Satz 1 AO ist eine Person wesentlich beteiligt, wenn sie unmittelbar oder mittelbar an mehr als einem Viertel des Grund- oder Stammkapitals oder des Unternehmensvermögens Anteil hat. Unmittelbar ist jemand beteiligt, wenn er die Anteile am Unternehmen selbst hält, während eine mittelbare Beteiligung vorliegt, wenn die Anteile in der Hand eines Treuhänders sind oder über Gesellschaften vermittelt werden.8 Steuerlich werden die Anteile des Treuhänders ohnehin gem. § 39 AO dem Treugeber zugerechnet. Hier finden – im Gegensatz zur Beurteilung der Eigentumsverhältnisse an den Gegenständen – die steuerrechtlichen Zurechnungsvorschriften des § 39 AO wieder ihre Anwendung.9 Die mittelbare Beteiligung über eine Gesellschaft ist gegeben, wenn eine Teilhaberschaft an einer Gesellschaft besteht, die ihrerseits an einer Gesellschaft, die die Steuerschuldnerin ist, beteiligt ist. Es errechnet sich dann ein bestimmter Anteil.

1 FG Köln, Urt. v. 9.12.1999 – 15 K 1756/91, EFG 2000, 203; FG München, Urt. v. 15.9.2005 – 14 K 2643/02, juris. 2 Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 17; Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 3; Halaczinsky, Rz. 255. 3 Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 17. 4 BFH, Urt. v. 27.6.1957 – V 298/56 U, BStBl. III 1957, 279, 280; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 17; Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 3. 5 BFH, Urt. v. 10.11.1983 – V R 18/79, BStBl. II 1984, 127; vgl. auch BFH, Beschl. v. 7.1.2011 – VII S 60/10, ZSteu 2011, R225. 6 BFH, Urt. v. 23.5.2012 – VII R 28/10, BStBl. II 2012, 763; bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 17.9.2013 – 1 BvR 1928/12, HFR 2013, 1156; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 13; Intemann in Koenig, § 74 AO Rz. 13. 7 BFH, Urt. v. 23.5.2012 – VII R 28/10, BStBl. II 2012, 763; Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 4. 8 AEAO zu § 74 Nr. 3. 9 Halaczinsky, Rz. 260.

182

C. Haftung des Eigentmers von Gegenstnden (§ 74 AO)

Die unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen werden zum Zwecke der Fest- 5.32 stellung, ob mindestens ein Viertel des Grund- oder Stammkapitals gehalten wird, zusammengerechnet.1 Beispiel: A ist mit 50 % an der X-GmbH beteiligt, diese wiederum mit 70 % an der Y-GmbH. A ist i.S.d. § 74 AO mit 35 % mittelbar an der Y-GmbH beteiligt.2

5.33

Die Höhe der Beteiligung wird – je nachdem, ob es sich um eine Kapital- oder 5.34 Personengesellschaft handelt – unterschiedlich berechnet. Die Beteiligung bei einer Kapitalgesellschaft wird durch den Anteil am Nennkapital (die Höhe der gehaltenen Aktien bzw. Geschäftsanteile) ermittelt. Bei Personengesellschaften richtet sie sich nach der Stammeinlage und der Ge- 5.35 winnbeteiligung.3 Vom Gewinnschlüssel abweichende Stimmverhältnisse können gem. § 74 Abs. 2 Satz 2 AO berücksichtigt werden. Warum die Grenze von 25 % für eine wesentliche Beteiligung angenommen wird, erläutert Mösbauer ausführlich.4 Es kommen die besonderen Möglichkeiten zur Einflussnahme auf den Wirtschaftsverkehr einer wesentlich beteiligten Person zum Tragen. Die Haftung erfährt eine Erweiterung durch den Einschluss desjenigen, der nach 5.36 § 74 Abs. 2 Satz 2 AO beherrschenden Einfluss auf das Unternehmen ausübt und durch sein Verhalten dazu beiträgt, dass fällige Steuern i.S.d. § 74 AO nicht entrichtet werden. Der Einfluss kann auf rechtlichen und/oder tatsächlichen Gründen beruhen. Die Beurteilung dieser Voraussetzungen kann nur in jedem Einzelfall erfolgen. Die Möglichkeit der Einflussnahme allein reicht nicht aus.5 Der Betreffende muss auch tatsächlich Einfluss genommen haben. In erster Linie ist an Geschäftsführer oder übermächtige Lieferanten zu denken, die ihren Einfluss zum Nachteil des Steuergläubigers einsetzen. Denkbar ist auch der Einfluss von Kreditgebern6, die zuerst die Tilgung der Kredite verlangen. Die Tatsache allein, dass der Kreditgeber das Darlehen unter Einräumung von Sicherungseigentum gewährt, reicht nicht aus.7 5.37

Beispiel: K gewährt der GmbH X einen Betriebskredit in Höhe von 400000 Euro. Zur Sicherheit lässt sich K das Eigentum an den Maschinen, die zum Betriebsvermögen der GmbH gehören, übertragen. Als die GmbH sich in der Krise befindet, besteht K auf der vorrangigen Zahlung der Zinsen. Die Betriebssteuern werden deshalb nicht beglichen. Hier beherrscht K wegen der Einflussnahme die GmbH i.S.v. § 74 Abs. 2 Satz 2 AO, so dass er als Sicherungseigentümer der Maschinen gem. § 74 in Haftung genommen werden kann.

Besonderheiten sind in diesem Zusammenhang für den Fall der Betriebsaufspal- 5.38 tung gegeben. Zwar hat das Institut der Betriebsaufspaltung u.a. den Zweck, 1 Mösbauer, DStZ 1996, 515; vgl. auch AEAO zu § 74 Nr. 3. 2 Vgl. Mösbauer, DStZ 1996, 515. 3 Vgl. im Einzelnen Halaczinsky, Rz. 263; FG Münster, Urt. v. 2.9.2010 – 5 K 4112/08 U, EFG 2011, 8, Rev. eingelegt Az. VII R 63/10; FG Münster, Urt. v. 2.9.2010 – 5 K 4110/08, AO-StB 2010, 360, Rev. eingelegt Az. VII R 67/10; zur wesentlichen Beteiligung eines Kommanditisten s. FG Nürnberg, Urt. v. 14.3.2000 – II 427/1999, n.v. 4 Vgl. Mösbauer, DStZ 1996, 516. 5 AEAO zu § 74 Nr. 4 2. HS; Milatz, INF 1985, 323. 6 Halaczinsky, Rz. 267. 7 Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 34.

183

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

Wertgegenstände (z.B. Grund und Boden und Maschinen) aus dem Haftungsverband der Betriebsgesellschaft zu nehmen; doch könnte dieser Beweggrund leicht bei der Haftung für Betriebssteuern in die Irre führen. Häufig liegen im Fall der Betriebsaufspaltung auch die Voraussetzungen für eine Haftung nach § 74 AO vor, so dass dann auch die Gegenstände des Besitzunternehmens für Schulden der Betriebsgesellschaft haften. Im Einzelfall ist genau zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Haftung nach § 74 AO vorliegen. So ist – wie bei der Betriebsaufspaltung –streitig, ob eine Haftung auch dann zu bejahen ist, wenn lediglich eine Personengruppe unter Zusammenrechnung ihrer Anteile wesentlich beteiligt ist. Bei der Betriebsaufspaltung wird dieses überwiegend bejaht. Der BFH lehnt eine Anwendung der Personengruppentheorie bei der Eigentümerhaftung nach § 74 AO ab.1 M. E. ist auch bei der Haftung nach § 74 AO diese sog. Personengruppentheorie anzuwenden, d.h., eine Haftung nach § 74 AO kommt auch dann in Betracht, wenn A und B zwar jeweils nicht wesentlich beteiligt sind, jedoch zusammen als Gruppe das Betriebsunternehmen beherrschen.2 Der Personengruppentheorie liegt die Vermutung zugrunde, dass mehrere Personen, die sowohl am Besitz- als auch am Betriebsunternehmen beteiligt sind, gleichgerichtete Interessen haben und somit i.S.d. § 74 Abs. 2 AO einen beherrschenden Einfluss ausüben.3 5.39

5.40

Û

Hinweis: Wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, kann es bei einer Betriebsaufspaltung über § 74 AO relativ schnell zu einer Haftung des Inhabers des Besitzunternehmens für Steuerschulden des Betriebsunternehmens kommen, obwohl gerade das Modell der Betriebsaufspaltung u.a. eine Haftung ausschließen soll. Ein Ausschluss wird aber dann gegeben sein, wenn die Betriebsgrundlagen beim „Betriebsunternehmen“ belassen und rechtzeitig zugunsten des „Betriebsunternehmers“ Grundschulden bestellt worden sind.4

Ein Verschulden ist nicht Voraussetzung für die Haftung nach § 74 AO. Die Haftung ist allein durch den objektiven Beitrag begründet, den der Gesellschafter durch die Bereitstellung von Gegenständen für die Führung des Unternehmens leistet.5

1 BFH, Urt. v. 1.12.2015 – VII R 34/14, BFH/NV 2016, 613. 2 So auch Mösbauer, DStZ 1996, 517; Bruschke, StB 2008, 170; a.A. neben dem BFH, Urt. v. 1.12.2015 – VII R 34/14, BFH/NV 2016, 613 auch FG Köln, Urt. v. 9.12.1999 – 15 K 1756/91, EFG 2000, 203; Jatzke in Beermann/Gosch, § 74 AO Rz. 13; Loose in Tipke/ Kruse, § 74 AO AO Rz. 10. 3 Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 16. 4 Vgl. auch BGH, Urt. v. 18.12.1987 – V ZR 163/86, NJW 1988, 1026, wonach ein Haftungsbescheid nach § 74 AO, dessen Haftung auf ein Grundstück beschränkt ist, nicht auch die darauf liegenden Grundschulden erfassen kann; ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 17. Einer anschließenden Vollstreckung des Haftungsbescheides nach § 74 AO in das Grundstück stehen dann die Grundschulden entgegen (BFH, Urt. v. 13.11.2007 – VII R 61/06, BStBl. II 2008, 790). 5 FG Nürnberg, Urt. v. 14.3.2000 – II 427/1999, n.v.; FG Münster, Urt. v. 15.9.2009 – 2 K 32/09 U, EFG 2010, 287.

184

C. Haftung des Eigentmers von Gegenstnden (§ 74 AO)

III. Haftungsumfang Die Haftung ist zunächst sachlich auf Betriebssteuern beschränkt. Nach § 74 5.41 AO haftet der Beteiligte für diejenigen Steuern des Unternehmens, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet. Zu den Betriebssteuern gehören die Umsatzsteuer – auch bei Eigenverbrauch –, Gewerbesteuer, Verbrauchsteuern in entsprechenden Herstellungsbetrieben1 und Rückforderung von Investitionszulagen2, nicht aber die steuerlichen Nebenleistungen, weil sie keine Steuern i.S.d. § 3 AO sind.3 Somit entfällt eine Haftung für Verspätungszuschläge, Säumniszuschläge, Zinsen, Zwangsgelder und Kosten. Auch keine Betriebssteuern sind Zölle, Steuerabzugsbeträge und die Personensteuern (ESt, KSt).4 Die pauschalierte Lohnsteuer stellt nach überwiegender Ansicht ebenso wenig eine Betriebssteuer dar, sondern Lohnsteuer des Arbeitnehmers, die nur aufgrund gesetzlicher Regelung (§ 40 Abs. 3 Satz 1 EStG) auf den Arbeitgeber übergegangen ist (gesetzliche Schuldübernahme).5 Zu den Betriebssteuern im Einzelnen und zu ihren Entstehungszeitpunkten vergleiche die Ausführungen zu den Betriebssteuern und zum Haftungszeitraum bei der Haftung gem. § 75 AO (Rz. 3.44 ff.). Gem. § 74 Abs. 1 Satz 3 AO sind den Steuern die Ansprüche auf Erstattung von Steuervergütungen gleichgestellt. Eine zeitliche Beschränkung der Haftung ergibt sich aus § 74 Abs. 1 AO. Es 5.42 wird gem. § 74 Abs. 1 Satz 2 AO nur für die Betriebssteuern gehaftet, die „während des Bestehens der wesentlichen Beteiligung entstanden sind“. Ist der Haftende nicht mehr am Unternehmen wesentlich beteiligt, so entfällt ab diesem Zeitpunkt die Haftung für die Betriebssteuern.6 Ferner erstreckt sich nach h.M. die Haftung nur auf die Gegenstände, die während dieser wesentlichen Beteiligung dem Unternehmen gedient haben7, denn mit der Bereitstellung der Gegenstände für das Unternehmen soll eine Inanspruchnahme begründet werden. Auf die Fälligkeit der Steueransprüche kommt es nicht an.8 Im Augenblick der Inanspruchnahme müssen diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sein. Somit braucht im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids der Haftende weder wesentlich beteiligt zu sein, noch muss der Gegenstand zu dieser Zeit dem Unternehmen dienen.9 1 2 3 4 5

6 7 8 9

Rüsken in Klein, § 74 AO Rz. 12. AEAO zu § 74 Nr. 2; Mösbauer, DStZ 1996, 518; Bruschke, StB 2008, 172. AEAO zu § 74 Nr. 2 Satz 3; Halaczinsky, Rz. 269. Vgl. auch Halaczinsky, Rz. 268 f. Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 15; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 36; Adamek/Loose, GmbHR 2001, 653; Mösbauer, DStZ 1996, 518; a.A. BFH, Urt. v. 5.11.1982 – VI R 219/80, BStBl. II 1983, 91 (92) m.w. Nachw., der in der pauschalierten Lohnsteuer eine Steuer des Arbeitgebers sieht und daher von einer ‚Unternehmenssteuer‘ eigener Art spricht. FG Köln, Urt. v. 9.12.1999 – 15 K 1756/91, EFG 2000, 203. FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162; Milatz, INF 1985, 324; Halaczinsky, Rz. 270; Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 17. FG München, Urt. v. 15.9.2005 – 14 K 2643/02, juris; AEAO zu § 74 Nr. 2 Satz 1 2. HS; FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162; FG Nürnberg, Urt. v. 14.3.2000 – II 427/1999, n.v. FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162 (163); Halaczinsky, Rz. 270; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 42.

185

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

5.43

Die Haftungsbeschränkung auf die Gegenstände erfordert, dass jene so konkret bestimmbar sind, „dass der Haftungsbescheid dem Vollstreckungsbeamten ohne weitere Feststellungen eine Vollstreckung ermöglicht“.1 Die Gegenstände müssen dem Unternehmen nahezu ausschließlich gedient haben. Eine geringfügige anderweitige Nutzung ist unerheblich. Die Vollstreckung in den haftungsbefangenen Gegenstand kann der Haftungsschuldner durch Zahlung der Haftungsschuld abwenden. Die Höhe der möglichen Haftungsschuld errechnet sich nach dem Verkehrswert des Gegenstandes, abzüglich eines evtl. nicht dem Unternehmen dienenden Anteils.

5.44

Beispiel: Hat der Gegenstand einen Verkehrswert von 10000 Euro und diente er dem Unternehmen zu 95 %, so kommt eine Haftungsschuld in Höhe von 9500 Euro in Betracht.

5.45

Der Gegenstand muss m.E. nicht im Zeitpunkt der Inanspruchnahme noch im Eigentum des Haftungsschuldners sein.2 Die Haftung erstreckt sich zwar zunächst auf die einzelnen Gegenstände; doch treten an ihre Stelle die Surrogate. Das in § 285 BGB enthaltene Surrogationsprinzip gilt auch im öffentlichen Recht. Im Übrigen darf es nicht in der Hand des Gesellschafters liegen, durch einfache Weiterveräußerung des Gegenstandes die Haftung gem. § 74 AO auszuschließen.3 Der Inanspruchgenommene haftet daher auch mit dem Kaufpreis, wenn er den Gegenstand, der dem Unternehmen gedient hat, verkauft.4 Hier sind also die gleichen Überlegungen anzustellen, die auch bei der Haftung nach § 75 AO gelten.

IV. Geltendmachung der Haftung 5.46

Der Anspruch kann gem. § 191 Abs. 1 AO mit Haftungsbescheid geltend gemacht werden5, denn es handelt sich um eine Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer. Im Zeitpunkt der Inanspruchnahme müssen die Voraussetzungen der Haftung nicht mehr vorliegen. Die Haftung kann auch geltend gemacht werden, wenn bereits das Insolvenzverfahren über eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit eröffnet wurde.6 Ähnlich der Haftung nach § 75 AO ist auch hier im Haf-

1 FG Münster, Urt. v. 8.10.1992 – 7 K 5455/90 U, EFG 1993, 423. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 17; Adamek/Loose, GmbHR 2001, 649; Goutier, 66; Mösbauer, DStZ 1996, 518. 3 BFH, Urt. v. 22.11.2011 – VII R 63/10, BStBl. II 2012, 223; Urt. v. 22.11.2011 – VII R 67/10, BFH/NV 2012, 547; FG Nürnberg, Urt. v. 31.5.2005 – II 143/2002, juris; vgl. auch BFH, Beschl. v. 7.1.2011 – VII S 60/10, ZSteu 2011, R225; Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 17; Mösbauer, DStZ 1996, 518; a.A. FG Münster, Urt. v. 2.9.2010 – 5 K 4112/08 U, EFG 2011, 8; FG Münster, Urt. v. 2.9.2010 – 5 K 4110/08, AO-StB 2010, 360; Haritz, DStR 2012, 884. 4 BFH, Urt. v. 22.11.2011 – VII R 63/10, DStR 2012, 237; Loose in Tipke/Kruse, § 74 AO Rz. 17; Milatz, INF 1985, 324; Goutier, S. 66; Mösbauer, DStZ 1996, 519; a.A. Intemann in Koenig, § 74 AO Rz. 14 f.; einschränkend Bruschke, StB 2008, 170. 5 Mösbauer, DStZ 1996, 514. 6 BFH, Urt. v. 2.11.2001 – VII B 155/01, BStBl. II 2002, 73.

186

C. Haftung des Eigentmers von Gegenstnden (§ 74 AO)

tungsbescheid der Hinweis ausdrücklich aufzunehmen, dass sich die Haftung auf bestimmte Gegenstände beschränkt; diese Gegenstände sind im Einzelnen konkret zu bezeichnen.1 Dabei reicht es aus, wenn auf eine dem Haftungsbescheid beigefügte Aufstellung der Gegenstände verwiesen wird.2 Die Haftungsbeschränkung muss zumindest inhaltlich so bestimmt sein, dass der Haftungsbescheid vom Vollstreckungsbeamten ohne weitere Feststellungen vollstreckt werden kann. Sammelbezeichnungen reichen nicht aus.3 Es reicht aus, wenn dieser Hinweis auf die gegenständliche Beschränkung der Haftung bis zum Ende des Einspruchsverfahrens nachgereicht wird.4

Û

Hinweis: Werden die Gegenstände bzw. Surrogate im Haftungsbescheid 5.47 nicht näher bezeichnet oder sind sie nicht bestimmbar, ist der Haftungsbescheid wegen des erforderlichen Bestimmtheitsgebots gem. § 119 Abs. 1 AO rechtswidrig.5

Fraglich ist, ob neben dem Hinweis auf die gegenständliche Beschränkung auch 5.48 ein auf Zahlung gerichtetes Leistungsgebot im Haftungsbescheid aufgenommen werden kann. Ist die Vollstreckung beim Steuerschuldner aussichtslos, z.B. wenn über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, darf gegen den Haftungsschuldner sofort eine Zahlungsaufforderung gem. § 219 AO ergehen. Dieses Leistungsgebot kann unmittelbar mit dem Haftungsbescheid verbunden werden.6 Im Verfahren gegen den Haftungsbescheid kann nicht wirksam geltend gemacht 5.49 werden, der Wert des Gegenstandes sei höher als die geschuldeten Steuern. Erst im Verfahren über die Zwangsvollstreckung ist dies zu berücksichtigen.7 Will der Eigentümer die Zwangsvollstreckung verhindern, so muss er die gesamte Haftungsschuld zahlen. Da die Haftungsschuld nicht auf den Wert der Gegenstände beschränkt ist, sondern auf die Gegenstände selbst, muss er unter Umständen mehr zahlen, als die Gegenstände an Wert haben. Die Haftungsbeschränkung wirkt sich erst im Zwangsvollstreckungsverfahren betragsmäßig aus.8 Zu beachten ist, dass das Finanzamt nicht mit einem Steuererstattungsanspruch 5.50 des Eigentümers des Gegenstandes aufrechnen darf. Eine solche Aufrechnung

1 Schleswig-Holsteinisches FG, Urt. v. 14.3.1979 – IV 75/77, EFG 1979, 369; FG Münster, Urt. v. 8.10.1992 – 7 K 5455/90 U, EFG 1993, 423; FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162; Urt. v. 9.12.1999 – 15 K 1756/91, EFG 2000, 203; FG Nürnberg, Urt. v. 31.5.2005 – II 143/2002, juris; Milatz, INF 1985, 324. 2 FG Nürnberg, Urt. v. 31.5.2005 – II 143/2002, juris. 3 FG Münster, Urt. v. 8.10.1992 – 7 K 5455/90, EFG 1993, 423; FG Nürnberg, Urt. v. 31.5.2005 – II 143/2002, juris; FG Nürnberg, Urt. v. 24.11.2009 – 2 K 694/2007, juris; vgl. auch Brox/Walker, Zwangsvollsteckungsrecht, Rz. 42 f. 4 FG Nürnberg, Urt. v. 31.5.2005 – II 143/2002, juris. 5 Schleswig-Holsteinisches FG, Urt. v. 14.3.1979 – IV 75/77, EFG 1979, 369; Rüsken in Klein, § 74 AO Rz. 20 m.w. Nachw. 6 FG Köln, Urt. v. 17.9.1997 – 6 K 5459/91, EFG 1998, 162; FG Nürnberg, Urt. v. 24.11.2009 – 2 K 694/2007, juris, Rev. eingelegt Az. BFH VII R 29/10. 7 BFH, Beschl. v. 24.11.1994 – VII E 7/94, BFH/NV 1995, 720. 8 FG München, Urt. v. 15.9.2005 – 14 K 2643/02, juris; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz. 52.

187

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

wäre unwirksam, da der Haftungsschuldner nur „mit“ den dem Unternehmen überlassenen Gegenständen haftet.1 5.51

Prüfungsschema für eine Sachhaftung gem. § 74 AO I. Haftungsvoraussetzungen 1. Ein Gegenstand muss einem Unternehmen gedient haben. a) Gegenstand i.S.d. § 74 AO ist jede bewegliche oder unbewegliche Sache. Immaterielle Wirtschaftsgter sind nicht Gegenstnde i.S.d. § 74 AO (str.). b) Unternehmen ist jede gewerbliche oder sonstige organisatorische Zusammenfassung zur Verfolgung wirtschaftlicher oder ideeller Zwecke. c) Der Gegenstand dient dem Unternehmen, wenn er durch das Unternehmen benutzt, verwertet oder sonst wie sinnvoll eingesetzt wird. – Es muss sich um einen wesentlichen Beitrag handeln. – Eine anderweitige Nutzung unter 20 % schadet nicht. – Es reicht aus, wenn eine abgrenzbare Teilflche eines Grundstcks dem Unternehmen dient. 2. Der Eigentmer des Gegenstandes muss am Unternehmen wesentlich beteiligt sein. (+), wenn er unmittelbar oder mittelbar zu mehr als ein Viertel am Grundoder Stammkapital beteiligt ist. a) Mittelbare Beteiligung ist durch Treuhnder oder ber eine Gesellschaft mçglich. b) Bei Personengesellschaften richtet sich die Beteiligung nach der Stammeinlage und der Gewinnbeteiligung. Bei Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft ist Anteil am Nennkapital maßgeblich. 3. Daneben reicht gem. § 74 Abs. 2 Satz 2 AO auch aus, wenn der Eigentmer beherrschenden Einfluss auf das Unternehmen ausbt (z.B. als Kreditgeber). a) Einzelfallbetrachtung erforderlich b) Die Mçglichkeit der Einflussnahme reicht nicht aus. c) Benachteiligungsabsicht im Hinblick auf das Finanzamt ist nicht erforderlich. II. Rechtsfolge 1. Haftung nur fr die Betriebssteuern (keine Haftung fr Steuerabzugsbetrge, zum Teil str.), wenn a) die Steuern whrend der wesentlichen Beteiligung entstanden sind und b) die Gegenstnde in dieser Zeit dem Unternehmen dienten.

1 BFH, Urt. v. 28.1.2014 – VII R 34/12, BStBl. II 2014, 551 m. Anm. Bauhaus, AO-StB 2014, 231.

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D. Haftung nach § 72 AO

2. Haftung beschrnkt auf die dem Unternehmen dienenden Gegenstnde. Surrogate haften ebenfalls (str.). Betriebssteuern = insbesondere GewSt, USt, Verbrauchsteuern (str.), Rckforderung von Investitionszulagen

Steuerabzugsbetrge = insbesondere LSt, KapSt

D. Haftung nach § 72 AO Schrifttum: Gehm, Haftung nach § 72 AO bei Verletzung der Pflicht zur Kontenwahrheit, BuW 2001, 1022; Schuster, Haftung der Bank bei Verstoß gegen die Kontensperre des § 154 Abs. 3 AO, jurisPR-SteuerR 18/2012 Anm. 1; Gehm, Haftung der Bank bei grob fahrlässigem Verstoß gegen die Kontenwahrheit, DB 2012, 1648; Gehm, Die Haftung bei Verletzung der Pflicht zur Kontenwahrheit gemäß § 72 AO – Risikoprofil in der Praxis, StBp 2016, 7.

Eine praktisch wenig bedeutende Haftungsvorschrift ist § 72 AO. Sie knüpft an 5.52 die Verletzung der Pflicht aus § 154 Abs. 1 AO an. Nach § 154 Abs. 1 AO darf niemand auf einen falschen oder erdichteten Namen für sich oder einen Dritten ein Konto eröffnen oder Buchungen vornehmen lassen, Wertsachen in Verwahrung geben oder sich ein Schließfach geben lassen. Wird hiergegen verstoßen, so haftet die Bank gem. §§ 72 i.V.m. 154 Abs. 3 AO für einen Steuerschaden, wenn sie ohne Zustimmung des Finanzamts, das für die Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer des verfügungsberechtigten Kontoinhabers zuständig ist, Guthaben, Wertsachen und den Inhalt eines Schließfachs herausgibt. Unmittelbar in Haftung zu nehmen ist die Bank selbst, nicht die handelnde natürliche Person, die diese Pflicht für die Bank wahrnimmt (Organe, Angestellte oder sonstige Erfüllungsgehilfen).1 § 163 Abs. 3 Satz 2 RAO war Vorgänger des § 72 AO. Die jetzige Norm be- 5.53 schränkt jedoch die Haftung auf vorsätzliche und grob fahrlässige Verstöße der Bank, wobei auf den Vertreter der Bank gem. § 166 BGB abzustellen ist. Der Schuldvorwurf bezieht sich auf die Verletzung des Herausgabeverbots gem. § 154 Abs. 3 AO. Es gilt nicht der zivilrechtliche Fahrlässigkeitsvorwurf, das heißt, es kommt nicht auf die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, sondern wie bei § 69 AO auf die dem Haftenden nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten mögliche Sorgfalt an. Dies dürfte aber der Bank in der Regel nicht zugutekommen.2 So kann eine Haftung nach Löschung der GmbH in Betracht kommen.3 Die Haftung tritt noch nicht ein, wenn der Kontoinhaber eine Aufrechnung erklärt, weil diese ohne ein Zutun der Bank entstanden ist. Etwas anderes gilt z.B., wenn die Bank dem Kontoinhaber vorher einen Kredit eingeräumt hat. Auch kommt eine Haftung nicht in Betracht, wenn die Bank für eine mangels Handelsregistereintragung noch nicht entstandene GmbH unter der Firma der GmbH ohne den Zusatz „in Gründung“ ein Konto führt.4 1 2 3 4

BFH, Urt. v. 17.2.1989 – III R 35/85, BStBl. II 1990, 263; Halaczinsky, Rz. 216. Rüsken in Klein, § 72 AO Rz. 8. S. BFH, Urt. v. 13.12.2011 – VII R 49/10, BStBl. II 2012, 398. Hessisches FG, Urt. v. 9.7.1998 – 13 K 53/96, StEd 1998, 649 = EFG 1998, 1556.

189

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

5.54

Es wird für alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO) gehaftet, die im Zeitpunkt des Verstoßes abstrakt bestanden haben.1 Somit gehören dazu auch die Zinsen und steuerlichen Nebenleistungen.2 Die Haftung ist beschränkt auf das pflichtwidrig herausgegebene Vermögen. Dieses ergibt sich schon aus dem Wortlaut. Danach haftet die Bank insoweit, als durch die verbotswidrige Herausgabe das Steuerschuldverhältnis beeinträchtigt wird. Es muss nicht zu einer endgültigen Vereitelung der Vollstreckung des Finanzamtes gekommen sein. Es reicht schon aus, wenn die Vollstreckung ansonsten gegenüber einer Verwertung von Bankguthaben oder Wertpapieren erschwert würde.3 Die Beurteilung ist aus einer Ex-post-Betrachtung vorzunehmen. Es muss ein Kausalitätszusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Steuerschaden bestehen. Daran fehlt es im allerdings eher theoretischen Fall, wenn im Zeitpunkt der Auszahlung alle bereits für vor der Auszahlung liegende Zeiträume entstandenen Steuerforderungen befriedigt sind.4

5.55

Der Anspruch aus § 72 AO wird durch Haftungsbescheid gem. § 191 Abs. 1 AO geltend gemacht. Es finden daher die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen zu § 191 AO (s. Rz. 8.1 ff.) Anwendung.

E. Haftung des Steuerhinterziehers und des Steuerhehlers (§ 71 AO) Schriftum: Rauh, Zu den straf- und steuerrechtlichen Folgen der Hinterziehung, INF 2000, 353; Gehm, Haftung des Steuerhinterziehers und des Steuerhehlers nach § 71 AO, BuW 2000, 362; Rößler, Entsprechende Anwendung des § 71 AO im Investitutionszulagenrecht, DStZ 2000, 310; Krömker, Haftung des Täters und Gehilfen einer Steuerhinterziehung, AO-StB 2002, 389; Valentin, Haftung bei Beihilfe zur Steuerhinterziehung, EFG 2003, 360; Kamps/Wulf, Neue Rechtsprechung zur Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ im Verfahrensrecht der AO, DStR 2003, 2045; Pelz, Die Haftung der Banken für von Kunden hinterzogene Steuern, WM 2003, 1661; Buciek, Hinterzieherhaftung und Werbungskostenabzug, DStZ 2004, 421; Fumi, Zu den Voraussetzungen einer Inhaftungnahme wegen Steuerhinterziehung, EFG 2004, 706; Pump, Der Großhändler als Haftungsschuldner, StBp 2005, 356; Loose, Auswahlermessen bei Inanspruchnahme nur einzelner Teilnehmer einer Steuerhinterziehung als Haftungsschuldner, EFG 2005, 664; Gehm, Überblick zur Haftung des Steuerhinterziehers und Steuerhehlers nach § 71 AO, NZWiSt 2014, 93; Eich, Strafbarkeitsrisiken und Haftungsgefahren für den Berater bei Steuerhinterziehung des Mandanten, KÖSDI 12/2011, 17706; Nacke, Bekämpfung von Karussellgeschäften bei der Umsatzsteuer – Analyse der haftungsrechtlichen und umsatzsteuerlichen Instrumentarien, NWB 2015, 3396. Verwaltungsanweisungen: AO-Handbuch 2017

1 BFH, Urt. v. 17.2.1989 – III R 35/85, BStBl. II 1990, 263. 2 Halaczinsky, Rz. 218. 3 Halaczinsky, Rz. 218; vgl. Rüsken in Klein, § 72 AO Rz. 3a, der eine Haftung ausschließt, wenn ohne unzumutbare Erschwernis in das sonstige Vermögen vollstreckt werden kann. 4 BFH, Urt. v. 17.2.1989 – III R 35/85, BStBl. II 1990, 263.

190

E. Haftung des Steuerhinterziehers und des Steuerhehlers (§ 71 AO)

I. Voraussetzungen Wer eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begeht oder Teilnehmer ist, 5.56 haftet gem. § 71 AO für die entgangene Steuer, erschlichenen Steuervorteile und die Hinterziehungszinsen gem. § 235 AO. Wer einen Subventionsbetrug begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt, haftet nicht nach § 71 AO.1 Die Vorschrift des § 71 AO entspricht dem § 112 RAO. Ihre Anwendung bereitet keine großen Probleme. Es handelt sich um eine Haftungsnorm mit Schadensersatzcharakter,2 so dass z.B. eine versuchte Steuerhinterziehung nicht zur Haftung nach § 71 AO führt.3 Ferner kommt infolgedessen der Grundsatz der anteiligen Haftung nach Maßgabe der vorhandenen Zahlungsmittel nicht nur bei § 69 AO, sondern auch bei § 71 AO zur Anwendung.4 Die Grundsätze der anteiligen Haftung für die Umsatzsteuer können jedoch nicht auf die Haftung eines Steuerhehlers nach § 71 AO für die durch Schwarzbrennen entstandene Branntweinsteuer übertragen werden.5 Die Feststellungslast trifft insoweit aber den Haftungsschuldner.6 Die Haftung nach § 71 AO wird gem. § 191 AO mit Haftungsbescheid geltend gemacht. Die Vorschrift ist verfassungsgemäß.7 Die Haftung nach § 71 AO setzt eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder eine 5.57 Steuerhehlerei (§ 374 AO) voraus. Es müssen die Strafbarkeitsvoraussetzungen der jeweiligen Straftat vorliegen. Eine strafrechtliche Verurteilung ist für eine Haftungsinanspruchnahme jedoch nicht erforderlich.8 Damit muss der objektive und subjektive Straftatbestand erfüllt sein. Ferner muss die Tat rechtswidrig gewesen sein, und es dürfen keine Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe vorliegen.9 Damit ist unerheblich, ob es wegen einer strafbefreienden Selbstanzeige nicht zu einer Bestrafung kommt, denn es handelt sich nach § 371 AO um einen Strafaufhebungsgrund. Auch ist unerheblich, ob eine Strafverfolgungsverjährung oder sonstige Verfahrenshindernisse gegeben sind (AEAO zu § 71 Satz 3). Diese Umstände können im Einzelfall sogar zu einer Haftung eines Beraters führen.

1 BFH, Urt. v. 19.12.2013 – III R 25/10, BStBl. II 2015, 119. 2 BFH, Urt. v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BFHE 164, 203 = BStBl. II 1991, 678; Urt. v. 2.3.1993 – VII R 90/90, BFH/NV 1994, 526; Urt. v. 13.7.1994 – I R 112/93, BFHE 175, 489 = BStBl. II 1995, 198; Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BFHE 181, 552 = BStBl. II 1997, 308; Urt. v. 7.3.2006 – X R 8/05, BFH/NV 2006, 1378; Beschl. v. 27.3.2006 – VII B 117/05, BFH/NV 2006, 1254. 3 RFH, Urt. v. 24.5.1932 – IV A 82/32, RFHE 31, 68; BFH, Urt. v. 13.7.1994 – I R 112/93, BFHE 175, 489 = BStBl. II 1995, 198 (200); Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 4. 4 BFH, Urt. v. 2.3.1993 – VII R 90/90, BFH/NV 1994, 526; in Fällen mit Hilfe von Scheinrechnungen erschlichene Vorsteuervergütungen kommt der Grundsatz der anteiligen Tilgung nicht zum Tragen, BFH, Beschl. v. 11.2.2002 – VII B 323/00, BFH/NV 2002, 891. 5 BFH, Urt. v. 23.4.2014 – VII R 41/12, BStBl. II 2015, 117. 6 BFH, Urt. v. 26.8.1992 – VII R 50/91, BStBl. II 1993, 8 (11). 7 Bax, S. 105 ff., 146. 8 BFH, Urt. v. 10.10.1972 – VII R 117/69, BStBl. II 1973, 68 (71). 9 FG Düsseldorf, Beschl. v. 4.8.1992 – 14 V 2425/92 A, EFG 1992, 702.

191

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen Beispiel: Steuerberater A erstellt für L die Buchführung. Trotz positiver Kenntnis der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der ihm überreichten Belege erstellt er eine unrichtige Buchführung. Nach Einreichung der entsprechenden Steuererklärung haben A und L Bedenken bekommen. A gibt für L und für sich selbst eine Selbstanzeige beim Finanzamt ab. L ist überschuldet. Das Finanzamt nimmt daraufhin nach einer Betriebsprüfung den Steuerberater A nach § 71 AO für die hinterzogenen Steuern in Haftung.

Die Inanspruchnahme des Steuerberaters ist aufgrund seines Tatbeitrags als Teilnehmer rechtmäßig. Hier ist zu beachten, dass der Berater sich durch die Selbstanzeige zwar strafrechtlich befreit hat. Für die Haftung spielt dies jedoch keine Rolle. Die Selbstanzeige ebnet geradezu die Haftung nach § 71 AO des Steuerberaters.1 Steht nicht fest, welche der beiden Straftaten erfüllt worden ist, so genügt für die Haftung des § 71 AO eine Wahlfeststellung.2 Ob die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Straftat vorliegen, richtet sich nach der Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung und nicht nach Vorschriften der Strafprozessordnung, denn es handelt sich lediglich um eine strafrechtliche Vorfrage.3 Jedoch hat die für den Erlass des Haftungsbescheids zuständige Stelle der Finanzbehörde im Einvernehmen mit der für Straf- und Bußgeldsachen zuständigen Stelle zu prüfen, ob der objektive und subjektive Tatbestand der in Frage kommenden Strafvorschrift gegeben ist.4 Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist anzuwenden.5 Eine Schätzung des Haftungsbetrags ist deshalb ausgeschlossen.6 Im Übrigen wird auf die einschlägige Kommentierung zu den §§ 370, 374 AO verwiesen. 5.58

Der BFH nimmt in folgenden Fällen Steuerhinterziehung an. Eine Steuerhinterziehung liegt vor, wenn eine unzutreffende Umsatzsteuervoranmeldung abgegeben wird, da diese Voranmeldung nach § 168 i.V.m. § 164 AO zu einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung geworden ist.7 Genauso führt eine unrichtige Angabe in einer Einkommensteuerjahreserklärung zu einer Steuerhinterziehung, wenn dadurch neben einer zu geringen Jahressteuer auch die Vorauszahlungen zu niedrig festgesetzt werden.8 Durch die Unterschrift des Ehegatten unter die Einkommensteuererklärung wird dieser nicht zum Mittäter einer Steuerhinterziehung seines Gatten hinsichtlich falscher Angaben zu seinen Einkünften.9

5.59

Die Haftung tritt nicht nur beim Täter, sondern auch – wie aus dem Wortlaut des § 71 AO zu entnehmen ist – beim Teilnehmer ein. Somit haftet für die verkürzten Steuern etc. auch der Anstifter (§ 26 StGB) und derjenige, der Beihilfe 1 2 3 4 5 6 7

Eich, KÖSDI 12/2011, 17706 Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 5. BFH, Beschl. v. 5.3.1979 – GrS 5/77, BStBl. II 1979, 570 (573). AEAO zu § 71 Satz 1. BFH, Urt. v. 2.7.1998 – IV R 39/97, BStBl. II 1999, 28 (31). BFH, Urt. v. 14.8.1991 – X R 86/88, BStBl. II 1992, 128. BFH, Beschl. v. 11.2.2002 – VII B 323/00, BFH/NV 2002, 891 (893); vgl. auch Beschl. v. 21.2.2007 – VII R 51/04, juris; zur Haftung in einem Umsatzsteuerkarussellbetrug s. BFH, Beschl. v. 12.9.2014 – VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161 u. Nacke, NWB 2015, 3396. 8 BFH, Urt. v. 15.4.1997 – VII R 74/96, BStBl. II 1997, 600. 9 BFH, Urt. v. 16.4.2002 – IX R 40/00, BStBl. II 2002, 501.

192

E. Haftung des Steuerhinterziehers und des Steuerhehlers (§ 71 AO)

(§ 27 StGB) geleistet hat.1 Als Hilfeleistung i.S.d. § 27 StGB ist dabei grundsätzlich jede Handlung anzusehen, welche die Herbeiführung des Taterfolges des Haupttäters objektiv fördert, ohne dass sie für den Erfolg selbst ursächlich sein muss.2 Gehilfenvorsatz liegt vor, wenn der Gehilfe die Haupttat in ihren wesentlichen Merkmalen kennt und in dem Bewusstsein handelt, durch sein Verhalten das Vorhaben des Haupttäters zu fördern; Einzelheiten der Haupttat braucht er nicht zu kennen. Ob der Gehilfe den Erfolg der Haupttat wünscht oder ihn lieber vermeiden würde, ist nicht entscheidend. Es reicht, dass die Hilfe an sich geeignet ist, die fremde Haupttat zu fördern oder zu erleichtern, und der Hilfeleistende dies weiß.3 An einer solchen Hilfeleistung fehlt es, wenn z.B. der Ehegatte die gemeinsame Einkommensteuererklärung unterzeichnet, obwohl er weiß, dass die Angaben seines Gatten über dessen Einkünfte unzutreffend sind.4 Fehlt dem Teilnehmer ein die Strafbarkeit nach §§ 370, 374 AO begründendes persönliches Merkmal, so haftet er gleichwohl für den Steuerschaden.5 Auch hier ist eine Wahlfeststellung für die Haftung nach § 71 AO in dem Sinne ausreichend, dass diese zwischen Täterschaft und Teilnahme oder zwischen Anstiftung und Beihilfe konstatiert wird.6 Entsprechend der Rechtsnatur des § 71 AO als Haftungsvorschrift, kommt eine 5.60 Inanspruchnahme des Steuerhinterziehers oder -hehlers nicht in Betracht, wenn er selbst Steuerschuldner ist. Haftung setzt ein Einstehen für eine fremde Schuld voraus.7 So haftet der Geschäftsführer einer GmbH nicht für Hinterziehungszinsen aus einer Steuerhinterziehung zugunsten der GmbH, weil er selbst Schuldner der Zinsen ist (§ 235 Abs. 1 Satz 3 AO).8 Nach einer Entscheidung des X. Senats soll jedoch eine Haftung in Betracht kommen, wenn der Haftungsschuldner auch Steuerschuldner ist. Dies soll der Fall sein, wenn wegen einer Aufteilung der Steuerschuld der in Anspruch genommene Steuerschuldner nicht Zahlungsverpflichteter ist.9 Ist fraglich, wer als Schuldner bei mehreren Tatbeteiligten anzusehen ist, kommt quasi in dubio pro reo eine Haftung gem. § 71 AO nicht zur Anwendung.10 1 BFH, Urt. v. 12.4.1983 – VII R 3/80, BFHE 138, 157; Urt. v. 11.2.2002 – VII B 323/00, BFH/ NV 2002, 891; Urt. v. 8.9.2004 – XI R 1/03, n.v.; vgl. auch FG Münster, Urt. v. 5.2.1997 – 1 K 5572/95 L, (rkr.), EFG 1997, 1274; FG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 7.1.2015 – 5 V 2068/14, wistra 2015, 284 zur Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch den Verkauf von Kassenmanipulationssoftware; Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 6. 2 BFH, Urt. v. 21.1.2004 – XI R 3/03, BStBl. II 2004, 919. 3 BFH, Urt. v. 21.1.2004 – XI R 3/03, BStBl. II 2004, 919. 4 BFH, Urt. v. 16.4.2002 – IX R 40/00, BStBl. II 2002, 501; vgl. auch Beschl. v. 30.3.2005 – IV B 161/03, juris; zur Haftung eines Steuerfachgehilfen wegen Beihilfe s. FG Münster, Urt. v. 20.9.2006 – 5 K 4518/02 U, EFG 2007, 488. 5 BFH, Beschl. v. 27.5.1986 – VII S 5/86, BFH/NV 1987, 10; Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 6. 6 Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 6 m.w. Nachw. 7 FG Köln, Urt. v. 6.10.1999 – 11 K 5118/92, EFG 2000, 201; offen gelassen BFH, Urt. v. 16.4.2002 – IX R 40/00, BStBl. II 2002, 501, 503; Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 7; Mösbauer, S. 98; Rüsken in Klein, § 71 AO Rz. 1; a.A. FG Hamburg, Urt. v. 18.11.2016 – 4 V 142/16, EFG 2017, 182 mit Anm. Bender. 8 Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 7. 9 BFH, Urt. v. 7.3.2006 – X R 8/05, BFH/NV 2006, 1378. 10 BFH, Beschl. v. 5.3.1979 – GrS 5/77, BStBl. II 1979, 570 (573).

193

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

5.61

Es ist Aufgabe der Finanzbehörde, die Voraussetzungen der Strafbarkeit festzustellen und ggf. zu beweisen. Sie trägt die Feststellungslast für das Vorliegen aller Strafbarkeitsvoraussetzungen.1 Damit ist vordergründig unerheblich, ob ein FG oder ein Strafgericht die Strafbarkeit festgestellt hat.2 Ebenso wenig sind Selbstanzeige (§ 371 AO), Eintritt der Strafverfolgungsverjährung oder sonstige Verfahrenshindernisse von Bedeutung.3 An Entscheidungen im strafgerichtlichen Verfahren ist die Finanzbehörde nicht gebunden.4 Gleichwohl wird man für die Praxis sagen können, dass für die Finanzbehörde ein Haftungsverfahren gem. § 71 AO erfolgversprechender ist, wenn eine kollegialgerichtliche Entscheidung über die Strafbarkeit vorliegt.5 Die Finanzbehörde kann sich dann auf das Strafverfahren beziehen. Nur substantiierte Einwendungen des Haftenden und entsprechende Beweisanträge sind zu berücksichtigen.6 Dies gilt auch für die Finanzgerichte, die sich insoweit auf die Feststellungen des Strafgerichts berufen können.7 Die grundsätzlich zulässige Verwertung tatsächlicher Feststellungen in einem Strafurteil auch im Verfahren vor dem Finanzgericht setzt aber voraus, dass derartige Feststellungen auch tatsächlich im Strafurteil getroffen sind.8

Û

Hinweis: Soll die Bezugnahme auf ein Strafurteil/einen Strafbefehl verhindert werden, so ist es Aufgabe des Prozessbevollmächtigten, insbesondere im Klageverfahren substantiierte Einwendungen unter Angabe von Beweismitteln gegen die Feststellungen und Wertungen des Strafgerichts vorzutragen.

Umgekehrt wird ein Haftungsbescheid schwer zu halten sein, wenn z.B. ein Strafgericht die Betroffenen freigesprochen hat, obwohl die Finanzbehörde an Entscheidungen in strafgerichtlichen Verfahren nicht gebunden ist.9 Es kommt aber auf den Einzelfall an. Ist das Strafverfahren nach § 153a StPO eingestellt worden, so ergibt sich aus der Zustimmungserklärung des Beschuldigten zur Einstellung kein Nachweis einer Tatbestandsbegehung.10

1 2 3 4 5 6 7

8 9 10

BFH, Beschl. v. 5.3.1979 – GrS 5/77, BStBl. II 1979, 570 (573). AEAO zu § 71 Satz 2. AEAO zu § 71 Satz 3. BFH, Urt. v. 10.10.1972 – VII R 117/69, BStBl. II 1973, 68 (71). Vgl. BFH, Urt. v. 13.7.1994 – I R 112/93, BFHE 175, 489 = BStBl. II 1995, 198; Urt. v. 23.4.2014 – VII R 41/12, BStBl. II 2015, 117. BFH, Urt. v. 13.7.1994 – I R 112/93, BFHE 175, 489 = BStBl. II 1995, 198. BFH, Urt. v. 14.10.1999 – IV R 63/98, BStBl. II 2001, 329; Beschl. v. 13.1.2005 – VII B 261/04, BFH/NV 2005, 936; Urt. v. 7.3.2006 – X R 8/05, BStBl. II 2007, 594; Beschl. v. 24.4.2006 – VII B 78/05, BFH/NV 2006, 1668; Beschl. v. 30.7.2009 – VIII B 214/07, BFH/ NV 2009, 1824; FG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.10.2016 – 3 K 86/13, juris, Rev. eingelegt Az. BFH VII R 35/16. BFH, Beschl. v. 30.7.2009 – VIII B 214/07, BFH/NV 2009, 1824. BFH, Urt. v. 10.10.1972 – VII R 117/69, BStBl. II 1973, 68; AEAO zu § 71 Satz 4. BFH, Beschl. v. 29.6.2006 – VIII B 186/05, BFH/NV 2006, 1866.

194

E. Haftung des Steuerhinterziehers und des Steuerhehlers (§ 71 AO)

II. Rechtsfolgen Gehaftet wird für die verkürzten Steuern, die zu Unrecht erhaltenen Steuervor- 5.62 teile und für die Hinterziehungszinsen.1 Nicht gehaftet wird wegen fehlender Erwähnung in § 71 AO für die Säumniszuschläge und Zinsen nach § 233a AO.2 Da die Haftung mittels Haftungsbescheid gem. § 191 AO geltend gemacht wird, hat die Finanzbehörde ihr Ermessen auch im Hinblick auf das Entschließungsermessen auszuüben. Dies bedeutet nicht nur eine Entscheidung über die Frage, ob jemand in Anspruch genommen wird, sondern auch, in welcher Höhe.3 Da die Inanspruchnahme des Steuerhinterziehers oder -hehlers als Haftenden in der Regel Recht und Billigkeit entspricht, bedarf es wegen dieser Vorprägung jedoch keiner besonderen Begründung.4 Dies bezieht sich auf die Ermessensausübung dem Grunde nach und auch der Höhe nach, und die Aussage gilt nicht nur hinsichtlich des Haupttäters, sondern auch hinsichtlich desjenigen, der Beihilfe geleistet hat.5 Die Haftung reicht so weit, wie auch der Vorsatz des Täters gereicht hat.6 Hat je- 5.63 mand faktisch 3000 Euro hinterzogen, wollte er aber nur 1000 Euro mit seiner strafbaren Handlung hinterziehen, so kommt eine Haftung nur in Höhe von 1000 Euro in Betracht.7 Ebenso gilt dieses für den Teilnehmer.8 Wollte er sich nur an einem Teil der Steuerhinterziehung beteiligen – z.B. Haupttat auf 1000 Euro Steuerhinterziehung, Teilnahmehandlung nur auf 500 Euro Steuerhinterziehung gerichtet –, so kommt auch nur eine Haftung in Höhe von 500 Euro in Betracht.9

Û

Hinweis: In dieser Hinsicht gilt es, genau zu prüfen, ob sich der Vorsatz des 5.64 Betroffenen in voller Höhe auf die z.B. verkürzte Steuer erstreckt hat. Es kann sein, dass insoweit die Feststellungen im Strafverfahren wenig aussagekräftig sind.

Bei der Geltendmachung der Haftung ist die Festsetzungsfrist zu beachten. Sie 5.65 beträgt in den Fällen des § 71 AO zehn Jahre (§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO). Der Ablauf der Festsetzungsfrist oder Erhebungsverjährung in Bezug auf den Steuerschuldner hindert nicht die Haftung (§ 191 Abs. 5 Satz 2 AO). Gem. § 219 Satz 2 AO 1 BFH, Urt. v. 19.4.1989 – X R 3/86, BFHE 156, 383 = BStBl. II. 1989, 596 (598); Urt. v. 27.6.1991 – V R 9/86, BFHE 165, 10 = BStBl. II. 1991, 822 (824). 2 FG Hamburg, Urt. v. 9.11.1993 – VII 26/88, EFG 1994, 687, 688; Sächsisches FG, Urt. v. 21.1.2004 – 7 K 1712/99, n.v.; Niedersächsisches FG, Beschl. v. 5.12.2005 – 11 V 280/04, EFG 2006, 698. 3 BFH, Urt. v. 8.11.1988 – VII R 78/85, BStBl. II 1989, 118 (119). 4 BFH, Beschl. v. 27.5.1986 – VII S 5/86, BFH/NV 1987, 10; Beschl. v. 27.3.2006 – VII B 117/05, BFH/NV 2006, 1254. 5 BFH, Urt. v. 8.9.2004 – XI R 1/03, n.v.; Urt. v. 21.1.2004 – XI R 3/03, BStBl. II 2004, 919; Beschl. v. 29.8.2001 – VII B 54/01, n.v.; Beschl. v. 14.2.2006 – VII B 119/05, BFH/NV 2006, 1246. 6 BFH, Urt. v. 11.2.2002 – VII B 323/00, BFH/NV 2002, 891, 893; Beschl. v. 27.3.2006 – VII B 117/05, BFH/NV 2006, 1254. 7 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 71 AO Rz. 16. 8 BFH, Urt. v. 11.2.2002 – VII B 323/00, BFH/NV 2002, 891 (893). 9 Bei fortgesetzter Straftat ist zu beachten, dass der strafrechtliche Fortsetzungszusammenhang bei Steuerhinterziehung vom BGH und vom BFH aufgegeben worden ist (vgl. BFH, Urt. v. 22.6.1995 – IV R 26/94, BFHE 177, 354 = BStBl. II 1995, 575 m.w. Nachw.).

195

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

braucht der Steuerschuldner nicht vorher in Anspruch genommen zu werden. Es wäre in der Regel wegen des Maßes der Verfehlung sogar ermessensfehlerhaft, wenn statt des Steuerhinterziehers, Steuerhehlers oder Teilnehmers an einer solchen Tat der Steuerschuldner in Anspruch genommen würde.1 Auch ist für die Geltendmachung durch Haftungsbescheid bei hinterzogener Gewerbesteuer nicht erforderlich, dass zuvor gegenüber dem Steuer- und Zinsschuldner oder gegenüber dem Haftungsschuldner Tatbestand und Umfang der Steuerhinterziehung in einem Grundlagenbescheid gesondert festgestellt worden sind.2 Die Haftung nach § 71 AO kann neben der Haftung nach § 69 AO geltend gemacht werden. Bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung kann der Haftungsgrund ausgetauscht oder ergänzt werden.3 Etwas anderes gilt, wenn sich beim Austausch der Haftungsnorm der zugrunde liegende tatsächliche Lebenssachverhalt verändert. Dann ist ein neuer Haftungsbescheid zu erlassen.4 Eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB kommt bei der Steuerhinterziehung nicht in Betracht, da § 370 nicht ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist (nicht Individualschutz, sondern Sicherung des Steueraufkommens ist bezweckt).5 Überdies käme nur eine zivilgerichtliche Inanspruchnahme in Frage.6

F. Spendenhaftung gem. § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG Schrifttum: Wallenhorst, Die neue Haftung bei Fehlverwendung von Spenden, DB 1991, 1410; Oppermann/Peter, Die steuerliche Haftung für rechtswidrig ausgestellte Spendenbescheinigungen, DStZ 1998, 424; Wallenhorst, Spendenhaftung: Beantwortete und offene Fragen, DStZ 2003, 531; Halaczinsky, Rz. 471; Blesinger, S. 111; Möllmann, Haftungsfalle Ehrenamt, DStR 2009, 2125. Verwaltungsanweisungen: Einkommensteuer-Handbuch 2016; OFD Frankfurt v. 17.6.2010 – S 2223 A-95-St 53, juris.

5.66

1990 wurde diese Haftungsvorschrift in das EStG aufgenommen (vgl. die wortgleiche Haftungsnorm in § 9 Abs. 3 Satz 2 KStG). Hintergrund der Haftung ist der Vertrauensschutz, den der gutgläubige Spender genießt. Der arglose Spender kann davon ausgehen, dass ihm die Steuervergünstigung gem. § 10b Abs. 4 Satz 1 EStG (vgl. § 9 Abs. 3 Satz 1 KStG) auch dann erhalten bleibt, wenn sich der Spendenempfänger rechtswidrig verhält bzw. dessen Steuerbefreiung rückwirkend wegfällt und der Spender hiervon nichts gewusst hat. Korrespondierend hierzu wurden dann Haftungstatbestände geschaffen.

5.67

Es sind zwei selbständige Haftungstatbestände zu unterscheiden. Gem. § 10b Abs. 4 Satz 2 1. Alt. EStG haftet der Aussteller einer Spendenbescheinigung für die entgangene Steuer, wenn er grob fahrlässig oder vorsätzlich eine unrichtige 1 2 3 4

Rüsken in Klein, § 71 AO Rz. 15 m.w. Nachw. BVerwG, Beschl. v. 16.9.1997 – 8 B 143.97, BStBl. II 1997, 782. Rüsken in Klein, § 71 AO Rz. 18 m.w. Nachw. BFH, Beschl. v. 11.8.2005 – VII B 312/04, StE 2005, 2153; Rüsken in Klein, § 71 AO Rz. 18 m.w. Nachw. 5 BFH, Urt. v. 24.10.1996 – VII R 113/94, BFHE 181, 552 = BStBl. II 1997, 308. 6 Rüsken in Klein, § 71 AO Rz. 19.

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F. Spendenhaftung gem. § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG

Bestätigung1 ausgestellt (sog. Ausstellerhaftung), nach § 10b Abs. 4 Satz 2 2. Alt. EStG derjenige, der eine zweckwidrige Verwendung der Spenden veranlasst hat (sog. Veranlasserhaftung). Die 1. Alternative ist eine Verschuldenshaftung, während die 2. Alternative eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung beinhaltet.2 Die entgangene Steuer wird gem. § 10b Abs. 4 Satz 3 EStG mit 40 % des zugewendeten Betrages fingiert. Für Zuwendungen nach dem 31.12.2006 wird nach dem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements eine entgangene Steuer von 30 % angesetzt.3

I. Ausstellerhaftung Voraussetzung für die Ausstellerhaftung ist, dass eine unrichtige Bestätigung 5.68 ausgestellt wurde. Die fehlerhafte Bestätigung in diesem Sinne kann sich auf die Höhe des zugewendeten Betrages beziehen, wie auch auf den steuerbegünstigten Status des Empfängers.4 Im Falle von Aufwandsspenden darf eine Spendenbestätigung nur ausgestellt werden, wenn bei dem jeweiligen Spender eine tatsächliche Vermögenseinbuße eingetreten ist.5 Lag zunächst eine vorläufige Bescheinigung über die Gemeinnützigkeit vor und entfiel diese erst später rückwirkend, so dürfte dies auch ein Fall der 1. Alt. sein, da die Bestätigung letztlich unrichtig war. Es fehlt in diesen Fällen aber an dem Schuldvorwurf.6 Grob fahrlässig handelt dabei der Aussteller nämlich nur dann, wenn er bei fehlender Gemeinnützigkeit die Bescheinigung ausstellt, ohne zu prüfen, ob dem Empfänger, dem die Spende zukommen soll, ein Freistellungsbescheid oder eine vorläufige Bescheinigung über die Gemeinnützigkeit erteilt worden ist.7 Wer bei der Ausstellerhaftung die Person des Haftenden ist, ist umstritten. 5.69 Nach Ansicht des BFH ist dies die empfangene Körperschaft.8 Während andere als Haftende nur natürliche Personen in Betracht ziehen. Natürliche Personen 1 Vgl. zur unrichtigen Bestätigung BFH, Urt. v. 12.8.1999 – XI R 65/98, BStBl. II 2000, 65; FG München, Urt. v. 7.7.2009 – 6 K 3583/07, EFG 2009, 1823; zu sog. Aufwandsspenden an eine politische Partei s. BFH, Urt. v. 9.5.2007 – XI R 23/06, BFH/NV 2007, 2251. 2 H.M. Heinicke in Schmidt, § 10b EStG Rz. 55; Thiel/Eversberg, DB 1990, 395 (399); Oppermann/Peter, DStZ 1998, 424 (425); a.A. Hofmeister in Blümich, § 10b EStG Rz. 149. 3 S. Art. 9 des Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements (BGBl. I 2007, 2332) u. § 52 Abs. 24b Satz 2 EStG. Nach Erkenntnissen der Bundesregierung lag nach dem geltenden Recht der durchschnittliche Steuersatz etwa zwischen 28 und 30 % – zzgl. des Solidaritätszuschlags in Höhe von 1,6 % (5,5 % von 28–30 %), so dass der Prozentsatz von 40 % in § 10b Abs. 4 Satz 3 EStG auf 30 % herabzusetzen war (BT-Drucks. 16/5200, 17). 4 BFH, Urt. v. 20.9.2016 – X R 36/15, juris; Urt. v. 12.8.1999 – XI R 65/98, BStBl. II 2000, 65. 5 BFH, Urt. v. 20.9.2016 – X R 36/15, juris; Urt. v. 9.5.2007 – XI R 23/06, BFH/NV 2007, 2251. 6 BFH, Beschl. v. 3.12.2001 – XI B 86/01, StuB 2002, 356. 7 BFH, Urt. v. 24.4.2002 – XI R 123/96, BStBl. II 2003, 128 (130). 8 BFH, Urt. v. 24.4.2002 – XI R 123/96, BStBl. II 2003, 128 zur Haftung einer Gebietskörperschaft; FG München Urt. v. 7.7.2009 – 6 K 3583/07, EFG 2009, 1823 (NZB als unzulässig verworfen, BFH, Beschl. v. 16.3.2010 – X B 131/09, BFH/NV 2010, 1453), zur Haftung des Landesverbandes einer Partei; Kirchhof in Kirchhof, § 10b EStG Rz. 107 f.

197

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

kommen m.E. zunächst für die Haftung nach der 1. Alt. schon deshalb in Betracht, weil nur sie grob fahrlässig oder vorsätzlich handeln können.1 Ist Aussteller einer Bestätigung eine Personenvereinigung oder eine juristische Person, z.B. ein eingetragener Verein, sind als Haftende i.S.d. 1. Alt. die für diese Institutionen handelnden Personen anzusehen (z.B. Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer).2 Jedoch wenn die Spendenbescheinigung von einer Gebietskörperschaft ausgestellt wurde (Durchlaufspenden), geht die Haftung auf die Ausstellungskörperschaft gem. Art. 34 GG über.3 Handeln mehrere Personen zusammen, so sind sie Gesamtschuldner.

II. Veranlasserhaftung 5.70

Nach § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG haftet auch, wer veranlasst, dass Zuwendungen nicht zu dem in der Bestätigung angegebenen steuerbegünstigten Zweck verwendet werden (sog. Veranlasserhaftung). Zu einem steuerbegünstigenden Zweck werden die Spenden verwendet, wenn diese zur Förderung eines Zwecks i.S. des § 52 Abs. 2 AO eingesetzt werden. Auf die Anerkennung als gemeinnützige Körperschaft im Körperschaftsteuerveranlagungsverfahren kommt es nicht an.4

5.71

Im Fall der Veranlasserhaftung i.S.d. 2. Alt. ist als potentiell Haftender neben dem gesetzlichen Vertreter die Körperschaft in Betracht zu ziehen.5 Dieses ergibt sich u.a. aus dem Sinn und Zweck der Regelung, die das Steuerausfallrisiko vom Spender auf den Spendenempfänger verlagern soll.6 Die Haftungsschuldner (Körperschaft oder ihre gesetzlichen Vertreter) stehen grds. gleichrangig nebeneinander und sind ebenfalls als Gesamtschuldner zu behandeln.7 Die Haftung der Körperschaft ist allerdings beschränkt auf die Fehlverwendung, die auf Handlungen oder Unterlassungen ihrer Organe als gesetzliche Vertreter – z.B. bei Verletzung der Aufsichtspflicht für Angestellte der Körperschaft – beruht.

1 Halaczinsky, Rz. 473; a.A. Hofmeister in Blümich, § 10b EStG Rz. 147; Wallenhorst, DStZ 2003, 534; differenzierend Oppermann/Peter, DStZ 1998, 424 (426) m.w. Nachw. zu den verschiedenen Auffassungen (425); Thiel/Eversberg, DB 1990, 395 (399); wohl auch Hessisches FG, Urt. v. 14.1.1998 – 4 K 2594/94, EFG 1998, 757 (758). 2 Halaczinsky, Rz. 473. 3 BFH, Urt. v. 24.4.2002 – XI R 123/96, BStBl. II 2003, 128; FG München, Urt. v. 16.7.1996 – 16 K 3638/94, EFG 1997, 322 (323); ebenso Heinicke in Schmidt, § 10b EStG Rz. 52. 4 BFH, Urt. v. 10.9.2003 – XI R 58/01, BStBl. II 2004, 352; BFH, Urt. v. 28.7.2004 – XI R 41/03, n.v. 5 BFH, Beschl. v. 23.2.1999 – XI B 130/98, BFH/NV 1999, 1089; FG Köln, Beschl. v. 14.1.1998 – 6 V 6026/97, EFG 1998, 753; Hessisches FG, Urt. v. 14.1.1998 – 4 K 2594/94, EFG 1998, 757; Gierlich, FR 1991, 518 (520); Thiel/Eversberg, DB 1990, 395 (399); Wallenhorst, DB 1991, 1410 (1411); a.A. Hofmeister in Blümich, § 10b EStG Rz. 148; differenzierend Oppermann/Peter, DStZ 1998, 424 (426). 6 Hessisches FG, Urt. v. 14.1.1998 – 4 K 2594/94, EFG 1998, 757 (758). 7 Heinicke in Schmidt, § 10b EStG Rz. 52; Thiel/Eversberg, DB 1990, 395 (399); Wallenhorst, DB 1991, 1410 (1411).

198

F. Spendenhaftung gem. § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG

Ab dem VZ 2009 gilt hinsichtlich des Auswahlermessens jedoch eine Sonder- 5.72 regelung.1 Hinsichtlich der Veranlasserhaftung hat nun der Gesetzgeber neue Ermessensregeln geschaffen. Die Haftungsschuldner sind als Gesamtschuldner zwar sowohl der Zuwendungsempfänger als auch die für ihn handelnde natürliche Person. Um das ehrenamtliche Engagement zu unterstützen, ist nun in § 10b Abs. 4 Satz 4 EStG n.F. eine Reihenfolge der Inanspruchnahme der Gesamtschuldner gesetzlich festgelegt worden. Vorrangig haftet der Zuwendungsempfänger (z.B. der Verein). Die handelnde Person wird nur in Anspruch genommen, wenn die Inanspruchnahme des Vereins erfolglos ist, der Haftungsanspruch also weder durch Zahlung, Aufrechnung, Erlass oder Verjährung erloschen ist noch Vollstreckungsmaßnahmen gegen ihn zum Erfolg führen. Eine Fehlverwendung nimmt die Finanzrechtsprechung z.B. an, wenn die Spen- 5.73 den für gewerbliche Mitgliederwerbung verwandt werden, soweit der verwendete Betrag mehr als 10 % der Spendengelder beträgt.2 Auch sei eine Fehlverwendung gegeben, wenn die Spenden für eine nicht durch § 58 Nr. 6 AO gedeckte Bildung von Rücklagen benutzt werden.3 Das FG Köln sieht dagegen z.B. keinen Haftungstatbestand erfüllt, wenn ein als gemeinnützig anerkannter Verein, der seine satzungsmäßigen Zwecke auch durch Meinungsbekundungen im politischen Raum verfolgt, Spendengelder für Zeitungsanzeigen verwendet, in denen zu tagespolitischen Themen Stellung genommen wird.4

III. Ermessensausübung Bei mehreren potentiell Haftenden besteht ein Auswahlermessen. Dieses kann 5.74 auf null reduziert sein, wenn nur noch bei einem Haftenden der Anspruch realisiert werden kann. Beachte auch die Besonderheiten beim Auswahlermessen im Fall der Veranlasserhaftung (s. Rz. 5.71). Aber auch das Entschließungsermessen, also die Frage, ob ein potentiell Haftender in Anspruch genommen werden soll, kann auf null reduziert sein. Kann der Steuerpflichtige selbst nicht zur Haftung herangezogen werden, was in der Regel wegen der Vertrauensschutzvorschrift des § 10b Abs. 4 Satz 1 EStG der Fall ist, so kommt nur noch die Inanspruchnahme eines Haftenden in Betracht, die wegen des Legalitätsprinzips (§ 85 AO) geboten ist.5

IV. Haftungsumfang § 10b Abs. 4 Satz 3 EStG ordnet an, dass für die entgangene Steuer gehaftet wird. 5.75 Aus Vereinfachungsgründen ist ein pauschalierter Steuersatz von 30 % (bis

1 S. § 52 Abs. 1 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2009 (BGBl. I 2008, 2794). 2 FG Köln, Beschl. v. 28.1.1998 – 6 V 6194/97, EFG 1998, 755; a.A. BFH, Beschl. v. 23.2.1999 – XI B 128/98, BFH/NV 1999, 1055. 3 FG Köln, Beschl. v. 27.1.1998 – 6 V 6023/97, EFG 1998, 756. 4 FG Köln, Urt. v. 22.5.1996 – 12 K 4882/95, EFG 1996, 1091; s. auch BFH, Urt. v. 23.9.1999 – XI R 63/98, BStBl. II 2000, 200. 5 Hessisches FG, Urt. v. 14.1.1998 – 4 K 2594/94, EFG 1998, 757 (758).

199

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

1.1.2007 40 %) des zugewendeten Spendenbetrages zu veranschlagen. Eine konkrete Ermittlung des Steuerschadens erfolgt nicht.1

V. Zum Verfahrensrecht 5.76

Mit dem Jahressteuergesetz 20092 wurde eine Regelung zur Festsetzungsfrist aufgenommen. Aufgrund der Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde bzgl. der Festsetzungsfrist für die Haftungsansprüche nach § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG (Aussteller- und Veranlasserhaftung) eine Änderung vorgenommen, die der Regelung in § 191 Abs. 3 Satz 4 AO ähnelt. So läuft nach § 10b Abs. 4 Satz 5 EStG n.F. die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid nicht ab, bevor die Festsetzungsfrist für die Körperschaftsteuer der durch die Bescheinigung begünstigten Körperschaft für den VZ abgelaufen ist, in dem der Haftungstatbestand erfüllt wurde. Die Regelung des § 191 Abs. 3 Satz 4 AO, die verhindern soll, dass der Haftungsanspruch nicht vor dem zugrunde liegenden Steueranspruch verjährt, ist auf die Spendenhaftung nicht übertragbar. Bei der Spendenhaftung geht es nicht darum, im Haftungswege eine Steuer einzufordern. Im Rahmen der Spendenhaftung ist der Haftungsanspruch nicht an das Bestehen eines Steueranspruchs gebunden. Da erst im Rahmen der Prüfung der gemeinnützigen Körperschaft festgestellt werden kann, ob die Voraussetzungen für eine Spendenhaftung vorliegen und die Prüfung regelmäßig einen längeren Zeitraum erfordert, war daher diese Neuregelung der Ablaufhemmung erforderlich.

5.77

Beispiel: A erhält von B im Jahr 01 zu Unrecht eine Spendenbescheinigung. Dies entdeckt die Finanzbehörde jedoch erst im Jahr 07 aufgrund einer Außenprüfung bei B. Die Festsetzungsfrist für die Körperschaftsteuer der gemeinnützigen B für das Jahr 01 war noch nicht verjährt. Die reguläre Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid ist Ende 05 abgelaufen (§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO). Da die Festsetzungsverjährung bei der gemeinnützigen B noch nicht abgelaufen ist, kann somit noch ein Haftungsbescheid gegen B erlassen werden.

5.78

Die neue Ablaufhemmung betrifft beide möglichen Haftungstatbestände (Ausstellerhaftung und Veranlasserhaftung).

G. Haftung beim Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen (§ 50a EStG) Schrifttum: Halaczinsky, Rz. 461; Waterkamp, Haftungsbescheid gegen einen Veranstalter bei Auftritt eines ausländischen Künstlers im Inland, FR 1994, 345; Grams, Künstlerbesteuerung: Zur Bestimmtheit von Haftungs- und Steuerbescheiden, FR 1996, 620; Schnittker/Hartmann, StÄndG 2001; verschärfte Zahlungspflichten des Vergütungsschuldners im Fall von Doppelbesteuerungsabkommen (§ 50d EStG n.F.), FR 2002, 197; Gehm, Haftung beim Steuerabzug der beschränkt Steuerpflichtigen nach § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG, BuW 2002, 105; Hierstetter/Hempel, Nacherhebung von Abzugssteuer und Erstattung nach § 50d Abs. 1 EStG, FR 2003, 1219; Gosch, Gemeinschaftskonformität des Steuerabzugs- und Haftungsverfahrens, BFH-PR 2004, 350; Hofmeister, Vereinbarkeit des Steuerabzugs und der 1 Oppermann/Peter, DStZ 1998, 424 (429). 2 BGBl. I 2008, 2794.

200

G. Haftung beim Steuerabzug bei beschrnkt Steuerpflichtigen (§ 50a EStG) Haftung mit der Dienstleistungsfreiheit – Umfang der passiven Dienstleistungsfreiheit, HFR 2004, 876; Forst, Verpflichtung zum Steuerabzug auch bei steuerfreien Einkünften!, EStB 2004, 385; Schroen, Steuerabzug nach § 50a EStG von den Bruttoeinnahmen EUrechtswidrig! Der Fall „Scorpio“, NWB v. 30.10.2006, Fach 3, 14255; Cordewener/Grams/Molenaar, Neues aus Luxemburg zur Abzugsbesteuerung nach § 50a EStG – Erste Erkenntnisse aus dem EuGH-Urteil vom 3.10.2006 (C-290/04, „FKP Scorpio Konzertproduktionen GmbH“), IStR 2006, 739; Eicker/Seiffert, EuGH: Haftung des Vergütungsschuldners gem. § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG trotz Beitreibungsrichtlinie?, BB 2007, 358; Intemann/Nacke, Die EuGH-Entscheidung in der Rs. Scorpio, DB 2007, 1430; Gosch, Haftung eines im Ausland ansässigen Vergütungsschuldners auf der so genannten zweiten Ebene, BFH-PR 2008, 46; Kempermann, Haftung des Vergütungsschuldners gemäß § 50a Abs. 5 EStG, FR 2008, 146; Nacke, Besteuerung beschränkt steuerpflichtiger Künstler und Sportler, NWB 2011, 607. Verwaltungsanweisungen: Einkommensteuer-Handbuch 2016; BMF v. 31.5.1999, BStBl. I 1999, 491; v. 13.7.1999, BStBl. I 1999, 687; v. 3.8.1999, BStBl. I 1999, 728; v. 5.4.2007, BStBl. I 2007, 449; v. 25.11.2010, BStBl. I 2010, 1350.

Die Vorschrift des § 50a EStG ist mit dem Jahressteuergesetz 20091 neugefasst 5.79 worden. Mit der Vorschrift verfolgte der Gesetzgeber u.a. den Zweck, Steueransprüche gegen beschränkt Steuerpflichtige zu sichern. Zunächst dient diesem Ziel die Steuerabzugspflicht durch den inländischen Vergütungsschuldner. So beträgt die Aufsichtsratssteuer 30 % der Vergütungen jeder Art, die ein beschränkt steuerpflichtiges Aufsichtsratsmitglied vom inländischen Vergütungsschuldner erhält. In § 50a Abs. 1 Nr. 4 EStG sind die Gesellschaftsformen und Vereinigungen näher benannt, die dafür in Betracht kommen. Weiter gilt gem. § 50a Abs. 1 Nr. 1 EStG Ähnliches für Vergütungen an beschränkt Steuerpflichtige für ihre ausgeübten künstlerischen, sportlichen, artistischen, unterhaltenden oder ähnlichen Darbietungen. Hier beträgt der Steuerabzug 15 % der Vergütungen. Gem. § 50a Abs. 5 Satz 4 EStG haftet der Schuldner der Vergütungen für die Einbehaltung und Abführung der Steuer. Wie die Einbehaltung, Abführung und Anmeldung der Aufsichtsratssteuer und der Steuer von Vergütungen bestimmter oben genannter Tätigkeiten erfolgt, ist näher in § 73e EStDV n.F. geregelt. Zunächst ist der Steuerabzug ohne Rücksicht darauf, ob ein DBA besteht, in voller Höhe einzubehalten und abzuführen.2 Ebenso wenig hat die in den jeweiligen DBA verankerten Diskriminierungsverbote Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides.3 Dies gilt nicht, wenn das Kontrollmeldeverfahren nach § 50d Abs. 5 EStG angewandt wird oder eine Freistellung nach § 50d Abs. 2 Satz 1 EStG bescheinigt wird. Ähnlich wie bei der Lohnsteuerhaftung kann auch hier der Vergütungsschuldner gem. § 50a Abs. 5 Satz 4 EStG i.V.m. § 191 Abs. 1 AO mit Hilfe eines Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden.4 Hat der Vergütungsschuldner die Steuer ordnungsgemäß angemeldet, scheidet eine Haftung aus. Gleiches gilt, wenn der Verpflichtete seine Ver1 BGBl. I 2008, 2794. 2 § 50d Abs. 1 Satz 1 EStG; BFH, Beschl. v. 17.5.2005 – I B 108/04, BFH/NV 2005, 802; Grundlage sind die vom Vergütungsschuldner gezahlten Vergütungseinnahmen ohne Abrechnung von Kosten und Provisionen. Vgl. FG Hamburg, Beschl. v. 14.5.1998 – II 51/97, EFG 1998, 1412 (1414). 3 BFH, Beschl. v. 17.5.2005 – I B 108/04, BFH/NV 2005, 802; Urt. v. 19.11.2003 – I R 22/02, BStBl. II 2004, 560; Urt. v. 21.5.1997 – I R 79/96, BStBl. II 1998, 113. 4 Vgl. zur Problematik der Bestimmtheit eines Haftungsbescheids nach § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG i.V.m. § 191 AO, in dem der Vergütungsgläubiger (= Steuerschuldner) eine Künst-

201

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

pflichtung zur Zahlung der Steuer schriftlich anerkannt hat (§ 73g Abs. 2 EStDV). 5.80

Wie bei der Lohnsteuerhaftung so stellt sich auch hier die Frage, ob der Vergütungsschuldner durch Nacherhebungsbescheid i.S.d. § 167 Abs. 1 Satz 1 AO ohne Ermessensausübung in Anspruch genommen werden kann. Nach Auffassung des BFH ist dies möglich. Auf die Ausübung des Auswahlermessens könne verzichtet werden, denn es werde in der Regel eine Inanspruchnahme des Vergütungsgläubigers wegen einer evtl. erforderlichen Auslandsvollstreckung ausgeschlossen sein.1 Es könne in diesen Fällen daher von einer weiteren Begründung des Ermessens abgesehen werden.2

I. Entstehung der Steuer 5.81

Voraussetzung für die Haftung ist die Entstehung der Steuer.3 Die Steuer ist entstanden, wenn der entsprechende gesetzliche Tatbestand erfüllt ist und das Bundeszentralamt für Steuern keine Freistellung ausgesprochen hat. Hat der beschränkt steuerpflichtige Vergütungsgläubiger keine der Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte (z.B. weil es sich um eine Liebhaberei handelt), so kommt auch keine Haftung des Vergütungsschuldners in Betracht.4 Die Abzugssteuer entsteht gem. § 50a Abs. 5 Satz 1 EStG im Zeitpunkt des Zuflusses der Vergütung beim Gläubiger.

II. Bemessungsgrundlage für die Höhe der Steuer 5.82

Die Höhe der Bemessungsgrundlage für die Abzugssteuer richtet sich nach den Vergütungen, die der Vergütungsschuldner gezahlt hat. Zu der Vergütung gehören alle mit der Vergütung z.B. für die künstlerischen Darbietungen zusammenhängenden Leistungen. Auch die von dem Künstler geschuldete Umsatzsteuer, soweit sie von dem Vergütungsschuldner übernommen und gezahlt wurde.5 Inwieweit Nebenleistungen von Dritten dem Künstler zugerechnet werden können ist differenziert zu betrachten.6 Folgende Besonderheiten sind jedoch zu berücksichtigen.

1 2 3 4 5 6

lergruppe ist, die mit ihrem im Rechtsverkehr benutzten Namen im Haftungsbescheid bezeichnet wird, ohne die einzelnen Personen zu benennen, Grams, FR 1996, 620. BFH, Beschl. v. 18.3.2009 – I B 210/08, BFH/NV 2009, 1237. BFH, Urt. v. 20.7.1988 – I R 61/85, BStBl. II 1989, 99; Waterkamp, FR 1994, 345 (349). Halaczinsky, Rz. 464. BFH, Beschl. v. 2.2.2010 – I B 91/09, BFH/NV 2010, 878; FG Köln, Urt. v. 23.9.2005 – 15 K 4853/03, EFG 2005, 1940. Vgl. Waterkamp, FR 1994, 345; zur sog. Nullregelung s. BFH, Urt. v. 5.5.2010 – I R 105/08, BFH/NV 2010, 2043. S. BFH, Urt. v. 28.7.2010 – I R 93/09, BFH/NV 2010, 2263.

202

G. Haftung beim Steuerabzug bei beschrnkt Steuerpflichtigen (§ 50a EStG)

1. Pauschalierte Berücksichtigung der Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten Grundsätzlich ist ein Abzug der Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht 5.83 mehr möglich. Die Herabsetzung des Steuersatzes auf 15 % erfolgte, weil in pauschalierter Form die Werbungs- und Betriebskosten berücksichtigt wurden. Es kann aber zum Abzug von konkret entstandenen Werbungs- oder Betriebsausgaben kommen. Dieser Abzug von konkret entstandenen Werbungskosten oder Betriebsausgaben, der schon vom EuGH1 gefordert wurde, ist in § 50a Abs. 3 EStG normiert worden. Der allgemein geltende Steuersatz von 15 % führt weiterhin zum Wegfall des bisherigen Staffeltarifs in § 50a Abs. 4 EStG a.F. 2. Reisekosten Aufgrund einer Änderung im Verfahren vor dem Finanzausschuss können die 5.84 Reisekosten, die vom Vergütungsschuldner übernommen wurden, nur dann von den Einnahmen abgezogen werden, soweit sie nicht die Pauschalbeträge für Verpflegungsmehraufwand nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 EStG übersteigen. Beschränkt Stpfl. werden damit den unbeschränkt Stpfl. gleichgestellt, bei denen die entsprechende Begrenzung ebenfalls gilt.2 3. Steuerabzugssperre Ein Steuerabzug wird bei Einkünften i.S. des § 50a Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht er- 5.85 hoben, wenn die Einnahmen je Darbietung 250 Euro nicht übersteigen (§ 50a Abs. 2 Satz 3 EStG). Diese Milderungsregelung ist nur auf die unmittelbaren Einnahmen aus inländischen Darbietungen anzuwenden. Einnahmen aus der Verwertung der Darbietungen nach § 50a Abs. 1 Nr. 2 EStG werden nach der gesetzlichen Regelung nicht erfasst. Sind mehrere Personen als Darbietende beteiligt, gilt die Milderungsregelung 5.86 für jede Person gesondert. Dabei ist die Gesamtvergütung gleichmäßig nach Köpfen aufzuteilen, soweit die Empfänger keinen anderen Aufteilungsmaßstab darlegen. Dies soll entsprechend auch für Personengesellschaften gelten, soweit an der Personengesellschaft ausschließlich die auftretenden Personen beteiligt sind.3 4. Berücksichtigung konkret entstandener Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten in EU- u. EWR-Fällen Von besonderem praktischem Interesse dürfte die Regelung in § 50a Abs. 3 EStG 5.87 sein. Danach können nunmehr Werbungskosten- und Betriebsausgaben, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang zu den Vergütungen stehen, geltend gemacht werden. Damit ist das objektive Nettoprinzip auch in das Steuerabzugsverfahren eingebunden worden. Es löst damit die reine Bruttobesteuerung der alten Regelung (keine Berücksichtigung von Werbungs- oder Betriebs1 EuGH, Urt. v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04, Scorpio, BStBl. II 2007, 52. 2 BT-Drucks. 6/11108, 28. 3 BMF v. 25.11.2010, BStBl. I 2010, 1350 Rz. 54.

