Steuerrechtsschutz [4. neu bearbeitete Auflage] 9783504384913

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German Pages 670 Year 2017

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Steuerrechtsschutz [4. neu bearbeitete Auflage]
 9783504384913

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Schaumburg/Hendricks

Steuerrechtsschutz

Steuerrechtsschutz von

Prof. Dr. Heide Schaumburg Vizepräsidentin des Finanzgerichts a.D. Honorarprofessorin an der Universität Siegen und

Prof. Dr. Michael Hendricks Rechtsanwalt und Steuerberater Honorarprofessor an der Universität Passau

4. neu bearbeitete Auflage

2018

Die 1. Auflage (1997) und 2. Auflage (2001) erschienen im Stollfuß Verlag, Bonn/Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-16567-3 ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Nur derjenige kann sein Recht effektiv durchsetzen oder seinen Mandanten professionell vertreten, der die verfahrensrechtlichen Spielregeln beherrscht. Das Handbuch wendet sich deshalb an jeden, der mit steuerlichem Verfahrensrecht zu tun hat, sei es in Verfahren vor dem Finanzamt oder Finanzgericht, dem Bundesfinanzhof, dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof. Es erläutert die Grundlagen, will das als spröde geltende Verfahrensrecht transparent und handhabbar machen und soll als Nachschlagewerk zahlreiche Hilfestellungen für die Lösung praktisch wichtiger Fragen verfahrensrechtlicher Art geben. In den letzten Jahren ist das steuerliche Verfahrensrecht wiederum, zuletzt durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.7.2016 oder das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 23.6.2017, etlichen Änderungen unterworfen worden. Die damit verbundenen Neuregelungen und die immer umfangreicher werdende Rechtsprechung zu verfahrensrechtlichen Fragen sowie die weiter zunehmende Bedeutung von internationalen Rechtsbehelfen haben eine vollständig überarbeitete und erheblich erweiterte Neuauflage erforderlich gemacht. Dabei sind die gesetzlichen Neuerungen, die teilweise erst am 1.1.2018 in Kraft treten, sowie die neueste Rechtsprechung berücksichtigt worden. Das Werk ist erweitert worden um eine ausführliche Einführung, die einen Schnelleinstieg in die Materie ermöglichen soll, um ein Kapitel zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, um eine Zusammenstellung von praxisrelevanten Mängeln im finanzgerichtlichen Verfahren und um ein Kapitel, das internationale Verfahren betrifft. Auch die übrigen Kapitel sind erheblich erweitert und der teilweise neuen Rechtslage angepasst worden. Den Autoren war wie bisher daran gelegen, den Umfang des Buches für den Praktiker überschaubar zu halten. Wir haben uns deshalb weiterhin auf eine kurze Darstellung der einzelnen verfahrensrechtlichen Problembereiche beschränkt und bewusst keine wissenschaftlich vertiefte Abhandlung der vielfältigen Probleme verfasst. Insoweit muss auf die einschlägigen Kommentare und Monographien verwiesen werden. Bei den in diesem Buch verwendeten Mustern handelt es sich um standardisierte Fälle. Jeder tatsächliche Fall enthält Besonderheiten. Die Verwendung der Muster entbindet daher nicht von einer sorgfältigen steuerlichen und rechtlichen Prüfung in jedem Einzelfall. Sowohl der zeitliche Abstand zur Vorauflage als auch inhaltliche Ergänzungen haben zu einer Veränderung des Autorenteams geführt. Als neuer Mitautor konnte Michael Hendricks gewonnen werden. Ausgeschieden ist der Gründungsautor Jürgen Schmidt-Troje. Ihm danken die Autoren und der Verlag für seine Mitwirkung an den Vorauflagen. Wir danken allen Mitarbeitern des Verlags, die an der Erstellung des Handbuchs mitgewirkt haben. Unser besonderer Dank gilt Frau Dr. Sabine Kick, die die Erstellung der 4. Auflage als Ansprechpartnerin begleitet und zahlreiche wertvolle Ideen beigesteuert hat. Bonn, im November 2017

Heide Schaumburg und Michael Hendricks

V

Inhaltsübersicht Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V XV XVII

Kapitel 1 Einführung A. B. I. II. III. IV. V. VI. C. I. II. III.

Steuerrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxisüberblick über die wichtigsten förmlichen Rechtsbehelfe Einspruchsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzgerichtliches Klageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren vor dem Bundesfinanzhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anrufung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsschutz beim Europäischen Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . Rechtsschutz gegen internationale Doppelbesteuerung . . . . . . . . Entscheidungsparameter und Einzelabwägung . . . . . . . . . . . . Motive für die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . Erwägungen gegen die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe . . . . . Abwägung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14 14 15 70 73 73 73 75 76 77 78

Kapitel 2 Rechtsschutz bei der Finanzbehörde A. I. II. III. B. I. II. III. IV. V. C.

Förmliche Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtförmliche Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antrag auf schlichte Änderung des Steuerbescheids . . . . Petition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufsichtsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Amtshaftungsansprüche gegen das Finanzamt .

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VII

Inhaltsübersicht

Kapitel 3 Rechtsschutz vor dem Finanzgericht Seite

A. I. II. III. B. I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. C. I. II. III. IV. V. D. E. I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. F. I. II. III. IV.

VIII

Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klageziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweckmäßigkeit einer Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form und Inhalt der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebung der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezeichnung des Klägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezeichnung des Beklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streitgegenstand und Klagebegehren . . . . . . . . . . . . . . Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung . . . . . . . . Klageantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagebegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfechtungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verpflichtungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Leistungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ABC der Klagemöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage . . . . . . . . Rechtsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligtenfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozess- und Postulationsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessbevollmächtigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsschutzinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Durchführung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . Die Spruchkörper und ihre Mitglieder . . . . . . . . . . . . . Amtsermittlungsprinzip/Untersuchungsgrundsatz . . . . . Vorbereitung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . Stillstand des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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85 85 87 90 94 94 95 103 106 108 110 115 116 121 123 123 124 127 128 129 135 150 150 158 165 167 174 188 188 197 217 217 225 243 259

Inhaltsübersicht Seite

V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. G. I. II. III. H. J. K. I. II. III. L. I. II. III. IV. V. VI. VII.

Beiladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzicht auf mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren nach billigem Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Selbständiges Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Eidliche Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Streitbeilegung im Güteverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urteilsberichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tatbestandsberichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urteilsergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederaufnahme des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussetzung der Vollziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstweilige Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . . . Beteiligungsmängel (Verletzung der Pflicht zur notwendigen Beiladung) Mängel in der Sachaufklärungsphase (Sachaufklärungsmängel) . . . . . . Mängel in Bezug auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung . . Mängel bei der Überzeugungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mängel in der Urteilserlassphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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265 271 320 322 323 340 342 342 343 343 345 347 348 351 353 353 354 379 386 386 388 391 393 396 403 410

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414 414 415 416 416 416 417

Kapitel 4 Verfahren vor dem Bundesfinanzhof A. I. II. B. I. II. III.

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Bundesfinanzhofs . Vertretungszwang . . . . . . . . . . . Revisionsverfahren . . . . . . . . . . Ziel und praktische Bedeutung . . Gegenstand einer Revision . . . . . Zulassungserfordernis . . . . . . . .

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IX

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IV. V. VI. VII. C. I. II. III. IV. D. I. II. III.

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Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund und praktische Bedeutung der Anhörungsrüge . . . . . Relevante Fallgruppen eines Gehörsverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . Zulässigkeit der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statthaftigkeit der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form, Frist und Inhalt der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründetheit der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gang des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde . . . . Anhörungsrügeverfahren vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde Parallele Verfahren bei möglicherweise unzulässiger Anhörungsrüge

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471 471 472 474 474 476 477 477 478 478 479

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481 482 482 484 491

Einlegung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . Begründung der Revision . . . . . . . . . . . . . Revisionserwiderung . . . . . . . . . . . . . . . . Weiteres Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren . . . . Ziel und praktische Bedeutung . . . . . . . . . . Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde . . Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Weiteres Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Statthaftigkeit und praktische Bedeutung . . . Einlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiteres Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 5 Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO) A. I. II. B. I. II. C. D. E. I. II.

Kapitel 6 Anrufung des Bundesverfassungsgerichts A. B. I. II. III.

X

Bedeutung und Organisation des Bundesverfassungsgerichts Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . .

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C. I. II. D.

Konkrete Normenkontrolle Verfahren . . . . . . . . . . . . Entscheidung . . . . . . . . . . Einstweiliger Rechtsschutz

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Kapitel 7 Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof A. I. II. III. IV. B. I. II. III. IV.