203

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

ausgaben) ab. Insoweit entspricht dies der genannten EuGH-Entscheidung in der Rs. Scorpio1 Diese Möglichkeit besteht nur für diejenigen, die Mitglied eines EU-Staates oder eines EWR-Staates sind (§ 50a Abs. 3 Satz 2 EStG). Nicht alle Aufwendungen, die im Zusammenhang mit dem Auftritt in Deutschland stehen, können berücksichtigt werden. Wie die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Centro Equestre2 schon gezeigt hat (s. auch § 50 Abs. 5 Nr. 5 Satz 2 EStG a.F.), können nur die Aufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, geltend gemacht werden (s. nun § 50a Abs. 3 Satz 1 EStG). Hierzu gehören u.a. folgende Aufwendungen: – Reise- und Unterkunftskosten, – Bühnenmiete, – Honorare für freie Mitarbeiter anlässlich des Auftritts in Deutschland, – an Agenturen entrichtete Organisationsentgelte, – Telefon- und Portokosten. Allgemeine Kosten, die daher nur mittelbar im Zusammenhang stehen, können nicht geltend gemacht werden. Hierzu gehören z.B. folgende Aufwendungen: – Bürokosten im Ausland, – Studiokosten im Ausland, – Gehälter für Mitarbeiter im Ausland, – Berufsverbandsbeiträge, – Versicherungsbeiträge. 5.88

Welche Aufwendungen abgezogen werden können und welche nicht, kann auch an Hand der Kriterien des BMF ermittelt werden.3 Im Unterschied zur Entscheidung des EuGH ist aber geregelt, dass nur die Aufwendungen berücksichtigt werden können, die der Vergütungsschuldner „in einer für das FA nachprüfbaren Form nachgewiesen hat“ (§ 50a Abs. 3 Satz 1 EStG). Der EuGH4 und der BFH5 hatten bisher nur verlangt, dass die Aufwendungen dem Vergütungsschuldner „mitgeteilt“ sein müssen. Diese für das deutsche Steuerrecht ungewöhnlich niedrige Nachweisschwelle stieß in der Literatur auf Kritik6 Der Gesetzgeber entspricht m.E. mit seinen verschärfenden Nachweisanforderungen dieser Kritik. Sie ist zu begrüßen, da sich damit der Abzug der Aufwendungen dem System des deutschen Steuerrechts annähert.7 Einer Mitteilung der Betriebsausgaben oder Werbungskosten bedarf es nicht, wenn der Vergütungsschuldner die Höhe 1 EuGH, Urt. v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04, Scorpio, BStBl. II 2007, 52. 2 EuGH, Urt. v. 5.2.2007 – Rs. C-45/04, Centro Equestre, BFH/NV-Beilage 2007, 277 Nr. 3. 3 BMF v. 25.11.2010, BStBl. I 2010, 1350 Rz. 46 ff. 4 EuGH, Urt. v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04, Scorpio, BStBl. II 2007, 52. 5 BFH, Urt. v. 7.11.2007 – I R 19/04, BStBl. II 2008, 228; Urt. v. 8.9.2007 – I R 5/05, BStBl. II 2008, 2. 6 Intemann/Nacke, DB 2007, 1430 (1433). 7 Zur europarechtlichen Kritik s. Gosch in Kirchhof, § 50a EStG Rz. 2 u. 22.

204

G. Haftung beim Steuerabzug bei beschrnkt Steuerpflichtigen (§ 50a EStG)

der Aufwendungen sicher kennt.1 Eine Schätzung von Betriebsausgaben ist ausgeschlossen.2 Zu den weiteren Pflichten beim Betriebsausgaben- bzw. Werbungskostenabzug s. auch § 73e EStDV.

III. Einbehaltung der Steuer Die Einbehaltung der Steuer unterbleibt auch in den Fällen, in denen zweifelhaft 5.89 ist, ob der Vergütungsgläubiger beschränkt oder unbeschränkt steuerpflichtig ist und eine Bescheinigung des für sein Einkommen zuständigen Finanzamtes die unbeschränkte Steuerpflicht ausweist (§ 73e Satz 6 EStDV). Im Haftungsverfahren ist es dem Haftungsschuldner (= Vergütungsschuldner) verwehrt, sich auf Rechte des Gläubigers aus dem DBA zu berufen (§ 50d Abs. 1 Satz 12 EStG). Somit kommt es zum Steuerabzug auch dann, wenn nach dem einschlägigen DBA eine Besteuerung im Inland unterbleibt. Erst im Erstattungsverfahren des Gläubigers kann ein Steuerabzug berücksichtigt werden. Ist der Steueranspruch verjährt, entfällt auch eine Haftung. Wann die Steuerfestsetzung verjährt ist, hängt von der Entstehung der Steuer bzw. von der Abgabe einer erforderlichen Steuererklärung oder einer Steueranmeldung ab (§ 170 Abs. 1, 2 AO).3 Durch Maßnahmen gegen den Haftungsschuldner wird die Verjährung nicht gehemmt. Voraussetzung ist zwar, dass der Vergütungsgläubiger gem. § 49 Abs. 1 Nr. 2 5.90 Buchst. d EStG oder § 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG beschränkt steuerpflichtig ist; jedoch ist unerheblich, ob der Vergütungsschuldner im Inland keine Betriebsstätte oder vergleichbare Einrichtung hat.4

IV. Säumniszuschläge Der Vergütungsschuldner, der für den Steuerabzug haftet, kann daneben durch 5.91 denselben Haftungsbescheid, wenn die Voraussetzungen vorliegen, auch für die Säumniszuschläge nach §§ 34, 69 AO in Anspruch genommen werden.5

V. Zum Verfahren Der Haftungsbescheid ist von dem für die Besteuerung des Vergütungsschuld- 5.92 ners vom Einkommen örtlich zuständigen Finanzamt zu erlassen. Befindet sich weder die Geschäftsleitung noch der Sitz noch Vermögen des Vergütungsschuldners im Inland, so ist das Finanzamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Tätigkeit im Inland vorwiegend ausgeübt oder verwertet wird oder worden ist.6 1 BFH, Urt. v. 5.5.2010 – I R 105/08, BFH/NV 2010, 2043. 2 BFH, Urt. v. 5.5.2010 – I R 105/08, BFH/NV 2010, 2043. 3 Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung besteht, solange keine Abgeltung durch die Abzugssteuer eingetreten ist, was einen Steuerabzug erfordert. Vgl. FG Nürnberg, Urt. v. 28.1.1998 – III 128/95, EFG 1998, 951. 4 BFH, Beschl. v. 17.5.2005 – I B 108/04, BFH/NV 2005, 802. 5 FG München, Urt. v. 23.6.2005 – 14 K 1035/03, juris. 6 BFH, Beschl. v. 17.5.2005 – I B 108/04, BFH/NV 2005, 802.

205

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

VI. Europarechtliche Bedenken 5.93

Obwohl durch das JStG 2009 den europarechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung Rechnung getragen werden sollte, verbleiben offene Fragen. So sind insbesondere folgende Kritikpunkte zu nennen:

5.94

So ist die Regelung erstmals auf Vergütungen anzuwenden, die nach dem 31.12.2008 zugeflossen sind. Damit kommt die Regelung nicht rückwirkend auf alle noch offenen Verfahren zur Anwendung, so dass die Europarechtswidrigkeit der Regelungen des § 50a EStG a.F. weiterhin Bedeutung hat. Das BMF-Schreiben v. 5.4.2007 änderte an dieser Rechtslage nichts.1 § 50a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG a.F. ist deshalb – so der BFH – nach Maßgabe der Auslegung von Art. 59 und Art. 60 EGV durch den EuGH in unionsrechtskonformer Weise wie folgt zu verstehen: Dem Vergütungsschuldner mitgeteilte Aufwandspositionen sind, soweit sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der inländischen Tätigkeit stehen, bereits bei Vornahme des Steuerabzugs oder in einem ggf. nachfolgenden Haftungsverfahren zu berücksichtigen.2

5.95

Ebenso bleibt zu beachten, dass ausländische Körperschaften im Vergleich zu inländischen Körperschaften durch die Neuregelung benachteiligt werden. Es gilt nämlich bei der Bruttobesteuerung ein Abzugsteuersatz von 15 %, der – so die Gesetzesbegründung – mit dem Körperschaftsteuersatz in Deutschland identisch sei. Dabei wird aber verkannt, dass es sich in Deutschland um eine Nettobesteuerung handelt. Hier dürften die Grundfreiheiten verletzt sein, wenn im Steuersatz zumindest nicht in pauschalierter Form der Betriebsausgabenabzug berücksichtigt wird.3

5.96

Die Neuregelung enthält erhebliche Mehrbelastungen für den Vergütungsschuldner, soweit es um die Dokumentation und den Nachweis der Betriebsausgaben/Werbungskosten geht. Insoweit ist die Neuregelung gegenüber der Rechtsprechung des EuGH in seinem Urteil „Scorpio“ restriktiver. Auch insoweit wird die Neuregelung daher kritisch beurteilt und ihr Leerlaufen befürchtet.4

H. Haftung bei Abtretung von Forderungen nach § 13c UStG Schrifttum: Hahne, Die Haftung für Umsatzsteuerschulden bei der Abtretung und Verpfändung von Forderungen nach § 13c UStG n.F., BB 2003, 2720; Maus, Wechsel der Steuerschuldnerschaft und verschärfte Steuerhaftung als Ausgleich für den Fortfall des Fiskalvorrechts gem. § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO, ZIP 2004, 1580; Halaczinsky, Die neue Umsatzsteuerhaftung bei Abtretung, Verpfändung oder Pfändung von Forderungen, StuW 2004, 1 Vgl. hierzu BMF v. 5.4.2007, BStBl. I 2007, 449; zur Kritik s. BFH, Beschl. v. 29.11.2007 – I B 181/07, BStBl. II 2008, 195; Gosch in Kirchhof, § 50a EStG Rz. 2 und 30; Intemann/ Nacke, DB 2007, 1430; Grams/Schön, IStR 2008, 660; Nacke, StuB 2009, 91; Nacke, NWB 2009, 1915. 2 BFH, Urt. v. 24.4.2007 – I R 39/04, BStBl. II 2008, 95; Urt. v. 5.5.2010 – I R 105/08, BFH/ NV 2010, 2043; Urt. v. 27.7.2011 – I R 56/10, BFH/NV 2012, 181. 3 Zur Kritik s. Nacke, StRA 2008/2009, 221; Nacke, NWB 2009, 1915; Hartmann, DB 2009, 200. 4 Vgl. Gosch in Kirchhof, § 50a EStG Rz. 22.

206

H. Haftung bei Abtretung von Forderungen nach § 13c UStG 215; Siebert, Der neue Haftungstatbestand des § 13c UStG, UStB 2004, 279; Jansen/SlottyHarms, Auswirkungen des neuen Haftungstatbestands in § 13c UStG n.F. bei Abtretung, Verpfändung und Pfändung von Forderungen, UR 2004, 221; Gradl/Wiese, Die neuen Haftungstatbestände § 13c und § 13d UStG, DB 2004, 844; Hahne, Der Haftungstatbestand nach § 13c UStG n.F., DStR 2004, 210; Hauenhorst, Haftungsfalle Forderungsabtretung?!, UVR 2004, 377; Hahne, Haftung für Umsatzsteuerschulden bei der Abtretung, Pfändung und Verpfändung von Forderungen, UR 2004, 633; Siebert, Die Haftung gem. § 13c UStG bei Hinterlegung, UStB 2006, 333; Hahne, Fiktion der Vereinnahmung von Forderungen als Grundlage für eine Haftung gem. § 13c UStG, UR 2006, 433; Hahne, Haftungsinanspruchnahme eines Factors für Umsatzsteuerschulden des Forderungsverkäufers nach § 13c UStG, UR 2007, 509; Grube, Keine Haftung für Umsatzsteuer aus Globalzession vor dem 8.11.2003, jurisPR-SteuerR 48/2009 Anm. 6; Friedrich, Vorbildfunktion der Insolvenzordnung für die Aufnahme einer Regelung der Fälle des § 13c UStG?, UR 2009, 149; Lippross, Verwertung von Sicherheiten aus umsatzsteuerlicher Sicht, SteuK 2010, 8; Bunjes, § 13c UStG. Verwaltungsanweisungen: Abschn. 13c.1 UStAE (BMF v. 1.10.2010 – IV D 3 - S 7015/10/ 10002//2010/0815152, BStBl. I 2010, 846, zuletzt geändert durch das BMF-Schreiben v. 16.12.2016 – III C 2 - S 7107/16/10001 (2016/1126266), BStBl. I 2016, 1451).

Seit November 2003 haften Abtretungsempfänger von Forderungen für die Um- 5.97 satzsteuer, die in der Gegenleistung enthalten ist, nach § 13c UStG. Dieser Haftungstatbestand ist mit dem Steueränderungsgesetz 2003 v. 15.12.20031 in das UStG eingefügt worden. Gem. § 27 Abs. 7 Satz 1 UStG gilt der Haftungstatbestand für alle Abtretungen, Pfändungen und Verpfändungen, die nach dem 7.11.2003 erfolgten. Dies gilt auch für Abtretungen vor dem 8.11.2003, wenn die Forderung erst danach entstanden ist.2 Der Zeitpunkt der Leistungserbringung bzw. Steuerentstehung ist für die Anwendung der Vorschrift nicht entscheidend.3 Hintergrund der Neuregelung ist die für den Fiskus missliche Lage im Fall der Abtretung der Forderung aus einem Leistungsaustauschverhältnis und der Insolvenz des Steuerpflichtigen. Die Umsatzsteuerausfälle entstanden häufig dadurch, dass der abtretende Unternehmer nach der Abtretung der Gegenleistung an einen Dritten wegen Zahlungsschwierigkeiten die Umsatzsteuer nicht mehr zahlen konnte, die aus dem Umsatz resultierte. Der Abtretungsempfänger schuldete die in dem Abtretungsbetrag enthaltene Umsatzsteuer nicht dem Finanzamt, so dass es zu Steuerausfällen kam. Nach neuem Recht haftet nun der Abtretungsempfänger für diese Umsatzsteuer. Die Haftungsvorschrift ist mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.4

5.98

1 BGBl. I 2003, 2645. 2 Arg. ist der Wortlaut der Vorschrift, vgl. BFH, Urt. v. 3.6.2009 – XI R 57/07, BStBl. II 2010, 520 zur Globalzession vor dem 8.11.2003; a.A. Abschn. 182b Abs. 38 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2005. 3 Hahne, DStR 2004, 211; zu Vorausabtretung s. FG München, Urt. v. 21.2.2007 – 3 K 2219/06, EFG 2007, 961. 4 BFH, Urt. v. 20.3.2013 – XI R 11/12, BStBl. II 2016, 107; Urt. v. 21.11.2013 – V R 21/12, BStBl. II 2016, 74; Urt. v. 16.12.2015 – XI R 28/13, BFH/NV 2016, 695; Urt. v. 25.11.2015 – V R 65/14, BFH/NV 2016, 953.

207

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

I. Haftungsvoraussetzungen 5.99

5.100

5.101

Die Haftung nach § 13c UStG setzt zunächst voraus, dass der Anspruch auf die Gegenleistung für einen steuerpflichtigen Umsatz abgetreten wurde. Der Abtretung gleichgesetzt ist die Pfändung oder Verpfändung des Anspruchs (§ 13c Abs. 3 Satz 1 UStG). Abtretungsempfänger und Abtretender müssen Unternehmer sein. Ob Forderungsverkäufe unter Übernahme des Ausfallrisikos (sog. echtes Factoring) auch unter den Haftungstatbestand fallen, ist in der Literatur umstritten. Die ablehnende Meinung geht davon aus, dass der Haftungstatbestand des § 13c UStG nur Sicherungsabtretungen erfassen soll.1 Dem ist m.E. nicht zuzustimmen. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Gesetzesbegründung2 ergibt sich diese Haftungsbeschränkung.3 Der BFH geht nun auch von einer Erfassung des „echten“ Factors aus.4

Û

Hinweis: Soll bei einem echten Factoring die Haftung ausgeschlossen werden, so ist anzuraten, den im Abtretungsbetrag enthaltenen USt-Betrag aus dem Kaufpreis herauszurechnen und direkt an das Finanzamt auf die Steuerschuld des Abtretenden zu zahlen (§ 48 AO).

Weiterhin muss der Abtretungsempfänger die Forderung vereinnahmt haben. Werden sämtliche gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche aus dem Geschäftsverkehr, insbesondere aus Lieferungen und Leistungen gegen alle Drittschuldner im Rahmen einer Globalzession an ein Kreditinstitut abgetreten, so hat nach Auffassung des FG München das Kreditinstitut die in den Forderungen enthaltenen Umsatzsteuerbeträge i.S.d. § 13c Abs. 1 Satz 1 UStG vereinnahmt, da es die Möglichkeit hatte, auf den vom Abtretenden eingezogenen Geldbetrag zuzugreifen.5 Der Vereinnahmung steht nach § 13c Abs. 1 Satz 3 UStG die weitere Abtretung an einen Dritten gleich. Dieser weitere Abtretungsempfänger haftet dagegen nicht nach § 13c UStG, denn er erfüllt nicht die Voraussetzung nach § 13c Abs. 1 Satz 1 UStG (der „leistende Unternehmer“ muss an den Abtretungsempfänger abtreten). Erst nach Einziehung der Forderung durch den Abtretungsempfänger oder nach weiterer Abtretung kann der Haftungsbescheid daher erlassen werden. Aufgrund einer Änderung durch das 2. Bürokratieentlastungsgesetz6 hat der Gesetzgeber die Verwaltungsauffassung in Abschn. 13c.a Abs. 27 UStAE in § 13c Abs. 1 Satz 4f UStG aufgenommen. Damit wird der durch die Entscheidung des BFH vom 16.12.20157 vertretenen Ansicht der Boden entzogen und die von der Verwaltung bisher vertretene Ansicht in das Gesetz aufgenommen, wonach der Abtretungsempfänger nicht haftet, wenn er für die Abtretung an den leistenden Unternehmer im Rahmen des echten factorings einen Geldbetrag an den leisten1 2 3 4 5

Hahne, BB 2003, 2721; Hahne, DStR 2004, 212; Nieskens, UR 2004, 125. BT-Drucks. 15/1562, 46. Ebenso Leonard in Bunjes, § 13c UStG Rz. 18. BFH, Urt. v. 16.12.2015 – XI R 28/13, BFH/NV 2016, 695. FG München, Beschl. v. 27.4.2010 – 14 V 921/10, juris; s. auch BFH, Urt. v. 25.11.2015 – V R 65/14, BFH/NV 2016, 953. 6 BGBl. I 2017, 2143; s. auch BT-Drucks. 18/11778. 7 BFH, Urt. v. 16.12.2015 – XI R 28/13, BFH/NV 2016, 695; mit Anm. Rauch in HFR 2016, 486.

208

H. Haftung bei Abtretung von Forderungen nach § 13c UStG

den Unternehmer zahlt. Dieser Haftungsausschluss soll nicht greifen, wenn der Geldbetrag auf ein Konto gezahlt wird, auf das auch der Abtretungsempfänger Zugriff hat (§ 13c Abs. 1 Satz 5 2. HS UStG n.F.). Die Umsatzsteuerschuld muss wegen des Grundsatzes der Akzessorietät noch 5.102 im Zeitpunkt der Inanspruchnahme bestehen. Sie muss darüber hinaus gem. § 13c Abs. 1 Satz 1 UStG festgesetzt worden sein. Der Festsetzung steht nach § 168 AO die Anmeldung gleich. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Steuer bei Fälligkeit der festgesetzten Steuer nicht oder nicht vollständig entrichtet wurde. Die Haftung entfällt nach § 13c Abs. 1 Satz 2 UStG, wenn die Umsatzsteuer von der Vollziehung ausgesetzt wurde. Die Haftung setzt kein Verschulden voraus.

5.103

II. Haftungsumfang Die Haftung ist in zweierlei Hinsicht beschränkt. Einerseits haftet der Abtre- 5.104 tungsempfänger nur in Höhe der Erstschuld. Darüber hinaus haftet er nur insoweit, als in dem Abtretungsbetrag und in dem vereinnahmten Betrag die USt enthalten ist. Wurde ein Betrag von z.B. 1000 Euro abgetreten und sind vom Leistungsschuldner nur 500 Euro an den Abtretungsempfänger gezahlt worden, so reduziert sich die Haftung um die Hälfte der in 1000 Euro enthaltenen USt. Problematisch ist die Haftung im Hinblick auf den maßgeblichen Steuerfestset- 5.105 zungszeitraum. Die Haftung tritt nach § 13c Abs. 1 Satz 1 UStG ein, wenn „die festgesetzte Steuer, bei deren Berechnung dieser Umsatz berücksichtigt worden ist“, bei Fälligkeit nicht vollständig entrichtet worden ist. Es fragt sich nun, ob insoweit mit „festgesetzter Steuer“ die vorangemeldeten USt-Vorauszahlungen oder die Umsatzsteuerjahresfestsetzung gemeint ist. Geht es z.B. um die USt des Monats Januar 01, zu der auch die Umsatzsteuer gehört, die im Abtretungsbetrag enthalten ist, und wurde diese vom Abtretenden vollständig entrichtet, so könnte die Haftung ausgeschlossen sein. Nimmt man jedoch die Jahressteuer zum Maßstab und ist insoweit ein Steuerrückstand gegeben, so würde die Haftung nicht entfallen. Hier dürfte m.E. der Voranmeldungszeitraum maßgeblich sein.1 Die Haftung ist aber nicht auf innergemeinschaftliche Handelsumsätze begrenzt, 5.106 so dass auch eine Haftung besteht, wenn nur Binnenumsätze betroffen sind.2

III. Geltendmachung der Haftung Die Haftung nach § 13c UStG wird durch einen Haftungsbescheid i.S.v. § 191 5.107 AO geltend gemacht. Voraussetzung für den Erlass des Haftungsbescheides ist, dass die Umsatzsteuer fällig ist und dass die Forderung durch den Abtretungs1 Hahne sieht insoweit die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion für gegeben (DStR 2004, 212); a.A. Weßling/Romswinkel, UStB 2004, 95, Leonard in Bunjes, § 13c Rz. 27, die eine Haftung für die Jahressteuer befürworten. 2 FG München, Urt. v. 22.6.2010 – 14 K 1707/07, EFG 2010, 1937.

209

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

empfänger eingezogen wurde bzw. an einen Dritten abgetreten wurde (§ 13c Abs. 2 Satz 1 UStG). Zuständig für den Erlass des Haftungsbescheides ist das Finanzamt, das für die Festsetzung und Erhebung der Umsatzsteuer des leistenden Unternehmers einzustehen hat. 5.108

Weiterhin steht der Erlass des Haftungsbescheides nicht im Ermessen der Finanzbehörde (§ 13c Abs. 2 Satz 2 UStG). Insoweit nimmt diese Haftung eine besondere Stellung im steuerlichen Haftungsrecht ein. Es handelt sich entgegen den anderen Haftungstatbeständen wie bei einem Steuerbescheid um eine gebundene Entscheidung. Das FG München sieht hierfür und für die verschuldensunabhängige Haftung die Rechtfertigung in bereicherungsrechtlichen Erwägungen.1

J. Haftung bei Mietkauf bzw. Leasing nach § 13d UStG Schrifttum: Stadie, Das unsinnige Soll-Prinzip bei der Umsatzsteuer, UR 2004, 136; Wiese/Gradl, Die neuen Haftungstatbestände § 13c und § 13d UStG, DB 2004, 844; Blesinger, S. 116 ff.; de Weerth, Neues zum Ende von § 13d UStG, DStR 2008, 1368. Verwaltungsanweisungen: Abschn. 182c Umsatzsteuer-Handausgabe 2005; BMF v. 24.5.2004, DStR 2004, 1000.

5.109

Wie bei der Haftung nach § 13c UStG geht es auch hier um einen neuen Haftungstatbestand, der auf einem Bericht des Bundesrechnungshofes beruht. Es sollen Steuerausfälle vermieden werden, die sich aufgrund von Änderungen der Bemessungsgrundlage, durch Rückgängigmachung der Lieferung oder durch die Uneinbringlichkeit des vereinbarten Entgelts bei steuerpflichtigen Lieferungen von beweglichen Gegenständen, die auf einem Mietvertrag oder mietähnlichen Vertrag beruhen, ergeben haben. Die Regelung gilt nach § 27 Abs. 7 Satz 2 UStG für Mietverträge und mietähnliche Verträge, die nach dem 7.11.2003 abgeschlossen worden sind.

5.110

Nach der Gesetzesbegründung soll vom Haftungstatbestand insbesondere folgender Lebenssachverhalt erfasst werden.2 Eine Finanzierungsgesellschaft verleast hochpreisige Wirtschaftsgüter (z.B. einen Autokran) an den Leasingnehmer, eine finanziell nicht solvente GmbH. Diese GmbH kann nun aufgrund vertraglicher Regelungen die Vorsteuer aus dem Mietkaufvertrag in voller Höhe geltend machen.3 Vertraglich ist häufig geregelt, dass der Vorsteuerbetrag an die Finanzierungsgesellschaft abzuführen ist. Es kommt zur Insolvenz der GmbH. Die Finanzierungsgesellschaft berichtigt ihre Rechnung und vermindert entsprechend die Umsatzsteuerzahllast gegenüber dem Finanzamt. Dagegen erhält der Fiskus die vom Leistungsempfänger zurückzuzahlenden Vorsteuerbeträge aufgrund der Zahlungsunfähigkeit nicht. Mit der geschaffenen Gesamtschuldnerschaft des § 13d UStG kann nun von der Finanzierungsgesellschaft der offene Vorsteuerrückerstattungsbetrag gefordert werden. 1 FG München, Urt. v. 22.6.2010 – 14 K 1707/07, EFG 2010, 1937. 2 BT-Drucks. 15/1562, 47. 3 S. A. 25 Abs. 4 UStR.

210

J. Haftung bei Mietkauf bzw. Leasing nach § 13d UStG

Ob dieser Haftungstatbestand mit EU-Recht übereinstimmt, ist zweifelhaft. 5.111 Nach Auffassung des BFH ist § 13c UStG mit höherrangigem Recht und Unionsrecht vereinbar.1

I. Haftungsvoraussetzungen Die Haftung nach § 13d UStG setzt zunächst voraus, dass ein Unternehmer ei- 5.112 nen beweglichen Gegenstand geliefert hat. Bei der Finanzierungsgesellschaft ist dies zweifelsfrei der Fall. Die Lieferung muss auf einem Mietvertrag oder mietähnlichen Vertrag beruhen. Weiterhin muss die Finanzierungsgesellschaft die aus der Lieferung sich ergebende USt schulden. Dies bedeutet, dass die Lieferung steuerbar und steuerpflichtig sein muss. Darüber hinaus muss es zu einer Berichtigung des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger gekommen sein. Dies ist der Fall, wenn das Rechtsgeschäft rückabgewickelt wurde (z.B. wegen Zahlungsverzugs oder wegen Sachmängeln). Der daraufhin festgesetzte und fällige Vorsteuerrückforderungsanspruch gegen den Leistungsempfänger muss nicht oder nicht vollständig entrichtet worden sein. Die Haftung setzt kein Verschulden voraus.

5.113

II. Haftungsumfang Wie bei § 13c UStG ist auch hier die Haftung in zweierlei Hinsicht beschränkt. 5.114 Einerseits ist die Haftung auf den Steuerberichtigungsbetrag beschränkt. Andererseits kann die Finanzierungsgesellschaft nur insoweit in Anspruch genommen werden, wie der Vorsteuerberichtigungsanspruch im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides nicht erfüllt worden ist. Problematisch ist die Haftung im Hinblick auf den maßgeblichen Steuerfestset- 5.115 zungszeitraum. Auch hier ist festzuhalten, dass als Steuerfestsetzungszeitraum für die „hierauf festgesetzte Steuer“ zwei Zeiträume in Betracht kommen (Voranmeldungszeitraum und Jahreszeitraum). Maßgebend dürfte der Steuerfestsetzungszeitraum sein, in dem die Berichtigung des Vorsteuerabzugs erstmals enthalten ist. Zur vergleichbaren Problematik bei § 13c UStG s. Rz. 5.105. Soweit der leistende Unternehmer nach § 48 Abs. 2 AO Zahlungen geleistet hat, wird er von der Haftung nach § 13d Abs. 2 Satz 4 UStG freigestellt.

5.116

III. Geltendmachung der Haftung Die Haftung nach § 13c UStG wird durch einen Haftungsbescheid i.S.v. § 191 5.117 AO geltend gemacht. Der Haftungsbescheid darf frühestens ergehen, wenn der Vorsteuerberichtigungspflichtige die festgesetzte Umsatzsteuer im Zeitpunkt 1 BFH, Urt. v. 20.3.2013 – XI R 11/12, BStBl. II 2016, 107; Urt. v. 21.11.2013 – V R 21/12, BStBl. II 2016, 74; a.A. Nieskens, UR 2004, 129; Wiese/Gradl, DB 2004, 844; vgl. auch Zaisch in StRA 2007/2008, 283.

211

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

der Fälligkeit nicht entrichtet hat (§ 13d Abs. 2 Satz 1 UStG). Der ursprüngliche Umsatzsteuerschuldner und der Haftende sind Gesamtschuldner. 5.118

Weiterhin steht der Erlass des Haftungsbescheides nicht im Ermessen der Finanzbehörde (§ 13d Abs. 2 Satz 2 UStG). Insoweit nimmt diese Haftung eine besondere Stellung im steuerlichen Haftungsrecht ein. Es handelt sich im Gegensatz zu den anderen Haftungstatbeständen wie bei einem Steuerbescheid um eine gebundene Entscheidung.

IV. Aufhebung des § 13d UStG 5.119

Mit dem Jahressteuergesetz 20081 wurde § 13d UStG mit Wirkung ab 1.1.20082 aufgehoben. Die Vorschrift wurde von leistenden Unternehmern als erhebliche Belastung empfunden; ihr Anwendungsbereich ist ausweislich der bisherigen Evaluierung auf wenige Einzelfälle mit insgesamt kaum wahrnehmbaren finanziellen Auswirkungen beschränkt geblieben. Weil die Vorschrift ihre Wirkung nicht in dem erwarteten Umfang entfaltet hat, wurde sie aufgehoben. Damit wollte der Gesetzgeber auch einen Beitrag zur Vereinfachung des Umsatzsteuerrechts und zum Abbau von Bürokratieaufwand leisten.

K. Haftung für schuldhaft nicht abgeführte Umsatzsteuer gem. § 25d UStG Schrifttum: Wäger, Der Haftungstatbestand bei nicht abgeführter Umsatzsteuer, UStB 2002, 101; Leonard, Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz und 6. EG-Richtlinie, UR 2002, 241; Forster/Schorer, Anwendbarkeit der neu eingeführten Umsatzsteuerhaftung nach § 25d UStG auf Insolvenzfälle, UR 2002, 36; Leingang-Ludolph/Wiese, Der neue Haftungstatbestand des § 25d UStG – Haftung für schuldhaft nicht abgeführte Umsatzsteuer, DB 2002, 1472; Oswald, Die Haftung nach § 25d UStG, UStB 2005, 115; Farr, Haftung nach § 25d UStG im vorläufigen Insolvenzverfahren, DStR 2007, 706; de Weerth, Haftung für nicht abgeführte Umsatzsteuer nach UStG § 25d im Insolvenzverfahren, ZInsO 2008, 613; Grube, Haftung des Leistungsempfängers für vom Leistenden nicht abgeführte Umsatzsteuer, jurisPR-SteuerR 25/2008 Anm. 6; Lange, Haftung des Leistungsempfängers, HFR 2008, 745; Merkt, Mehrwertsteuerbetrug des innergemeinschaftlichen Erwerbers, UR 2008, 757; Merkt, Die Haftung beim Mehrwertsteuerbetrug, AO-StB 2009, 81. Verwaltungsanweisungen: Abschn. 25d.1 UStAE (BMF v. 1.10.2010 – IV D 3 - S 7015/10/ 10002//2010/0815152, BStBl. I 2010, 846, zuletzt geändert durch das BMF-Schreiben v. 16.12.2016 – III C 2 - S 7107/16/10001 (2016/1126266), BStBl. I 2016, 1451.

5.120

Durch das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz vom 19.12.2001 ist in § 25d UStG ein Haftungstatbestand für schuldhaft nicht abgeführte Umsatzsteuer eingeführt worden. Gemäß § 25d UStG haftet der Unternehmer unter bestimmten Bedingungen für die Steuer aus einem vorangegangenen Umsatz. Die Haftung soll insbesondere die sog. Karussellgeschäfte erfassen, die auf die Erschleichung

1 Art. 8 Nr. 5 JStG 2008 (BGBl. I 2007, 3150). 2 S. Art. 28 Abs. 4 JStG 2008.

212

K. Haftung fr schuldhaft nicht abgefhrte Umsatzsteuer gem. § 25d UStG

von Vorsteuer gerichtet sind. Durch diese Karussellgeschäfte entstanden jährlich Steuerausfälle in Milliardenhöhe. Von folgenden Karussellgeschäften ging der Gesetzgeber aus. Die Ware, die vor- 5.121 nehmlich aus der Elektronikbranche herrührt, wird umsatzsteuerfrei an einen EU-Ausländer geliefert. Dieser liefert die Ware ebenfalls umsatzsteuerfrei an ein inländisches Betrugsunternehmen. Über die Betrugsgesellschaft gelangt die Ware durch eine weitere Lieferung zum ersten Lieferanten zurück. Die Betrugsgesellschaft stellt dem ersten Lieferanten lediglich den Einkaufpreis in Rechnung. Sie rechnet die Umsatzsteuer heraus. Diese führt sie aber nicht an das Finanzamt ab. Der erste Lieferant macht nun die Vorsteuer beim Finanzamt geltend. Dadurch und durch ein wiederholtes Karussell wird die Ware auf Kosten des Fiskus billiger.1 Ob die Haftungsvorschrift des § 25d UStG den europarechtlichen Vorgaben ent- 5.122 spricht, ist in der Literatur umstritten.2

I. Haftungsvoraussetzungen Die Haftung des Unternehmers gem. § 25d Abs. 1 Satz 1 UStG setzt voraus, dass 5.123 die Steuer aus dem vorangegangenen Umsatz nicht entrichtet wurde. Als „vorangegangener Umsatz“ i.S.d. Vorschrift kommt nicht nur der unmittelbare Eingangsumsatz in Betracht, sondern auch der Umsatz auf einer vorangegangenen Vorstufe.3 Weiterhin muss die USt „in einer nach § 14 ausgestellten Rechnung“ ausgewie- 5.124 sen worden sein. Hierunter ist eine Rechnung zu erfassen, die einen Nettobetrag ausweist, eine Steuer-Nr./USt-IdNr. des Ausstellers und auch eine fortlaufende Rechnungsnummer enthält. Die Haftung gilt nicht für nicht abgeführte Steuern nach § 14c Abs. 1 und Abs. 2 UStG.4 Daneben muss der Aussteller der Rechnung mit der vorgefassten Absicht ge- 5.125 handelt haben, die ausgewiesene Steuer nicht zu entrichten, oder sich vorsätzlich außerstande gesetzt haben, die ausgewiesene Steuer zu entrichten. In Insolvenzfällen kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass der spätere Insolvenzschuldner die Absicht hat, die von ihm in einer Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer nicht zu entrichten.5

1 S. zu den Karussellgeschäften Widmann, UR 2005, 14 ff.; Kemper, UR 2005, 1 ff.; Merk, UR 2001, 97; Fuchtel, Stbg 2001, 357; Mittler, UR 2001, 385; Kühn/Winter, UR 2001, 478. 2 S. dazu Widmann, DB 2002, 166, 168; Forster/Schorer, UR 2002, 361; Klenk in Sölch/ Ringleb, Umsatzsteuer, § 25d UStG Rz. 9; Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 25d UStG Rz. 34; Tehler in Reiß/Kraeusel/Langer, § 25d UStG Rz. 28 ff.; Blesinger in Offerhaus/ Söhn/Lange, § 25d UStG Rz. 7 ff., 12 f.; offen gelassen BFH v. 28.2.2008 – V R 44/06, BStBl. II 2008, 586 mit Anm. Lange in HFR 2008, 745. 3 Leonard in Bunjes, § 25d UStG Rz. 6; a.A. Kühn/Winter, UR 2001, 479. 4 Str., s. BMF A. 276d Abs. 3 UStR u. Leonard in Bunjes, § 25d UStG Rz. 7 m.w. Nachw. 5 BFH v. 28.2.2008 – V R 44/06, BStBl. II 2008, 586.

213

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

5.126

War nach der ursprünglichen Rechtslage erforderlich, dass der Haftende positive Kenntnis haben musste, ist seit dem Steueränderungsgesetz 2003 (seit dem 1.1.2004) ausreichend, wenn der Haftungsschuldner von der Nichtentrichtung der USt eines vorangegangenen Umsatzes nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns Kenntnis hätte haben müssen. In § 25d Abs. 2 Satz 1 und 2 UStG wird eine gesetzliche Fiktion des subjektiven Tatbestandes geregelt. So ist von der Kenntnis bzw. Kennenmüssen auszugehen, wenn der Leistungsempfänger für den darauf folgenden Umsatz einen Preis in Rechnung stellt, der zum Zeitpunkt des Umsatzes unter dem marktüblichen Preis liegt. Gleiches gilt, wenn der Preis für einen vorangegangenen Umsatz oder für seinen Eingangsumsatz unter dem marktüblichen Preis lag. Marktüblich ist dabei der Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr unter fremden Dritten unter Berücksichtigung der Handelsstufe üblicherweise realisiert wird.1 Ist der Preis betriebswirtschaftlich begründbar, so greift die Fiktion nicht (§ 25d Abs. 2 Satz 3 UStG). Wird bei einem Kaufvertrag lediglich die Umsatzsteuer gegen Quittung bar bezahlt, so muss nach Auffassung des FG des Landes Sachsen-Anhalt jeder Kaufmann davon ausgehen, dass die Umsatzsteuer in der Folgezeit nicht durch den Leistenden entrichtet werden soll.2

5.127

Hier dürfte sich in Zukunft das Problem ergeben, der Fiktion Geltung zu verschaffen, da häufig Rabatt- und Preiskämpfe stattfinden, die zu Preisen unterhalb des marktüblichen Preises führen. Hier sollte der betroffene potentielle Haftungsschuldner Beweisvorsorge betreiben, um die betriebswirtschaftlichen Gründe glaubhaft darlegen zu können. Gelingt dies dem Inanspruchgenommenen, so kann die Finanzverwaltung gleichwohl die Kenntnis oder das Kennenmüssen auf andere Art und Weise nachweisen. Insbesondere muss hier der Nachweis gelingen, dass der Vorunternehmer die entsprechende Absicht gehabt hat und dass auch die USt durch den Vorunternehmer nicht entrichtet worden ist.3 Ist dem Unternehmer nicht bekannt, dass der Vorunternehmer einen Insolvenzbetrug begangen hat, dann dürfte die Haftung entfallen. Der Gesetzeszweck – Unterbindung der Karussellgeschäfte – würde nicht eingreifen. Insoweit käme eine teleologische Reduktion der Haftung in Betracht.

II. Haftungsumfang 5.128

Die Haftung erstreckt sich nur auf den in der Rechnung ausgewiesenen Betrag. Wegen des im Umsatzsteuerrecht herrschenden Grundgedankens der Neutralität, spielt für die Haftung keine Rolle, ob der Leistende keine oder nicht genügend Mittel zur Steuerzahlung hatte. Den Grundsatz der anteiligen Tilgung kann der Haftungsschuldner daher nicht geltend machen.4

1 2 3 4

A. 276d A 5 Satz 2 UStR. FG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 27.3.2008 – 1 K 437/05, juris. Leonard in Bunjes, § 25d UStG Rz. 19; s. auch Widmann, DB 2002, 168. Ebenso Blesinger, S. 121; Halaczinsky, Rz. 491.

214

K. Haftung fr schuldhaft nicht abgefhrte Umsatzsteuer gem. § 25d UStG

III. Geltendmachung der Haftung Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners erfolgt durch einen Haftungs- 5.129 bescheid nach § 191 AO. Es gelten die allgemeinen Grundsätze mit Ausnahme des § 219 AO (§ 25d Abs. 5 Satz 1 UStG). Somit müssen für den Erlass nicht nur die Voraussetzungen des Haftungstatbestandes erfüllt sein, sondern die Behörde muss auch ihr Ermessen (Entschließungsermessen und Auswahlermessen) ordnungsgemäß ausgeübt haben.1 Die Nichtanwendung des § 219 AO hat die Rechtsfolge, dass die Zahlungsaufforderung auch ohne vorhergehende Vollstreckungsversuche zulässig ist. Zuständig für den Erlass des Haftungsbescheides ist nach § 25d Abs. 3 UStG das 5.130 Finanzamt, das für die Besteuerung des Haftungsschuldners zuständig ist. Sind mehrere Haftungsschuldner vorhanden, so ist örtlich das Finanzamt zuständig, bei dem die Vorsteuer geltend gemacht worden ist (§ 25d Abs. 3 Satz 2 UStG). Ein Problem besteht im Zusammenhang mit der in § 25d Abs. 1 Satz 2 UStG 5.131 geregelten Gesamtschuldnerschaft der Unternehmer, die die Haftungsvoraussetzungen des § 25d Abs. 1 Satz 1 UStG erfüllen. Dabei bezieht sich das Problem nicht auf die Gesamtschuldnerschaft an sich, sondern vielmehr darauf, dass bei mehreren potentiellen Haftungsschuldnern ein Auswahlermessen ausgeübt werden muss. In Fällen von Leistungsketten haftet nicht nur der Vertragspartner des Unternehmers, der die USt nicht abführt, sondern auch die folgenden Unternehmer, die in der Kette an späterer Stelle stehen. In der Praxis dürfte es schwierig sein, alle potentiellen Haftungsschuldner zu ermitteln. Besteht insoweit ein Ermittlungsbedarf der Finanzverwaltung und bestehen auch entsprechende Ermittlungsmöglichkeiten, so wäre der Haftungsbescheid rechtswidrig, wenn man sich in Bezug auf das Auswahlermessen nicht mit der Haftung aller potentiellen Haftungsschuldner auseinandersetzt. Eine solche Rechtswidrigkeit kann jedoch dann nicht angenommen werden, wenn ein weiterer Ermittlungsbedarf für das Finanzamt nicht mehr bestand. Maßgeblich ist wegen der Überprüfung einer Ermessensausübung der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, also der Erlass des Einspruchsbescheids. Stellt sich zu diesem Zeitpunkt heraus, dass die Behörde keinen Anlass hatte, eine Haftung weiterer Unternehmer anzunehmen, entfällt der Vorwurf der Rechtswidrigkeit. Ein weiteres Problem steht im Zusammenhang mit der Ausübung des Auswahl- 5.132 ermessens. Sind mehrere Haftungsschuldner vorhanden, für deren Inanspruchnahme zum Teil aber ein anderes Finanzamt örtlich zuständig ist (§ 25d Abs. 3 Satz 2 UStG2), so stellt sich die Frage, ob nicht hinsichtlich dieser Haftungsschuldner, für die eine Inanspruchnahme ein anderes Finanzamt örtlich zuständig ist, ein Auswahlermessen nicht durchgeführt werden muss. M.E. dürfte insoweit die erlassende Behörde von der Ausübung des Auswahlermessens befreit sein. Sie kann wegen fehlender Zuständigkeit (der Vorsteuerabzug wurde insoweit nicht bei ihr geltend gemacht) nicht entscheiden, ob sie anstelle des von ihr 1 Leingang-Ludolph/Wiese, DB 2002, 1474; a.A. Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 25d UStG Rz. 59. 2 Zur ausschließlichen Zuständigkeit des anderen Finanzamtes s. Leingang-Ludolph/Wiese, DB 2002, 1475.

215

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

Inanspruchgenommenen den anderen Haftungsschuldner in Anspruch nimmt. Hinsichtlich der Ermessensausübung dürfte eine Abstimmung mit den anderen Finanzämtern nicht gefordert werden können.

L. Haftung des Leistungsempfängers für Bauleistungen gem. § 48a Abs. 3 EStG Schrifttum: Heidland, Die neue Bauabzugssteuer – Haftungsrisiken in der Insolvenz, ZInsO 2001, 1095; Korth, Steuerabzug bei Bauleistungen, AktStR 2001, 333; Schwenke, Steuerabzug im Baugewerbe: Viel Aufwand um nichts, BB 2001, 1553; Ebeling, Der Steuerabzug bei Bauleistungen, Beilage zu DStR 2001, Heft 51/52; Apitz, Steuerabzug auf Bauleistungen, FR 2002, 10; Schroen, Neuregelung zur Bauabzugssteuer, NWB Fach 3, 12261; Diebold, Haftung für den Bausteuerabzug, DStR 2002, 1336; Balmes, Haftung für die Bauabzugssteuer, AO-StB 2002, 232 Verwaltungsanweisungen: BMF v. 27.12.2002, BStBl. I 2002, 1399; v. 4.9.2003, BStBl. I 2003, 431; v. 20.9.2004, BStBl. I 2004, 862.

I. Allgemeines 5.133

Mit dem Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe vom 30.8.20011 wurde für Bauleistungen in den §§ 48 ff. EStG ein Steuerabzugsverfahren eingeführt. Danach muss der Leistungsempfänger bei Leistungen, die der Herstellung, Instandsetzung, Instandhaltung oder Beseitigung von Bauwerken dienen, einen Steuerabzug von 15 v.H. von der Gegenleistung vornehmen (§ 48 Abs. 1 EStG). Bemessungsgrundlage ist die Gegenleistung inkl. Umsatzsteuer (§ 48 Abs. 3 EStG).

5.134

Voraussetzung für den Abzug ist, dass der Leistungsempfänger Unternehmer i.S.v. § 2 UStG oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist. Die Einbehaltungspflicht entfällt, wenn der Leistende eine Freistellungsbescheinigung gem. § 48b EStG vorlegen kann oder Bagatellgrenzen des § 48 Abs. 2 EStG nicht überschritten werden. Die Abzugssteuer ist nach § 48a EStG beim Finanzamt anzumelden.

5.135

Der Leistungsempfänger haftet nun nach § 48a Abs. 3 EStG für die nicht oder zu niedrig abgeführten Abzugsbeträge. Die Haftung entfällt, wenn eine entsprechende Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG vorlag, auf deren Inhalt der Leistungsempfänger vertrauen durfte. Die Haftung entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Gegenleistung erbracht wurde, also dem Zeitpunkt des Abflusses. Hat der Leistungsempfänger in voller Höhe die Gegenleistung an den Leistenden gezahlt, kann es wegen der Haftung zu einer Doppelzahlung kommen. Die Haftung ist auch nicht akzessorisch, d.h., sie ist unabhängig von einer Steuerschuld des Leistenden. Die Haftung soll auch dann gelten, wenn keine zu sichernden Ansprüche gegen einen Auftragnehmer bestehen.2

1 BGBl. I 2001, 2267. 2 BMF v. 1.11.2001, BStBl. I 2001, 804, Rz. 49.

216

M. Haftung nach § 72a AO

Die Haftung ist verschuldensunabhängig.

5.136

II. Geltendmachung der Haftung Es sollen die allgemeinen Grundsätze für den Erlass des Haftungsbescheides 5.137 nach § 191 AO gelten. Insbesondere hat dass Finanzamt ihr Ermessen ordnungsgemäß auszuüben. Für den Erlass des Haftungsbescheides ist das Finanzamt örtlich zuständig, das nach § 20a AO für den Leistenden zuständig ist (§ 48a Abs. 3 Satz 4 EStG). Neben dem Erlass eines Haftungsbescheides kommt ein Nachforderungsbescheid nach § 167 Abs. 1 AO in Betracht, der ohne Ausübung des Ermessens ergehen kann. Gegen den Haftungsbescheid oder Nachforderungsbescheid kann nicht nur der Adressat, sondern auch der Leistende wegen der Anrechnung nach § 48c EStG Einspruch einlegen.

M. Haftung nach § 72a AO Schrifttum: Richter/Welling, Tagungs- und Diskussionsbericht zum 56. Berliner Steuergespräch „Die Reform der Abgabenordnung“ am 21.9.2015, FR 2015, 1017; Dißars, Aktuelles aus dem Verfahrensrecht 2015 und 2016, Stbg 2016, 345; Gehm, Das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens, StuB 2016, 580.

Wie § 71 AO zeigt, kann auch der Steuerberater selbst u.U. in den Kreis der 5.138 Haftungsschuldner geraten. Hierzu hat das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens1 eine weitere Haftungsvorschrift geschaffen, die es dem Finanzamt erlaubt, den Steuerberater wegen Fehler bei der Datenübermittlung an das Finanzamt in Haftung zu nehmen (§ 72a Abs. 2 AO). § 72a AO beinhaltet im Wesentlichen drei eigenständige Haftungsvorschriften zur Absicherung der Datenübermittlung: 1. § 72a Abs. 1 AO begründet einen Haftungstatbestand für Hersteller nicht amtlicher Programme für das Besteuerungsverfahren. 2. § 72a Abs. 2 AO begründet eine Haftung für die Personen, die im Auftrag des Steuerpflichtigen Daten an die Finanzbehörde übermitteln. 3. § 72a Abs. 4 AO begründet eine Haftung bei dem im Einzelnen in § 93c AO geregelten Verfahren zur Datenübermittlung durch Dritte. Von besonderer Bedeutung dürfte m.E. vor allem die Haftung nach § 72a Abs. 2 AO sein. Sie trifft in erster Linie Steuerberater, die Daten des Steuerpflichtigen an das Finanzamt übermitteln. Die Haftungsvorschrift ist fast identisch mit der Vorgängervorschrift in § 5 StDÜV (Steuerdaten-Übermittlungsverordnung). Diese vom BMF erlassene Verordnung als materiell-rechtliche Grundlage für eine Haftung wurde vom Gesetzgeber wegen „staatsorganisationsrechtlicher Bedenken“ für falsch verortet angesehen.2 Dem ist zuzustimmen. Es dürfte bzgl. § 5 StDÜV ein Verstoß gegen 1 BGBl. I 2016, 1679. 2 BT-Drucks. 18/7457, 61.

217

Kap. 5 Haftung nach besonderen Steuergesetzen

Art. 80 GG vorliegen, da es sich u.a. um einen Eingriff in das Grundrecht aus Art 12 GG handelt, der m.E. nur in einem förmlichen Parlamentsgesetz aufgenommen werden kann. Die Haftung ist beschränkt auf die reinen Steuerausfälle. Damit kommt eine Haftung für Nebenleistungen i.S.v. § 3 AO nicht in Betracht. 5.139

Die Neuregelung des § 72a AO ist für die Praxis m.E. nur von eingeschränkter Bedeutung. Zu beachten sind hierbei folgende Punkte: – Die Haftung ist beschränkt auf die reinen Steuerausfälle. Damit tritt keine Haftung für Nebenleistungen i.S.v. § 3 AO ein. – Voraussetzung für einen Haftungsbescheid nach § 72a AO ist u.a. eine „unrichtige oder unvollständige Übermittlung von Daten“. Dies bedeutet, dass das Finanzamt die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Übermittlungsvorgangs selbst erst einmal feststellen muss. Erst dann kann es den Haftungsbescheid erlassen. Es genügt also nicht die Fehlerhaftigkeit der übermittelten Daten. Die Übermittlung selbst muss als fehlerhaft festgestellt werden. Jedenfalls ist eine solche Auslegung des Wortlauts möglich. – Die gesetzliche Formulierung „… haftet, soweit auf Grund unrichtiger oder unvollständiger Übermittlung Steuern verkürzt werden …“ weist darauf hin, dass eine Haftung nur für Verhalten bei der Übermittlung, welches kausal für den Steuerausfall ist, zur Haftung führt. Damit entfällt eine Haftung, die ihre Ursache z.B. beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten hat. – Die Haftung nach § 72a Abs. 2 AO setzt Verschulden (grobfahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten) voraus. Jedoch liegt die Beweislast beim Steuerberater.1 – Es handelt sich um eine Haftungsvorschrift, die durch Haftungsbescheid nach § 191 AO umgesetzt werden muss.2 Hierbei ist ebenfalls ein Ermessen, insbesondere ein Auswahlermessen zu beachten (z.B. bei Lohnsteueranmeldungen kommen als weitere Schuldner in Betracht: 1. Die Arbeitnehmer; 2. u.U. der Mandant = Arbeitgeber).

5.140

Folgende Beispiele machen den eingeschränkten Anwendungsbereich der Haftungsvorschrift deutlich. Beispiel 1: Sachverhalt: A teilt dem Steuerberater B mit, dass er 10000 t Lohn im letzten Monat gezahlt hat. Die Mitar-beiterin des Steuerberaters B meldet versehentlich nur 1000 t beim Finanzamt an. Die Mitarbeiterin M wurde sorgfältig von B ausgesucht und bei ihrer Arbeit immer wieder kontrolliert, ohne dass Mängel festgestellt wurden. Lösung: Hier fehlt es schon an einem grobfahrlässigen Verhalten des B, was m.E. maßgeblich ist, so dass eine Haftung entfällt. Beispiel 2: Sachverhalt: Landwirt A teilt dem Steuerberater B mit, dass er 1000 t Löhne im letzten Monat gezahlt hat. B meldet die 1000 t beim Finanzamt mittels Datenübermitt-

1 Kritisch hierzu zu Recht der DStV; auch Drüen kritisiert hier die Bringschuld des Steuerberaters, s. FR 2015, 1017. Dieser hat nämlich nicht die Möglichkeit, statt des elektronischen Übermittlungsweges eine Übermittlung per Papierform vorzunehmen. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 72a AO Rz. 13.

218

M. Haftung nach § 72a AO lung an. In Wirklichkeit hat A aber 20000 t Löhne gezahlt, was bei einer späteren Lohnsteueraußenprüfung festgestellt wird. Lösung: Auch hier kommt eine Haftung des B m.E. nicht in Betracht, weil die Ursache für den Steuerschaden nicht durch die Übermittlung des B, sondern durch eine Falschangabe des A zustande kam.

Die Neuregelung des § 72a AO trat am 1.1.2017 in Kraft.1 § 72a Abs. 1 bis 3 AO 5.141 gilt, wenn Daten nach dem 31.12.2016 auf Grund gesetzlicher Vorschriften nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz über amtlich bestimmte Schnittstellen an Finanzbehörden zu übermitteln sind oder freiwillig übermittelt werden.2 Für Daten im Sinne des § 27 Satz 1 EGAO, die vor dem 1.1.2017 zu übermitteln waren oder freiwillig übermittelt wurden, sind § 150 Abs. 6 und 7 AO und die Vorschriften der Steuerdaten-Übermittlungsverordnung in der jeweils am 31.12.2016 geltenden Fassung weiter anzuwenden.3

1 Art. 23 Abs. 1 des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016 (BGBl. I, 1679). 2 § 27 Abs. 1 Satz 1 EGAO. 3 § 27 Abs. 1 Satz 2 EGAO.

219

3. Teil Duldungstatbestände Kapitel 6 Duldungspflichten des Verwalters und Grundbesitzers (§ 77 AO) Im Gegensatz zum Haftungsschuldner, der mit seinem gesamten Vermögen oder 6.1 mit bestimmten Gegenständen für die Steuerschuld eines anderen haftet, ist der Duldungsverpflichtete nur Vollstreckungsschuldner im Hinblick auf bestimmte Gegenstände oder Mittel, die seiner Verwaltung unterliegen bzw. deren Eigentümer er ist.1 Die Duldungspflicht kann sich aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften ergeben (insbesondere aus § 77 AO). Aber auch im Privatrecht sind Duldungspflichten enthalten. Neben z.B. den Duldungspflichten des Nießbrauchers (§§ 1059, 1086 BGB) und des Ehegatten nach Maßgabe der §§ 740–745, 774, 860 und 999 ZPO2 sind vor allem die Duldungspflichten des Anfechtungsgegners nach dem AnfG im Steuerrecht von besonderer Bedeutung. Während der Haftungsschuldner mit Haftungsbescheid in Anspruch genommen 6.2 wird, macht die Finanzverwaltung die Duldungspflicht durch Duldungsbescheid geltend (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO). Im Folgenden wird auf die wichtigsten Duldungspflichten im Steuerrecht eingegangen. Neben den steuerrechtlichen Duldungspflichten nach § 77 AO spielt vor allem die Duldungspflicht des Anfechtungsgegners nach dem AnfG eine wichtige Rolle in der Praxis. Die Vorschrift des § 77 AO, die ihren Vorgänger schon in § 326 Abs. 1 Satz 2 und 6.3 Abs. 2 RAO hatte, enthält in ihren zwei Absätzen jeweils eine eigene Duldungspflicht. Nach Abs. 1 des § 77 AO ist der Verwalter von Mitteln, die zur Entrichtung von 6.4 Steuern dienen, verpflichtet, die Vollstreckung in dieses Vermögen zu dulden. Verwalter i.S.d. § 77 AO sind z.B. die gesetzlichen Vertreter, Vermögensverwalter, Verfügungsberechtigten nach §§ 34, 35 AO.3 Die Duldungspflicht ist abhängig von dem Bestehen der Erstschuld. Erlischt sie, so besteht auch keine Duldungspflicht mehr.4 Diese ist begrenzt auf Steuern (§ 77 Abs. 1 AO). Steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 3 AO) werden davon nicht erfasst.5 Eine weitere Duldungspflicht wird in § 77 Abs. 2 AO geregelt. Danach hat der 6.5 Grundstückseigentümer die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dul-

1 Loose in Tipke/Kruse, § 77 AO Rz. 1. 2 S. die Auflistung der einzelnen Duldungstatbestände bei Loose in Tipke/Kruse, Vor § 69 AO Rz. 63. 3 AEAO zu § 77 Nr. 1; Loose in Tipke/Kruse, § 77 AO Rz. 6; Boeker in HHSp, § 77 AO Rz. 9. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 77 AO Rz. 8; Halaczinsky, Rz. 402. 5 OVG Lüneburg, Urt. v. 3.4.2017 – 9 LC 31/16, KStZ 2017, 117; Loose in Tipke/Kruse, § 77 AO Rz. 8 m.w. Nachw.

221

Kap. 6 Duldungspflichten des Verwalters und Grundbesitzers (§ 77 AO)

den, wenn eine Steuer als öffentliche Last auf dem Grundstück liegt. Als solche kommt in Betracht: – Grundsteuer (§ 12 GrStG)1 und – landesrechtlich geregelte Abgaben.2 6.6

Darüber hinaus gibt es weitere öffentliche Grundstückslasten, die unter § 77 Abs. 2 AO fallen.3 Wer Eigentümer ist, ergibt sich unwiderlegbar aus dem Grundbuch (§ 77 Abs. 2 Satz 2 AO). Der wahre Eigentümer kann aber seine Rechte nach § 77 Abs. 2 Satz 3 AO geltend machen.

1 BVerwG, Urt. v. 14.8.1992 – 8 C 15/90, NJW 1993, 871; AEAO zu § 77 Nr. 1. 2 Rüsken in Klein, § 77 AO Rz. 2. 3 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 77 AO Rz. 9 f.; Boeker in HHSp, § 77 AO Rz. 19.

222

Kapitel 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG) A. Typische Anfechtungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Anfechtungsvoraussetzungen I. Anfechtungsberechtigung des Finanzamts . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtshandlungen des Schuldners. . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fälliger Hauptanspruch . . . . . . . IV. Vollstreckbarer Anspruch . . . . . V. Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Objektive Benachteiligung des Gläubigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ausscheidung eines Gegenstandes aus dem Vermögen des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . VIII. Abgrenzungsfragen zum Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . IX. Anfechtungstatbestände. . . . . . . 1. Vorsätzliche Benachteiligung. . . 2. Entgeltliche Übertragungen . . . . 3. Unentgeltliche Leistung. . . . . . .

7.4

7.7 7.8 7.16 7.19 7.22 7.23

7.29 7.31 7.32 7.41 7.48 7.51

4. Anfechtung von Rechtshandlungen der Erben (§ 5 AnfG) . . . 5. Anfechtung von Leistungen in Bezug auf Gesellschafterdarlehen (§ 6 AnfG) . . . . . . . . . . . . . 6. Anfechtung von Rückzahlungen gesicherter Darlehen an Dritte (§ 6a AnfG) . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Rechtsfolgen einer wirksamen Anfechtung. . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zum Verfahren bei Inanspruchnahme durch Duldungsbescheid I. Duldungsbescheid . . . . . . . . . . . II. Einrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zuständigkeit. . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsschutzinteresse . . . . . . . . V. Formvorschriften . . . . . . . . . . . . VI. Rechtsbehelfsverfahren . . . . . . . VII. Anfechtung noch nicht fälliger Steuerschulden. . . . . . . . . . . . . . VIII. Folgen einer erfolgreichen Anfechtung. . . . . . . . . . . . . . . . .

7.63 7.64 7.67 7.70

7.73 7.74 7.75 7.76 7.77 7.81 7.85 7.86

Schrifttum: Mallach, Die Anfechtung als Beitreibungsinstrument der Finanzverwaltung, StBp 1995, 108; Streck/Mack/Schwedhelm, Zwei versteckte Angriffspunkte von Duldungsbescheiden nach dem Anfechtungsgesetz, Stbg 1997, 551; Carlé, Der Duldungsbescheid, AO-StB 2002, 302; App, Duldungsbescheide des Finanzamts nach neu gefasstem Anfechtungsgesetz und neu gefasstem § 191 AO, DStZ 2002, 279; Busch/Hilbertz, Anfechtung – ein zweischneidiges Schwert für die Finanzverwaltung, NWB Fach 2, 8665; Pump/ Leibner, Der Duldungsbescheid als Alternative zum Haftungsbescheid, AO-StB 2005, 346; Loose, Anfechtung einer unbenannten (ehebedingten) Zuwendung durch Duldungsbescheid, EFG 2004, 961; App, Möglichkeit der Gläubigeranfechtung wegen kommunaler Vollstreckungsforderungen durch Verwaltungsakt, KKZ 2005, 241 (I. Teil) u. KKZ 2006, 1 (II. Teil); App, Möglichkeit der Gläubigeranfechtung nach fehlgeschlagenen Vollstreckungsversuchen, BDZ 2006, F 73; Huber, Gläubigeranfechtung bei unentgeltlicher Übertragung eines (angeblich) wertausschöpfend belasteten Grundstücks, ZfIR 2008, 313; Claßen, Erlass eines Duldungsbescheids nach Anfechtung einer die Gläubiger benachteiligenden Zuwendung durch das Finanzamt, EFG 2009, 1532; Schmittmann, Die 12 wichtigsten Anfechtungsentscheidungen des BGH aus dem ersten Halbjahr 2010 und die Folgen für die Praxis, ZInsO 2010, 1256; Huber, Immobiliengeschäfte im Vorfeld einer Insolvenz – sichere Vertragsabwicklung und Risiken, ZfIR 2015, 127; Huber, Anfechtungsgesetz, 11. Aufl. München 2016.

Die Anfechtung nach dem AnfG ist gänzlich von der nach dem BGB zu unter- 7.1 scheiden. Während die Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB stets einen Irrtum über eine Willenserklärung oder eine widerrechtliche Drohung voraussetzt und mit ihr ein eigenes Rechtsgeschäft rückgängig gemacht werden soll – wegen eines 223

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

Irrtums bei Abgabe einer Willenserklärung will der Erklärende mittels Anfechtung seine Erklärung ungeschehen machen –, geht es bei der Anfechtung nach dem AnfG um ein fremdes Rechtsgeschäft. Auch sind die Rechtsfolgen völlig unterschiedlich. Während eine Anfechtung nach dem BGB gem. § 142 BGB die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts zur Folge hat, führt dieselbe nach dem AnfG zur Duldung der Zwangsvollstreckung in das übergegangene Vermögen. 7.2

Bevor auf die Voraussetzungen der Anfechtung im Einzelnen eingegangen wird, ist der Hinweis auf die Änderung der Gesetzeslage angebracht. Mit der Insolvenzrechtsreform ist auch das Anfechtungsrecht geändert worden. Mit Wirkung vom 1. Januar 1999 gilt eine Neufassung des Gesetzes über die Anfechtung von Rechtshandlungen eines Schuldners außerhalb des Insolvenzverfahrens.

7.3

Die Regelungen nach dem AnfG bestehen außerhalb des Insolvenzverfahrens. Im Rahmen des Insolvenzverfahrens kann nur der Insolvenzverwalter Anfechtungsrechte nach den §§ 129 ff. InsO geltend machen. Das deutsche AnfG ist nach § 19 AnfG nur anwendbar, wenn bei Sachverhalten mit Auslandsberührung die Wirkungen der Rechtshandlung dem deutschen Recht unterliegen.1

A. Typische Anfechtungssituation 7.4

Deutlich wird die Problematik der Anfechtung nach dem AnfG, wenn man die typische Anfechtungssituation im Steuerrecht betrachtet. Im Rahmen einer Betriebsprüfung kommt es häufig zu Feststellungen, die zur Festsetzung von erheblichen Mehrsteuern führen. Der Steuerpflichtige versucht in dieser Situation nicht selten, seine Vermögenswerte dem Zugriff der Finanzverwaltung zu entziehen. Folgende typische Sachverhalte spiegeln dieses Verhalten wider2:

7.5

– Vermögensgegenstände (z.B. Grundstücke, PKW, Geld etc.) werden entgeltlich oder unentgeltlich auf die Kinder oder auf die Ehefrau übertragen, – Einräumung von nachträglichen unwiderruflichen Bezugsrechten an bestehenden Lebensversicherungen, – Einziehung bestehender Kundenforderungen z.B. über das Konto von minderjährigen Kindern, – Grundpfandrechte werden für die Kinder oder Ehefrau bestellt oder abgetreten.

7.6

In dieser Situation ermöglicht die Anfechtung nach dem ab 1.1.1999 geltenden AnfG dem Einzelgläubiger zu verhindern, dass der in finanzielle Schwierigkeiten geratene Schuldner Vermögenswerte beiseiteschafft. Durch die Anfechtung des Gläubigers ist der Erwerber zur Duldung der Zwangsvollstreckung verpflichtet. In der Finanzverwaltung übernimmt die Aufgabe der

1 S. FG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 12.11.2015 – 6 K 1555/11, juris, zu Aktiengeschäften. 2 Vgl. auch Mallach, StBp 1995, 108.

224

B. Anfechtungsvoraussetzungen

Anfechtung meistens die Vollstreckungsstelle, der Betriebsprüfer oder ein Sachbearbeiter, der speziell für Haftungs- und Anfechtungstatbestände zuständig ist.

B. Anfechtungsvoraussetzungen I. Anfechtungsberechtigung des Finanzamts Das Finanzamt ist nach Maßgabe der §§ 1, 2 AnfG als Gläubiger zur Anfech- 7.7 tung unter folgenden Voraussetzungen berechtigt.

II. Rechtshandlungen des Schuldners Zunächst ist zu prüfen, ob eine Rechtshandlung des Schuldners i.S.d. § 1 AnfG 7.8 gegeben ist, durch die Gegenstände aus dem Vermögen des Schuldners entlassen werden. Rechtshandlungen in diesem Sinne sind nicht nur Willenserklärungen gem. §§ 133, 157 BGB, sondern hierunter fallen ebenso Handlungen, die eine rechtliche Wirkung auslösen. Auch jedes vorsätzliche Unterlassen kann eine solche Rechtshandlung sein. § 1 Abs. 2 AnfG stellt eine Unterlassung einer Rechtshandlung gleich. Folgende Beispiele verdeutlichen dies1:

7.9

– Willenserklärungen, die Teil dinglicher oder schuldrechtlicher Verträge oder Rechtsgeschäfte sind (z.B. Auflassungserklärung, Verkaufsangebot, Mietvertragsangebot, Abtretung, Aufrechnung, Erlass, Schenkungsversprechen, Übertragungserklärung, Bankanweisungen etc.); – Unterlassungshandlungen, die Rechtsfolgen auf materiell-rechtliche Gebiete auslösen (z.B. Verstreichenlassen von Verjährungs- oder Ausschlussfristen, Unterlassen rechtzeitiger Mängelrüge im Fall des § 377 HGB); – Unterlassungshandlungen auf prozessrechtlichem Gebiet (z.B. Unterlassen des Widerspruchs gegen Zahlungsbefehle, Nichterscheinen oder Nichtverhandeln im Termin, Nichtgebrauch von Angriffs- und Verteidigungsmitteln, Unterlassen des Widerspruchs gegen Verwaltungsakte oder der Einlegung eines Rechtsmittels). Dienen mehrere Rechtsgeschäfte der Erreichung eines gemeinsamen Ziels, bil- 7.10 den sie einen Gesamtvorgang, der als eine Rechtshandlung i.S.d. § 1 AnfG gilt. So gehören das obligatorische und das dingliche Rechtsgeschäft zusammen.2 Zum Schenkungsversprechen gehört somit auch der Schenkungsvollzug. Bei einem Grundstücksgeschäft sind der Kaufvertrag, die Auflassung, die Auflassungsvormerkung und die Eintragung des Eigentumsübergangs zusammen ein einheitlicher Zuwendungsvorgang.3 Der BFH hat in seiner Entscheidung vom 15. Oktober 1996 klargestellt, dass erst mit Abschluss des Gesamtvorganges – 1 Vgl. auch Huber, § 1 AnfG Rz. 8 ff.; Mallach, StBp 1995, 108. 2 Vgl. Huber, § 1 AnfG Rz. 14. 3 Mallach, StBp 1995, 108.

225

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

hier Eintragung der Eigentumsübertragung in das Grundbuch – die Rechtshandlung als Gesamtvorgang anfechtbar ist.1 7.11

Einschränkend ist aber zu beachten, dass der Grundstückskäufer bereits ein Anwartschaftsrecht erworben haben könnte, das dem Eigentum gleichsteht. Hier kann der Gesamtvorgang schon angefochten werden, wenn die Voraussetzungen für das Anwartschaftsrecht gegeben sind. Es genügen hierzu beim Grundstückskauf der Kaufvertrag, die Auflassung und der Antrag des Auflassungsempfängers beim Grundbuchamt, gerichtet auf Eintragung als Eigentümer, bzw. statt des Antrags die Eintragung einer Auflassungsvormerkung.2 Inhaltlich ist der Duldungsbescheid nicht auf Zwangsvollstreckung in das Grundstück zu richten, sondern darauf, dass der Anfechtungsgegner von der Vormerkung keinen Gebrauch machen darf.3 Das Finanzamt wird daher die Zwangsvollstreckung in das Grundstück des Steuerschuldners betreiben können. Im Verteilungsverfahren muss der Anfechtungsgegner dann mit seiner Vormerkung hinter das Finanzamt zurücktreten.4

7.12

Da der Zugriff auf das Schuldnervermögen in der Regel nur dann verwehrt ist, wenn das Verfügungsgeschäft schon vollzogen worden ist, kann das obligatorische Rechtsgeschäft allerdings nur gesondert angefochten werden, wenn es in seiner Folge zu einer Beeinträchtigung der Zwangsvollstreckung durch den Gläubiger führt.5 Die Bewertung als Gesamtvorgang spielt auch bei den Unterlassungshandlungen eine Rolle. Die Unterlassung einer Prozesshandlung z.B. hat zunächst direkt noch nicht die Ausscheidung eines Gegenstandes aus dem Schuldnervermögen zur Folge. Erst nachfolgende Vollstreckungshandlungen der obsiegenden Partei führen zum Verlust des Gegenstandes. Daher bildet die Unterlassungshandlung hier mit der nachfolgenden Vollstreckungshandlung einen anfechtbaren Gesamtvorgang i.S.d. AnfG.6 An der Voraussetzung fehlt es auch, wenn die Beeinträchtigung der Zwangsvollstreckung durch den Gläubiger dadurch entfällt, dass Vermögensgegenstände betroffen sind, auf die der Gläubiger ohnehin keinen Zugriff gehabt hätte, weil es sich um unpfändbare Sachen oder Rechte handelte. Ein solcher Fall ist z.B. gegeben, wenn nicht pfändbares Arbeitseinkommen nach § 850c ZPO betroffen ist.7

7.13

Als anfechtbares Rechtsgeschäft kommt auch die Einräumung von Sicherungseigentum in Betracht. Zwar ist wirtschaftlich der Schuldner, rechtlich aber der Sicherungsnehmer Eigentümer. Diese erlangte Rechtsposition genügt für eine Anfechtung.8

1 BFH, Urt. v. 15.10.1996 – VII R 35/96, BStBl. II 1997, 17. 2 Herrler in Palandt, § 925 BGB Rz. 25; vgl. auch BFH, Urt. v. 15.10.1996 – VII R 35/96, BStBl. II 1997, 17. 3 BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 m.w. Nachw. 4 BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 m.w. Nachw. 5 Huber, § 1 AnfG Rz. 25. 6 Huber, § 1 AnfG Rz. 17. 7 FG Münster, Urt. v. 29.2.2016 – 6 V 3164/15 AO, EFG 2016, 781 mit Anm. Karkmann. 8 Huber, § 1 AnfG Rz. 24 a.E.

226

B. Anfechtungsvoraussetzungen

Die Rechtshandlung muss gem. § 1 AnfG durch den Schuldner vorgenommen 7.14 worden sein. Vollstreckungshandlungen gegen den Schuldner ohne jegliches Zutun seinerseits sind keine anfechtbaren Vorgänge. Anders liegt jedoch der Fall, wenn der Schuldner andere Gläubiger gegenüber dem vollstreckenden Gläubiger benachteiligt. Dieses kann er auf verschiedene Art und Weise bewirken. Beispielsweise kann er sich dem begünstigten Gläubiger der sofortigen Vollstreckung unterwerfen. Ebenso ist es ihm möglich, den Titelerwerb durch Unterlassungen von Prozesshandlungen zu begünstigen, wie z.B. durch Zulassung eines Säumnisurteils oder Unterlassen des Widerspruchs gegen einen Zahlungsbefehl. Er kann aber auch den zu begünstigenden Gläubiger durch Benachrichtigung von beabsichtigten Vollstreckungsmaßnahmen anderer Gläubiger in der Weise besserstellen, dass er vor den anderen Gläubigern vollstrecken kann. Auch hier bildet die Unterlassungshandlung im Zusammenhang mit der nachfolgenden Vollstreckung einen anfechtbaren Gesamtvorgang. Eine anfechtbare Rechtshandlung des Schuldners liegt aber nicht darin, dass dieser einem Gläubiger Pfandgegenstände zum Taxwert gem. § 825 ZPO übereignet. Den Handlungen des Schuldners stehen die seiner gesetzlichen oder rechtsgeschäftlich bestellten Vertreter gleich. Ein Handeln durch Bevollmächtigte oder z.B. durch die Eltern als gesetzliche Vertreter der Kinder kann daher die Anfechtbarkeit nicht hindern. Handelt jemand als Vertreter ohne Vertretungsmacht, so ist das Rechtsgeschäft mit Genehmigung des Schuldners wirksam. Die Genehmigung ist allerdings keine Rechtshandlung i.S.d. AnfG. Auch nichtige Rechtshandlungen können angefochten werden. Die Anfecht- 7.15 barkeit einer nichtigen Rechtshandlung wird vor allem deswegen in Zweifel gezogen, weil es an einer Gläubigerbenachteiligung fehle. Dies trifft jedoch nicht in dieser Allgemeinheit zu. Nichtige Rechtshandlungen, insbesondere Scheingeschäfte (s. § 117 Abs. 1 BGB), können Grundlage für Änderungen der formalen Rechtslage sein. So kann es zur Eigentumsumschreibung in das Grundbuch kommen. Damit wird sicherlich der Gläubigerzugriff erschwert, so dass eine Anfechtungsmöglichkeit auch nichtiger Rechtshandlungen zu befürworten ist.1

III. Fälliger Hauptanspruch Der Gläubiger muss weiterhin gem. § 2 AnfG einen fälligen Hauptanspruch 7.16 gegen den Schuldner haben. Die Fälligkeit des Hauptanspruchs muss dabei im Zeitpunkt der Ausübung des Anfechtungsrechts gegeben sein.2 Ist die Vollziehung des Anspruchs aber ausgesetzt worden, so ist auch dessen Fälligkeit herausgeschoben worden. Dieses ist zwar umstritten; doch die h.L.3 und auch im Ergebnis Entscheidungen des BFH4 gehen mit überzeugenden Argumenten hiervon 1 BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 m.w. Nachw.; Huber, § 1 AnfG Rz. 67. 2 Mallach, StBp 1995, 108. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 220 AO Rz. 16; Alber in HHSp, § 220 AO Rz. 82; Schwarz in Schwarz/Pahlke, § 220 AO Rz. 12; Lemaire in Kühn/v. Wedelstädt, § 220 AO Rz. 7; a.A. Rüsken in Klein, § 220 AO Rz. 22. 4 BFH, Urt. v. 31.8.1995 – VII R 58/94, BStBl. II 1996, 55 (57); vgl. auch Beschl. v. 3.7.1995 – GrS 3/93, BStBl. II 1995, 730.

227

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

aus. Folgt man der bisherigen Rechtsprechung,1 würden Säumniszuschläge gem. § 240 AO auf Steuerschulden entstehen, obwohl die Aussetzung der Vollziehung gewährt worden ist. Außerdem würden noch in letzter Konsequenz Aussetzungszinsen anfallen, was nicht der Fall sein kann.2 7.17

7.18

Û

Hinweis: Es ist stets zu prüfen, ob die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht im Zeitpunkt der Anfechtung von der Vollziehung ausgesetzt waren. Ist dies der Fall, dann fehlt es schon an einem fälligen Anspruch des Finanzamtes, der durch Anfechtungs- und Duldungsbescheid geltend gemacht werden kann, sowie an der Vollstreckbarkeit (s. Rz. 7.19).

Die Finanzverwaltung kann aber unter Umständen die Fälligkeit eines Steueranspruches vorverlegen oder eine Anfechtungsankündigung (hierzu s. Rz. 7.37) veranlassen. Zu den fälligen Forderungen gehören auch die steuerlichen Nebenleistungen.3

IV. Vollstreckbarer Anspruch 7.19

Der Anspruch des Finanzamtes muss im Zeitpunkt der Anfechtung nach § 2 AnfG vollstreckbar gewesen sein. Ist ein Steuerbescheid bestandskräftig, steht er nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und ist er auch nicht vorläufig festgesetzt worden, so ist zweifelsfrei die Vollstreckbarkeit gegeben. Sie ist auch für die Säumniszuschläge zu bejahen, obwohl für diese kein Titel besteht, denn sie ergeben sich aus dem Gesetz und können auf dem Verwaltungszwangswege gefordert werden.4 Auch bestandskräftige Vorauszahlungsbescheide sind vollstreckbare Ansprüche. Jedoch ist hier § 14 AnfG zu beachten.5

7.20

Die nicht bestandskräftigen Steuerbescheide sowie die Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung bzw. vorläufigen Steuerfestsetzungen sind als vorläufig vollstreckbare Titel i.S.d. § 14 AnfG anzusehen.6 Daraus folgt, dass der Duldungsbescheid erst vollstreckt werden darf, wenn die Steuerschulden bestands- bzw. rechtskräftig festgesetzt worden sind. Daher darf das Leistungsgebot, das dem Duldungsbescheid gewöhnlich beigefügt wird, erst nach der Bestands- oder Rechtskraft gesondert erlassen werden.7 Stattdessen ist in den Bescheid die Bedingung (s. § 120 AO) aufzunehmen, dass die Vollstreckung von der Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts, der Endgültigkeitserklärung bzw. vom Eintritt der Bestandskraft abhängig ist.8 Liegen dem Duldungsbescheid Festsetzungen von Steuervorauszahlungen zugrunde, dann ist die Einschränkung auf1 BFH, Urt. v. 17.9.1987 – VII R 50-51/86, VII R 50/86, VII R 51/86, BStBl. II 1988, 366 (368). 2 Loose in Tipke/Kruse, § 220 AO Rz. 16. 3 App, DStZ 2002, 279. 4 BGH, Urt. v. 3.3.1976 – VIII ZR 197/74, NJW 1976, 967; Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v.; Huber, § 2 AnfG Rz. 17; Mallach, StBp 1995, 109. 5 BGH, Urt. v. 3.3.1976 – VIII ZR 197/74, NJW 1976, 967; Huber, § 2 AnfG Rz. 17. 6 Huber, § 10 AnfG Rz. 4; Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. 7 Mallach, StBp 1995, 109; vgl. auch Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92. 8 Vgl. FG Münster, Urt. v. 21.4.2010 – 6 K 3248/08 AO, EFG 2010, 1470.

228

B. Anfechtungsvoraussetzungen

zunehmen, dass erst nach bestandskräftiger Jahresveranlagung vollstreckt werden darf.1

Û

Hinweis: Fehlt es an einer Einschränkung im oben genannten Sinne gem. 7.21 § 14 AnfG, ist der Duldungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung rechtswidrig.

V. Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens Ferner ist Voraussetzung, dass die Vollstreckung in das Vermögen des Steuer- 7.22 schuldners erfolglos oder aussichtslos war (§ 2 AnfG). Hierzu reicht aus, dass der Vollstreckungsbeamte pfändbares Vermögen beim Schuldner nicht vorgefunden hat oder andere Gläubiger bereits vergebliche Vollstreckungsversuche unternommen haben oder der Schuldner glaubhaft bestreitet, pfändbares Vermögen zu besitzen.2 Maßgeblicher Zeitpunkt ist allgemein der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz.3 Da die Finanzverwaltung die Anfechtung mittels Duldungsbescheid erlässt und dieser eine Ermessensentscheidung ist, kommt jedoch nur als maßgeblicher Zeitpunkt für die Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung – also der Erlass der Einspruchsentscheidung – in Betracht.4 Zwar reicht für den Nachweis der Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens eine eidesstattliche Versicherung des Schuldners aus; sie ist aber nicht erforderlich.5 Liegt die letzte Vollstreckungshandlung schon längere Zeit zurück, so ist spätestens nach Ablauf von drei Jahren neu zu ermitteln.6

VI. Objektive Benachteiligung des Gläubigers Anfechtbar sind Rechtshandlungen des Schuldners nur dann, wenn sie die Be- 7.23 friedigungsmöglichkeit des Gläubigers aus dem Schuldnervermögen beeinträchtigen und diese also zu seiner objektiven Benachteiligung geführt haben (§ 1 AnfG).7 Es soll die Vollstreckungsmöglichkeit, wie sie bisher zugunsten des Gläubigers bestanden hat, wiederhergestellt werden, was nur im Fall der Gläubigerbenachteiligung durch die Rechtshandlung geschehen sein kann. Eine Gläubigerbenachteiligung liegt auch dann vor, wenn der Gläubiger die Auflassungsvormerkung anficht. Zwar hindert sie nicht dessen Zwangsvollstreckung in das Grundstück des Schuldners; doch der Zugriff auf den Wert des Grundstücks wird verhindert, weil die Vormerkung das geringste Gebot erfasst und zur Verteilung nichts übrig bleibt (§§ 44, 48 ZVG).8 Weiterhin schließt die Beteiligung des Gläu1 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 9.4.1987 – IX 282/82, EFG 1988, 97; vgl. auch Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 192. 2 Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rz. 266. 3 Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rz. 266 m.w. Nachw. 4 BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981 751 (752). 5 Mallach, StBp 1995, 109; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rz. 266. 6 BGH, Urt. v. 27.9.1990 – IX ZR 67/90, DB 1990, 2317. 7 BGH, Urt. v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, NJW 1988, 3265; Huber, § 1 AnfG Rz. 32. 8 BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 (3148) m.w. Nachw.

229

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

bigers an der Übertragung des Gegenstandes nicht die Anfechtungsmöglichkeit aus. Die Grenze ergibt sich hier wie allgemein aus dem Verbot der unzulässigen Rechtsausübung (§ 240 BGB).1 In folgenden Fällen ist eine Gläubigerbenachteiligung nicht gegeben: 7.24

Sie liegt z.B. nicht vor, wenn der Schuldner nur Gegenstände aus seinem Vermögen hergibt, die wirtschaftlich wertlos oder unpfändbar sind;2 denn auf diese Sachen hätte der Gläubiger auch dann nicht zurückgreifen können, wenn sie im Vermögen des Schuldners geblieben wären.

7.25

So ist die Hingabe eines Grundstücks, das mit Grundpfandrechten so stark belastet ist, dass die Valuten den Wert des Grundstücks bei weitem aufzehren, unanfechtbar, weil es wirtschaftlich wertlos ist.3 Maßgeblich für die Wertfeststellung ist der Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung.4 Sind mehrere Grundstücksübertragungen angefochten, ist dabei eine Gesamtbetrachtung nicht zulässig. Vielmehr ist für jedes Grundstück das Wertverhältnis zu bestimmen.5 Bei der Wertbestimmung ist nicht auf den Verkehrswert abzustellen, sondern auf den bei einer Zwangsversteigerung des Grundstückes an den Gläubiger auszukehrenden Erlös.6 Im finanzgerichtlichen Verfahren wird hierzu wegen der erforderlichen besonderen Sachkunde ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen.7

7.26

Zu den unpfändbaren Gegenständen gehören insbesondere: – vor allem die Sachen, die in § 811 ZPO aufgeführt sind, – das Arbeitseinkommen sowie bestimmte andere Bezüge und Renten im Rahmen der §§ 850–850i ZPO.

7.27

Ferner fehlt es an der Gläubigerbenachteiligung, wenn der Schuldner für die weggegebene Sache einen gleichwertigen Gegenstand wiedererlangt hat, der in gleicher Weise dem Vollstreckungszugriff des Gläubigers unterliegt.8 Selbst wenn es zu einem Diebstahl dieses Gegenstandes beim Schuldner gekommen und somit der Zugriff dem Gläubiger verwehrt ist, gilt dieser nicht als benachteiligt. Dagegen ist eine Gläubigerbenachteiligung anzunehmen, wenn die Gegenforderung darin besteht, dass die Forderung des Dritten gegen den Schuldner 1 BGH, Urt. v. 5.12.1991 – IX ZR 271/90, NJW 1992, 834. 2 Vgl. BGH, Urt. v. 8.7.1993 – IX ZR 116/92, NJW 1993, 2876 (2877); Beschl. v. 9.11.2006 – IX ZR 170/06, juris; FG Münster, Urt. v. 6.6.2014 – 14 K 687/10 AO, EFG 2014, 1567; Beschl. v. 29.2.2016 – 6 V 3164/15 AO, EFG 2016, 781 m. Anm. Karkmann; Huber, § 1 AnfG Rz. 37. 3 BGH, Urt. v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, NJW 1988, 3265; Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 (3149) m.w. Nachw. 4 BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981, 751 = BFHE 133, 501; Beschl. v. 1.6.1995 – VII B 31/95, BFH/NV 1996, 9; Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. 5 BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 (3149) m.w. Nachw. 6 BGH, Urt. v. 20.10.2005 – IX ZR 276/02, WM 2006, 490; Urt. v. 23.11.2006 – IX ZR 126/03, WM 2007, 367. 7 BGH, Urt. v. 20.10.2005 – IX ZR 276/02, WM 2006, 490. 8 Huber, § 1 AnfG Rz. 49.

230

B. Anfechtungsvoraussetzungen

durch die Leistung erlischt. Denn in diese Gegenleistung kann der Gläubiger nicht vollstrecken. Beispiele für eine objektive Benachteiligung sind weiterhin die Hingabe von Bargeld an Verwandte gegen Darlehensgewährung. Andererseits wird eine Benachteiligung des Gläubigers dann nicht angenommen, wenn die Gegenleistung für einen Gegenstand in Bargeld besteht, selbst wenn man beachtet, dass Bargeld leichter „verschleudert“ werden kann als der hingegebene Vermögensgegenstand.1 An einer Gleichwertigkeit fehlt es aber, wenn der Schuldner einen Vertrag abschließt, wonach der Vertragspartner verpflichtet ist, einzelne Gläubiger des Schuldners zu befriedigen oder wenn diese Gläubiger aus dem erlangten Vermögen befriedigt werden sollen.2 Bei einer Grundstücksübertragung, bei der die dinglichen Belastungen mit übergehen, kann von einer Gegenleistung von vornherein nicht gesprochen werden. Die dinglichen Belastungen mindern lediglich den Wert der erhaltenen Zuwendung, bewirken jedoch nicht, dass dem Schuldner eine Leistung zufließt, die als Entgelt für die Übertragung des Grundstücks angesehen werden könnte.3 Es muss ein kausaler Zusammenhang zwischen Benachteiligungshandlung des 7.28 Schuldners und Benachteiligung des Gläubigers bestehen. Hier wird häufig mit einem hypothetischen Kausalverlauf argumentiert. Wäre die Rechtshandlung des Schuldners, die angefochten wird, unterblieben, wäre die Zwangsvollstreckung des Gläubigers ebenfalls vereitelt worden, da andere Gläubiger ihm zuvorgekommen wären. Diesem hypothetischen Kausalverlauf kommt im Anfechtungsrecht gegenüber dem realen Geschehen grundsätzlich keine Bedeutung zu, wenn der übertragene Gegenstand oder der an seine Stelle getretene Wert noch im Vermögen des Anfechtungsgegners vorhanden ist.4 Hier handelt es sich nicht um eine Kausalitätsfrage, sondern um eine Frage der Zurechnung.5 Dabei kann der Gedanke, dass andere Gläubiger des Schuldners möglicherweise ein besseres Recht auf Befriedigung gehabt hätten, wäre es nicht zur Benachteiligungshandlung des Schuldners gekommen, außer Acht gelassen werden. Es ist nicht Aufgabe des Anfechtungsrechts, einen Ausgleich zwischen den Gläubigern herzustellen. Dies ist dem Insolvenzverfahren vorbehalten. Jeder Gläubiger kann unabhängig von dem anderen im Wege der Gläubigeranfechtung versuchen, seine Rechte durchzusetzen.6

VII. Ausscheidung eines Gegenstandes aus dem Vermögen des Schuldners Es ist weiter Voraussetzung, dass der Gegenstand der Anfechtung aus dem Ver- 7.29 mögen des Schuldners stammt. Rechtshandlungen, die ausschließlich fremdes 1 BGH, Urt. v. 9.2.1955 – IV ZR 173/54, NJW 1955, 709; Huber, § 1 AnfG Rz. 49. 2 BGH, Urt. v. 9.2.1955 – IV ZR 173/54, NJW 1955, 709; Huber, § 1 AnfG Rz. 49. 3 BGH, Urt. v. 7.4.1989 – V ZR 252/87, NJW 1989, 2122 = BGHZ 107, 156; Urt. v. 21.1.1993 – IX ZR 275/91, NJW 1993, 663 (665). 4 BGH, Urt. v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, NJW 1988, 3265 (3266); Urt. v. 21.1.1993 – IX ZR 275/91, NJW 1993, 663 (665); Urt. v. 8.7.1993 – IX ZR 116/92, NJW 1993, 2876 (2878). 5 BGH, Urt. v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, NJW 1988, 3265 (3266). 6 BGH, Urt. v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, NJW 1988, 3265 (3266).

231

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

Vermögen betreffen oder mit fremden Mitteln vollzogen werden, sind von vornherein einer Anfechtung nicht zugänglich.1 Der Vermögenswert muss bereits im Vermögen des Schuldners enthalten sein. Die frühere h.M. nahm daher an, dass ein Pflichtteilsanspruch noch nicht im Vermögen des Schuldners enthalten war, wenn er vor Verfügung nicht bereits durch Vertrag anerkannt oder rechtshängig geworden war.2 Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 8.7.1993 festgelegt, dass der Pflichtteilsanspruch als in seiner zwangsweisen Verwertbarkeit aufschiebend bedingter Anspruch schon vor einer vertraglichen Anerkennung oder Rechtshängigkeit gepfändet werden kann.3 Bei einer Ausschlagung einer Erbschaft ist ebenfalls kein Gegenstand aus dem Vermögen des Schuldners ausgeschieden.4 Ebenso gilt dies für die Ausschlagung eines Vermächtnisses.5 7.30

Û

Hinweis: Die Ausschlagung der Erbschaft/des Vermächtnisses kann von praktischer Bedeutung sein, wenn der Steuerschuldner die Erbschaft/das Vermächtnis ausschlägt und an seine Stelle z.B. die Tochter und der Sohn als Erben treten, so dass die Vermögenswerte – ohne Zugriffsmöglichkeit des Finanzamts – der Familie erhalten bleiben.

VIII. Abgrenzungsfragen zum Insolvenzverfahren 7.31

Mit Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Steuerschuldners wird gem. § 17 Abs. 1 AnfG das Anfechtungsverfahren unterbrochen. Während dieses Verfahrens kann die Finanzbehörde den Anfechtungsanspruch grundsätzlich nicht weiterverfolgen, auch wenn der Konkurs- bzw. Insolvenzverwalter den Anspruch nicht geltend macht oder auf den Rückgewähranspruch verzichtet.6 Erst mit Abschluss des Insolvenzverfahrens kann die Finanzbehörde ihrem Anfechtungsanspruch im Verwaltungsverfahren weiter nachgehen (§ 18 Abs. 1 AnfG). Der Ausschluss der Einzelgläubigeranfechtung ergibt sich auch aus § 1 AnfG. Nach § 1 Abs. 1 AnfG ist die Anfechtung „außerhalb des Insolvenzverfahrens“ erlaubt. Damit ist ausgesagt, dass eine Einzelgläubigeranfechtung nur dann in Betracht kommt, wenn der Schuldner sich nicht in der Insolvenz befindet. Überträgt ein persönlich haftender Gesellschafter Vermögensgegenstände auf die Insolvenzmasse der Gesellschaft, um ein Insolvenzverfahren über sein Vermögen abzuwenden, so ist diese Rechtshandlung der Einzelgläubigeranfechtung zugäng-

1 Huber, § 1 AnfG Rz. 23. 2 Huber, § 1 AnfG Rz. 27. 3 BGH, Urt. v. 8.7.1993 – IX ZR 116/92, NJW 1993, 2876 (2877); vgl. auch Kuchinke, NJW 1994, 1769. 4 RG, Urt. v. 17.4.1903, RGZ 54, 289; vgl. auch BGH, Urt. v. 6.5.1997 – IX ZR 147/96, NJW 1997, 2384; Huber, § 1 AnfG Rz. 26. 5 Huber, § 1 AnfG Rz. 26. 6 BFH, Urt. v. 29.3.1994 – VII R 120/92, BFHE 174, 295 = BStBl. II 1995, 225 (227); vgl. auch Niedersächsisches FG, Beschl. v. 20.9.1994 – XV 377/91, EFG 1994, 1066. Die Insolvenzgläubiger werden durch das Anfechtungsrecht mittels Duldungsbescheid außerhalb des Insolvenzverfahrens nicht in ihren Rechten beeinträchtrigt (BFH, Beschl. v. 24.11.2008 – VII B 139/08, juris; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 8; a.A. noch Vorinstanz Niedersächsisches FG, Urt. v. 25.8.1992 – XV (XIII) 36/89, EFG 1993, 125).

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B. Anfechtungsvoraussetzungen

lich.1 Der Insolvenzverwalter der Gesellschaft ist dann zur Duldung der Zwangsvollstreckung in diese übernommenen Gegenstände verpflichtet (§ 11 AnfG). Eine Einzelgläubigeranfechtung ist auch während des Insolvenzverfahrens möglich; freilich jedoch nur dann, wenn der Vermögensgegenstand nicht zur Insolvenzmasse gehört. Dieses ist der Fall, wenn der Insolvenzverwalter den Gegenstand freigibt.2 Insolvenzgläubiger wie auch andere Gläubiger können wegen dieser Gegenstände separat anfechten. Für Anfechtungsansprüche der Insolvenzgläubiger im Übrigen ist gem. § 16 Abs. 1 AnfG der Insolvenzverwalter ab Insolvenzeröffnung zuständig. Im Hinblick auf Massegläubiger gelten die genannten Einschränkungen nicht. Sie sind während der Insolvenz zur Einzelgläubigeranfechtung berechtigt. Dabei können sie auch Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters anfechten.3

IX. Anfechtungstatbestände Weiterhin müssen bestimmte Anfechtungstatbestände vorliegen. Die §§ 3 bis 6 7.32 AnfG enthalten verschiedene Anfechtungstatbestände. Soweit der Lebenssachverhalt identisch ist, können die Anfechtungstatbestände ausgetauscht werden. Dies ist dann auch noch im Klageverfahren möglich.4 Die Regelungen des AnfG sind nicht verfassungswidrig. Insbesondere die An- 7.33 fechtungstatbestände verstoßen nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG. Sie bestimmen den Inhalt des Eigentumsrechts in zulässiger Weise.5 Neben den Sonderfällen in den §§ 5 und 6 AnfG unterscheidet man insbesonde- 7.34 re drei Arten von Anfechtungsgründen: die vorsätzliche Benachteiligung (sog. Vorsatzanfechtung, § 3 Abs. 1 AnfG), die entgeltliche Leistung (§ 3 Abs. 2 AnfG) und die unentgeltliche Leistung (sog. Schenkungsanfechtung, § 4 Abs. 1 AnfG). Diese zuletzt genannten Anfechtungstatbestände wurden durch die Reform des 7.35 Anfechtungsrechts verschärft. Insbesondere die Anfechtungszeiten wurden geändert. Während für die Vorsatzanfechtung zehn Jahre bzw. nach dem Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz v. 29.3.20176 bei (kongruenten und inkongruenten) Deckungshandlungen vier Jahre7 gelten, ist bei der Schenkungsanfechtung ein Zeitraum von vier Jahren zu beachten. Eine entgeltliche Leistung kann innerhalb von zwei Jahre angefochten werden. Bei den Fristen handelt es sich 1 2 3 4 5

BGH, Urt. v. 21.1.1993 – IX ZR 275/91, NJW 1993, 663; Huber, § 1 AnfG Rz. 56. Huber, § 1 AnfG Rz. 57. Huber, § 1 AnfG Rz. 59. BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981, 751, 756; Blesinger, S. 208. BVerfG v. 14.5.1991 – 1 BvR 501/91, NJW 1991, 2695; BFH, Beschl. v. 7.2.2002 – VII B 14/01, BFH/NV 2002, 757. 6 BGBl. I 2017, 654. 7 Zur Anwendbarkeit der verkürzten Anfechtungsfrist s. § 20 Abs. 4 AnfG. Bei Duldungsbescheiden durch die Finanzverwaltung gilt daher die verkürzte Anfechtungsfrist, wenn die Anfechtung durch Duldungsbescheid ab dem 5.4.2017 (Geltung des Gesetzes) erlassen worden ist. Anstelle „gerichtlicher Geltendmachung“ ist hier der Erlass des Anfechtungs- und Duldungsbescheides maßgeblich.

233

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

um Ausschlussfristen, mit deren Ablauf endgültig der Anfechtungsanspruch erlischt. Nach § 7 Abs. 1 AnfG sind die Fristen von dem Zeitpunkt, „in dem die Anfechtung gerichtlich geltend gemacht wird“ zurückzurechnen. Wird die Anfechtung durch einen Duldungsbescheid geltend gemacht, ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Duldungsbescheid dem Adressaten bekannt gemacht wird. Handelt es sich um einen durch die Post übermittelten Duldungsbescheid, ist somit der dritte Tag nach Aufgabe zur Post gem. § 122 Abs. 2 AO der Bekanntgabetag. Der Beginn der Frist richtet sich nach § 8 AnfG. Danach ist entscheidend, in welchem Zeitpunkt die rechtlichen Wirkungen einer Rechtshandlung eingetreten sind. Ist aber eine Rechtshandlung betroffen, die eine Eintragung in ein Register oder Grundbuch umfasst, so ist nach § 8 Abs. 2 AnfG das Rechtsgeschäft vorgenommen worden, wenn der Anfechtungsgegner eine Rechtsposition erlangt hat, die ihm vom Schuldner nicht mehr entzogen werden kann. So ist z.B. mit Abgabe der Erklärungen und Eintragungsanträge beim Grundbuchamt die Rechtshandlung bewirkt. Ansonsten ist auf den Zeitpunkt der Vollendung des Zuwendungsvorganges abzustellen, der auch im Hinblick auf die subjektiven Voraussetzungen maßgeblich ist.1 Folgende Übersicht veranschaulicht die unterschiedlichen Anfechtungsfristen, den betroffenen Personenkreis und die Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz: 7.36

Übersicht zu den Anfechtungstatbeständen Vorsätzliche Entgeltliche Benachteiligung Leistung

Unentgeltliche Leistung

Rechtsgrundlage

§ 3 Abs. 1 AnfG

§ 3 Abs. 2 AnfG

§ 4 Abs. 1 AnfG

Zeitraum der Anfechtung

10 Jahre/4 Jahre

2 Jahre

4 Jahre

Betroffener Personenkreis

jeder

nahestehende Personen

jeder

ja

nein

Kenntnis des Anfechtungsgegners ja vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz erforderlich

7.37

Ist eine Anfechtung durch die Finanzbehörde deshalb nicht möglich, weil die ihr zugrunde liegende Abgabenforderung noch nicht festgesetzt worden ist, kann die Finanzbehörde durch Anfechtungsankündigung nach § 7 Abs. 2 AnfG den vorzeitigen Ablauf der Anfechtungsfristen vermeiden. Darin teilt die Finanzbehörde den Begünstigten von ihrer Absicht mit, die begünstigende Verfügung in Zukunft anzufechten. Die Anfechtungsankündigung muss die befriedigungsbedürftige Forderung bezeichnen.2 Ist die Ankündigung wirksam erfolgt, so werden die Fristen des § 3 AnfG nicht erst ab Anfechtung, sondern bereits ab Zustellung 1 BGH, Urt. v. 10.12.1998 – IX ZR 302/97, MDR 1999, 308. Bei einer Anfechtung einer widerruflichen Bezugsberechtigung in einem Lebensversicherungsvertrag beginnt die Anfechtungsfrist erst mit Eintritt des Versicherungsfalls, s. BFH, Beschl. v. 12.12.2014 – VII B 112/14, BFH/NV 2015, 465; vgl. auch BGH, Urt. v. 26.1.2012 – IX ZR 99/11, ZIP 2012, 636. 2 BGH, Beschl. v. 15.11.2011 – IX ZR 87/09, MDR 2012, 251.

234

B. Anfechtungsvoraussetzungen

der Anfechtungsankündigung zurückgerechnet. Statt Zustellung reicht nach neuem Recht die Bekanntgabe der Mitteilung aus. Voraussetzung ist ferner, dass der Vollstreckungsschuldner bereits zum Zeitpunkt der Ankündigung zahlungsunfähig war. Es wäre sonst ermessensfehlerhaft, einen Dritten in Anspruch zu nehmen, wenn noch Vollstreckungsmöglichkeiten beim Steuerschuldner bestehen. Liegt keine Zahlungsunfähigkeit vor, so wäre eine Ankündigung rein vorsorglich und damit rechtswidrig.

Û

Hinweis: Kündigt das Finanzamt eine Anfechtung gem. § 7 Abs. 2 AnfG an, 7.38 ohne dass der Steuerschuldner zahlungsunfähig ist, ist die Anfechtungsankündigung rechtswidrig.1

Die verlängernde Wirkung der Anfechtungsankündigung kommt jedoch nur 7.39 dann zum Tragen, wenn die Anfechtungserklärung innerhalb von zwei Jahren nach der Ankündigung abgegeben wird (§ 7 Abs. 2 AnfG). Es bleibt darauf hinzuweisen, dass nach § 7 Abs. 2 AnfG die Einhaltung der Frist durch „gerichtliche Geltendmachung“ erfolgen muss. Für die Anfechtungs- und Duldungsbescheide reichen aber ihre Erlasse aus. Der Grund liegt darin, dass § 191 AO insoweit eine Spezialregelung enthält. § 7 AnfG geht von einer Verfolgung des Rückgewähranspruches durch Klage aus.

Û

Hinweis: Die verlängernde Wirkung der Anfechtungsankündigung tritt nur ein, wenn ein vollstreckbarer Schuldtitel bzw. eine fällige Forderung noch nicht zum Zeitpunkt der Mitteilung bzw. Zustellung vorlag.2

7.40

1. Vorsätzliche Benachteiligung In § 3 Abs. 1 AnfG ist die vorsätzliche Benachteiligung, die sog. Vorsatzanfech- 7.41 tung (die frühere Absichtsanfechtung), geregelt. Nach § 3 Abs. 1 AnfG sind solche den Gläubiger benachteiligenden Rechtshandlungen anfechtbar, die der Schuldner mit dem Vorsatz vorgenommen hat, den Gläubiger zu benachteiligen. Soweit § 3 Abs. 1 Nr. 1 AnfG a.F. „Absicht“ forderte, bedeutete dies nicht dolus directus 2. Grades, sondern es genügte schon der bedingte Vorsatz (dolus eventualis), d.h., der Schuldner musste billigend in Kauf nehmen, dass seine Rechtshandlung den Gläubiger benachteiligte.3 Allerdings fehlte es an dieser Absicht, wenn der Schuldner die benachteiligende Rechtshandlung zu einem Zeitpunkt vornahm, in dem er mit keinem konkreten Gläubigerzugriff auf seine Vermögensgegenstände rechnen musste. Mit der Insolvenzrechtsreform wurde statt „Absicht“ „Vorsatz“ in den § 3 Abs. 1 AnfG aufgenommen, so dass die neue Vorschrift redaktionell der schon geltenden Rechtslage angepasst wurde. Ein Beweisanzeichen von besonderem Gewicht für den Benachteiligungsvorsatz stellen die sog. inkongruenten Deckungsgeschäfte dar, insbesondere inkongruente Erfüllungs- oder Sicherungsgeschäfte. Inkongruente Erfüllungsgeschäfte sind Leistungen, die vor Fälligkeit oder ohne Verpflichtungsgrund hierzu erbracht werden. Inkongruente Sicherungsgeschäfte sind Rechtsgeschäfte, die dem An1 Kraemer, S. 100. 2 Vgl. Streck/Mack/Schwedhelm, Stbg 1998, 405. 3 FG Berlin, Urt. v. 23.4.1998 – 1400/97, EFG 1998, 1181.

235

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

fechtungsgegner Sicherheiten für ein Grundgeschäft geben, zu denen der Schuldner nicht verpflichtet ist. So ist z.B. die Bestellung einer Sicherung für einen Unterhaltsanspruch ein solches Sicherungsgeschäft, wenn der Schuldner dazu zivilrechtlich nicht verpflichtet ist.1 Sind dagegen kongruente Deckungsgeschäfte vorgenommen worden, muss der Beweis für den Benachteiligungsvorsatz erst erbracht werden. 7.42

Unerheblich ist, ob der Schuldner alle Gläubiger oder nur einen bestimmten Gläubiger benachteiligen will.2 Bei der Beurteilung der Gläubigerbenachteiligung ist auf das inländische Vermögen abzustellen. Ausländisches Vermögen bleibt in der Regel hierbei unbeachtlich, da die Finanzbehörde hierauf keinen Zugriff hat.3

7.43

Weiterhin ist zu beachten, dass ein auf § 3 Abs. 1 AnfG gestützter Duldungsbescheid dazu führen kann, dass er eine andere Duldungspflicht mit umfasst, die weniger Voraussetzungen erfordert. So hat der BFH entschieden, dass § 278 Abs. 2 Satz 1 AO im Falle unentgeltlicher Vermögensverschiebungen zwischen den Ehegatten eine dem Anfechtungsgrund des § 3 Abs. 1 AnfG entsprechende gesetzliche Duldungspflicht des Zuwendungsempfängers beinhaltet. Auf eine Gläubigerbenachteiligungsabsicht kommt es dann nicht an.4

7.44

Auch fällt die Bestellung dinglicher Rechte am eigenen Grundstück unter § 3 Abs. 1 AnfG, obwohl der Wortlaut nicht darauf hindeutet.5 Dies führt dazu, dass z.B. das Finanzamt einen schuldrechtlichen Anspruch auf Duldung des Vorrangs seiner Rechte in der Zwangsvollstreckung hat, wenn ein Vollstreckungsschuldner ein Nießbrauchsrecht oder ein dingliches Wohnrecht am eigenen Grundstück anfechtbar begründet hatte.6

7.45

Problematischer für die Praxis der Finanzverwaltung ist der Nachweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Vorsatz des Schuldners. Kenntnis i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 AnfG ist positive Kenntnis des Vorsatzes des Schuldners. Daher ist grob fahrlässige Unkenntnis für eine Absichtsanfechtung nicht ausreichend. Maßgeblich ist bei Vertretergeschäften die Kenntnis des gesetzlichen oder rechtsgeschäftlichen Vertreters. So kommt es bei der Vertretung minderjähriger Kinder auf das Wissen der Eltern an, sofern sie für die Kinder bei den Übertragungsgeschäften mitgewirkt haben. Der Benachteiligungsvorsatz wie auch die Kenntnis von ihm beim Anfechtungsgegner müssen spätestens im Zeitpunkt der Vollendung der Rechtshandlung vorliegen.7 Da es sich bei der Kenntnis um eine „innere Tatsache“ handelt, kommt objektiven Umständen, aus denen auf das Vorliegen dieser Merkmale geschlossen werden kann, entscheidende Bedeu1 Mallach, StBp 1995, 109; vgl. auch BGH, Urt. v. 21.1.1999 – IX ZR 329/97, DB 1999, 631 (632) u. Urt. v. 3.12.1998 – IX ZR 313/97, DB 1999, 688. 2 FG Berlin, Urt. v. 23.4.1998 – 1400/97, EFG 1998, 1181 (1182); Mallach, StBp 1995, 109. 3 FG Berlin, Urt. v. 23.4.1998 – 1400/97, EFG 1998, 1181. 4 BFH, Beschl. v. 30.9.2010 – VII B 61/10, BFH/NV 2011, 195 m.w. Nachw. 5 BFH, Urt. v. 30.3.2010 – VII R 22/09, BStBl. II 2011, 327. 6 BFH, Urt. v. 30.3.2010 – VII R 22/09, BStBl. II 2011, 327; s. auch BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 50/12, MDR 2014, 1228. 7 BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981, 754; Mallach, StBp 1995, 109.

236

B. Anfechtungsvoraussetzungen

tung zu.1 Es ist daher genau zu prüfen, ob Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass der Anfechtungsgegner Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz hatte.2 Insbesondere sind Nebenabreden schriftlicher oder mündlicher Art, Äußerungen des Anfechtungsgegners gegenüber Dritten und der Kenntnis entsprechende Verhaltensweisen von großer Bedeutung. Im Einzelfall ist daher das Gesamtergebnis in der mündlichen Verhandlung und einer etwaigen Beweisaufnahme maßgeblich.3 Der Tatrichter muss dabei die entscheidungserheblichen Umstände erschöpfend berücksichtigt und gewürdigt haben. Hier wird deutlich, wie unberechenbar ein Anfechtungsverfahren, das auf einer Vorsatzanfechtung beruht, ist, wenn die Kenntnis des Anfechtungsgegners nicht offenkundig ist.

Û

Hinweis: Es ist im Fall der Vorsatzanfechtung genau zu prüfen und zu ermitteln, ob ein Nachweis der Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz geführt werden kann.

7.46

Das Finanzamt trifft die objektive Beweislast.4 Hier ist jedoch mit der Insolvenz- 7.47 rechtsreform eine Beweislastumkehr eingetreten. Die Kenntnis des anderen Teiles vom Vorsatz der Benachteiligung des Gläubigers wird gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 AnfG vermutet, wenn dieser wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte.5 2. Entgeltliche Übertragungen Gegenüber dem Grundfall des § 3 Abs. 1 AnfG enthält § 3 Abs. 2 AnfG weitere 7.48 Beweiserleichterungen. Bei entgeltlichen Verträgen, die der Schuldner in den letzten zwei Jahren vor der Anfechtung mit einem nahen Angehörigen geschlossen hat, werden der Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis des Angehörigen vermutet.6 Der Anfechtungsgegner kann jedoch durch Beweis seiner Unkenntnis die Anfechtung verhindern.7 Eine Anfechtung ist nämlich nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AnfG ausgeschlossen, wenn dem anderen Teil zur Zeit des Vertragsschlusses ein Vorsatz des Schuldners, die Gläubiger zu benachteiligen, nicht bekannt war. Also auch hier wird eine Beweislastumkehr statuiert.8 Mit Vertrag i.S.d. § 3 Abs. 2 AnfG ist jeder auf wechselseitiger Willensübereinstimmung beruhender Erwerbsvorgang gemeint. Diese Definition ist nicht identisch mit dem bürgerlich-rechtlichen Begriff des Vertrags. Es fallen auch einseitige Rechtshandlungen hierunter, die im Einverständnis mit dem Anfechtungsgegner erfolgen.9 Die Anfechtbarkeit setzt einen entgeltlichen Vertrag voraus. Die Leistung des einen muss nach dem Willen zumindest einer Partei von einer

1 2 3 4 5 6

Niedersächsisches FG, Urt. v. 26.11.1996 – XV 619/94; Huber, § 3 AnfG Rz. 32. Zu Beweisanzeichen u. Erfahrungssätzen s. BFH, Urt. v. 25.4.2017 – VII R 31/15, juris. BGH, Beschl. v. 21.2.2013 – IX ZR 219/12, ZInsO 2013, 608; Huber, § 3 AnfG Rz. 32. Niedersächsisches FG, Urt. v. 26.11.1996 – XV 619/94; Huber, § 3 AnfG Rz. 30. Vgl. Huber, § 3 AnfG Rz. 31. BGH, Urt. v. 20.10.2005 – IX ZR 276/02, WM 2006, 490; BFH, Beschl. v. 10.6.2008 – VII B 117/07, BFH/NV 2008, 1855; Beschl. v. 7.3.2008 – VII S 45/07, BFH/NV 2008, 1114. 7 BGH, Urt. v. 20.10.2005 – IX ZR 276/02, WM 2006, 490. 8 Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rz. 270. 9 Huber, § 3 AnfG Rz. 43.

237

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

ausgleichenden Zuwendung der anderen Partei abhängig sein, auch wenn der Gegenwert einem Dritten zufließen soll. 7.49

Bei dinglichen Rechtsgeschäften liegt die Gegenleistung in der Schuldbefreiung.1 Der Vorschrift des § 3 Abs. 2 AnfG liegt der Gedanke zugrunde, dass es durch die Rechtshandlung zu einer Gläubigerbenachteiligung kommt. Handelt es sich um sog. Bargeschäfte oder Bardeckung, fließt dem Vermögen des Schuldners also ein seiner Leistung entsprechender Gegenwert zu, fehlt es an der Gläubigerbenachteiligung. Das Entgelt darf somit nicht zu einem Wertausgleich führen, soll die Anfechtung erfolgreich sein. Der entgeltliche Vertrag muss ferner mit nahen Angehörigen geschlossen worden sein. Hierzu zählen insbesondere Verträge unter Ehegatten, mit ihren Kindern oder Geschwistern. Siehe hierzu auch den Verweis in § 3 Abs. 2 AnfG auf § 138 InsO.

7.50

Wie die Rechtslage im Hinblick auf Verträge mit Lebensgefährten zu beurteilen ist, war für die Rechtslage nach dem AnfG a.F. noch umstritten. Mit der Insolvenzrechtsreform ist die Diskussion entschärft, da von dem § 3 Abs. 2 AnfG n.F. auch Lebensgefährten erfasst werden. § 3 Abs. 2 AnfG verweist u.a. auf § 138 Abs. 1 Nr. 1a und Nr. 3 InsO, wonach zu den nahestehenden Personen neben dem Lebenspartner auch Personen zählen, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Schuldner leben oder im letzten Jahr vor der Handlung in häuslicher Gemeinschaft mit dem Schuldner gelebt haben. 3. Unentgeltliche Leistung

7.51

§ 4 AnfG regelt die dritte Art der Anfechtung. Diese Anfechtungsart wurde früher Schenkungsanfechtung genannt. Inhaltlich haben sich gegenüber § 3 Abs. 1 Nr. 3, 4 AnfG a.F. vor allem bei der Anfechtungsfrist und der Beweislastverteilung Änderungen ergeben. Nach Nr. 3 waren die in dem letzten Jahr vor der Anfechtung von dem Schuldner vorgenommenen unentgeltlichen Verfügungen, sofern dieselben nicht gebräuchliche Gelegenheitsgeschenke darstellten, ebenfalls anfechtbar. Handelte es sich um Verfügungen zugunsten seines Ehegatten, so galt gem. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AnfG a.F. eine Zweijahresfrist. Hier kam es nicht darauf an, ob der Schuldner die Gläubigerbenachteiligungsabsicht hatte. Der Grund für diese gesetzliche Regelung bestand darin, dass das Interesse des Empfängers der unentgeltlichen Zuwendung nicht im gleichen Maße geschützt zu werden braucht wie das Interesse des Gläubigers.2 Die Frist für eine Schenkungsanfechtung nach § 4 AnfG n.F. beträgt nun vier Jahre.

7.52

Unentgeltlichkeit liegt vor, wenn der Schuldner keine ausgleichende Zuwendung erhalten hat. Entspricht die Zuwendung an den Schuldner nicht der Leistung des Schuldners, ist das Austauschgeschäft in einen entgeltlichen und unentgeltlichen Teil aufzuteilen, wenn eine Aufteilung möglich ist. Dies ist bei einer gemischten Schenkung nur dann der Fall, wenn die wirtschaftlichen Zwecke des Geschäfts und die berechtigten Interessen der Vertragspartner die An-

1 Huber, § 3 AnfG Rz. 45. 2 Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rz. 271.

238

B. Anfechtungsvoraussetzungen

nahme eines zusammengesetzten Geschäfts rechtfertigen.1 Ist dieses nicht zu ersehen, ist das gesamte Geschäft als unentgeltliche Verfügung zu behandeln, wenn es auf eine Freigebigkeit gerichtet ist (s. nachfolgende Übersicht Rz. 7.89). Bei einer Übertragung eines Grundstücks zu einem unter Wert liegenden Preis ist das gesamte Geschäft als unentgeltlich anzusehen, wenn der Hauptzweck eine freigebige Zuwendung sein sollte. Ein Indiz für Freigebigkeit ist z.B. die Bezeichnung der Hingabe im Vertrag als Übertragung im Wege einer vorweggenommenen Erbfolge2, aber auch eine fehlende Wertangabe der zu übertragenen Vermögensgegenstände spricht für eine Freigebigkeit.3 Bei der Beurteilung der Frage, ob eine entgeltliche oder unentgeltliche Zuwen- 7.53 dung vorliegt, kommt es nicht auf subjektive Vorstellungen und Absichten des Schuldners oder des Anfechtungsgegners an. Entscheidend ist eine objektive Beurteilung der Wertrelation zwischen Leistung und Gegenleistung.4 Maßgeblich hierfür ist der Zeitpunkt der Zuwendung (z.B. Zeitpunkt des Übertragungsvertrags).5 Es ist auf die Vollendung des Rechtserwerbs abzustellen.6 Im Normalfall wird sich diese Wertrelation auf das Verhältnis der Leistungen des Schuldners zu der an ihn zurückfließenden Gegenleistung beziehen. Es ist aber in der Abgrenzung auch eine Gegenleistung zu berücksichtigen, die der Anfechtungsgegner mit Einverständnis des Schuldners an einen Dritten bewirkt.7 Zwar ist die Leistung des Schuldners hier unentgeltlich; doch ist für den Empfänger eine entgeltliche Leistung gegeben. Eine Schenkungsanfechtung hier zuzulassen, entspräche nicht dem gesetzgeberischen Willen. Die Erleichterung der Schenkungsanfechtung (s. Rz. 7.36) beruht auf dem Rechtsgedanken, dass eine unentgeltliche Zuwendung weniger schutzwürdig ist als ein Erwerb, für den der Empfänger ein ausgleichendes Vermögensopfer zu erbringen hat. Es ist daher recht und billig, dem Anfechtungsberechtigten die Möglichkeit zu geben, freigebige Zuwendungen innerhalb der gesetzlichen Fristen ohne weitere Voraussetzungen rückgängig zu machen. Dann muss aber ein Empfänger, der eine ausgleichende Gegenleistung an einen Dritten bewirkt, von der Schenkungsanfechtung freigestellt werden.8 Maßgeblich für die Frage, ob eine unentgeltliche oder entgeltliche Verfügung 7.54 vorliegt, ist eine rechtliche Beurteilung. Die Motive der Zuwendung bleiben unbeachtlich, selbst wenn der Schuldner diese in der Erwartung macht, es werde in Zukunft eine Gegenleistung des Anfechtungsgegners – ohne rechtlich dazu verpflichtet zu sein – erfolgen.9

1 2 3 4 5 6 7 8 9

FG Berlin, Urt. v. 16.3.2004 – 5 K 5464/01, EFG 2004, 959; Huber, § 4 AnfG Rz. 29. Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. A.A. Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v.; FG Düsseldorf, Urt. v. 12.9.1997 – 18 K 3026/92, EFG 1998, 714. BFH, Urt. v. 10.2.1987 – VII R 122/84, BStBl. II 1988, 313 (315); Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. BGH, Beschl. v. 21.2.2013 – IX ZR 219/12, ZInsO 2013, 608. BGH, Urt. v. 25.6.1992 – IX ZR 4/91, NJW 1992, 2421. BGH, Urt. v. 25.6.1992 – IX ZR 4/91, NJW 1992, 2421 (2423). Huber, § 4 AnfG Rz. 20; vgl. auch FG München, Urt. v. 28.7.2015 – 2 K 2935/12, juris.

239

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

7.55

Schenkungen in Vollziehung eines Schenkungsversprechens sind an sich mit der Gegenleistung verbunden, dass die Leistungsverpflichtung erlischt. Da es sich aber um einen Gesamtvorgang handelt, ist die Vollziehung eines Schenkungsversprechens nicht entgeltlich, sondern unentgeltlich i.S.d. § 4 AnfG.1 Erfolgt das Schenkungsversprechen freiwillig, aber der Schenkungsvollzug zwangsweise, so liegt schon im Schenkungsversprechen ein Anfechtungstatbestand, mit der Folge, dass die Anfechtungsfrist schon mit dem Schenkungsversprechen zu laufen beginnt. Ansonsten – der Schenkungsvollzug erfolgt freiwillig – beginnt die Anfechtungsfrist erst mit der Vollendung des Schenkungsvollzugs.2

7.56

Grundsätzlich ist die Sicherung eigener Schulden eine entgeltliche Verfügung.3 Dieses gilt unabhängig davon, ob die Bestellung einer Sicherheit Teil des Verpflichtungsgeschäfts war oder nicht4; denn auch die nachträgliche nicht geschuldete Bestellung einer Sicherheit ist eine entgeltliche Verfügung. Dies folgt daraus, dass eine Anfechtung des Sicherungsgeschäfts als Schenkungsanfechtung in weitergehendem Umfang möglich wäre als die Anfechtung des zugrunde liegenden Hauptgeschäfts, was dem Charakter des Sicherungsgeschäfts als Hilfsgeschäft nicht entspricht.5 Die Entgeltlichkeit der Sicherung ist jedoch zu verneinen, wenn das Grundgeschäft unentgeltlich ist. Abweichend von dieser Grundregel ist die Übersicherung zu beurteilen. Hier gelten die oben aufgeführten Überlegungen zur Aufteilung der Rechtshandlung in einen entgeltlichen oder unentgeltlichen Teil. Maßgeblich ist daher hier zunächst die Frage, ob eine solche Aufteilung möglich ist. Fehlt es daran, so ist danach zu entscheiden, ob die Bestellung der Sicherheit freigebig war oder nicht. Nur im letzten Fall kommen wir zu einer Entgeltlichkeit im vollen Umfang. Zu beachten ist aber m.E., dass von einer Übersicherung noch nicht auszugehen ist, wenn die Sicherheiten nur in geringem Umfang den Wert der Gegenforderung übersteigen. Hier muss schon ein krasser Gegensatz bestehen, um zu einem Anfechtungstatbestand zu gelangen.

7.57

Ein weiterer Problemfall ist die Übertragung von Grundeigentum, für die als „Gegenleistung“ die Einräumung eines lebenslangen Wohnrechts gewährt wird. Hier ist der Ersatzwert für das Wohnrecht als Gegenleistung außer Acht zu lassen; denn die Gläubiger erhalten für das übertragene Vermögen insoweit keinen Ausgleich an haftendem Vermögen. Zwar hat der Steuerschuldner sich gerade mit dem ihm eingeräumten Wohnungsrecht den weitergehenden wirtschaftlichen Wert der Immobilie bis an sein Lebensende vorrangig selbst gesichert. Der Anfechtungsgegner und der Steuerschuldner haben jedoch nicht die Überlassung des Wohnrechts an Dritte gestattet, so dass eine Zwangsvollstreckung des Anfechtungsgläubigers in dieses ausgeschlossen ist (§ 857 Abs. 3 ZPO, § 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB).6 Beim Nießbrauch ist die Beurteilung anders vorzunehmen,

1 2 3 4 5 6

BGH, Urt. v. 4.3.1999 – IX ZR 63/98, NJW 1999, 1549; Huber, § 4 AnfG Rz. 23. Huber, § 4 AnfG Rz. 23. Huber, § 4 AnfG Rz. 24. Mallach, StBp 1995, 110. BGH, Urt. v. 12.7.1990 – IX ZR 245/89, NJW 1990, 2626. BGH, Urt. v. 13.7.1995 – IX ZR 81/94, DB 1995, 2162 (2163); vgl. auch BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981, 751.

240

B. Anfechtungsvoraussetzungen

da die Überlassung der Ausübung des Nießbrauchrechts auch ohne besondere Gestattung möglich ist.1 Bei der Wertfeststellung der Gegenleistung bleibt die Übernahme von Grund- 7.58 pfandrechten außer Betracht, wenn nur die dingliche Belastung übergeht. Nur wenn der Anfechtungsgegner zugleich den Schuldner von der persönlichen Schuld befreit, liegt eine Gegenleistung vor.2 Es kommt in diesem Fall ausschließlich auf die Höhe der Valuten an. Ebenso bleiben Gegenleistungen unbeachtet, die nicht in Geldeswert angegeben 7.59 werden können. So ist die Übernahme einer Pflegeverpflichtung nicht bezifferbar, da sie dem Grunde nach und auch nach Art und Umfang im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses völlig ungewiss ist.3 Ferner ist zu beachten, dass eine unentgeltliche Verfügung nicht nachträglich in 7.60 eine entgeltliche umgewandelt werden kann. Einzelne Rechtshandlungen sind unabhängig voneinander zu beurteilen. Für die Frage der Unentgeltlichkeit kann nicht auf die Gesamtheit der Vermögensbeziehungen abgestellt werden, die sich zwischen den Beteiligten bis zum Zeitpunkt des Ergehens des Duldungsbescheids ergeben.4 Sog. unbenannte oder ehebedingte Zuwendungen sind unentgeltliche Zuwen- 7.61 dungen i.S.d. Anfechtungsrechts.5 Verfügungen, die durch Sitte oder Anstand geboten waren, sind nicht unentgeltlich.6 Fraglich ist, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist, wenn es um die Bestimmung 7.62 der Wertrelation geht. Hier ist m.E. der Zeitpunkt der Vollendung des jeweiligen Rechtserwerbs maßgeblich. 4. Anfechtung von Rechtshandlungen der Erben (§ 5 AnfG) Nach § 5 AnfG kann ein Nachlassgläubiger, der im Falle einer Nachlassinsol- 7.63 venz im Rang der betreffenden Person vorgeht oder gleichsteht, eine Zuwendung des Erben an diese Person aufgrund eines Pflichtteilsanspruchs, Vermächtnisses oder einer Auflage anfechten. 5. Anfechtung von Leistungen in Bezug auf Gesellschafterdarlehen (§ 6 AnfG) Ist der GmbH ein kapitalersetzendes Darlehen gewährt worden, so waren Leis- 7.64 tungen der GmbH – Sicherung oder Befriedigung – an diesen Gläubiger gem. § 6 AnfG a.F. anfechtbar. Diese Vorschrift hat in der Praxis wenig Bedeutung gehabt. 1 BGH, Urt. v. 13.7.1995 – IX ZR 81/94, DB 1995, 2162 (2163). 2 BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981, 751 (754); BGH, Urt. v. 20.10.2005 – IX ZR 276/02, WM 2006, 490; Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v.; vgl. auch FG Düsseldorf, Urt. v. 12.9.1997 – 18 K 3026/92, EFG 1998, 714. 3 Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. 4 BFH, Urt. v. 10.2.1987 – VII R 122/84, BStBl. II 1988, 313 (316). 5 FG Berlin, Urt. v. 16.3.2004 – 5 K 5464/01, EFG 2004, 959 m. Anm. Loose; Huber, § 4 AnfG Rz. 35. 6 BFH, Urt. v. 31.5.1983 – VII R 7/81, NJW 1983, 2160.

241

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

Die Finanzverwaltung konnte im Fall der Rückgewähr eines kapitalersetzenden Darlehens einfacher den Anspruch der GmbH auf Rückzahlung gem. § 31 GmbHG pfänden und sich überweisen lassen.1 7.65

Seit dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)2 gilt eine Regelung, wonach nicht nur kapitalersetzende Darlehen erfasst werden, sondern jegliche Darlehen. Es geht nicht mehr um „Kapitalersatz“, sondern um die Regelung von Gesellschafterdarlehen. Auf den Begriff „kapitalersetzend“ wurde daher folglich verzichtet. Es können daher sämtliche Rückzahlungen im fraglichen Zeitraum anfechtbar sein.3 In § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AnfG n.F. wurde der Anknüpfungspunkt, von dem an die Anfechtungsfrist von einem bzw. zehn Jahren zurückgerechnet wird, vorverlegt. Damit soll dem Gläubiger in seinem Dilemma geholfen werden, dass er zunächst viel Zeit verliert, um einen Vollstreckungstitel zu erlangen, und sodann erst nach vergeblichem Vollstreckungsversuch bei dem Schuldner die Anfechtung ausspricht und dadurch die Befriedigungshandlung aus dem Anfechtungszeitraum herausfällt.4

7.66

In diesen Fällen ist die Anfechtung ausgeschlossen, wenn nach dem Schluss des Jahres, in dem der Gläubiger den vollstreckbaren Schuldtitel erlangt hat, drei Jahre verstrichen sind (§ 6 Abs. 2 Satz 1 AnfG n.F.).5 6. Anfechtung von Rückzahlungen gesicherter Darlehen an Dritte (§ 6a AnfG)

7.67

Durch die Bestimmung des § 6a AnfG werden die Regelungen des § 32b GmbHG bzw. § 135 Abs. 2 InsO auch für den Anwendungsbereich des Anfechtungsgesetzes übernommen. Anfechtbar ist danach eine Rechtshandlung, mit der eine Gesellschaft einem Dritten für eine Forderung auf Rückgewähr eines Darlehens innerhalb der in § 6 AnfG genannten Fristen Befriedigung gewährt hat, wenn ein Gesellschafter für die Forderung eine Sicherheit bestellt hatte oder als Bürge haftete (§ 6a Satz 1 AnfG).

7.68

Die Rechtsfolge der Anfechtung ist in § 11 Abs. 3 AnfG geregelt. Danach hat im Fall der Anfechtung nach § 6a AnfG der Gesellschafter, der die Sicherheit bestellt hatte oder als Bürge haftete, die Zwangsvollstreckung in sein Vermögen bis zur Höhe des Betrags zu dulden, mit dem er als Bürge haftete oder der dem Wert der von ihm bestellten Sicherheit im Zeitpunkt der Rückgewähr des Darlehens oder der Leistung auf die gleichgestellte Forderung entspricht.

7.69

Ersatzweise kommt eine Zurverfügungstellung der Gegenstände, die zur Sicherheit dienten, in Betracht.

1 2 3 4 5

Mallach, StBp 1995, 110. MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. Regierungsentwurf, S. 133. Regierungsentwurf, S. 133. S. auch Lips/Randel/Werwigk, DStR 2008, 2225.

242

C. Rechtsfolgen einer wirksamen Anfechtung

C. Rechtsfolgen einer wirksamen Anfechtung Nach § 11 AnfG kann der Gläubiger, soweit es zu seiner Befriedigung erforder- 7.70 lich ist, beanspruchen, dass die Zuwendung „dem Gläubiger zur Verfügung gestellt“ wird, „soweit es zur dessen Befriedigung erforderlich ist“ (nach § 7 Abs. 1 AnfG a.F. war das Erlangte „zurückzugewähren“). Rückgewähr bedeutet nicht eine Rückübertragung des Vermögensgegenstandes vom Anfechtungsgegner auf den Schuldner, sondern Duldung der Zwangsvollstreckung in diesen Gegenstand.1 Der Anfechtungsgegner muss sich also so behandeln lassen, als wenn der Gegenstand noch im Vermögen des Schuldners wäre. Im Einzelnen lassen sich folgende Rückgewähransprüche konkretisieren:

7.71

– Bei Hingabe von Geld als Schenkung oder Darlehen besteht ein Zahlungsanspruch.2 – Bei anfechtbarer Forderungsabtretung, soweit die Forderung vom Anfechtungsgegner eingezogen worden ist, besteht ein Anspruch auf Wertersatz, also auf Zahlung des empfangenen Geldes; soweit das Geld noch nicht eingezogen worden ist, erfolgt die Zwangsvollstreckung durch Pfändung und Überweisung der Forderung.3 – Wie schon in Rz. 7.11) angesprochen, ist in den Fällen, in denen der Erwerb eines Anwartschaftsrechts angefochten wird, der Rückgewähranspruch darauf gerichtet, dass der Anfechtungsgegner von der Vormerkung keinen Gebrauch macht.4 – Wird ein Grundstück übertragen und behält sich der Steuerschuldner ein dinglich gesichertes lebenslanges Wohnrecht vor, so ist die Anfechtung der Grundstücksübertragung auf Duldung der Zwangsvollstreckung gerichtet, und die Anfechtung des eingeräumten Wohnrechts (§ 11 Abs. 2 AnfG), die sich gegen den Steuerschuldner richtet (ein selbständiger Anfechtungsbescheid gegen den Zweiterwerber ist daher erforderlich!), beinhaltet – aufgrund eines umfassenden Ausspruchs –, von dem anfechtbar erworbenen Recht keinen Gebrauch zu machen.5 – Bei einer Grundstücksübertragung ist der Anspruch nicht auf dessen Rückübertragung, sondern auf Duldung der Zwangsvollstreckung in das Grundstück gerichtet. – Bei einer Verpachtung eines Grundstücks oder Unternehmens besteht ein Anspruch auf die Nutzungen (z.B. auf den Gewinn des Unternehmens oder auf die Früchte des landwirtschaftlichen Grundstücks). Darüber hinaus besteht bei einem unzureichenden Pachtzins ein Anspruch auf Wertersatz.6 1 Huber, § 11 AnfG Rz. 16 f. 2 BFH, Urt. v. 24.2.1987 – VII R 23/85, BFH/NV 1987, 283 (285); Mallach, StBp 1995, 111; Huber, § 11 AnfG Rz. 20. 3 BAG, Urt. v. 17.2.1993 – 4 AZR 161/92, DB 1993, 1245; Mallach, StBp 1995, 111. 4 BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 m.w. Nachw. 5 BGH, Urt. v. 13.7.1995 – IX ZR 81/94, DB 1995, 2162 (2164); vgl. auch BFH, Urt. v. 14.7.1981 – VII R 49/80, BStBl. II 1981, 751 (753). 6 Weitere Beispiele sind bei Mallach, StBp 1995, 111, aufgeführt.

243

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

7.72

Der Rückgewähranspruch ist kein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung und daher nicht von der Prüfung abhängig, ob der Anfechtungsgegner (auf Dauer) bereichert ist.1 Ist der erworbene Gegenstand nachträglich untergegangen, in seinem Zustand verschlechtert oder in seinem Verkehrswert gemindert worden oder hat der Anfechtungsgegner die Herausgabe in Form der Duldung der Vollstreckung auf andere Weise unmöglich gemacht, ist der Rückgewähranspruch durch Wertersatz zu erfüllen. Der Wertersatzanspruch (Sekundäranspruch) stellt lediglich eine Modalität des Duldungsanspruchs dar. Der Anfechtungsgegner erfüllt die ihm obliegende Duldungspflicht (Rückgewährpflicht) infolge nachträglichen Eintritts der genannten Umstände nunmehr nicht mehr durch Duldung der Zwangsvollstreckung, sondern durch Zahlung von Wertersatz. Besondere Anfechtungsvoraussetzungen müssen für den Übergang auf den Wertersatzanspruch nicht vorliegen.2 Soweit eine unentgeltliche Leistung erbracht wurde, richtet sich der Wertersatz nach Bereicherungsrecht (s. § 11 Abs. 2 AnfG).

D. Zum Verfahren bei Inanspruchnahme durch Duldungsbescheid I. Duldungsbescheid 7.73

Nach dem AnfG kann die Anfechtung im Wege der Klage (§ 13 AnfG) oder im Wege der Einrede (§ 9 AnfG) geltend gemacht werden. Der Weg der (zivilrechtlichen) Klage kommt bei Anfechtung durch Finanzbehörden nicht in Betracht. Das BVerwG3 wie auch der BFH und das Schrifttum im Steuerrecht4 teilen die Rechtsansicht, dass die Finanzbehörden gem. § 191 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 befugt sind, denjenigen, der durch eine anfechtbare Rechtshandlung des Steuerschuldners einen Gegenstand erworben hat, durch Verwaltungsakt (Duldungsbescheid) in Anspruch zu nehmen. Dieser Auffassung wird zum Teil widersprochen.5 Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. März 19916 dürfte aber außer Zweifel stehen, dass die Finanzbehörden durch Duldungsbescheid gem. § 191 Abs. 1 AO Rechtshandlungen des Steuerschuldners nach dem AnfG anfechten können und der Finanzrechtsweg dagegen zulässig ist. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 vom 22. Dezem1 BFH, Urt. v. 25.4.2017 – VII R 31/15, juris. 2 BFH, Urt. v. 22.6.2004 – VII R 16/02, BStBl. II 2004, 923 (925); vgl. auch BFH, Urt. v. 31.7.1984 – VII R 151/83, BFHE 142, 99, BStBl. II 1985, 31; BFH, Beschl. v. 7.2.2002 – VII B 14/01, BFH/NV 2002, 757. 3 BVerwG, Beschl. v. 28.6.1990 – 8 B 64/90, NJW 1991, 242. 4 BFH, Urt. v. 31.5.1983 – VII R 7/81, BFHE 138, 416 (418 f.) = NJW 1983, 2160; Urt. v. 10.2.1987 – VII R 122/84, BStBl. II 1988, 313 = BFHE 149, 204 (205 f.); Urt. v. 29.3.1994 – VII R 120/92, BStBl. II 1995, 225; Urt. v. 15.10.1996 – VII R 35/96, BStBl. II 1997, 17 = BFHE 181, 268; Beschl. v. 1.12.2005 – VII B 95/05, BFH/NV 2006, 701; Urt. v. 30.3.2010 – VII R 22/09, BStBl. II 2011, 327; vgl. auch Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 5; Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 189. 5 FG München, Urt. v. 16.10.1981 – VIII 311/78, EFG 1982, 227; OLG Frankfurt, Urt. v. 28.9.1989 – 1 U 99/88; Kilger, BB 1988, 2440; vgl. Huber, § 7 AnfG Rz. 18 m.w. Nachw. insolvenzrechtlicher Literatur in Fn. 39. 6 BVerfG, Beschl. v. 18.3.1991 – 2 BvR 135/91, HFR 1991, 720.

244

D. Zum Verfahren bei Inanspruchnahme durch Duldungsbescheid

ber 19991 zu Zwecken der Klarstellung in § 191 Abs. 1 Satz 2 AO die Möglichkeit des Erlasses eines Duldungsbescheides aufgenommen hat.2 Zu beachten ist, dass im Falle einer Zivilklage des Anfechtungsgegners, z.B. durch Drittwiderspruchsklage, der später erlassene Duldungsbescheid der Finanzbehörde für die Zivilgerichte nicht bindend ist, solange er nicht bestands- oder rechtskräftig ist.3

II. Einrede Der Fall der Einrede (§ 9 AnfG) ist denkbar für die Situation, in der das Finanz- 7.74 amt in das in anfechtbarer Weise übertragene Vermögen vollstreckt und der Anfechtungsgegner Drittwiderspruchsklage (§ 262 AO, § 771 ZPO) erhoben hat.

III. Zuständigkeit Für den Duldungsbescheid ist das Finanzamt zuständig, das nach den Regeln 7.75 der §§ 17 ff. AO für die Vollstreckung gegenüber dem Steuerschuldner zuständig ist. Dies ergibt sich daraus, dass der Erlass des Duldungsbescheides Teil des Vollstreckungsverfahrens gegen den Steuerschuldner ist.4

IV. Rechtsschutzinteresse Eine Frage des Rechtsschutzinteresses im Zivilprozess – im finanzgericht- 7.76 lichen Prozess gegen einen Duldungsbescheid eine Frage der Verhältnismäßigkeit – ist der Einwand, statt der Anfechtung der Rechtshandlung bestünde ein auf einem anderen prozessualen Wege gleich sicherer, aber einfacher zu erreichender Weg zur Verfügung. Der Anfechtung einer Auflassungsvormerkung steht aber nicht entgegen, dass der Gläubiger andere sachenrechtliche Mittel hat, die Auflassungsvormerkung zu beseitigen (z.B. durch Pfändung und Einziehung eines Grundbuchberichtigungsanspruchs des Schuldners bzw. bei vorhandenen Sicherungshypotheken auch durch eigenen Berichtigungsanspruch).5 Im Übrigen s. unten zur Verhältnismäßigkeit bei Haftungs- und Duldungsbescheiden Rz. 9.80 ff.

V. Formvorschriften Der Duldungsbescheid muss schriftlich ergehen (§ 191 Abs. 1 Satz 3 AO). Er 7.77 muss den Ansprüchen der AO für Verwaltungsakte i.S.d. § 118 AO entsprechen. Er muss zunächst hinreichend bestimmt sein, d.h., er muss zu erkennen geben, wer der Duldungspflichtige und der Steuerschuldner, für dessen Schuld er eintre1 2 3 4 5

BGBl. I 1999, 2601. BFH, Beschl. v. 1.12.2005 – VII B 95/05, BFH/NV 2006, 701. BGH, Urt. v. 25.10.1990 – IX ZR 13/90, NJW 1991, 700. Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 213; Blesinger, S. 219. BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 226/94, NJW 1996, 3147 (3148).

245

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

ten soll, ist. Darüber hinaus sind die Steuerschuld nach Steuerart, Besteuerungszeitraum und Höhe,1 die anfechtbare Rechtshandlung und der Anfechtungstatbestand sowie der Vollstreckungsgegenstand, in den vollstreckt werden soll, zu bezeichnen.2 Das Gebot der genauen Bezeichnung des Anfechtungsgegenstandes bzw. der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit des Duldungsbescheids steht aber einer Auslegung nach den §§ 133, 157 BGB nicht entgegen.3 Ferner ist zumindest die Duldung der Zwangsvollstreckung auszusprechen. Eine genaue Konkretisierung ist nicht erforderlich. Auch ist zu begründen, weshalb der Anfechtungsgegner in Anspruch genommen wurde, d.h., es ist ein Hinweis erforderlich, dass die Vollstreckung gegen den Steuerschuldner fruchtlos war. Mangelt es an der Bestimmtheit, so ist der Duldungsbescheid gem. § 125 Abs. 1 AO nichtig. Fehlen die Angaben zur Steuerschuld, so ist der Bescheid zwar rechtswidrig, aber nach h.M. nicht nichtig.4 Das nach § 254 Abs. 1 Satz 1 AO erforderliche Leistungsgebot kann, muss aber nicht mit dem Duldungsbescheid verbunden werden.5 Das Leistungsgebot betrifft nur die Duldungspflicht, nicht jedoch die Zahlungspflicht (s. § 254 Abs. 1 Satz 1 AO). 7.78

Weiterhin ist zu beachten, dass vor Erlass des Duldungsbescheids eine Anhörung des Anfechtungsgegners erfolgen muss. Ein aufmerksamer Finanzbeamter wird diese Anhörung wegen eines ansonsten evtl. bestehenden Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG durchführen; denn die Anwaltskosten hat das Land unter bestimmten Bedingungen nach diesen Vorschriften zu tragen, wenn der Anfechtungsgegner nicht vorher angehört worden ist.6

7.79

Bei einem Duldungsbescheid handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO). Ein Ermessensfehler liegt z.B. nicht darin, dass das Finanzamt nicht im Duldungsbescheid erläutert, warum gerade der Anfechtungsgegner in Anspruch genommen wird und nicht weitere Duldungsschuldner. Denn der Gläubiger kann bis zur vollständigen Befriedigung seiner Forderung von jedem, der vom Schuldner etwas in anfechtbarer Weise erlangt hat, Erfüllung verlangen.7 Hat das Finanzamt vergeblich in das Vermögen des Vollstreckungsschuldners vollstreckt, reicht der Hinweis hierauf für das Ausüben des Entschließungsermessens aus.8

7.80

Die Inanspruchnahme des Duldungsverpflichteten ist nicht an die in § 191 Abs. 3 AO geregelten Festsetzungsfristen gebunden. Der Eintritt der Zahlungs-

1 BFH, Urt. v. 31.7.1979 – VII B 11/79, BStBl. II 1979, 756; FG München, Urt. v. 28.11.2006 – 6 K 5289/01, EFG 2007, 324. 2 Der Duldungsbescheid ist auch dann noch hinreichend bestimmt ist, wenn er unter einem Änderungsvorbehalt ergeht und nicht ersichtlich ist, in welchem Umfang eine Änderung vorbehalten ist, s. BFH, Beschl. v. 2.8.2012 – VII B 64/12, BFH/NV 2013, 205. 3 BFH, Beschl. v. 8.2.2001 – VII B 82/00, BFH/NV 2001, 1003. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 143 m.w. Nachw.; a.A. FG Brandenburg, Urt. v. 23.3.2000 – 4 K 658/99, EFG 2000, 663. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 145. 6 Vgl. LG Münster, Urt. v. 28. 1.1.1993 – 11 O 621/92 u. LG Paderborn, Urt. v. 15.12.1993 – 4 O 518/93; Nacke, DStZ 1996, 20 (25); Hermes, DStZ 1996, 9 (12). 7 Niedersächsisches FG, Urt. v. 7.6.1994 – XV 470/92, n.v. 8 BFH, Beschl. v. 28.5.2003 – VII B 106/03, BFH/NV 2003, 1146.

246

D. Zum Verfahren bei Inanspruchnahme durch Duldungsbescheid

verjährung hinsichtlich der Forderung bewirkt das Erlöschen dieser Forderung, so dass die Vollstreckung nach § 257 Abs. 1 Nr. 3 AO einzustellen oder zu beschränken ist und damit auch die Duldungspflicht entfällt. Als Vollstreckungsmaßnahme durchbrechen aber der Erlass des Duldungsbescheides und die darauf gestützten Vollstreckungsmaßnahmen die Zahlungsverjährung nach § 231 Abs. 1 AO.

VI. Rechtsbehelfsverfahren Gegen den Duldungsbescheid ist der zulässige Rechtsbehelf gem. § 347 Abs. 1 7.81 Nr. 1 AO der Einspruch. Gegen den Einspruchsbescheid ist die Klage vor dem Finanzgericht zulässig.1 Nach einer Entscheidung des BGH soll bei einer Ankündigung des Duldungsbescheids durch das Finanzamt die negative Feststellungsklage vor den ordentlichen Gerichten zulässig sein.2 Tipke/Kruse weisen zu Recht darauf hin, dass eine Rechtswegspaltung hier abzulehnen sei. Der Rechtsweg könne nicht davon abhängig sein, ob die Gläubigeranfechtung angekündigt oder schon durch Bescheid geltend gemacht worden ist.3 Will sich der Anfechtungsgegner gegen eine Anfechtungsankündigung wehren, so kann er dieses unter Umständen mittels einer allgemeinen Leistungsklage auf Unterlassung der Gläubigeranfechtung vor dem zuständigen Finanzgericht erreichen.4 Der Anfechtungsgegner kann in einem Verfahren gegen den Duldungsbescheid 7.82 alle Einwendungen gegen die Festsetzung der Steuer erheben, die auch der Steuerschuldner geltend machen kann. Er muss aber – anders als beim Haftungsbescheid – bestandskräftige Bescheide gegen sich gelten lassen. Dieses folgt daraus, dass eine Anfechtung einen vollstreckbaren Titel gem. § 2 AnfG voraussetzt.5 Jedoch bleiben ihm Einwendungen erhalten, die nachträglich entstanden sind (arg. aus § 767 Abs. 2 ZPO).6 Die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Duldungsbescheids hat sich auch auf die Höhe des vom Finanzamt geforderten Betrags und auf die vom Adressaten der Duldungsverfügung geltend gemachten Entreicherungspositionen zu erstrecken.7 Eine einem Schuldner im Rahmen eines Insolvenzverfahrens gewährte Schuldbefreiung ist kein dem Anfechtungsgegner zustehender Einwand.8

1 BGH, Beschl. v. 27.7.2006 – IX ZB 141/05, DStZ 2006, 711; FG Berlin, Urt. v. 16.3.2004 – 5 K 5464/01, EFG 2004, 959; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 148. 2 BGH, Urt. v. 29.11.1990 – IX ZR 265/89, NJW 1991, 1061. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 148. 4 Ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 148. 5 BFH, Urt. v. 1.3.1988 – VII R 109/86, BStBl. II 1988, 408; Huber, § 2 AnfG Rz. 32.; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 150; Mallach, StBp 1995, 111. 6 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 150. 7 BFH, Beschl. v. 2.8.2012 – VII B 64/12, BFH/NV 2013, 205. 8 BGH, Urt. v. 12.11.2015 – IX ZR 301/14, MDR 2016, 236.

247

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

7.83

Ist es vor der Eröffnung der Insolvenz des Steuerschuldners zu einem Klageverfahren wegen eines Duldungs- und Anfechtungsbescheides vor einem Finanzgericht gekommen, so ist dieses Verfahren gem. § 17 Abs. 1 AnfG unterbrochen.1 Der Insolvenzverwalter kann das Verfahren anstelle des Insolvenzgläubigers aufnehmen.2 Die zunächst als Anfechtungsklage gegen den Duldungsbescheid erhobene, dem Finanzrechtsweg zugewiesene Klage ist auch nach Übernahme durch den Insolvenzverwalter vom Finanzgericht zu entscheiden. Eine Verweisung kommt nicht in Betracht.3

7.84

Bleibt zu erwähnen, dass sich die Änderung des Duldungsbescheids nach §§ 129 ff. AO richtet und Rechtsbehelfe gegen ihn keine aufschiebende Wirkung haben.4 Der Streitwert eines Verfahrens gegen den Duldungsbescheid – auch einer Nichtzulassungsbeschwerde – richtet sich grundsätzlich nach der Forderung, derentwegen durch den Duldungsbescheid die Anfechtung nach dem AnfG erfolgt ist.5 Wenn allerdings der Wert des übertragenen Vermögens geringer ist als die Forderung des Finanzamtes gegen den Steuerschuldner, ist auch der Streitwert dementsprechend geringer.

VII. Anfechtung noch nicht fälliger Steuerschulden 7.85

Es wird oft die Situation gegeben sein, dass der Steuerschuldner schon Vermögensverschiebungen vornimmt, obwohl eine Steuerforderung noch nicht festgesetzt oder zumindest noch nicht fällig ist. Beispielsweise ist eine solche Situation bei Betriebsprüfungen oder Steuerfahndungsprüfungen gegeben. Die Anfechtungsfrist kann die Finanzbehörde in diesem Fall dadurch wahren, dass dem Anfechtungsgegner die Anfechtung zunächst schriftlich angekündigt und

1 BFH, Urt. v. 29.3.1994 – VII R 120/92, BStBl. II 1995, 225. Dies gilt auch für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bzw. eines entsprechenden Verfahrens in einem anderen Staat der Europäischen Union, s. BFH, Beschl. v. 9.2.2015 – VII B 104/13, BFH/NV 2015, 858. Eine Unterbrechung tritt aber insoweit in Bezug auf ein AdV-Verfahren, das einen Duldungsbescheid zum Gegenstand hat, nicht ein, es fehlt dann aber am Rechtsschutzinteresse, s. BFH, Beschl. v. 27.8.2014 – VII B 37/14, BFH/NV 2015, 3; vgl. auch BFH, Beschl. v. 30.8.2010 – VII B 83/10, BFH/NV 2010, 2298; Beschl. v. 26.2.2014 – VII B 53/13, BFH/ NV 2014, 1084. 2 BFH, Urt. v. 18.9.2012 – VII R 14/11, BStBl. II 2013, 128; FG Schleswig-Holstein Urt. v. 1.2.2011 – 3 K 57/10, EFG 2011, 1230; a.A. Niedersächsisches FG, Beschl. v. 20.9.1994 – XV 377/91, EFG 1994, 1066 u. noch Voraufl. 3 BFH, Urt. v. 18.9.2012 – VII R 14/11, BStBl. II 2013, 128. 4 OVG Koblenz, Beschl. v. 11.1.1989 – 6 B 79/88, NJW 1989, 1878; OVG Saarland, Beschl. v. 12.10.2007 – 1 B 340/07, NJW 2008, 250; einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Duldungsbescheids nach § 69 Abs. 3 FGO fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn das insolvenzrechtliche Vollstreckungsverbot des § 89 InsO greift, eine nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlangte Sicherung nach § 88 InsO unwirksam ist und einstweiliger Rechtsschutz auf dem Zivilrechtsweg erlangt werden kann (BFH, Beschl. v. 30.8.2010 – VII B 83/10, BFH/NV 2010, 2298). Nach FG Münster, Urt. v. 13.5.2016 – 7 S 814/14 AO, EFG 2016, 1140, besteht während der Aussetzung der Vollziehung eines Duldungsbescheides keine Möglichkeit, die Forderung aus dem Duldungsbescheid mit abgetretenen Ansprüchen aus einem Kostenfestsetzungsbeschluss aufzurechnen. 5 BFH, Beschl. v. 12.12.1995 – VII B 160/94, BFH/NV 1996, 433.

248

D. Zum Verfahren bei Inanspruchnahme durch Duldungsbescheid

innerhalb von zwei Jahren nach Ankündigung die Rechtshandlung angefochten wird. Dieses ergibt sich aus § 7 Abs. 2 AnfG. Formell hat das Finanzamt zu beachten, dass im Ankündigungsschreiben die Abgabenrückstände zweifelsfrei genannt werden.1 Im Übrigen siehe zur Anfechtungsankündigung Rz. 7.37 ff.

VIII. Folgen einer erfolgreichen Anfechtung

Û

1. Hinweis: Gelingt es dem Steuerberater, den Duldungsbescheid erfolgreich 7.86 gerichtlich anzufechten, weil dieser z.B. wegen fehlender Bestimmtheit rechtswidrig ist, kann die Finanzbehörde zwar erneut einen diesmal rechtmäßigen Duldungsbescheid erlassen; doch häufig steht dem der Ablauf der Anfechtungsfrist entgegen, so dass es für einen hinreichend konkreten Duldungsbescheid oftmals zu spät ist.

Û

2. Hinweis: Mit der erfolgreichen Anfechtung eines Duldungsbescheides 7.87 wird zunächst nur dieser Duldungsbescheid aus der Welt geräumt. Ist im Wege der Vollstreckung des Duldungsbescheides, z.B. bei der Übertragung eines Grundstücks, eine Sicherungshypothek in das Grundbuch eingetragen worden, so kann mit der Anfechtungsklage gegen den Duldungsbescheid nicht gleichzeitig die Löschung dieser Sicherungshypothek verlangt werden. Es handelt sich hierbei um einen eigenständigen Streitgegenstand. Der Anfechtungsgegner kann die Eintragung der Sicherungshypothek nur durch Einspruch gegen den Eintragungsantrag des Finanzamtes beim Grundbuchamt anfechten, da es sich hierbei ihm gegenüber um einen selbständigen Verwaltungsakt handelt.2

Prüfungsschema für eine Anfechtung nach AnfG I. 1. 2.

3.

7.88

Allgemeine Voraussetzungen Maßgeblicher Rechtshandlung i.S.d. § 1 AnfG (hierzu gehören nicht Zeitpunkt: nur Willenserklärungen, sondern auch Handlungen, die eine rechtliche Wirkung auslösen) Fällige Ansprüche auf Steuern oder steuerliche Nebenleistungen (–) bei ausgesetzten Forderungen (Anfechtungsankündigung möglich) Vollstreckbarer Anspruch –––––––––––––––––––––––––––. Anfechtung (+) bei bestandskräftigen Forderungen (+) bei Säumniszuschlägen Bei vorläufig vollstreckbaren Ansprüchen ist § 14 AnfG zu beachten: a) Duldungsbescheid darf Leistungsgebot nicht enthalten b) Stattdessen ist in den Bescheid die Bedingung der fehlenden Bestandskraft aufzunehmen

1 Mallach, StBp 1995, 111. 2 BFH, Urt. v. 17.10.1989 – VII R 77/88, BStBl. II 1990, 44; Beschl. v. 26.6.1997 – VII B 52/97, BFH/NV 1997, 830 (831).

249

Kap. 7 Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG)

4. 5.

6.

Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens –––––––––––. Erlass der EinObjektive Benachteiligung des Gläubigers spruchsentschei(–), wenn Vermögen des Schuldners wertlos oder dung unpfändbar (–), wenn gleichwertiger Gegenstand wiedererlangt wird Ausscheidung des Vermögensgegenstandes aus dem Vermögen des Schuldners (+) bei Pflichtteilsanspruch (–) bei Erbschaftsausschlagung

II. Besondere Voraussetzungen 1. Vorsätzliche Benachteiligung (§ 3 Abs. 1 AnfG) a) Vorsatz des Steuerschuldners, den Gläubiger zu Vollendung der benachteiligen (dolus eventualis genügt) ––––––––––. Rechtshandlung b) Kenntnis des Anfechtungsgegners von dem Benachteiligungsvorsatz. Positive Kenntnis erforderlich. ––. Vollendung der Beachte aber Beweislastumkehr nach § 3 Abs. 1 Rechtshandlung Satz 2 AnfG c) Anfechtungsfrist 10 Jahre (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AnfG) 2. Entgeltliche Verträge mit nahen Angehörigen (§ 3 Abs. 2 AnfG) a) Entgeltlicher Vertrag zwischen Steuerschuldner und bestimmten Angehörigen b) Benachteiligungsvorsatz des Steuerschuldners (wird vermutet; jedoch Gegenbeweis möglich) c) Kenntnis des Anfechtungsgegners von dem Benachteiligungsvorsatz (wird vermutet; jedoch Gegenbeweis möglich) d) Anfechtungsfrist 2 Jahre nach Vertragsabschluss Bei Grundbesitz 3. Schenkungsanfechtung (§ 4 Abs. 1 AnfG) Eintragung ins a) Unentgeltliche Zuwendung Grundbuch b) Anfechtungsfrist 4 Jahre nach der Zuwendung –––––. Bei Grundbesitz Eintragung ins Grundbuch

250

D. Zum Verfahren bei Inanspruchnahme durch Duldungsbescheid

Abgrenzung unentgeltliche/entgeltliche Zuwendung

7.89

251

4. Teil Verfahren und allgemeine Grundsätze des Haftungsrechts Kapitel 8 Im Vorfeld der Inanspruchnahme A. Ermittlung der Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.2

C. Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . .

B. Haftungsankündigung . . . . . . . . .

8.10

8.12

Bevor das Finanzamt einen Haftungsschuldner bzw. Duldungspflichtigen in An- 8.1 spruch nimmt, wird es im Einzelnen festzustellen haben, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der Haftungsnorm erfüllt sind, in welcher Höhe die Haftungsschuld besteht, ob die Festsetzungsverjährung für eine Haftung gem. § 191 Abs. 3 AO eingetreten ist, ob die Festsetzungsfrist für die Steuer, soweit sie nicht festgesetzt worden ist, noch nicht abgelaufen ist (§ 191 Abs. 5 AO), ob die festgesetzte Steuer noch nicht verjährt ist (§ 191 Abs. 5 AO), ob bei einem Duldungsbescheid die Vollstreckungsvoraussetzungen für die Steuerschuld vorliegen, ob alle Grundlagen für eine rechtmäßige Ermessensentscheidung gegeben sind und ob die Steuerschuld nicht durch Zahlung, Aufrechnung oder Erlass schon erloschen ist. Erst wenn alle diese Fragen beantwortet sind, darf die Finanzverwaltung einen Haftungs- oder Duldungsbescheid erlassen.

A. Ermittlung der Haftungsvoraussetzungen Bei der Ermittlung dieser Voraussetzungen kann die Finanzverwaltung auf eine Reihe von Verfahrensvorschriften zurückgreifen. Insbesondere sind sie in den §§ 88, 90 bis 93, 97 AO geregelt.

8.2

Zunächst soll sich das Finanzamt an den potentiellen Haftungs- oder Duldungs- 8.3 schuldner wenden. Das Finanzamt darf ihn zur Beantwortung des Fragebogens zur Haftungsinanspruchnahme auffordern.1 Dieser ist Beteiligter i.S.d. §§ 90 Abs. 1 und 93 Abs. 1 i.V.m. § 78 Nr. 2 AO. Kommt dieser seiner Mitwirkungspflicht nicht nach oder ist weitere Sachaufklärung erforderlich, kann das Finanzamt nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AO auch den Steuerschuldner um Auskunft ersuchen. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über eine GmbH ist in erster Linie der 8.4 Insolvenzverwalter Auskunftspflichtiger, da sich bei ihm die Buchführungsunterlagen befinden.2 Dieses gilt auch für die Zeiträume vor der Insolvenzeröff1 Niedersächsisches FG, Beschl. v. 21.12.2009 – 11 K 503/08, n.v. 2 BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570.

253

Kap. 8 Im Vorfeld der Inanspruchnahme

nung. Der frühere Vertreter der GmbH ist nicht mehr zur Auskunft verpflichtet, zumindest gilt dies, soweit er nicht aus dem Gedächtnis heraus oder ihm vorliegender Unterlagen Auskunft geben kann (§ 93 Abs. 3 Satz 2 AO). 8.5 8.6

8.7

Û

Hinweis: Der Haftungsschuldner hat nur diejenigen Auskünfte zu erteilen, die er anhand seiner Unterlagen geben kann.

Der Haftungs- oder Duldungsschuldner hat im Fall einer unterlassenen oder unzureichenden Auskunft mit rechtlichen Folgen zu rechnen. Einerseits könnte die Verletzung dieser Mitwirkungspflicht durch Schweigen oder eine ungerechtfertigte Weigerung, solche in seinem Wissensbereich liegende Auskünfte zu erteilen, gegen den Geschäftsführer verwertet werden.1 Andererseits kann die Befolgung der Auskunftspflicht gem. §§ 328 ff. AO erzwungen werden.2 Vor allem die Festsetzung eines Zwangsgeldes wird hier in Betracht kommen. Die Verletzung der Mitwirkungspflicht kann z.B. dadurch dem Haftungs- oder Duldungsschuldner zum Nachteil gereichen, dass für den Haftungs- oder Duldungsbescheid von einem ungünstigen Sachverhalt ausgegangen wird, sofern dieser eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Insbesondere bei der Haftung nach §§ 34, 69 AO kann die Finanzbehörde im Wege der Schätzung die Höhe der Haftungssumme – ohne Abstriche von der Steuerschuld vorzunehmen – festlegen, wenn der Haftungsschuldner nicht die Mittelverwendung nachweist.3

Û

Hinweis: Der Haftungs- oder Duldungsschuldner hat zu beachten, dass bei Verweigerung seiner Mitwirkung rechtlich nachteilige Schlussfolgerungen durch die Finanzbehörde gezogen werden können und dass die Festsetzung eines Zwangsgeldes möglich ist.

8.8

Die Finanzbehörde hat weiterhin die Möglichkeit, sich Urkunden und sonstige Unterlagen zur Einsicht und Prüfung vorlegen zu lassen (§ 97 Abs. 1 AO). Jedoch ist grundsätzlich erst nach einem Auskunftsersuchen die Vorlage zu verlangen (§ 97 Abs. 2 AO). Die Vorlage an Amtsstelle setzt aber voraus, dass die Unterlagen zur Vorlage geeignet sind. Z.B. ist dieses nicht der Fall, wenn ihr Umfang eine Vorlage beim Finanzamt unzumutbar erscheinen lässt, sie wegen der besonderen Aufbewahrungsform nur beim Haftungsschuldner verbleiben oder nur unter Verwendung bestimmter Hilfsmittel gelesen werden können.

8.9

Der Haftungssachverhalt darf auch bei Gelegenheit einer Außenprüfung festgestellt werden.

1 BFH, Urt. v. 8.7.1982 – V R 7/76, BFHE 137, 1; Urt. v. 9.10.1985 – I R 154/82, BFH/NV 1986, 321; Urt. v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570; FG Münster, Beschl. v. 12.3.1998 – 8 V 6444/97 (rkr.), StEd 1998, 533; OFD Hannover AO-Kartei § 191 Karte 2. 2 BFH, Urt. v. 11.7.1989 – VII R 81/87, BStBl. II 1990, 357. 3 Vgl. BFH, Urt. v. 9.10.1985 – I R 154/82, BFH/NV 1986, 321; Urt. v. 26.12.1989 – VII R 99/87, BFH/NV 1990, 351.

254

C. Akteneinsicht

B. Haftungsankündigung Das Finanzamt verwendet für das Auskunftsersuchen einen besonderen Vor- 8.10 druck. Hiermit kommt es gleichzeitig der Anhörungspflicht nach (s. Muster einer Anhörung unter 5. Teil M 1). Nach § 91 Abs. 1 Satz 1 AO soll demjenigen, in dessen Rechte durch einen Verwaltungsakt eingegriffen werden soll, Gelegenheit gegeben werden, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Das Finanzamt weist den Haftungsschuldner mit dem Vordruck auch auf die Möglichkeit einer Haftungsinanspruchnahme hin und fordert ihn zur Stellungnahme innerhalb einer bestimmten Frist auf. Sollte eine vorherige Anhörung des potentiellen Haftungs- oder Duldungs- 8.11 schuldners unterblieben sein, so wird der Haftungs- oder Duldungsbescheid zwar rechtswidrig. Dieser Verfahrensfehler ist aber heilbar. Die Anhörung kann gem. § 126 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 AO bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens nachgeholt werden.1

C. Akteneinsicht Das Recht zur Akteneinsicht resultiert nicht aus dem Recht der Anhörung. Wie 8.12 allgemein im Steuerverwaltungsverfahren gibt es auch hier keinen gesetzlichen Anspruch darauf.2 Gleichwohl schließt dies jedoch nicht aus, dass die Finanzbehörde Akteneinsicht gewährt. Soweit dabei Verhältnisse des Steuerschuldners offengelegt werden, die für die Durchführung des Haftungsverfahrens erforderlich sind, wird das Steuergeheimnis nicht verletzt.3

1 Vgl. Britz, Rz. 482. 2 Vgl. Dißars, NJW 1997, 481; Hüttemann, NJW 1997, 2020. 3 Mösbauer, S. 281 f.

255

Kapitel 9 Einspruchsverfahren A. Zulässigkeit des Einspruchs I. Statthaftigkeit, Form und Frist . . II. Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einspruchsverzicht . . . . . . . . . . . IV. Sammelhaftungsbescheid . . . . . . B. Begründetheit des Einspruchs I. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . II. Formelle Rechtmäßigkeit des Haftungs- und Duldungsbescheids 1. Zuständigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmtheit, Form und Inhalt des Haftungs- oder Duldungsbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sammelhaftungsbescheid . . . . . . 4. Festsetzungsverjährung a) Haftung nach steuerrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . aa) Beginn der Festsetzungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anlaufhemmung. . . . . . . . cc) Ablaufhemmung. . . . . . . . (1) § 191 Abs. 3 Satz 4 1. Halbsatz AO . . . . . . . . . (2) § 191 Abs. 3 Satz 4 2. Halbsatz AO . . . . . . . . .

9.1 9.9 9.13 9.14 9.15

9.16 9.17 9.26 9.33 9.35 9.37 9.38 9.39

(3) § 191 Abs. 3 Satz 5 AO. . . (4) § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a Satz 1 AO . . b) Haftung nach zivilrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . 5. Anhörung der zuständigen Berufskammer gem. § 191 Abs. 2 AO. . 6. Rechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . III. Materielle Rechtmäßigkeit des Haftungs- und Duldungsbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Akzessorietät der Haftung . . . . . 2. Ausschluss der Inanspruchnahme gem. § 191 Abs. 5 AO . . . 3. Verwirkung eines Haftungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ermessensentscheidung a) Allgemeine Ausführungen. . . b) Entschließungsermessen . . . . c) Auswahlermessen . . . . . . . . . d) Darstellung der Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . e) Spezielle Ermessensgrundsätze aa) Lohnsteuerhaftung. . . . . . bb) Andere Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . .