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499 499 502 503 504 504 505 506 506 508

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen internationaler Doppelbesteuerung . . . . . . . . . . Notwendigkeit internationaler Verfahren . . . . . . . . . . . . . Internationale Verständigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen und Durchführungsbestimmungen . . . . . Ablauf eines Verständigungsverfahrens im Überblick . . . . . . Antrag auf Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung über den Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenstaatliches Verständigungsverfahren . . . . . . . . . . . Innerstaatliche Umsetzung der Verständigungsvereinbarung . Kosten und Gebühren des Verständigungsverfahrens . . . . . . Scheitern einer zwischenstaatlichen Verständigung . . . . . . . Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren nach der EU-Schiedskonvention . . . . . . . . . . . .

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514 514 515 517 517 518 518 523 524 528 529 529 530 530 533

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . Besetzung des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrenssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . Vorlageberechtigung und Vorlageverpflichtung . . . . . . Verhältnis von Ausgangsverfahren und Vorlageverfahren Rechtsschutzmöglichkeiten bei Nichtvorlage . . . . . . . . Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 8 Internationale Verfahren A. I. II. B. I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. C. I. II.

XI

Inhaltsübersicht Seite

D. I. II. III.

Abwägung zwischen den verschiedenen verfahrensrechtlichen Optionen Überblick über die einzelnen Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwägungskriterien für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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549 549 550 551

Kapitel 9 Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren A. I. II. III. IV. V. B. I. II.

Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufteilungsbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . Einstweilige Einstellung der Vollstreckung . Aussetzung der Verwertung . . . . . . . . . . . Pfändungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . Rechtsschutz im Insolvenzverfahren . . . . Insolvenzantrag des Finanzamtes . . . . . . . Eröffnung des Insolvenzverfahrens . . . . . .

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553 553 554 555 559 559 566 567 568

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575 575 576 577 577 584 585 587 587 588 589 591

Kapitel 10 Kosten des Rechtsstreits A. I. II. B. I. II. C. D. I. II. III. IV.

XII

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kostengrundentscheidung . . . . . . . . . . . Überblick über die Kosten des Verfahrens . Kostentatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren vor dem Finanzgericht . . . . . . Verfahren vor dem Bundesfinanzhof . . . . Streitwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung . . Persönliche Voraussetzungen . . . . . . . . . Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsübersicht

Kapitel 11 Musterschriftsätze Seite

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593

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594 595 596 597 598 599 601 603 605 606 607 608 610 612 614 616 618 619 621 622 624 628

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

629

M 1 Vorsorgliche Einspruchseinlegung zur Fristwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . M 2 Verspätete Einspruchseinlegung – Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 3 Einspruchseinlegung mit Begründung und AdV-Antrag . . . . . . . . . . . . . . M 4 Klageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 5 Aufhebungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 6 Aufhebungsklage – Aufhebung der Einspruchsentscheidung . . . . . . . . . . . M 7 Änderungsklage – Herabsetzung der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . M 8 Verpflichtungsklage – Erlass eines Änderungsbescheids . . . . . . . . . . . . . . . M 9 Verpflichtungsklage – Erlass von Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 10 Allgemeine Leistungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 11 Feststellungsklage – Feststellung der Nichtigkeit eines Bescheids . . . . . . . . M 12 Fortsetzungsfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 13 Sprungklage bei Anfechtungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 14 Untätigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 15 Aussetzung (Aufhebung) der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheids M 16 Einstweilige Anordnung – Einstweilige Einstellung der Vollstreckung . . . . . M 17 Einstweilige Anordnung gegen Insolvenzantrag des Finanzamts . . . . . . . . . M 18 Einlegung der Revision (ohne Begründung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 19 Revisionsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 20 Einlegung Nichtzulassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 21 Nichtzulassungsbeschwerdebegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 22 Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M 23 Schriftliche Erklärung in einem Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . .

XIII

Ausgewählte Literatur I. Kommentare Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 76. Aufl. München 2018 Beermann/Gosch, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, Loseblattsammlung, Bonn/Berlin Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, GKG/FamGKG/JVEG, 3. Aufl. München 2014 Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München 2015 Gräber, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl. München 2015 Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, Loseblattsammlung, Köln Klein, Abgabenordnung, 13. Aufl. München 2016 Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl. Köln 1996 Koenig, Abgabenordnung, 3. Aufl. München 2014 Kühn/von Wedelstädt, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, 21. Aufl. Stuttgart 2015 Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. München 2015 Leopold/Madle/Rader, Abgabenordnung, Loseblattsammlung, Heidelberg Maunz/Dürig, Grundgesetz, Loseblattsammlung, München Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblattsammlung, München Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 3. Aufl. München 2013–2016 Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. München 2016 Pump/Leibner, Abgabenordnung, Loseblattsammlung, München/Unterschleißheim Schwarz/Pahlke, AO/FGO, Loseblattsammlung, Freiburg Strunk/Kaminski/Köhler, Außensteuergesetz/Doppelbesteuerungsabkommen, Loseblattsammlung, Bonn Tipke/Kruse, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Loseblattsammlung, Köln Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 38. Aufl. München 2017 Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 14. Aufl. München 2015 Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. Köln 2018

II. Lehrbücher und Monographien Ax/Große/Melchior, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 21. Aufl. Stuttgart 2017 Bilsdorfer/Morsch/Schwarz, Handbuch des steuerlichen Einspruchsverfahrens, 2. Aufl. Berlin 2008 Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 20. Aufl. Heidelberg 2017 Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 8. Aufl. Heidelberg 2014 Grimm, Die negative Konkurrentenklage im Steuerrecht, Frankfurt 2014

XV

Ausgewählte Literatur

Jakob, Abgabenordnung, 5. Aufl. München 2010 Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, 4. Aufl. München 2017 Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl. Baden-Baden 2010 Lammerding/Scheel/Brehm, Abgabenordnung und FGO, 16. Aufl. Achim 2012 Maier/Spohrer, Der Einspruch im Steuerrecht, 2. Aufl. Wiesbaden 2014 Rätke, Finanzgerichtsverfahren für Steuerberater und Rechtsanwälte, 2. Aufl. Herne 2017 Roth, Insolvenzsteuerrecht, 2. Aufl. Köln 2017 Sauer/Schwarz, Handbuch des finanzgerichtlichen Verfahrens, 8. Aufl. Berlin 2016 Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 3. Aufl. Wien/München 2015 Schreyer, Rechtsbehelfe in Steuersachen, 2. Aufl. München 1996 Seer, Der Einsatz von Prüfungsbeamten durch das Finanzgericht, Berlin 1993 Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Köln 1996 Streck/Kamps/Olgemöller, Der Steuerstreit, 4. Aufl. Köln 2017 Thebrath, Die Revisionszulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO und ihre Darlegung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde, Frankfurt 2015 Thomer, Vorbeugender Rechtsschutz im Steuerrecht, Aachen 2008 Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. Köln 2015 Wagner, Die Praxis des Steuerprozesses, 3. Aufl. Stuttgart 2013

XVI

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. ABl. Abs. AdV AEAO AEUV a. F. AfA AG AktG AnwBl. AO AO-StB Art. Aufl. Az.

andere Auffassung am angegebenen Ort Amtsblatt (der EU) Absatz Aussetzung der Vollziehung Anwendungserlass zur Abgabenordnung Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Absetzung für Abnutzung Aktiengesellschaft Aktiengesetz Anwaltsblatt Abgabenordnung Der AO-Steuerberater Artikel Auflage Aktenzeichen

BAföG BayVerwGH BB BerlinFG betr. BewG BFH BFH/NV BFH-PR BGB BGBl. BGH BMF Bp BSHG BStBl. BT-Drucks. BuW BVerfG BVerfGG BVerfGE BVerwG bzgl. BZSt bzw.

Bundesausbildungsförderungsgesetz Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Betriebs-Berater Berlinförderungsgesetz betreffend Bewertungsgesetz Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des BFH, die nicht in der amtl. Sammlung veröffentlicht werden Entscheidungen des BFH für die Praxis der Steuerberatung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesministerium der Finanzen Betriebsprüfung Bundessozialhilfegesetz Bundessteuerblatt Bundestags-Drucksache Betrieb und Wirtschaft Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsgesetz Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht bezüglich Bundeszentralamt für Steuern beziehungsweise

Co.

Companie XVII

Abkürzungsverzeichnis

DB DBA ders. dgl. d. h. DÖD DRiG DRiZ DStJG DStR DStRE DStZ DVBl.