9.46 9.47 9.50 9.54 9.57

9.58 9.59 9.78 9.79 9.80 9.83 9.90 9.94 9.98 9.106

9.43

A. Zulässigkeit des Einspruchs I. Statthaftigkeit, Form und Frist 9.1

Gegen den Haftungs- oder Duldungsbescheid ist der Rechtsbehelf des Einspruchs gem. § 347 Abs. 1 Nr. 1 AO zulässig.

9.2

Wie bei allen Rechtsbehelfen ist zu prüfen, ob der Einspruch statthaft ist, die Form beachtet und der Einspruch rechtzeitig eingelegt wurde. Nach § 347 Abs. 1 AO ist der Einspruch gegen Verwaltungsakte der in den folgenden Nummern näher bestimmten Art statthaft. Als Verwaltungsakt ist daher der Haftungs- oder Duldungsbescheid anfechtbar. Dies gilt auch dann, wenn er nicht nur rechtswidrig, sondern auch nichtig ist. Statthaft ist der Einspruch nicht nur gegen den Haftungs- oder Duldungsbescheid, sondern auch gegen diesbezügliche Änderungsund Aufhebungsbescheide.

9.3

Der Einspruch ist gem. § 357 Abs. 1 AO schriftlich oder zur Niederschrift einzulegen. Er ist bei der Behörde, die den Haftungs- oder Duldungsbescheid erlas-

256

A. Zulssigkeit des Einspruchs

sen hat, einzureichen. Die Schriftform ist gewahrt, wenn der Einspruch per Telefax erfolgt. Ferner ist der Einspruch gem. § 355 AO innerhalb eines Monats nach Bekannt- 9.4 gabe des Haftungs- oder Duldungsbescheids einzulegen. Wird Letzterer nicht förmlich zugestellt (Einschreiben, Empfangsbekenntnis oder Postzustellungsurkunde), so ist wegen der Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO von einer Bekanntgabe des Bescheides erst am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post auszugehen.

Û

Hinweis: Da das Finanzamt den Zugang nachweisen muss und der Postaus- 9.5 gangsvermerk auf der Aktenausführung des Bescheids diesen Nachweis nicht erbringt, ist die Bekanntgabefiktion nicht anzuwenden, wenn der Haftungsschuldner den Zugang des Bescheides als solchen bestreitet.1

Bei der Berechnung des Dreitageszeitraumes sind Sonnabende, Sonn- und ge- 9.6 setzliche Feiertage nicht zu berücksichtigen.2 Fehlt dem Bescheid die Rechtsbehelfsbelehrung, so beginnt die Frist nicht zu laufen (§ 356 Abs. 1 AO). Der Einspruch kann dann gem. § 356 Abs. 2 AO binnen eines Jahres seit Be- 9.7 kanntgabe des Verwaltungsaktes eingelegt werden. Notwendiger Inhalt der Belehrung ist die Information über den richtigen Rechtsbehelf, die Angabe der Behörde, bei der er anzubringen ist, und Angabe der Frist einschließlich ihres Beginns. Über die Jahresfrist des § 356 Abs. 2 AO hinaus ist der Einspruch zulässig, wenn die Einlegung des Rechtsbehelfs durch höhere Gewalt verhindert wurde oder wenn die Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Einspruch nicht gegeben sei (§ 356 Abs. 2 Satz 1 2. HS AO). Zur Fristberechnung sind über § 108 Abs. 1 AO die Vorschriften der §§ 187 ff. BGB heranzuziehen. Gem. § 187 Abs. 1 BGB beginnt die Frist mit dem Tag, der dem Bekanntgabetag folgt. Sie endet nach § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des Tages des folgenden Monats, der durch seine Zahl dem Tag entspricht, in den die Bekanntgabe gefallen ist. Fällt das Fristende auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, so schiebt § 193 BGB es auf den nächsten Werktag hinaus. Wie generell im Verwaltungsrecht so gibt es bei versäumter Einspruchseinlegung 9.8 die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 AO. Dem Haftungsschuldner ist Wiedereinsetzung auf Antrag zu gewähren, wenn er ohne Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Entscheidung über diesen Antrag ist kein selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt, sondern Bestandteil der Rechtsbehelfsentscheidung, so dass die Ablehnung des Antrags und ihre Begründung in der Einspruchsentscheidung aufgenommen werden. Damit kann sie im gerichtlichen Verfahren uneingeschränkt überprüft werden. Zu beachten ist aber, dass auch der Wiedereinsetzungsantrag an Zulässigkeitsvoraussetzungen gebunden ist (s. § 110 Abs. 2 AO).3 1 BFH, Urt. v. 5.12.1974 – V R 111/74, BStBl. II 1975, 286; Seer in Tipke/Kruse, § 122 AO Rz. 58. 2 BFH, Urt. v. 14.10.2003 – IX R 68/98, BStBl. II 2003, 898. 3 Da diese allgemein geltenden Regeln zur Zulässigkeit des Einspruchs auch bei einem Haftungs- oder Duldungsbescheid gelten, sind im Einzelnen die einschlägigen Kommentare heranzuziehen.

257

Kap. 9 Einspruchsverfahren

II. Beschwer 9.9

Der Einspruch ist unzulässig, wenn der Einspruchsführer durch den Haftungsoder Duldungsbescheid nicht beschwert ist. Der Rechtsbehelfsführer muss behaupten, gerade er sei als der unmittelbar selbst Betroffene durch den Haftungsoder Duldungsbescheid in rechtlich geschützten Interessen verletzt. Eine Beschwer ist daher grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn – unterstellt der Vortrag des Einspruchsführers sei richtig – ein anderer Tenor ausgesprochen werden muss.

9.10

Einen besonderen Fall der inhaltlichen Beschränkung der Rechtsbehelfsbefugnis regelt § 351 AO. Die Vorschrift stellt klar, dass Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, nur insoweit angegriffen werden können als die Änderung reicht. Ausgenommen sind die Korrekturvorschriften. Die Vorschrift soll verhindern, dass der Einspruchsführer nach Ergehen eines Änderungsbescheides nicht besser gestellt wird, als er vor Ergehen dieses Bescheides und nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des geänderten Verwaltungsaktes gestanden hat.

9.11

Beispiel: Ein bestandskräftiger Haftungsbescheid wird gem. § 130 Abs. 1 AO zum Teil zurückgenommen. Nach Ansicht des BFH1 gilt § 351 AO nur für änderbare Bescheide – also Steuerbescheide oder ihnen gleichgestellte Bescheide –, nicht aber für sonstige Verwaltungsakte, die gem. § 130 AO zurückgenommen oder nach § 131 AO widerrufen werden. Danach könnte der Einspruchsführer bei seinem Einspruch gegen den neuen Bescheid mit allen Einwendungen gehört werden.

9.12

Nach einer abweichenden Ansicht der Literatur gilt auch hier § 351 AO2, so dass die Rechtsbehelfsbefugnis des Einspruchsführers im Beispiel oben eingeschränkt ist. Nach anderer Rechtsprechung des BFH3 bleibt bei einer Teilrücknahme der bestehen gebliebene Teil des Haftungsbescheides unberührt. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass auch Einwendungen gegen diesen Teil nicht mehr nach Unanfechtbarkeit berücksichtigt werden müssten.4 M.E. ist diese Schlussfolgerung generell zu ziehen. Der BFH verkennt in seiner Entscheidung von 1984 die Bedeutung des unberührt gebliebenen Teils des ursprünglichen Haftungsbescheides, selbst wenn in dem entschiedenen Fall nach § 68 FGO der Bescheid über die Teilrücknahme Gegenstand des Verfahrens vor dem FG wurde. Es kommt m.E. daher nicht mehr auf die Frage an, ob § 351 AO auch für Teilrücknahmen nach § 130 AO gilt, sondern darauf, dass die Teilrücknahme keinerlei Rechtswirkungen für den übrigen Teil entfaltet, mithin die vorherige Unanfechtbarkeit auch nach der Teilrücknahme zu beachten ist. Abgesehen davon würde diese Ansicht des BFH gegen das berechtigte Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit verstoßen. Noch viele Jahre nach Erlass des Haftungsbescheides kann ein begründeter Anspruch auf Rücknahme (Teilrücknahme) des Haftungsbescheides unter Umständen bestehen (s. unten zur Rücknahme eines Haftungsbescheides Rz. 11.10 ff.). Die Ansicht des BFH in seiner 1 BFH, Urt. v. 24.7.1984 – VII R 122/80, BStBl. II 1984, 791; a.A. Seer in Tipke/Kruse, § 351 AO Rz. 6. 2 Seer in Tipke/Kruse, § 351 AO Rz. 6 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 28.1.1982 – V R 100/80, BStBl. II 1982, 292; Urt. v. 6.8.1996 – VII R 77/95, INF 1997, 26. 4 BFH, Urt. v. 24.7.1984 – VII R 122/80, BStBl. II 1984, 791 (794).

258

B. Begrndetheit des Einspruchs

Entscheidung von 1984 würde dann zur Folge haben, dass eine Gesamtaufrollung, also eine materiell-rechtliche Sachprüfung, des Falles auch dann erfolgen müsste.

III. Einspruchsverzicht Der Einspruch ist ferner unzulässig, wenn der Haftungsschuldner auf den 9.13 Rechtsbehelf verzichtet hat (§ 354 AO). Ein Verzicht auf Einlegung des Einspruchs ist jedoch nur dann zu berücksichtigen, wenn er nach Erlass des Haftungs- oder Duldungsbescheids erklärt worden ist.

IV. Sammelhaftungsbescheid Im Rahmen der Zulässigkeit des Einspruchs ist zu prüfen, ob der gesamte 9.14 Haftungsbescheid oder nur ein selbständiger Teil eines sog. Sammelhaftungsbescheides angefochten wurde und spätere Einwendungen gegen die anderen selbständigen Teile wegen mittlerweile eingetretener Bestandskraft unzulässig wurden. Der Begriff Sammelhaftungsbescheid wird unten (Rz. 9.26) in einem eigenen Abschnitt behandelt.

B. Begründetheit des Einspruchs I. Voraussetzungen Der Einspruch gegen einen Haftungs- oder Duldungsbescheid ist begründet, 9.15 wenn der Bescheid formell oder materiell rechtswidrig ist.

II. Formelle Rechtmäßigkeit des Haftungs- und Duldungsbescheids 1. Zuständigkeit Der Haftungs- oder Duldungsbescheid muss von der zuständigen Behörde erlas- 9.16 sen worden sein. Örtlich zuständig für den Erlass des Haftungs- oder Duldungsbescheids ist das Finanzamt, das für den Steuerschuldner zuständig ist, denn hier greift die Ersatzzuständigkeit gem. § 24 AO.1 Ist die Verwaltung der Gewerbesteuer den Gemeinden übertragen worden, was zum Großteil geschehen ist2, so sind sie für den Erlass des Haftungsbescheids zuständig (Abschn. 38 GewStR).3

1 BFH, Urt. v. 23.7.1998 – VII R 141/97, BFH/NV 1999, 433 (434); Urt. v. 19.12.2000 – VII R 86/99, BFH/NV 2001, 742; Urt. v. 29.11.2006 – I R 103/05, BFH/NV 2007, 1067 (1069); Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 87b; Rätke in Klein, § 24 AO Rz. 2. 2 Vgl. Nacke, SteuerStud 1996, 302. 3 Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 87b.

259

Kap. 9 Einspruchsverfahren

2. Bestimmtheit, Form und Inhalt des Haftungs- oder Duldungsbescheids 9.17

Wie jeder Verwaltungsakt muss auch ein Haftungs- oder Duldungsbescheid bestimmt, unzweideutig und vollständig den Willen der Behörde zum Ausdruck bringen. Dieses Erfordernis dient vor allem der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit sowie der Abgrenzung der Entscheidungswirkungen einschließlich der Bestandskraft der Verwaltungsakte und des einer Vollstreckung oder Vollziehung zugrunde zu legenden Entscheidungsinhalts.1 § 119 Abs. 1 AO schreibt vor, dass ein Verwaltungsakt inhaltlich „hinreichend“ bestimmt sein muss, ohne dabei alle in Betracht kommenden Fälle anzugeben, wo die Grenze des „Hinreichenden“ im Einzelfall zu ziehen ist.2 Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn erkennbar ist, wer von wem was – auch der Höhe nach – verlangt.3 Daher muss auch für den Haftungsbescheid verlangt werden, dass er die festgesetzte Steuer (= Haftungsschuld) nach Art und Betrag bezeichnet und die Person des Haftungsschuldners benennt.4 Weiterhin muss die absendende Finanzbehörde ersichtlich sein (s. § 119 Abs. 3 AO).5 Hinsichtlich der Haftungsschuld ist zu beachten, dass sie eindeutig als solche zu erkennen sein muss.6 Sie muss sich daher unzweifelhaft von Steuerschulden unterscheiden. Eine Erfassung von Haftungsschulden und Steuerschulden in einem Betrag ist nicht zulässig.7 Ferner ist die Höhe der Haftungsschuld genau zu beziffern.8 Ein Haftungsbescheid, der nur dem Grunde nach ergeht, ist nicht möglich.9

9.18

Problematischer ist in der Praxis die Frage nach der Aufteilung der Haftungsschuld, da erkennbar sein muss, für welche Steuern der Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird. Die Finanzbehörde muss daher grundsätzlich die Steuer nach Art, Schuldner und Erhebungszeitraum angeben.10 Dieses gilt auch 1 BFH, Urt. v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583 m.w. Nachw.; Loose in Tipke/ Kruse, § 191 AO Rz. 83. 2 BFH, Urt. v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 16.7.1992 – VII R 59/91, BFH/NV 1993, 146; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 83. 4 BFH, Urt. v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583 m.w. Nachw; FG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.2016 – 6 K 4464/12 H (K), juris; unerheblich kann dabei nach Ansicht des FG Hamburg sein, dass nicht die Steuerart KSt, sondern eine andere Steuer genannt wird (Beschl. v. 14.5.1998 – II 51/97). Auch gehört die Namensnennung des Steuerschuldners nicht zum notwendigen Inhalt eines Haftungsbescheids (BFH, Beschl. v. 22.5.1997 – I B 114/96, BFH/NV 1997, 826; Thüringer FG, Urt. v. 5.6.1997 – III 174/96, EFG 1997, 1417; zur Frage der richtigen Bekanntgabe vgl. Rz. 2.15. des Bekanntgabeerlasses des BMF v. 8.4.1991, BStBl. I 1991, 399 (411). 5 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 85. 6 BFH, Urt. v. 2.12.1983 – VI R 47/80, BStBl. II 1984, 362; Urt. v. 15.3.1985 – VI R 30/81, BStBl. II 1985, 581; Urt. v. 21.9.1990 – VI R 97/86, BStBl. II 1991, 262 (264); Urt. v. 11.10.1989 – I R 139/85, BFH/NV 1991, 497; vgl. auch FG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 12.8.1998 – 2 V 44/98, EFG 1998, 1474; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 87. 7 BFH, Urt. v. 16.11.1984 – VI R 176/82, BStBl. II 1985, 266; Urt. v. 1.8.1985 – VI R 28/79, BStBl. II 1985, 664 (668). 8 BFH, Urt. v. 16.7.1992 – VII R 59/91, BFH/NV 1993, 146; FG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.2016 – 6 K 4464/12 H (K), juris; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 88. 9 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 88. 10 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 89 m.w. Nachw.

260

B. Begrndetheit des Einspruchs

hinsichtlich der Säumniszuschläge. So hat die Finanzbehörde die Steuerschulden auch nach bestimmten Zeiträumen, für die sie entstehen, aufzuteilen.1 Insbesondere ist – bei periodischen Steuern – die Angabe des Besteuerungszeitraums bzw. – bei nicht periodischen, sachverhaltsbezogenen Steuern – des Besteuerungsgegenstandes erforderlich.2 Demgegenüber hat der VII. Senat des BFH die Ansicht vertreten, dass die Anforderungen an den Inhalt eines Haftungsbescheids nicht an Hand allgemeiner, für alle Fälle geltender Kriterien bestimmt werden könnten. Die Frage, inwieweit in einem Haftungsbescheid die Haftungsschuld selbst bestimmt und insbesondere auf die einzelnen Haftungszeiträume aufgegliedert werden müsse, könne nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles beantwortet werden.3 Dabei sind nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die Umstände des Einzel- 9.19 falles auszulegen.4 Weiß der Haftungsschuldner, für welche einzelnen Erstschulden er in Anspruch genommen wird – etwa weil er alle Steueranmeldungen für den maßgeblichen Zeitraum unterschrieben und abgegeben hat –, so ist der Haftungsbescheid hinreichend bestimmt, selbst wenn die Haftungssumme in einem Betrag aufgeführt wurde.5 Umgekehrt ist dies nicht der Fall, wenn die Beträge weder dem Haftungsschuldner bekannt, noch aus dem Haftungsbescheid einzeln zu entnehmen sind.6 Die Frage, ob der Haftungsbetrag nach Besteuerungszeiträumen aufgeteilt sein muss, kann aber in Haftungsfällen nach einer Betriebsprüfung dahingestellt bleiben, wenn zur näheren Erläuterung der Haftungssumme auf den Prüfungsbericht verwiesen wird. Der Bestimmtheitsgrundsatz ist dann nicht verletzt, wenn sich aus dem Prüfungsbericht die Aufteilung auf die Besteuerungszeiträume7 oder aus der Begründung der Finanzbehörde die Aufteilung ergibt.8

Û

Hinweis: Es ist hier zu prüfen, ob nicht gerade im Hinblick auf die Auftei- 9.20 lung der Steuerschulden nach Besteuerungszeiträumen bzw. Besteuerungsgegenständen der Bestimmtheitsgrundsatz verletzt worden ist. Ein inhaltlich nicht hinreichend bestimmter Haftungsbescheid ist je nach Einzelfall entweder nichtig i.S.d. § 125 AO oder anfechtbar.9

1 BFH, Urt. v. 7.12.1984 – VI R 70/81, BFH/NV 1985, 110 (112); Urt. v. 14.6.1985 – VI R 167/81, BFH/NV 1986, 303 (305). 2 BFH, Urt. v. 28.11.1990 – VI R 55/87, BFH/NV 1991, 600. 3 BFH, Urt. v. 12.3.1985 – VII R 22/84, BFH/NV 1987, 227; Urt. v. 7.5.1985 – VII R 175/82, BFH/NV 1986, 313; Urt. v. 8.3.1988 – VII R 6/87, BFHE 152, 418 = BStBl. II 1988, 480 (481); Beschl. v. 31.7.1990 – VII B 62/90, BFH/NV 1991, 286; FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 24.5.1996 – 4 K 3145/94, EFG 1997, 2; offengelassen vom BFH, Urt. v. 28.11.1990 – VI R 55/87, BFH/NV 1991, 600. 4 BFH, Urt. v. 12.3.1985 – VII R 194/83, BFH/NV 1986, 317. 5 BFH, Urt. v. 12.3.1985 – VII R 22/84, BFH/NV 1987, 227; Beschl. v. 22.5.1997 – I B 114/96, BFH/NV 1997, 826. 6 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 24.5.1996 – 4 K 3145/94, EFG 1997, 2. 7 BFH, Urt. v. 14.6.1985 – VI R 167/81, BFH/NV 1986, 303; Urt. v. 6.5.1988 – VI R 37/83, BFH/NV 1989, 343; Urt. v. 28.11.1990 – VI R 55/87, BFH/NV 1991, 600. 8 BFH, Beschl. v. 28.5.1992 – VII B 100/914, BFH/NV 1992, 785; Urt. v. 16.6.1992 – VII R 59/91, BFH/NV 1993, 146. 9 BFH, Urt. v. 22.11.1988 – VII R 173/85, BStBl. II 1989, 220 m.w. Nachw. auch für die Gegenansicht; a.A. z.B. Schleswig-Holsteinisches FG, Urt. v. 15.11.1983 – IV 236/80 (V),

261

Kap. 9 Einspruchsverfahren

9.21

Zur Problematik der Bestimmtheit bei Lohnsteuerhaftungsbescheiden im Hinblick auf die Aufteilung der Haftungsschuld auf die Lohnsteuerbeträge der einzelnen Arbeitnehmer vgl. das Kapitel zur Arbeitgeberhaftung gem. § 42d EStG, Rz. 2.229 ff.

9.22

Ist der Haftungs- oder Duldungsbescheid nicht hinreichend bestimmt, so kann dieser Fehler gem. § 126 AO geheilt werden.1

9.23

Der Haftungs- oder Duldungsbescheid muss ferner schriftlich erteilt werden (§ 191 Abs. 1 Satz 3 AO). Es ist somit auch die Begründung des Bescheides schriftlich zu geben. In der Regel werden die Voraussetzungen für eine Nichtbegründung gem. § 121 Abs. 2 AO nicht gegeben sein.2 Gem. § 119 Abs. 3 AO muss der Bescheid die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten. Ausnahmsweise kann gem. § 119 Abs. 4 AO auf die Namenswiedergabe oder die Unterschrift verzichtet werden, wenn der Haftungs- oder Duldungsbescheid formularmäßig erstellt worden ist. Wird jedoch das Formular wesentlich abgeändert, z.B. durch ergänzende Ermessenserwägungen, so greift § 119 Abs. 4 AO nicht ein.3

9.24

Zum unverzichtbaren Inhalt des Haftungs- oder Duldungsbescheids gehört die Darlegung des Haftungsgrundes. Der Haftungsschuldner muss wissen, warum und für welche Steuerschulden er in Anspruch genommen wird. Es müssen daher die Tatsachen und die haftungsrechtlichen Grundlagen benannt werden, woran die Finanzbehörde die Rechtsfolge der Haftung knüpft.4 Dazu gehören auch Ausführungen zum Verschulden, soweit die Haftungsnorm dieses voraussetzt. Darüber hinaus sind die Ermessenserwägungen unverzichtbarer Teil des Haftungs- oder Duldungsbescheids. Sie können fehlen, wenn ein Fall der Ermessensreduzierung auf null vorliegt, wenn sie dem Haftungsschuldner bekannt sind – z.B. weil sie ihm schon schriftlich mitgeteilt worden sind – oder wenn der Haftungsschuldner dem Grunde nach bereits die Haftung anerkannt hat.5 Im Einzelnen vgl. zum Verzicht auf die Aufnahme der Ermessenserwägungen das Kapitel zum Ermessen (Rz. 9.94 ff.). Wie allgemein im Verwaltungsrecht haben mangelhafte Begründungen nicht die Nichtigkeit, sondern nur die Anfechtbarkeit zur Folge. Eine fehlende Begründung im Haftungs- oder Duldungsbescheid kann gem. § 126 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 AO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz nachgeholt werden. Zur Frage, inwieweit Gründe für einen Haftungsoder Duldungsbescheid im Klageverfahren nachgeschoben oder ausgetauscht

1 2 3 4 5

EFG 1984, 421. Der I. Senat geht davon aus, dass ein Haftungsbescheid, der nicht die ihn erlassende Behörde, den Haftungsschuldner, die Haftungsschuld und/oder die Art der Steuer angibt, für die der Haftungsschuldner haften soll, nichtig ist. Die fehlende Angabe des Steuerschuldners ist kein so schwerer Fehler (BFH, Beschl. v. 3.12.1996 – I B 44/96, BStBl. II 1997, 306 [307] = BFH/NV 1997, R 200 = DStRE 1997, 477). Vgl. BFH, Urt. v. 22.11.1988 – VII R 173/85, BStBl. II 1989, 220; a.A. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 99. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 102 m.w. Nachw. BFH, Urt. v. 18.7.1985 – VI R 41/81, BStBl. II 1986, 169. Vgl. zu den einzelnen Haftungsvorschriften die Ausführungen bei Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 103. Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 105 m.w. Nachw.

262

B. Begrndetheit des Einspruchs

werden können, s. zum Klageverfahren Rz. 10.11. Im Rahmen der Überprüfung der formellen Rechtmäßigkeit ist aber nicht zu fordern, dass die Begründung lückenlos oder für den Betroffenen einleuchtend war. Die materiell-rechtliche Überprüfung erfolgt im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeitsprüfung.1 Zu beachten ist im Einzelfall die Vorschrift des § 127 AO, die u.a. in § 46 VwVfG 9.25 für das allgemeine Verwaltungsrecht den gleichen Regelungsinhalt gefunden hat. Danach kann ein Verwaltungsakt nicht deshalb angefochten werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Da Haftungs- und Duldungsbescheide Ermessensentscheidungen sind und ein Fall der Ermessensreduzierung auf null nicht immer gegeben ist bzw. die Ausnahme darstellt, hätte eine andere Entscheidung getroffen werden können. Damit kann in diesen Fällen auf die Verletzung der genannten Vorschriften eine Klage gestützt werden. Jedoch kommt nach Auffassung des BFH § 127 AO zur Anwendung, wenn die Finanzbehörde auch bei Beachtung des gerügten Mangels unter keinen Umständen zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.2 Bei fehlender Begründung zur Ermessensabwägung ist jedoch m.E. im Regelfall eine solche Beurteilung nicht anzunehmen. Denn gerade durch die Begründung einer Ermessensentscheidung wird der Behörde vor Augen geführt, ob und in welcher Höhe die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners berechtigt ist. Es ist daher in der Regel nicht ausgeschlossen, dass die Finanzbehörde dann eine andere Entscheidung treffen könnte. Verletzung von Verfahrensvorschriften ist z.B. das Fehlen einer Begründung und die unterbliebene Anhörung.3 Die Verletzung der Formvorschrift ist gegeben, wenn der Haftungs- oder Duldungsbescheid (mit Begründung) nicht schriftlich erteilt worden ist. Klarstellend sei noch darauf hingewiesen, dass im Fall einer Ermessensreduzierung auf null eine Klage nicht z.B. auf eine Verletzung einer Verfahrensvorschrift gestützt werden kann, mithin der Verstoß gem. § 127 AO geheilt ist. 3. Sammelhaftungsbescheid Eine besondere Form des Haftungsbescheids ist der Sammelhaftungsbescheid. 9.26 Gem. § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde mit einem Haftungsbescheid die Haftung „für eine Steuer“ geltend machen. In ihm kann daher ein Haftungsanspruch gegen den Haftungsschuldner geltend gemacht werden. Die Finanzbehörde kann aber auch mehrere Haftungsansprüche in einem Bescheid erfassen. Ein solcher Sammelhaftungsbescheid ist äußerlich ein einzelner Haftungsbescheid. Jedoch werden mit ihm einzelne rechtlich selbständige Haftungsansprüche geltend gemacht. Beispiel 1: Aufgrund einer Lohnsteueraußenprüfung macht das Finanzamt gegen den Arbeitgeber eine Lohnsteuerhaftungssumme in Höhe von 10 000 Euro durch Haftungs1 BFH, Beschl. v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583. 2 BFH, Urt. v. 18.7.1985 – VI R 41/81, BStBl. II 1986, 169; Urt. v. 25.1.1989 – X R 158/87, BStBl. II 1989, 483; Beschl. v. 2.8.2012 – V B 68/11, BFH/NV 2013, 243; Ratschow in Klein, § 127 AO Rz. 4. 3 Vgl. im Einzelnen Kopp/Ramsauer, § 46 VwVfG Rz. 17.

263

9.27

Kap. 9 Einspruchsverfahren bescheid geltend. Die Lohnsteuerforderungen beruhen auf Lohnsteueransprüchen gegen 20 Arbeitnehmer. Im Haftungsbescheid wurde die Haftungssumme auf die einzelnen Arbeitnehmer aufgeteilt. Hier ist jeder einzelne Lohnsteueranspruch gegen die Arbeitnehmer selbständig anfechtbar. Daher handelt es sich um einen Sammelhaftungsbescheid, in dem 20 einzelne Haftungsansprüche enthalten sind.

9.28

Beispiel 2: Gegen den Geschäftsführer einer GmbH ergeht ein Haftungsbescheid, in dem sich die Haftungssumme von 100 000 Euro aufteilt in einen Körperschaftsteueranspruch in Höhe von 40 000 Euro und einen Umsatzsteueranspruch in Höhe von 60 000 Euro. Dieser Haftungsbescheid enthält zwei selbständige Haftungsansprüche, die in einem Sammelhaftungsbescheid zusammengefasst wurden.1

9.29

Die Qualifizierung als Sammelhaftungsbescheid hat zur Folge, dass der Teil des Bescheids, der – im Fall eines Einspruchs – nicht angegriffene Haftungsansprüche enthält, insoweit in Bestandskraft erwächst.2

9.30

Beispiel 3: Im Fall des oben genannten Beispiels 2 wendete sich der Geschäftsführer im Einspruchsschreiben gegen den Haftungsbescheid nur gegen die der Höhe nach zu Unrecht bestehende Umsatzsteuerschuld. Im Klageverfahren macht er nun auch Einwendungen gegen die Körperschaftsteuerschuld mit der Begründung geltend, er habe insoweit keine Pflicht verletzt. Hier ist der Einspruch nur gegen den Haftungsanspruch, der auf Umsatzsteuerrückständen beruhte, eingelegt worden. Der wegen Körperschaftsteuerrückständen begründete Haftungsanspruch blieb unberührt, so dass er in Bestandskraft erwuchs. Die Klage gegen diesen Haftungsanspruch bleibt daher erfolglos.

9.31

M.E. wird das Problem der Bestandskraft bei Sammelhaftungsbescheiden in vielen Fällen keine Rolle spielen. Ficht der Haftungsschuldner nämlich zunächst den Haftungsbescheid als solchen an, ohne dass aufgrund einer hinzugefügten Begründung des Einspruchs das Rechtsschutzbegehren auf bestimmte Haftungsansprüche begrenzt werden kann, so liegt im Zweifel ein Einspruch gegen alle Haftungsansprüche vor, der die Finanzbehörde veranlasst, den Sammelhaftungsbescheid in vollem Umfang zu überprüfen. Spätere Einschränkungen durch die Begründung des Einspruchs können diesen Befund nicht mehr ändern.3

9.32

Û

Hinweis: Wurde ein Einspruch gegen den Sammelhaftungsbescheid als solchen erhoben, ohne ihn zunächst zu begründen, so erfasst der Einspruch alle Haftungsansprüche, selbst wenn sich später die Einwendungen nur auf bestimmte Haftungsansprüche beziehen.

4. Festsetzungsverjährung a) Haftung nach steuerrechtlichen Vorschriften 9.33

Der Haftungsbescheid ist aus formellen Gründen rechtswidrig, wenn er bei steuerrechtlichen Haftungsvorschriften nicht innerhalb der Frist des § 191 Abs. 3 AO erlassen worden ist. Die Festsetzungsfrist beträgt gem. § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 1 Vgl. BFH, Urt. v. 4.7.1986 – VI R 182/80, BStBl. II 1986, 921 (923); Urt. v. 6.8.1996 – VII R 77/95, BStBl. II 1997, 79. 2 Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 76 m.w. Nachw. in Fn. 4. 3 Anders wohl der Fall des BFH in seiner Entscheidung v. 4.7.1986. Nach diesem Urteil wandte sich die Einspruchsführerin von vornherein mit ihrem Einspruch nur gegen bestimmte Haftungsansprüche (VI R 182/80, BStBl. II 1986, 921 [922]).

264

B. Begrndetheit des Einspruchs

vier Jahre. In den Fällen des § 70 AO verlängert sie sich bei Steuerhinterziehung auf zehn Jahre und bei leichtfertiger Steuerverkürzung auf fünf Jahre. In den Fällen des § 71 AO beträgt die Festsetzungsfrist zehn Jahre. Wird jemand nach § 69 AO in Anspruch genommen, so verlängert sich die Festsetzungsfrist von vier Jahren nicht, auch wenn die Voraussetzungen für eine Haftung nach § 71 AO oder § 70 AO gegeben waren.1 Die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung in § 191 Abs. 3 AO gelten nur 9.34 für den Erlass des Haftungsbescheides, nicht jedoch für eine (Teil-) Rücknahme des Haftungsbescheides. Somit kann der Haftungsschuldner noch eine Rücknahme geltend machen, wenn die Festsetzungsverjährung bereits eingetreten ist.2 aa) Beginn der Festsetzungsfrist Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem der Tatbestand ver- 9.35 wirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Es müssen also alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Erst dann beginnt die Frist mit Ablauf des betreffenden Jahres. Neben der Verwirklichung der Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftungsnorm setzt die Haftung wegen der Akzessorietät weiter voraus, dass die Steuerschuld entstanden ist.3 Die Jahressteuerschuld entsteht mit Ablauf des Kalenderjahres (s. § 16 UStG4; § 36 Abs. 1 EStG). Soweit die Tatbestandsvoraussetzungen der Haftungsnorm erfüllt sein müssen, richtet sich somit der Beginn der Festsetzungsfrist nach den Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Haftungsnorm. Im Fall der Haftung nach § 69 AO ist streitig, ob erst mit Eintritt des Schadens 9.36 die Festsetzungsfrist beginnt. Der BFH ist der zutreffenden Ansicht, dass der Schadenseintritt kein konstitutives Tatbestandsmerkmal der Haftung ist.5 Kommt eine Haftung nach § 69 AO in Betracht, gehört insbesondere zu den Voraussetzungen der Haftungsnorm, dass der Haftungsschuldner die Steuer nicht erklärt hat, die Steuer nicht rechtzeitig festgesetzt oder die Steuer nicht entrichtet wurde. Insoweit sind unterschiedliche Zeitpunkte maßgeblich. Geht es um die Frage, wann eine Jahressteuer erklärt werden muss, so ist der 31. Mai des Folgejahres entscheidend (§ 18 Abs. 3 UStG, § 149 Abs. 2 Satz 1 AO). Soll der Schuldner wegen nicht abgegebener Voranmeldungen in Haftung genommen werden, so sind die jeweils gesetzlich geregelten Abgabetermine zu beachten (z.B. § 18 Abs. 1 Satz 1 und 6 UStG). Geht es um die rechtzeitige Festsetzung, so 1 BFH, Beschl. v. 4.9.2002 – I B 145/01, BStBl. II 2003, 223 (225); BFH, Urt. v. 22.4.2008 – VII R 21/07, BStBl. II 2008, 735; Niedersächsisches FG, Beschl. v. 5.12.2005 – 11 V 280/04, EFG 2006, 698; Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 149; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 68; Intemann in Koenig, § 191 AO Rz. 99; anders möglicherweise BFH, Beschl. v. 7.2.2002 – V B 86/01, BFH/NV 2002, 755. 2 BFH, Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131. 3 BFH, Urt. v. 12.10.1999 – VII R 98/98, BStBl. II 2000, 486 (487); Beschl. v. 21.11.2001 – VII B 108/01, BFH/NV 2002, 315; Beschl. v. 4.9.2002 – I B 145/01, BStBl. II 2003, 223 (224). 4 Zur Umsatzsteuer s. BFH, Beschl. v. 22.6.2011 – VII S 1/11, BFH/NV 2011, 2014; Urt. v. 9.5.1996 – V R 62/94, BStBl. II 1996, 662. 5 BFH, Beschl. v. 4.9.2002 – I B 145/01, BStBl. II 2003, 223 (224); Intemann in Koenig, § 191 AO Rz. 100; a.A. FG Bremen, Urt. v. 26.11.1998 – 497257 K 1, EFG 1999, 518.

265

Kap. 9 Einspruchsverfahren

ist maßgeblich der Zeitpunkt, wenn nach dem Gang der laufenden Veranlagung üblicherweise die Steuer bereits festgesetzt ist.1 Dies ist bei der Jahressteuer üblicherweise Ende Februar des übernächsten Kalenderjahres. Bei Vorauszahlungen ist die gesetzliche Erklärungsfrist zugrunde zu legen (z.B. der 10. des Folgemonats bei der Umsatzsteuer mit monatlichen Voranmeldungen). Für den Fall der Nichtentrichtung der Steuer ist entscheidend der Zeitpunkt, in dem die Steuer bei pflichtgemäßen Verhalten fällig geworden wäre.2 Bei der Jahresumsatzsteuer ist dies ein Monat nach Abgabe der Jahressteuererklärung. Bei der Jahreseinkommensteuer ist dies grundsätzlich ein Monat nach Bekanntgabe des Steuerbescheides (§ 36 Abs. 4 Satz 1 EStG). bb) Anlaufhemmung 9.37

Eine Anlaufhemmung, wie sie § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO für Steuerbescheide vorsieht, gibt es für die Festsetzungsfrist bei Haftungsbescheiden grundsätzlich nicht. Es gibt keine der Steuererklärung vergleichbare Erklärungspflicht für Haftungsschulden. Eine Ausnahme ist jedoch bei den Entrichtungsschulden zu machen. Hier hat der Entrichtungsschuldner eine Erklärungspflicht, so dass mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Erklärung abgegeben wurde, spätestens mit Ablauf von drei Jahren, der Lauf der Festsetzungsfrist beginnt.3 Mithin kann sich daher z.B. bei einer Lohnsteuerhaftung die Festsetzungsfrist auf sieben Jahre verlängern. cc) Ablaufhemmung

9.38

Eine Ablaufhemmung für die Festsetzungsfrist bei der Haftung kann sich aus verschiedenen Gründen ergeben: (1) § 191 Abs. 3 Satz 4 1. Halbsatz AO

9.39

Ist die Steuer (genauer: die Steuer, für die gehaftet werden soll) noch nicht festgesetzt worden (s. unten Rz. 9.43), so läuft die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf der Festsetzungsfrist für die Steuer ab. Hier kommt es also auf die Verjährungsregeln der Steuerfestsetzung an. In erster Linie denkt man dabei an die allgemeine Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AO und die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO. Im Fall der Nichtabgabe der Steuererklärung tritt die Festsetzungsverjährung für den Haftungsbescheid also nicht vor Ablauf von sieben Jahren nach Ablauf des Entstehungsjahres der Steuer ein (§ 191 Abs. 3 Satz 4 1. HS AO i.V.m. §§ 169 Abs. 2, 170 Abs. 2 Nr. 1 AO). Nach dem Sinn der Haftungsvorschriften gilt die Ablaufhemmung auch für steuerliche Nebenleistungen. Der Wortlaut ist insoweit zu eng.4 1 FG Berlin, Urt. v. 30.6.2000 – 2 K 2242/00, juris. 2 BFH, Urt. v. 12.4.1988 – VII R 131/85, BStBl. II 1988, 742 (744). 3 BFH, Beschl. v. 22.1.2003 – V B 122/02, BFH/NV 2003, 645; Urt. v. 9.8.2000 – I R 95/99, BStBl. II 2001, 13; Urt. v. 17.4.1996 – I R 82/95, BStBl. II 1996, 608 (609); Urt. v. 6.3.2008 – VI R 5/05, BStBl. II 2008, 597; Beschl. v. 22.6.2011 – VII S 1/11, BFH/NV 2011, 2014; Urt. v. 15.1.2015 – I R 33/13, BFH/NV 2015, 797; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 95b. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 70; Blesinger, S. 159.

266

B. Begrndetheit des Einspruchs Beispiel: Die Körperschaftsteuererklärung 01 wird im Jahre 03 abgegeben. Gem. § 170 Abs. 2 AO endet die Festsetzungsfrist für diese Steuer mit Ablauf des Jahres 07. Die Festsetzungsfrist für einen Haftungsbescheid endet gem. § 191 Abs. 3 Satz 4 AO daher nicht vor Ablauf des Jahres 07, wenn auch – unterstellt – die Tatbestandsvoraussetzungen für die Haftung schon im Jahre 02 vorlagen und nach § 191 Abs. 3 Satz 2 und 3 AO die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 06 geendet hätte.

9.40

Somit wirkt sich die für die Erstschuld bestehende Anlaufhemmung auf die Fest- 9.41 setzungsfrist der Haftungsschuld als Ablaufhemmung aus.1 § 191 Abs. 3 Satz 4 AO gilt jedoch nicht nur für die Fälle der Anlaufhemmung (§ 170 Abs. 2 AO), sondern auch dann, wenn der Ablauf der Steuerfestsetzung gehemmt ist.2 Damit ist § 171 AO zu beachten. So läuft z.B. die Festsetzungsfrist für die Steuer nicht ab, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit einer Außenprüfung begonnen wurde und über die daraufhin ergangenen Steuerbescheide noch nicht unanfechtbar entschieden worden ist (§ 171 Abs. 4 Satz 1 AO). Werden die aufgrund einer Außenprüfung erlassenen Bescheide später aufgehoben, endet diese Ablaufhemmung. Dies gilt auch dann, wenn die Steuer aufgrund einer Außenprüfung durch einen Haftungsbescheid geltend gemacht wird und dieser dann aufgehoben wird. Hier kann die Festsetzungsverjährung nur herausgeschoben werden, wenn vor Aufhebung des Haftungsbescheides z.B. ein Pauschalierungsbescheid erlassen wird, mit dem die gleiche Steuer aufgrund der Außenprüfung geltend gemacht wird.3 Des Weiteren ist zu beachten, dass der BFH eine Verkürzung der zu beachtenden 9.42 Festsetzungsfrist für die Steuer aufgrund einer Unterbrechung des Steuerfestsetzungsverfahrens durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht annimmt. Entscheidend sei allein, dass die Steuer noch geltend gemacht werden könne, sei es durch Festsetzung oder in anderer, im Einzelfall durch Gesetz (hier: die Insolvenzordnung) vorgeschriebenen Weise.4 (2) § 191 Abs. 3 Satz 4 2. Halbsatz AO War die Steuerschuld bereits vor dem Erlass des Haftungsbescheides festge- 9.43 setzt, so läuft die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Steuerbescheides ab (§§ 191 Abs. 3 Satz 4 2. HS i.V.m. § 171 Abs. 10 AO).5 Beispiel: Im zuletzt genannten Beispielsfall wird der Körperschaftsteuerbescheid erst am 1.5.06 bekannt gegeben. Die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid endet damit erst mit Ablauf von zwei Jahren nach diesem Datum.

1 FG Köln, Urt. v. 13.10.2011 – 13 K 2582/07, StE 2012, 102. 2 Ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 70; Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 156; Intemann in Koenig, § 191 AO Rz. 281; a.A. Macher, DStZ 1984, 216. 3 BFH, Urt. v. 6.5.1994 – VI R 47/93, BStBl. II 1994, 715 (717); Cöster in Koenig, § 171 AO Rz. 91. 4 BFH, Beschl. v. 22.6.2011 – VII S 1/11, BFH/NV 2011, 2014. 5 BFH, Urt. v. 15.1.2015 – I R 33/13, BFH/NV 2015, 797; FG Hamburg, Urt. v. 26.1.2017 – 6 K 132/16, juris.

267

9.44

Kap. 9 Einspruchsverfahren

9.45

Unerheblich ist, ob die Steuer vor oder nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist des Haftungsbescheids festgesetzt worden ist.1 Dieser Verweis auf § 171 Abs. 10 AO bedeutet daher allein den Verweis auf die dort geregelte Frist von zwei Jahren nach Erlass des Bescheides, mit dem die Steuern aufgrund der Außenprüfung festgesetzt wurden.2 Ob die Steuerfestsetzung angefochten wurde3 oder ob der Steuerbescheid später aufgehoben wurde spielt für den Lauf dieser Frist daher keine Rolle. (3) § 191 Abs. 3 Satz 5 AO

9.46

In den Fällen des § 73 und § 74 AO, in denen die Haftung nicht an einmalige Vorgänge, sondern an Dauersachverhalte anknüpft, besteht ebenfalls eine Ablaufhemmung (§ 191 Abs. 3 Satz 5 AO). Danach wird der Ablauf der Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid in den Haftungsfällen des § 73 AO (Haftung einer Organgesellschaft) und § 74 AO (Haftung des Eigentümers von Gegenständen, die dem Unternehmen eines anderen dienen) bis zum Ablauf der Frist für den Zahlungsanspruch (§ 228 AO) bezüglich der festgesetzten Erstschuld gehemmt. Der Grund hierfür liegt darin, dass – wie Boeker es formuliert – in diesen Fällen eine echte Ausfallhaftung gegeben ist, d.h., erst wenn beim Erstschuldner keine Zahlung erreicht werden kann, soll es zur Haftung kommen.4 (4) § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a Satz 1 AO

9.47

Die Festsetzungsfrist verjährt weiterhin nicht, bevor über einen mit Einspruch bzw. Klage angefochtenen Haftungsbescheid unanfechtbar entschieden worden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a Satz 1 AO). Hebt das Gericht den Haftungsbescheid wegen fehlerhafter Ermessensausübung auf, so tritt Festsetzungsverjährung nicht ein, bevor der neue Haftungsbescheid, mit dem die Finanzbehörde nach Ergehen der gerichtlichen Entscheidung ihre Ermessensausübung nachgeholt hat, unanfechtbar geworden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a Satz 3 AO). Diese Ablaufhemmung gilt nur hinsichtlich des Erlasses eines neuen Haftungsbescheides wegen fehlerhafter Ermessensausübung. Hinsichtlich des Haftungsumfangs und der Sachlage tritt jedoch keine Ablaufhemmung ein. Das bedeutet, dass der neue Haftungsbescheid nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist nur den gleichen Lebenssachverhalt erfassen darf und auch vom Haftungsumfang her nicht über den ersten Bescheid hinausgehen darf.5

1 BFH, Beschl. v. 4.9.2002 – I B 145/01, BStBl. II 2003, 223 (225); FG Hamburg, Urt. v. 26.1.2017 – 6 K 132/16, juris; a.A. Macher, DStZ 1984, 216. 2 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 7/04, BStBl. II 2006, 343 (345 unter II.2.e). 3 Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 95c. 4 Boeker in HHSp, § 191 AO Rz. 158. 5 BFH, Urt. v. 23.3.1993 – VII R 38/92, BStBl. II 1993, 581.

268

B. Begrndetheit des Einspruchs

Für die Praxis von Interesse ist die Frage, wie sich eine im Einspruchs- oder Kla- 9.48 geverfahren durch die Finanzbehörde vorgenommene Aufhebung des Haftungsbescheides und der Erlass eines neuen Haftungsbescheides auf die Verjährung auswirken. Der BFH hat in zwei neueren Entscheidungen dazu Stellung genommen. Danach endet die Ablaufhemmung durch Anfechtung nicht, wenn die Finanzbehörde mit der Aufhebung gleichzeitig einen neuen Haftungsbescheid erlässt.1 Die Ablaufhemmung endet aber, wenn die Finanzbehörde nach Aufhebung des angefochtenen Haftungsbescheides erst einige Zeit später den neuen Haftungsbescheid erlässt.2 S. zur Aufhebung eines Haftungsbescheides im Klageverfahren auch Rz. 10.6 ff. Übersicht zur Festsetzungsverjährung

9.49

Beginn der Festsetzungsverjhrung („Mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knpft.“): 1. Eine Steuerschuld muss bestehen und 2. die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Haftungsnorm (z.B. § 69 AO) mssen vorliegen. Anlaufhemmung: Grundstzlich zwar keine Anlaufhemmung gegeben; jedoch bei Entrichtungsschulden (z.B. Lohnsteuer) ist § 170 Abs. 2 AO hinsichtlich der Erklrungspflicht des Entrichtungsschuldners zu beachten. Ablaufhemmung, insbesondere in folgenden Fllen: – Ist die Steuer noch nicht festgesetzt, so erfolgt kein Ablauf der Festsetzungsfrist vor Festsetzungsverjhrung hinsichtlich der Steuer (§ 191 Abs. 3 Satz 4 1. HS AO i.V.m. insbesondere §§ 169 Abs. 2, 170 Abs. 2 Nr. 1 AO). – Kein Ablauf der Festsetzungsfrist vor Ablauf von zwei Jahren nach Erlass des Steuerbescheides (§§ 191 Abs. 3 Satz 4 2. HS i.V.m. § 171 Abs. 10 AO). – Ablaufhemmung in den Fllen des § 73 und § 74 AO (§ 191 Abs. 3 Satz 5 AO). – Ist der Haftungsbescheid angefochten, so kein Ablauf der Festsetzungsfrist vor unanfechtbarer Entscheidung (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a Satz 1 AO). Hebt das Gericht den Haftungsbescheid wegen Ermessensfehler auf, so kein Ablauf der Festsetzungsfrist vor Unanfechtbarkeit des zweiten Haftungsbescheides.

1 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 18/03, BStBl. II 2005, 323; kritisch Nacke, NWB Fach 2, 8843. 2 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 77/03, BStBl. II 2005, 122.

269

Kap. 9 Einspruchsverfahren

b) Haftung nach zivilrechtlichen Vorschriften 9.50

Wird der Haftungsschuldner aufgrund privatrechtlicher Vorschriften in Anspruch genommen, so gelten nicht die Festsetzungsfristen des § 191 Abs. 3 AO. Die Verjährung richtet sich vielmehr gem. § 191 Abs. 4 AO nach den privatrechtlichen Vorschriften. So gilt z.B. bei der Haftung der Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft, OHG, KG und einer Vor-GmbH die fünfjährige Verjährungsfrist des § 159 HGB entweder direkt oder analog.1 Die Verjährung eines zivilrechtlichen Anspruchs führt nicht wie im Steuerrecht zu seinem Untergang, sondern gibt dem Schuldner nur ein Leistungsverweigerungsrecht. Gleichwohl ist von Amts wegen der Eintritt der Verjährung zu berücksichtigen.2 Nicht nur die Verjährungsfrist an sich, sondern auch ihr Anfang sowie die Hemmungen richten sich nach dem Zivilrecht. Die Verjährungsfrist beginnt nach § 159 Abs. 2 HGB mit der Eintragung der Auflösung der Gesellschaft in das Handelsregister. Bei der BGB-Gesellschaft beginnt die Frist in dem Zeitpunkt, in dem das Finanzamt von der Auflösung der Gesellschaft Kenntnis erlangt hat.3

9.51

Neben den privatrechtlichen Verjährungsvorschriften ist aber auch § 191 Abs. 5 AO auf die Haftung aufgrund privatrechtlicher Haftungstatbestände anwendbar.4 Das ergibt sich u.a. daraus, dass § 191 Abs. 5 AO auch dann eingreift, wenn in den Haftungsfällen des § 191 Abs. 3 AO die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist.5 So führt z.B. die Zahlungsverjährung bei der Steuerschuld dazu, dass ein Haftungsbescheid nicht mehr erlassen werden darf, es sei denn, es liegt ein Fall des § 191 Abs. 5 Satz 2 AO vor.6

9.52

Beispiel: Ist die Steuerschuld gegen den Steuerschuldner bereits wegen Zahlungsverjährung nach § 228 AO (fünf Jahre) nicht mehr geltend zu machen, kann der Haftungsschuldner, der z.B. nach § 128 HGB haftet, wegen § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AO nicht mehr in Anspruch genommen werden. Dies gilt auch dann, wenn die Verjährungsfrist nach § 159 HGB noch nicht abgelaufen ist.

9.53

Bei Duldungsbescheiden spielt die Festsetzungsfrist des § 191 Abs. 3 AO keine Rolle, da diese Vorschrift nur für Haftungsbescheide gilt.7 Jedoch sind die Anfechtungsfristen des Anfechtungsgesetzes zu beachten (s. Abschnitt Duldungstatbestände Rz. 7.36 ff.).

1 BFH, Urt. v. 26.8.1997 – VII R 63/97, BStBl. II 1997, 745 (746 f.); FG Hamburg, Urt. v. 6.4.1994 – I 193/92, EFG 1994, 1080 (1082). 2 Ebenso Mösbauer, DStR 1984, 94 (98); a.A. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 74 a.E. 3 BGH, Urt. v. 10.2.1992 – II ZR 54/91, DStR 1992, 878; BFH, Urt. v. 26.8.1997 – VII R 63/97, BStBl. II 1997, 745 (747). 4 FG Bremen, Urt. v. 25.8.1993 – I 20-22/91 K, EFG 1994, 862; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 76. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 76. 6 BFH, Urt. v. 11.7.2001 – VII R 28/99, BStBl. II 2002, 267. 7 BVerwG, Urt. v. 13.2.1987 – 8 C 25.85, BStBl. II 1987, 475 (478); Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 99.

270

B. Begrndetheit des Einspruchs

5. Anhörung der zuständigen Berufskammer gem. § 191 Abs. 2 AO Eine verfahrensrechtliche Besonderheit enthält § 191 Abs. 2 AO. Danach hat 9.54 die Finanzbehörde vor Erlass eines Haftungsbescheids gegen einen Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwalt, Patentanwalt, Notar, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten oder vereidigten Buchprüfer wegen einer Handlung i.S.d. § 69 AO, die er in Ausübung seines Berufes vorgenommen hat, der zuständigen Berufskammer Gelegenheit zu geben, „die Gesichtspunkte vorzubringen, die von ihrem Standpunkt für die Entscheidung von Bedeutung sind“. Zwar sind Steuerberatungs-, Wirtschaftsprüfungs- und Buchführungsgesellschaften in § 191 Abs. 2 AO nicht erwähnt, doch ist man sich über eine analoge Anwendung der Vorschrift auch auf diese Gesellschaften einig.1 Hintergrund der Einschaltung der Berufskammern soll der Ausschluss einer möglichen Pflichtenkollision sein. Einerseits wird der Angehörige der beratenden Berufe für seinen Auftraggeber tätig. Andererseits hat er für vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzungen der Pflichten einzustehen. „In Ausübung seines Berufs“ bedeutet, dass die Handlung zu den Tätigkeiten 9.55 gehört, die den Beruf ausmachen. Dazu gehört bei einem Steuerberater oder Rechtsanwalt nicht nur die Tätigkeit als Berater, sondern auch die als gesetzlicher Vertreter, Testamentsvollstrecker2 und Nachlassverwalter. Auch die Betätigung als Insolvenzverwalter reicht aus.3 Wird der Berater aber als Geschäftsführer oder Vorstand im Wesentlichen hauptberuflich tätig, so geschieht dies nicht „in Ausübung seines Berufes“, gleichgültig, ob er auf die Bestellung oder Zulassung verzichtet hat oder nicht.4 Handelt er in Erfüllung eigener Pflichten, so entfällt stets das Haftungsprivileg. Gehört der Berater mehreren Berufskammern an, ist allen Berufskammern Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.5 Wird die Anhörung der Berufskammer versäumt, so stellt dies zwar einen Anfechtungsgrund, aber keinen Nichtigkeitsgrund dar (§ 125 Abs. 3 Nr. 4 AO). Die Anhörung der Berufskammer kann im Klageverfahren nachgeholt werden (§ 126 Abs. 2 AO i.V.m. Abs. 1 Nr. 5 AO).6 Gibt die Berufskammer nach Aufforderung keine Stellungnahme ab, so kann gleichwohl der Haftungsbescheid ergehen.7

1 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.6.2002 – 5 K 448/99, EFG 2003, 1664 m. Anm. Adamek; vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 30; Britz, Rz. 468. 2 BFH, Urt. v. 13.5.1998 – II R 4/96, BStBl. II 1998, 760. 3 H.M., s. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 32 m.w. Nachw.; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 90; Britz, Rz. 469; offengelassen BFH, Urt. v. 26.11.1985 – VII R 148/81, BFH/NV 1986, 134. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 32 m.w. Nachw.; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 90; Britz, Rz. 469. 5 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 18.1.1985 – 6 K 116/82, EFG 1985, 426; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 33; Britz, Rz. 471. 6 Adamek, EFG 2003, 1667. 7 BFH, Urt. v. 26.11.1985 – VII R 148/81, BFH/NV 1986, 134.

271

9.56

Kap. 9 Einspruchsverfahren

6. Rechtsnachfolge 9.57

Der Gesamtrechtsnachfolger tritt an die Stelle des Haftungs- oder Duldungsschuldners. Dies hat zur Folge, dass er im Hinblick auf die steuerlichen Rechte und Pflichten so zu behandeln ist, als ob er mit dem Rechtsvorgänger identisch wäre.1 Die Haftungsschulden gehen kraft Gesetzes auf ihn über.2

III. Materielle Rechtmäßigkeit des Haftungs- und Duldungsbescheids 9.58

Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit eines Haftungs- und Duldungsbescheids ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für den Haftungs- oder Duldungsanspruch, der nach § 191 Abs. 1 AO geltend gemacht werden kann, vorliegen und ob – da es sich nicht um eine gebundene Entscheidung handelt – das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt worden ist. Hinsichtlich der Voraussetzungen der einzelnen Haftungs- oder Duldungsansprüche wird auf den 2. und 3. Teil(Rz. 2.4 ff., 6.1 ff.) verwiesen. Ergänzend ist Folgendes zu beachten. 1. Akzessorietät der Haftung Schrifttum: Rose, Keine Drittwirkung der Steuerfestsetzung nach § 166 AO im Haftungsverfahren, wenn ein Vorbehalt der Nachprüfung besteht? Anm. zu BFH v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755, DStR 2016, 1152.

9.59

Wegen der Abhängigkeit der Haftung von der ihr zugrunde liegenden Steuerschuld, kann ein Haftungsanspruch nur entstehen, wenn und soweit die Steuerschuld entstanden ist. Geht der Steueranspruch durch Zahlung, Aufrechnung oder durch Befriedigung im Wege der Zwangsvollstreckung unter, so erlischt auch der darauf beruhende Haftungsanspruch. Dabei ist unerheblich, ob die Steuerschuld durch den Steuerpflichtigen, einen Gesamtschuldner oder durch einen Dritten erfüllt wurde.3 Zahlungen eines anderen Haftungsschuldners kann das Finanzamt allerdings dann außer Betracht lassen, wenn dieser den gegen ihn ergangenen Haftungsbescheid ebenfalls angefochten hat und das Rechtsmittelverfahren noch nicht beendet ist. Denn das Finanzamt muss insoweit stets damit rechnen, dass es bei der ersatzlosen Aufhebung des Haftungsbescheids dem anderen Haftungsschuldner seine Leistungen zurückerstatten muss, die Steuerschuld mithin wieder aufleben kann.4 Nach § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AO ist eine Haftung auch dann ausgeschlossen, wenn die gegen den Steuerschuldner festgesetzte Steuer verjährt oder die Steuer erlassen worden ist. Nach Satz 2 des § 191 Abs. 5 AO gilt dies jedoch nicht, wenn die Haftung darauf beruht, dass

1 2 3 4

Mösbauer, S. 333. BFH, Urt. v. 8.5.1974 – II R 91/66, BStBl. II 1974, 499; Mösbauer, S. 333. Halaczinsky, Rz. 603. BFH, Urt. v. 17.10.1980 – VI R 136/77, BStBl. II 1981, 138 (140); FG Brandenburg, Urt. v. 13.5.1998 – 2 K 775/97, n.v.

272

B. Begrndetheit des Einspruchs

der Haftungsschuldner Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat. Die Frage der Verjährung des Steueranspruchs stellt sich jedoch nur für den Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides. Unerheblich ist daher, ob der Steueranspruch nach Erlass des Haftungsbescheids verjährt ist.1 Die Haftung ist nicht ausgeschlossen, wenn durch einen Insolvenzplan eine (teilweise) Befreiung des Steuerschuldners von seiner Steuerschuld bewirkt worden ist. Dadurch ist die Steuerschuld nicht nach § 75 AO erloschen.2 Eine Haftung ist auch ausgeschlossen, wenn Zahlungsverjährung bzgl. der Steuerschuld eingetreten ist.3 Der Grundsatz der Akzessorietät der Haftung erfordert nicht, dass bei Inan- 9.60 spruchnahme des Haftungsschuldners die Steuerschuld bereits festgesetzt worden ist.4 Schon vor Festsetzung der Steuer kann der Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden. Ausreichend ist, dass der Steueranspruch bei Erlass des Haftungsbescheids noch bestand bzw. bestanden hat.5 Ob die spätere Steuerfestsetzung unwirksam war, ist daher unerheblich.6 Für Duldungsbescheide gilt etwas anderes. Hier sind für die Inanspruchnahme des Duldungspflichtigen die vorherige Festsetzung, Fälligkeit und Vollstreckbarkeit der Steuerschuld Voraussetzung.7 Die Primärschuld muss materiell-rechtlich zum Zeitpunkt des Erlasses des Haf- 9.61 tungsbescheides noch bestehen. Es kommt daher nicht auf seine formale Festsetzung an. Der Umsatzsteueranspruch, der aus einer Umsatzsteuervoranmeldung resultiert, besteht daher materiell-rechtlich auch dann weiter, wenn zwischenzeitlich der Umsatzsteuerjahresbescheid erlassen worden ist. Die Voranmeldung hat sich dann zwar gem. § 124 Abs. 2 AO „auf andere Weise“ erledigt8; jedoch wird die materiell-rechtliche Existenz der als Haftungsgrundlage in Betracht kommenden Vorauszahlungsschuld als Teil der Jahressteuer nicht berührt.9 Einwendungen gegen den Primäranspruch kann der Haftungsschuldner grund- 9.62 sätzlich bei Haftungsbescheiden in vollem Umfange geltend machen.10 Art. 19

1 BFH, Urt. v. 7.11.1995 – VII R 26/95, BFH/NV 1996, 379 (382) m.w. Nachw. 2 BFH, Beschl. v. 15.5.2013 – VII R 2/12, BFH/NV 2013, 1543; BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, HFR 2011, 1380. 3 FG München, Urt. v. 1.12.2010 – 3 K 2723/09, juris, NZB eingelegt, Az. BFH VII B 3/11. 4 BFH, Urt. v. 28.2.1973 – II R 57/71, BFHE 109, 164 = BStBl. II 1973, 573; Urt. v. 1.12.1987 – VII R 206/85, BFH/NV 1988, 477; Urt. v. 7.11.1995 – VII R 26/95, BFH/NV 1996, 379 (382) m.w. Nachw.; dies gilt auch für die Realsteuermessbescheide (s. Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 15). 5 BFH, Urt. v. 5.11.1992 – I R 41/92, BFHE 170, 204 = BStBl. II 1993, 407; Urt. v. 2.2.1994 – II R 7/91, BStBl. II 1995, 300 (302); Urt. v. 12.10.1999 – VII R 98/98, BStBl. II 2000, 486. 6 BFH, Urt. v. 2.2.1994 – II R 7/91, BStBl. II 1995, 300 (302). 7 BVerwG, Urt. v. 13.2.1987 – 8 C 25.85, BStBl. II 1987, 475 (477); Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 26; s. auch Rz. 6.1 ff. den 3. Teil zu den Duldungstatbeständen. 8 BFH, Urt. v. 29.11.1984 – V R 146/83, BStBl. II 1985, 370. 9 BFH, Urt. v. 12.10.1999 – VII R 98/98, BStBl. II 2000, 486. 10 BVerfG, Beschl. v. 29.11.1996 – 2 BvR 1157/93, INF 1997, 158 (159) m.w. Nachw.; BFH, Urt. v. 8.12.1981 – VII R 105/78, BStBl. II 1982, 226 (228).

273

Kap. 9 Einspruchsverfahren

Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG gewähren insoweit diesen Rechtsschutz.1 Der Haftungsschuldner kann sich somit im Einspruchsverfahren gegen den Haftungsbescheid wegen der Höhe der festgesetzten Steuerschuld wenden. Nach Maßgabe des § 166 AO ist der Haftungsschuldner aber gehindert, Einwendungen gegen den Primäranspruch als Dritten geltend zu machen. Dieses trifft zunächst für den Gesamtrechtsnachfolger zu. War daneben der Haftungsschuldner in der Lage, als Vertreter oder als Bevollmächtigter des Steuerpflichtigen oder kraft eigenen Rechts den Steuerbescheid anzufechten oder hat er ihn erfolglos angefochten2, so hat auch er die Unanfechtbarkeit des Steuerbescheides gegen sich gelten zu lassen.3 Dies gilt auch hinsichtlich des Arguments der Verfassungswidrigkeit einer Norm. Auch diese Einwendung kann gegebenenfalls im Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Steuerbescheid geltend gemacht werden.4 § 166 AO ist jedoch dann nicht anwendbar, wenn rechtliche Bindungen im Innenverhältnis den Vertreter an der Einlegung eines Rechtsbehelfs behindert haben.5 9.63

Beispiel 1: Der Geschäftsführer A der GmbH wird für USt 01 in Anspruch genommen. Den Umsatzsteuerbescheid 01 hat A bestandskräftig werden lassen. Im Haftungsverfahren kann A wegen § 166 AO keine Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung geltend machen.

9.64

Beispiel 2: Wie Beispiel 1; jedoch ist in der Einspruchsfrist ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und ein allgemeines Verfügungsverbot ausgesprochen worden. § 166 AO greift nicht ein, da vor Ablauf der Einspruchsfrist dem A die Möglichkeit der Anfechtung genommen wurde.

9.65

Nach Ansicht des FG Köln soll § 166 AO auch dann gelten, wenn der als gesetzlicher Vertreter Haftende im Klageverfahren gegen den Steuerbescheid mit Einwendungen gegen in einem Grundlagenbescheid getroffene und im Steuerbescheid als Folgebescheid umgesetzten Feststellungen ausgeschlossen war. Maßgeblich sei allein, ob die Steuerfestsetzung anfechtbar war. Nicht dagegen gehöre zum gesetzlichen Tatbestand des § 166 AO, dass der Betroffene weitergehend auch in der Lage gewesen sein musste, sämtliche Grundlagenbescheide anzufechten, deren verbindliche Feststellungen gemäß § 182 Abs. 1 FGO in der Steuerfestsetzung übernommen wurden.6

9.66

Geht es um die Haftung für eine Haftungsschuld (z.B. Haftung des Geschäftsführers einer GmbH wegen Lohnsteuerhaftung der GmbH als Arbeitgeber), so kommt § 166 AO nicht zur Anwendung. § 166 AO befindet sich in dem die Steu-

1 BVerfG, Beschl. v. 29.11.1996 – 2 BvR 1157/93, INF 1997, 158 (159). 2 Niedersächsisches FG, Beschl. v. 13.2.2007 – 11 V 205/06, n.v.; FG Köln, Urt. v. 13.10.2011 – 13 K 2582/07, StE 2012, 102. 3 BFH, Beschl. v. 28.3.2001 – VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217; Beschl. v. 6.6.1994 – VII B 2/94, BFH/NV 1995, 281; FG Düsseldorf, Urt. v. 21.11.1997 – 3 K 8003/93 H (U), EFG 1998, 616; a.A. BFH, Urt. v. 16.11.1995 – VI R 82/95, BFH/NV 1996, 285; Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.11.2002 – 11 K 504/00, EFG 2003, 746. 4 BFH, Beschl. v. 11.8.2005 – VII B 312/04, StEd 2005, 2153. 5 FG Köln, Urt. v. 13.10.2011 – 13 K 2582/07, StE 2012, 102; Heuermann in HHSp, § 166 AO Rz. 11 m.w. Nachw. 6 FG Köln, Urt. v. 13.10.2011 – 13 K 2582/07, StE 2012, 102.

274

B. Begrndetheit des Einspruchs

erfestsetzung betreffenden Dritten Abschnitt des Vierten Teils der AO. Diese Vorschriften gelten – soweit nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet ist – nicht für Haftungsbescheide. Eine entsprechende Anwendung des § 166 AO auf die unanfechtbare Festsetzung einer Haftungsschuld ist aber weder in § 191 AO noch an anderer Stelle angeordnet worden.1 Ein weiterer Fall, in dem Einwendungen des Haftungsschuldners gegen den Pri- 9.67 märanspruch nicht greifen, ist der Fall der Beiladung (§ 60 Abs. 1 Satz 1 FGO). Ist der Haftende im Klageverfahren gegen den Primäranspruch beigeladen worden, so bindet ihn ein diesbezügliches Urteil.2 Ebenso ist der Haftungsschuldner nicht nach § 166 AO in seinen Rechten be- 9.68 schnitten, wenn die Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand und dieser nicht vom Finanzamt aufgehoben worden ist. Denn Vorbehaltsfestsetzungen können auch nach Eintritt der formellen Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) aufgehoben und geändert werden (§ 164 Abs. 2 Satz 2 AO). Der Geschäftsführer einer GmbH kann daher auch nach formeller Bestandskraft eine Änderung beantragen.3 Bis zur Festsetzungsverjährung kann dann der Haftungsschuldner mit seinen Einwendungen gehört werden.4 Unabhängig davon stellt sich aber auch die Frage, ob nicht im Wege einer Rechtsfortbildung der Fall der Abänderbarkeit wie der Fall der Anfechtung zu behandeln ist, so dass der Haftungsschuldner mit seinen Einwendungen generell nicht ausgeschlossen wäre, wenn bis zum Ausscheiden als Geschäftsführer die betreffende Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht, mithin es nicht auf einen Antrag auf Änderung vor dem Ausscheiden ankäme. Beispiel 1: Der Geschäftsführer A der GmbH wird für USt 01, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand, in Anspruch genommen. Den Umsatzsteuerbescheid 01 hat A bestandskräftig werden lassen. Im Haftungsverfahren kann A weiterhin Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung geltend machen, da die Vorbehaltsfeststellung auch auf Antrag der GmbH jederzeit geändert werden kann.

9.69

Beispiel 2: Wie Beispiel 1; jedoch ist der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden. A wird anschließend in Haftung genommen. Hier greift § 166 AO, da A einen Änderungsantrag hätte stellen können. Er ist daher mit seinen Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung abgeschnitten.

9.70

1 BFH, Urt. v. 16.11.1995 – VI R 82/95, BFH/NV 1996, 285; Niedersächsisches FG, Urt. v. 28.11.2002 – 11 K 504/00, EFG 2003, 746; a.A. FG Düsseldorf, Urt. v. 21.11.1997 – 3 K 8003/93 H (U), EFG 1998, 616. 2 Brandis in Tipke/Kruse, § 60 FGO Rz. 106 u. 15. 3 Vgl. BFH, Urt. v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814; Beschl. v. 28.3.2001 – VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217; Urt. v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755; Niedersächsisches FG, Urt. v. 24.3.1998 – XI 188/93, rkr., EFG 1998, 979 (980); Urt. v. 28.11.2002 – 11 K 504/00, EFG 2003, 746; FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 9.3.2011 – 9 K 9141/09, StE 2011, 393; v. 11.8.2010 – 9 K 9059/08, EFG 2010, 2042; FG Nürnberg, Urt. v. 12.6.2007 – II 144/2004, juris; FG Hamburg, Urt. v. 17.8.2005 – III 406/03, DStRE 2006, 502; Sächsisches FG, Beschl. v. 14.7.2003 – 5 V 738/03, juris; Beschl. v. 26.6.2003 – 5 V 2210/02, FGReport 2003, 3; a.A. FG Köln, Urt. v. 13.10.2011 – 13 K 4121/07, EFG 2012, 195; FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 3.9.2015 – 9 K 9271/10, EFG 2015, 2017; s. zum Rechtsstreit auch Nacke, DStR 2013, 338 ff. 4 S. auch Baldauf, EFG 2015, 2020.

275

Kap. 9 Einspruchsverfahren

9.71

Beispiel 3: Wie Beispiel 1; jedoch ist ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und ein allgemeines Verfügungsverbot ausgesprochen worden. § 166 AO greift nicht ein, da der Bescheid noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand. Dem A war ab Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung die Möglichkeit der Antragstellung genommen worden.

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Hinweis: Um zu verhindern, dass eine Festsetzungsverjährung bei der Vorbehaltsfestsetzung dem ehemaligen Geschäftsführer zum Nachteil gereicht, sollte er noch in der Zeit, in der er als Geschäftsführer tätig ist, einen Antrag auf Änderung der Vorbehaltsfestsetzung stellen.1 Im anderen Gewand stellt sich die Frage des Einwendungsausschlusses nach § 166 AO, wenn der Haftungsschuldner es versäumt, gegen die Anmeldung zur Insolvenztabelle Widerspruch einzulegen. Nach Abschluss des Insolvenzverfahrens kann der Gläubiger ihm dies entgegenhalten. Hier ist der Haftungsschuldner m.E. von der Geltendmachung von Einwendungen im Haftungsverfahren ausgeschlossen, wenn er im gesamten Zeitraum, in dem er Widerspruch hätte einlegen können, dieses unterlassen hat.2

9.72

Bei Duldungsbescheiden ist dagegen nach einer Meinung3 die Bestandskraft des Primäranspruchs zu beachten. Der Anfechtungsgegner nimmt eine andere Stellung ein als der Haftungsschuldner. Während dieser schon vor Festsetzung der Steuer in Anspruch genommen werden kann, setzt die Inanspruchnahme des Anfechtungsgegners voraus, dass der Primäranspruch vollstreckbar ist. Dem Haftungsschuldner müssen im Gegensatz zum Anfechtungsgegner daher grundsätzlich alle Einwendungen erhalten bleiben. Ferner ist der Duldungsbescheid – anders als der Haftungsbescheid – gem. § 218 AO nicht Grundlage der Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis und der Anspruch gegen den Anfechtungsgegner kein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO).4 Es bleibt danach festzuhalten, dass der Anfechtungsgegner mit denjenigen Einwendungen ausgeschlossen wird, die auch der Schuldner des Primäranspruchs (Steuerbescheid oder Haftungsbescheid) nicht mehr geltend machen kann. Nachträglich entstandene Einwendungen bleiben dem Duldungspflichtigen aber erhalten.5 Dieser zivilrechtlichen Beurteilung hat sich der BFH angeschlossen.6

1 S. BFH, Urt. v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755. 2 S. BFH, Urt. v. 16.5.2017 – VII R 25/16, DB 2017, 1821; s. auch FG München, Urt. v. 10.3.2016 – 14 K 2710/13, EFG 2016, 1931, Rev. eingelegt, Az. BFH XI R 9/16; FG Köln, Urt. v. 18.1.2017 – 10 K 3671/14, EFG 2017, 625, Rev. eingelegt, Az. BFH I R 39/17; vgl. auch FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 25.2.2014 – 3 K 1283/12, EFG 2014, 1166, das § 166 AO in diesem Fall anwendet. 3 Vgl. BFH, Urt. v. 1.3.1988 – VII R 109/86, BStBl. II 1988, 408; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 120. 4 BFH, Urt. v. 1.3.1988 – VII R 109/86, BStBl. II 1988, 408 (410); BVerwG Urt. v. 13.2.1987 – 8 C 25.85, BStBl. II 1987, 475 (477). 5 Zur vergleichbaren Lage im Zivilrecht s. Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rz. 265 m.w. Nachw., der insoweit auf § 767 Abs. 2 ZPO verweist. 6 BFH, Urt. v. 1.3.1988 – VII R 109/86, BStBl. II 1988, 408.

276

B. Begrndetheit des Einspruchs

Einwendungen gegen den Primärbescheid

9.73

Ein Sonderfall ist die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in einer Höhe, 9.74 die den Betrag der schon festgesetzten Steuerschuld übersteigt. Zum Teil wird vertreten, dass nicht die festgesetzte Steuer maßgeblich sei, sondern der bestehende Steueranspruch.1 Halaczinsky ist der Ansicht2, wegen ihrer Akzessorietät könne die Haftung nicht weiter reichen als die Steuerschuld des Steuerpflichtigen. Die Inanspruchnahme des Steuerschuldners wird über den Betrag des Steuerbescheides hinaus verfahrensrechtlich eingeengt. Nur nach den Änderungs1 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 26.3.1987 – 3 K 14/86, EFG 1987, 428 (429); Loose in Tipke/ Kruse, § 191 AO Rz. 15. 2 Halaczinsky, Rz. 608.

277

Kap. 9 Einspruchsverfahren

vorschriften der AO kann der Steuerpflichtige in erhöhtem Maße in Anspruch genommen werden. Liegen die Voraussetzungen für eine Änderung vor, so kann auch der Haftungsschuldner zur Leistung verpflichtet werden. Der zuerst genannten Ansicht ist zu folgen. Die Akzessorietät bezieht sich auf den Steueranspruch. Ist die Steuer zu niedrig festgesetzt worden, so sind die Änderungsvorschriften zwar zu beachten; sie gelten aber nur im Verhältnis zum Steuerpflichtigen. Der Haftungsschuldner kann aus der fehlenden Änderungsmöglichkeit (z.B. nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) nicht für sich Vorteile herleiten. 9.75

9.76

9.77

Die Akzessorietät führt grundsätzlich dazu, dass der Haftungsbescheid durch Zahlungen des Steuerschuldners oder eines anderen Haftungsschuldners auf die zugrunde liegenden Steueransprüche, die zur endgültigen Tilgung geführt haben, rechtswidrig wird. Ist die Erstschuld durch Tilgung erloschen, ist wegen der Akzessorietät auch der Haftungsbescheid insoweit rechtswidrig. Dies gilt jedoch nur für die vor Erlass der letzten Verwaltungsentscheidung (= Einspruchsentscheidung) erfolgten Zahlungen. Zahlungen nach Erlass des Einspruchsbescheids berühren die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides nicht. Denn Grundlage der gerichtlichen Überprüfung ist der Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung.

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Hinweis: Wurden nach Klageerhebung Zahlungen auf die Steuerschuld vorgenommen, so bleibt der Haftungsbescheid in Form des Einspruchsbescheids rechtmäßig. Die Anfechtungsklage wäre unbegründet. Der Haftungsschuldner ist aber nicht schutzlos. Er kann einen Abrechnungsbescheid nach § 218 AO beantragen und notfalls Verpflichtungsklage erheben.1

Soweit Zahlungen durch einen anderen Haftungsschuldner im Einspruchsverfahren geleistet worden sind und dieser seinen Haftungsbescheid angefochten hat und das Rechtsmittelverfahren noch nicht beendet ist, brauchen diese Zahlungen nicht berücksichtigt zu werden. Denn das Finanzamt muss stets mit der Möglichkeit rechnen, dass der Haftungsbescheid gegen den anderen Haftungsschuldner ersatzlos aufgehoben wird.2 2. Ausschluss der Inanspruchnahme gem. § 191 Abs. 5 AO

9.78

In § 191 Abs. 5 AO sind einige Fälle aufgeführt, in denen eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners wegen der Akzessorietät ausgeschlossen ist. Der Gesetzgeber hat dies nach § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO bestimmt, wenn Festsetzungsverjährung für die Steuerschuld eingetreten ist. Das Gleiche gilt, wenn Zahlungsverjährung (§ 228 AO) eingetreten ist oder die geschuldete Steuer erlassen wurde (§ 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AO). Im zuletzt genannten Fall soll verhindert werden, dass der Steuerpflichtige im Wege des Regresses durch den in Anspruch genommenen Haftungsschuldner doch noch belastet wird.3 Nach § 191 Abs. 5 Satz 2 AO greift die Haftungsbeschränkung jedoch nicht, wenn der Haftende Steuerhinterzieher oder Steuerhehler war und die Haftung darauf be1 BFH, Urt. v. 17.10.1980 – VI R 136/77, BStBl. II 1981, 138 (140). 2 BFH, Urt. v. 17.10.1980 – VI R 136/77, BStBl. II 1981, 138 (140). 3 Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 106.

278

B. Begrndetheit des Einspruchs

ruhte. Für Teilnehmer an einer solchen Straftat gilt aber die Haftungsbeschränkung.1 3. Verwirkung eines Haftungsanspruchs Wie im Zivilrecht kann auch im öffentlichen Recht der Geltendmachung eines 9.79 Anspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen. Insbesondere trifft dieses im Fall der Verwirkung zu. Macht das Finanzamt einen Haftungsanspruch längere Zeit nicht geltend, so erscheint eine verspätete Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben. Jedoch führt der Zeitablauf allein nicht zur Verwirkung. Hinzukommen müssen ein Vertrauenstatbestand und eine Vertrauensfolge. Der Umstand, dass z.B. ein Einspruch gegen den Haftungsbescheid sieben Jahre unbearbeitet blieb, begründet einen solchen Vertrauenstatbestand nicht.2 Hingegen würde ein solcher angenommen werden können, wenn das Finanzamt dem Haftungsschuldner z.B. mitteilt, dass er mit einer Geltendmachung des Haftungsanspruchs nicht mehr rechnen müsse. 4. Ermessensentscheidung Schrifttum: Buciek, Erlasssituation und Haftungsverfahren, DB 1986, 2254; Harder, Das Auswahlermessen bei der Steuerhaftung, DB 1988, 2022; Rößler, Entschließungsermessen und Haftungsbescheid, DStZ 1990, 64; Blesinger, Das Ermessen der Finanzbehörde beim Erlass eines Haftungsbescheides, StuW 1995, 226; Halaczinsky, Rz. 615; Blesinger, S. 177; Pump/Leibner, Das Ermessen bei Haftungsbescheiden, StB 2006, 18; Nacke, Ermessensfehler beim Erlass von Haftungsbescheiden gegen die GmbH oder den Geschäftsführer, GmbHR 2006, 846; Nacke, Ermessensfehler bei Haftungsbescheiden gegen GmbH-Geschäftsführer, Gestaltende Steuerberatung 2006, 371; Müller, Anfechtung von Ermessensentschädigungen, AO-StB 2006, 184.

a) Allgemeine Ausführungen Der Haftungsbescheid ist eine Ermessensentscheidung. § 191 Abs. 1 Satz 1 AO 9.80 enthält deshalb die Formulierung „kann“. Ermessen liegt immer vor, wenn die Verwaltung bei der Entscheidung über einen Verwaltungsakt eine Wahlmöglichkeit hat. Das Ermessen ist allgemein in zweierlei Hinsicht auszuüben. Es bezieht sich zunächst darauf, „ob“ ein Verwaltungsakt erlassen wird (Entschließungsermessen). Im weiteren Schritt ist zu prüfen, welche von verschiedenen Möglichkeiten zu wählen ist (Auswahlermessen). Für die Ermessensentscheidung gelten gem. § 5 AO die allgemeinen Grundsätze. Um eine fehlerfreie Ermessensausübung durch die Finanzbehörde treffen zu können, ist es erforderlich, den Sachverhalt umfassend und einwandfrei zu ermitteln. Mangelt es an Sachverhaltsermittlungen, die den Beitrag eines Haftungsschuldners zur eingetretenen Steuerverkürzung betreffen und die deshalb bei der Ermessenswürdigung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht fehlen, so ist der Haftungsbescheid er-

1 Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 107. 2 BFH, Beschl. v. 14.5.1998 – VII B 171/97, BFH/NV 1999, 3 (4); vgl. auch Niedersächsisches FG, Urt. v. 11.3.1999 – XI 642/97, n.v.

279

Kap. 9 Einspruchsverfahren

messensfehlerhaft.1 So stellt es beispielsweise einen Ermessensfehler dar, wenn die Entscheidung u.a. auf Vermutungen und Annahmen beruht.2 Grundlage der Entscheidung müssen auch für den Haftenden günstige Umstände sein, sei es, dass sie vom Haftenden selber vorgetragen wurden, sei es, dass sie sich aus den Akten oder anderen Umständen ergeben.3 Wie der BFH in einer Entscheidung zu Recht hervorhebt4, kann es bei der Frage nach der umfassenden Sachverhaltsermittlung in diesem Zusammenhang nur auf Sachverhalte ankommen, die für die Ermessensentscheidung und nicht für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen von Bedeutung sind. In dem entschiedenen Fall spielte die Höhe der Haftungssumme für das Entschließungsermessen keine Rolle, so dass hierzu fehlende Ermittlungen den Haftungsbescheid nicht ermessensfehlerhaft machten. 9.81

Û

Hinweis: Es bereitet naturgemäß dem Finanzamt Schwierigkeiten, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln. Deshalb wird es vorkommen, dass Einspruchsentscheidungen nicht auf einem umfassend ermittelten Sachverhalt aufbauen. Es obliegt dann dem Kläger, im Klageverfahren diese fehlenden Ermittlungen vorzutragen und deren Bedeutung für die Ermessensentscheidung zu erläutern. Da das Finanzgericht nur überprüft, ob der Haftungsbescheid rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wird, reicht dann dieser Vortrag aus, den Haftungsbescheid aufzuheben.

9.82

Û

Hinweis: Es reicht nicht aus, wenn das Finanzamt im Haftungsbescheid bzw. in der Einspruchsentscheidung mitteilt, dass die Haftung weiterer Personen „geprüft“ werde. Der entscheidungserhebliche Sachverhalt ist dann nicht einwandfrei und erschöpfend zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung ermittelt worden. Die Ermessensentscheidung ist dann fehlerhaft.5

b) Entschließungsermessen 9.83

Das Entschließungsermessen, also die Frage, ob jemand durch Verwaltungsakt in Anspruch genommen werden soll, gilt auch für Haftungsbescheide.6 Dies ist in der Literatur nicht unumstritten. Besonders Seer7 ist der Ansicht, dass dem 1 BFH, Urt. v. 11.3.1986 – VII R 144/81, BFH/NV 1987, 137; Urt. v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143; Urt. v. 12.12.1996 – VII R 53/96, BFH/NV 1997, 386; Urt. v. 17.10.2001 – II R 67/98, BFH/NV 2002, 610; Urt. v. 23.9.2009 – XI R 56/07, BFH/NV 2010, 12; FG Hamburg v. 4.3.2014 – 3 K 175/13, juris; Sächsisches FG v. 24.9.2014 – 8 K 1883/12, juris. 2 Gersch in Klein, § 5 AO Rz. 4. 3 BFH, Urt. v. 4.10.1989 – V R 106/84, BFHE 158, 306 = BStBl. II 1990, 179; Gersch in Klein, § 5 AO Rz. 4. 4 BFH, Urt. v. 12.12.1996 – VII R 53/96, BFH/NV 1997, 386 (387). 5 Niedersächsisches FG, Urt. v. 6.5.2010 – 11 K 115/08, n.v. 6 BFH, Urt. v. 5.6.1985 – VII R 57/82, BFHE 144, 290 (292) = BStBl. II 1985, 688; Urt. v. 4.2.1986 VII B 87/83, BFH/NV 1986, 380; Urt. v. 4.10.1988 VII R 53/85, BFH/NV 1989, 274; Urt. v. 8.11.1988 – VII R 78/85, BStBl. II 1989, 118; Urt. v. 12.12.1996 – VII R 53/96, BFH/NV 1997, 386 (387); Urt. v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4. 7 Seer in Tipke/Lang, § 6 Rz. 84.

280

B. Begrndetheit des Einspruchs

Finanzamt ein solches Entschließungsermessen nicht zustehe. Denn der Haftungsanspruch als Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis unterliege ebensowenig der Disposition der Finanzbehörde wie der Steueranspruch als Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis selbst. Es werde die Grenze zum Erlass (§ 227 AO) des Haftungsanspruchs verwischt. Dem ist m.E. nicht zuzustimmen, denn die Einräumung eines Ermessens dient der Einzelfallgerechtigkeit. Es ist im Einzelfall möglicherweise gerechter, jemanden als Haftenden erst gar nicht in Anspruch zu nehmen, als im zweiten Zuge einen Haftungsanspruch zu erlassen. Kriterien für eine Inanspruchnahme des Haftenden sind die Durchsetzbarkeit der Erstschuld beim Steuerschuldner, die Schwere der Pflichtverletzung des Haftenden und die Berücksichtigung des Haftungsgrundes. Grundsätzlich sind aber keine Kriterien des Entschließungsermessens1:

9.84

– das Verhältnis der Höhe der Haftungsschuld zu den finanziellen Möglichkeiten des Haftungsschuldners, da der Schadensersatzcharakter des Haftungsanspruchs im Vordergrund steht. Billigkeitsgesichtspunkte sind daher bei der Feststellung des Haftungsanspruchs nicht zu berücksichtigen.2 M.E. ist somit die Entscheidung des FG Münster abzulehnen, wonach bei der Ausübung des Entschließungsermessens auch die persönliche und finanzielle Situation des Haftungsschuldners zu berücksichtigen ist,3 – Maß des Verschuldens beim Haftenden.4 Für die Inanspruchnahme ist zunächst allein der entstandene Schaden für den Staat relevant. Der Verschuldensvorwurf ist aber bedeutsam bei der Auswahl zwischen mehreren Haftungsschuldnern, – Steuervorteile aus einer Steuerhinterziehung, – Regressmöglichkeiten des Haftenden, – Höhe des Haftungsanspruchs,5 – die Unpfändbarkeit der haftenden Gegenstände gem. § 295 AO, § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO bei einer Haftung nach § 75 AO,6 – die Möglichkeit, im Rahmen der Umsatzsteuerveranlagung die zu zahlende Umsatzsteuer beim Leistungsempfänger als Vorsteuer geltend zu machen, so dass faktisch eine sog. „Nullsituation“ entsteht.7

1 Vgl. auch Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 36 ff. 2 BFH, Urt. v. 21.1.2004 – XI R 3/03, BStBl. II 2004, 919 (922); Beschl. v. 29.8.2001 – VII B 54/01, ZfZ 2002, 55; Beschl. v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; Beschl. v. 4.5.1998 – I B 116/96, BFH/NV 1998, 1460 (1463). 3 FG Münster, Urt. v. 13.11.1996 – 8 K 6147/95 U, EFG 1997, 324. 4 BFH, Beschl. v. 4.5.1998 – I B 116/96, BFH/NV 1998, 1460 (1463). 5 BFH, Urt. v. 5.9.1989 – VII R 61/87, BStBl. II 1989, 979; Urt. v. 12.12.1996 – VII R 53/96, BFH/NV 1997, 386. 6 BFH, Urt. v. 14.5.2013 – VII R 36/12, BFH/NV 2013, 1905; s. aber Niedersächsisches FG v. 16.8.2010 – 11 K 245/09, EFG 2010, 2064 für den Fall, wenn überhaupt keine Vermögensgegenstände zur Verfügung stehen. 7 BFH, Urt. v. 7.7.1983 – V R 197/81, BFHE 139, 310 (312) = BStBl. II 1984, 70 (71); Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491 (494) m.w. Nachw.

281

Kap. 9 Einspruchsverfahren

9.85

Das Maß des Entschließungsermessens kann aber im Einzelfall unterschiedlich sein. In Fällen der Steuerhinterziehung wie auch in Fällen, in denen ein schweres Verschulden (Vorsatz, nicht jedoch grobe Fahrlässigkeit) vorliegt, kann das Entschließungsermessen – wie der BFH es formuliert – vorgeprägt sein.1 Grobes Verschulden scheidet aus, da es tatbestandlich für die Haftung schon Voraussetzung ist.2 Ein Hauptfall der Vorprägung sind die Fälle der Steuerhinterziehung.3 Besser wäre es, in diesen Fällen von einer Ermessensreduzierung auf null zu sprechen. Hier hat das Finanzamt keinen Spielraum. Es kann nur noch den Haftenden durch Haftungsbescheid in Anspruch nehmen. Fehlt in diesen Fällen eine Ermessensabwägung, so ist dies nicht schädlich, da wegen der Vorprägung ohnehin nur eine Entscheidung – Erlass des Haftungsbescheids – in Betracht kommt.4 Ein Fall der Ermessensreduzierung auf null ist auch dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige nicht in Anspruch genommen werden kann (z.B. weil er für den Steuerausfall nicht einzustehen hat bzw. eine Realisierung bei ihm nicht Erfolg verspricht) und nur noch die Realisierung durch einen Haftungsbescheid erfolgen kann.5 Der BFH hat hierzu die Auffassung vertreten, dass auf eine Begründung des Entschließungsermessens dann verzichtet werden kann, wenn die Erstschuld uneinbringlich ist und keine ganz außergewöhnlichen Umstände vorliegen. Im Regelfall sei daher eine Ermessensbegründung nicht erforderlich, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs nicht möglich sei.6

9.86

Eine andere Frage ist, ob die Finanzbehörde den Haftenden nur in Höhe eines Teilbetrages in Anspruch nehmen darf. Dies ist ebenfalls umstritten. Nach einer Ansicht beinhaltet das Recht des „Ob“ einer Inanspruchnahme auch, über die Höhe nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden zu können.7 Nach Auffassung des BFH aus dem Jahr 1991 besteht ein solches Ermessen nicht. Es werde ansonsten der Finanzbehörde auferlegt, im Rahmen der Ermessensentscheidung Ermittlungen über die etwaige Zahlungsfähigkeit des Inanspruchgenommenen und darüber anzustellen, ob dessen Verschulden im richtigen Verhältnis zur Haftungssumme stehe.8 Dem ist zuzustimmen, da schon aus anderen Erwägungen heraus eine Reduzierung vorgenommen werden kann. Es gibt Situationen, in denen eine Inanspruchnahme des Haftenden aus Ermessenserwägungen heraus ausgeschlossen oder zu reduzieren ist. So führt eine Erlasslage bei der Steuerschuld wegen sachlicher Unbilligkeit selbstverständlich zu einem Verzicht auf die Haftungsinanspruchnahme eines Dritten, selbst wenn ein Fall der Steuer1 BFH, Urt. v. 26.2.1991 – VII R 3/90, BFH/NV 1991, 504; Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325 (1328). 2 BFH, Urt. v. 8.11.1988 – VII R 141/85, BStBl. II 1989, 219; Urt. v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4 (6); Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325 (1328). 3 BFH, Urt. v. 21.1.2004 – XI R 3/03, BStBl. II 2004, 919 (922). 4 BFH, Urt. v. 26.2.1991 – VII R 3/90, BFH/NV 1991, 504; Beschl. v. 22.2.2005 – VII B 213/04, GmbHR 2005, 891; einschränkend für einen Fall der Steuerhinterziehung FG Düsseldorf, Urt. v. 3.3.1998 – 8 K 8367/91 H (U), EFG 1998, 1038. 5 Hessisches FG, Urt. v. 14.1.1998 – 4 K 2594/94, EFG 1998, 757 (759). 6 BFH, Urt. v. 13.11.1990 – VII R 96/88, BFH/NV 1991, 641. 7 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 42 m.w. Nachw; Jakob, Rz. 425. 8 BFH, Urt. v. 26.2.1991 – VII R 3/90, BFH/NV 1991, 504; Nacke, GmbHR 2006, 846 m.w. Nachw. in Fn. 21; a.A. FG Düsseldorf, das Erwägungen zur Zahlungsfähigkeit in die Ermessensprüfung aufnimmt (Urt. v. 3.3.1998 – 8 K 8367/91 H [U], EFG 1998, 1038).

282

B. Begrndetheit des Einspruchs

hinterziehung vorliegt.1 Maßgeblich ist somit nicht die formal bestandskräftig festgesetzte Steuer, sondern die materiell bestehende Rechtslage, denn es ist bei der Haftung nach § 69 AO wie bei einer Haftung nach § 71 AO der Schadensersatzcharakter der Vorschrift zu beachten. Es ist infolgedessen haftungsbeschränkend zu berücksichtigen, in welcher Höhe Steuern bei ordnungsgemäßem Verhalten entstanden wären.2 Mit anderen Worten: Die Höhe der Haftung ergibt sich daraus, inwieweit die Pflichtverletzung ursächlich für den Schaden war. Ein Mitverschulden des Finanzamts i.S.d. § 254 BGB ist bei der Realisierung 9.87 der Steueransprüche gegen den Steuerschuldner im Rahmen der Ermessensausübung hinsichtlich des Entschließungsermessens ausnahmsweise erheblich.3 Handelt es sich um eine Haftung nach einer Vorschrift mit Schadensersatzcharakter (§§ 69, 71, 72 AO), ist das Mitverschulden nach einer Ansicht in der Literatur schon tatbestandlich zu beachten.4 Bei den anderen Haftungstatbeständen kann eine Ermessensrelevanz des mitwirkenden Verschuldens der Finanzbehörden bestehen. Nur weil das Finanzamt aber fahrlässig einen Steueranspruch nicht geltend macht, kann dies nicht von vornherein einen Verzicht auf einen Haftungsanspruch bedeuten. Wie der BFH hervorhebt, trägt der Haftungsschuldner grundsätzlich das Risiko, dass die Steuerforderungen beim Steuerschuldner nicht vollstreckt werden können.5 Nur wenn infolge vorsätzlicher oder besonders grober Pflichtverletzung die Beitreibung durch die Finanzbehörde fehlgeschlagen ist, kann der Erlass eines Haftungsbescheides gegen Treu und Glauben verstoßen.6 So kann z.B. ein Mitverschulden des Finanzamts dann berücksichtigt werden, wenn es eine ihm von einer überschuldeten GmbH zur Verrechnung mit USt-Schulden angebotene Steuererstattung auf das im Soll stehende Bankkonto der GmbH überweist.7 Nach einer älteren Entscheidung des BFH besteht die Amtspflicht, für die rechtzeitige Zahlung, Beitreibung oder Sicherstellung der Steuerschuld zu sorgen. Versäumt dies das Finanzamt, kann es nach dieser BFH-Entscheidung nicht nach Jahr und Tag einen Dritten in Anspruch nehmen, wenn der zunächst Verpflichtete zahlungsunfähig

1 BFH, Urt. v. 8.11.1988 – VII R 78/85, BStBl. II 1989, 118 = BFHE 155, 17; Urt. v. 25.7.1989 – VII R 54/86, BStBl. II 1990, 284 = BFHE 157, 467. 2 BFH, Urt. v. 26.2.1991 – VII R 3/90, BFH/NV 1991, 504; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 41. 3 BFH, Urt. v. 4.12.2007 – VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521; Urt. v. 11.11.2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342; Urt. v. 23.4.2014 – VII R 28/13, BFH/NV 2014, 1489; Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 69/15, BFH/NV 2016, 177; vgl. Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 44a m.w. Nachw. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 50 m.w. Nachw., § 69 AO Rz. 28; Blesinger, S. 33; Kanzler, DStR 1985, 339; a.A. BFH, Beschl. v. 2.6.2001 – VII B 345/00, BFH/NV 2002, 4 (5) m.w. Nachw.; Urt. v. 23.4.2014 – VII R 28/13, BFH/NV 2014, 1489; Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 69/15, BFH/NV 2016, 177. 5 BFH, Urt. v. 4.7.1979 – II R 74/77, BStBl. II 1980, 126 = BFHE 129, 201. 6 BFH, Urt. v. 4.7.1979 – II R 74/77, BStBl. II 1980, 126 (127) = BFHE 129, 201; Urt. v. 4.5.1983 – II R 108/81, BStBl. II 1983, 592 (593); Urt. v. 22.7.1986 – VII R 191/83, BFH/NV 1987, 140; Urt. v. 29.7.1992 – I R 112/91, BFH/NV 1994, 357; Beschl. v. 2.6.2001 – VII B 345/00, BFH/NV 2002, 4 (5). 7 FG Saarland, Urt. v. 4.11.1993 – 2 K 179/91, EFG 1994, 329.

283

Kap. 9 Einspruchsverfahren

ist.1 Der Anknüpfungspunkt ist hier die Verwirkung des Haftungsanspruchs. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei nicht um eine Frage des Ermessens, sondern um eine Frage im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Haftungsanspruchs. Beispielsweise kann die Inanspruchnahme eines Erwerbers eines Betriebes gem. § 75 AO ermessensfehlerhaft sein, wenn die Finanzbehörde bei dem Veräußerer nicht auf rechtzeitige Zahlung, Vollstreckung oder Sicherung der Steuerschuld gedrängt hat.2 Andererseits hat der BFH mehrfach entschieden, wenn das Finanzamt über einen längeren Zeitraum von seinen Befugnissen zur Beitreibung der vollständigen Lohnabzugsbeträge keinen Gebrauch macht, liege darin kein Mitverschulden.3 Ebenso führt der Antrag des Finanzamtes auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zu einem Mitverschulden.4 Auch eine irrtümlich vorgenommene Auszahlung durch das Finanzamt an den Steuerpflichtigen bedeutet für sich genommen kein ein Mitverschulden bewirkendes Verhalten, das der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners entgegenstehen könnte.5 An anderer Stelle setzt der BFH für einen Ermessensfehlgebrauch selbst bei Vorliegen des Mitverschuldens des Finanzamtes weiter voraus, dass das Verschulden des Haftungsschuldners gering war.6 Ein etwaiges Mitverschulden des Finanzamts kann nur dann im Rahmen der Ermessensausübung Berücksichtigung finden, wenn es gegenüber dem Verschulden des Haftungsschuldners deutlich überwiegt.7 Handelt also ein Geschäftsführer grob fahrlässig, so ist selbst bei Vorliegen des Mitverschuldens des Finanzamtes kein Ermessensfehler gegeben, wenn dieses Mitverschulden für die Inanspruchnahme des Geschäftsführers durch die Finanzbehörde unerheblich war.8 Das Schrifttum hält ein Mitverschulden der Finanzbehörde nur in Ausnahmefällen für die Ermessensentscheidung für bedeutsam.9 9.88

Û

Hinweis: In der Praxis wird es häufig schwierig sein, den Grad der Pflichtverletzung zu bestimmen. Im Hinblick auf ein Mitverschulden des Finanz-

1 BFH, Urt. 12.5.1976 – II R 187/72, BStBl. II 1976, 579; RG, Urt. v. 24.4.1934 – III 285/33, RStBl. 1934, 1373. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 52 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 11.8.1978 – VI R 169/75, BFHE 125, 508 = BStBl. II 1978, 683; Urt. v. 2.10.1986 – VII R 28/83, BFH/NV 1987, 349 (352); Beschl. v. 28.8.1990 – VII S 9/90, BFH/ NV 1991, 290; Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; Beschl. v. 27.4.1998 – VII B 277/97, BFH/NV 1998, 1450 (1451); Beschl. v. 2.6.2001 – VII B 345/00, BFH/NV 2002, 4 (5). 4 Schleswig-Holsteinisches FG, Urt. v. 1.12.2005 – 2 K 174/04, EFG 2006, 321. 5 FG Brandenburg, Urt. v. 14.5.1998 – 5 K 1514/96 H, AO, EFG 1998, 1180. 6 BFH, Beschl. v. 2.6.2001 – VII B 345/00, BFH/NV 2002, 4 (5); Beschl. v. 21.1.1986 – VII S 30/85, BFH/NV 1986, 518 (520); Beschl. v. 28.8.1990 – VII S 9/90, BFH/NV 1991, 290; Urt. v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4 (6). 7 BFH, Beschl. v. 19.3.1999 – VII B 158/98, BFH/NV 1999, 1304; Beschl. v. 28.8.1990 – VII S 9/90, BFH/NV 1991 S. 290; Beschl. v. 21.9.2009 – VII B 85/09, BFH/NV 2010, 11; Urt. v. 23.4.2014 – VII R 28/13, BFH/NV 2014, 1489; Beschl. v. 11.11.2015 – VII B 69/15, BFH/ NV 2016, 177. 8 Vgl. auch BFH, Urt. v. 22.7.1986 – VII R 191/83, BFH/NV 1987, 140, der insoweit auf den Ursachenzusammenhang hinweist. In diesen Fällen sei nicht das Finanzamt, sondern die Pflichtwidrigkeit des Geschäftsführers für die Inanspruchnahme des Haftenden ursächlich; vgl. auch BFH, Beschl. v. 30.12.1998 – VII B 160/98, BFH/NV 1999, 902 (904), für den Fall der vorsätzlichen Herbeiführung des Steuerausfalls. 9 Halaczinsky, Rz. 617; Buciek, DStR 1987, 190.

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B. Begrndetheit des Einspruchs

amts werden sich in den meisten Fällen die Finanzgerichte an die Linie des BFH halten und nur sehr restriktiv von einem Mitverschulden ausgehen. Eine Frage des Mitverschuldens besteht aber auch in anderer Hinsicht. Eine ver- 9.89 spätete Inanspruchnahme des Haftenden kann ermessensfehlerhaft sein. Insbesondere ist dies der Fall, wenn der Haftende durch die verspätete Inanspruchnahme keinen Regress mehr beim Steuerpflichtigen nehmen kann.1 Es ist aber dabei zu beachten, dass ein Ermessensfehler nicht stets in diesen Fällen gegeben ist. Denn vom Konzept her hat der Haftende grundsätzlich hinzunehmen, dass er die Leistungen, die er auf die Haftungsschuld erbringt, nicht vom Steuerschuldner erstattet verlangen kann. Die darin liegende Härte ist gesetzlich gewollt.2 c) Auswahlermessen Aus der Tatsache, dass neben dem Steuerschuldner der Haftende oder bei meh- 9.90 reren Haftenden diese zusammen als Gesamtschuldner gem. § 44 Abs. 1 AO zu behandeln sind, ergibt sich ein weiterer Entscheidungsbereich der Finanzbehörde für Ermessensfragen. Sie hat ein Auswahlermessen zu treffen. Der Haftende hat zwar nicht subsidiär für die Steuerschuld einzutreten; doch bedeutet Haftung Einstehen für eine fremde Schuld. Die Finanzverwaltung ist daher regelmäßig gehalten, zunächst den Steuerschuldanspruch beim Steuerschuldner geltend zu machen. Daraus ist aber nicht zu folgern, dass der Haftende erst bei Erfolglosigkeit der Inanspruchnahme des Steuerschuldners mit einem Haftungsbescheid überzogen werden darf. Aus dem Zusammenspiel des § 191 und § 219 Satz 1 AO ergibt sich nur, dass der Haftungsbescheid in diesen Fällen leistungsgebotslos sein muss. Auch beim Auswahlermessen kann es zu einer Ermessensreduzierung auf null 9.91 kommen. Steht von vornherein fest, dass bei den anderen potentiell Haftenden „nichts zu holen“ ist, so braucht nicht näher begründet zu werden, warum der Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird. Ein solcher Fall ist z.B. gegeben, wenn neben einem ausländischen Haftungsschuldner nur noch ein Inländer in Anspruch genommen werden kann. In der Regel wird eine Vollstreckung im Ausland ohne Erfolg sein, so dass für die Inanspruchnahme des inländischen Haftungsschuldners im Rahmen der Ermessensausübung der Hinweis auf diese Tatsache ausreicht, ohne dass die Ermessensausübung einer weiteren Begründung bedarf.3 Wie beim Entschließungsermessen, so ist auch beim Auswahlermessen eine Vorprägung des Ermessens zu beachten, wenn ein Fall vorsätzlicher Steuerstraftaten gegeben ist. Einer besonderen Begründung der Ermessensbetätigung bedarf es dann nicht. Dies gilt nicht nur bei einer Haftungsinanspruchnahme nach § 71 AO4, sondern auch bei einer Haftung nach anderen Haftungsvor1 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 52 m.w. Nachw. 2 BFH, Urt. v. 4.7.1979 – II R 74/77, BStBl. II 1980, 126 (127); Urt. v. 4.5.1983 – II R 108/81, BStBl. II 1983, 592 (593); Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491 (495); Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 52. 3 BFH, Urt. v. 22.10.1986 – I R 261/82, BFHE 148, 143 = BStBl. II 1987, 171; Urt. v. 20.7.1988 – I R 61/85, BStBl. II 1989, 99 (100); vgl. auch FG Nürnberg, Urt. v. 28.1.1998 – III 128/95, EFG 1998, 951 (953). 4 BFH, Beschl. v. 8.6.2007 – VII B 280/06, BFH/NV 2007, 1822 m.w. Nachw.

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Kap. 9 Einspruchsverfahren

schriften (z.B. § 42d EStG), wenn die Haftung auf ein strafrechtliches Verhalten des Haftenden beruht1. 9.92

Beispiel: A ist Arbeitgeber und zahlt Schwarzlöhne aus. Das Finanzamt stellt später diesen Sachverhalt fest und nimmt A nach § 42d EStG für Lohnsteuer in Haftung. Obwohl die Haftungsgrundlage § 42d EStG keine Straftat voraussetzt, ist hier das Auswahlermessen wegen des Vorliegens einer Straftat vorgeprägt. Auch wenn die Arbeitnehmer selbst eine Straftat begangen haben, so bedarf es keiner Ermessensabwägung für die Inanspruchnahme des Arbeitgebers.2 Ein Auswahlermessen kommt nur in Betracht, wenn eine Auswahl aus mehreren potentiell Haftenden vorgenommen werden muss. Als erster Schritt der Auswahl ist erforderlich, den Kreis der potentiell Haftenden zu bestimmen. Erst dann kann eine Auswahl getroffen werden.

9.93

So ist zu beachten, dass auch der Nachfolgegeschäftsführer in die Ermessenserwägungen einzubeziehen ist.3 Auch ihn trifft die Verpflichtung, Steuerrückstände zu begleichen, wozu auch die aus der Zeit vor seiner Anstellung gehören. Er kann allenfalls damit gehört werden, dass er nur im Rahmen der verfügbaren Mittel zur Entrichtung dieser Steuern verpflichtet ist. Maßstab ist gem. § 69 AO auch bei ihm die Frage, ob er grob fahrlässig oder vorsätzlich eine Pflichtverletzung begangen hat. Die Finanzbehörde hat daher in Bezug auf den alten und neuen Geschäftsführer ein Auswahlermessen zu treffen. Als sachgerechtes Kriterium für das Auswahlermessen zwischen mehreren Haftenden kommt hier der Grad des Verschuldens in Betracht.4 Weiterhin ist es ermessensfehlerfrei, wenn man den solventeren Haftungsschuldner einem unmaßgeblichen Geschäftsführer vorzieht5, die Geschäftsführerin nicht in Anspruch nimmt, die im Haftungszeitraum wegen der Geburt eines Kindes nicht tätig war6 oder bei der Haftung von Vorstandsmitgliedern das Mitglied in Haftung nimmt, das für Steuerangelegenheiten im Vorstand zuständig war7. Andererseits ist es in der Regel auch ermessensgerecht, wenn die Finanzbehörde alle in Betracht kommenden Haftenden mittels Haftungsbescheid nebeneinander in Anspruch nimmt, insbesondere, wenn zu befürchten ist, dass bei einem Einzelnen der Haftungsanspruch nicht in voller Höhe befriedigt werden kann.8 Das Auswahlermessen ist in die1 BFH, Urt. v. 12.2.2009 – VI R 40/07, BStBl. II 2009, 478; H 42d.1 LStH 2012 „Allg. zur Arbeitgeberhaftung“. 2 BFH, Urt. v. 12.2.2009 – VI R 40/07, BStBl. II 2009, 478. 3 BFH, Urt. v. 17.1.1989 – VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71; Urt. v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143. 4 BFH, Urt. v. 29.5.1990 – VII R 85/89, BStBl. II 1990, 1008 = BFHE 161, 486; Urt. v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 47 m.w. Nachw.; Harder, DB 1988, 2023. 5 Vgl. BFH, Beschl. v. 4.2.1986 – VII B 87/83, BFH/NV 1986, 380; FG Bremen, Urt. v. 21.10.2004 – 4 K 190/02, StE 2005, 61. 6 BFH, Urt. v. 29.5.1990 – VII R 85/89, BStBl. II 1990, 1008 = BFHE 161, 486. 7 BFH, Urt. v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 47. 8 BFH, Beschl. v. 2.8.1988 – VII B 111/87, BFH/NV 1989, 152; Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215; Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, NJW 1998, 3374 (3376); Beschl. v. 23.2.1999 – XI B 130/98, BFH/NV 1999, 1089; Beschl. v. 7.10.2004 – VII B 46/04, BFH/NV 2005, 827; FG Brandenburg, Urt. v. 10.2.1998 – 3 K 1708/96 H, EFG 1998, 983 (984); Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 59.

286

B. Begrndetheit des Einspruchs

sen Fällen erheblich reduziert.1 Es genügt im Allgemeinen der Hinweis, dass die anderen Haftungsschuldner ebenfalls in Anspruch genommen wurden.2 Jedoch ist es ermessensfehlerhaft, wenn man als Entscheidungskriterium das Beteiligungsverhältnis am Gesellschaftskapital heranzieht.3 Aber auch die Vertretungsbefugnis eines Geschäftsführers nach außen ist kein sachgerechtes Kriterium für das Auswahlermessen.4 Es kommt nämlich nicht auf das rechtliche Können im Außenverhältnis, sondern auf die Pflichtverletzung eines Geschäftsführers an, wenn er gem. §§ 69, 34 AO in Anspruch genommen wird.5 d) Darstellung der Ermessensentscheidung Verfahrensmäßig ist zu beachten, dass die Finanzbehörde nicht nur intern eine 9.94 adäquate Ermessensausübung vornimmt. Sie muss ihre sachgerechten Erwägungen auch in den Haftungsbescheid, spätestens jedoch in den Einspruchsbescheid aufnehmen.6 Der BFH hat mehrfach darauf verwiesen, dass die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen – die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners – aus der Entscheidung erkennbar sein müssen. Insbesondere muss die Behörde zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer, ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt.7 Einschränkend ist aber vom BFH mehrfach ausgeführt worden, dass im Hin- 9.95 blick auf die dem Steuergläubiger im öffentlichen Interesse obliegende Aufgabe, die geschuldeten Abgaben nach Möglichkeit zu erheben, der Erlass eines Haftungsbescheides bei Uneinbringlichkeit der Erstschuld nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermessensfehlerhaft sei. Deshalb brauche das Finanzamt in der Regel in solchen Fällen das Ermessen nicht zu begründen, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs – beim Steuerschuldner (Entschließungsermessen reduziert auf null) oder bei einem anderen Haftungsschuldner (Auswahlermessen reduziert auf null) – nicht möglich ist.8 Kommt es aber zu Zahlungen auf die Steuerschuld (z.B. durch einen Drittschuldner) oder wurden eingehende Zahlungen nicht entsprechend der Tilgungsreihenfolge des

1 BFH, Beschl. v. 2.8.1988 – VII B 111/87, BFH/NV 1989, 152. 2 BFH, Beschl. v. 23.2.1999 – XI B 130/98, BFH/NV 1999, 1089. 3 BFH, Urt. v. 29.5.1990 – VII R 85/89, BStBl. II 1990, 1008 = BFHE 161, 486; FG SachsenAnhalt, Beschl. v. 19.1.2004 – 4 V 819/03, EFG 2004, 669. 4 BFH, Urt. v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3; vgl. auch BFH, Urt. v. 13.11.1990 – VII R 96/88, BFH/NV 1991, 641 (643). 5 BFH, Urt. v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3. 6 BFH, Urt. v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143. 7 BFH, Urt. v. 3.2.1981 – VII R 86/78, BFHE 133, 1 = BStBl. II 1981, 493; Urt. v. 30.4.1987 – VII R 48/84, BFHE 149, 511 = BStBl. II 1988, 170; Urt. v. 24.11.1987 – VII R 82/84, BFH/ NV 1988, 206 (208); Urt. v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143; Urt. v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3; Urt. v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4. 8 BFH, Urt. v. 22.9.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215; Urt. v. 26.6.1996 – II R 31/93, BFH/NV 1997, 2; Urt. v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4 (5).

287

Kap. 9 Einspruchsverfahren

§ 225 Abs. 3 und 2 AO verbucht, so dass es erst zur Haftung – hier Lohnsteuerhaftung – kommen konnte, ist eine Ermessensausübung unausweichlich.1 9.96

9.97

Unverzichtbar ist aber, dass das Finanzamt erkannt hat, dass es sich bei der Heranziehung des Haftungsschuldners gem. § 191 Abs. 1 AO um eine Ermessensentscheidung handelt und dies auch für den Haftungsschuldner erkennbar war. Es reicht dazu aus, dass es auf das Ermessen in irgendeiner Form eingeht.2 Dies muss nicht unbedingt im Haftungs- oder Einspruchsbescheid geschehen. Auch aus dem Vorverfahren oder aus der Haftungsanfrage kann sich ergeben, dass die Finanzbehörde sich bewusst ist, eine Ermessensentscheidung zu treffen.3

Û

Hinweis: Bei der Prüfung, ob gegen einen Haftungsbescheid in Form des Einspruchsbescheides Klage erhoben werden sollte, ist auf die Ermessensausübung besonders einzugehen. Es werden häufig in diesem Bereich Fehler begangen. Entweder es fehlt in der Entscheidung überhaupt an erforderlichen Ermessenserwägungen, oder es handelt sich bei den Erwägungen um nicht sachgerechte Entscheidungskriterien. In beiden Fällen würde der Haftungsbescheid durch das FG gem. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO wegen fehlerhafter bzw. nicht ausreichend begründeter Erwägungen beim Ermessen aufgehoben.4

e) Spezielle Ermessensgrundsätze aa) Lohnsteuerhaftung Schrifttum: Nacke, Ermessensfehler bei der Lohnsteuerhaftung: In folgenden Fällen sollten Sie sich wehren, Gestaltende Steuerberatung 2006, 446.

9.98

Vorweg ist bei der Ermessensausübung im Rahmen der Lohnsteuerhaftung zu beachten, dass bei der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers kein Ermessensspielraum besteht. Der Arbeitnehmer ist Schuldner der Lohnsteuer. Seine Inanspruchnahme durch Einkommensteueränderungsbescheid ist daher eine gebundene Entscheidung.5 Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für Einwendungen des Arbeitnehmers. Er kann nicht damit gehört werden, dass der Arbeitgeber als der Haftende vorrangig in Anspruch zu nehmen sei.6 Auch sein Vortrag, er könne deshalb nicht in Anspruch genommen werden, weil die Inanspruchnahme des Arbeitgebers gegen Treu und Glauben verstoßen würde, ist unbeacht-

1 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 29.1.1998 – 4 K 1141/93, EFG 1998, 914. 2 BFH, Urt. v. 29.9.1987 – VII R 54/84, BStBl. II 1988, 176 (178); Urt. v. 20.9.1985 – VI R 45/82, BFH/NV 1986, 240; Urt. v. 29.5.1990 – VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283; Urt. v. 13.11.1990 – VII R 96/88, BFH/NV 1991, 641; Urt. v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4 (5). 3 BFH, Urt. v. 29.5.1990 – VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283. 4 BFH, Urt. v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3. 5 BFH, Urt. v. 17.5.1985 – VI R 137/82, BFHE 144, 217 = BStBl. II 1985, 660; Urt. v. 20.6.1990 – I R 157/87, BStBl. II 1992, 43; Beschl. v. 8.7.2004 – VII B 257/03, BFH/NV 2004, 1513; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 16; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 56. 6 BFH, Beschl. v. 8.7.2004 – VII B 257/03, BFH/NV 2004, 1513; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 16.

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B. Begrndetheit des Einspruchs

lich.1 Es kann somit festgehalten werden, dass die Ermessenskriterien, die von der Rechtsprechung für die Haftung des Arbeitgebers entwickelt worden sind, für die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers z.B. im Einkommensteueränderungsbescheid nicht anwendbar sind. Im Rahmen der Lohnsteuerhaftung des Arbeitgebers gelten für das Entschlie- 9.99 ßungsermessen spezielle Grundlagen. Nach § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG haften der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer als Gesamtschuldner.2 Maßgeblich für die Inanspruchnahme des Arbeitgebers ist, ob er die Lohnsteuer zwar einbehalten, aber nicht abgeführt oder ob er den Lohnsteueranteil an den Arbeitnehmer ausgezahlt hat. Im erstgenannten Fall kann der Arbeitgeber ohne weiteres in Anspruch genommen werden.3 Dieses ergibt sich aus der Wertung des § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 EStG. Weiß der Arbeitnehmer nichts davon, dass der Arbeitgeber den Lohnsteueranteil beim Finanzamt nicht angemeldet hat, so kann er nicht in Anspruch genommen werden. Es bleibt dann nur eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers. Im zweiten Fall dagegen ist zu prüfen, ob nicht aus Treu und Glauben von einer Inanspruchnahme des Arbeitgebers abgesehen werden muss.4 Insgesamt ist zu diesen Fällen zu sagen, dass eine Haftung des Arbeitgebers nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz in Betracht kommt. Dieses ergibt sich daraus, dass der Arbeitgeber gleichermaßen wie der Amtsträger mit der Steuererhebung betraut ist. Der Amtsträger hat aber nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit gem. § 32 AO einzustehen. Es wäre dann unbillig, einen strengeren Maßstab bei der Haftung des Arbeitgebers anzuwenden. Es sind nun die jeweiligen Einzelfälle zu beachten. So ist der Arbeitgeber, der aus 9.100 unverschuldeter Rechtsunkenntnis die Lohnsteuer nicht einbehalten hat, nicht haftbar zu machen.5 Aber auch andere Verschuldensfreistellungen können maßgeblich sein. Hierzu gehören Tatsachenirrtümer und entschuldbare Rechtsirrtümer. Letztere sind gegeben, wenn der Arbeitgeber seine Entscheidung auf unklare Vorschriften, wie z.B. OFD-Verfügungen oder Lohnsteuerrichtlinien, gestützt hat – unabhängig davon, ob er sie gekannt hat oder nicht6 – oder eine falsche Rechtsanwendung vom Finanzamt geduldet wurde.7 Beispielsweise ist ein solcher Fall der „Duldung“ gegeben, wenn bei der letzten Lohnsteueraußenprüfung eine angewendete Berechnungsmethode akzeptiert wurde.8 Ferner ist eine 1 BFH, Urt. v. 27.3.1991 – VI R 126/87, BStBl. II 1991, 720; Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 16. 2 BFH, Urt. v. 9.10.1992 – VI R 47/91, BStBl. II 1993, 169 = BFHE 169, 208; BFH, Beschl. v. 19.11.1985 – VII S 13/85, BFH/NV 1986, 266 (269); Beschl. v. 5.11.1991 – VII B 116/91, BFH/NV 1992, 575. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 54. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 54. 5 BFH, Urt. v. 20.7.1962 – VI 167/61 U, BFHE 76, 64 = BStBl. III 1963, 23; Urt. v. 18.9.1981 – VI R 44/77, BFHE 134, 149 = BStBl. II 1981, 801; Urt. v. 24.1.1992 – VI R 177/88, BStBl. II 1992, 696. 6 BFH, Urt. v. 25.10.1985 – VI R 130/82, BStBl. II 1986, 98; Urt. v. 18.9.1981 – VI R 44/77, BFHE 134, 149 = BStBl. II 1981, 801; FG Brandenburg, Urt. v. 26.11.1996 – 3 K 179/96 H, EFG 1997, 410 (411); Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 56. 7 BFH, Urt. v. 27.3.1991 – VI R 126/87, BStBl. II 1991, 720. 8 BFH, Urt. v. 24.1.1992 – VI R 177/88, BStBl. II 1992, 696; vgl. auch Urt. v. 14.6.1985 – VI R 167/81, BFH/NV 1986, 303; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 56.

289

Kap. 9 Einspruchsverfahren

Inanspruchnahme dann ausgeschlossen, wenn dem Arbeitgeber falsche Auskünfte erteilt wurden oder er in seiner unrichtigen Rechtsauffassung bestärkt wurde.1 Weiter ist auch eine Orientierung an der höchstrichterlichen Rechtsprechung, zu der kein Nichtanwendungserlass ergangen ist, dem Arbeitgeber als entschuldbare Rechtsunkenntnis aus Verwaltungssicht zu werten.2 Darüber hinaus ist die Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftender unbillig und ein gleichwohl ergangener Haftungsbescheid aufzuheben, wenn der Arbeitgeber den Lohnsteuerabzug in Übereinstimmung mit allgemeinen Weisungen der zuständigen oberen Finanzbehörden der Länder oder des Bundes vorgenommen hat.3 Wie der BFH zu Recht hervorhebt, kommt es dabei sogar auch nicht auf die Kenntnis des Arbeitgebers von diesbezüglichen Anordnungen an. Denn der Arbeitgeber nimmt den Lohnsteuerabzug als „Beauftragter“ der Steuerbehörden wahr. Hätte das Finanzamt den Lohnsteuerabzug durch eigene Bedienstete vorgenommen, wäre eine Inanspruchnahme ebenfalls unterblieben, weil die Bediensteten sich an allgemeine Verwaltungsanweisungen zu halten hätten.4 9.101

Auch aus dem unverhältnismäßig langen Abwarten seit der letzten Lohnsteuerprüfung – z.B. neun Jahre –, bevor das Finanzamt in einer Lohnsteuerprüfung feststellt, dass der Arbeitgeber Lohnsteuerbeträge nicht korrekt abgezogen hat, kann eine Verwirkung der Inanspruchnahme des Arbeitgebers resultieren.5 Ferner kann die Übergangszeit von der DDR zur Bundesrepublik Deutschland einen entschuldbaren Rechtsirrtum begründen.6 Weiterhin ist ein eventuelles Mitverschulden des Finanzamts im Rahmen des Entschließungsermessens zu beachten und muss sich im Haftungsbescheid bei der Abwägung des Für und Wider niederschlagen.7

9.102

Eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers ist auch dann ermessensgerecht, wenn der Arbeitgeber den Erlass eines Haftungsbescheides beantragt hat.8

9.103

Im Rahmen des Auswahlermessens hat das Finanzamt zu entscheiden, wen es in Anspruch nehmen will. Dabei gibt es nicht – wie sonst allgemein im Haftungsrecht – eine Prärogative in der Weise, dass zunächst der Arbeitnehmer als Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen ist und dann erst der Arbeitgeber.9 Aber auch der Arbeitgeber haftet nicht „in erster Linie“ dafür, dass die Lohnsteuerbeträge abgeführt werden.10 Gleichwohl ist die Inanspruchnahme des Arbeitgebers nä1 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 56 m.w. Nachw. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 56 m.w. Nachw. 3 BFH, Urt. v. 25.10.1985 – VI R 130/82, BFHE 144, 569 = BStBl. II 1986, 98 m.w. Nachw.; Urt. v. 6.12.1996 – VI R 18/96, BFH/R 1997, 258 (259) = BStBl. II 1997, 413. 4 BFH, Urt. v. 6.12.1996 – VI R 18/96, BFH/R 1997, 258 (259) = BStBl. II 1997, 413. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 57 m.w. Nachw. 6 BFH, Urt. v. 6.12.1996 – VI R 18/96, BFH/R 1997, 258 = BStBl. II 1997, 413; FG Brandenburg, Urt. v. 26.11.1996 – 3 K 179/96 H, EFG 1997, 410 (411); vgl. auch BFH, Urt. v. 15.5.1998 – VI R 95/97, BFH/NV 1998, 1193. 7 Vgl. auch FG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.1995 – 16 K 2274/91 H, EFG 1997, 194 (195). 8 FG Hamburg, Urt. v. 18.3.1980 – III R 158/79, EFG 1980, 342; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 55. 9 BFH, Urt. v. 15.11.1974 – VI R 167/73, BStBl. II 1975, 297 (298); Urt. v. 20.6.1990 – I R 157/87, BStBl. II 1992, 43; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 59. 10 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 59.

290

B. Begrndetheit des Einspruchs

herliegend. Denn es ist zu berücksichtigen, dass § 42d EStG den Arbeitgeber schon vom Tatbestand her unbedingt haften lässt, während eine Haftung nach § 69 AO Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraussetzt. In der Anwendung des § 191 AO hat dieses Berücksichtigung zu finden. Als Ermessenskriterien kommen folgende Erwägungen zum Tragen: Eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers ist gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer nur beschränkt steuerpflichtig ist.1 Geht es bei der Lohnsteuerhaftung um die Lohnsteuer einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern, so dass eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers erfolgversprechender ist, wäre dies ermessensgerecht.2 Diese Anzahl ist bei 8 Arbeitnehmern nach Ansicht des FG Köln noch nicht erreicht.3 Jedoch bei mehr als 40 Arbeitnehmern kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die Inanspruchnahme des Arbeitgebers gerechtfertigt ist.4 Auch in dem Fall, wenn sich der Arbeitgeber mit einer Inanspruchnahme einverstanden erklärt hat, wäre ein daraufhin erlassener Lohnsteuerhaftungsbescheid gegen ihn ermessensfehlerfrei.5 Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber erklärt, er werde keinen Rückgriff beim Arbeitnehmer nehmen.6 Schließlich ist als Ermessenskriterium anerkannt, wenn man von einer In- 9.104 anspruchnahme des Arbeitgebers deshalb absieht, weil die Nachforderungsbeträge schneller durch eine Veranlagung des Arbeitnehmers nacherhoben werden können.7 Aber auch dann wäre die Verschonung des Arbeitgebers ermessensfehlerfrei, wenn einem nicht leichtfertigen Arbeitgeber der Rückgriff beim Arbeitnehmer wesentlich schwerer fallen würde als dem Finanzamt der unmittelbare Zugriff auf diesen.8 Ferner ist nach alter Rechtsprechung kein Ermessensfehler zu erkennen, wenn man den Arbeitgeber auch deshalb in Anspruch nimmt, weil die Veranlagungen bei den Arbeitnehmern bereits bestandskräftig sind und Änderungsmöglichkeiten nicht bestehen. Denn es sei immer von dem Grundsatz auszugehen, dass nur eine Steuer nachgefordert werden könne, die nach der materiellen Rechtslage geschuldet werde. Sei somit eine Inanspruchnahme des Arbeitnehmers aus formellen Gründen nicht möglich, so sei die Heranziehung des Arbeitgebers ermessensgerecht, da maßgeblich nur die materielle Rechts-

1 BFH, Urt. v. 20.6.1990 – I R 157/87, BStBl. II 1992, 43. 2 BFH, Urt. v. 18.9.1981 – VI R 44/77, BFHE 134, 149 = BStBl. II 1981, 801; Urt. v. 24.1.1992 – VI R 177/88, BStBl. II 1992, 696; Urt. v. 29.5.2008 – VI R 11/07, BStBl. II 2008, 933; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 60; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 51a. 3 FG Köln, Urt. v. 7.6.1990 – 2 K 246/85, EFG 1990, 611. 4 BFH, Urt. v. 24.1.1992 – VI R 177/88, BStBl. II 1992, 696; BFH, Urt. v. 29.5.2008 – VI R 11/07, BStBl. II 2008, 933 (zu mehreren hundert Arbeitnehmern); bei 33 Arbeitnehmern ist dagegen nach Ansicht des BFH eine Inanspruchnahme der Arbeitnehmer im Rahmen der Ermessensausübung zu prüfen (BFH Urt. v. 20.9.1985 – VI R 45/82, BFH/NV 1986, 240); Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 60. 5 BFH, Urt. v. 7.12.1984 – VI R 72/82, BStBl. II 1985, 170 (173); Urt. v. 21.6.1989 – VI R 31/86, BStBl. II 1989, 909 (912); Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 61; a.A. Gersch in HHR, § 42d EStG Rz. 135 Stichwort „Zustimmung“. 6 BFH, Urt. v. 21.6.1989 – VI R 31/86, BStBl. II 1989, 909 (912); v. Bornhaupt, BB 1990, Beil. 1, 11; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 61. 7 BFH, Urt. v. 20.6.1990 – I R 157/87, BStBl. II 1992, 43. 8 BFH, Urt. v. 18.9.1981 – VI R 44/77, BFHE 134, 149 = BStBl. II 1981, 801.

291

Kap. 9 Einspruchsverfahren

lage sei.1 Nachdem diese Ansicht Kritik erfahren hat, geht man heute zu Recht davon aus, dass eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers auch bei bestandskräftigen Veranlagungen dann nicht gerechtfertigt ist, wenn die fehlerhafte Rechtsanwendung nicht nur beim Arbeitgeber festzustellen ist, sondern auch das Finanzamt bei der Veranlagung des Arbeitnehmers dem gleichen Rechtsirrtum unterlag.2 9.105

In dem entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber auf der Lohnsteuerkarte steuerpflichtige Zuschüsse als steuerfreien Betrag eingetragen. Trotz Erkennungsmöglichkeit dieses Rechtsirrtums an Hand der Steuerkarte wurde der Arbeitnehmer falsch veranlagt. Hier ist es unbillig, den Arbeitgeber in Haftung zu nehmen, da der Fehler auch in der Sphäre der Finanzverwaltung lag.3 Die Rechtsfolge, dass niemand für die Lohnsteuerfehlbeträge einzustehen hat – weder der Arbeitnehmer noch der Arbeitgeber –, ist im Einzelfall hinzunehmen.4 Ermessensfehlerhaft wäre auch die Inanspruchnahme des Arbeitgebers in folgenden Fällen: Die GmbH wurde als Arbeitgeber in Anspruch genommen für Lohnsteuernachforderungen, für deren Abführung der Arbeitnehmer selbst – z.B. der Geschäftsführer – verantwortlich war.5 Auch scheidet eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers dann aus, wenn quasi der „dolo petit“-Einwand zum Tragen käme. Würde die Lohnsteuer beim Arbeitgeber erhoben, jedoch dem Arbeitnehmer wieder erstattet, weil dieser z.B. mit seinen Einkünften nicht steuerpflichtig wäre, so wäre es unbillig, den Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen. Hier wäre es besser, im Rahmen der Veranlagung des Steuerpflichtigen den Steueranspruch zu prüfen. Diese Erwägungen setzen aber voraus, dass die Namen und die Anschriften der gering beschäftigten Arbeitnehmer bekannt sind und sich das Verhalten des Arbeitgebers nicht als grob fahrlässig darstellt.6 Ähnliche Überlegungen liegen dem Urteil des FG Baden-Württemberg vom 14. Mai 1997 zugrunde. Danach hat das Finanzamt im Rahmen seiner Ermessensentscheidung auch zu prüfen, ob und in welcher Höhe Werbungskosten der Arbeitnehmer bei der Inanspruchnahme des Arbeitgebers zu berücksichtigen sind. Denn es leuchtet nicht ein, dass entweder – bei wenigen Arbeitnehmern – diese zur Einkommensteuer mit dem Werbungskostenabzug herangezogen werden oder der Arbeitgeber die Lohnsteuer ohne Abzug der Werbungskosten übernimmt.7 Auch wäre es in der Regel rechtswidrig, den Arbeitgeber in Haftung zu nehmen, wenn der Arbeitnehmer nicht mehr bei ihm beschäftigt ist. Denn es ist ihm in diesem Fall nicht zuzumuten, zivilrecht-

1 BFH, Urt. v. 15.11.1974 – VI R 167/73, BStBl. II 1975, 297 (298); vgl. auch BFH, Urt. v. 26.7.1974 – VI R 24/69, BStBl. II 1974, 756; FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 26.3.1987 – 3 K 14/96, EFG 1987, 428. 2 BFH, Urt. v. 9.10.1992 – VI R 47/91, BStBl. II 1993, 169 = BFHE 169, 208; Loose in Tipke/ Kruse, § 191 AO Rz. 62; vgl. auch Krüger in Schmidt, § 42d EStG Rz. 29. 3 BFH, Urt. v. 9.10.1992 – VI R 47/91, BStBl. II 1993, 169 = BFHE 169, 208. 4 BFH, Urt. v. 5.3.1981 – II R 80/77, BStBl. II 1981, 471 (472) m.w. Nachw. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 60. 6 BFH, Urt. v. 15.11.1974 – VI R 167/73, BStBl. II 1975, 297 (298); Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 60. 7 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 14.5.1997 – 2 K 338/94, (rkr.), EFG 1997, 1193 (1194).

292

B. Begrndetheit des Einspruchs

lich beim Arbeitnehmer wegen der nachgeforderten Lohnsteuer Regress zu nehmen.1 bb) Andere Haftungstatbestände Da bei der Kapitalertragsteuer die Situation derjenigen bei der Lohnsteuer vergleichbar ist, gelten die oben genannten Ermessenserwägungen zu der Lohnsteuerhaftung entsprechend auch für die Haftung bei der Kapitalertragsteuer.2

9.106

Bei der Haftung für die Einkommensteuer beschränkt Steuerpflichtiger (§ 50a 9.107 Abs. 5 Satz 5 EStG) ergeben sich aus den exterritorialen Gegebenheiten Besonderheiten. Es ist daher ermessensfehlerfrei, den Haftungsschuldner dann in Anspruch zu nehmen, wenn sich die Inanspruchnahme des beschränkt Steuerpflichtigen schwierig gestaltet, sei es, weil der Anspruch im Ausland schwierig durchzusetzen ist3 oder weil im Inland nur geringes Vermögen des beschränkt Steuerpflichtigen vorhanden ist, das für Vollstreckungsmöglichkeiten zur Verfügung steht. Es bedarf in diesen Fällen keiner besonderen Darlegung des Auswahlermessens im Haftungsbescheid oder in der Einspruchsentscheidung. Es genügt der Hinweis auf die beschränkte Steuerpflicht und den Aufenthalt im Ausland.4 Bei der Haftung für die Umsatzsteuer nicht im Erhebungsgebiet Ansässiger (§ 18 9.108 Abs. 3 UStG, § 55 UStDV a.F.) war zu beachten, dass der „Leistungsempfänger“ dann nicht in Anspruch genommen werden durfte, wenn er nicht erkennen konnte, dass der Leistende kein im Inland ansässiger Unternehmer war. Jedoch bestanden an die Prüfungspflicht des Leistungsempfängers strenge Anforderungen.5

1 BFH, Urt. v. 14.4.1967 – VI R 23/66, BStBl. III 1967, 469; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 60. 2 Vgl. auch FG Hamburg, Urt. v. 7.8.2003 – VII 124/00, EFG 2004, 74. 3 BFH, Urt. v. 20.7.1988 – I R 61/85, BStBl. II 1989, 99; Urt. v. 5.11.1992 – I R 41/92, BFHE 170, 204 = BStBl. II 1993, 407. 4 BFH, Urt. v. 5.11.1992 – I R 41/92, BFHE 170, 204 = BStBl. II 1993, 407. 5 FG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.4.2001 – 3 K 132/98, EFG 2001, 1084 (1086).

293

Kapitel 10 Klage- und Revisionsverfahren sowie weitere Verfahrensgrundsätze A. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.1

B. Änderungsbescheid . . . . . . . . . . .

10.2

C. Reichweite der Ablaufhemmung bei Aufhebung eines Haftungsbescheides . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aufhebung des Haftungsbescheids durch Urteil . . . . . . . . . . II. Aufhebung des Haftungsbescheids durch die Finanzbehörde D. Austausch der Haftungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.6 10.7 10.9 10.11

E. Ergänzender Haftungsbescheid .

10.15

F. Ermessensergänzungen . . . . . . .

10.17

G. Isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung . . . . . .

10.18

H. Maßgeblicher Zeitpunkt der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.19

J. Beiladung des Haftungsschuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.20

K. Aussetzung der Vollziehung . . .

10.21

L. Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . .

10.22

A. Einleitung 10.1

Hat die Finanzbehörde durch Einspruchsentscheidung den Einspruch zurückgewiesen, so steht dem Haftungsschuldner oder Duldungspflichtigen dagegen der Weg zum Finanzgericht mittels Anfechtungsklage zur Verfügung.1 Neben den allgemeinen und besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Anfechtungsklage (siehe hierzu die einschlägigen Kommentare und Lehrbücher) sind einige spezielle Verfahrensgrundsätze für die Haftungsfälle zu beachten, die im Folgenden behandelt werden. Im Hinblick auf das Revisionsverfahren bzw. das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde siehe ebenfalls die bekannten Lehrbücher und Kommentare.

B. Änderungsbescheid Schrifttum: Nacke, Änderung von Haftungsentscheiden im Klageverfahren, AO-StB 2007, 106; Steinhauff, Erstmalige Ermessensausübung in ersetzendem Haftungsbescheid, jurisPR-SteuerR 24/2009 Anm. 3; Steinhauff, Wie aus einer rechtschützenden eine rechtsverkürzende Regelung wurde, AO-StB 2010, 119.

10.2

Es wird häufiger vorkommen, dass die Finanzbehörde im Rahmen einer Klage gegen einen Haftungsbescheid einen Änderungsbescheid (z.B. Teilrücknahme gem. § 130 AO) erlässt, durch den die Haftungssumme herabgesetzt oder der ursprüngliche Bescheid im vollen Umfang ersetzt wird. Es gelten hierzu folgende Regeln:

1 Zur Frage einer vorbeugenden Feststellungsklage wegen einer nur möglichen Haftungsinanspruchnahme vgl. BFH, Urt. v. 11.4.1991 – V R 86/85, BStBl. II 1991, 729; zur Frage einer Feststellungsklage bzgl. eines Haftungsbescheids, der wegen Zahlungsverjährung erloschen ist, vgl. Niedersächsisches FG, Urt. v. 11.3.1999 – XI 642/97, n.v.

294

B. nderungsbescheid

– Wurde nur die Haftungssumme herabgesetzt, so verändert dieser Änderungs- 10.3 bescheid den Inhalt des ursprünglichen Bescheids so weit nicht, wie die Haftung aufrechterhalten wird. Dieser Änderungsbescheid besitzt diesbezüglich keine Regelungswirkung. Er wiederholt nur insoweit den ursprünglichen Bescheid (= wiederholende Verfügung). Soweit der Verwaltungsaktcharakter zu bejahen ist, weil ein Teilbetrag der Haftungssumme zurückgenommen wurde, ist der Haftungsschuldner nicht beschwert. Somit ist ein Einspruch gegen den Änderungsbescheid unzulässig, auch wenn er nach der Rechsbehelfsbelehrung möglich sein soll.1 Eines Antrages nach § 68 FGO a.F. bedurfte es auch nicht, weil der ursprüngliche Bescheid, soweit er sich im Klageverfahren befand, wegen des wiederholenden Charakters des Änderungsbescheides noch seine Rechtswirkung entfaltete.2 Auch § 68 FGO in der Fassung ab 1.1.2001 kommt daher schon aus diesem Grunde nicht zur Anwendung. – Wurde der gesamte ursprüngliche Haftungsbescheid durch den Änderungs- 10.4 bescheid im vollen Umfang ersetzt3, so liegt nach der Rechtsprechung des BFH und Teilen der Literatur ein Fall des § 68 FGO vor, so dass der Änderungsbescheid Gegenstand des Verfahrens wird.4 M.E. wird entgegen der Ansicht des BFH der Änderungsbescheid nicht Gegenstand des Klageverfahrens bzw. werden die neuen Ermessenserwägungen im Zweitbescheid nicht wirksam, denn dem Kläger würde u.a. insbesondere die Überprüfung des Ermessens durch die Finanzbehörde genommen werden. Überdies ist das Verhältnis zu § 102 Satz 2 FGO dann nicht nachvollziehbar.5 Gegen den ersetzenden Bescheid dürfte daher m.E. nur erneut Einspruch eingelegt und anschließend Klage erhoben werden können.6 Das alte Klageverfahren dürfte m.E. in der Hauptsache erledigt sein. Nach alter Rechtslage konnte nach der Rechtsprechung des BFH aber zur Fortsetzung des Klageverfahrens nach § 68 FGO a.F. ein Antrag gestellt werden.7

1 BFH, Beschl. v. 12.2.1998 – VII B 252/97, BFH/NV 1998, 1140 (1141); Blesinger, S. 223. 2 BFH, Urt. v. 28.1.1982 – V R 100/80, BStBl. II 1982, 292; Urt. v. 16.7.1992 – VII R 57, 58/91, BFH/NV 1993, 152; Beschl. v. 12.2.1998 – VII B 252/97, BFH/NV 1998, 1140 (1141); Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 24. 3 Nach Auffassung des FG Münster reicht für eine solche inhaltliche Ersetzung schon aus, wenn im Änderungsbescheid gegenüber dem ursprünglichen Bescheid weitergehende Ermessenserwägungen ergänzt werden, Urt. v. 10.12.1997 – 8 K 1847/96 L (rkr.), EFG 1998, 834. 4 BFH, Urt. v. 16.12.2008 – I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl. II 2009, 539; Urt. v. 5.5.2010 – I R 104/08, BFH/NV 2010, 1814; Beschl. v. 16.6.2011 – IV B 120/10, BStBl. II 2011, 855; Urt. v. 15.3.2013 – VI R 28/12, BStBl. II 2013, 737; Schallmoser in HHSp, § 68 FGO Rz. 16 m.w. Nachw. 5 Vgl. zur Kritik Seer in Tipke/Kruse, § 68 FGO Rz. 5; Stapperfend in Gräber, § 102 FGO Rz. 26; Steinhauff, jurisPR-SteuerR 24/2009 Anm. 3; Steinhauff, AO-StB 2010, 119; Nacke, AO-StB 2007, 106; ebenso zur vergleichbaren Vorschrift des § 96 Abs. 1 SGG BSG Urt. v. 15.2.1990 – 7 RAr 28/88, BSGE 66, 204; Urt. v. 24.8.1988 – 7 RAr 53/86, BSGE 64, 36. 6 A.A. BFH, Urt. v. 16.12.2008 – I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl. II 2009, 539; Urt. v. 5.5.2010 – I R 104/08, BFH/NV 2010, 1814; Beschl. v. 16.6.2011 – IV B 120/10, BStBl. II 2011, 855; Urt. v. 15.3.2013 – VI R 28/12, BStBl. II 2013, 737. 7 BFH, Urt. v. 26.11.1986 – I R 256/83, BFH/NV 1988, 82.

295

Kap. 10 Klage- und Revisionsverfahren sowie weitere Verfahrensgrundstze

10.5

– Lag ein Sammelhaftungsbescheid vor, der wegen seiner äußerlichen Zusammenfassung von mehreren Haftungsansprüchen teilbar ist, so ist zu prüfen, ob durch den Änderungsbescheid selbständige Teile des ursprünglichen Haftungsbescheides unberührt geblieben sind. Bei den geänderten selbständigen Teilen ist zu prüfen, ob nur die Haftungssumme herabgesetzt oder ob der gesamte selbständige Teil in vollem Umfang ersetzt worden ist (s. Rz. 9.26). Danach richtet sich auch die Beendigung des Klageverfahrens aufgrund des § 68 FGO.

C. Reichweite der Ablaufhemmung bei Aufhebung eines Haftungsbescheides 10.6

Grundsätzlich wird durch die Erhebung der Klage die Festsetzungsverjährung für den Haftungsbescheid so lange gehemmt, bis über die Klage unanfechtbar entschieden worden ist (§§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. 171 Abs. 3a Satz 1 AO). Stellt das Finanzgericht fest, dass der Haftungsbescheid rechtswidrig ist, so bestehen mehrere Lösungsmöglichkeiten, die unterschiedliche Folgen für die Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist haben.

I. Aufhebung des Haftungsbescheids durch Urteil 10.7

Hebt das Finanzgericht den Haftungsbescheid auf, so ist zu unterscheiden, ob der Bescheid wegen Ermessensfehlern oder aus sonstigen Gründen aufgehoben wird. Erfolgt die Aufhebung aus sonstigen Gründen, so endet nach den genannten Vorschriften die Ablaufhemmung mit der Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung. Hat das Finanzgericht einen Haftungsbescheid wegen fehlender oder rechtswidriger Ermessenserwägungen durch Urteil aufgehoben, so läuft die Festsetzungsfrist für den Haftungsanspruch nicht ab, bevor der neue Haftungsbescheid, mit dem die Finanzbehörde nach Ergehen der gerichtlichen Entscheidung ihre Ermessensausübung nachgeholt hat, unanfechtbar geworden ist (§§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. 171 Abs. 3a Satz 3 AO).1 Da der Gesetzgeber keine zeitlichen Grenzen gesetzt hat, kann somit die Finanzbehörde noch nach Jahren einen neuen Haftungsbescheid erlassen. Analog § 171 Abs. 4 Satz 3 AO dürfte aber eine zeitliche Befristung bestehen.2 Der neue Haftungsbescheid darf jedoch den Haftungsumfang über die zunächst getroffene Entscheidung nicht erweitern.3

10.8

Wird durch Kassationsurteil der Haftungsbescheid wegen fehlender materieller Haftungsvoraussetzungen aufgehoben, so hat das Finanzgericht über den Streitgegenstand entschieden. Eine andere Beurteilung ist nur dann möglich, wenn 1 BFH, Urt. v. 23.3.1993 – VII R 38/92, BStBl. II 1993, 581; Beschl. v. 24.1.1995 – VII B 142/94, BStBl. II 1995, 227; Cöster in Koenig, § 171 AO Rz. 59; a.A. Rößler, DStZ 1992, 204. 2 Ebenso Kruse in Tipke/Kruse, § 171 AO Rz. 27. 3 BFH, Urt. v. 23.3.1993 – VII R 38/92, BStBl. II 1993, 581; Cöster in Koenig, § 171 AO Rz. 59.

296

D. Austausch der Haftungsgrundlage

das Finanzgericht Raum für das nachträgliche Vorbringen von Tatsachen und Beweismittel gelassen hat, so dass ein neuer Entscheidungsgegenstand besteht.1 Im Übrigen kann kein neuer Haftungsbescheid erlassen werden, wenn das Finanzamt es versäumt hat, Erkenntnisse und Beweismittel, derer er sich bei gehöriger Ermittlung des Sachverhalts hätte bedienen können, in das finanzgerichtliche Verfahren einzubringen.2

II. Aufhebung des Haftungsbescheids durch die Finanzbehörde Wird der Haftungsbescheid im Klageverfahren durch die Finanzbehörde aufgeho- 10.9 ben, so ist zu differenzieren. Wird zunächst der Haftungsbescheid durch die Finanzbehörde aufgehoben und erst später ein neuer Haftungsbescheid erlassen, so endet die Ablaufhemmung mit Abschluss des Verfahrens, spätestens mit den Erledigungserklärungen.3 § 171 Abs. 3a Satz 3 AO kann nicht entsprechend auf eine behördliche Aufhebung angewandt werden. Erfolgt die Aufhebung durch die Finanzbehörde in Verbindung mit einem gleichzeitigen Erlass eines neuen Haftungsbescheides, so endet nach Auffassung des BFH die Ablaufhemmung nach §§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. 171 Abs. 3a AO nicht.4 M.E. führt der gleichzeitige Erlass jedoch zur Beendigung der Ablaufhemmung, da logischerweise ein ersetzender Bescheid eine vorhergehende Aufhebung voraussetzt, auch wenn beide Akte gem. § 124 Abs. 1 AO gleichzeitig wirksam werden.5

Û

Hinweis: Im Klageverfahren, in dem der Finanzbehörde die Aufhebung des 10.10 Haftungsbescheides wegen Ermessensfehlers nahegelegt wird, ist zu beachten, dass infolge einer solchen Aufhebung eventuell Festsetzungsverjährung eintreten kann, was durch stattgebendes Urteil sonst verhindert worden wäre (§ 171 Abs. 3a Satz 3 AO).

D. Austausch der Haftungsgrundlage Werden im Klageverfahren von seiten des Finanzamts die Haftungsgrundlage für 10.11 eine Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners ausgetauscht, so kann das Finanzamt damit nicht gehört werden, wenn es sich insoweit um einen anderen Lebenssachverhalt handelt und damit um einen anderen Haftungsanspruch gegen den Haftungsschuldner, der nicht Gegenstand des angefochtenen Verwaltungsaktes ist. Haftungsbescheide sind nämlich nicht zeitraumbezogen sondern sachverhaltsbezogen.6 Damit sind die Fälle gemeint, in denen das Finanzgericht zwar den Haftungsbescheid für rechtswidrig hält, z.B. wegen einer Inanspruch1 BFH, Urt. v. 21.11.1989 – VII R 3/88, BFH/NV 1990, 650. 2 BFH, Urt. v. 21.11.1989 – VII R 3/88, BFH/NV 1990, 650; AO-Kartei Niedersachsen § 191 Karte 2 S. 3. 3 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 77/03, BStBl. II 2005, 122. 4 BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 18/03, BStBl. II 2005, 323. 5 BFH, Urt. v. 17.4.1991 – II R 142/87, BStBl. II 1991, 527; zur Kritik s. auch Nacke, NWB Fach 2 8843 (8845). 6 BFH, Beschl. v. 7.4.2005 – I B 140/04, BStBl. II 2005, 3; AEAO zu § 191 Nr. 5.2; BFH, Beschl. v. 12.8.1997 – VII B 212/96, BFH/NV 1998, 433.

297

Kap. 10 Klage- und Revisionsverfahren sowie weitere Verfahrensgrundstze

nahme nach §§ 34, 69 AO; sie hält ihn aber z.B. für rechtmäßig im Hinblick auf die Erfüllung der Haftungsvoraussetzungen des § 42d Abs. 1 EStG. Ein Austausch der Haftungsgrundlage ist aber nur dann zulässig, wenn er auf dem gleichen Lebenssachverhalt beruht. Die Rechtsprechung hat in folgenden Austauschfällen zum Austausch der Haftungsgrundlage wie folgt entschieden: 10.12

Alte Haftungsgrundlage

Neue Haftungsgrundlage

§ 71 AO §§ 128, 161 HGB (Haftungs- und Ein- (Klageverfahren) spruchsbescheid)

Zulässigkeit (Ja = keine Veränderung des Lebenssachverhalts; Nein = Änderung des Lebenssachverhalts)

Fundstelle

Nein

BFH, BFH/NV 1998, 433

§ 42d Abs. 1 EStG (Arbeitgeberhaftung – Haftungs- und Einspruchsbescheid)

§ 42d Abs. 6 EStG (Arbeitnehmerentleiherhaftung – Klageverfahren)

Nein

FG Düsseldorf, EFG 2001, 754

§§ 34, 69 AO (Haftungsbescheid)

§ 71 AO (Einspruchsentscheidung)

Ja

BFH, BFH/NV 1995, 657

§§ 34, 69 AO (Haftungsbescheid)

§ 71 AO (Einspruchsentscheidung)

Nein

FG RheinlandPfalz, EFG 1991, 4; FG Nürnberg, EFG 1996, 626

§ 71 AO

§§ 34, 69 AO (Einspruchsentscheidung)

Ja

BFH, BStBl. II 2013, 842; Niedersächsisches FG, Urt. v. 12.1.2006 11 K 295/03, n.v.

§ 71 AO

§§ 34, 69 AO (Klageverfahren)

Nein

BFH, BStBl. II 2013, 842

10.13

Beispiel: Die Einspruchsentscheidung zu einem Haftungsbescheid wird gestützt auf den Haftungsanspruch aus §§ 128, 161 HGB gegen den Komplementär. Im Klageverfahren stützt die Finanzbehörde die Haftung nunmehr auf § 71 AO. Mit diesem Vorbringen kann das Finanzamt im Klageverfahren nicht gehört werden.

10.14

Zu beachten ist, dass nicht stets ein zulässiger Austausch der Begründung vorliegt, wenn die Haftung z.B. statt auf §§ 34, 69 AO später auf § 71 AO gestützt wird.1 Entscheidend ist, dass in jedem Einzelfall geprüft werden muss, ob beim Austausch der Haftungsgrundlage ein neuer Lebenssachverhalt herangezogen wurde. So fehlt es an einem gleichen Lebenssachverhalt und damit an der Zulässigkeit des Austauschs, wenn die ursprüngliche Haftung darauf gestützt wurde, 1 So BFH, Urt. v. 8.11.1994 – VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657.

298

F. Ermessensergnzungen

dass die einbehaltene und angemeldete Lohnsteuer pflichtwidrig nicht abgeführt wurde (§§ 34, 69 AO) und die neue Haftungsgrundlage (§ 71 AO) auf dem Sachverhalt beruht, der Geschäftsführer habe der Finanzbehörde gegenüber in den monatlichen Lohnsteueranmeldungen bewusst unrichtige bzw. den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechende Angaben gemacht.1

E. Ergänzender Haftungsbescheid Wie beim Austausch der Haftungsgrundlage so ist auch ein ergänzender Haf- 10.15 tungsbescheid zu einem bereits vorliegenden Haftungsbescheid nur dann zulässig, wenn ein neuer Lebenssachverhalt dem ergänzenden Haftungsbescheid zugrunde liegt. Für die Zulässigkeit eines neben einen bereits bestehenden Haftungsbescheid gegenüber einem bestimmten Haftungsschuldner tretenden weiteren Haftungsbescheids ist entscheidend, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits ergangene Haftungsbescheid oder ob die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände erfolgen soll. Nur im letzten Fall handelt es sich um Haftungsfälle, die nicht voneinander abhängen und zu rechtlich selbständigen Haftungsansprüchen führen, die Gegenstand verschiedener Haftungsbescheide sein können.2 Beispiel: Wegen nichtgezahlter Lohnsteuer für Februar 2011 ergeht ein Haftungsbescheid I, der bestandskräftig wird. Daraufhin wird eine Lohnsteueraußenprüfung durchgeführt, Dabei wird festgestellt, dass im Februar 2011 an die Arbeitnehmer Spesen gezahlt worden sind, die zu Unrecht nicht der Lohnsteuer unterworfen wurden. Es ergeht ein ergänzender Haftungsbescheid II wegen dieser Lohnsteuer. Hier liegt ein zulässiger Haftungsbescheid II vor, da der Haftungsbescheid I auf einer unvollständigen Sachverhaltskenntnis beruhte.3

10.16

F. Ermessensergänzungen Nach § 102 Satz 2 FGO kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen im 10.17 Haftungsbescheid auch noch im Klageverfahren „ergänzen“. Nach h.M. ist „ergänzen“ eingeschränkt zu verstehen. Die Einschränkung ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Behörde im Prozess lediglich befugt ist, ihre zuvor angestellten und dargelegten Ermessenserwägungen hinsichtlich des Haftungsbescheides „zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen“, nicht aber „erstmals anzustellen, Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen“.4 Ebenso können auf Grundlage des § 102 FGO auch nicht Änderungen der Rechtsfolgen (z.B. die Herabsetzung der Haftungssumme) vorgenommen werden.5

1 BFH, Beschl. v. 18.2.1992 – VII B 237/91, BFH/NV 1992, 639 (640). 2 BFH, Urt. v. 24.5.2004 – VII R 29/02, BStBl. II 2005, 3; Urt. v. 15.2.2011 – VII R 66/10, BStBl. II 2011, 534. 3 S. BFH, Urt. v. 15.2.2011 – VII R 66/10, BStBl. II 2011, 534; AEAO zu § 191 Nr. 5.2. 4 BFH, Urt. v. 11.3.2004 – VII R 52/02, BStBl. II 2004, 579 unter II.2.a; vgl. auch Stapperfend in Gräber, § 102 FGO Rz. 25 m.w.Nachw. 5 FG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.2016 – 6 K 4464/12 H (K), juris.

299

Kap. 10 Klage- und Revisionsverfahren sowie weitere Verfahrensgrundstze

G. Isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung 10.18

Häufig wird in der Praxis die Frage gestellt, ob die Einspruchsentscheidung allein aufgehoben werden kann, um wieder in das Einspruchsverfahren zurückzukehren. Eine isolierte Anfechtung des Einspruchsverfahrens ist nur unter zwei Voraussetzungen möglich. Erstens ist erforderlich, dass der Kläger lediglich durch die Einspruchsentscheidung beschwert ist, also nur insoweit in seinen Rechten verletzt ist. Zweitens ist Voraussetzung, dass der Kläger einen entsprechenden – eingeschränkten – Antrag gestellt hat. Ansonsten ist das Gericht gehalten, den Klageantrag auszuschöpfen, und es kann nicht von sich aus seine Entscheidung auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beschränken.1 Somit dürfte in den meisten Fällen der Rechtswidrigkeit ein Anspruch auf Aufhebung nicht nur der Einspruchsentscheidung, sondern auch des Haftungsbescheids bestehen.

H. Maßgeblicher Zeitpunkt der Prüfung 10.19

Für die gerichtliche Überprüfung ist generell bei einer Ermessensentscheidung hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunktes der Prüfung eine Differenzierung erforderlich (der X. Senat des BFH spricht auch von einer zweistufigen Prüfung). Soweit es um die Tatbestandsvoraussetzungen des Haftungstatbestandes geht, ist derjenige Sach- und Streitstand zugrunde zu legen, wie er sich am Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht darstellt.2 Demgegenüber kommt es bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung auf der sog. zweiten Stufe auf die tatsächliche und rechtliche Situation im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung – dies ist in der Regel der Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung – an.3

J. Beiladung des Haftungsschuldners 10.20

Gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 FGO kann das Finanzgericht im Klageverfahren des Steuerpflichtigen gegen die Steuerfestsetzung von Amts wegen oder auf Antrag andere beiladen, deren rechtliche Interessen nach den Steuergesetzen durch die Entscheidung berührt werden, insbesondere solche, die nach den Steuergesetzen neben dem Steuerpflichtigen haften. Es handelt sich bei dieser Beiladung des Haftungsschuldners um eine einfache Beiladung und nicht um eine notwendige Beiladung i.S.d. § 60 Abs. 3 FGO.4 Sie erspart ein gesondertes Verfahren mit dem Haftenden über die Existenz der Steuerschuld, da das rechtskräftige Urteil auch den Beigeladenen bindet.5

1 BFH, Urt. v. 19.5.1998 – I R 44/97, BFH/NV 1999, 314. 2 BFH, Urt. v. 20.9.2016 – X R 36/15, juris. 3 Ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. aus jüngerer Zeit z.B. BFH, Urt. v. 20.9.2016 – X R 36/15, juris; Urt. v. 26.6.2014 – IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507. 4 BFH, Beschl. v. 4.11.2009 – X B117/09, BFH/NV 2010, 229; Beschl. v. 14.7.1997 – V B 121/96, BFH/NV 1998, 48. 5 Brandis in Tipke/Kruse, § 60 FGO Rz. 15.

300

L. Prozesskostenhilfe

K. Aussetzung der Vollziehung Hat die Behörde die das Einspruchsverfahren abschließende Verwaltungsent- 10.21 scheidung noch nicht getroffen, hat das Finanzgericht auch bei Ermessensverwaltungsakten nach Auffassung des BFH die im AdV-Verfahren erforderliche Prognose des voraussichtlichen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens vorzunehmen, in dem vom Finanzamt noch über den Einspruch zu entscheiden und damit Ermessen auszuüben ist.1 In der Entscheidung vom 5.3.1998 nahm der BFH trotz Ermessensfehler keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids an, der sich noch im Einspruchsverfahren befand. Der BFH hatte in dieser Entscheidung angenommen, dass die Fehler beim Auswahlermessen im Laufe des Einspruchsverfahrens durch das Finanzamt behoben würden und zwar in der Weise, dass die Antragstellerin weiterhin in Haftung genommen werde. Diese Beurteilung stützte der BFH darauf, dass allenfalls gegen die Mutter der Antragstellerin als weitere Haftungsschuldnerin die Forderungen durchgesetzt werden könnten. Gegen eine Inanspruchnahme der Mutter würde aber sprechen, dass diese dem haftungsbegründenden Geschehen nicht näher stehen dürfte als die Antragstellerin, was gegen ihre vorrangige Inanspruchnahme ins Gewicht falle.2 Ob eine solche Bewertung nicht eine Vorwegnahme der Ermessensentscheidung der Verwaltung darstellt, dürfte m.E. fraglich sein. Für eine solche Kritik spricht jedenfalls, dass im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung, das auf einen ermessensgebundenen Verwaltungsakt bezogen ist, das Gericht nur prüfen darf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Vorschrift entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Die Kontrolle im vorläufigen Rechtsschutzverfahren darf nicht weiter reichen als im Hauptsacheverfahren.3 Damit dürfte nur in den Fällen der Ermessensreduzierung auf null bzw. der Vorprägung der Ermessensentscheidung eine abschließende Bewertung der Erfolgsaussichten des Einspruchs auch im Hinblick auf das Ermessen möglich sein. Es bleibt abzuwarten, ob der BFH seinen Standpunkt in der neueren Rechtsprechung in Zukunft aufrechterhält.

L. Prozesskostenhilfe Nach § 142 Abs. 1 der FGO i.V.m. § 114 ZPO erhält ein Beteiligter Prozess- 10.22 kostenhilfe (PKH), wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Rechtsverfolgung verspricht in diesem Sinne hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn hierfür bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit 1 Vgl. BFH, Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325; Beschl. v. 26.1.2006 – VI B 89/05, BFH/NV 2006, 964. 2 BFH, Beschl. v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325. 3 So BFH, Beschl. v. 7.7.1976 – I B 93/75, BStBl. II 1976, 628; a.A. für den Fall, dass sich die Hauptsache noch im Einspruchsverfahren befindet, BFH, Beschl. v. 26.1.2006 – VI B 89/05, BFH/NV 2006, 964.

301

Kap. 10 Klage- und Revisionsverfahren sowie weitere Verfahrensgrundstze

besteht. Dies ist anzunehmen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Hierzu hat der Antragsteller zumindest die hinreichende Erfolgsaussicht als Voraussetzung der Bewilligung einer PKH schlüssig – ggf. mit Beweisantritten – darzulegen.1 Er hat daher seine Rechts- und Tatsachenauffassung hinsichtlich des Haftungsanspruchs, der Inanspruchnahme durch Haftungs- oder Duldungsbescheid darzulegen und soweit wie nötig mit Beweisantritten zu untermauern. Allein aus der Tatsache, dass das Finanzgericht die Vernehmung einer von dem Kläger benannten Zeugin in Erwägung zieht – z.B. durch Anfrage des Finanzgerichts nach der ladungsfähigen Anschrift der Zeugin – kann noch nicht gefolgert werden, dass das Gericht in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung im Sinne des Klägers überzeugt ist.2 Daneben ist aber zu beachten, dass das Finanzgericht nicht eine vorweggenommene Beweiswürdigung vornehmen darf. Diese ist im PKH-Verfahren unzulässig und zwingt im Beschwerdeverfahren zur Aufhebung der Entscheidung des Finanzgerichts.3

1 BFH, Beschl. v. 19.10.1995 – VII B 118/95, BFH/NV 1996, 291; Beschl. v. 29.9.1998 – VII B 107/98, BFH/NV 1999, 342 (343). 2 BFH, Beschl. v. 6.5.1997 – VII B 23/97, BFH/NV 1997, 641 (642). 3 BFH, Beschl. v. 29.9.1998 – VII B 107/98, BFH/NV 1999, 342 (344).

302

Kapitel 11 Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids A. Abgabenrechtliche Korrekturvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . .

11.1

B. Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten (§ 129 AO). . . . .

11.3

C. Rücknahme (§ 130 AO) . . . . . . .

11.10

D. Widerruf (§ 131 AO) . . . . . . . . . .

11.20

Schrifttum: Mösbauer, S. 343; Nacke, Keine Geltung der Festsetzungsfrist für die Aufhebung oder Änderung von Haftungsbescheiden – BFH-Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96 (BStBl. II S. 131) –, NWB Fach 2, 7023; Rößler, Haftungsbescheid und Festsetzungsverjährung im Licht des BFH-Urteils vom 12.8.1997 (VII R 107/96), StBp 1998, 275; Blesinger, S. 222.

A. Abgabenrechtliche Korrekturvorschriften Da es sich beim Haftungs- und Duldungsbescheid nicht um einen Steuer- 11.1 bescheid handelt und ihm auch nicht gleichgestellt ist, kommen die Vorschriften über die Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden (§§ 172–177 AO), die Vorschriften über den Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) und über die vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 AO) nicht zur Anwendung. Statt dieser leges speciales kommen die allgemein geltenden Vorschriften über die Korrektur von Verwaltungsakten in Betracht. Somit kann ein Haftungs- oder Duldungsbescheid nach folgenden Vorschriften geändert oder aufgehoben werden: – die Vorschriften über die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten beim Erlass eines Verwaltungsaktes (§ 129 AO); – die Vorschriften über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes (§ 130 AO) und – die Vorschriften über den Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes (§ 131 AO).1 Daraus folgt, dass z.B. ein Vorläufigkeitsvermerk, der einem Haftungsbescheid 11.2 beigefügt wurde, nichtig ist. Die genannten Korrekturvorschriften gelten unabhängig von einem Rechtsbehelfsverfahren. Unanfechtbare Haftungs- oder Duldungsbescheide können noch nach diesen Vorschriften geändert werden. Sie gelten aber auch gem. § 132 Satz 1 AO während eines außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens und während eines finanzgerichtlichen Verfahrens.

1 AEAO zu § 191 Nr. 4 Satz 1; vgl. auch Mösbauer, S. 343; Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 4.

303

Kap. 11 Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids

B. Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten (§ 129 AO) 11.3

Zunächst hat das Finanzamt die Möglichkeit – ohne Rücksicht auf den Ablauf der Rechtsbehelfsfrist – jederzeit den Haftungs- oder Duldungsbescheid gem. § 129 Satz 1 AO zu berichtigen. Danach kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Haftungsbescheides unterlaufen sind, beheben.

11.4

Als Oberbegriff verwendet die Vorschrift den Begriff „offenbare Unrichtigkeit“. Erfasst werden damit mechanische Versehen, wie die ausdrücklich erwähnten Rechen- und Schreibfehler, Übersehen von Spalten, Übertragungsfehler. Fehler in der Rechtsanwendung gehören jedoch nicht dazu. Sie dürfen damit nicht im Bereich des Überlegens, Denkens, Schlussfolgerns oder Urteilens liegen. Nach einer anderen Formulierung sollen von § 129 AO unabsichtliche, versehentliche, unbewusste, mechanische Fehler erfasst werden, wie z.B. Verschreiben, Verrechnen, Verzählen, Verlesen, Vertun, Vertauschen, Verwechseln etc. Mangelnde Sachaufklärung und eine unrichtige Tatsachenwürdigung sind keine offenbare Unrichtigkeit. Hat die Nichtberücksichtigung einer Tatsache ihren Grund aber in einer bloßen Unachtsamkeit und liegt sie offen zutage, so kann von einem auf mangelnder Sachaufklärung beruhenden Nichterkennen der Tatsache nicht gesprochen werden.1 Wegen der unterschiedlichen Bewusstseinsstufen, die hier zum Tragen kommen, ist eine Abgrenzung zu den Fehlern der Rechtsanwendung äußert schwierig. Eine Einzelfallbetrachtung ist erforderlich. Ein Indizien- oder Anscheinsbeweis kann notwendig sein. Eventuell kann auch auf das Verhalten eines Durchschnittsbeamten abgestellt werden.

11.5

Ferner muss die Unrichtigkeit offenbar sein. Unrichtigkeiten sind offenbar, wenn sie für alle Beteiligten durchschaubar, erkennbar, eindeutig und augenfällig sind.2 Im Einzelfall sollte auf die Kommentierung zu § 129 AO zurückgegriffen werden, um festzustellen, ob eine offenbare Unrichtigkeit vorliegt.

11.6

Die offenbare Unrichtigkeit muss, damit eine Berichtigung erfolgen kann, beim Erlass des Haftungsbescheides unterlaufen sein.

11.7

Bei § 129 AO handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Somit hat eine Abwägung zwischen den fiskalischen Interessen der Finanzverwaltung und den Interessen des Haftungsschuldners, die auf Rechtssicherheit und Bestandskraft bzw. auf Gesetzmäßigkeit gerichtet sind, zu erfolgen. Hat der Haftungsschuldner ein berechtigtes Interesse, so ist gem. § 129 Satz 2 AO der Haftungs- oder Duldungsbescheid zu berichtigen. Es liegt somit in diesem Fall eine Ermessensreduzierung auf null vor.

11.8

Verfahrensmäßig ist zu beachten, dass es sich bei einer Berichtigung nach § 129 AO oder bei einer Ablehnung eines Antrags auf eine solche Berichtigung um einen Verwaltungsakt handelt, der mit Einspruch gem. § 347 AO angefochten

1 BFH, Urt. v. 29.3.1985 – VI R 140/81, BFHE 144, 118 (120) = BStBl. II 1985, 569 m.w. Nachw. der Rechtsprechung des BFH. 2 Mösbauer, S. 346.

304

C. Rcknahme (§ 130 AO)

werden kann. Gegen einen Einspruchsbescheid im Verfahren nach § 129 AO kann Klage erhoben werden. Eine Frist für die Berichtigung – wie sie zum Teil festgestellt wird1 – ist nach 11.9 der Rechtsprechung des BFH2 nicht gegeben (s. hierzu die entsprechenden Ausführungen zum Widerruf eines Haftungs- oder Duldungsbescheides Rz. 11.20).

C. Rücknahme (§ 130 AO) Ist ein Haftungs- oder Duldungsbescheid rechtswidrig, so kann er gem. § 130 11.10 Abs. 1 AO, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Vorschrift, die der allgemein geltenden Norm des § 48 VwVfG entspricht, ist eine Ermessensvorschrift und knüpft die Rechtsfolge an die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes an. Rechtswidrig ist ein Verwaltungsakt wie z.B. der Haftungs- oder Duldungs- 11.11 bescheid, wenn das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewendet oder bei der Entscheidung von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist.3 Wenn der Bescheid insbesondere gegen formelles oder materielles Recht verstößt, ist er rechtswidrig.4 Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Erlasses des Haftungs- und Duldungsbescheids. Wird ein Einspruch und evtl. anschließend eine Klage gegen den Haftungs- oder Duldungsbescheid eingelegt, ist die Einspruchsentscheidung ausschlaggebend.5 Spätere Zeitpunkte kommen jedoch nicht in Betracht, da wegen der Tatsache, dass es sich bei dem Haftungs- oder Duldungsbescheid um eine Ermessensentscheidung handelt, stets die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung relevant sind.6 Hieraus ergeben sich Konsequenzen für Rücknahmeanträge. Wird ein Rücknahmeantrag damit begründet, dass die Steuerschuld schon durch den Steuerschuldner oder einen Dritten getilgt worden ist, so ist diese Tatsache unerheblich, wenn die Tilgung nach Erlass des nicht angefochtenen Haftungsbescheides oder im Falle der Anfechtung nach Erlass der Einspruchsentscheidung erfolgt ist. Dann nämlich ändert die Tilgung nichts an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids im Zeitpunkt des Erlasses bzw. der Einspruchsentscheidung. Der Haftungsschuldner hat in dieser Situation aber die Möglichkeit, 1 Mösbauer, S. 347. 2 BFH, Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131; vgl. auch Nacke, NWB Fach 2, 7023. 3 BFH, Urt. v. 9.12.2008 – VII R 43/07, BStBl. II 2009, 344; Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 20. 4 Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 20; Mösbauer, S. 349. 5 AEAO zu § 191 Nr. 4 Satz 2. 6 BFH, Urt. v. 6.12.1979 – V R 125/76, BStBl. II 1980, 103 (104) m.w. Nachw.; Urt. v. 17.10.1980 – VI R 136/77, BStBl. II. 1981, 138; Urt. v. 8.8.1991 – V R 19/88, BStBl. II 1991, 939; Beschl. v. 6.6.1994 – VII B 2/94, BFH/NV 1995, 281; BVerwG, Urt. v. 8.12.1988 – 8 C 13/87, NJW 1989, 1873 (1875); a.A. BFH, Urt v. 18.3.1983 – I R 193/79, BStBl. II 1983, 544; Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131, die auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Finanzgerichts abstellen.

305

Kap. 11 Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids

einen Abrechnungsbescheid gem. § 218 Abs. 2 AO zu verlangen, gegen den er anschließend Rechtsbehelfe einlegen kann.1 Zahlt er vor diesen maßgeblichen Zeitpunkten, wären die Entscheidungen der Finanzbehörde rechtswidrig; denn der Haftungsanspruch ist akzessorisch und damit abhängig vom Bestand der Steuerschuld. Ist diese durch Zahlung erloschen, besteht dementsprechend auch kein Haftungsanspruch. Ein Haftungsbescheid, der diese vorhergehenden Zahlungen nicht beachtet, wäre rechtswidrig. Der Haftungsschuldner könnte dann seinen (Teil-)Rücknahmeantrag zu Recht auf die Rechtswidrigkeit des Haftungsbzw. Duldungsbescheids oder der Einspruchsentscheidung stützen. Jedoch ist bei Zahlungen durch einen anderen Haftungsschuldner zu beachten, dass dieser evtl. selbst ein Rechtsbehelfsverfahren gegen seinen Haftungsbescheid führt. „Denn das Finanzamt muss insoweit stets mit der Möglichkeit rechnen, dass es bei ersatzloser Aufhebung des Haftungsbescheids im Rechtsmittelverfahren dem anderen Haftungsschuldner seine Leistungen zurückerstatten muss, die Steuerschuld insoweit also wieder aufleben kann.“2 Zu einer anderen Entscheidung kommt man auch, wenn es um eine Änderung der Steuerfestsetzung geht. Hier hat der VII. Senat in einer Entscheidung3 zutreffend hervorgehoben, dass hierfür maßgeblich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Finanzgerichts ist.4 Denn diese Festsetzungsänderung wirkt zurück auf den Zeitpunkt des Erlasses des Steuer- und Haftungsbescheids. Diese waren nämlich von Anfang an rechtswidrig, so dass ein Rücknahmeantrag insoweit stets auf die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids gestützt werden kann. 11.12

Beispiel: Es wurde eine Einspruchsentscheidung erlassen, in der die Haftung über 100000 Euro aus einem Haftungsbescheid bestätigt worden ist, obwohl bereits vorher 50000 Euro getilgt waren. Während des anschließenden Klageverfahrens werden die Steuerfestsetzungen von 100000 Euro auf 70000 Euro herabgesetzt. Der Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung ist in Höhe von 80000 Euro rechtswidrig (50000 Euro wegen vorheriger Tilgung und 30000 Euro wegen rechtswidriger Festsetzung). Die Klage ist in Höhe von 80000 Euro begründet. In gleicher Höhe wäre daher der Haftungsbescheid in Form des Einspruchsbescheids gem. § 130 Abs. 1 AO zurückzunehmen.

11.13

Liegt ein rechtswidriger Haftungsbescheid vor, so steht es im Ermessen der Finanzbehörde, ob sie diesen (teilweise) zurücknimmt. Dabei hat sie eine Abwägung vorzunehmen zwischen den Argumenten, die für eine Rücknahme sprechen, und denen, die dagegen sprechen. Wird die Rücknahme nach Unanfechtbarkeit des Haftungsbescheids geltend gemacht, kommt es darauf an, weshalb der Haftende sich auf die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids oder des Duldungsbescheids erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist stützt. In jedem Fall darf die Änderungsmöglichkeit nach § 130 Abs. 1 AO nicht dazu führen, dass Vorschriften über die Rechtsbehelfsfristen in diesem Teilbereich unterlaufen werden.5 Das Finanzamt darf daher Rücknahmeanträge zurückweisen, wenn in 1 BFH, Urt. v. 17.10.1980 – VI R 136/77, BStBl. II. 1981, 138 (140); Beschl. v. 4.5.1998 I B 116/96, BFH/NV 1998, 1460 (1463); BVerwG, Urt. v. 8.12.1988 – 8 C 13/87, NJW 1989, 1873 (1875); vgl. auch AEAO zu § 191 Nr. 4 S. 3. 2 BFH, Urt. v. 17.10.1980 – VI R 136/77, BStBl. II. 1981, 138 (140). 3 BFH, Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131. 4 Ebenso FG Saarland, Urt. v. 27.1.1994 – 2 K 164/91, EFG 1994, 686. 5 BFH, Urt. v. 9.3.1989 – VI R 101/84, BStBl. II. 1989, 749 (751); Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 29.

306

C. Rcknahme (§ 130 AO)

dem Antrag nur solche Umstände vorgetragen werden, die der Haftungsschuldner bei fristgerechter Einlegung des statthaften Rechtsmittels im Rechtsbehelfsverfahren vorzubringen in der Lage gewesen wäre.1 Im Folgenden lassen sich nun die Fälle unterscheiden, in denen eine Ermessens- 11.14 ausübung vonnöten ist. In allen Fällen besteht ein berechtigtes Interesse an einer erneuten Sachprüfung. Vorab ist aber zu beachten, dass es Fallgestaltungen gibt, die von vornherein eine Ermessensausübung nicht erfordern. So braucht das Finanzamt nicht in eine Sachprüfung einzusteigen, wenn die Gründe für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht schlüssig vorgetragen werden. Behauptet der Haftungsschuldner lediglich die Rechtswidrigkeit, ohne die Gründe, aus denen sich die Schlüssigkeit ergibt, näher zu bezeichnen, braucht das Finanzamt nicht eine Rücknahme in der Sache zu prüfen.2 Ein weiterer wichtiger Fall ist dann gegeben, wenn seit der Unanfechtbarkeit eine lange Zeit vergangen war, bis der Haftungsschuldner seinen Rücknahmeantrag stellte. Ein Zeitraum von ca. zehn Jahren rechtfertigt es aus dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit heraus, den Rücknahmeantrag von vornherein abzulehnen.3 Hat der Haftungsoder Duldungsschuldner es selbst verschuldet, dass es zur Rechtswidrigkeit des Haftungs- oder Duldungsbescheids gekommen ist, so besteht ebenfalls kein berechtigtes Interesse an einer erneuten Sachprüfung.4 Wie der BFH schon 1989 zu Recht entschieden hat, besteht auch in der Tatsache, dass überhaupt kein Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt worden ist, in dem materiell hätte geprüft werden können, ob ein Haftungsbescheid zu Recht besteht, kein Grund für eine nunmehr im Rücknahmeverfahren zu erfolgende Sachprüfung.5 Dagegen besteht in folgenden Fällen ein berechtigtes Interesse an einer erneu- 11.15 ten Sachprüfung: – Die Finanzbehörde hat veranlasst, dass der Haftungsschuldner gegen den Haftungsbescheid keinen Einspruch oder keine Klage erhoben hat.6 – Eine Ungleichbehandlung kann gem. Art. 3 Abs. 1 GG ein berechtigtes Interesse an einer Rücknahme begründen. Hat nämlich das Finanzamt in einem vergleichbaren Fall schon einen Haftungsbescheid rechtmäßig aufgehoben, so begründet dies auch ein berechtigtes Interesse für eine Rücknahme im anderen Fall.7 – Die Änderung der Sach- und Rechtslage kann ebenfalls zu einer erneuten Sachprüfung führen, wenn sie nachträglich ist und die Änderung rückwir-

1 BFH, Urt. v. 26.3.1991 – VII R 15/89, BStBl. II 1991, 552; Niedersächsisches FG Urt. v. 11.3.1999 – XI 642/97, n.v. 2 Vgl. AEAO zu § 130 Nr. 2 Satz 2; BFH, Urt. v. 9.3.1989 – VI R 101/84, BStBl. II 1989, 749 (751); Niedersächsisches FG, Urt. v. 11.3.1999 – XI 642/97, n.v.; Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026). 3 BFH, Urt. v. 15.3.1994 – VII B 196/93, BFH/NV 1995, 4. 4 Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026). 5 BFH, Urt. 9.3.1989 – VI R 101/84, BStBl. II 1989, 749 (751); a.A. Wilcke, Harzburger Steuerprotokoll 1984, 385 (429). 6 Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 30; Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026). 7 Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026).

307

Kap. 11 Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids

kend wirkt.1 Der Änderung der Rechtslage steht die Änderung der Rechtsprechung gleich, wenn sie Ausdruck einer neuen Rechtsauffassung ist.2 Wird eine Rechtsvorschrift für verfassungswidrig erklärt, so stellt dies keine Änderung der Sach- und Rechtslage dar, die zu einer Rücknahme eines unanfechtbaren Haftungs- oder Duldungsbescheids führt.3 – Wird nach Bestandskraft des Haftungs- oder Duldungsbescheids die Steuerfestsetzung durch Herabsetzung geändert, so ist eine solche Tatsache noch bis zum Ende der gerichtlichen Tatsacheninstanz uneingeschränkt zu berücksichtigen, da sich die festgesetzte Haftungsschuld rückwirkend von Beginn an als unrichtig erwiesen hat (s. Rz. 11.11). – Neue Beweismittel können ebenfalls zu einer Rücknahme führen.4 – Ebenso führen Wiederaufnahmegründe i.S.d. § 580 ZPO zu einer erneuten Sachprüfung.5 11.16

Liegt einer dieser Gründe vor, ist die Finanzverwaltung verpflichtet, erneut in die Sachprüfung einzusteigen und eine erneute Ermessensausübung vorzunehmen. Dabei ist zu prüfen, ob dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall oder dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist. Ist der Rechtsverstoß schwer und offensichtlich, spricht dies für eine gebotene Rücknahme. In der Regel führt eine solche Situation zu einer Ermessensreduzierung auf null, so dass der Haftungsschuldner einen Anspruch auf Rücknahme des Haftungs- oder Duldungsbescheids hat.

11.17

Die Rücknahmehandlung selbst ist verfahrensrechtlich wieder ein Verwaltungsakt. Soll z.B. nur der Haftungsbetrag herabgesetzt werden, so kommt eine Teilrücknahme in Betracht.6 Sie lässt den Teil des Haftungsbescheids, der nicht zurückgenommen worden ist, gem. § 124 Abs. 2 AO unberührt.7 Da der Rücknahmeverwaltungsakt grundsätzlich einen Vertrauenstatbestand schafft, ist nach Ansicht des BFH ein erneuter Erlass eines Haftungs- oder Duldungsbescheids grundsätzlich nicht möglich.8 Der Haftungs- oder Duldungsschuldner solle darauf vertrauen dürfen, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werde. Nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO komme eine Rücknahme des Rücknahmebescheides in Betracht, insbesondere wenn sein Vertrauen nicht schutzwürdig sei. Die Schutzwürdigkeit fehle z.B., wenn mit Rücknahme des ei-

1 BFH, Urt. v. 26.3.1991 – VII R 15/89, BStBl. II 1991, 552; Urt. v. 10.3.1992 – VII R 70/91, BFH/NV 1992, 698; Urt. v. 9.12.2008 – VII R 43/07, BStBl. II 2009, 344; vgl. Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 20; Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026). 2 Vgl. BFH, Urt. v. 10.3.1992 – VII R 70/91, BFH/NV 1992, 698 a.E. 3 Loose in Tipke/Kruse, vor § 130 Rz. 20 f. 4 BFH, Urt. v. 26.3.1991 – VII R 15/89, BStBl. II 1991, 552; Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026). 5 BFH, Urt. v. 26.3.1991 – VII R 15/89, BStBl. II 1991, 552; Rüsken in Klein, § 130 AO Rz. 30; Nacke, NWB Fach 2, 7023 (7026). 6 Mösbauer, S. 350, m.w. Nachw. aus der Rechtsprechung. 7 BFH, Urt. v. 28.1.1982 – V R 100/80, BStBl. II 1982, 292; Mösbauer, S. 350. 8 BFH, Urt. v. 22.1.1985 – VII R 112/81, BStBl. II 1985, 562.

308

D. Widerruf (§ 131 AO)

nen Haftungsbescheids gleichzeitig ein neuer erlassen werde.1 In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass der Rücknahmebescheid weder von vornherein rechtswidrig sei – nur dann komme man zu § 130 Abs. 2 AO –, noch in einem erneuten Haftungsbescheid die Rücknahme des Rücknahmebescheids gesehen werden könne.2 Dem ist zuzustimmen, denn der Rücknahmebescheid enthält keine allgemeine Freistellung von der Haftung, sondern beinhaltet nur eine schlichte Rücknahme des Haftungsbescheids, nicht mehr und nicht weniger. Gleichwohl kann ein erneuter Erlass eines Haftungsbescheids gegen die allgemeinen Vertrauensschutzgrundsätze verstoßen.

Û

Hinweis: Es ist daher – nicht zuletzt wegen der Rechtsprechung des BFH – 11.18 empfehlenswert, im Einzelfall, wenn ein erneuter Haftungsbescheid erlassen wird, genau zu prüfen, ob nicht ein Vertrauenstatbestand gegeben ist, der dem erneuten Erlass eines Haftungs- oder Duldungsbescheids gem. § 242 BGB entgegensteht. So kann der Adressat eines Bescheides, mit dem die Aufhebung eines Haftungsbescheides ausgesprochen wird, darauf vertrauen, in Zukunft nicht mehr in Anspruch genommen zu werden, wenn in diesem Bescheid die Aufhebung „ersatzlos“ verfügt wird.3

Eine Frist für die Rücknahme ist nach neuerer Rechtsprechung des BFH4 nicht 11.19 gegeben (s. hierzu die entsprechenden Ausführungen zum Widerruf eines Haftungs- oder Duldungsbescheides Rz. 11.23).

D. Widerruf (§ 131 AO) Kann ein rechtswidriger Haftungs- oder Duldungsbescheid gem. § 130 AO zu- 11.20 rückgenommen werden, so besteht daneben die Möglichkeit, einen rechtmäßigen Bescheid gem. § 131 Abs. 1 AO zu widerrufen. Er kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Vorschrift des § 131 Abs. 1 AO entspricht der allgemein geltenden Vorschrift des § 49 VwVfG. Voraussetzung ist somit die Rechtmäßigkeit des Haftungs- oder Duldungs- 11.21 bescheids. Rechtmäßig ist ein Haftungs- oder Duldungsbescheid, wenn er aufgrund eines Gesetzes ergangen ist und auch kein Gesetz verletzt. Weiter dürfen die Grenzen der Ermessensausübung nicht überschritten und es muss dem Zweck der Ermessensermächtigung entsprochen worden sein.5 Hauptanwendungsfall ist beim Haftungs- und Duldungsbescheid die Situation, dass nach Erlass desselben bzw. der Einspruchsentscheidung6 der Steuerschuldner seine Steu-

1 BFH, Urt. v. 22.1.1985 – VII R 112/81, BStBl. II 1985, 562 (563 f.). 2 Rüsken in Klein, § 191 AO Rz. 111. 3 BFH, Urt. v. 25.7.1986 – VI R 216/83, BStBl. II 1986, 779; kritisch Hein, DStR 1987, 175. 4 BFH, Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131; vgl. auch Nacke, NWB Fach 2, 7023. 5 Mösbauer, S. 351; Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 3. 6 Ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 5.

309

Kap. 11 Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids

erschuld ganz oder teilweise zahlt.1 Wie oben schon dargestellt, wird durch diese Zahlung der Haftungs- oder Duldungsbescheid nicht rechtswidrig. Die Widerrufsmöglichkeit ist jedoch gem. § 131 Abs. 1 AO insoweit eingeschränkt, als „ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste“. Diese Situation ist dann gegeben, wenn ein Duldungs- oder Haftungsbescheid aufgrund einer Ermessensreduzierung auf null kraft Gesetzesbindung erlassen werden müsste.2 Ein solcher Haftungs- oder Duldungsbescheid dürfte nicht widerrufen werden. 11.22

Beispiel: Ein Haftungsbescheid wurde gegen den ehemaligen Geschäftsführer einer GmbH gem. § 71 AO erlassen. Vollstreckungen gegen den Steuerschuldner (GmbH) waren zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids nicht erfolgversprechend. Später wurde die GmbH wieder vermögend. Der ehemalige Geschäftsführer stellt nun einen Antrag auf Widerruf des Haftungsbescheids. Wegen der Vorprägung des Entschließungsermessens (s. zum Ermessen Rz. 9.80 ff.) war das Ermessen beim Erlass des Haftungsbescheids auf null reduziert. Es wäre auch im jetzigen Zeitpunkt wegen der Vorprägung auf null reduziert, so dass die Finanzbehörde den Haftungsbescheid nicht widerrufen darf, obwohl sie ansonsten gehalten ist den Steuerschuldanspruch beim Steuerschuldner geltend zu machen.

11.23

Es war früher streitig, ob der Widerruf zeitlich beschränkt ist. Die Befürworter kamen unter entsprechender Anwendung des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO i.V.m. § 169 Abs. 1 AO zu der Ansicht, dass Haftungsbescheide nur innerhalb der Festsetzungsfrist widerrufen werden könnten.3 Nach einer Entscheidung des BFH gilt § 191 Abs. 3 AO nur für den erstmaligen Erlass eines Haftungsbescheids, nicht jedoch für dessen Änderung oder Aufhebung.4 Der Meinung des BFH ist zuzustimmen. Der Wortlaut wie auch die Gesetzesmaterialien zu § 191 Abs. 3 AO lassen keinen anderen Schluss zu, so dass die zeitliche Beschränkung des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO i.V.m. § 169 Abs. 1 AO nicht für den Widerruf oder die Rücknahme eines Haftungs- oder Duldungsbescheids gilt.5

1 AEAO zu § 191 Nr. 3 Satz 4; FG Nürnberg, Urt. v. 26.4.1977 – II 186/76, EFG 1977, 512 ff.; Mösbauer, S. 351 Fn. 207 m.w. Nachw.; zur Kostenfolge s. BFH, Beschl. v. 8.12.1998 – VII B 179/97, BFH/NV 1999, 796. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 10. 3 Z.B. Mösbauer, S. 352. 4 BFH, Urt. v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131; vgl. auch Nacke, NWB Fach 2, 7023; Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 127. 5 A.A. Rößler, StBp 1998, 275.

310

Kapitel 12 Erhebungsverfahren A. Zahlungsaufforderung . . . . . . . . .

12.1

B. Säumniszuschläge auf Haftungsschulden . . . . . . . . . . . .

12.3

C. Zahlungsverjährung . . . . . . . . . .

12.6

A. Zahlungsaufforderung Neben der Festsetzung der Haftungsschuld im Haftungsbescheid wird diesem 12.1 meist eine Zahlungsaufforderung beigefügt. Diese Zahlungsaufforderung gem. § 219 AO ist nicht Teil des Festsetzungsverfahrens, sondern des Erhebungsverfahrens. Auf eine Zahlungsaufforderung im Haftungsbescheid ist aber in bestimmten Fällen zu verzichten. So wird sie dort fehlen, wo zwar schon der Steueranspruch entstanden, aber eine Vollstreckung gegen den Steuerschuldner noch nicht erfolgt ist und die Festsetzungsverjährung für den Haftungsanspruch droht. Nach § 219 Satz 1 AO darf eine Zahlungsaufforderung bei Haftungsbescheiden nur dann ergehen, wenn die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos sein würde. Das unbewegliche Vermögen bleibt grundsätzlich außer Betracht bei der Frage des Subsidiaritätsgrundsatzes.1 Diese Einschränkung gilt nach § 219 Satz 2 AO aber dann nicht, wenn die Haftung auf bestimmten Vorschriften des Zollgesetzes oder darauf beruht, dass der Haftungsschuldner eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat oder gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzubehalten und abzuführen (= Haftung für Steuerabzugsbeträge) oder zu Lasten eines anderen zu entrichten. Der zuletzt genannte Fall ist gegeben, wenn insbesondere die in den §§ 34, 35 AO bezeichneten Personen tätig werden, so dass auch in den Fällen des § 69 AO direkt der Haftungsschuldner zur Zahlung aufgefordert werden kann. Die Zahlungsaufforderung ist ein selbständiger Verwaltungsakt.2 Der Haftungs- 12.2 schuldner kann, wie gegen den Haftungsbescheid, auch gegen die Zahlungsaufforderung daher gem. § 347 AO Einspruch einlegen. Diese ist anfechtbar, wenn gegen § 219 Satz 1 AO verstoßen worden ist.3

B. Säumniszuschläge auf Haftungsschulden Schrifttum: Baum, Ablaufhemmung und Säumniszuschläge – Änderung der §§ 171 und 240 AO –, NWB Fach 2, 7063; Heß, Erstattungsansprüche von Haftungsschuldnern wegen zu Unrecht entrichteter Säumniszuschläge, GmbHR 1998, R 289; Hartmann, Behandlung von Säumniszuschlägen bei der Beitreibung von Haftungsschulden, DStZ 2001, 162. 1 Britz, Rz. 559. 2 BFH, Beschl. v. 8.2.2008 – VII B 156/07, BFH/NV 2008, 967; Rüsken in Klein, § 219 AO Rz. 2. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 219 AO Rz. 7.

311

Kap. 12 Erhebungsverfahren

12.3

Neben Säumniszuschlägen auf Steuerschulden, für die der Haftungsschuldner z.B. nach § 69 AO haftet, stellt sich die Frage, ob auf die Haftungsschulden Säumniszuschläge entstehen, wenn der Haftungsschuldner im Zeitpunkt der Fälligkeit der Haftungsschuld nicht zahlt. Die früher umstrittene Frage, ob auf die festgesetzte Haftungsschuld Säumniszuschläge entfallen,1 ist mit dem Urteil des BFH vom 25.2.19972 entschieden worden. Danach entstehen keine Säumniszuschläge für rückständige Haftungsschulden. § 240 AO a.F. ließ Säumniszuschläge nur auf Steuern entstehen, die rückständig waren. Da Haftungsschulden keine Steuern sind, galt § 240 AO a.F. hierfür nicht. Aufgrund der Entscheidung des BFH vom 25.2.1997 ergaben sich Konsequenzen für die bis zum 31.7.1998 gezahlten Säumniszuschläge auf Haftungsschulden. Sie sind rechtsgrundlos gezahlt worden, so dass Erstattungsansprüche gem. § 37 Abs. 2 AO bestehen. Diese Erstattungsansprüche sind mit Zahlung der Säumniszuschläge entstanden.3 Sie verjähren mit Ablauf von fünf Jahren gem. § 229 Abs. 1 Satz 1 AO.

12.4

Durch das Gesetz vom 23. Juni 19984 wurde § 240 AO in der Weise geändert, dass § 240 Abs. 1 Satz 2 AO auch die Entstehung von Säumniszuschlägen auf Haftungsschulden vorsieht. Dabei beziehen sich die Säumniszuschläge nur auf die Steuern, nicht auf die in der Haftungssumme enthaltenen Säumniszuschläge (§§ 240 Abs. 2 i.V.m. 3 Abs. 4 AO). Im Falle einer Rücknahme, eines Widerrufs oder einer Berichtigung nach § 129 AO des Haftungsbescheids bleiben die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge unberührt (§ 240 Abs. 1 Satz 4. AO n.F.). Nach § 16 Abs. 4 Einführungsgesetz zur AO n.F. ist diese Neuregelung erstmals auf Säumniszuschläge anzuwenden, die nach dem 31.7.1998 entstehen.

12.5

Das Verhältnis der Säumniszuschläge auf die Steuerschulden zu den Säumniszuschlägen auf die Haftungsschuld bestimmt sich wie folgt: Wird der Haftungsschuldner für Steuerschulden des Primärschuldners in Anspruch genommen, so stehen die Säumniszuschläge auf die Steuerschulden und die Säumniszuschläge auf die Haftungsschuld gesamtschuldnerisch nebeneinander (§ 240 Abs. 4 Satz 2 AO analog), d.h., werden die Säumniszuschläge auf die Steuerschulden getilgt, so erlöschen insoweit die Säumniszuschläge auf die Haftungsschuld. Die Säumniszuschläge werden also beim Haftungsschuldner nicht doppelt erfasst.5 Weiterhin entstehen keine Säumniszuschläge auf die Haftungsschuld, wenn die Säumniszuschläge auf die Steuerschulden erlassen werden, da im Hinblick auf die Akzessorietät der Haftungsschuld im Haftungsverfahren der Erlass auch die Säumniszuschläge auf die Haftungsschulden erfasst. Wenn auch im Übrigen Säumniszuschläge nicht akzessorisch sind (s. § 240 Abs. 1 Satz 4 AO)6, so ist hier doch eine Ausnahme zu machen.

1 2 3 4 5 6

Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 240 AO Rz. 10 m.w. Nachw. BFH, Urt. v. 25.2.1997 – VII R 15/96, BFHE 182, 480 = BFH/NV 1998, 17. Vgl. BFH, Beschl. v. 29.7.1998 – II R 64/95, BFH/NV 1998, 1455 (1456). BGBl. I 1998, 1496 = BStBl. I 1998, 873 (875). Rüsken in Klein, § 240 AO Rz. 48a. BFH, Urt. v. 13.1.2000 – VII R 91/98, BStBl. II 2000, 247 (249).

312

C. Zahlungsverjhrung

C. Zahlungsverjährung Für die Haftungsschulden gelten die allgemeinen Vorschriften zur Zahlungsver- 12.6 jährung gem. §§ 228 ff. AO.1 Nach § 228 Satz 2 AO beträgt die Verjährungsfrist fünf Jahre. Sie beginnt gem. § 229 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch erstmals fällig geworden ist. Fehlt dem Haftungsbescheid eine Zahlungsaufforderung, verknüpft § 229 Abs. 2 AO den Fristbeginn mit dem Zeitpunkt der Konkretisierung, d.h. dem Zeitpunkt, in dem der Haftungsbescheid gem. § 124 Abs. 1 AO wirksam geworden ist (=Zeitpunkt der Bekanntgabe des Haftungsbescheides).2 Besteht zwischen der Finanzbehörde und dem Haftungsschuldner bzw. dem Steuerpflichtigen Streit darüber, ob eine Zahlungsverpflichtung aus einem Haftungsbescheid wegen Zahlungsverjährung erloschen ist, so ist diese Frage durch Abrechnungsbescheid gem. § 218 AO zu klären.3 Zahlungseingänge auf eine Haftungsschuld durch einen Gesamtschuldner sind auch zugunsten anderer Gesamtschuldner zu berücksichtigen.

1 BFH, Beschl. v. 16.8.2006 – VII S 25/06 (PKH), BFH/NV 2006, 2032. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 229 AO Rz. 5. 3 BFH, Beschl. v. 8.1.1998 – VII B 137/97, BFH/NV 1998, 686.

313

12.7

5. Teil Muster

M 1 Muster einer Anhçrung (Als Vorlage diente ein Anhçrungsmuster der OFD Hannover.) […] Finanzamt […] Steuernummer […] (Bei Zuschriften oder Zahlungen bitte angeben)

[…] PLZ, Ort, Datum […] Postfach […] Dienstgebude […] Sprechzeiten […] Herrn/Frau […] Bearbeitet von […] Tel. […] Konten

[…] Zimmer

Betrifft: Steuerschulden der […]; Prfung der Voraussetzungen fr eine Haftungsinanspruchnahme Anlagen: 1 Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme (doppelt) Sehr geehrte […] Die vorbezeichnete Gesellschaft hat gegenber dem Finanzamt folgende Umsatzsteuerschulden: […] Euro […] Euro […] Euro […] Euro […] Euro […] Euro Der Vertreter einer Gesellschaft ist verpflichtet, die der Gesellschaft obliegenden steuerlichen Pflichten zu erfllen. Insbesondere hat er dafr zu sorgen, dass die Steuern der Gesellschaft aus den von ihm verwalteten Mitteln entrichtet werden (§ 34 Abgabenordnung – AO). Reichen die verfgbaren Mittel nicht zur Tilgung aller Steuerschulden aus, sind die Steuerschulden – mit Ausnahme der vorrangig zu entrichtenden Lohnsteuerbetrge – in etwa demselben Verhltnis zu tilgen wie Schulden gegenber privaten Glubigern. Eine der Befriedigung der brigen Glubiger entsprechende Tilgung der Steuerschulden ist dann gegeben, wenn die Tilgung der Steuerschulden der Tilgungsquote entspricht, die sich durch Gegenberstellung der gesamten Verbindlichkeiten und der gesamten Zahlungen des jeweiligen Haftungszeitraums (Zeitraum vom Beginn der Zahlungsschwierigkeiten bis zur Zahlungseinstellung) ergibt (BFH-Urteil vom 12.6.1986, BStBI. 1986 II S. 657). 315

M 1 Muster Anhçrung

Nach § 69 AO haftet der Vertreter einer Gesellschaft insoweit persçnlich, als Steueransprche infolge vorstzlicher oder grob fahrlssiger Verletzung der ihm auferlegten Pflichten nicht erfllt worden sind. Zur Feststellung, ob l Sie l Herr/Frau […] im Zeitraum vom […] bis […] (Haftungszeitraum) der Verpflichtung, die Steuerschulden in etwa demselben Umfang wie die brigen Verbindlichkeiten der Gesellschaft zu erfllen, nachgekommen sind/ist oder wegen Verletzung dieser Pflicht eine Haftung fr die vorgenannten Schulden besteht, bitte ich bis zum […] um Beantwortung folgender Fragen: 1. Sind die Steuerschulden (außer Lohnsteuer) in dem genannten Zeitraum etwa im gleichen Verhltnis erfllt worden wie die Verbindlichkeiten gegenber anderen Glubigern? 2. Aus welchem Grunde sind andere Glubiger ggf. vorzugsweise befriedigt worden? 3. (Bei mehreren zur Vertretung der Gesellschaft berechtigten Personen) Wie und in welcher Form waren die Verantwortungszustndigkeiten zwischen den zur Vertretung der Gesellschaft berechtigten Personen abgegrenzt? Außerdem bitte ich, den beiliegenden Berechnungsbogen fr den Haftungszeitraum auszufllen und dem Finanzamt innerhalb der genannten Frist zurckzusenden. Sollten Sie aus tatschlichen Grnden nicht in der Lage sein, die nach dem Berechnungsbogen erforderlichen Angaben zu machen, bitte ich die Grnde innerhalb einer Woche nach Erhalt dieses Schreibens mitzuteilen. l Sie sind im vorliegenden Verfahren zur Mitwirkung bei der Ermittlung der fr die Feststellung der Haftung erheblichen Tatsachen verpflichtet (§ 90 Abs. 1 und § 93 Abs. 1 AO). Verletzt ein Beteiligter seine Mitwirkungspflichten, indem er keine bzw. unzureichende Ausknfte erteilt oder angeforderte Unterlagen nicht vorlegt, ist das Finanzamt berechtigt, diesen Umstand frei zu wrdigen. Bei Fehlen anderer Anhaltspunkte kann das Finanzamt insbesondere die mangelnde Mitwirkung eines Beteiligten bei Sachverhalten, die in seinem Wissens- oder Einflussbereich liegen, gegen ihn verwerten. Das Finanzamt kann dabei von einem fr ihn ungnstigen Sachverhalt ausgehen, sofern dieser einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit hat. l Sie sind als Vertreter der Gesellschaft zur Beantwortung der vorstehenden Fragen und zu den nach dem beiliegenden Berechnungsbogen erbetenen Ausknften nach § 93 Abs. 1 S. 3 AO verpflichtet. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfllt. Die Ausknfte dienen nicht der Besteuerung der Gesellschaft. Mit freundlichem Gruß ln Vertretung/Im Auftrag

316

M 2 Muster Haftungsbescheid

M 2 Muster eines Haftungsbescheids Herrn […] Name […] Straße […] PLZ, Ort […] Ort, Datum Betr.: […] Haftung fr rckstndige Umsatzsteuer und steuerliche Nebenleistungen Haftungsbescheid Sehr geehrte […], die o. a. GmbH schuldet zur Zeit u. a. noch folgende Steuern und steuerliche Nebenleistungen (Stand 30.11.2016): Steuerart/-jahr Umsatzsteuer 2013 Kçrperschaftsteuer 2013 Sz. zur USt I/15 Gesamtsumme

Flligkeit […] […] […]

Betrag […] Euro […] Euro […] Euro […] Euro

Ich nehme Sie hiermit gem. § 34 i.V.m. § 69 Abgabenordnung (AO) als Haftungsschuldner in Anspruch und fordere Sie auf, den Betrag von […] Euro (in Worten: […] Euro) bis zum […] Datum auf eines der angegebenen Konten des Finanzamts […] zu berweisen und als Verwendungszweck anzugeben: „Haftungsbescheid […] St.-Nr. […]“. Rechtsgrundlage fr den Erlass dieses Haftungsbescheids ist § 191 Abs. 1 AO. Die Entscheidung, Sie als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, beruht auf nachstehend aufgefhrten Tatsachen und Erwgungen. Sie waren Geschftsfhrer der O-GmbH. Gem. § 34 Abs. 1 AO hatten Sie deren steuerliche Pflichten zu erfllen. Insbesondere hatten Sie dafr zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet wurden, die Sie verwalteten. Diese Pflichten haben Sie hinsichtlich der vorstehend aufgefhrten Steuern nicht erfllt. Die Pflichtverletzung haben sie auch schuldhaft i.S.d. § 69 AO begangen. Sie haben zumindest grob fahrlssig die Entrichtung der Steuern unterlassen, da sie Ansprche anderer Glubiger erfllt haben, ohne jedoch die Steuern und steuerlichen Nebenleistungen zu bezahlen. Trotz Befragen durch das Finanzamt haben Sie keine Grnde vorgetragen, die eine Einschrnkung der Zahlungsfhigkeit im Flligkeitszeitpunkt aufzeigen. 317

M 2 Muster Haftungsbescheid

Trotz Befragen durch das Finanzamt haben Sie keine Grnde vorgetragen, die eine Einschrnkung der Zahlungsfhigkeit im Flligkeitszeitpunkt aufzeigen. Ihre Inanspruchnahme ist auch ermessensfehlerfrei. Zwar haftet auch ein weiterer Geschftsfhrer der O-GmbH. Da aber eine Realisierung der Steueransprche im vollen Umfange bei diesem Geschftsfhrer zweifelhaft ist, waren auch Sie in Anspruch zu nehmen. Auch waren Vollstreckungsbemhungen bei der O-GmbH ohne Erfolg. Rechtsbehelfsbelehrung Sie kçnnen gegen diesen Bescheid Einspruch einlegen. Der Einspruch ist beim Finanzamt […] schriftlich einzureichen oder zur Niederschrift zu erklren. Die Frist fr die Einlegung des Einspruchs betrgt einen Monat. Sie beginnt mit Ablauf des Tages, an dem Ihnen dieser Bescheid bekannt gegeben worden ist. Bei Zusendung durch einfachen Brief oder Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bewirkt, es sei denn, dass der Bescheid zu einem spteren Zeitpunkt zugegangen ist. Bei Zustellung durch Postzustellungsurkunde oder gegen Empfangsbekenntnis ist der Tag der Bekanntgabe der Tag der Zustellung. Bei der Einlegung des Rechtsbehelfs soll der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den sich der Rechtsbehelf richtet. Es soll angegeben werden, inwieweit der Verwaltungsakt angefochten oder seine Aufhebung beantragt wird. Ferner sollen Tatsachen, die zur Begrndung dienen, und die Beweismittel angefhrt werden. Soweit das Finanzamt diesem Verwaltungsakt Entscheidungen zugrunde gelegt hat, die in einem Feststellungsbescheid getroffen worden sind, kann der Verwaltungsakt nicht mit der Begrndung angefochten werden, dass die in dem Feststellungsbescheid getroffenen Entscheidungen unzutreffend seien. Dieser Einwand kann nur gegen den Feststellungsbescheid geltend gemacht werden. Durch den Einspruch wird die Vollziehung des angefochtenen Bescheids nicht gehemmt, insbesondere wird die Erhebung von Abgaben nicht aufgehalten, es sei denn, dass die Vollziehung des Bescheids ausgesetzt oder Stundung gewhrt worden ist. Hochachtungsvoll Im Auftrag

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M 3 Muster Einspruch gegen Haftungsbescheid

M 3 Muster eines Einspruchs gegen einen Haftungsbescheid Finanzamt […], […] Postfach oder Straße […] PLZ, Ort […] Ort, Datum Steuernr.: […] Haftungsbescheid vom […] Datum Sehr geehrte Damen und Herren! Gegen den oben genannten Haftungsbescheid lege ich Einspruch ein. Es wird beantragt, 1. den Haftungsbescheid vom […] zurckzunehmen, 2. die Vollziehung des Haftungsbescheids vom […] in vollem Umfang auszusetzen (oder aufzuheben). Begrndung: I. […] hat mich beauftragt, ihn in dieser Angelegenheit zu vertreten. Die Vollmacht liegt bei. II. Herr […] ist zu Unrecht als Geschftsfhrer der […]-GmbH gem. §§ 34, 69 AO in Anspruch genommen worden. Er hat nicht grob fahrlssig seine Pflichten als Geschftsfhrer verletzt. Im brigen ist der Haftungsbetrag zu hoch. Es wird Herrn […] vorgeworfen, er habe gegenber dem Finanzamt andere Glubiger bevorzugt befriedigt. Dies stelle eine grobe Pflichtverletzung dar. Mein Mandant hat jedoch nicht das Finanzamt bei der Befriedigung der Glubigeransprche benachteiligt. Die Steueransprche des Finanzamts wurden im gleichen Verhltnis wie die restlichen Ansprche der anderen Glubiger der […]-GmbH bedient. Darber hinaus trifft das Verschulden auf keinem Fall meinen Mandanten; denn fr die Steuerangelegenheiten der […]-GmbH ist der Geschftsfhrer […] laut Gesellschafterbeschluss vom 10.4.2000 zustndig. Es bestanden im Haftungszeitraum auch keine meinem Mandanten bekannte Zahlungsschwierigkeiten der […]-GmbH. Herr […] hat sich regelmßig Gewissheit verschafft ber die finanziellen Belange der […]-GmbH. Dabei hat er keine Anhaltspunkte fr eine nicht ordnungsgemße Erfllung der der […]-GmbH obliegenden Aufgaben festgestellt.

319

M 3 Muster Einspruch gegen Haftungsbescheid

Die Haftungssumme ist im brigen auch zu hoch. Es wurden zwischenzeitlich schon 10.000 Euro Kçrperschaftsteuer getilgt. III. Da an der Rechtmßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ernstliche Zweifel bestehen, beantrage ich gem. § 361 Abs. 2 Satz 2 AO folgende Betrge von der Vollziehung auszusetzen: Kçrperschaftsteuer Gewerbesteuer Umsatzsteuer

[…] Euro […] Euro […] Euro

Mit freundlichen Grßen Rechtsanwalt […]

320

Anhang Anhang 1 Drittwirkung der Steuerfestsetzung (Verfügung OFD Hannover vom 29.9.2004) S 0338 – 43 – StH 464 S 0338 – 24 – StO 321 (AO-Kartei Niedersachsen § 166 Karte 1 vom 29.9.2004) StEK Abgabenordnung 1977 § 166 Nr. 1 1. Allgemeines Grundsätzlich kann der Haftungsschuldner seiner Inanspruchnahme nach § 191 AO aus Gründen eines wirkungsvollen Rechtsschutzes uneingeschränkt Einwendungen entgegensetzen, die nicht nur die Haftungsschuld, sondern die davon zu unterscheidende sog. Primärschuld, für die er als Haftender in Anspruch genommen wird, betreffen, BVerfG, Kammerbeschl. 2 BvR 1157/93 v. 29.11.1996, BStBl. II 1997, 415. Eine gegen den Haftungsschuldner gerichtete Drittwirkung des gegen den Steuerschuldner erlassenen Bescheides ist aber ausnahmsweise unter den Voraussetzungen des § 166 AO gegeben, sodass Personen im Sinne des § 166 AO im Haftungsverfahren keine Einwendungen gegen den zu Grunde liegenden Steuerbescheid erheben können. 2. Sachlicher Geltungsbereich 2.1 Haftungsbescheide § 166 AO gilt aufgrund der systematischen Stellung im Gesetz nicht für Haftungsbescheide – BFH-Urt. VI R 82/95 v. 16.11.1995, BFH/NV 1996, 285 –, wenn die Haftung einer weiteren Person für die Haftungsschuld in Betracht kommt. Eine Anwendung der Vorschrift ist insoweit weder in § 191 AO noch an anderer Stelle angeordnet worden. Wird also ein GmbH-Geschäftsführer seinerseits als Haftender für gegenüber der Gesellschaft festgesetzte Haftungsbeträge (z.B. Lohnsteuerhaftungsbescheid nach § 42d Abs. 1 EStG) in Anspruch genommen, bleiben ihm sämtliche Einwendungen gegen Grund und Höhe des Primäranspruchs erhalten, auch wenn der gegen die Gesellschaft gerichtete Haftungsbescheid bestandskräftig ist. 2.2 Duldungsbescheide Der Anfechtungsgegner ist von Einwendungen gegen den seiner Inanspruchnahme zu Grunde liegenden bestandskräftigen Steuer- oder Haftungsbescheid ausgeschlossen, BFH-Urt. VII R 109/86 v. 1.3.1988, BStBl. II 1988, 408. 3. Persönlicher Geltungsbereich Die Aufzählungen der in § 166 AO genannten Personenkreise sind abschließend.

321

Anh. 1 Drittwirkung der Steuerfestsetzung

Es sind dies: 3.1 Gesamtrechtsnachfolger Gesamtrechtsnachfolger im Sinne des § 45 AO liegt vor bei Erbfall, Verschmelzung und Umwandlung von Gesellschaften, Nachfolge des Fiskus in das Vermögen eines erloschenen Vereins, Eintritt in die Gütergemeinschaft, Anwachsung, Verstaatlichung und Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Kein Gesamtrechtsnachfolger ist der Betriebsunternehmer im Sinne des § 75 AO. Er braucht die unanfechtbare Festsetzung der Primärschuld nicht gegen sich gelten lassen; das gilt auch, wenn der Haftungsfall (z.B. die Veräußerung des Gewerbebetriebes) erst während eines Rechtsbehelfsverfahrens (also vor der Unanfechtbarkeit) eintritt, Tipke/Kruse, AO, § 166 Tz. 9. 3.2 Vertreter und Bevollmächtigte Vertreter sind die gesetzlichen Vertreter im Sinne des § 34 Abs. 1 AO. Bevollmächtigte erlangen ihre Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft (Vollmacht) und sind gewillkürte Vertreter. Bevollmächtigter kann auch der Steuerberater, Rechtsanwalt oder Notar sein. 3.3 Personen mit einer Anfechtungsbefugnis kraft eigenen Rechts Eine eigene Rechtsbehelfsbefugnis haben diejenigen, die gemäß § 350 AO durch die Steuerfestsetzung beschwert sind, bei Feststellungsbescheiden die in § 352 AO genannten Personen sowie die Vermögensverwalter gemäß § 34 Abs. 3 AO. Der Haftungsschuldner ist nur durch den Haftungsbescheid beschwert, nicht durch die Festsetzung der Primärschuld; er hat daher keine eigene Rechtsbehelfsbefugnis im Sinne des § 166 AO, BVerfG, Kammerbeschl. 2 BvR 1157/93 v. 29.11.1996, BStBl. II 1997, 415. Eine nur gemeinschaftliche Anfechtungsbefugnis der Gesellschafter einer GbR hinsichtlich eines gegenüber der GbR erlassenen Steuerbescheides bleibt auch bestehen, wenn die Gesellschaft nicht mehr bestehen sollte und sogar wenn einer der Gesellschafter für eine im Namen der Gesellschaft erhobene Klage die Erteilung einer Vollmacht schikanös verweigert, BFH-Beschl. IV B 161/94 v. 25.7.1995, BFH/NV 1996, 155. Ein Gesellschafter einer GbR ist zwar, soweit ihm nach dem Gesellschaftsvertrag die Befugnis zur Geschäftsführung zusteht, im Zweifel gemäß § 714 BGB auch ermächtigt, die anderen Gesellschafter Dritten gegenüber zu vertreten. Nach dem gesetzlichen Regelfall steht die Geschäftsführung der GbR aber gemäß §§ 709–712 BGB allen Gesellschaftern gemeinschaftlich zu. Abweichendes bedarf vertraglicher Regelung durch die Gesellschafter, BFH-Urt. VII R 30/97 v. 16.12.1997, BStBl. II 1998, 319. 4. Voraussetzungen 4.1 Unanfechtbarkeit Unter Unanfechtbarkeit wird grundsätzlich die formelle Bestandskraft eines Bescheides verstanden, wenn der Bescheid nicht mehr mit einem förmlichen Rechtsbehelf angegriffen werden kann. Der BFH sieht aber Bescheide auch dann 322

Anh. 1 Drittwirkung der Steuerfestsetzung

als nicht unanfechtbar an, wenn sie noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen und damit bis zur Aufhebung des Vorbehalts bzw. bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist noch geändert werden können, vgl. z.B. BFH-Beschl. VII B 213/00 v. 28.3.2001, BFH/NV 2001, 1217. Die in § 166 AO genannten Personen sind somit nicht von Einwendungen ausgeschlossen, die dem Primärschuldner noch zustehen würden. 4.2 Rechtliche Anfechtungsbefugnis § 166 AO stellt allein auf die rechtliche und nicht auf die tatsächliche Befugnis zur Anfechtung eines Steuerbescheides ab, BFH-Urt. VII R 30/97 v. 16.12.1997, BStBl. II 1998, 319. Ebenso unbeachtlich ist das tatsächliche Verhalten des Haftungsschuldners oder die faktische Geschäftsführung in der Gesellschaft, BFHUrt. VII R 196/83 v. 21.1.1986, BFH/NV 1986, 512, mit Hinweis auf das BFHUrt. V 64/64 v. 28.7.1966, BStBl. III 1966, 610. Der Ausschluss von Einwendungen reicht aber nicht weiter als die Vertretungsmacht, BFH-Beschl. IV B 54/93 v. 17.5.1994, BFH/NV 1995, 86. Ein nicht alleinvertretungsberechtigter Gesellschafter einer GbR, der für Steuerschulden der GbR in Haftung genommen wird, kann daher alle Einwendungen gegen den primären bestandskräftig gewordenen Steueranspruch erheben. Etwas anderes gilt auch nicht im Hinblick auf ein etwaiges Notgeschäftsführungsrecht nach § 744 Abs. 2 BGB oder wenn sich der als Haftungsschuldner in Anspruch genommene Gesellschafter nicht um eine gemeinschaftliche Anfechtung des gegenüber der GbR erlassenen Steuerbescheides bemüht hat, BFH-Urt. VII R 30/97 v. 16.12.1997, BStBl. II 1998, 319. Die Bindungswirkung des § 166 AO tritt ebenfalls nicht ein, wenn die Vertretungsmacht im Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheides bereits erloschen war, weil der Vertreter rechtlich nicht mehr in der Lage war, den gegen den Steuerschuldner ergangenen Bescheid anzufechten, BFH-Beschl. VII S 9/96 v. 4.6.1996, BFH/NV 1996, 915. Auch wenn der Vertreter wegen Verlusts der Vertretungsvollmacht nicht während des gesamten dem Steuerschuldner für einen Rechtsbehelf oder einen Antrag auf Änderung nach den Korrekturvorschriften der AO – z.B. nach § 164 Abs. 2 Satz 2 AO – zur Verfügung stehenden Zeitraums zur Stellung dieser Anträge berechtigt ist, kann er noch Einwendungen gegen die gegenüber dem Steuerschuldner festgesetzte Steuer erheben, BFH-Beschl. VII B 213/00 v. 28.3.2001, BFH/NV 2001, 1217. 5. Rechtsfolgen Der Haftungsschuldner muss den gegen den Steuerschuldner ergangenen Steuerbescheid gegen sich gelten lassen, wenn er ihn hätte anfechten können. Dies gilt auch für Steueranmeldungen, da diese gemäß § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehen, BFH-Beschl. VI B 70/02 v. 4.2.2003, BFH/NV 2003, 798. Von einem im Haftungsverfahren in Bezug auf das Bestehen der Primärschuld bestehenden Einwendungsausschluss nach § 166 AO bleiben Einwendungen, die den Haftungstatbestand betreffen, aber von vornherein unberührt. 323

Anh. 1 Drittwirkung der Steuerfestsetzung

Für die Anwendbarkeit des § 166 AO ist es ausreichend, wenn jemand gesetzlicher Vertreter einer GmbH ist; es ist nicht erforderlich, dass er in dieser Eigenschaft gemäß § 69 AO als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wurde, BFH-Beschl. V B 121/96 v. 14.7.1997, BFH/NV 1998, 48, im Falle der Haftungsinanspruchnahme des Geschäftsführers und Liquidators einer GmbH nach § 71 AO.

324

Anhang 2 BFH-Rechtsprechung zu den häufigsten Einwendungen gegen Haftungsbescheide auf der Grundlage der §§ 191, 34, 69 AO (übernommen von der OFD Karlsruhe) Verfügung OFD Hannover v. 2.11.2004, S 0370 – 28 – StO 141 (AO-Kartei Niedersachsen § 191 Karte 4); s. auch OFD Frankfurt am Main v. 18.1.2013 – S 0370 A-15-St 23, juris Anliegend ist die Rechtsprechung des BFH den häufigsten Einwendungen gegen Haftungsbescheide auf der Grundlage der §§ 191, 34, 69 AO gegenübergestellt. Anlage Einwendungen gegen Haftungsbescheid gemäß §§ 191, 34, 69 AO Gegenüberstellung der BFH-Rechtsprechung zu den häufigsten Einwendungen gegen Haftungsbescheide auf der Grundlage der §§ 191, 34, 69 AO lfd. Nr. I. Einwendungen insbesondere gegen Haftung für rückständige Lohnsteuer – Vertrauen auf Eingang von Zahlungsmitteln bis zum Fälligkeitstag zur Abführung einbehaltener Lo hnsteuerabzugsbeträge – Wegen Bemühungen um Fortbestand des Unternehmens Auszahlung der ungekürzten Löhne – Auszahlung der ungekürzten Löhne aus sozialen Gründen – Konkursantrag nach Lohnzahlung und vor Fälligkeit – Zwischen den Zeitpunkten der Lohnzahlung und vor Fälligkeit wurde gerichtlich ein Verfügungsverbot angeordnet – Eintritt der Liquiditätsschwierigkeiten nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung – Eintritt unerwarteter Zahlungsunfähigkeit während Schonfrist – Abführung der Lohnsteuerabzugsbeträge im Vertrauen auf Bewilligung einer beantragten Stundung hinausgeschoben – Bank hätte auch bei vorschriftsmäßiger Kürzung der Lohne Zahlung an Finanzamt verweigert – Arbeitsniederlegung bei Kürzung der Löhne – Mittel reichten nur zur Auszahlung der Nettolöhne – Haftungsschuldner erwartete Erstattungsanspruch zwecks Aufrechnung – Keine Kenntnis von Verpflichtung zur Auszahlung der Löhne als Vorschuss oder Teilbetrag bei Zahlung der Löhne – Keine Haftung für Lohnsteuer auf eigenen Arbeitslohn – Lohnsteuerverbindlichkeit stand Vorsteuerguthaben aufrechenbar gegenüber – Die Übererfüllung der „Tilgungsquote“ bei der Umsatzsteuer usw. muss auf die Haftungssumme für Lohnsteuer angerechnet werden

1 2 3 4 5 6 49 7 8 9 10 11 12 42 34 46

325

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

II. Einwendungen unter Berufung auf die Tätigkeit der kreditgebenden Bank, des beherrschenden Lieferanten usw. – Globalzession zugunsten Kreditinstitut – Auswahl der Überweisungsaufträge durch Bank – – Auftragsgemäße Bevorzugung bestimmter Gläubiger – – Zubilligung von Sicherungsrechten zugunsten anderer Gläubiger – – Vorausabtretung von Kundenforderungen an Lieferanten – – Weigerung der Bank wegen Abführung der Lohnsteuerabzugsbeträge auch bei vorschriftsmäßiger Kürzung der Löhne III. Einwendungen unter Hinweis auf fehlende Kenntnisse (Zeit, Überblick) – Keine Kenntnisse über steuerliche Pflichten (allgemein) – Keine Kenntnis von Verpflichtung zur anteiligen Tilgung – Keine Kenntnis von Verpflichtung zur anteiligen Tilgung bei der Lohnsteuer – Haftungsschuldner befand sich in der Einarbeitungsphase – Zeitmangel, fehlender Überblick – Berücksichtigung des Bildungs- und Intelligenzgrades – Fehlende Kenntnisse und Erfahrungen des Geschäftsführers auf dem Gebiet des Steuerrechts IV. Einwendungen mit dem Hinweis auf die Funktion als Strohmann bzw. auf die Verantwortlichkeit anderer Personen (anderer Geschäftsführer, Gesellschafter, Abteilungsleiter, Angestellte, Buchhalter, Hilfskräfte, Prokurist, Steuerberater usw.) – Bestellung als Geschäftsführer in der Funktion eines Strohmannes – Verdrängung als Geschäftsführer durch Gesellschafter – Ausschaltung des Geschäftsführers durch andere Personen – Verantwortlichkeit des Leiters des betreffenden Betriebszweigs – Beauftragung eines anderen Geschäftsführers – Beauftragung Angestellte, Buchhalter, Gesellschafter, Hilfskräfte, Prokurist, Steuerberater usw. – Nichtkaufmann-Geschäftsführer regelte auch kaufmännische Angelegenheiten – Beauftragung eines Steuerberaters – Bestellung eines Generalbevollmächtigten – Angehöriger der beherrschenden Person wurde in Amt des Geschäftsführers ohne Einwirkungsmöglichkeit gedrängt – lm Gegensatz zum Mitgeschäftsführer mit Alleinvertretungsbefugnis konnte Haftungsschuldner die Gesellschaft nur gemeinsam mit einem anderen vertreten – Gesellschafter der GbR war von der Geschäftsführung ausgeschlossen und hatte keinen Einfluss auf die Abwicklung der Geschäfte V. Einwendungen mit dem Hinweis auf Vereinbarungen mit anderen Gläubigern zu Lasten des Finanzamts – Globalzessionsvertrag

326

13 14 15 16 17 18

21 18 12 20 19 53 71

22 23 24 29 30 31, 43 33 43, 45 47 50 51 54

13

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

– Vereinbarung über bevorzugte Befriedigung bestimmter anderer Gläubiger – Vereinbarung von Sicherungsrechten zugunsten anderer Gläubiger – Vorausabtretung von Kundenforderungen – Abtretung des gesamten Grundstückskaufpreises einschließlich der Umsatzsteuer an die Bank VI. Einwendungen mit dem Hinweis auf Zahlungsschwierigkeiten des Steuerschuldners/Haftungsschuldners – Verfügbare Mittel geringer als Summe der Verbindlichkeiten im Haftungszeitraum – Zahlungsschwierigkeiten im Zeitpunkt der Lohnzahlung – Wegen Liquiditätsengpässen vorrangige Befriedigung bestimmter Gläubiger zur Erhaltung des Betriebs bzw. aus sozialen Gründen – Wegen Zahlungsunfähigkeit auch bei fristgerechter/vollständiger Abgabe der Steuererklärung keine Zahlung möglich – Eintritt der Liquiditätsschwierigkeiten nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung – Nur Mittel zur Zahlung der Nettolöhne verfügbar – Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners – Inanspruchnahme nur für Teile der Steuerrückstände – Zahlungsschwierigkeiten waren bereits absehbar VII. Einwendungen unter Hinweis auf vor bzw. nach Fälligkeit eingetretene Ereignisse – Haftungsschuldner vertraute bei Lohnzahlung auf eingehende Gelder zur Abführung der Lohnsteuer – Konkursantrag nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung und vor Fälligkeit – Gerichtlich angeordnetes Verfügungsverbot nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung und vor Fälligkeit – Eintritt Zahlungsschwierigkeiten nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung – Haftungsschuldner rechnete mit erfolgreichem Abschluss der Kreditverhandlungen – Haftungsschuldner vertraute auf Bewilligung der beantragten Stundung – Bank verweigerte Erfüllung des erteilten Überweisungsauftrags – Haftungsschuldner rechnete mit Erstattungsanspruch – Haftungsschuldner erwartete Aufrechnung mit Erstattungsansprüchen VIII. Einwendungen mit dem Hinweis auf die Tätigkeit als Nichtkaufmann – Haftungsschuldner war als Geschäftsführer nur für nichtkaufmännische Belange zuständig – Auch der Nichtkaufmann-Geschäftsführer kümmerte sich um kaufmännische Angelegenheiten

15 16 17 72

25 1 2, 3, 9, 15 26 6 10 27 28 44

1 4 5 6 32 7 14 11 34

35 33

327

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

IX. Einwendungen unter Hinweis auf das Bestreben zur Erhaltung des Betriebes bzw. des sozialen Friedens – Bevorzugte Befriedigung bestimmter Gläubiger zwecks Erhaltung des Betriebs – Bevorzugte Befriedigung privater Gläubiger aus sozialen Gründen – Befürchtung von Arbeitsniederlegungen bei vorschriftsmäßiger Kürzung der Löhne – Auftragsgemäße Befriedigung bestimmter privater Gläubiger X. Sonstige Einwendungen – Mitverschulden des Finanzamts durch unterlassene Vollstreckungsmaßnahmen – Nur geringe Beteiligung des Haftungsschuldners an Gesellschaft – Keine Regressmöglichkeit – Niederlegung des Geschäftsführeramtes bzw. Widerruf der Bestellung vor Fälligkeit – Haftungsanspruch liegt keine Steuerfestsetzung zugrunde – Fehlende Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Haftungsschaden – Finanzamt hatte die Möglichkeit der Aufrechnung gegen Steuererstattungsansprüche – Leistungsempfangender Unternehmer ist zum Abzug der Vorsteuer nicht berechtigt – Keine Haftung für Lohnsteuer auf eigenes Gehalt des Geschäftsführers/für Kapitalertragsteuer auf eigene Kapitaleinkünfte – Die Verpflichtung zur Steuerzahlung konkurriert mit privatrechtlichen Schadensersatzverpflichtungen wie etwa der Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft gem. § 64 Abs. 2 Satz 1 GmbHG – Rücktritt als Geschäftsführer – Haftungsschuldner war nicht als Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen/nicht formell wirksam zum Geschäftsführer bestellt worden – Die dem Haftungsanspruch zugrunde gelegten Lohnsteueranmeldungen seien falsch XI. Häufige weitere Einwendungen gegen die Haftung – Abschluss des Konkursverfahrens muss abgewartet werden – GmbH ist bereits gelöscht – Steueranspruch ist bereits verjährt – Es wurden nach Ergehen der Einspruchsentscheidung noch Zahlungen auf die Haftungsschuld geleistet – Geschäftsführer kann nicht mitwirken, da Unterlagen beim Konkursverwalter – GmbH befand sich erst im Gründungsstadium – Geschäftsführer der Komplementär GmbH – Geschäftsführer war nur Nachfolgegeschäftsführer – Pflicht entsteht erst mit Fälligkeit der Steuer – Verrechnung von Erstattungsansprüchen nach Fälligkeit 328

2 3 9 15 36 37 38 39 40 8, 26 34 41 42 48 52 68 69

55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

– – – –

Grobe Fahrlässigkeit erforderlich Gesetzlicher Vertreter war nur ehrenamtlich tätig Korrektur muss auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist möglich sein Sperrwirkung des § 93 InsO hindere die Geltendmachung des Haftungsanspruchs durch das Finanzamt – Haftungsanspruch ist zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids bereits verjährt – Unzulässigkeit eines ergänzenden Haftungsbescheids nach bestandskräftig gewordenem Haftungsbescheid 1. Finanzielle Schwierigkeiten im Zeitpunkt der Lohnzahlung. Haftungsschuldner vertraute auf bis zum Fälligkeitstag oder später eingehende Mittel zur Abführung einbehaltener Lohnsteuerabzugsbeträge.

65 66 67 70 73 74

Bei aktuellen Zahlungsschwierigkeiten Auszahlung der Löhne nur als Vorschuss oder Teilbetrag und Abführung der Lohnsteuer aus den verbleibenden Mitteln. Dies gilt auch dann, wenn die Lohnzahlungen aus Kreditmitteln erfolgen. Vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung. BFH-Urteil v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. II 1982, 521; BFH-Beschluss v. 12.7.1983 – VII B 19/83, BStBl. II 1983, 655; BFH-Urteil v. 10.4.1984 – VII R 77/81, juris; BFH-Urteil v. 13.1.1987 – VII R 86/85, BFH/NV 1987, 550; BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7; BFH-Urteil v. 24.11.1987 – VII R 82/84, BFH/NV 88, 206; BFH-Urteil v. 17.5.1988 – VII R 89/85, juris; VII R 90/85 – BFH/NV, 1989, 4; BFH-Urteil v. 12.7.1988 – VII R 108-109/87, BFH/NV 88, 764; BFH-Urteil v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859; BFH-Beschluss v. 17.1.1989 – VII B 96-97/88, BFH/NV 1989, 424; BFH-Beschluss v. 9.1.1990 – VII B 56/89, BFH/NV 1990, 412; BFH-Beschluss v. 4.9.1990 – VII B 40/90, BFH/NV 1991, 427; BFH-Beschluss v. 5.11.1991 – VII B 116/91, BFH/NV 1992, 575; BFH-Urteil v. 20.4.1993 – VII R 67/92, BFH/NV 1994, 142;

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BFH-Beschluss v. 4.6.1996 – VII S 9/96, BFH/NV, 1996, 915; BFH-Urteil v. 16.7.1996 – VII R 133/95, BFH/NV 1997, 4; BFH-Urteil v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4; BFH-Urteil v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814; BFH-Urteil v. 24.11.1998 – VII B 75/98, BFH/NV 1999, 898 2. Bemühungen um Fortbestand des Unternehmens (Verhinderung Betriebsstillegung). Deshalb vorrangige Tilgung von Verbindlichkeiten privater Gläubiger.

Vorsätzliche Erfüllung des Haftungsbestandes.

3. Benachteiligung des Finanzamtes aus sozialen Gründen (Erhaltung Arbeitsplätze usw.)

Kein Ermessen hinsichtlich der Entscheidung über bevorzugte Befriedigung.

4. Der Konkursantrag wurde nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung und vor dem Fälligkeitszeitpunkt gestellt. Der Haftungsschuldner durfte deshalb die Steuer nicht mehr entrichten. Der Konkursantrag wurde mangels Masse abgelehnt.

Der Antrag auf Konkurseröffnung bewirkt noch kein Verfügungsverbot. Der Haftungsschuldner war weiterhin zur Entrichtung der rückständigen Steuern verpflichtet. Waren ihm die Zahlungsschwierigkeiten bekannt, erfüllt er den Haftungstatbestand dadurch, dass er die Löhne zum Zwecke einer anteiligen Steuerzahlung nicht entsprechend gekürzt an die Arbeitnehmer ausgezahlt hat.

BFH-Beschluss v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583; BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 101/84, BFH/NV 1988, 345; BFH-Beschluss v. 19.1.1988 – VII B 186/87, BFH/NV 1988, 579; BFH-Beschluss v. 9.1.1990 – VII B 56/89, BFH/NV 1990, 412

BFH-Beschluss v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583; BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 101/84, BFH/NV 1988, 345; BFH-Beschluss v. 19.1.1988 – VII B 166/87, BFH/NV 1988, 579; BFH-Urteil v. 12.7.1988 – VII R 108-109/77, BFH/NV 1988, 764; BFH-Beschluss v. 9.1.1990 – VII B 56/89, BFH/NV 1990, 412; BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785

BFH-Urteil v. 20.4.1993 –VII R 67/92, BFH/NV 1994, 142; 330

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BFH-Urteil v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4 5. Nach dem Zeitpunkt der Lohnzahlung, aber zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Steuerforderung bestand ein gerichtlich angeordnetes allgemeines Verfügungsverbot über das Vermögen des Steuerschuldners (wegen Anordnung der Sequestration oder Eröffnung des Konkursverfahrens). Der Haftungsschuldner konnte deshalb nicht mehr über Mittel verfügen.

Der Haftungsschuldner war zwar zur Einbehaltung der Lohnsteuerabzugsbeträge im Lohnzahlungszeitpunkt verpflichtet, aber auch wenn er diese Pflicht verletzt hat, war diese Pflichtverletzung für den Haftungsschaden nicht ursächlich. Der Steuerausfall wäre auch ohne die Pflichtverletzung eingetreten. Insoweit keine Haftung.

6. Der Haftungsschuldner konnte im Zeitpunkt der Lohnzahlung davon ausgehen, dass er die Lohnsteuerabzugsbeträge aus ihm zur Verfügung stehenden Mittel entrichten kann. Die Liquiditätsschwierigkeiten sind zwischen dem Zeitpunkt der Lohnzahlung und dem Fälligkeitszeitpunkt akut geworden.

Trifft diese Einlassung zu, kann dem Haftungsschuldner die Verletzung der Pflicht zur Lohnkürzung nicht vorgeworfen werden, denn er ist in Zeiten liquider Geschäftstätigkeit nicht zur Kürzung der Löhne und zur abgesonderten Bereithaltung der darauf entfallenden Steuern verpflichtet. Dies gilt nicht, wenn er nicht bis zum Fälligkeitstag zahlte und die Zahlungsunfähigkeit innerhalb der Schonfrist des § 240 Abs. 3 AO eingetreten ist (s. auch Nr. 49).

BFH-Urteil v. 17.11.1992 –VII R 13/92, BStBl. II 1993, 471

BFH-Urteil v. 11.12.1990 – VII R 85/88, BStBl. II 1991, 283; BFH-Urteil v. 20.4.1993 – VII R 67/92, BFH/NV 1994, 142; BFH-Urteil v. 16.7.1996 – VII R 133/95, BFH/NV 1997, 4; BFH-Urteil v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814 7. Der Geschäftsführer hat einen Stundungsantrag gestellt und im Vertrauen auf dessen Befürwortung die Zahlung der Lohnsteuerabzugsbeträge hinausgeschoben.

Der Geschäftsführer darf die schlichte Stellung eines Stundungsantrages ohne irgendwelche vorherigen Zusagen nicht zum Anlass nehmen, den Fälligkeitstermin zu missachten. Sogar eine später ausgesprochene rückwirkende Stundung kann die nichtrechtzeitige Abführung der Lohnsteuer nicht entschuldigen. Nur eine vor dem Zahlungstermin gewährte Stundung oder eine mündliche Stundungszusage kann den für die Zahlung Verantwortlichen entlasten. 331

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BFH-Urteil v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. II 1982, 521; BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7; BFH-Urteil v. 26.2.1991 – VII R 107/89, BFH/NV 1991, 578; BFH-Urteil v. 25.2.1998 – VII B 191/97, BFH/NV 1998, 1199 8. Auch bei anteiliger Kürzung der Löhne nach Maßgabe der verfügbaren Mittel hätte die kreditgebende Bank den Überweisungsauftrag nicht erfüllt.

Geschäftsführer muss in diesem Fall die Bank – ggf. unter Einschaltung und mit Unterstützung des Finanzamts – auf seine lohnsteuerlichen Verpflichtungen als Geschäftsführer hinweisen und auf eine gleichmäßige Erfüllung der Verbindlichkeiten gegenüber den Arbeitnehmern und dem Finanzamt drängen. BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 101/84, BFH/NV 1988, 345

9. Bei Kürzung der Löhne nach Maßgabe der verfügbaren Mittel war Arbeitsniederlegung zu befürchten.

Das natürliche Bestreben des Geschäftsführers zur Erhaltung des Betriebs und seiner Arbeitsplätze rechtfertigt nicht die Zurückstellung der Abführung der auf die ausgezahlten Löhne entfallenden Lohnsteuern. BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 101/84, BFH/NV 1988, 345; BFH-Beschluss v. 9.1.1990 – VII B 56/89, BFH/NV 1990, 412

10. Die Steuerschuldnerin verfügte zur Lohnzahlung nur über Mittel in Höhe der ausgezahlten Nettolöhne.

Reduzierung der nach den Bruttolöhnen berechneten Lohnsteuer und der entsprechend angesetzten Haftungsbeträge möglich. Haftungsbeschränkung nur in Ausnahmefällen. Hat der Haftungsschuldner über mehrere Monate hinweg die Löhne immer wieder ungekürzt ausgezahlt, ist anzunehmen, dass er jedenfalls über ausreichende Mittel verfügte, um jeweils die für den vorangegangenen Kalendermonat angemeldete und rückständige Lohnsteuer in voller Höhe an das Finanzamt zu entrichten. Beschränkung allenfalls für den oder die letzten Monate eines Haftungszeitraumes. Beweislast liegt insoweit beim Haftungsschuldner. BFH-Urteil v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859;

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BFH-Beschluss v. 17.1.1989 – VII B 96-97/88, BFH/NV 1989, 424; BFH-Beschluss v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; BFH-Urteil v. 20.1.1998 – VII R 80/97, BFH/NV 1998, 814 11. Der Haftungsschuldner rechnete bei Fälligkeit der Lohnsteuerabzugsbeträge mit der Erstattung anderer Steuern.

Die Lohnsteuerabzugsbeträge sind innerhalb der durch § 41a Abs. 1 EStG vorgegebenen Frist ohne Rücksicht darauf zu entrichten, ob dem Steuerschuldner in Zukunft ein Anspruch auf Erstattung einer anderen Steuer zusteht. BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7; BFH-Urteil v. 2.8.1988 – VII R 60/85, BFH/NV 1989, 150; BFH-Beschluss v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589 – m.w.N. BFH-Beschluss v. 24.3.2004 – VII B 317/03, BFH/NV 2004, 1069

12. Keine Kenntnis von der Verpflichtung zur gekürzten Auszahlung der Löhne als Vorschuss oder Teilbetrag und Abführung der Lohnsteuer aus den übriggebliebenen Mitteln.

Informationspflicht. Dies gilt auch für den nicht für den kaufmännischen Bereich zuständigen Geschäftsführer.

13. Globalzessionsvertrag zugunsten anderer Gläubiger (z.B. Bank).

Geschäftsführer hat sich schuldhaft außerstande gesetzt, vorhersehbare Steuerforderungen zu tilgen.

BFH-Urteil v. 20.1.1984 – VII R 67/81, BFH/NV 1986, 256; BFH-Beschluss v. 17.7.1984 – VII S 9/86, BFH/NV 1986, 583; BFH-Urteil v. 13.1.1987 – VII R 86/85, BFH/NV 1987, 550; BFH-Beschluss v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589 m.w.N.

BFH-Urteil v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776; BFH-Urteil v. 12.6.1986 – VII R 135/80, BFH/NV 1988, 76; BFH-Urteil v. 2.7.1987 – VII R 162/84, BFH/NV 1988, 220; BFH-Urteil v. 14.7.1987 – VII R 188/82, BStBl. II 1988, 172; BFH-Urteil v. 13.9.1988 – VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139; BFH-Urteil v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 333

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14. Auswahl der erteilten Überweisungsaufträge durch die Bank.

Verletzung der öffentlich-rechtlichen Pflicht zur Entrichtung fälliger Steuern bei stillschweigendem Einverständnis gegenüber der Bank in Bezug auf Auswahl der Überweisungsaufträge. Pflicht zur Anmahnung der Überweisung bei kreditgebender Bank. Entweder Rücktritt oder Niederlegung des Amtes als Geschäftsführer bzw. Antrag auf Konkurs bei „Knebelungssituation“. BFH-Beschluss v. 12.7.1983 – VII B 19/83, BStBl. II 1983, 655; BFH-Beschluss v. 17.7.1984 – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583; BFH-Urteil v. 12.6.1986 – VII R 135/80, BFH/NV 1988, 76; BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 101/84, BFH/NV 1988, 345; BFH-Beschluss v. 5.11.1991 – VII B ll6/9l, BFH/NV 1992, 575; BFH-Urteil v. 23.3.1993 – VII R 38/92, BStBl. II 1993, 581 BFH-Beschluss v. 11.10.1999 – VII B 61/99, juris

15. Vereinbarung mit der Bank wegen bevorzugter Befriedigung bestimmter privater Gläubiger.

Geschäftsführer darf nicht Zustimmung zu einer Vereinbarung mit der Bank geben, die den Fiskus einseitig schlechter stellt.

16. Vereinbarung von Sicherungsrechten zugunsten privater Gläubiger.

Geschäftsführer hat sich schuldhaft außerstande gesetzt, vorhersehbare Steuerforderungen zu tilgen.

BFH-Urteil v. 30.3.1983 – I R 228/78, BStBl. II 1983, 655; BFH-Beschluss v. 12.7.1983 – VII B 19/83, BStBl. II 1983, 655; BFH-Beschluss v. 5.11.1991 – VII B 116/91, BFH/NV 1992, 575

BFH-Urteil v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 17. Vorausabtretung von Kundenforderungen an Lieferanten (aufgrund verlängerter Eigentumsvorbehalte).

Geschäftsführer kann sich wie durch Erteilung einer Globalzession nicht mit schuld- und damit haftungsausschließender Wirkung der zur Befriedigung des Finanzamts benötigten Mittel entledigen. BFH-Urteil v. 14.7.1987 – VII R 188/82, BStBl. II 1988, 172;

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BFH-Urteil v. 13.9.1988 – VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139 18. Keine Kenntnis von Pflicht zur anteiligen Befriedigung des Finanzamts.

Anteilige Befriedigung aller Gläubiger gehört zur elementaren Pflicht jedes Geschäftsführers. BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785; BFH-Urteil v. 16.3.1993 – VII R 57/92, BFH/NV 1993, 707

19. Dem Geschäftsführer fehlte zur Wahrnehmung seiner Tätigkeit die erforderliche Zeit bzw. der Überblick.

Verschulden besteht darin, dass der Haftungsschuldner es unterlassen hat, sich die erforderliche Übersicht zu verschaffen oder einen sachkundigen Berater mit der Wahrnehmung der steuerlichen Belange des Steuerschuldners zu betrauen oder zumindest in dem benötigten Umfang zuzuziehen. BFH-Urteil v. 2.7.1987 – VII R 162/84, BFH/NV 1988, 220

20. Geschäftsführer befand sich in der Einarbeitungsphase. Die eigentlichen Entscheidungen wurden noch von dem Vorgänger getroffen.

Geschäftsführer durfte nicht tatenlos zusehen. Keine Entlastung.

21. Keine Kenntnisse über steuerliche Pflichten.

Bei Übernahme der Geschäftsführertätigkeit besteht die Pflicht zur Aneignung von Kenntnissen über elementarste handelsrechtliche und steuerrechtliche Pflichten und zur Einholung entsprechender Informationen. Dies gilt auch für den Nichtkaufmann-Geschäftsführer.

BFH-Beschluss v. 9.2.1988 – VII B 169/87, BFH/NV 1988, 649

BFH-Urteil v. 10.4.1984 – VII R 77/81, juris; BFH-Urteil v. 12.6.1986 – VII R 192/83, BStBl. II 1986, 657; BFH-Urteil v. 11.11.1986 – VII R 201/83, BFH/NV 1987, 212; BFH-Urteil v. 13.1.1987 – VII R 86/85, BFH/NV 1987, 550; BFH-Urteil v. 17.2.1988 – VII R 46/85, BFH/NV 1988, 683; BFH-Urteil v. 17.5.1988 – VII R 89/85, juris; VII R 90/85 – BFH/NV 1989, 4;

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BFH-Urteil v. 12.7.1988 – VII R 108-109/87, BFH/NV 1988, 764; BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785; Urteil FG Rheinland-Pfalz v. 15.7.1993 – 4 K 2664/92, EFG 1994, 134; BFH-Beschluss v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; BFH-Beschluss v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7; BFH-Beschluss v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325 22. Der Haftungsschuldner war lediglich in der Funktion als Strohmann für die Gesellschaft tätig.

Bei fehlender Durchsetzungsmöglichkeit hatte der Haftungsschuldner die Pflicht zum Rücktritt vom Amt als Geschäftsführer. Er darf nicht den Eindruck erwecken, als sorge er für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte der Gesellschaft. Vorstehendes gilt auch für volljährige Kinder oder andere Angehörige der die GmbH beherrschenden Person, selbst wenn ihnen das Amt des Geschäftsführers aufgedrängt worden ist. BFH-Beschluss v. 5.3.1985 – VII B 69/84, BFH/NV 1987, 422; BFH-Beschluss v. 5.3.1985 – VII B 78/84, BFH/NV 1987, 462; BFH-Beschluss v. 5.3.1985 – VII B 52/84, BFH/NV 1987, 459; BFH-Beschluss v. 5.3.1985 – VII B 45/80, BFH/NV 1987, 461; BFH-Beschluss v. 19.3.1985 – VII B 71/84, BFH/NV 1986, 650; BFH-Urteil v. 11.11.1986 – VII R 201/83, BFH/NV 1987, 212; BFH-Urteil v. 13.1.1987 – VII R 86/85, BFH/NV 1987, 550; BFH-Urteil v. 2.7.1987 – VII R 104/84, BFH/NV 1988, 6; BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 101/84, BFH/NV 1988, 345; BFH-Beschluss v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; BFH-Beschluss v. 13.2.1996 – VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657; BFH-Beschluss v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7;

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BFH-Beschluss v. 22.7.1997 – 1 B 44/97, BFH/NV 1998, 11; BFH-Urteil v. 11.3.2004 – VII R 52/02, BFH/NV 2004, 852 23. Gesellschafter A hat die Geschäftsbefugnisse aufgrund Erteilung einer Generalvollmacht übernommen und den bestellten Geschäftsführer aus dessen Aufgabenbereich verdrängt.

Bei Duldung der tatsächlichen Geschäftsführung durch einen anderen muss der bestellte Geschäftsführer durch geeignete Aufsichtsmaßnahmen dafür sorgen, dass jener die steuerlichen Verpflichtungen ordnungsgemäß erfüllt. Öffentlich-rechtliche Pflichten können nicht durch privatrechtliche Vereinbarungen beseitigt werden. Ggf. Rücktritt als Geschäftsführer. BFH-Urteil v. 19.3.1985 – VII B 71/84, BFH/NV 1986, 650; BFH-Beschluss v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; BFH-Beschluss v. 13.2.1996 VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657; BFH-Beschluss v. 11.6.1996 – I B 60/95, BFH/NV 1997, 7

24. Die Geschäfte der Gesellschaft wurden unter Ausschaltung des Geschäftsführer-Haftungsschuldners tatsachlich von einer anderen Person geführt.

Geschäftsführer darf die Geschäftsführung durch einen anderen nicht dulden. Verpflichtung zu Aufsichtsmaßnahmen. Bei mangelnder Durchsetzungsfähigkeit und fehlender Handlungsmöglichkeit entsprechend seiner Rechtsstellung muss Geschäftsführer zurücktreten. Er darf im Rechtsverkehr nicht den Eindruck erwecken, als sorge er für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte. Dies gilt auch für Kinder und Angehörige der den Steuerschuldner tatsachlich beherrschenden Person, selbst wenn ihnen das Amt gegen ihren Willen aufgedrängt worden ist. Entlastungsgründe im Einzelfall möglich.

BFH-Beschluss v. 5.3.1985 – VII B 45/84, BFH/NV 1987, 461; BFH-Beschluss v. 5.3.1985 – VII B 69/84, BFH/NV 1987, 422; BFH-Urteil v. 16.7.1992 – VII R BFH-Beschluss v. 19.3.1985 – VII B 71/84, BFH/NV 1986, 650; 60/91, BFH/NV 1993, 154; BFH-Urteil v. 7.4.1992 – VII R BFH-Urteil v. 11.11.1986 – VII R 201/83, BFH/NV 1987, 212; 704/90, BFH/NV 1993, 213 BFH-Urteil v. 25.4.1989 – VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757; (aber bei Auswahlermessen tatsächlich Verfügungsberechtigte, faktische Geschäftsführer erwähnen:

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Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

BFH-Beschluss v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941; BFH-Beschluss v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; BFH-Beschluss v. 26.11.1997 – I B 81/97, BFH/NV 1998, 559 25. Die verfügbaren Mittel reichten nicht zur Befriedigung aller Gläubiger.

Einlassung kann zur teilweisen Entlastung führen. Verpflichtung zur Befriedigung des Finanzamtes entsprechend dem Tilgungsverhalten gegenüber anderen Gläubigern. Haftung in Höhe „des überschreitenden Fehlbetrages“. BFH-Urteil v. 8.7.1982 – V R 7/76, BStBl. II 1983, 249; BFH-Urteil v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776; BFH-Urteil v. 26.3.1985 – VII R 139/81, BStBl. II 1985, 539; BFH-Urteil v. 17.7.1985 – I R 205/80, BStBl. II 1985, 702; BFH-Urteil v. 12.6.1986 – VII R 192/83, BStBl. II 1986, 657; BFH-Urteil v. 2.10.1986 – VII R 190/82, BFH/NV 1987, 223; BFH-Urteil v. 12.5.1987 – VII R 156/84, BFH/NV 1988, 74; BFH-Urteil v. 2.7.1987 – VII R 162/64, BFH/NV 1988, 220; BFH-Urteil v. 14.7.1987 – VII R 188/82, BStBl. ll 1988, 172; BFH-Urteil v. 20.7.1988 – I R 104/83, BFH/NV 1989, 478; BFH-Urteil v. 9.1.1989 – VII R 143/85, BFH/NV 1989, 422; BFH-Urteil v. 7.11.1989 – VII R 34/87, BStBl. II 1990, 201; BFH-Urteil v. 28.11.1989 – VII R 55/88, BFH/NV 1990, 481; BFH-Urteil v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678; BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785; BFH-Urteil v. 2.3.1993 – VII R 90/90, BFH/NV 1994, 526; BFH-Urteil v. 16.3.1993 – VII R 89/90, BFH/NV 1994, 359;

338

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BFH-Urteil v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570 26. Der Haftungsschuldner hätte auch bei fristgerechter Abgabe der Steuererklärung (Voranmeldung, Jahreserklärung) wegen Zahlungsunfähigkeit Zahlungen auf die Steuerschuld nicht leisten können.

Wäre der Steuerausfall mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens des Steuerschuldners unabhängig von der Abgabe der Steuererklärung eingetreten, ist die Verletzung der Steuererklärungspflicht nicht ursächlich für den Haftungsschaden. Wird das Vorbringen durch entsprechende Berechnungen nach dem Grundsatz der anteiligen Tilgung bestätigt, kommt eine Haftung nicht in Betracht. Allerdings muss daneben ausgeschlossen sein, dass durch die Pflichtverletzung eine Verrechnung oder aussichtsreiche Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamtes vereitelt worden sind. BFH-Urteil v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678; BFH-Urteil v. 16.3.1993 – VII R 89/90, BFH/NV 1994, 359; BFH-Urteil v. 25.4.1995 – VII R 90-100/94, BFH/NV 1996, 97; BFH-Beschluss v. 20.2.2001 – VII B 111/00, BFH/NV 2001, 1097; BFH-Urteil v. 6.3.2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100

27. Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners.

Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners sind nicht bereits im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen. Sie können erst im Erhebungsverfahren Bedeutung erlangen. BFH-Urteil v. 12.4.1983 – VII R 4/80, juris; BFH-Urteil v. 2.10.1986 – VII R 28/83, BFH/NV 1987, 349, 352; BFH-Urteil v. 2.7.1987 – VII R 162/84, BFH/NV 1988, 220; BFH-Urteil v. 10.5.1988 – VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72; BFH-Beschluss v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589

28. Die Inanspruchnahme für den gesamten Haftungsanspruch ist ermessensfehlerhaft.

„Die Höhe des Haftungsanspruchs steht grundsätzlich nicht zur Disposition des Finanzamtes. Insoweit besteht demgemäß auch kein Ermessen.“ 339

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BFH-Urteil v. 7.7.1983 – V R 197/81, BStBl. II 1984, 70; BFH-Urteil v. 5.9.1989 – VII R 61/87, BStBl. II 1989, 979 29. Der Geschäftsführer leitet umfangreichen Betrieb. Die Leitung der einzelnen Betriebszweige – einschließlich der Verantwortlichkeit für die steuerlichen Angelegenheiten – ist jeweils einem qualifizierten Angestellten übertragen.

Besonderheiten des Einzelfalles – Arbeitsteilung, Einsatz qualifizierter Mitarbeiter – sind zu berücksichtigen. Nach Hinweis des Finanzamtes auf steuerliche Unregelmäßigkeiten und/oder bei Kenntnis von erheblichen Liquiditätsschwierigkeiten des Unternehmens muss sich der Geschäftsführer um steuerliche Belange kümmern. Überwachungspflichten. BFH-Beschluss v. 26.6.1990 – VII B 20/90, BFH/NV 1991, 209

30. Bevollmächtigung eines anderen Geschäftsführers hinsichtlich der Wahrnehmung der Pflichten als Mitgeschäftsführer.

Pflichten des gesetzlichen Vertreters sind öffentlich-rechtlicher Natur und können daher nicht durch privatrechtliche Vereinbarungen eingeschränkt oder beseitigt werden. BFH-Urteil v. 21.5.1969 – I R 8/68, BStBl. II 1969, 539; BFH-Beschluss v. 13.2.1996 – VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657

31. Angestellter, Buchhalter, Hilfskräfte, Prokurist, Steuerberater oder ein anderer Gesellschafter wurden mit der Erledigung steuerlicher Angelegenheiten betraut.

Pflicht zur laufenden Überwachung. Frage der sorgfältigen Auswahl dieser Personen grundsätzlich unerheblich. Bei unterlassener Überwachung eines Mitarbeiters, dem die Erfüllung steuerlicher Pflichten übertragen worden ist, kommt allerdings ein haftungsbegründendes grob fahrlässiges Verhalten in der Regel nur dann in Betracht, wenn die Überwachungsmaßnahmen, zu deren Vornahme im Einzelfall Anlass bestand, auch geeignet gewesen wären, die Beanstandungen zu verhindern. BFH-Urteil v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. II 1982, 521; BFH-Urteil v. 22.1.1985 – VII R 110/78, BFH/NV 1985, 18; BFH-Urteil v. 16.4.1985 – VII R 132/80, BFH/NV 1987, 273; BFH-Urteil v. 5.3.1985 – VII R 134/80, BFH/NV 1986, 61; BFH-Urteil v. 12.6.1986 – VII R 192/83, BStBl. II 1986, 657;

340

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BFH-Beschluss v. 5.3.1987 – VII B 158/86, BFH/NV 1988, 94; BFH-Urteil v. 2.7.1987 – VII R 162/84, BFH/NV 1988, 220; BFH-Urteil v. 10.5.1988 – VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72; BFH-Beschluss v. 25.4.1989 – VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757; BFH-Beschluss v. 8.5.1990 – VII B 173/89, BFH/NV 1991, 12; BFH-Urteil v. 29.5.1990 – VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283; BFH-Urteil v. 27.11.1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284; Urteil des FG Rheinland-Pfalz v. 15.7.1993 – 4 K 2664/92, EFG 94, 134; BFH-Urteil v. 30.8.1994 – VII R 101/92, BStBl. II 1995, 278 32. Der Haftungsschuldner verhandelte mit der Bank über einen weiteren Kredit. Die Verhandlungen waren zum Zeitpunkt der Lohnzahlungen noch nicht abgeschlossen. Der Haftungsschuldner rechnete aber mit einem erfolgreichen Abschluss.

Der Haftungsschuldner musste bei dieser Sachlage nach der Lebenserfahrung damit rechnen, dass der Kreditantrag abgelehnt wird. Kürzung der Lohne um die darauf entfallenden Lohnsteuern erforderlich.

33. Der Haftungsschuldner ist zwar für den kaufmännischen Bereich zuständig gewesen, aber auch der (technische) Mitgeschäftsführer habe sich um die steuerlichen Angelegenheiten gekümmert. Das Finanzamt müsse auch ihn zur Haftung heranziehen.

Aufgabenabgrenzung ist bei der Haftung nur zu beachten, wenn eine schriftliche Vereinbarung vorliegt. Ist dies der Fall, ist es ermessensgerecht, den für den technischen Bereich zuständigen Geschäftsführer zu Lasten des kaufmännischen Geschäftsführers von der Haftung freizustellen. Außerdem kann dem kaufmännischen Geschäftsführer leichter schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden.

BFH-Urteil v. 20.4.1993 – VII R 67/92, BFH/NV 1994, 142

BFH-Beschluss v. 5.11.1991 – VII B 115/91, BFH/NV 1992, 575 34. Möglichkeit der Verrechnung von Steuerforderungen mit bestehenden Erstattungsansprüchen.

Haftungsschuldner kann sich nicht auf eine generelle Verrechnungsabrede und eine entsprechende Verrechnungspraxis berufen. Er muss ausdrücklich die Verrechnung vereinbaren oder einseitig die Aufrechnung erklären.

341

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BFH-Urteil v. 16.10.1986 – VII R 161/83, BFH/NV 1987, 616; BFH-Urteil v. 2.8.1988 – VII R 60/85, BFH/NV 1989, 150 Anders bei ausdrücklichem Antrag auf Verrechnung: BFH-Urteil v. 29.7.1986 – VII R 132/83, BFH/NV 1987, 74; BFH-Urteil v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4 35. Der Haftungsschuldner ist zwar Geschäftsführer, aber kein Kaufmann, nur Techniker, Handwerker usw.

Solidarische Verantwortung aller Geschäftsführer. Pflicht zur Überwachung der Geschäftsführung im Ganzen. Bei erkennbaren Unregelmäßigkeiten wird Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer wirksam. BFH-Urteil v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776; BFH-Beschluss v. 4.3.1986 – VII S 33/85, BStBl. II 1986, 384; BFH-Urteil v. 13.1.1987 – VII R 86/85, BFH/NV 1987, 550; BFH-Urteil v. 17.5.1988 – VII R 89/85, juris; VII R 90/85 – BFH/NV 1989, 4; BFH-Beschluss v. 23.8.1988 – VII B 58/88, BFH/NV 1989, 149; BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143; BFH-Beschluss v. 22.7.1997 – I B 44/97, BFH/NV 1998, 11

36. Mitverschulden des Finanzamts durch unterlassene oder unzureichende Maßnahmen gegenüber Steuerschuldner.

342

Mitverschulden des Finanzamts gehört nicht zu den Tatbestandsmerkmalen des § 69 AO. Die Steuergesetze räumen Finanzämtern Befugnisse, nicht Pflichten ein. Allerdings kann Mitverschulden bei der Ermessensausübung – nicht bei der Rechtsentscheidung – dann berücksichtigt werden, wenn die Beitreibung der Steuerforderungen wegen einer groben Pflichtverletzung des Finanzamtes fehlgeschlagen und das Verschulden des Haftungsschuldners als gering einzuschätzen ist. Unterlassene Beitreibungsmaßnahmen führen nicht zu einem Mitverschulden des Finanzamts.

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BFH-Urteil v. 11.8.1978 – VI R 169/75, BStBl. II 1978, 683; BFH-Urteil v. 4.7.1979 – II R 74/77, BStBl. II 1980, 126; BFH-Urteil v. 10.4.1984 – VII R 77/81, juris; BFH-Beschluss v. 21.1.1986 – VII S 30/85, BFH/NV 1986, 518; BFH-Urteil v. 12.6.1986 – VII R 135/80, BFH/NV 1988, 76; BFH-Urteil v. 16.10.1986 – VII R 161/83, BFH/NV 1987, 616; BFH-Urteil v. 2.8.1988 – VII R 60/85, BFH/NV 1989, 150; BFH-Beschluss v. 25.4.1989 – VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757; BFH-Beschluss v. 28.8.1990 – VII S 9/90, BFH/NV 1991, 290; BFH-Urteil v. 26.2.1991 – VII R 77-78/87, BFH/NV 1992, 87; BFH-Urteil v. 29.7.1992 – I R 112/91, BFH/NV 1994, 357; BFH-Beschluss v. 9.1.1996 – VII B 189/95, BFH/NV 1996, 589; BFH-Urteil v. 13.6.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4; BFH-Urteil v. 27.4.1998 – VII B – 277/97, BFH/NV 1998, 1450 37. Der Haftungsschuldner war gegenüber dem anderen Gesellschafter-Geschäftsführer nur zu einem geringen Prozentsatz an der Gesellschaft beteiligt.

Bei der Ausübung des Auswahlermessens darf nicht vordergründig auf die Beteiligungsverhältnisse der Geschäftsführer am Gesellschaftskapital abgestellt werden.

38. Keine Regressmöglichkeit gegenüber Steuerschuldner.

Haftender muss in Kauf nehmen, dass er seine Leistungen v. Steuerschuldner u.U. nicht erstattet erhalt.

BFH-Urteil v. 29.5.1990 – VII R 85/89, BStBl. II 1990, 1008

BFH-Urteil v. 28.2.1973 – II R 57/71, BStBl. II 1973, 573; BFH-Urteil v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491 39. Der Haftungsschuldner hat das Amt als Geschäftsführer vor Fälligkeit des Steueranspruchs wirksam niedergelegt (Widerruf der Bestellung).

Für Steuerforderungen, die nach Niederlegung des Amtes als Geschäftsführer bzw. nach Widerruf seiner Bestellung fällig geworden sind, kommt eine Haftung nicht in Betracht. Der Geschäftsführer kann in 343

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

diesem Fall seine Pflichten aber durch Vorwegbefriedigung anderer Gläubiger verletzt haben. BFH-Urteil v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776; BFH-Urteil v. 22.1.1985 – VII R 112/81, BStBl. II 1985, 562; BFH-Urteil v. 27.10.1987 – VII R 12/84, BFH/NV 1988, 485; BFH-Urteil v. 16.3.1993 – VII R 57/92, BFH/NV 1993, 707 40. Die dem Haftungsbescheid zugrundeliegende Steuer ist bisher nicht festgesetzt worden.

Ein Haftungsbescheid kann auch vor Festsetzung der Steuerschuld ergehen. Nur der Ablauf der Festsetzungsfrist vor Ergehen des Haftungsbescheides kann der Einbeziehung der verjährten Steuerschuld in den Haftungsbescheid entgegenstehen (§ 191 Abs. 5 Nr. 1 AO). BFH-Urteil v. 17.3.1988 – VII R 43/84, BFH/NV 1989, 81; BFH-Urteil v. 2.2.1994 – II R 7/91, BStBl. II 1995, 300

41. Der leistungsempfangende Unternehmer kann die Umsatzsteuer mangels gesonderter Inrechnungstellung nicht als Vorsteuerabzugsbetrag geltend machen.

Der Haftungsschuldner kann sich gegenüber entstandenen Umsatzsteuer-Haftungsansprüchen nicht darauf berufen, der vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer werde/habe keinen Vorsteuerabzugsanspruch geltend machen/gemacht. BFH-Urteil v. 7.7.1983 – V R 197/81, BStBl. II 1984, 70; BFH-Urteil v. 21.6.1994 – VII R 34/92, BStBl. II 1995, 230

42. Keine Haftung für die Lohnsteuer, die auf den eigenen Arbeitslohn des Geschäftsführers entfallt/für Kapitalertragsteuer auf eigene Kapitaleinkünfte (Gewinnausschüttung)

344

Der Geschäftsführer als Arbeitnehmer ist zwar Steuerschuldner der Lohnsteuer, er haftet aber nicht für die eigene Steuerschuld, sondern für die aus seiner Sicht fremde Haftungsschuld der Gesellschaft. Der Gesellschafter-Geschäftsführer kann als Haftungsschuldner für von der GmbH nicht abgeführte Kapitalertragsteuer auch insoweit in Anspruch genommen werden, als die Steuer auf seine eigenen Kapitaleinkünfte entfällt.

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

BFH-Urteil v. 15.4.1987 – VII R 160/83, BStBl. II 1988, 167; BFH-Urteil v. 2.8.1988 – VII R 60/85, BFH/NV 1989, 150; BFH-Urteil v. 14.12.1988 – VII R 107/86, BFH/NV 1989, 549; BFH-Beschluss v. 8.5.2001 – VII B 252/00, BFH/NV 2001, 1222; BFH-Urteil v. 26.2.2003 – I R 30/02, BFH/NV 2003, 1301 43. Ein Angehöriger der steuerberatenden Berufe wurde beauftragt, die Steueranmeldung, Steuererklärung usw. zu erstellen und die geschuldete Steuer rechtzeitig zu entrichten.

Die Beauftragung reicht nicht aus. Der Geschäftsführer muss vielmehr dafür sorgen, dass der Steuerberater auch tatsächlich tätig wird, um die Steuererklärung rechtzeitig beim Finanzamt einzureichen und die berechneten Steuern pünktlich zu entrichten. BFH-Beschluss v. 26.7.1994 – VII B 142/92, juris

44. Haftungsschuldner beruft sich auf Zahlungsschwierigkeiten, die nach Feststellungen des Finanzamts bereits absehbar waren.

Unter den genannten Umständen muss der Haftungsschuldner beim Finanzamt um Stundung nachsuchen, im Ablehnungsfall die Bank – ggf. unter Einschaltung des Finanzamts – um Begleichung der fälligen Schuld ersuchen. Bei Weigerung Rücktritt als Geschäftsführer oder Konkursantrag. BFH-Beschluss v. 26.7.1994 – VII B 142/92, juris – m.w.N. –

45. Die Anmeldung – Voranmeldung – Steuererklärung – wurde von dem Steuerberater fehlerhaft erstellt. Dadurch ist es zu Steuerverkürzungen gekommen.

Der Geschäftsführer einer GmbH haftet nach § 69 AO nur für eigenes Verschulden. Fremdes Verschulden kann ihm nicht zugerechnet werden. Trifft ihn persönlich kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden und hatte er keinen Anlass, die inhaltliche Richtigkeit der von dem steuerlichen Berater gefertigten Steueranmeldung/Steuererklärung zu überprüfen, haftet er nicht für Steuerverkürzungen, die auf fehlerhaften Steuererklärungen beruhen. Anders wenn er dem Berater unvollständige Unterlagen gegeben hat. BFH-Urteil v. 30.8.1994 – VII R 101/92, BStBl. II 1995, 278

345

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46. Die Haftung für Lohnsteuer muss im Umfang der „Übererfüllung“ der Haftungsquote für im Haftungszeitraum geschuldete Umsatzsteuer usw. beschrankt werden.

Der Geschäftsführer einer GmbH kann sich gegenüber seiner Inanspruchnahme für rückständige Lohnsteuern nicht einmal auf einen gleichzeitig bestehenden Vorsteuerüberschuss berufen. Die Anrechnung eines Betrages, um den die Tilgungsquote bei der Umsatzsteuer „übererfüllt“ worden ist, auf die Haftungssumme für die Lohnsteuer ist dann erst recht nicht möglich. BFH-Beschluss v. 8.9.1994 – VII B 72/94, BFH/NV 1995, 373

47. Der Haftungsschuldner hat einen Generalbevollmächtigten bestellt, der aufgrund interner Aufgabenverteilung für die Erledigung der Steuerangelegenheiten zuständig war.

Der gesetzliche Vertreter einer GmbH haftet steuerlich nur für eigenes Verschulden, nicht für das seines Erfüllungsgehilfen. Allerdings ist der Geschäftsführer gehalten, den Erfüllungsgehilfen sorgfältig auszuwählen und laufend bei der Durchführung der ihm übertragenen Aufgaben zu Überwachen. Bei mangelhafter Überwachung kommt eine Haftung in Betracht. BFH-Urteil v. 30.6.1995 – VII R 85/94, BFH/NV 1996, 2

48. Der Haftungsschuldner bringt vor, die Verpflichtung zur Steuerzahlung habe mit einer ihn treffenden privatrechtlichen Schadensersatzverpflichtung wie etwa der Ersatzpflicht nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG konkurriert.

Die gesetzlich normierte Pflicht zur Zahlung entstandener und fälliger Steuern wird durch etwaige privatrechtliche Schadensersatzverpflichtungen nicht berührt.

49. Bis zum Fälligkeitszeitpunkt für Abführung Lohnsteuerabzugsbeträge verfügte Haftungsschuldner über ausreichende Mittel. Während der Schonfrist des § 240 Abs. 3 AO, die der Haftungsschuldner bewusst ausnutzen wollte, trat unerwartet etwa wegen Antrags auf Konkurseröffnung Zahlungsunfähigkeit ein.

Das Verschulden ist bereits dadurch gegeben, dass der Haftungsschuldner nicht bis zum Fälligkeitszeitpunkt die Lohnsteuerbeträge an das Finanzamt abgeführt hat. Die bewusste Ausnutzung der Schonfrist führt zu einer vorsätzlichen Pflichtverletzung.

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BFH-Urteil v. 20.4.1993 – VII R 67/92, BFH/NV 1994, 142; BFH-Urteil v. 21.12.1998 – VII B 175/98, BFH/NV 1999, 745

BFH-Urteil v. 11.12.1990 – VII R 85/88, BStBl. II 1991, 282

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50. Der Haftungsschuldner ist Angehöriger der die Gesellschaft beherrschenden Person. Ihm wurde das Amt des (Mit-)Geschäftsführers förmlich aufgedrängt. Er war aber von jeglicher Einwirkungsmöglichkeit ausgeschlossen.

Kann eine nur nominell zum Geschäftsführer bestellte Person innerhalb der Gesellschaft ihre rechtlichen Pflichten als Geschäftsführer nicht verwirklichen, muss sie als Geschäftsführer zurücktreten. Dies gilt auch für volljährige Kinder oder andere Angehörige der die GmbH beherrschenden Person, selbst wenn ihnen das Amt des Geschäftsführers aufgedrängt worden ist. BFH-Beschluss v. 22.7.1997 – I B 44/97, BFH/NV 1998, 11 – m.w.N.

51. Keine Haftung, weil Haftungsschuldner die Gesellschaft nur gemeinsam mit einem anderen vertreten konnte – im Gegensatz zum Mitgeschäftsführer mit Alleinvertretungsbefugnis.

Die Tatsache, dass der Geschäftsführer nach dem Gesellschaftsvertrag – im Gegensatz zum Mitgeschäftsführer – die Gesellschaft nach außen allein nicht wirksam vertreten konnte, schließt dessen Haftung nach den §§ 34, 69 AO nicht aus. BFH-Urteil v. 30.6.1995 – VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3

52. Haftungsschuldner wendet gegen seine Inanspruchnahme ein, er sei von seinem Amt als Geschäftsführer zurückgetreten.

Der zurückgetretene Geschäftsführer bleibt für die bis zum Rücktrittszeitpunkt begangenen Pflichtverletzungen voll verantwortlich.

53. Das Finanzamt darf bei der Prüfung der Haftung den Bildungs- und Intelligenzgrad des potentiellen Haftungsschuldners nicht außer Betracht lassen.

Die Verantwortlichkeit des Geschäftsführers für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten ergibt sich allein aus seiner nominellen Bestellung zum Geschäftsführer ohne Rücksicht darauf, ob er die Geschäftsführung auch tatsächlich ausüben kann.

BFH-Beschluss v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941

BFH-Beschluss v. 7.3.1995 – VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941 54. Haftungsschuldner bringt vor, er sei zwar an der GbR beteiligt gewesen, habe aber weder eine Befugnis zur Geschäftsführung noch Einfluss auf die Abwicklung der Geschäfte gehabt.

Diese Gesichtspunkte schließen die Haftung nicht aus. Es kommt allein auf die gemeinsame Tatbestandsverwirklichung durch die Gesellschafter an: Zivilrechtliche Haftungsbeschrankungen für Steuerschulden der Gesellschaft sind unbeachtlich. Urteil des BVerwG v. 13.8.1993 – 8 C 64/90, BStBl. II 1994, 140

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55. Haftungsschuldner wendet ein, Ende des Konkursverfahrens müsse abgewartet werden.

Haftender wird nicht benachteiligt, wenn Ende des Konkursverfahrens nicht abgewartet wird. Konkurs- bzw. Insolvenzforderungen gehen auf ihn über. BFH-Urteil v. 4.5.1983 – II R 108/81, BStBl. II 1983, 592; Tipke/Kruse § 44 Rz. 27 i.V.m. § 38 Rz. 48

56. GmbH ist bereits gelöscht.

Auch der Geschäftsführer einer bereits gelöschten GmbH kann in Haftung genommen werden. BFH-Urteil v. 27.2.1985 – 1 R 291/83, BFH/NV 1985, 63

57. Steueranspruch ist bereits verjährt.

Die Verjährung des Steueranspruchs ist nach Erlass des Haftungsbescheids unbeachtlich. BFH-Urteil v. 5.11.1992 – I R 41/92, BStBl. II 1993, 407; BFH-Urteil v. 7.11.1995 – VII R 26/95, BFH/NV 1996, 379; BFH-Urteil v. 11.7.2001 – VII R 28/99, BStBl. II 2002, 267

58. Nach Ergehen der Einspruchsentscheidung wurden noch Zahlungen auf die Haftungsschuld geleistet.

Der Haftungsbescheid wird durch Zahlungen nach Ergehen der Einspruchsentscheidung nicht berührt.

59. Geschäftsführer hat keine Unterlagen mehr, diese sind beim Konkursverwalter.

Mitwirkungspflicht des Geschäftsführers bzw. des Konkursverwalters.

60. GmbH befand sich erst im Gründungsstadium.

Haftung auch bei einer GmbH in Gründung.

BFH-Urteil v. 12.8.1997 – VII R 197196, BStBl. II 1998, 131

BFH-Urteil v. 23.8.1994 – VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570; BFH-Beschluss v. 15.10.1996 – VII B 119/96, BFH/NV 1997, 514

BFH-Urteil v. 16.7.1996 – VII R 133/95, BFH/NV 1997, 4 61. Nur Geschäftsführer der Komplementär GmbH.

Verantwortlichkeit des Geschäftsführers der Komplementär GmbH. BFH-Urteil v. 16.3.1993 – VII R 57/92, BFH/NV 1993, 707; BFH-Urteil v. 24.11.1987 – VII R 82/84, BFH/NV 1988, 206

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Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

62. Altrückstände waren schon vor Amtsantritt vorhanden.

Verantwortlichkeit des Nachfolgegeschäftsführers auch für die bei Amtsantritt vorhandenen – fälligen – Steuerrückstände. BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 15/91, BFH/NV 1993, 143; BFH-Urteil v. 17.1.1989 – VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71

63. Erst bei Fälligkeit Pflichtverletzung möglich.

Pflicht entsteht nicht erst mit Fälligkeit der Steuer. BFH-Urteil v. 16.3.1993 – VII R 57/92, BFH/NV 1993, 707; BFH-Urteil v. 9.7.1985 – VII R 127/80, BFH/NV 1986, 129

64. Mit Erstattungsansprüchen kann verrechnet werden.

Pflichtverletzung trotz Verrechnung von Erstattungsansprüchen nach Fälligkeit. BFH-Urteil v. 17.9.1987 – VII R 62/84, BFH/NV 1988, 7

65. Grobe Fahrlässigkeit muss vorliegen.

Anforderungen an grobe Fahrlässigkeit.

66. Gesetzlicher Vertreter war nur ehrenamtlich tätig.

Auch ehrenamtliche gesetzliche Vertreter haften.

BFH-Urteil v. 12.5.1992 – VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785

BFH-Urteil v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761 67. Korrektur zugunsten muss auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist möglich sein.

Korrektur des Haftungsbescheids auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist zugunsten des Haftungsschuldners. BFH-Urteil v. 12.8.1997 – VII R 107/96, BStBl. II 1998, 131

68. Haftungsschuldner war nicht als Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen.

Die Bestellung des Geschäftsführers kann auch durch Beschluss der Gesellschafter erfolgen. Wer mit dem Anschein, zur Führung der Geschäfte berechtigt zu sein, nach außen hin als Geschäftsführer auftritt, haftet ungeachtet dessen, ob er von der Gesellschaft formell wirksam zum Geschäftsführer bestellt worden ist. BFH-Urteil v. 17.2.1988 – VII R 46/85, BFH/NV 1988, 683; BFH-Beschluss v. 19.11.2002 – VII B 191/01, BFH/NV 2003, 442

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69. Die dem Haftungsanspruch Haftungsschuldner trägt Feststellungslast zugrunde gelegten Lohnsteuer- zur Aufklärung des Widerspruchs. anmeldungen seien falsch. BFH-Urteil v. 12.7.1988 – VII R 3/85, BFH/NV 1989, 7 70. Das Finanzamt sei aufgrund der Regelung in § 93 InsO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zur Geltendmachung etwaiger Haftungsansprüche nicht mehr befugt.

Die Sperrwirkung des § 93 InsO ist auf die Haftung als Gesellschafter nach § 128 HGB beschrankt. Demgegenüber unterliegen Individualansprüche, die eine persönliche Mithaftung des Gesellschafters für Gesellschaftsschulden begründen, nicht der Sperrwirkung des § 93 InsO. BFH-Beschluss v. 2.11.2001 – VII B 155/01, BStBl. II 2002, 73

71. Fehlende Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet des Steuerrechts zur Erfüllung der steuerlichen Pflichten

Um die ordnungsgemäße Erledigung der steuerlichen Pflichten sicherzustellen, ist bei nicht ausreichenden Kenntnissen und Fähigkeiten vom Geschäftsführer zu erwarten, dass er die Stellung eines Geschäftsführers nicht übernimmt oder zumindest niederlegt, sobald er sein Unvermögen erkennt. BFH-Beschluss v. 14.9.1999 – VII B 33/99, BFH/NV 2000, 303; BFH-Beschluss v. 21.10.2003 – VII B 353/02, BFH/NV 2004, 157

72. Der Liquidator/Insolvenzverwalter hat den gesamten Kaufpreisanspruch für ein Grundstück – einschließlich der aufgrund der Option nach § 9 UStG angefallenen Umsatzsteuer – an den Grundpfandgläubiger abgetreten, um damit die auf dem veräußerten Grundstück lastende Grundschuld zu tilgen und das Grundstück lastenfrei veräußern zu können.

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Der Verwalter hätte mit dem Grundpfandgläubiger eine Nettakaufpreisabrede treffen und dafür Sorge tragen müssen, dass die Gesellschaft über den der Umsatzsteuer entsprechenden Anteil des vom Erwerbers im Hinblick auf die Option gezahlten Kaufpreises zur Tilgung (auch) der Steuerforderungen verfugen kann. BFH-Urteil v. 28.11.2002 – VII R 41/01, BStBl. II 2003, 337; BFH-Urteil v. 16.12.2003 – VII R 77/00, DStR 2004, 500

Anh. 2 BFH-Rechtsprechung

73. Haftungsanspruch zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids durch Ablauf der Festsetzungsfrist bereits verjährt (Zeitpunkt der Verwirklichung des Haftungstatbestands bei gestelltem AdVAntrag)

Ist einem AdV-Antrag im Zeitpunkt der gesetzlichen Fälligkeit der Steuerschuld noch nicht entsprochen und wurden auch keine entsprechenden Mittel zur Begleichung der Steuerschuld bereitgehalten, ist hinsichtlich der Verwirklichung des Haftungstatbestands nicht auf den Zeitpunkt der späteren tatsächlichen Fälligkeit, sondern auf den der gesetzlichen Fälligkeit des Steueranspruchs abzustellen. Damit beginnt der Lauf der Festsetzungsverjährung für den Haftungsanspruch. BFH-Urteil v. 11.3.2004 – VII R 19/02, BFH/NV 2004, 1123

74. Ergänzender Haftungsbescheid nach bestandskräftig gewordenem Haftungsbescheid

Ein weiterer Haftungsbescheid ist neben einem bereits bestehenden Haftungsbescheid nur zulässig, wenn die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände erfolgen soll. BFH-Urteil v. 25.5.2004 – VII R 29/02, juris

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Anhang 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung hinsichtlich der Haftung nach § 69 AO (AO-Kartei NRW, § 69 Karte 801 – v. 7.12.2010) Anlagen: 1. Haftungsankündigung bei ausschließlicher Inanspruchnahme für LSt 2. Muster für ein Auskunftsersuchen 3. Berechnungsbogen (als Anlage zum Auskunftsersuchen) 4. Merkblatt als Anlage zum Auskunftsersuchen 5. Muster für eine Anordnung der Einsichtnahme in Unterlagen Vertreter bzw. Verfügungsberechtigte im Sinne der §§ 34, 35 AO haften gemäß § 69 AO insoweit persönlich für Steuerschulden der von ihnen vertretenen Gesellschaft, als durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Verpflichtungen Steueransprüche verkürzt worden sind. So haben Vorstände oder Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften als deren gesetzliche Vertreter (§§ 76, 78 AktG; § 35 GmbHG) und die Geschäftsführer von Personengesellschaften (GbR: §§ 709 ff. BGB; OHG: §§ 114 ff. HGB; KG: §§ 164, 161 Abs. 2 i.V.m. §§ 114 ff. HGB; Partnerschaft: § 6 und 7 PartG i.V.m. §§ 114 ff. HGB) die steuerlichen Pflichten der von ihnen vertretenen Gesellschaften zu erfüllen. Sie haben insbesondere dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten (§ 34 Abs. 1 und 2 AO). Sie haften, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden (§ 69 Satz 1 AO). Die Haftung umfasst auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge (§ 69 Satz 2 AO). Sind in einer Gesellschaft mehrere Geschäftsführer bestellt, trifft grundsätzlich jeden von ihnen die Verantwortung für die Erfüllung steuerlicher Pflichten der Gesellschaft. Die Gesamtverantwortung verlangt eine gewisse Überwachung der Geschäftsführung im ganzen. Diese kann durch eine – zwingend schriftliche, beispielsweise im Gesellschaftsvertrag enthaltene – Verteilung der Geschäfte zwar begrenzt, aber nicht aufgehoben werden (BFH-Urteil vom 26.4.1984, BStBl. 1984 II 776; BFH-Urteil vom 4.3.1986, BStBl. 1986 II 384). Ist die Wahrnehmung der steuerlichen Belange der Gesellschaft wirksam einem Mitgeschäftsführer zugewiesen, so tritt für die anderen Geschäftsführer der Umfang ihrer Pflichten nur insoweit und solange zurück, wie für sie unter dem Maßstab der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes (§ 347 HGB, § 93 AktG, § 43 GmbHG) kein Grund für die Annahme besteht, die steuerlichen Pflichten würden nicht genau erfüllt. Zeichnet sich die naheliegende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft ab, ist jeder einzelne Geschäftsführer verpflichtet, sich um die Gesamtbelange der Gesellschaft zu kümmern (solidarische Verantwortlichkeit 352

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

und Haftung). Das gleiche gilt, wenn im konkreten Fall die Person eines handelnden Mitgesellschafters, Geschäftsführers oder Angestellten Veranlassung zu einer Überprüfung gibt, z.B. wenn sich aus dem Betriebsablauf der Gesellschaft, insbesondere aus dem Zahlungsverkehr ergibt, dass keine oder kaum Umsatzsteuer- oder Lohnsteuerbeträge an das Finanzamt abgeführt werden (BFH-Urteil vom 26.4.1984, BStBl. 1984 II 776; BFH-Urteil vom 12.5.1992, BFH/NV 1992, 785). Bei der Prüfung des Verschuldens ist dabei weiterhin von Belang, ob es sich bei den verkürzten Steuern um Lohnsteuerabzugsbeträge (Abschn. I) oder um sonstige Betriebssteuern (Abschn. II) handelt. I. Lohnsteuerabzugsbeträge Werden einzubehaltende Lohnsteuerabzugsbeträge, für die der Arbeitgeber nach den einkommensteuerlichen Bestimmungen haftet (also nicht die pauschalierte Lohnsteuer; siehe unter II.1.), nicht oder nicht rechtzeitig an das Finanzamt abgeführt, liegt nach den vom BFH aufgestellten Grundsätzen (siehe z.B. Urteil vom 26.7.1988, BStBl. 1988 II 859) regelmäßig eine zumindest grob fahrlässige Pflichtverletzung vor. Vom Arbeitgeber einbehaltene und abzuführende Lohnsteuern (vgl. § 41a Abs. 1 EStG) werden gleichsam treuhänderisch für den Arbeitnehmer als Steuerschuldner (§ 38 Abs. 2 EStG) und den Fiskus als Gläubiger vereinnahmt und sind deshalb auch und gerade bei angespannter finanzieller Lage in voller Höhe an das Finanzamt abzuführen. Die einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträge sind für den Arbeitgeber fremde Gelder, die er nicht sach- und zweckwidrig verwenden darf, und zwar auch nicht im Vertrauen darauf, diese Beträge später aus noch eingehenden Außenständen begleichen zu können. Die Nichtabführung einbehaltener Lohnsteuern verletzt daher ohne weiteres die in § 34 Abs. 1 Satz 2 AO normierte Pflicht des für den Arbeitgeber verantwortlich Handelnden, die Steuern aus den von ihm verwalteten Mitteln des Arbeitgebers zu entrichten (BFHUrteil vom 26.7.1988, BStBl. 1988 II 859). Reichen die zur Verfügung stehenden Mittel nicht zur Zahlung der vereinbarten Löhne aus, darf ein verantwortungsbewusst handelnder Geschäftsführer die Löhne nur gekürzt als Vorschuss oder Teilbetrag auszahlen; aus den dann verbleibenden Mitteln hat er die entsprechende Lohnsteuer an das Finanzamt abzuführen (BFH a.a.O. sowie Urteile vom 17.10.1980, BStBl. 1981 II 138, vom 20.4.1982, BStBl. 1982 II 521, und vom 12.7.1983, BStBl. 1983 II 653). Diese Rechtsansicht führt aber nicht dazu, dass eine Haftung nur in der Höhe in Betracht kommt, in der bei Zugrundelegung des ausgezahlten Nettolohnes als Bruttolohn Lohnsteuer angefallen wäre. Vielmehr kann der für die Einhaltung und Abführung der Lohnsteuern Verantwortliche grundsätzlich unabhängig von der Liquiditätslage des Unternehmens in vollem Umfang als Haftender in Anspruch genommen werden. Nur in wenigen Ausnahmefällen kann eine Haftungsbeschränkung im Rahmen eines längeren Haftungszeitraums für den bzw. die letzten Lohnsteueranmeldungszeiträume in Betracht kommen, wobei allerdings dem Haftenden die objektive Feststellungslast dafür obliegt, dass ihm ab dem Zeitpunkt der letzten

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Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

Lohnzahlung nur Mittel in Höhe der ausbezahlten Nettolöhne zur Verfügung standen (BFH-Urteil vom 26.7.1988, BStBl. 1988 II 859, 861 Ziff. 3). Gleiches gilt für andere Steuerabzugsbeträge, die der Arbeitgeber einzubehalten und abzuführen hat; hierzu gehören insbesondere die Kirchenlohnsteuer und der Solidaritätszuschlag (§ 51a Abs. 1 EStG). Das Muster einer Haftungsankündigung bei ausschließlicher Inanspruchnahme für Lohnsteuerrückstände ist als Anlage 1 beigefügt. II. Sonstige Betriebssteuern Bei der rechtlichen Beurteilung der Frage, inwieweit die in §§ 34, 35 AO bezeichneten Personen für sonstige Betriebssteuern und damit in Zusammenhang stehende Nebenleistungen haften, ist davon auszugehen, dass beim Fehlen ausreichender Mittel zur Tilgung sämtlicher Verbindlichkeiten die rückständigen Steuerbeträge in etwa dem gleichen Verhältnis zu tilgen sind, wie die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern (BFH-Urteil vom 26.4.1984, BStBl. 1984 II 776). Benachteiligt der Haftungsschuldner das Finanzamt bei der Verteilung der verwalteten Mittel, verletzt er diese Pflicht zumindest grob fahrlässig und haftet deshalb im Umfang des die durchschnittliche Tilgungsquote unterschreitenden Differenzbetrages. Dies ist die Haftungssumme. 1. Dem Grundsatz gleichrangiger Tilgung unterliegende Forderungen aus dem Steuerschuldverhältnis Der Grundsatz gleichrangiger Tilgung aller Schulden ist insbesondere bei der Haftung für Umsatzsteuerrückstände von praktischer Bedeutung; da sich Liquiditätsschwierigkeiten in der Regel in nachlassenden Erträgen niederschlagen, werden ertragsabhängige Steuern nur selten haftungsrelevant. Gleichwohl gilt dieser Grundsatz auch für andere Betriebssteuern und die damit in Zusammenhang stehenden steuerlichen Nebenleistungen, so für die Körperschaftsteuer (BFH-Urteil vom 17.7.1985, BStBl. 1985 II 702) und die pauschalierte Lohnsteuer (BFH-Urteil vom 3.5.1990, BStBl. 1990 II 767). Bei der Gewerbesteuer ist die Rechtslage ebenso zu beurteilen. Etwas anderes gilt für die einzubehaltenden bzw. die einbehaltenen und abzuführenden Lohnsteuerabzugsbeträge (siehe unter I.). Die Haftung erstreckt sich ebenfalls auf die aufgrund der Pflichtverletzung bei der Gesellschaft auf die Steuerschulden angefallenen Säumniszuschläge, ggf. begrenzt auf die für die zugrundeliegenden Steuern ermittelte Tilgungsquote. Das gilt selbst dann, wenn die den Säumniszuschlägen zugrundeliegenden Steuerschulden später auf 0,– Euro herabgesetzt werden (FG Saarland, Urteil vom 27.9.1990, EFG 1991, 294). Wegen der Berechnung von Säumniszuschlägen auf die Haftungsschuld vgl. AO-Kartei NRW § 240 Karte 802. 2. Der Haftungszeitraum Der Haftungszeitraum wird wie folgt abgegrenzt: Er beginnt grundsätzlich mit dem Tag der ältesten Fälligkeit der für die Haftung in Betracht kommenden Ansprüche. Er endet an dem Zeitpunkt, an dem sichergestellt ist, dass eine Benachteiligung (durch Zahlungen an andere Gläubiger) des Fiskus ausscheidet. 354

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

Dies ist eine reine Sachverhaltsfrage. Grundsätzlich endet der Haftungszeitraum mit dem Zeitpunkt, ab dem durch die Steuerschuldnerin keine Gläubiger mehr befriedigt worden sind. Dies kann z.B. der Tag der Antragstellung auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sein. Es kann aber auch ein späterer Zeitpunkt sein, wenn nämlich Sachverhalte festgestellt werden, in denen z.B. nach dem Insolvenzantrag noch andere Gläubiger befriedigt wurden. Der insolvenzrechtliche Begriff der Zahlungsunfähigkeit bedeutet lediglich das Unvermögen des Schuldners, seine gesamten fälligen Geldschulden zu begleichen. Er besagt jedoch nicht, ob noch ausreichend liquide Mittel (Bar- und Buchgeld) vorhanden waren. Das Ende des Haftungszeitraums kann auch durch den Zeitpunkt gekennzeichnet sein, an dem der Haftungsschuldner aus seinem Amt ausgeschieden ist (BFH-Urteil vom 8.5.1990, BFH/NV 1991, 12). Ist es dadurch zum Steuerausfall gekommen, dass der Steueranspruch gem. § 69 Satz 1, 1. Alt. AO infolge schuldhaften Verhaltens nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt wurde (Bsp.: Umsätze werden schuldhaft erst in der Umsatzsteuerjahreserklärung und nicht bereits in der betreffenden Umsatzsteuervoranmeldung angegeben oder schuldhaft nicht angemeldete Mehrumsätze werden erst bei einer Außenprüfung festgestellt), kann hinsichtlich des Beginns des Haftungszeitraums nicht auf die Fälligkeit der Jahressteuernachzahlung abgestellt werden. Vielmehr ist dann der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Anspruch bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Erklärungspflicht fällig geworden wäre (BFH-Urteil vom 12.4.1988, BStBl. 1988 II 742). Insoweit ist auf das Urteil des BFH vom 12.7.1988 (BStBl. 1988 II 980, 981) hinzuweisen, in dem als maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Liquidität nicht auf die Fälligkeit der Nachzahlungsschuld aufgrund der Umsatzsteuerjahreserklärung, sondern auf den drei Jahre früheren Fälligkeitszeitpunkt aufgrund der fehlerhaften Umsatzsteuervoranmeldung abgestellt wurde. Ein früherer Beginn des Haftungszeitraums muss dann festgelegt werden, wenn die Jahressteuererklärung schuldhaft zu spät abgegeben worden ist und die Steuerfestsetzung und deren Fälligkeit dadurch in eine Zeit fällt, in der die Liquiditätslage sich gegenüber dem Zeitpunkt verschlechtert hat, zu dem die Abschlusszahlung bei gebührender Erfüllung der Erklärungspflicht voraussichtlich fällig geworden wäre. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Haftungsschuldner die dem Steuergläubiger gegenüber bestehenden Pflichten bereits dann verletzt, wenn er sich durch Vorwegbefriedigung oder in sonstiger Weise vorsätzlich oder grob fahrlässig außerstande setzt, eine bereits entstandene, aber erst künftig fällig werdende Steuerforderung im Zeitpunkt der Fälligkeit zu tilgen. Dann haftet der Verantwortliche insoweit, als der Steuergläubiger bei pflichtgemäßem Verhalten im Fälligkeitszeitpunkt befriedigt worden wäre (BFH-Urteil vom 26.4.1984, BStBl. 1984 II 776). 3. Haftungsbegründende Kausalität Eine Haftung entfällt jedoch, wenn zwischen Verletzung der Steuererklärungspflicht und dem eingetretenen Steuerausfall ein ursächlicher Zusammenhang nicht besteht. Das ist der Fall, wenn mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens auch bei fristgerechter Abgabe der Steuererklä355

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

rung die geschuldete Steuer nicht hätte beglichen werden können (BFH-Urteil vom 26.8.1992, BStBl. 1993 II 8). Hingegen haftet der Haftungsschuldner ohne Rücksicht auf die Verfügbarkeit von Geldmitteln für den eingetretenen Steuerausfall, wenn durch die unterlassene oder verspätete Steueranmeldung aussichtsreiche Vollstreckungsmöglichkeiten des Finanzamts vereitelt worden sind (BFH-Urteil vom 5.3.1991, BStBl. 1991 II 678, 681). Die Haftung besteht dann unabhängig vom Umfang der sonstigen Gläubigerbefriedigung jedenfalls insoweit uneingeschränkt, als bei ordnungsgemäßer rechtzeitiger Voranmeldung die verkürzten Steuern vom Finanzamt ohne weiteres hätten beigetrieben werden können (BFH-Urteil vom 8.10.1991, BFH/NV 1992, 79). Im übrigen ist die Berechnung der durchschnittlichen Tilgungsquote nur überschlägig vorzunehmen. Eine auf „Heller und Pfennig“ abgestimmte Verteilung der vorhandenen Mittel auf die Verbindlichkeiten des Steuerschuldners kommt nicht in Betracht. Besonderheiten des Einzelfalles (z.B. außergewöhnliche Liquiditätsschwankungen im Haftungszeitraum; Unvollständigkeit der Buchführungsunterlagen) zur Feststellung der durchschnittlichen Tilgungsquote können durch einen Pauschalabschlag auf die durchschnittliche Tilgungsquote haftungsmindernd berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 14.7.1987, BStBl. 1988 II 172). 4. Keine Berücksichtigung der Lohnsteuerabzugsbeträge bei Ermittlung von Haftungsquote und Haftungssumme Bei der Ermittlung der Haftungsquote sind die im Haftungszeitraum getilgten Lohnsteuern weder bei den Gesamtverbindlichkeiten noch bei den geleisteten Zahlungen zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 27.2.2007, BStBl. II 2008, 508). Nach der BFH-Rechtsprechung sind in die Berechnung der anteiligen Tilgungsquote grundsätzlich alle Verbindlichkeiten einzubeziehen, ungeachtet ihres Rechtsgrundes und ihrer Bedeutung für die Fortführung des Unternehmens. Eine Tilgungsvordringlichkeit – mit der Folge der Nichtberücksichtigung einer Zahlung bei der Ermittlung der Haftungsquote – ist grundsätzlich nicht anzuerkennen, auch nicht bei Personalkosten, d.h. den Löhnen und den darauf entfallenden Abgaben. Grundsätzlich sind deshalb auch die auf die gesamten rückständigen Steuerverbindlichkeiten geleisteten Zahlungen der GmbH zu berücksichtigen. Ausgenommen davon jedoch sind Zahlungen auf die vorrangig zu tilgenden Lohnsteuerbeträge (vgl. BFH-Entscheidungen in BFH/NV 2000, 1322; vom 26.3.1985 VII R 139/81, BStBl. II 1985, 539; vom 14.7.1987 VII R 188/82, BStBl. II 1988, 172). Damit sind Lohnsteuern, soweit sie getilgt sind, weder bei den Verbindlichkeiten noch bei den im Haftungszeitraum geleisteten Zahlungen zu berücksichtigen. Denn die Einbeziehung der abzuführenden Lohnsteuern im Rahmen der Gesamtverbindlichkeiten und der abgeführten Lohnsteuern bei den geleisteten Zahlungen führt rechnerisch – weil insoweit eine Tilgung zu 100 % vorliegt – zu einer höheren Tilgungsquote als die jeweilige Nichtberücksichtigung dieser Beträge. Ein solches Ergebnis widerspräche der vom BFH wiederholt hervorgehobenen haftungsrechtlichen Sonderstellung der Lohnsteuer, die den Geschäftsführer zur 356

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

vorrangigen und ungekürzten Abführung der Lohnsteuern an das Finanzamt vor der Begleichung sonstiger Verbindlichkeiten verpflichtet. Geschäftsführer, die sich dieser Pflicht entsprechend verhalten, verhalten sich dem Fiskus gegenüber gerade nicht pflichtwidrig. Es muss deshalb sichergestellt werden, dass die – im Verhältnis zu sonstigen Zahlungen – überproportionale Tilgung der Lohnsteuer nicht dazu führt, dass sich die Haftungsquote hinsichtlich der übrigen Steuerverbindlichkeiten zu Lasten des Haftungsschuldners erhöht. Im Hinblick auf diese vorrangige Tilgungspflicht der Lohnsteuerbeträge (vgl. BFH Urteil vom 27.2.2007 – VII R 60/05 –), sind Lohnsteuern im Rahmen der Vergleichsberechnung nicht zu berücksichtigen. Bei Ermittlung der auf die Steuerrückstände geleisteten Zahlungen sind auch die vom Finanzamt verrechneten Vorsteuerüberschüsse als Zahlungen auf die Umsatzsteuerschulden anzusetzen (BFH Urteil vom 7.11.1989, BStBl. 1990 II 201). Die Ermittlung der Haftungssumme ist nach dem als Anlage 3 zu diesem Karteiblatt beigefügten Berechnungsbogen durchzuführen. 5. Umfang der Ermittlungen Vor Erlass eines Haftungsbescheides sind demnach insbesondere folgende Feststellungen zu treffen: – der Bestand an Eigenmitteln bei der Gesellschaft zu Beginn und am Ende des Haftungszeitraums; – Art und Umfang der Verbindlichkeiten und der Mittelverwendung bei der Gesellschaft im Haftungszeitraum; – Verhältnis der Tilgung der Steuerschulden (ohne Lohnsteuer) zur Tilgung der außersteuerlichen Verbindlichkeiten; – Art und Umfang der Verantwortungsabgrenzung zwischen mehreren Geschäftsführern und ihre Auswirkung auf die Haftung (vgl. BFH-Urteile vom 26.4.1984, BStBl. 1984 II 776, und vom 4.3.1986 BStBl. 1986 II 384); – bei einzubehaltender und abzuführender Lohnsteuer: Vollauszahlung der Löhne und die Gründe für eine unterlassene anteilige Kürzung. Angaben über Gläubiger, Schuldgrund, Fälligkeits- und Zahlungszeitpunkt der einzelnen Verbindlichkeiten können wegen ihrer Bedeutungslosigkeit im Rahmen einer zeitraumbezogenen Haftungsermittlung in der Regel nicht verlangt werden (BFH-Urteil vom 11.7.1989, BStBl. 1990 II 357, 359). 6. Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung Das Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung ergibt sich aus den §§ 88, 90 bis 93, 97 AO. 6.1 Zunächst sind Beteiligte und ggf. auch Dritte um sachdienliche Auskünfte zu ersuchen (§§ 90, 93 AO). Das Finanzamt soll sich zunächst an den Geschäftsführer in seiner Eigenschaft als möglicher Haftungsschuldner (§ 33 AO) und als Beteiligter gem. §§ 93 Abs. 1 Satz 1, 78 Nr. 2 AO (vgl. BFH-Urteil vom 11.7.1989, BStBl. 1990 II 357) wenden. 357

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Falls dieser sich nicht äußert oder eine weitere Sachverhaltsaufklärung erforderlich ist, kann das Finanzamt sein Ersuchen auch an die Gesellschaft selbst richten (§ 93 Abs. 1 Satz 3 AO). Das ist allerdings nur dann erfolgversprechend, wenn der als Vertreter der Gesellschaft zu befragende Geschäftsführer nicht derselbe ist, der bereits vorher als potentiell Haftender ergebnislos befragt worden ist. Das Muster eines Auskunftsersuchens sowie eines für den Beteiligten bestimmten Merkblattes sind als Anlagen 2 und 4 beigefügt. Die Befolgung des Auskunftsersuchens kann gem. §§ 328 ff. AO erzwungen werden (BFH-Urteil vom 11.7.1989, BStBl. 1990 II 357). 6.2 Werden die nach § 93 AO erbetenen Auskünfte nicht erteilt, sind die Auskünfte unzureichend oder bestehen gegen ihre Richtigkeit Bedenken, kann das Finanzamt die Vorlage von Urkunden und sonstigen Unterlagen zur Einsicht und Prüfung verlangen (§ 97 Abs. 1 AO). Die Einsichtnahme und Prüfung der für die Sachverhaltsermittlung erforderlichen Unterlagen bei der Gesellschaft ist zulässig, wenn diese einverstanden ist oder wenn die Urkunden für eine Vorlage an Amtsstelle ungeeignet sind (§ 97 Abs. 3 AO). Urkunden sind zur Vorlage an Amtsstelle insbesondere dann ungeeignet, wenn sie – wegen ihres Umfangs in zumutbarer Weise nicht zum Finanzamt verbracht werden können, – wegen einer besonderen Aufbewahrungsform ortsgebunden sind, – nur unter Verwendung besonderer technischer Hilfsmittel gelesen werden können, – Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse enthalten. Das Muster einer Anordnungsverfügung ist als Anlage 5 beigefügt. Die Ermittlung der Haftungsvoraussetzungen bei der GmbH stellt keine Außenprüfung im Sinne der §§ 193 ff. AO dar. Gleichwohl kann es angezeigt sein, den die Haftung auslösenden Sachverhalt gelegentlich einer Außenprüfung feststellen zu lassen, sofern sich eine laufende oder kurz bevorstehende Prüfung hierfür anbietet. Die Vorlage von Urkunden durch die Gesellschaft nach § 97 AO kann im Einzelfall wegen deren Bedeutung oder zur Vermeidung unvertretbarer Verzögerung der Sachverhaltsermittlung (drohende Festsetzungsverjährung, drohender Vermögensverfall) auch ohne vorausgehendes Auskunftsersuchen in Betracht kommen. 7. Entscheidung nach den Grundsätzen der objektiven Feststellungslast bei mangelnder Mitwirkung Verletzt der Geschäftsführer seine Mitwirkungspflicht, indem er keine oder nur unzureichende Auskünfte erteilt, die Unterlagen im Sinne des § 97 AO nicht oder nicht vollständig vorlegt, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre, oder ver-

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Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

hindert er die notwendige Überprüfung nach § 97 Abs. 3 AO, ist das Finanzamt berechtigt, diesen Umstand frei zu würdigen. Mangels weiterer Anhaltspunkte kann es die mangelnde Mitwirkung des Geschäftsführers bei Sachverhalten, die in seinem Wissens- oder auch nur Einflussbereich liegen, gegen ihn verwerten (vgl. BFH-Urteil vom 9.10.1985, BFH/NV 1986, 321, 323). Es kann von einem ihm ungünstigen Sachverhalt ausgehen, sofern dieser einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit für sich hat. Trotz der bestehenden Feststellungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen im Sinne von § 69 AO (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 21.11.1989, BFH/NV 1990, 650), kann ohne näheren Nachweis von dem nach den Umständen möglichen Sachverhalt ausgegangen werden (Tipke/Kruse, § 88 AO Tz. 9 und § 90 AO Tz. 5). Die Höhe der Haftungssumme ist erforderlichenfalls im Wege der Schätzung festzustellen. Bei dieser Schätzung kann das Finanzamt in der Regel den Grundsatz der anteiligen Tilgung der Steuerschulden außer Betracht lassen und die Haftungssumme – ungeachtet etwaiger Haftungsminderungen – mit dem vollen Steuerrückstand festsetzen. Es kann dann ohne weiteres von der Annahme ausgehen, dass der Haftungsschuldner im fraglichen Zeitraum über ausreichende Mittel zur Begleichung der rückständigen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis verfügte und deshalb seine Pflichten im Sinne des § 69 AO in vollem Umfang zumindest grob fahrlässig verletzte (BFH-Urteil vom 26.9.1989, BFH/NV 1990, 351; BFH-Urteil vom 9.10.1985, BFH/NV 1986, 321, 323; Urteile des FG Rheinland-Pfalz vom 15.4.1986 6 K 151/83 – n.v., vom 10.8.1987 5 K 196/86, und vom 9.3.1993 2 K 2439/90; Niedersächsisches FG, Urteil vom 9.9.1993 XI 163/89 – n.v.; Besprechung der AO-Referenten der OFDen vom 25.–27.4.1994, TOP 3). Soweit im Einzelfall davon ausgegangen werden muss, dass die Forderungen anderer Gläubiger nicht voll befriedigt wurden (z.B. bei Konkurs der Gesellschaft), kann es jedoch geboten sein, den Haftungsanspruch entsprechend niedriger zu schätzen. 8. Haftung nach §§ 71, 370 AO Die vorstehend dargelegten Grundsätze der anteiligen Tilgung finden auch Anwendung, wenn die in §§ 34, 35 AO bezeichneten Personen zugleich den Haftungstatbestand des § 71 i.V.m. § 370 AO (Haftung als Steuerhinterzieher) verwirklicht haben (BFH-Urteile vom 26.8.1992, BStBl. 1993 II 8, und vom 2.3.1993, BFH/NV 1994, 526). Jedoch obliegt in diesen Fällen dem Haftungsschuldner die Feststellungslast für die eine Haftungsbeschränkung nach den Grundsätzen der anteiligen Tilgung begründenden Tatsachen (BFH-Urteil vom 26.8.1992, BStBl. 1993 II 8). 9. Sachverhaltsermittlung und Klageverfahren Eine hinreichende, d.h. den Haftungsanspruch tragende Sachverhaltsermittlung ist schon deshalb unerlässlich, weil andernfalls das Finanzgericht die Möglichkeit hat, unter Aufhebung des Haftungsbescheides und der Einspruchsentscheidung die Sache nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO – ohne Sachentscheidung zu treffen – an das Finanzamt zurückzuverweisen und diesem die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen (vgl. Tipke/Kruse, § 100 FGO Tz. 17). In diesem Fall hat das Finanzamt die erforderliche Sachverhaltsermittlung nachzuholen und – soweit das Er359

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

gebnis der Ermittlungen dies zulässt – einen neuen Haftungsbescheid zu erlassen. Eine Entscheidung nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO kann allerdings nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten des Finanzamts bei Gericht ergehen (§ 100 Abs. 3 Satz 5 FGO). Nach rechtskräftiger Aufhebung eines Haftungsbescheides durch das Finanzgericht darf kein neuer Bescheid über die gleiche Haftungsschuld erlassen werden, wenn das Finanzamt es versäumt hat, Erkenntnisse und Beweismittel, derer es sich bei gehöriger Ermittlung des Sachverhalts hätte bedienen können, dem Gericht zu unterbreiten (BFH-Urteil vom 21.11.1989, BFH/NV 1990, 651). Zur Frage des Erlasses eines erneuten Haftungsbescheides nach Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheides durch das Finanzgericht wegen fehlerhafter Ermessensausübung siehe BFH-Urteil vom 23.3.1993, BStBl. 1993 II 582. 10. Im übrigen sind die Haftungsprüfungen zur Vermeidung von Steuerausfällen zeitnah und zügig durchzuführen. 11. Zum Erlass eines Haftungsbescheides vgl. AO-Kartei NRW § 191 Karte 801. Anlage 1 Haftungsankündigung bei ausschließlicher Inanspruchnahme für Lohnsteuerrückstände Finanzamt […] StNr.: […] Herrn/Frau […] […] […] Haftung für Lohnsteuerrückstände der/des […] Sehr geehrte(r) […] die vorbezeichnete Firma schuldet dem Finanzamt folgende Steuerabzugsbeträge und damit im Zusammenhang stehende steuerlichen Nebenleistungen: […] Euro […] Euro […] Euro Summe: […] Euro Gemäß § 191 Abs. 1 i.V.m. § 69 Abgabenordnung (AO) haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Die Haf360

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

tung umfaßt auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge. Als gesetzlicher Vertreter, Vermögensverwalter bzw. Verfügungsberechtigter nach den §§ 34, 35 AO hatten Sie die gesetzlichen Pflichten des Vertretenen bzw. Eigentümers zu erfüllen. Insbesondere hatten Sie dafür Sorge zu tragen, daß die Steuern aus den von Ihnen verwalteten Mitteln entrichtet werden. Die von Ihnen vertretene Gesellschaft ist ihrer gesetzlichen Verpflichtung gemäß § 41a Einkommensteuergesetz (EStG), die vom Arbeitslohn ihrer Arbeitnehmer einbehaltenen Lohnsteuern an das Finanzamt abzuführen für die Lohnsteueranmeldungszeiträume, die Bestandteil der vorstehenden Übersicht sind, nicht nachgekommen. Da Sie die Gesellschaft vertreten haben und deren Pflichten zu erfüllen hatten, ist diese Pflichtverletzung Ihnen unmittelbar zuzurechnen. Hinsichtlich der Verpflichtung zur Abführung der einbehaltenen Steuerabzugsbeträge können Sie sich nicht etwa auf eine möglicherweise angespannte finanzielle Lage der von Ihnen vertretenen Gesellschaft berufen; denn der Arbeitgeber und die ihn vertretenden Personen dürfen die einbehaltenen Steuerabzugsbeträge nicht im Vertrauen darauf, daß sie die Steuern später aus anderen Mitteln werden entrichten können, sach- und zweckwidrig verwenden. Reichen die zur Verfügung stehenden Mittel zur Zahlung der vollen vereinbarten Löhne (einschließlich Lohnsteueranteil) nicht aus, so darf der Arbeitgeber oder der verantwortliche Geschäftsführer die Löhne nur gekürzt als Vorschuß oder Teilbetrag auszahlen. Aus den dann übrig bleibenden Mitteln muß er die entsprechende Lohnsteuer an das Finanzamt abführen (BFH-Beschluß vom 12.7.1983, BStBl. 1983 II 655). Dieser Verpflichtung zur gleichrangigen Befriedigung der Arbeitnehmer hinsichtlich der Löhne und des Finanzamts hinsichtlich der darauf entfallenden Lohnsteuern, notfalls unter anteiliger Kürzung beider Verbindlichkeiten, sind Sie nicht nachgekommen. Dadurch haben Sie die Ihnen obliegende Verpflichtung zur Abführung der einbehaltenen Lohnsteuern zumindest grob fahrlässig verletzt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist die Frage des Verschuldens bei der Abführung einbehaltener Lohnsteuern streng zu beurteilen (BFHUrteile vom 21.1.1972, BStBl. 1972 II 364, und vom 20.4.1982, BStBl. 1982 II 521). Nach dem System des Lohnsteuerabzugsverfahrens ist die abzuführende Lohnsteuer ein bei der Lohnzahlung zurückzubehaltender Teil vom Lohn des Arbeitnehmers. Dieser ist Schuldner der Lohnsteuer (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG). Der Arbeitgeber zieht die Lohnsteuer gewissermaßen nur treuhänderisch für den Arbeitnehmer und den Steuerfiskus ein. Für den Arbeitgeber handelt es sich hierbei wirtschaftlich um fremde Gelder. Die Nichtabführung der Lohnsteuer stellt deshalb regelmäßig eine schuldhafte Pflichtverletzung der den Arbeitgeber vertretenden Personen dar; denn die ordnungsgemäße Beachtung der gesetzlichen Vorschriften muß von jedem kaufmännischen Leiter eines Gewerbebetriebes verlangt werden (BFH-Urteil vom 20.4.1982, a.a.O.). Ich beabsichtige, Sie nach alledem auf der Grundlage der §§ 191, 69, 34 AO zur Haftung heranzuziehen und gebe Ihnen hiermit bis zum […] Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag 361

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

Anlage 2 Muster für ein Auskunftsersuchen Finanzamt […] Herr/Frau […] […] […] […] Steuerschulden der […] Prüfung der Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme Anlagen: 1 Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme 1 Merkblatt Sehr geehrte(r) […], Die vorbezeichnete Gesellschaft hat Steuerschulden in Höhe von […] Euro. Zur Prüfung, ob und in welchem Umfang Sie Herr/Frau […] als Haftungsschuldner für die Steuerrückstände im Zeitraum vom […] bis […] (Haftungszeitraum) in Anspruch genommen werden können/kann, bitte ich um Auskunft zu folgenden Fragen: – 1. Welcher Bestand an Eigenmitteln war bei der Gesellschaft zu Beginn und am Ende des Haftungszeitraums vorhanden? – 2. Wie hoch waren die Verbindlichkeiten zu Beginn des Haftungszeitraums? – 3. Um welchen Betrag haben sich die Verbindlichkeiten bis zum Ende des Haftungszeitraums verändert? – 4. In welcher Höhe wurden die Verbindlichkeiten (mit Ausnahme der einzubehaltenden und abzuführenden Lohnsteuern) getilgt? – 5. Sind die Steuerschulden (ohne die einzubehaltende und abzuführende Lohnsteuer) etwa in dem gleichen Verhältnis getilgt worden wie die anderen Verbindlichkeiten? – 6. Wie und in welcher Form waren die Verantwortungszuständigkeiten zwischen mehreren Geschäftsführern abgegrenzt? – 7. In den Steuerrückständen sind auch rückständige Lohnsteuern enthalten. Sind die Löhne voll ausgezahlt worden und bejahendenfalls, weshalb wurde bei Liquiditätsschwierigkeiten keine anteilige Kürzung der Löhne vorgenommen? Die Beantwortung der Fragen zu 2. bis 5. bitte ich durch eine Aufstellung entsprechend dem beiliegenden Muster zu beantworten. Auf das dem Berechnungsbogen beiliegende Muster wird hingewiesen.

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Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

– Sie sind als Beteiligte(r) zur Erteilung der erbetenen Auskünfte nach den §§ 90 Abs. 1 und 93 Abs. 1 Abgabenordnung verpflichtet. – Sie sind als „andere Person“ im Sinne des § 93 Abs. 1 Abgabenordnung nach dieser Vorschrift zur Erteilung der erbetenen Auskünfte verpflichtet. Die Auskünfte dienen nicht der Besteuerung der Gesellschaft. Eine Sachverhaltsaufklärung durch d[…] Beteiligte […] ist – erfolglos versucht worden. – verspricht keinen Erfolg, weil […]. Sie können sich die nach dem Gesetz mit der Auskunft und Mitwirkung verbundene Arbeit insofern erleichtern, als ein Bediensteter des Finanzamts den Sachverhalt in den Geschäftsräumen der Gesellschaft oder bei Ihnen ermittelt. Wenn Sie diese Mithilfe wünschen, lassen Sie mich das bitte mit einem Terminvorschlag bis zum […] wissen. Andernfalls bitte ich Sie, die erbetenen Auskünfte bis zum vorstehenden Datum zu erteilen. Gleichzeitig gebe ich Ihnen hiermit Gelegenheit, zu der beabsichtigten Haftungsinanspruchnahme sowohl bezüglich der einzubehaltenden und abzuführenden Lohnsteuern, als auch bezüglich der sonstigen, anteilig zu tilgenden Betriebssteuern aus Ihrer Sicht Stellung zu nehmen. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag […] Zutreffendes ist angekreuzt Anlage 3 Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme 1.

Berechnung der Gesamtverbindlichkeiten

1.1

Schuldenstand zu Beginn des Haftungszeitraumes (einschließlich der Löhne und Sozialabgaben/ohne Steuern)

[…] Euro

+ Zugänge bis zum Ende des Haftungszeitraumes

[…] Euro

./. Abgänge ohne Berücksichtigung geleisteter Zahlungen z.B. Rabatte, Boni, Skonti, Forderungsverzicht) bis zum Ende des Haftungszeitraumes

[…] Euro

Zu tilgen waren in diesem Zeitraum insgesamt

[…] Euro

363

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung Steuerschulden (ohne Lohnsteuer) zu Beginn des Haftungszeitraumes, darunter nicht nur die fälligen, sondern auch die bereits entstandenen (BFH, BStBl. 1984 II 776, 779), soweit diesbezüglich Pflichtverletzungen vorliegen

[…] Euro

+ Zugänge

[…] Euro

./. Abgänge ohne Berücksichtigung geleisteter Zahlungen bis zum Ende des Haftungszeitraumes

[…] Euro

Rückständige Steuern (ohne Lohnsteuer) insgesamt

[…] Euro

1.3

Die Gesamtverbindlichkeiten (Nrn. 1.1 + 1.2) betragen

[…] Euro

2.

Berechnung der Mittelverwendung

2.1

Summe der bezahlten Schulden im Sinne von Nr. 1.1 bis zum Ende des Haftungszeitraumes

[…] Euro

2.2

Summe der bezahlten Steuerverbindlichkeiten im Sinne von Nr. 1.2. (einschließlich Umbuchungen) bis zum Ende Haftungszeitraumes

[…] Euro

2.3

Gesamtsumme der bezahlten Verbindlichkeiten (Nrn. 2.1 + 2.2)

[…] Euro

3.

Berechnung der Haftungsquote

1.2

Gesamtsumme der bezahlten Verbindlichkeiten gem. Nr. 2.3 × 100

[…] %

Gesamtverbindlichkeiten gem. Nr. 1.3 4.

Berechnung der Haftungssumme

4.1

Bei pflichtgemäßer anteiliger Tilgung wären zu zahlen gewesen: Steuerschulden gem. Nr. 1.2 × […] % gem. Nr. 3 =

[…] Euro

4.2

./. Betrag, der tatsächlich auf diese Steuerrückstände gezahlt worden ist (einschließlich Umbuchungen) lt. 2.2

[…] Euro

4.3

Ergebnis: Die Haftungssumme beläuft sich auf

[…] Euro

Anlage 4 Merkblatt Gemäß § 34 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) haben gesetzliche Vertreter natürlicher und juristischer Personen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen. Insbesondere haben sie dafür zu sorgen, daß die Steuern aus den von ihnen verwalteten Mitteln entrichtet werden. Der Geschäftsführer einer Gesellschaft haftet deshalb gemäß § 69 AO insoweit persönlich für Steuerschulden der Gesellschaft, als durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung dieser ihm obliegenden Verpflichtungen Steueransprüche verkürzt worden sind. Die Haftung umfaßt auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge. I. Bei der Lohnsteuer liegt eine derartige Pflichtverletzung regelmäßig dann vor, wenn entweder einbehaltene Lohnsteuerabzugsbeträge nicht oder nicht rechtzeitig an das Finanzamt abgeführt werden, oder wenn der gesetzliche Vertreter im Hinblick auf fehlende Mittel der Gesellschaft nicht dafür sorgt, daß die auszuzahlenden Löhne entsprechend gekürzt und die Lohnsteuern vom tatsächlich 364

Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

zur Auszahlung kommenden niedrigeren Betrag berechnet, einbehalten und an das Finanzamt abgeführt werden (BFH-Urteile vom 17.10.1980, BStBl. 1981 II 138, vom 20.4.1982, BStBl. 1982 II 521, und vom 12.7.1983, BStBl. 1983 II 653). II. Für die übrigen Steuern geht die Rechtsprechung davon aus, daß die Steuerschulden grundsätzlich in etwa demselben Verhältnis zu tilgen sind wie die übrigen Schulden. Diese dem Steuergläubiger gegenüber bestehende Verpflichtung verletzt der gesetzliche Vertreter demnach dann, wenn er andere Gläubiger in größerem Umfange befriedigt. Dabei ist nicht nur auf die bereits fälligen Steuerschulden abzustellen. Vielmehr sind bei Befriedigung anderer Gläubiger auch Steuerschulden zu berücksichtigen, die zwar noch nicht fällig, aber schon entstanden sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 12.6.1986, BStBl. 1986 II 657) ist deshalb für den möglichen Haftungszeitraum zu ermitteln, in welchem Umfang der Fiskus nach den genannten Grundsätzen hätte befriedigt werden müssen und in welchem Umfang er tatsächlich befriedigt worden ist. Der beiliegende Berechnungsbogen dient zur Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen. Die Verpflichtung zur Auskunftserteilung ergibt sich aus den §§ 90 Abs. 1 und 93 Abs. 1 AO. Gemäß § 90 Abs. 1 AO sind der Haftungsschuldner und andere Personen verpflichtet, bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken. Insbesondere sind die für die Heranziehung zur Haftung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen und die bekannten Beweismittel anzugeben. Nach § 92 Satz 2 Nr. 1 AO ist das Finanzamt berechtigt, Auskünfte jeder Art von den Beteiligten und anderen Personen einzuholen. Diese haben gemäß § 93 Abs. 1 AO dem Finanzamt die zur Feststellung des für die Haftungsinanspruchnahme erheblichen Sachverhalts erforderlichen Auskünfte wahrheitsgemäß und nach bestem Wissen und Gewissen zu erteilen. Auskunftspflichtige, die nicht aus dem Gedächtnis Auskunft geben können, haben Bücher, Aufzeichnungen, Geschäftspapiere und andere Urkunden, die ihnen zur Verfügung stehen, einzusehen und erforderlichenfalls Aufzeichnungen daraus zu entnehmen (§ 93 Abs. 3 Satz 2 AO). Die Befolgung des Auskunftsersuchens kann gemäß §§ 328 ff. AO ggf. mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Bei auftretenden Zweifeln an der Richtigkeit der Auskünfte kann das Finanzamt die Vorlage der in Frage kommenden Geschäftsunterlagen zur Einsicht und Prüfung verlangen oder sie am Aufbewahrungsort durch einen beauftragten Bediensteten einsehen (§ 97 AO). Verletzt ein zur Auskunft Verpflichteter seine Mitwirkungspflicht, indem er keine oder nur unzureichende Auskünfte erteilt, angeforderte Unterlagen nicht vorlegt oder eine erforderliche Prüfung verhindert, ist das Finanzamt berechtigt, diesen Umstand frei zu würdigen. Mangels weiterer Anhaltspunkte kann das Finanzamt die mangelnde Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters, insbesondere bei Sachverhalten, die in seinem Wissens- bzw. Einflußbereich liegen, gegen ihn verwerten. Es kann dabei von einem für ihn ungünstigen Sachverhalt ausgehen, wenn dieser einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit für sich hat.

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Anh. 3 Verfahren bei der Sachverhaltsermittlung

Anlage 5 Muster für Anordnung der Einsichtnahme in Urkunden und Unterlagen Finanzamt Herrn/Frau […] […] […] Steuerschulden der […] Prüfung der Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme durch Einsichtnahme in Urkunden und Unterlagen Sehr geehrte(r) […], zur Feststellung des Sachverhalts wegen einer möglichen Haftung des Herrn/ der Frau […] für Steuerrückstände für den Zeitraum von […] bis […] (Haftungszeitraum) halte ich eine Einsichtnahme in Urkunden und sonstige Unterlagen in Ihren Geschäftsräumen für erforderlich (§ 97 Abs. 3 AO). Diese Vorschrift erlaubt eine Einsichtnahme in den Geschäftsräumen für den Fall, daß Sie einverstanden sind oder aber für den Fall, daß die Urkunden für eine Vorlage an Amtsstelle ungeeignet sind. Die genannten Voraussetzungen sind hier gegeben, weil […] Die Einsichtnahme wird am […] durch Herrn/Frau […] geschehen. Sie erstreckt sich insbesondere auf: – Das Buchführungswerk, insbesondere die Finanzbuchführung, – Unterlagen zum Zahlungsverkehr, insbesondere Kontoauszüge, – Unterlagen und Geschäftspapiere über Ihre Verbindung zu Banken. Die Feststellungen werden nicht für die Besteuerung der Gesellschaft getroffen. Ich bitte Sie, zu dem angegebenen Zeitpunkt anwesend zu sein oder für die Anwesenheit eines Vertreters zu sorgen. Sollte Ihnen der vorgesehene Termin nicht genehm sein, bitte ich, baldmöglichst einen anderen Termin (ggf. fernmündlich) mit mir abzusprechen. Andernfalls darf ich davon ausgehen, daß Sie mit dem oben angegebenen Termin einverstanden sind. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag […]

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Anhang 4 Haftung für betriebliche Steuern (ohne Abzugssteuern) Verfügung OFD Hannover v. 20.11.2009 S 0190–10–StO 141 (AO Kartei Niedersachsen § 69 Karte 3, juris) 1. Umfang der Haftung (Kausalität) Die Haftungsvorschrift des § 69 Abs. 1 AO umfasst als selbständige Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung – die Nichtfestsetzung – die nicht rechtzeitige Festsetzung – die Nichterfüllung – die nicht rechtzeitige Erfüllung der Steueransprüche sowie – die Zahlung der Steuervergütungen und Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund. Nach § 69 AO muss die Pflichtverletzung der in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen ursächlich dafür sein, dass die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind. Es muss feststehen, dass der im Gesetz bezeichnete Haftungsschaden ohne die Pflichtverletzung nicht eingetreten wäre (ständige Rechtsprechung). Die Kausalität richtet sich wie bei den zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen nach der sog. Adäquanztheorie. Danach können nur solche Pflichtverletzungen für den Erfolg ursächlich sein, die allgemein oder erfahrungsgemäß geeignet sind, diesen Erfolg zu verursachen. Der Ursachenzusammenhang darf nicht außerhalb des Wahrscheinlichen liegen. Das pflichtwidrige Verhalten kann auch vor Fälligkeit, ggf. auch vor Entstehung der später verkürzten Steueransprüche liegen. Beispiel 1: Der Geschäftsführer der GmbH überweist deren Arbeitnehmern das Gehalt, obwohl er genau weiß, dass ihm dann nicht mehr ausreichende Mittel für die Entrichtung der darauf entfallenden Lohnsteuer zur Verfügung stehen. Die Pflichtverletzung liegt vor der Entstehung der Lohnsteuer; der Geschäftsführer hätte vor Überweisung des Gehalts die Mittel für die Bezahlung der Lohnsteuer sicherstellen müssen, ggf. durch geringere Nettolohnzahlungen. Beispiel 2: Der Geschäftsführer weiß, dass die GmbH für den Monat Juli ca. 100.000,00 EUR an Umsatzsteuer wird entrichten müssen. Trotzdem befriedigt er gegen Ende des Monats in vollem Umfang die übrigen Gläubiger der GmbH – auch soweit deren Forderungen noch nicht fällig waren –, sodass ihm für die Tilgung der Steuerschuld keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Die Pflichtverletzung (= ausschließliche Befriedigung der übrigen Gläubiger) liegt vor der Entstehung der Umsatzsteuerschuld.

An der Ursächlichkeit fehlt es, wenn im Fälligkeitszeitpunkt der Steuer bereits ein gerichtliches Verfügungsverbot bestand.

367

Anh. 4 Haftung fr betriebliche Steuern

1.1 Grundsatz der anteiligen Tilgung Bei der Beurteilung der Frage, inwieweit die in §§ 34, 35 AO bezeichneten Personen für sonstige Betriebssteuern (Umsatzsteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, pauschale Lohnsteuer u.a.) und damit im Zusammenhang stehende Nebenleistungen haften, ist davon auszugehen, dass beim Fehlen ausreichender Mittel zur Tilgung sämtlicher Verbindlichkeiten die rückständigen Steuerbeträge ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu tilgen sind wie die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern.1 Benachteiligt der Haftungsschuldner das Finanzamt bei der Verteilung der verwalteten Mittel, verletzt er diese Pflicht zumindest grob fahrlässig und haftet deshalb im Umfang des die durchschnittliche Tilgungsquote unterschreitenden Fehlbetrages. Dies ist die Haftungssumme (vgl. Tz. 2). 1.2 Ausnahmen Der Haftungsschuldner verletzt die dem Steuergläubiger gegenüber bestehenden Pflichten bereits dann, wenn er sich durch Vorwegbefriedigung oder in sonstiger Weise vorsätzlich oder grob fahrlässig außerstande setzt, eine bereits entstandene, aber erst künftig fällig werdende Steuerforderung im Zeitpunkt der Fälligkeit zu tilgen. Er haftet dann insoweit, als der Steuergläubiger bei pflichtgemäßem Verhalten im Fälligkeitszeitpunkt befriedigt worden wäre.2 Beispielsweise haftet der Geschäftsführer für rückständige Körperschaftsteuern in voller Höhe, wenn er, ohne hierzu aufgrund eines den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechenden Gewinnverteilungsbeschlusses ermächtigt oder verpflichtet zu sein, Ausschüttungen an die Anteilseigner vornimmt, die nach § 38 KStG (ggf. i.V.m. § 34 Abs. 16 KStG) zu einer Erhöhung der Körperschaftsteuer führen. Da die Steuer insoweit nicht im Rahmen eines laufenden Geschäftsbetriebs der Gesellschaft entsteht, sondern Folge einer gezielten Mittelverwendung ist, darf der Geschäftsführer Ausschüttungen nur insoweit vornehmen, als die Gesellschaft auch die hierdurch ausgelöste Körperschaftsteuer entrichten kann.3 Die Vermögenslage des Steuerschuldners ist unerheblich, wenn die aufgrund des Umsatzsteuer-Jahresbescheids zu leistende Abschlusszahlung allein darauf zurückzuführen ist, dass aufgrund unrichtiger Voranmeldungen zu hohe Vorsteuervergütungen ausgezahlt wurden.4 Insoweit greift der Grundsatz der anteiligen Tilgungsverpflichtung für den Verantwortlichen nicht, weil es sich nicht um eine Zahlungsverpflichtung der Gesellschaft, sondern um eine zu Unrecht an die Gesellschaft ausgezahlte Steuervergütung handelt.5 Der Haftungsschuldner haftet ohne Rücksicht auf die Verfügbarkeit von Geldmitteln für den eingetretenen Steuerausfall, wenn durch die unterlassene oder verspätete Steueranmeldung aussichtsreiche Vollstreckungsmöglichkeiten des Finanzamts vereitelt worden sind.6 Die Haftung besteht dann unabhängig vom 1 2 3 4 5 6

BFH-Urteil v. 26.4.1984, BStBl. II 1984, 776. BFH-Urteil v. 26.4.1984, BStBl. II 1984, 776. NFG-Urteil v. 4.4.1995 – XI 255/91, n.v. NFG-Urteil v. 16.10.1996 – XI 123/93, n.v. BFH-Urteil v. 25.4.1995, BFH/NV 1996, 97. BFH-Urteil v. 5.3.1991, BStBl. II 1991, 678.

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Anh. 4 Haftung fr betriebliche Steuern

Umfang der sonstigen Gläubigerbefriedigung jedenfalls insoweit uneingeschränkt, als bei ordnungsgemäßer rechtzeitiger Anmeldung das Finanzamt die verkürzten Steuern ohne Weiteres hätte beitreiben können.1 Eine Haftung entfällt jedoch, wenn zwischen Verletzung der Steuererklärungspflicht und dem eingetretenen Steuerausfall ein ursächlicher Zusammenhang nicht besteht. Das ist der Fall, wenn mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens auch bei fristgerechter Abgabe der Steuererklärung die geschuldete Steuer nicht hätte beglichen werden können.2 1.3 Steuerliche Nebenleistungen Die Haftung erstreckt sich ebenfalls auf die aufgrund der Pflichtverletzung bei der Gesellschaft auf die Steuerschulden angefallenen Säumniszuschläge, ggf. begrenzt auf die für die zugrunde liegenden Steuern ermittelte Tilgungsquote. Das gilt selbst dann, wenn die den Säumniszuschlägen zugrunde liegenden Steuerschulden später auf 0,00 EUR herabgesetzt werden.3 Eine volle Haftung kommt jedoch regelmäßig nicht in Betracht für Säumniszuschläge, die ab dem Zeitpunkt der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners entstanden sind.4 Für die in der Zeit danach verwirkten Säumniszuschläge begründet die Illiquidität der Gesellschaft für diese einen Anspruch auf Erlass der Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen5, der wegen der Akzessorietät der Haftung dem Haftungsschuldner selbst dann zugute kommen muss, wenn es in der Person des Steuerschuldners nicht mehr zu einem Erlass der Säumniszuschläge gekommen ist.6 Zu erlassen ist regelmäßig die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge.7 2. Ermittlung der Haftungssumme Bei der Beurteilung der Verschuldensfrage ist grundsätzlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Fälligkeit der jeweiligen Steuerschuld abzustellen.8 Werden Steuern mit unterschiedlichen Fälligkeitszeitpunkten über einen längeren Zeitraum hinweg nicht oder nicht vollständig entrichtet, so ist die Haftungssumme zeitraumbezogen zu ermitteln; d.h. hinsichtlich der vorhandenen Zahlungsverpflichtungen und der hierauf geleisteten Zahlungen ist auf den ganzen Haftungszeitraum abzustellen.9 Der Haftungszeitraum beginnt grundsätzlich mit dem Tag der ältesten Fälligkeit der für die Haftung in Betracht kommenden Ansprüche und endet mit dem Zeitpunkt, zu dem der Steuerschuldner zahlungsunfähig geworden ist (z.B. Tag des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. der Eröffnung des Insolvenzverfahrens). Ist der Haftungsschuldner vor Eintritt

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH-Urteil v. 8.10.1991, BFH/NV 1992, 79. BFH-Urteil v. 26.8.1992, BStBl. II 1993, 8. FG Saarland, Urteil v. 27.9.1990, EFG 1991, 294. BFH-Urteil v. 26.7.1988, BStBl. II 1988, 859. BFH-Urteil v. 8.3.1984, BStBl. II 1984, 415. BFH-Urteil v. 26.7.1988, BStBl. II 1988, 859. AEAO zu § 240, Nr. 5c. BFH-Urteil v. 26.4.1984, BStBl. II 1984, 776. BFH-Urteil v. 12.6.1986, BStBl. II 1986, 657.

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Anh. 4 Haftung fr betriebliche Steuern

der Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners aus seinem Amt ausgeschieden, endet der Haftungszeitraum mit diesem Zeitpunkt.1, 2 Ist der Steuerausfall dadurch zustande gekommen, dass der Steueranspruch infolge schuldhaften Verhaltens nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt wurde (z.B. Umsätze wurden schuldhaft erst in der Umsatzsteuer-Jahreserklärung und nicht bereits in der betreffenden Umsatzsteuer-Voranmeldung angegeben oder schuldhaft nicht angemeldete Umsätze wurden erst im Rahmen einer Außenprüfung festgestellt), ist hinsichtlich des Beginns des Haftungszeitraums nicht auf die Fälligkeit der Jahressteuernachzahlung abzustellen. Vielmehr beginnt der Haftungszeitraum bereits mit dem Zeitpunkt, zu dem bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Voranmeldungspflichten die Vorauszahlungsschuld fällig geworden wäre.3 Der Haftungszeitraum beginnt auch dann früher, wenn die Jahressteuererklärung schuldhaft zu spät abgegeben worden ist und die Steuerfestsetzung und deren Fälligkeit dadurch in eine Zeit fällt, in der die Liquiditätslage sich gegenüber dem Zeitpunkt verschlechtert hat, zu dem die Abschlusszahlung bei gebührender Erfüllung der Erklärungspflicht voraussichtlich fällig geworden wäre. In die Berechnung zur Ermittlung der durchschnittlichen Tilgungsquote sind die im Haftungszeitraum insgesamt zu tilgenden Verbindlichkeiten einzubeziehen. Die Lohnsteuer ist weder bei den Gesamtverbindlichkeiten noch bei den geleisteten Zahlungen zu berücksichtigen. Sie steht für eine Quotenberechnung nicht zur Verfügung, da sie in voller Höhe an das Finanzamt abzuführen ist.4 Bei der Ermittlung der auf die Steuerrückstände geleisteten Zahlungen sind auch die vom Finanzamt verrechneten Vorsteuerüberschüsse als Zahlungen auf die Umsatzsteuerschulden anzusetzen.5 Die Ermittlung der Haftungssumme ist nach dem als Anlage zu diesem Karteiblatt beigefügten Berechnungsbogen durchzuführen (vgl. auch Textvorlage „AO_S_34a_Berechnungsbogen_Haftungssumme.vor“ bzw. Textbaustein „AO_191_ 69_Berechnungsbogen_Quote“ in der OFD_Textbausteinuebersicht AO_Haftung). Zur Feststellung der Haftungssumme kann das Finanzamt vom Haftungsschuldner die notwendigen Auskünfte über die anteilige Gläubigerbefriedigung im Haftungszeitraum verlangen. Der Haftungsschuldner ist jedoch nicht verpflichtet, die Gläubiger zu benennen sowie Angaben über den jeweiligen Schuldgrund und den Zahlungszeitpunkt der einzelnen Verbindlichkeiten zu machen.6

1 BFH-Beschluss v. 8.5.1990, BFH/NV 1991, 12. 2 Zur Frage des Ausscheidens vgl. BGH-Urteil v. 14.7.1980, NJW 1980, 2415; BFH-Urteil v. 27.10.1987, BFH/NV 1988, 485. 3 BFH-Urteile vom 12.4.1988, BStBl. II 1988, 742, v. 12.7.1988, BStBl. II 1988, 980, und v. 5.3.1991, BStBl. II 1991, 678. 4 Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, 2. Auflage, Tz. 105 m.w.N.; NFG-Beschluss v. 3.7.2009 – 11 V 129/08 und NFG-Urteil v. 23.10.2009 – 11 K 23/08. 5 BFH-Urteil v. 1.11.1989, BStBl. II 1990, 201 (203). 6 BFH-Urteil vom 11.7.1989, BStBl II 1990, 357.

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Anhang 5 Korrektur von Haftungsbescheiden (OFD Niedersachsen, Anleitung zur Bearbeitung von Haftungsfällen, Karte 6) (Stand 03/2006) 1. Korrekturvorschriften Die Vorschriften über die Anderung und Aufhebung von Steuerbescheiden (§§ 164 Abs. 2, 165 Abs. 2, 172 ff. AO) sind auf Haftungsbescheide nicht – auch nicht sinngemäß – anzuwenden (vgl. BFH-Urteil vom 28.1.1982 – V R 100/80 – BStBl. II 1982, 292, BFH-Beschluss vom 24.1.1995 – VII B 142/94 – BStBl. II 1995, 227). Für Haftungsbescheide gelten vielmehr die allgemeinen Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten (§§ 130 u.131 AO; BFHUrteil vom 6.8.1996 – VII R 77/95 – BStBl. II 1997, 79). § 129 AO ist zur Beseitigung eines Rechen- oder Schreibfehlers oder einer ähnlich offenbaren Unrichtigkeit, die beim Erlass des Haftungsbescheides unterlaufen ist, anzuwenden. Der Unterschied zwischen § 130 AO und § 131 AO besteht im Wesentlichen darin, dass § 130 AO auf die Korrektur eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gerichtet ist, die auch mit Wirkung für die Vergangenheit ausgesprochen werden kann. § 131 AO hingegen lässt den Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes nur mit Wirkung für die Zukunft zu. Die Berichtigung, Rücknahme oder der Widerruf eines Haftungsbescheides ist auch während eines Einspruchs- oder Klageverfahrens mit dem Gegenstand dieses Haftungsbescheides zulässig (§ 132 AO). Die vorstehenden Ausführungen gelten in gleicher Weise auch für die Zahlungsaufforderung gemäß § 219 AO. Die Korreklur des Haftungsbescheides zugunsten des Haftungsschuldners ist auch noch nach Ablauf der Festsetzungsfrist zulässig (vgl. BFH-Urteil vom 12.8.1997 – VII R 107/96 – BStBl. II 1998, 131). 2. Haftungsbescheid als Sammelhaftungsbescheid Sind mehrere Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die aus unterschiedlichen Sachverhalten herrühren, Bestandteil eines Haftungsbescheides, ist in dem Ausspruch über die Haftung für jeden einzelnen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis die Erteilung jeweils eines sachlich selbständigen Einzelhaftungsbescheides zu sehen. Die verschiedenen Haftungsbescheide werden lediglich aus Vereinfachungsgründen zu einem Sammelhaftungsbescheid zusammen gefasst (vgl. BFH-Urteile vom 30.8.1988 – VI R 21/85 – BStBl. II 1989, 193 und 6.8.1996 – VII R 77/95 – BStBl. II 1997, 79). Die zu verschiedenen Zeiten und aufgrund unterschiedlicher Tatumstände entstandenen Haftungsansprüche behalten aber durch die Zusammenfassung in einem Sammelbescheid ihre rechtliche Selbständigkeit (vgl. BFH-Urteil vom 3.7.1979 – VII R 53/76 – BStBl. II 1979, 655). Wird ein solcher Sammelhaftungsbescheid nur wegen ganz bestimmter Haftungsansprüche angefochten, hat dies zur Folge, dass der die übrigen Haftungsansprüche betreffende Teil des Sammelhaftungsbescheides in Bestandskraft erwächst (vgl. Karte 7 Tz. 1.1: BFH-Urteil vom 4.7.1986 – VI R 182/80 – BStBl. II 1986, 921). Wendet sich z.B. ein Haftungsschuldner, der für Lohnsteuer- und Um371

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satzsteuerrückstände in Anspruch genommen wurde, mit seinem Einspruch nur gegen die Höhe der Umsatzsteuerschuld, wird nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist der Haftungsbescheid über Lohnsteuer bestandskräftig. Der Haftungsschuldner kann daher im Rahmen eines Einspruchsverfahrens nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist nicht mehr erfolgreich einwenden, er hafte nicht für die Lohnsteuerschulden. Ggf. ist aber zu prüfen, ob der Haftungsbescheid gemäß § 130 AO zurückzunehmen ist. Legt ein Haftungsschuldner Einspruch gegen den Sammelhaftungsbescheid ein, ohne ihn zunächst zu begründen, so erfasst der Einspruch alle Haftungsansprüche, selbst wenn sich später die Einwendungen nur auf bestimmte Haftungsansprüche beziehen. 3. Austausch der Haftungsnorm Ausspruch oder Tenor eines Haftungsbescheides ist die Aussage, dass eine bestimmte Person für eine bestimmte Steuerschuld haftet. Dabei liegt jeder Haftung ein bestimmter Lebenssachverhalt zugrunde. Treffen auf dieselbe Person – aufgrund der Verwirklichung mehrerer Lebenssachverhalte oder weil ein Lebenssachverhalt unter mehrere Vorschriften subsumiert werden kann – mehrere Haftungsnormen zu, so kann der Haftungsbescheid auch auf mehrere Haftungsnormen gestützt werden. Ein Austausch der Haftungsnormen innerhalb eines Haftungsverfahrens ist nur dann zulässig, wenn der anderen Haftungsnorm derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt (§ 126 Abs. 3 AO; vgl. auch BFH vom 11.3.1986, BFH/NV 1987, 69 und 12.8.1997, BFH/NV 1998, 433). Verändert sich hierdurch der Haftungsumfang, ist der Tenor des Haftungsbescheides im Rahmen der Korrekturvorschriften anzupassen. Während des Klageverfahrens ist ein Austausch der Haftungsnorm dann noch möglich, wenn die andere Haftungsnorm keine neuen, bisher nicht angestellten Ermessenserwägungen erfordert. Soll jedoch ein Ermessen erstmals ausgeübt werden oder sollen die tragenden Gründe der Ermessensentscheidung ausgewechselt werden, so kann dies im Klageverfahren nicht mehr nachgeholt werden (vgl. Karte 7 Tz. 4). Soll die Haftung auf eine Haftungsnorm gestützt werden, der ein anderer Lebenssachverhalt zugrunde liegt (z.B. der bisher nach § 171 HGB in Anspruch genommene Kommanditist soll zusätzlich als Steuerhinterzieher gemäß § 71 AO in Anspruch genommen werden), so ist ein neues Haftungsverfahren – das ggf. neben dem bisherigen Haftungsverfahren durchgeführt wird – einzuleiten (vgl. BFH Urteil vom 12.7.1997, BFH/NV 1998, 433). 4. Rücknahme von rechtswidrigen Haftungsbescheiden gemäß § 130 AO 4.1 Allgemeines Gemäß § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt ist rechtswidrig, wenn das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende formelle oder materielle Recht unrichtig angewendet oder bei der Entscheidung von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig er372

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weist (vgl. BFH-Urteil vom 4.3.1986 – VII R 133/80 – BFH/NV 1986, 646). Da es sich bei dem Haftungsbescheid um eine Ermessensentscheidung handelt, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung, ob ein rechtswidriger Verwaltungsakt vorliegt, der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Tipke/Kruse, AO/ FGO, § 131 Tz. 5). Sofern der Haftungsbescheid mit dem Einspruch angefochten wurde, kommt es daher für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit auf die Sachoder Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung an. Bezogen auf den Haftungsbescheid ist danach z.B. dann von dessen (teilweiser) Rechtswidrigkeit auszugehen, wenn a) Steuerforderungen Bestandteil der Haftungssumme sind, auf die die Tatbestandsmerkmale der betreffenden Haftungsnorm objektiv nicht zutreffen, b) eines oder mehrere der Tatbestandsmerkmale der in Frage kommenden Haftungsvorschrift in der Person des Haftungsschuldners nicht erfüllt sind, c) die lnanspruchnahme des Haftungsschuldners ermessensfehlerhaft ist oder d) der Haftungsbescheid (ggf. in Gestalt der Einspruchsentscheidung) keine oder eine nicht ausreichende Begründung für die Rechts- und/oder Ermessensentscheidung erkennen lässt. Ergeht der Haftungsbescheid mit Mängeln der vorstehend beispielhaft geschilderten Art und wird der Verwaltungsakt bestandskräftig, weil der Haftungsschuldner dagegen einen Rechtsbehelf nicht einlegt, bildet er ungeachtet des unterlaufenen Fehlers die Grundlage für die Verwirklichung der damit festgesetzten Haftungsansprüche (§ 218 Abs. 1 AO). § 130 Abs. 1 AO eröffnet dem Finanzamt zwar die Möglichkeit, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte auch nach deren Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Das Finanzamt braucht aber grundsätzlich nicht von sich aus in eine Überprüfung des Haftungsbescheides einzutreten, wenn der Haftungsschuldner den Haftungsbescheid hat bestandskräftig werden lassen und nach Eintritt der Bestandskraft auch von einem Antrag auf (teilweise) Rücknahme absieht (vgl. BFH-Urteil vom 30.10.1990 – VII R 106/87 – BFH/NV 1991, 509). Beantragt der Haftungsschuldner nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist die (teilweise) Rücknahme des Haftungsbescheides, ohne Einspruch eingelegt zu haben, hat das Finanzamt über diesen Antrag nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Das Finanzamt muss im konkreten Fall abwägen, ob dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall oder dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist. Dabei kommt es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes und darauf an, weshalb die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist vom Haftungsschuldner geltend gemacht wird. Die Änderungsmöglichkeit des § 130 Abs. 1 AO darf in aller Regel nicht dazu führen, dass die Vorschriften über die Rechtsbehelfsfristen und über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unterlaufen werden. Deshalb hat das Finanzamt keine Veranlassung, in die Prüfung der Rechtswidrigkeit eines Haftungsbescheids einzutreten, wenn sich aus der Begründung des Rücknahmeantrags keine Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit ergeben bzw. die Rechtswidrigkeit lediglich behauptet wird, ohne jedoch Gründe vorzutragen, aus denen sich schlüssig die Rechtswidrigkeit ergibt (vgl. BFH-Urteil vom 373

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9.3.1989 – VI R 101/84 – BStBl. II 1989, 749). In diesem Fall ist es ermessensgerecht, den Rücknahmeantrag wegen unterlassener Bezeichnung der Gründe, aus denen sich die Rechtswidrigkeit nach Auffassung des Betroffenen schlüssig ergibt, abzulehnen. Im ablehnenden Bescheid sind dann die Ermessensgründe für die Entscheidung des Finanzamtes nachvollziehbar darzulegen. Die Ablehnung des Antrags auf Rücknahme kann mit dem Einspruch gemäß § 347 Abs. 1 Nr. 1 AO angefochten werden. Beantragt der Haftungsschuldner mehrere Jahre nach Zahlung des Haftungsanspruchs (im Streitfall 11 Jahre) die Rücknahme des zugrundeliegenden Haftungsbescheids, liegt die Ablehnung des Antrags bereits mit Rücksicht auf den unverhältnismäßig langen Zeitablauf im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung (vgl. BFH-Beschluss vom 15.3.1994 – VII B 196/93 – BFH/NV 1995, 4). Aber auch wenn der Steuerpflichtige seinen Rücknahmeantrag im Einzelnen begründet, kann das Finanzamt die (teilweise) Rücknahme des Haftungsbescheides ohne Verletzung der Ermessensgrenzen dann ablehnen, wenn der Haftungsschuldner in der Lage war, die Gründe, die nach seiner Aulfassung eine Rücknahme rechtfertigen, bei fristgerechter Einlegung des statthaften Einspruches vorzubringen. „Mit dieser Begründung kann eine Zurücknahme des Haftungsbescheides nur dann nicht abgelehnt werden, wenn vom Steuerpflichtigen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte“, vgl. BFH-Urleil vom 26.3.1991 – VII R 15/89 – BStBl. II 1991, 552. Gleichwohl sollte das Finanzamt für den Fall, dass der begründete Rücknahmeantrag Anhaltspunkte für schwerwiegende Mängel des Haftungsbescheides erkennen lässt, in eine Sachprüfung eintreten (vgl. auch AEAO zu § 130, Nr. 2 letzter Satz). Der Einiritt in die Sachprüfung kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn außer der von Anfang an vorliegenden Rechtswidrigkeit zusätzlich „weitere Umstände vorgebracht werden, etwa, dass die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- und Rechtslage sich nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat“ (BFH-Urteil vom 12.11.1991 – VII K 34/90 – BFH/NV 1992, 354). Im Rücknahmebescheid ist zu vermerken, ob die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergängenheit gelten soll. Eine teilweise Rücknahme im Einspruchsverfahren kann beispielsweise auch gerechtfertigt sein, wenn das Einspruchsverfahren voraussichtlich noch geraume Zeit in Anspruch nimmt. Wird die Teilrücknahme ausgesprochen und erledigt sich dadurch das Einspruchsverfahren nicht, ist gegen den geändenen Bescheid ein Einspruch nicht gegeben (vgl. Karte 7 Tz. 1.1.). Der Teilrücknahmebescheid wird Gegenstand des laufenden Einspruchsverfahrens (§ 365 Abs. 3 AO). Die Teilrücknahme des Haftungsbescheides ist keinesfalls in der Weise auszusprechen, dass auf der Grundlage des § 130 Abs. 1 AO ein vollständig neuer Haftungsbescheid mit Volltext und erneuter Rechtsbehelfsbelehrung erlassen wird, worin die ursprünglichen Haftungsforderungen, ggf. ermäßigt, wiederholt oder einzelne Forderungen weggelassen werden. Der Teilrücknahmebescheid kann etwa wie folgt formuliert werden:

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„Finanzamt Herrn/Frau […] […] […] Haftung für rückständige Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis der Firma X-GmbH; hier: Haftungsbescheid vom 7.1.2002 Sehr geehrter Herr A […], ich nehme hiermit den vorbezeichneten Haftungsbescheid insoweit gemäß § 130 Abs. 1 AO teilweise zurück, als Sie damit für rückständige Umsatzsteuer 2000 in Höhe von 22.478,00 EUR in Anspruch genommen wurden. Der Umsatzsteuerhaftungsanspruch 2000 wird auf 17.306,00 EUR herabgesetzt. Begründung: Die für 2000 veranlagte Umsatzsteuer wurde im geänderten Steuerbescheid vom 14.4.2002 auf 24.006,00 EUR herabgesetzt, so dass die vorbezeichnete Steuerschuldnerin für diesen Veranlagungszeitraum noch Umsatzsteuer in der vorgenannten Höhe schuldet. Vorsorglich weise ich darauf hin, dass die Haftung für die übrigen im Haftungsbescheid vom 7.1.2002 aufgeführten rückständigen Steueransprüche und Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen von der vorstehend ausgesprochenen Teilrücknahme unberührt bleibt. Ein Einspruch ist gegen diesen im Einspruchsverfahren ergangenen Teilrücknahmebescheid nicht gegeben (vgl. BFH-Urteil vom 16.7.1992 – VII R 57/91 BFH/NV 1993, 152). Das Einspruchsverfahren wird unter Berücksichtigung dieses Teilrücknahmebescheides fortgesetzt. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag“ Im Regelfall ist die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides im Einspruchsverfahren jedoch nicht durch Erlass eines Teilrücknahmebescheides auf der Grundlage der §§ 132, 130 Abs. 1 AO zu beseitigen, vielmehr sind die bei Erlass des Haftungsbescheides unterlaufenen Fehler, die zur Rechtswidrigkeit geführt haben, in der Einspruchsentscheidung richtig zu stellen. In Höhe des entsprechenden Haftungsbetrages ist ggf. die Vollziehung gemäß § 361 AO auszusetzen. In der beispielhaften Aufzählung der rechtswidrigen Fälle unter Karte 6 Tz. 4.1 ist etwa im Fall a) die Haftungssumme um die entsprechenden Steuerforderungen zu korrigieren (vgl. Karte 7 Tz. 1.3 unter 2.). Im Fall d) ist die unterlassene Begründung in der Einspruchsentscheidung nachzuholen (§ 126 Abs. 1 Nr. 2 i.V. mit § 126 Abs. 2 AO). Nach Erlass des angefochtenen Haftungsbescheides eingetretene Erlöschensgründe, verursacht etwa durch Zahlungen des Steuerschuldners oder eines anderen Haftungsschuldners auf375

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grund bestandskräftigen Haftungsbescheides, nicht durch Zahlungen des Haftungsschuldners selbst (vgl. Karte 6 Tz. 5), sind gleichfalls in der Einspruchsentscheidung durch Herabsetzung der Haftungssumme zu berücksichtigen. Die Haftungssumme wird entsprechend niedriger festgesetzt („Unter Abänderung des angefochtenen Bescheides wird die Haftungssumme anderweitig auf … EUR festgesetzt. Im Übrigen wird der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Wegen der anderweitigen Festsetzung der Haftungssumme wird auf die Darstellung im Anhang zu dieser Einspruchsentscheidung verwiesen.“). 4.2 Rücknahme des Haftungsbescheides und der Grundsatz von Treu und Glauben Anlass für die Rücknahme eines bestandskräftigen Haftungsbescheides gemäß § 130 Abs. 1 AO (Rücknahme in vollem Umfang) besteht nur in außergewöhnlichen Fällen. Ein solcher Fall kann beispielsweise vorliegen, wenn das Finanzamt einen Haftungsbescheid mit nach Einzelansprüchen unaufgegliederter Haftungssumme erlassen hat. Dieser Mangel berührt den Grundsatz der inhaltlichen Bestimmtheit von Verwaltungsakten (§ 119 Abs. 1 AO) und kann die Nichtigkeit des Haftungsbescheides zur Folge haben. Dann ist der Rechtsschein der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes dadurch zu beseitigen, dass die Nichtigkeit von Amts wegen festgestellt wird (§ 125 Abs. 5 AO). Der Anwendung des § 130 Abs. 1 AO bedarf es dann nicht. Die Aufhebung eines bestandskräftigen Haftungsbescheides kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn der Haftungsschuldner zwar keinen Einspruch eingelegt, aber einen Rücknahmeantrag gestellt hat und die vorgetragenen Gründe so schwerwiegende Mängel des Verwaltungsaktes erkennen lassen (vgl. Karte 6 Tz. 4.1), dass die Rücknahme des Haftungsbescheides in vollem Umfang geboten ist. Ebenso wird die Aufhebung dann möglich sein, wenn das Finanzamt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung und Klageerhebung feststellt, dass sowohl im angefochtenen Haftungsbescheid als auch in der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung die Darlegung der Ermessenserwägungen zum Entschließungs- und/oder zum Auswahlermessen unterblieben ist. Ein Ermessensnichtgebrauch durch das Finanzamt ist nur bis zum Abschluss des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens heilbar (§ 126 Abs. 2 AO), eine Ergänzung ist im gerichtlichen Verfahren nicht möglich (vgl. § 102 FGO). Allerdings ist in diesem Fall auch die Ersetzung des Haftungsbescheides unter gleichzeitiger Aufhebung des fehlerhaften Haftungsbescheides zulässig, wenn der ursprüngliche Regelungsinhalt nicht verändert wird (vgl. Karte 7 Tz. 4). Ist mit dem Entschluss des Finanzamts zur Aufhebung des Haftungsbescheides der Wille verbunden, unter Vermeidung der nicht heilbaren formellen und/oder materiellen Mängel einen neuen Haftungsbescheid zu erlassen, muss gleichzeitig mit der Aufhebung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht werden, dass das Finanzamt mit der Aufhebung nicht endgültig auf die Haftung verzichtet, dass der Haftungsschuldner vielmehr mit dem erneuten Erlass eines Haftungsbescheides rechnen muss. Vorzuziehen ist demgegenüber der Erlass eines neuen Haftungsbescheides, mit dessen Erteilung gleichzeitig die Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheides verfügt wird. 376

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Erfolgt nämlich in diesen Fällen die Aufhebung ohne ersichtlichen Grund ausdrücklich „ersatzlos“ (vgl. BFH-Urteil vom 25.7.1986 – VI R 216/83 – BStBl. II 1986, 779) oder kann der Haftungsschuldner anhand des Aufhebungsbescheides aus sonstigen Gründen den Eindruck gewinnen, das Finanzamt habe von seiner Inanspruchnahme endgültig abgesehen, kann das Finanzamt u.U. aus Gründen des Vertrauensschutzes oder weil der Aufhebungsbescheid nicht nach § 130 Abs. 2 AO korrigierbar ist (vgl. BFH-Urteil vom 12.8.1997 – VII B 107/96 – BStBl. II 1998, 131) am Erlass eines erneuten Haftungsbescheides gehindert sein (vgl. BFH-Urteil vom 22.1.1985 – VII R 112/81 – BStBl. II 1985, 562). Verbindet das Finanzamt die Aufhebung des Haftungsbescheides jedoch mit dem Hinweis, es bestehe die Absicht, einen neuen Haftungsbescheid zu erlassen oder wird die Aufhebung in demselben Bescheid ausgesprochen, mit dem der Haftungsbescheid neu erlassen wird, ist die Rücknahme des Haftungsbescheides nicht geeignet, in der Person des Haftungsschuldners einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand zu begründen, der den Neuerlass eines Haftungsbescheides wegen derselben Haftungsansprüche ausschließen würde (vgl. BFH-Urteile vom 22.1.1985 – VII R 112/81 – BStBl. II 1985, 562, vom 26.11.1986 – I R 256/83 – BFH/ NV 1988, 82 und BFH-Beschluss vom 18.2.1992 – VII B 237/91 – BFH/NV 1992, 639). Hebt das Finanzamt z.B. einen Haftungsbescheid, der vom Steuerschuldner verwirkte Säumniszuschläge beinhaltete, in einer rechtsirrigen Annahme auf, so muss es seine als falsch erkannte Rechtsauffassung zum frühest möglichen Zeitpunkt aufgeben und für nachfolgende Zeiträume z.B. die dann verwirkten Säumniszuschläge durch einen weiteren Haftungsbescheid geltend machen. Allein in der Aufhebung des ersten Haftungsbescheids liegt keine Zusicherung der rechtlichen Behandlung für die Zukunft (BFH vom 17.10.2001, BFH/NV 2002, 610). Einschränkungen für den Neuerlass eines Haftungsbescheides nach Aufhebung eines vorausgegangenen Bescheids aus Gründen des § 130 Abs. 2 AO bzw. wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben können im Übrigen nur insoweit bestehen, als der aufgehobene und der erneute Bescheid dieselben Sachverhalte betreffen (inhaltsgleiche Bescheide mit gleichen Haftungsbeträgen und übereinstimmender Haftungsnorm). Erlässt das Finanzamt nach Rücknahme eines Haftungsbescheides einen neuen Haftungsbescheid, der auf eine gegenüber dem ursprünglichen Haftungsbescheid abweichende Haftungsnorm gestützt wird und/oder dem andere Haftungsansprüche zugrunde gelegt werden, ist der Grundsatz von Treu und Glauben nicht tangiert (vgl. BFH-Beschluss vom 18.2.1992 – VII B 237/91 – BFH/NV 1992, 639 unter 4.). Ist dies bei Rücknahme des ersten Haftungsbescheids beabsichtigt, sollte dennoch erläutert werden, dass das Finanzamt die anderweitige Haftung prüft. Im Hinblick auf den Ablauf der Festsetzungsfrist ist zu beachten, dass die Frist im Falle der Aufhebung aus formellen Gründen durch das Finanzgericht im Klageverfahren (gerichtliche Kassation gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO) nicht abläuft, bevor der neue Haftungsbescheid unanfechtbar geworden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 AO i.V.m. § 171 Abs. 3a AO; vgl. BFH-Urteil vom 22.3.1993 – VII R 38/92 – BStBl. II 1993, 581 und 5.10.2004 – VII R 77/03 – BStBl. II 2005, 122).

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4.3 Einfluss von Veränderungen der Steuerschuld auf das Haftungsverfahren In der Praxis wird zuweilen festgestellt, dass Finanzämter den Haftungsbescheid mehrfach deshalb ändern, weil a) sich die im Haftungsbescheid bereits enthaltenen Haftungsansprüche inzwischen teilweise erhöht haben und/oder b) der Steuerschuldner mit neuen Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis in Rückstand geraten ist. Diese Korrektur wird jeweils auf § 130 Abs. 1 AO gestützt. Dies ist nach abgabenrechtlichen Vorschriften jedoch nicht zulässig. Beispiel 1: 1. bestandskräftiger Haftungsbescheid a) USt 12 000,00 EUR 5/99 b) USt 9 000,00 EUR 6/99 c) USt 21 000,00 EUR 7/99 d) USt 11 000,00 EUR 8/99 2. Haftungsbescheid (§ 130 Abs. 1 AO) a) USt 12 000,00 EUR (unverändert) 5/99 b) USt 17 000,00 EUR (Nach Umsatzsteuersonderprüfung) 6/99 c) USt 14 000,00 EUR (Nach Umsatzsteuersonderprüfung) 7/99 d) USt 4 000,00 EUR (Nach Zahlung durch den Steuerschuldner) 8/99 e) USt 25 000,00 EUR (Neuer Rückstand) 9/99

Die haftungsrechtliche Situation ist problematisch, wenn sich nach Erlass des Haftungsbescheides herausstellt, dass der Haftungsbetrag zu niedrig angesetzt worden ist, obwohl die Steuerschuld, für die gehaftet werden soll, tatsächlich mit einem höheren Betrag entstanden ist. Soll ein Steueranspruch, für den der Haftungsschuldner bereits zur Haftung herangezogen wurde, erhöht werden, ist die Korrektur des entsprechenden Haftungsanspruches im ursprünglichen, wenn auch rechtswidrigen Haftungsbescheid zuungunsten des Haftungsschuldners nur unter den eingeschränkten Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO möglich. Es würde sich insoweit um die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts handeln, da die Haftungssumme im neu zu erlassenden Haftungsbescheid erhöht werden soll. Es müssen dann die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO vorliegen (vgl. AEAO zu § 130, Nr. 4). Es ist nicht zulässig, in Höhe des entsprechenden Betrags einen neuen Haftungsbescheid zu erlassen, weil die Haftung für die betreffende Steuer und den in Betracht kommenden Zeilraum bereits bestandskräftig geregelt wurde. Ein weiterer Haftungsbescheid ist neben einem bereits bestehenden Haftungsbescheid nur zulässig, wenn die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände er378

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folgen soll (vgl. BFH-Urteil vom 25.5.2004 – VII R 29/02 – BFH/NV 2004, 1430). Die „Sperrwirkung“ eines bestandskräftigen Haftungsbescheides ist sachverhaltsbezogen (BFH-Beschluss vom 7.4.2005 – I B 140/04 – BFH/NV 2005, 1408). Für die Umsatzsteuer bildet jeder Voranmeldungszeitraum einen eigenständigen Besteuerungszeitraum, während für die Haftungsinanspruchnahme wegen der Jahresumsatzsteuer der Besteuerungszeitraum aufgrund des Prinzips der Abschnittsbesteuerung grundsätzlich das Kalenderjahr ist. Der Anspruch auf die Umsatzsteuer eines Kalenderjahres ist nicht teilbar. Gegenstand eines Haftungsbescheides, mit dem der Haftungsschuldner aufgrund eines bestimmten Haftungstatbestandes für eine Jahressteuerschuld des Steuerschuldners in Anspruch genommen werden soll, ist stets der gesamte zum 31.12. des Kalenderjahres entstandene Steueranspruch und nicht ein Teilanspruch (vgl. BFH-Urteil vom 25.5.2004 – VII R 29/02 – BStBl. II 2005, 3). Wird der Steuerschuldner mit einer Steuerforderung rückständig, die bisher noch nicht Bestandteil des Haftungsbescheides ist, und beabsichtigt das Finanzamt, den Haftungsschuldner auch für diese Steuerschuld in Anspruch zu nehmen, bleibt der bereits erlassene Haftungsbescheid unangetastet; in diesem Fall kann ein neuer Haftungsbescheid erlassen werden, der die Haftung für den weiteren Anspruch regelt. Entscheidend für die Zulässigkeit eines neben einen bereits bestehenden Haftungsbescheid gegenüber einem bestimmten Haftungsschuldner tretenden weiteren Haftungsbescheides ist also, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits ergangene Haftungsbescheid oder ob die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände erfolgen soll. Nur im letzten Fall handelt es sich um Haftungsfälle, die nicht voneinander abhängen und, auch wenn sie in einem Haftungsbescheid äußerlich zusammengefasst werden könnten (Sammelbescheid), zu rechtlich selbständigen Haftungsansprüchen führen, die Gegenstand verschiedener Haftungsbescheide sein können (BFH-Urteil vom 7.11.1989 – VII R 34/87 – BStBl. II 1990, 201). Hat der Haftungsschuldner gegen den ursprünglichen Haftungsbescheid Einspruch eingelegt und hat sich der dem Haftungsanspruch zu Grunde liegende Steueranspruch nachträglich erhöht, kann das Finanzamt die Verböserung – nach vorheriger Anhörung – in der Einspruchsentscheidung vornehmen (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO), es sei denn, der Haftungsschuldner nimmt den Einspruch zurück. Entfallen die dem Haftungsbescheid zugrunde liegenden Steueransprüche durch nachträgliche Änderungen in der Festsetzung der Erstschuld, kann nach der BFHRechtsprechung eine Rücknahme des Haftungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner in Betracht kommen (BFH vom 12.8.1997, BStBl. II 1998, 131). Wird ein beim Steuerschuldner rückständiger Steueranspruch, der bereits als Haftungsanspruch geltend gemacht wurde, herabgesetzt und vermindert sich dadurch der Haftungsanspruch zugunsten des Haftungsschuldners, ist dieser Umstand – jedenfalls bis zum Ende der gerichtlichen Tatsacheninstanz – uneingeschränkt zu berücksichtigen. Der Haftungsbescheid ist daher im Rahmen des Einspruchs- bzw. Klageverfahrens gemäß § 130 AO zurückzunehmen, soweit sich die Steueransprüche nachträglich vermindert haben. Aber auch nach Bestandskraft des Haftungsbescheids kann eine Rücknahme des Haftungsbescheids in Betracht kommen. Die Tatsache, dass die Herabsetzung der Erst379

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schuld bereits im Anfechtungsprozess gegen den Haftungsbescheid hätte geltend gemacht werden können, muss nicht zwingend dazu führen, dass eine Rücknahme des Haftungsbescheids ausgeschlossen ist. Die Rücknahme des Haftungsbescheids zugunsten des Haftungsschuldners ist auch noch nach Ablauf der Festsetzungsfrist zulässig (BFH vom 12.8.1997, BStBl. II 1998, 131). 5. Widerruf von rechtmäßigen Haftungsbescheiden gemäß § 131 AO Ist der Haftungsbescheid rechtmäßig ergangen und bestandskräftig geworden oder nicht bestandskräftig geworden, weil der Haftungsschuldner gegen den Haftungsbescheid nach (teilweiser) erfolgloser Durchführung des Einspruchsverfahrens Klage erhoben hat, kann den nach Eintritt der Bestandskraft bzw. Erhebung der Klage eintretenden Tatsachen durch (teilweisen) Widerruf des Haftungsbescheids germäß § 131 Abs. 1 AO mit Wirkung für die Zukunft Rechnung getragen werden. Insoweit ist insbesondere an nachträglich verwirklichte Lebensvorgänge zu denken, die einzelne dem Haftungsbescheid zugrunde gelegte Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zum Erlöschen gebracht haben und keine Ereignisse mit steuerlicher Rückwirkung sind: – Zahlung des Steuerschuldners auf die rückständige Steuerforderung (ggf. durch Aufrechnung), – (teilweiser) Erlass des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber dem Steuerschuldner, – Zahlung eines anderen Haftungsschuldners aufgrund eines gegen ihn ergangenen bestandskräftigen Haftungsbescheids. Zahlungen eines anderen Haftungsschuldners bleiben allerdings dann außer Betracht, wenn dieser gegen „seinen“ Haftungsbescheid Einspruch eingelegt hat und das Einspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen ist (BFH vom 17.10.1980, BStBl. II 1981, 138). Das Finanzamt muss dann mit der Möglichkeit rechnen, dass dem Steuerpflichtigen seine Leistungen bei teilweiser oder voller Rücknahme des Haftungsbescheids (teilweise) zurückzuerstatten sind und die Steuerforderungen dadurch wieder aufleben, – Herabsetzung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis durch Korrektur des anspruchsbegründenden Verwaltungsaktes. Der Widerruf ist sogar möglich bei Minderung der Steuerschuld nach Ablauf der Festsetzungsfrist (vgl. BFH-Urteil vom 12.8.1997 – VII R 107/96 – BStBl. II 1998, 131). Diese und andere Vorgänge, die nachträglich die Haftungsschuld mindern, führen nicht zur Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids und damit nicht zur Anwendung des § 130 AO, da es insoweit auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Eintritts der Bestandskraft bzw. der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ankommt. In diesen Fällen ist in Höhe des Betrags, um den sich die Haftungssumme vermindert hat, der Widerruf des Haftungsbescheids gemäß § 131 Abs. 1 AO mit Wirkung für die Zukunft auszusprechen. Nur Zahlungen des Steuerschuldners oder eines anderen Haftungsschuldners (aufgrund eines bestandskräftigen Haftungsbescheids) können die Herabsetzung des Haftungsanspruchs für die Vergangenheit rechtfertigen. Zahlungen nach Bestandskraft des Haftungsbescheids bzw. nach Ergehen der Einspruchsentschei380

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dung lassen den Haftungsbescheid für die Vergangenheit unberührt; auf Verlangen ist der Haftungsbescheid gemäß § 131 Abs. 1 AO mit Wirkung für die Zukunft teilweise zu widerrufen. Zahlungen des Haftungsschuldners haben keinen Einfluss auf den Bestand des gegen ihn erlassenen Haftungsbescheids. Ihnen ist ggf. durch Widerruf der Zahlungsaufforderung gemäß § 131 Abs. 1 AO Rechnung zu tragen. Keinesfalls darf in diesen Fällen der Haftungsbescheid selbst geändert werden. Falls das Finanzamt dennoch aufgrund einer Zahlung des Haftungsschuldners den Haftungsbescheid geändert hat, führt diese Verfahrensweise letztlich zu dem Ergebnis, dass die Zahlung des Haftungsschuldners in Höhe der vollzogenen Teilrücknahme i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 2 AO ohne rechtlichen Grund erfolgte und ein entsprechender Erstattungsanspruch entstanden ist. Bei Streitigkeiten über die Verwirklichung des Haftungsanspruchs ist dem Haftungsschuldner auf Antrag ein Abrechnungsbescheid gem. § 218 Abs. 2 AO zu erteilen. Zur inhaltlichen Bestimmtheit (§ 119 Abs. 1 AO) ist im Widerrufs-Verwaltungsakt eindeutig darzustellen, welcher der im ursprünglichen Haftungsbescheid aufgeführten Haftungsansprüche korrigiert, in welcher Höhe die Haftung herabgesetzt wird sowie für welchen verbleibenden Betrag der Haftungsschuldner weiterhin einstehen muss.

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Anhang 6 Haftung des Insolvenzverwalters (OFD Niedersachsen v. 27.4.2016, Vo-Kartei ND Insolvenzverfahren Karte 15) 1. Allgemeines Die Haftung des Insolvenzverwalters richtet sich grundsätzlich nach den entsprechenden Regelungen der InsO. Verletzt ein Insolvenzverwalter allerdings steuerrechtliche Pflichten, so verdrängt § 69 AO die Verwalterhaftung nach der InsO. Hauptanwendungsfall ist die Haftung für sonstige Masseverbindlichkeiten i. S. v. § 55 InsO. Auch nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit kommt eine Haftungsinanspruchnahme des Insolvenzverwalters in Betracht, wenn er keine Steuern zahlt, obwohl er nach Anwendung des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO einen Teil hätte zahlen müssen. 2. Haftung nach Steuerrecht Der Insolvenzverwalter ist Vermögensverwalter i. S. d. § 34 Abs. 3 AO. Als solcher ist er verpflichtet, die steuerlichen Verpflichtungen des Schuldners wie ein gesetzlicher Vertreter zu erfüllen. Hierzu gehört in erster Linie die Erklärung (bzw. Anmeldung) von Steuern und, soweit es sich um Masseverbindlichkeiten handelt, auch deren anschließende Entrichtung aus dem von ihm verwalteten Vermögen. Hinsichtlich der Entrichtung sind allerdings die Besonderheiten bei Masseunzulänglichkeit zu beachten (s. Tz. 3). Verletzt der Insolvenzverwalter vorsätzlich oder grob fahrlässig seine ihm gegenüber dem Finanzamt als Vertreter der Schuldners obliegenden Pflichten, so kann er mit einem Haftungsbescheid nach § 191 Abs. 1 AO in Anspruch genommen werden. Die ErSt regt eine Haftungsprüfung an, sobald ihr Umstände bekannt werden, die auf die Erfüllung eines Haftungstatbestandes hinweisen. Die am häufigsten auftretenden Fälle der steuerlichen Haftung sind (vgl. auch AO-Kartei § 191 AO, Karte 2): 2.1 Lohnsteuer Zahlt der Insolvenzverwalter Arbeitslohn nach Verfahrenseröffnung weiter und führt Lohnsteuer nicht ab, meldet diese nicht an oder behält sie nicht ein, haftet der Insolvenzverwalter nach §§ 69, 34 AO i. V. m. § 80 InsO. Denn die Verpflichtungen zum Einbehalt, zur Anmeldung und Abführung von Lohnsteuer ergeben sich nur aus steuerrechtlichen Vorschriften. Voraussetzung für diese persönliche Haftung ist, dass der Haftungsschaden ohne die Pflichtverletzung nicht eingetreten wäre. § 42d EStG betrifft ausschließlich die Haftung des Arbeitgebers für einzubehaltende und abzuführende Lohn- und Folgesteuern. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Verwaltungs- und Verfügungsmacht nach § 80 Abs. 1 InsO auf den Insolvenzverwalter über. Damit gehen auch die Arbeitgeberpflichten auf den Insolvenzverwalter über, ohne dass er selbst zum Arbeitgeber wird. Auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann der Insolvenzschuldner als

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Arbeitgeber nach § 42d EStG – verschuldensunabhängig – in Haftung genommen werden. Ein Haftungsbescheid ergeht an den Insolvenzverwalter als dessen Vermögensverwalter und richtet sich gegen die Insolvenzmasse. 2.2 Umsatzsteuer Der Insolvenzverwalter entrichtet Umsatzsteuer aus der Fortführung des Betriebes oder aus der Verwertung der Masse schuldhaft nicht. 3. Haftung nach Insolvenzrecht Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten (Schuldner, Insolvenzgläubiger, Ab- und Aussonderungsberechtigte und Massegläubiger) zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er die ihm gesetzlich zugewiesenen Pflichten schuldhaft verletzt. Die Haftung nach den Vorschriften der InsO kann nicht durch Haftungsbescheid nach § 191 Abs. 1 und 4 AO geltend gemacht werden. Entsprechende Ansprüche sind im Zivilrechtsweg zu verfolgen. 3.1 Haftungsauslösende Pflichtverletzungen Der Insolvenzverwalter hat insbesondere die von den Beteiligten festgelegten Verfahrensziele zu verfolgen. Außerdem hat er die Masseverbindlichkeiten vorweg aus der Insolvenzmasse zu befriedigen. Reicht die Masse hierzu nicht aus, hat er unverzüglich Masseunzulänglichkeit zu erklären (vgl. Karte 12 Tz. 7). Der Insolvenzverwalter haftet z. B., wenn er trotz vorliegender Unzulänglichkeit der Masse weitere Verbindlichkeiten begründet, die Anzeige nach § 208 InsO jedoch unterlässt. Die entsprechende Haftungsvorschrift des § 61 InsO ist wegen des Vorrangs von § 69 AO (s. Tz. 2) für die Finanzämter allerdings regelmäßig ohne Bedeutung. Allerdings können beispielsweise folgende Pflichtverletzungen des Insolvenzverwalters eine Haftung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO gegenüber dem Finanzamt begründen: – fehlerhafte Prozessführung, – unzutreffende Anerkennung von Eigentums- und Pfandrechten, – Nichtbeachtung von angemeldeten Aus- und Absonderungsrechten – Unterlassen von Anfechtungen i. S. d. §§ 129 bis 136 InsO, – Nichtbeachtung von Fristen, – Versäumnis der Zurückbehaltung bei Verteilungen (§ 189 Abs. 2 InsO) – Verschleuderung von Massegegenständen, – zu Unrecht erklärte Masseunzulänglichkeit, – überhöhte Gebührenabrechnung, – unrichtige Erstellung des Schlussverzeichnisses. Eine Haftung nach § 61 InsO ist nicht zulässig, wenn der Verwalter Steuern als Masseverbindlichkeiten begründet, die er aber aus der Masse nicht voll erfüllen kann (BGH-Beschluss vom 14. Oktober 2010, IX ZB 224/08, ZInsO S. 2188).

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3.2 Verschuldensmaßstab, Kausalität und Schadenshöhe § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO stellt für das Verschulden auf den Sorgfaltsmaßstab eines „ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters“ ab, sodass im Regelfall leichte Fahrlässigkeit ausreicht. Ein Verschulden des Insolvenzverwalters entfällt auch nicht automatisch bei Vorliegen der Zustimmung der Gläubigerversammlung, da hierin lediglich ein Indiz für die Erfüllung seiner Sorgfaltspflichten zu sehen ist. Bedient sich der Insolvenzverwalter der – nicht offensichtlich ungeeigneten – Angestellten des Schuldners, so haftet er für deren Fehler nur, wenn er diese Person nicht ordentlich überwacht bzw. wichtige Entscheidungen nicht selbst trifft (vgl. § 60 Abs. 2 InsO). Liegt eine haftungsbegründende Pflichtverletzung des Insolvenzverwalters vor, so haftet er für die Schäden, die adäquat kausal auf dieser Pflichtverletzung beruhen. Die Schadenshöhe wird dabei nach der sogenannten Differenzhypothese ermittelt, wonach die aufgrund der Pflichtverletzung eingetretene Güterlage mit der Güterlage verglichen wird, die ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre. 3.3 Geltendmachung des Haftungsschadens Die Geltendmachung eines Haftungsschadens richtet sich danach, ob es sich um einen Gesamtschaden i. S. v. § 92 InsO oder um einen nur dem Finanzamt entstandenen Schaden (Individualschaden) handelt. 3.3.1 Gesamtschaden Führt die Pflichtverletzung des Verwalters zu einer Schädigung aller Gläubiger (z. B. durch Verringerung der Insolvenzmasse), so bleibt die Geltendmachung eines Anspruchs auf Schadensersatz einem neu zu bestellenden Verwalter vorbehalten (vgl. § 92 Satz 2 InsO). Das Finanzamt muss in solchen Fällen auf die Entlassung des bisherigen Verwalters hinwirken (vgl. § 59 InsO). 3.3.2 Individualschaden Schäden, die nur dem Finanzamt durch Pflichtverletzungen des Insolvenzverwalters entstanden sind, müssen zivilrechtlich verfolgt werden, soweit kein Fall der Verletzung steuerrechtlicher Pflichten (s. Tz. 2) vorliegt. Denkbar wäre der Fall, dass der Verwalter Absonderungsrechte des Finanzamts nicht oder ungenügend beachtet. Zuständig für die klageweise Durchsetzung solcher Ansprüche ist das Justiziariat der OFD1. 3.4 Verjährung der Schadensersatzansprüche Die Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) beginnt gem. § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist und das Finanzamt von den haftungsbegründenden Tatsachen und der Person des Insolvenzverwalters Kenntnis erlangt. Grob fahrlässige Unkenntnis hinsichtlich des Haftungstatbestandes und der Person des Verwalters steht der Kenntnis gleich, wobei die Beweislast für die grob fahrlässige Unkenntnis des Finanzamtes dem Insolvenzverwalter obliegt (M. Wagner in ZIP 2005 S. 558 ff. Tz. II.2). Die Verjährungsfrist endet nach § 62 Satz 2 und 3 InsO allerdings spätestens drei Jahre nach Aufhebung oder Rechtskraft der Einstellung des Verfahrens bzw. drei 384

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Jahre nach Vollzug der Nachtragsverteilung (§ 203 InsO) oder der Beendigung der Planüberwachung gem. § 260 InsO bei diesbezüglichen Pflichtverletzungen. Hiervon unberührt bleiben die abgabenrechtlichen Verjährungsbestimmungen im Falle einer Haftung nach § 69 AO (s. Tz. 2). 4. Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters Die Haftungsvorschriften der §§ 60 bis 62 InsO gelten nach § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO grundsätzlich auch für die vorläufigen Insolvenzverwalter. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass deren Pflichtenkreis nach § 21 Abs. 2 InsO unterschiedlich ausgestaltet sein kann (vorläufiger „schwacher“ und „starker“ Insolvenzverwalter; vgl. Karte 4 Tz. 1.2). Eine steuerrechtliche Haftung (s. Tz. 2) kommt regelmäßig nur für einen vorläufigen „starken“ Insolvenzverwalter nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative InsO in Betracht, da nur dieser Vermögensverwalter des Schuldners i. S. d. § 34 Abs. 3 AO ist. Eine Haftung eines vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters könnte in Betracht kommen, wenn ihm vom Insolvenzgericht zusätzliche Befugnisse und Pflichten eingeräumt/auferlegt worden sind (z. B. Übertragung der Arbeitgeberfunktion auf den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter, der die Löhne an die Arbeitnehmer auszahlt, aber keine Lohnsteuer an das Finanzamt entrichtet).

Anhang 7 Anleitung zur Bearbeitung von Haftungsfällen; Haftungsleitfaden (OFD Frankfurt am Main v. 8.7.2013 – S 0370 A-15-St 23, juris) Vom Abdruck wird abgesehen.

Anhang 8 Haftung der Vertreter (OFD Frankfurt am Main v. 11.2.2013 – S 0190 A-1-St 23, juris) Vom Abdruck wird abgesehen.

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Anhang 9 ABC der Haftungsbegriffe Ablaufhemmung: Durch die Ablaufhemmung wird das Ende der Festsetzungsfrist hinausgeschoben. S. Rz. 9.38 Akzessorietät: Der Haftungsanspruch ist abhängig vom Bestehen der zugrunde liegenden Steuerschuld. Geht der Steueranspruch durch Zahlung, Aufrechnung oder durch Befriedigung im Wege der Zwangsvollstreckung unter, so erlischt auch die Haftungsschuld. Beispiel für die Bedeutung des Grundsatzes der Akzessorietät: Bei der gerichtlichen Überprüfung des Haftungsbescheides ist maßgeblich der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung. Wurden vorher Steueransprüche getilgt, für die jedoch eine Haftung im Einspruchsbescheid ausgesprochen wurde, so ist der Haftungsbescheid insoweit rechtwidrig. S. Rz. 9.59. Anfechtung: Von der Anfechtung nach § 119 BGB ist die Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz zu unterscheiden. Durch das Anfechtungsrecht nach dem Anfechtungsgesetz kann ein fremdes Rechtsgeschäft und nicht die eigene Willenserklärung angefochten werden. S. Rz. 7.1. Anfechtungsankündigung: Hierbei handelt es sich um ein Ankündigungsschreiben des Finanzamtes, eine Anfechtung in Zukunft vorzunehmen. Sie ist erforderlich, wenn noch keine zugrunde liegenden Abgabenforderungen festgesetzt worden sind und der Ablauf der Anfechtungsfristen droht. S. Rz. 7.37 u. 7.85. Anlaufhemmung: Durch die Anlaufhemmung wird der Beginn der Festsetzungsfrist hinausgeschoben. S. Rz. 9.37. Ausstellerhaftung: Die Ausstellerhaftung nach § 10b Abs. 4 Satz 2 1. Alt. EStG behandelt die Haftung des Ausstellers einer Spendenbescheinigung für die entgangene Steuer, wenn er grob fahrlässig oder vorsätzlich eine unrichtige Bestätigung ausgestellt hat. S. Rz. 5.68. Austausch der Haftungsgrundlage: Von einem Austausch der Haftungsgrundlage spricht man, wenn im Verwaltungs- bzw. Klageverfahren die Haftungsgrundlage (z.B. § 69 AO) durch eine andere ersetzt wird (z.B. § 71 AO). S. Rz. 10.11. Auswahlermessen: Im Rahmen des Auswahlermessens entscheidet die Behörde die Frage, ob der Betroffene und nicht ein anderer Haftungsschuldner oder Steuerschuldner in Anspruch genommen werden soll. S. Rz. 9.90. Duldung: Duldung bedeutet die Hinnahme der Vollstreckung im Hinblick auf bestimmte Gegenstände oder Mittel, die der Verwaltung durch eine Person unterliegen oder deren Eigentümer er ist. S. Rz. 6.1. Durchgriffshaftung: Der Begriff betrifft die Haftung der GmbH-Gesellschafter, die normalerweise nicht für Verbindlichkeiten der GmbH haften. Für Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet nämlich nach § 13 Abs. 2 GmbHG allein das Gesellschaftsvermögen. S. Rz. 2.296.

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Entrichtungsschuld: Neben dem Steuerschuldner gibt es den Entrichtungsschuldner. Hier handelt es sich um eine eigene Zahlungspflicht. Z.B. ist der Arbeitnehmer nach § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG Schuldner der Lohnsteuer. Der Arbeitgeber ist dagegen Entrichtungsschuldner. Er hat die Lohnsteuer nach § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG vom Gehalt des Arbeitnehmers einzubehalten, nach § 41a Abs. 1 Nr. 1 EStG beim Betriebsstättenfinanzamt anzumelden und nach Nr. 2 an das Finanzamt abzuführen. Entschließungsermessen: Im Rahmen des Entschließungsermessens entscheidet die Behörde die Frage, ob jemand überhaupt durch Verwaltungsakt in Anspruch genommen werden soll. S. Rz. 9.83. Ermessen: Der Haftungsbescheid und der Duldungsbescheid sind Ermessensentscheidungen. Das Finanzamt hat hier grundsätzlich einen Entscheidungspielraum. Es muss nicht wie bei einem Steuerbescheid den Verwaltungsakt erlassen. Es hat grundsätzlich die Möglichkeit, wenn die Voraussetzungen des Haftungstatbestandes bzw. Duldungstatbestandes vorliegen, von einer Inananspruchnahme abzusehen. Nimmt das Finanzamt gleichwohl den z.B. Haftungsschuldner mittels Haftungsbescheid in Anspruch, so muss es sachgerechte Erwägungen hierfür angestellt haben. Diese Erwägungen müssen auch im Haftungsbescheid offen gelegt werden, damit eine rechtliche Überprüfung erfolgen kann. Das Ermessen der Verwaltung erfolgt auf zwei Ebenen (Entschließungsermessen und Auswahlermessen). S. Rz. 9.80. Ermessensreduzierung auf null: Es gibt Fälle, in denen die Finanzbehörde grundsätzlich einen Ermessensspielraum hat, der jedoch im konkreten Fall auf null geschrumpft ist. Die Behörde hat dann quasi keinen Entscheidungspielraum. Es ist dann nur eine Entscheidung rechtmäßig. Der BFH spricht dann von einer Vorprägung der Ermessensentscheidung. So bedarf es in der Regel keiner Ermessensabwägung bei der Inanspruchnahme eines Steuerhinterziehers. S. Rz. 9.85. Existenzvernichtender Eingriff: Im Fall des existenzvernichtenden Eingriffs in das Haftungskapital einer GmbH kommt nach Auffassung des BGH eine Durchgriffshaftung des Gesellschafters in Betracht. S. Rz. 2.314. Grundsatz der anteiligen Tilgung: Ein Haftungsschuldner kann nur insoweit in Haftung genommen werden, als er den Fiskus gegenüber den anderen Gläubigern bei der Befriedigung der Forderungen benachteiligt hat (Grundsatz der anteiligen Tilgung). Die Ermittlung der Haftungssumme erfolgt hier durch eine Mittelverwendungsrechnung oder im Schätzungswege. Ergebnis der Berechnung oder Schätzung ist die Tilgungsquote. In Höhe dieser Rate wurden die Gläubiger des Steuerschuldners mit ihren Forderungen befriedigt. Der Grundsatz der anteiligen Tilgung gilt insbesondere nicht bei der Lohnsteuer, da es sich um Fremdgelder der Arbeitnehmer handelt, die treuhänderisch durch den Arbeitgeber verwaltet werden. Der Grundsatz gilt bei der Lohnsteuerhaftung jedoch wieder hinsichtlich der Nebenleistungen und für den Nachfolgegeschäftsführer. S. Rz. 2.65.

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Haftung: Haftung heißt grundsätzlich Einstehen des Haftungsschuldners für eine fremde Steuerschuld. Eine Ausnahme macht der BFH für den Fall, in dem die Steuerschuld und Zahlungsverpflichtung auseinanderfällt (z.B. Arbeitgeber ist Entrichtungsschuldner). Hier bedeutet Haftung auch Einstehen für eine eigene Schuld. S. Rz. 1.1. Haftungsankündigung: Bei der Ermittlung der Haftungsvoraussetzungen richtet sich die Finanzbehörde mit einem Auskunftsersuchen an den potentiellen Haftungsschuldner, in dem sie bereits ankündigt den Adressaten in Haftung zu nehmen. Sie kommt damit gleichzeitig dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach. S. Rz. 8.10. Haftungsbescheid: Haftungsschulden werden mittels Haftungsbescheid nach § 191 AO geltend gemacht. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung. Für diesen Verwaltungsakt, der kein Steuerbescheid ist, gelten grundsätzlich nicht die Vorschriften über die Steuerfestsetzung. Für den Haftungsbescheid gelten stattdessen die Vorschriften nach §§ 118 ff. AO insbesondere die Regelungen nach § 129 ff. AO. S. Rz. 11.1. Haftungsschuldner: Der Haftungsschuldner ist vom Steuerschuldner abzugrenzen. Während der Steuerschuldner (z.B. die GmbH) durch Steuerbescheid in Anspruch genommen wird, erfolgt die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners (z.B. Geschäftsführer der GmbH) durch Haftungsbescheid. Grundsätzlich ist Haftungsschuldner nur jemand, der für eine fremde Schuld (= Steuerschuld) einzustehen hat. S. Rz. 1.1. Innenhaftung: Damit ist die Haftung des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft gemeint. Isolierte Anfechtung: Von einer isolierten Anfechtung spricht man, wenn im Klageverfahren allein die Einspruchsentscheidung angefochten werden soll. S. Rz. 10.18. Mittelverwendungsrechnung: Mit Hilfe der Mittelverwendungsrechnung wird die Tilgungsquote ermittelt. Hierzu wird zunächst der Haftungszeitraum ermittelt. Er beginnt grundsätzlich mit dem Tag der Fälligkeit der ältesten rückständigen Forderung und endet in dem Zeitpunkt, in dem der Steuerpflichtige zahlungsunfähig geworden ist. Für diesen Zeitraum werden im ersten Schritt zunächst die gesamten Forderungen ermittelt. Dieser Summe werden die gesamten Tilgungen in diesem Zeitraum gegenübergestellt. Das Verhältnis dieser Beträge ergibt die Tilgungsquote, die auf die gesamten Abgabenforderungen angewandt wird. Der so ermittelte Betrag (= Betrag der Abgaben, der an das Finanzamt hätte abgeführt werden müssen) wird um die gezahlten Abgaben reduziert. Das Ergebnis ist dann die Haftungsumme, für den der Haftungsschuldner einzustehen hat. Verschiedene Oberfinanzdirektionen haben für diese Berechnung Rechnungsschemata entwickelt. Streitig ist u.a. dabei die Berücksichtigung der Lohnsteuer, die für den Steuerschuldner nicht disponibel ist. S. Rz. 2.97. Nachforderungsbescheid: Wird pauschale Lohnsteuer nacherhoben, so geschieht dies durch einen Nachforderungsbescheid gegen den Arbeitgeber, der ein Steuerbescheid ist (s. § 40 Abs. 1 EStG). S. Rz. 2.184.

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Nachhaftungsbeschränkung: Scheidet ein Gesellschafter aus, so ist seine zivilrechtliche Haftung zeitlich beschränkt (= Nachhaftungsbeschränkung). S. Rz. 2.273, 2.281, 2.290. Organschaft: In § 73 AO ist die Haftung der Organgesellschaft für Steuern des Organträgers geregelt. S. Rz. 5.6. Sachhaftung: Die Sachhaftung nach § 76 AO behandelt das Pfandrecht an beweglichen Sachen. S. Rz. 5.1. Sammelhaftungsbescheid: Werden mehrere Haftungsansprüche in einem Haftungsbescheid erfasst, spricht man von einem Sammelhaftungsbescheid. Rechtlich handelt es sich aber um einzelne Verwaltungsakte (z.B. bei einem Lohnsteuerhaftungsbescheid gibt es so viele Verwaltungsakte wie es nach dem Haftungsbescheid einzelne Lohnsteueransprüche gegen die einzelnen Arbeitnehmer gibt). Wird mit einen Einspruch nur ein bestimmter Haftungsanspruch angefochten, so erwachsen die nicht angegriffenen Haftungsansprüche in Bestandskraft. Im Zweifel erstreckt sich aber der Einspruch auf den gesamten Haftungsbescheid. S. Rz. 9.26. Schätzung der Tilgungsquote: Ist die Erstellung einer Mittelverwendungsrechnung nicht möglich, so hat das Finanzamt die Tilgungsquote zu schätzen. Die vorhandenen und ermittelten Erkenntnisse sind dabei zu berücksichtigen. Da kurz vor der Insolvenz in der Regel auch die anderen Gläubiger nicht voll befriedigt werden, ist eine Schätzung der Tilgungsquote unterhalb von 100 v.H angezeigt. Sind keine weiteren Erkenntnisse vorhanden dürfte eine Tilgungsquote von z.B. 50 v.H. bzw. 70 v.H. nicht zu beanstanden sein. S. Rz. 2.109. Sequester: Der Sequester ist der durch das Konkursgericht bestellte vorläufige Verwalter des Vermögens des Gemeinschuldners. Er wurde nach Stellung des Antrags auf Eröffnung des Konkurses durch das Konkursgericht bestellt. Seit 1999 übernimmt diese Rolle der vorläufige Insolvenzverwalter nach der InsO. Sphärenvermischung: Eine Durchgriffshaftung des Gesellschafters einer GmbH wird angenommen, wenn eine generelle Sphärenvermischung/Vermögensvermischung zwischen Gesellschaftsvermögen und Privatvermögen vorliegt. S. Rz. 2.312. Tilgungsquote: Die Tilgungsquote spiegelt den Anteil der Forderungen des Steuerpflichtigen wieder, der allgemein getilgt wurde. Es sind bei der Ermittlung alle Forderungen den gesamten Tilgungen in einem bestimmten Zeitraum (Haftungszeitraum) gegenüberzustellen. Die Tilgungsquote wird dann auf die im Haftungszeitraum zu entrichtenden Abgaben angewandt. Von der so ermittelten Summe der Abgaben sind dann die gezahlten Abgaben abzuziehen. Das Ergebnis ist die Haftungssumme. Die Ermittlung der Haftungssumme erfolgt durch eine Mittelverwendungsrechnung oder im Schätzungswege. S. Rz. 2.97. Unterbilanzhaftung: Die Gesellschafter haften im Innenverhältnis gegenüber der GmbH für Forderungen aus der Zeit der Vor-GmbH. S. Rz. 2.269. Unterkapitalisierung: Als einen Fall der Durchgriffshaftung des Gesellschafters einer GmbH wird der Fall angesehen, dass eine Gesellschaft mit völlig unzureichendem Eigenkapital im Hinblick auf den Zweck der Gesellschaft ausgestattet

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wird. Der BGH und das BAG begegnen der Durchgriffshaftung in diesen Fällen mit Zurückhaltung. S. Rz. 2.313. Veranlasserhaftung: Die Veranlasserhaftung nach § 10b Abs. 4 Satz 2 2. Alt. EStG behandelt die Haftung desjenigen, der eine zweckwidrige Verwendung der Spenden veranlasst hat. S. Rz. 5.70. Verlustdeckungshaftung: Sie besteht im Innenverhältnis gegenüber der VorGmbH, wenn sie nicht zur Eintragung gelangt ist. S. Rz. 2.296. Vorprägung des Ermessens: s. Ermessensreduzierung auf null.

390

Stichwortverzeichnis Die Zahlen verweisen auf die Randziffern.

Abberufung des Geschäftsführers 2.51 Absichtsanfechtung s. Anfechtung Abtretung von Forderungen – Haftung 5.97 Abwickler (Liquidator) 2.17 Abzugssteuern 3.46 Adäquanztheorie 2.121 Akteneinsicht 8.12 Aktiengesellschaft 2.324 Akzessorietät s. Haftung Amtsniederlegung 2.51 Änderung s. Haftungsbescheid Anfechtung nach AnfG – Abgrenzung zum Konkurs- bzw. Insolvenzverfahren 7.3, 7.31 – Absichtsanfechtung 2.94 – Anfechtungsankündigung 7.37, 7.85 – Anfechtungstatbestände 7.32 – Duldungsbescheid 7.73 – Einrede 7.74 – entgeltliche Übertragungen 7.48 – Gläubigerbenachteiligung 7.23 – nichteheliche Lebensgemeinschaft 7.50 – objektive Benachteiligung des Gläubigers 7.23 – Rechtshandlung 7.8 – unentgeltliche Leistung 7.51 – Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens 7.22 – vollstreckbarer Anspruch 7.19 – vorsätzliche Benachteiligung 7.41 Anhörung – der Berufskammer 9.54 – Muster M1 Anscheinsbeweis 2.196 Anwartschaftsrecht 7.11 Anzeige nach § 38 Abs. 4 S. 2 EStG 2.214 Arbeitgeber – Haftung 2.182

Aufrechnung 2.119 Aufsichtsratsvergütung 5.79 Ausschüttung an Anteilseigner 2.82 Aussetzung der Vollziehung 2.46, 2.118, 10.20 Ausstellerhaftung 5.68 Austausch der Haftungsgrundlage 10.11 Auswahlermessen s. Ermessen

Bagatellgrenze 2.227 Banken 2.36 Bauleistungen – Haftung des Leistungsempfängers 5.133 Beiladung des Haftungsschuldners 10.20 Berichtigung des Haftungsbescheids 11.3 Berichtigungspflicht 2.58 Berufskammer – Anhörung 9.54 Beschlagnahme 5.4 Beschränkungen der Haftung – gegenständliche 3.57 Beschwer 9.9 Bestellung des Geschäftsführers 2.50 Bestimmtheit – des Duldungsbescheids 7.77 – des Haftungsbescheids 9.17 Betreuer 2.15 Betrieb – gesondert geführter 3.7 – lebender 3.27 Betriebsaufspaltung 5.38 Betriebssteuern 3.44, Anh. 4 Betriebsübernehmer 3.1 Beweislast 2.67, 2.109 BGB-Gesellschaft 2.258 Biersteuer 3.45 391

Stichwortverzeichnis

Datenübermittlung 5.138 Deckungsgeschäft – inkongruentes 7.41 Doppelverpflichtungstheorie 2.259 Dreiwochenzeitraum 2.160 Dritte – Pflichtverletzung 2.60 Drittwirkung der Steuerfestsetzung 9.62, Anh. 1 Drittzahlung 2.221 Duldung – Begriff 1.2 Duldungsbescheid 7.73 Duldungspflicht 6.3 Durchgriffshaftung 2.296, 2.308 Eigentum – bürgerlich-rechtliches 3.14 – wirtschaftliches 3.14 Eigentümer – von Gegenständen 5.19 Eigentumsvorbehalt 3.17 Einfuhrabgaben 2.89 Einheitstheorie 2.259 Einmann-Geschäftsführer 2.51 Einmann-GmbH 2.30 Einrede der Dürftigkeit des Nachlasses 3.111 Einspruch 9.1 – Begründetheit 9.15 – Beschwer 9.9 – Einspruchsverzicht 9.13 – Form 9.3 – Frist 9.4 – Muster M3 – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 9.8 – Zulässigkeit 9.1 Einwendungen – des Haftenden s. Haftungsbescheid Eltern 2.12 Englische „private limited company“ 2.337 Entschließungsermessen s. Ermessen Erben – Haftung 3.95, 3.103 392

Erbschaftskauf 3.116 Erbschaftsteuer – Haftung 3.104 Ergänzender Haftungsbescheid 10.14 Erhebungsverfahren 12.1 Ermessen – Auswahlermessen 9.90, 9.103 – Entschließungsermessen 9.83 – Kapitalertragsteuer 9.106 – Lohnsteuerhaftung 9.98 – Mitverschulden des FA 9.87 – Nachfolgegeschäftsführer 9.93 – Textbaustein 2.226 – Vorprägung des Ermessens 5.62, 9.85, 9.90 Ermessensentscheidung 9.80 – Darstellung 9.94 – Zeitpunkt der Prüfung 10.19 Ermessensergänzung 10.17 Ermessensreduzierung auf null 9.85 Ermittlung der Haftungsvoraussetzungen 8.2 Erwerb – aus Insolvenzmasse 3.36 – im Vollstreckungsverfahren 3.37 Existenzvernichtender Eingriff 2.314

Fahrlässigkeit – grobe 2.132 Fahrtenbuch 2.212 Faktischer Geschäftsführer 2.32 Festsetzungsverjährung 9.33 – Ablaufhemmung 9.38 – Anlaufhemmung 9.37 – privatrechtliche Verjährungsvorschriften 9.50 Festsetzungszeitraum 3.52 Gegenstände – Haftung des Eigentümers 5.19 Gehör, rechtliches 8.10 Generalbevollmächtigter 2.30 Genossenschaft 2.336 Geschäftsführer – faktischer 2.32 – Haftung 2.4

Stichwortverzeichnis

Gesellschaft – stille 2.326 Gesellschafter – der BGB-Gesellschaft 2.258 – der GmbH 2.292 – der KG 2.285 – der OHG 2.278 Gesetzlicher Vertreter 2.10 – Betreuer 2.15 – Eltern 2.12 – Geschäftsführer 2.17 – Liquidator 2.17 – Pfleger 2.14 – Vormund 2.13 – Vorsitzender eines Vereins 2.17 – Vorstand 2.17 Gewinnabführungsvertrag 5.8 Gläubigerbenachteiligung s. Anfechtung Globalzession 2.90, 5.101 GmbH – Durchgriffshaftung s. dort – Geschäftsführerhaftung s. dort – Gesellschafterhaftung s. dort – Mantel 2.301 GmbH & Co. KG 2.22 Grundbesitzer – Duldungspflicht 6.3 Grundsatz der anteiligen Tilgung 2.65 Gründungsgesellschaft 2.295

Haftung – – – – – – – – – – – – –

Akzessorietät 9.59 Arten 1.5, 1.6 Begriff 1.1 Betriebsübernehmer s. dort deliktische Haftung 2.175 durch Unterlassen 2.44 Geltendmachung 8.1 Gesellschafter der BGB-Gesellschaft 2.258 Gesellschafter der GmbH 2.292 Gesellschafter der KG 2.285 Gesellschafter der OHG 2.278 Haftungsankündigung s. dort nach Insolvenzreife s. dort

– nach privatrechtlichen Gesetzen 1.4 – nach Rechtsscheinsgrundsätzen 3.119 – nach Steuergesetzen 1.4 – persönliche 1.5 – unmittelbarer Schaden 2.41 – Unterscheidung zwischen unbeschränkter und beschränkter 1.6, 1.7 Haftungsankündigung 8.10 Haftungsausschluss 3.34 Haftungsbescheid – Änderung 10.2 – Aufhebung 10.6 – Bestimmheit s. dort – Einspruch gegen - M3 – Festsetzungsverjährung 9.33, 10.6 – Form 9.23 – Inhalt 9.24 – Korrektur Anh. 5 – Muster M2 – nichtiger 9.24 – rechtmäßiger 11.20 – rechtswidriger 9.24, 9.25, 11.10 – Vorbehalt – wirksamer 9.24 Haftungsumfang – § 69 AO 2.163 Haftungszeitraum 2.92, 2.98 Handelndenhaftung 2.173, 2.305 Handelsgeschäft – Erwerb vom Insolvenzverwalter 3.73 – Erwerb vom vorläufigen Insolvenzverwalter 3.73 – Fortführung der Firma 3.78 – Fortführung des Handelsgeschäfts 3.75 – Haftung des Erwerbers 3.69 – Stilllegung 3.75 Handelsgesellschaft 2.278 Hinterziehungszinsen 5.62

Innenhaftung

2.308 Insolvenz – Haftung 4.1, Anh. 6

393

Stichwortverzeichnis

– vorläufiger Insolvenzverwalter 4.4 Insolvenzplan 9.59 Insolvenzreife – Haftung nach Insolvenzreife 2.84 Insolvenzverwalter – Haftung – des Insolvenzverwalters 4.13 – des vorläufigen Insolvenzverwalters 4.4 Isolierte Anfechtungsklage 10.18

Kapitalertragsteuer 2.81 Kapitalgesellschaft 2.292 Karussellgeschäfte – Haftung 5.120 Kausalität 2.121 – Anfechtungsmöglichkeit des Insolvenzverwalters 2.130 – hypothetische Kausalität 2.128 – überholende Kausalität 2.128 Klage 10.1 – Änderung des Haftungsbescheids während des Klageverfahrens 10.2 – Austausch der Haftungsgrundlage 10.11 – Prozesskostenhilfe 10.22 – Reichweite der Ablaufhemmung 10.6 Kommanditgesellschaft 2.285 Kommanditgesellschaft auf Aktien 2.325 Kommanditist 2.287 Komplementär 2.286 Kontenwahrheit 5.52 Konto 5.52 Kontoinhaber 5.52 Korrektur des Haftungs- und Duldungsbescheids 11.1 Leasing – Haftung 5.109 Lebenssachverhalt 10.11 Limited 2.337 Liquidation 2.315 Liquidator 2.17, 2.26 Lohnbuchhalter 2.30

394

Lohnsteuer – volle Haftung 2.73 Lohnsteuerhaftung 2.73, 2.182

Mietkauf – Haftung 5.109 Minderjährige – Schutz 3.114 Missbrauch der Rechtsform GmbH 2.311 Mittelverwendungsrechnung 2.97 – Gewerbesteuer 2.103 – Lohnsteuer 2.101 – Schätzung der Tilgungsquote 2.109 – Schema 2.104 – Tilgungsvordringlichkeit 2.101, 2.106 Mittelvorsorge – Beweislast 2.66 – Mittelvorsorgepflicht 2.84, 2.87 – während laufendem AdV-Verfahren 2.118 Mitunternehmerinitiative 2.269 Mitunternehmerrisiko 2.269 Mitverschulden des Finanzamts – Prüfung im Ermessen 9.87 – Prüfung im Tatbestand 2.160 MoMIG 2.319 Nachfolgegeschäftsführer

2.159, 9.93 Nachforderungsbescheid 2.184 Nachhaftung 2.273 Nachlass – Dürftigkeit 3.111 – Nachlassverwalter 2.26 – Verwaltung 3.110 Nachlassinsolvenz 3.109 Nachlasspfleger 3.109 Nachlassverbindlichkeiten 3.103 Nebenleistungen – steuerliche 3.40 Nettolohnvereinbarung 2.188 Nichterfüllung der Steueransprüche 2.45

Stichwortverzeichnis

Nichtfestsetzung 2.43 Niederlegung des Geschäftsführeramtes 2.51

Offene Handelsgesellschaft Organgesellschaft 5.6 Organschaft – Haftung 5.6 Organträger 5.6

2.278

Partnerschaftsgesellschaft

2.257 Pauschalierte Lohnsteuer 2.80, 2.183 Personengesellschaft 2.258 Pfleger 2.14 Pflicht zur quotenmäßigen Befriedigung 2.65, 2.91 Pflichtenkollision 2.160 Pflichtverletzung – Formen 2.54 – „private limited company“ 2.337 – Zeitraum 2.50 Privatnutzung betrieblicher Pkws 2.196 Privatvermögen, Lohnzahlung aus 2.56 Prokurist 2.30 – Verschulden 2.153 Prozesskostenhilfe 10.22

Rechtsanwälte 2.143 Rechtsbehelfe s. Einspruch Rechtshandlung i.S.d. AnfG 7.8 Rechtsscheinhaftung 3.119 Restschuldbefreiung 4.23 Rücknahme 11.10 – Festsetzungsfrist 11.19 Sachhaftung 5.1 Sachverhaltsermittlung Anh. 3 Sammelhaftungsbescheid 9.26 Säumniszuschläge – auf Haftungsschulden 12.3 – Haftungsumfang 2.163 – Schaden 2.39 Schadensersatzcharakter 2.5 Schätzung der Tilgungsquote 2.109 – Schätzungsfehler 2.112

Schuldbeitritt 3.81 Schutzgesetz 2.177 Sicherungsnehmer 2.36 Sicherungsübereignung 3.17 Sparkassenvorstand 2.17 Spendenbescheinigung – Haftung des Ausstellers 5.68 Spendenhaftung 5.66 Sperrwirkung des § 93 InsO 2.23, 2.24 Sphärenmischung 2.312 Steuerabzug – beschränkt Steuerpflichtiger 5.79 Steuerabzugsbeträge s. Abzugssteuern Steuerberater – Verschulden 2.143 Steuerhehlerei 5.56 Steuerhinterziehung – Anstifter 5.59 – Beihilfe 5.59 – Haftung 5.56 Stille Gesellschaft 2.326 Stilllegung 3.28 Strafbares Handeln des Steuerberaters 2.145 Strafverfahren – und Haftungsbescheid 5.61 Strohmann 2.18 Stundung 2.119 Surrogat 3.57, 5.45

Tabaksteuer

3.45 Teilbetrieb 3.11 Teilnahme 5.59 Testamentsvollstrecker 2.26 Tilgungsquote 2.97 – Schätzung 2.109 Treuhänder 2.30

Übereignung – Begriff 3.14 – eines Unternehmens oder Betriebs 3.27 Überwachungspflicht 2.140 UG 2.337 395

Stichwortverzeichnis

Umsatzsteuer – Haftung bei Abtretung von Forderungen 5.97 – Haftung bei Karussellgeschäfte 5.120 – Haftung bei Mietkauf/Leasing 5.109 Unrichtigkeit – offenbare 11.3 Unterbilanzhaftung 2.296 Unterkapitalisierung 2.313 Unternehmen – Begriff 3.7 – lebendes 3.27 Unternehmergesellschaft (UG) 2.337 Ursächlichkeit der Pflichtverletzung 2.121 – Anfechtungsmöglichkeit des Insolvenzverwalters 2.130 – hypothetische Kausalität 2.128 – überholende Kausalität 2.128

Veranlasserhaftung 5.70 Verbraucherinsolvenzverfahren 4.23 Verbrauchsteuern 3.45, 3.48 Verein – Haftung 2.329 – Mitglieder 2.329 – Vorsitzender 2.17 – Vorstand 2.17 – nichtrechtsfähiger 2.330 – rechtsfähiger 2.331 Verfügungsberechtigter 2.27 Verjährung – privatrechtlicher Haftungsansprüche 2.274, 2.283, 9.50 – steuerrechtliche Haftungsansprüche 9.33 Vermögensmasse 2.25 Vermögensverwalter 2.26 Verpflichtungsgrund – besonderer 3.102, 3.84 Verrechnungsantrag 2.119 Verschulden 2.132 – angestellte Mitarbeiter 2.140 – mehrere Vertreter 2.149 – Mitverschulden s. dort 396

– Nachfolgegeschäftsführer 2.159 – Prokuristen 2.153 – steuerlicher Berater 2.143 – Strohmann 2.152 – Vereinsvertreter 2.157 Verspätungszuschlag 2.39 – Haftungsumfang 2.163 Vertreter – gesetzlicher 2.10 – Haftung 2.10, Anh. 8 Verwalter 2.26 – Duldungspflicht 6.4 Verwirkung – des Haftungsanspruchs 9.79 Vollziehung – Aussetzung der 2.118 Vorbehalt der Nachprüfung 9.68, 9.71 Vorgesellschaft 2.295 – „echte“ 2.296 – „unechte“ 2.303 – Unterbilanzhaftung 2.296 – Verlustdeckungshaftung 2.296 – Vorbelastungshaftung 2.296 Vor-GmbH s. Vorgesellschaft Vorgründungsgesellschaft 2.293 Vorgründungsverein 2.331 Vormund 2.13 Vorprägung des Ermessens s. Ermessen Vorsatz 2.134 – bedingter 2.135 Vorsitzender eines Vereins 2.17 Vorstand 2.17 Vorverein 2.332

Wahlfeststellung

5.59 Widerruf 11.20 – Festsetzungsfrist 11.23 Widerruf der Bestellung als Geschäftsführer 2.51 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 9.8

Zahlung auf Haftungsschuld/ Steuerschuld 11.11 Zahlung der Löhne aus Privatvermögen 2.56

Stichwortverzeichnis

Zahlungsaufforderung 12.1 Zahlungsverjährung 9.59, 12.6 Zahlungsvordringlichkeit 2.106 Zeitraum – der Pflichtverletzung 2.50 Zinsen 2.39

Zölle 2.89 Zuwendung – entgeltlich u. unentgeltlich 7.88 Zwangsgeld 2.39, 8.6 Zwangsverwalter 2.26

397