Der Betrieb Doppelbesteuerungsabkommen derselbe dergleichen das heißt Der Öffentliche Dienst Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft Deutsches Steuerrecht Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst Deutsche Steuerzeitung Deutsches Verwaltungsblatt

EFG EG EGAO EGKS EGMR EGV ErbStG EStDV EStG etc. EU EÜR EuGH EuGRZ EURS EUV EuZW EWIR

Entscheidungen der Finanzgerichte Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zur Abgabenordnung Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Erbschaftsteuergesetz Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz et cetera Europäische Union Einnahmen-Überschuss-Rechnung Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarechtsschutz Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht

f. ff. FG FGO FGG FGOÄndG FR FS

folgende fortfolgende Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung Finanz-Rundschau Festschrift

GbR gem. GewStG GG ggf. GKG GmbH

Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß Gewerbesteuergesetz Grundgesetz gegebenenfalls Gerichtskostengesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

GmS-OGB GrS GStB GuV GVG GVPl GWB

Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Großer Senat Gestaltende Steuerberatung Gewinn- und Verlustrechnung Gerichtsverfassungsgesetz Geschäftsverteilungsplan Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

HFR HHSp h. L. h. M. Hrsg.

Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Hübschmann/Hepp/Spitaler herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber

i. d. F. i. d. R. i. E. INF i. H. v. InsO i. S. ISR IStR i. V. m.

in der Fassung in der Regel im Einzelnen Die Information über Steuer und Wirtschaft in Höhe von Insolvenzordnung im Sinne Internationale Steuer-Rundschau Internationales Steuerrecht in Verbindung mit

JKomG JM JR JStG JTPF jurisPR JVEG JZ

Justizkommunikationsgesetz JurisMagazin Juristische Rundschau Jahressteuergesetz Joint Transfer Pricing Forum juris PraxisReport Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz Juristenzeitung

KG KGaA KÖSDI KostRModG KostVfG krit. KStG KV

Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kölner Steuerdialog Kostenrechtsmodernisierungsgesetz Kostenverfügung der Justizverwaltungen der Länder kritisch Körperschaftsteuergesetz Kostenverzeichnis

lit. LLP

littera Limited Liability Partnership

MA MDR m. E.

Musterabkommen Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens XIX

Abkürzungsverzeichnis

Mio. MK MünchKommInsO m. w. H. m. w. N.

Million Musterkommentar Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung mit weiteren Hinweisen mit weiteren Nachweisen

Nachw. n. F. NJW NJW-RR Nr. n. v. NVwZ NW NWB NZWiSt

Nachweis/e neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Nummer nicht veröffentlicht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen Neue Wirtschaftsbriefe für Steuer- und Wirtschaftsrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht

OECD o. g. OHG OLG

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oben genannt Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht

PIStB PKH PStR PUDLV

Praxis Internationale Steuerberatung Prozesskostenhilfe Praxis Steuerstrafrecht Post-Universaldienstleistungsverordnung

Rs. Rspr. RStBl RVG Rz.

Rechtssache Rechtsprechung Reichssteuerblatt Rechtsanwaltsvergütungsgesetz Randziffer

S. s. SchÜ SigG sj. Slg. sog. SKK StÄndG st. Rspr. StB StBerG StBereinG Stbg StBGebV

Seite siehe Schiedsübereinkommen Signaturgesetz steuer-journal.de Sammlung der Rspr. des EuGH sogenannt Strunk/Kaminski/Köhler Steueränderungsgesetz ständige Rechtsprechung Steuerberater/in Steuerberatungsgesetz Steuerbereinigungsgesetz Die Steuerberatung Steuerberatergebührenverordnung

XX

Abkürzungsverzeichnis

StbJb. StBp StBW StEK SteuerStud SteuK StGB StMBG St.-Nr. StPfl. StuB StuW StVj StWa.

Steuerberater-Jahrbuch Die steuerliche Betriebsprüfung Steuerberaterwoche Steuererlasskartei Steuer und Studium Steuerrecht kurzgefaßt Strafgesetzbuch Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz Steuernummer Steuerpflichtige/r Steuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Steuerliche Vierteljahresschrift Die Steuer-Warte

Tz.

Textziffer

u. a. u. Ä. Ubg usw. u. U.

unter anderem und Ähnliches Die Unternehmensbesteuerung und so weiter unter Umständen

v. a. VBl. VdN VerfO-EuGH VerwArch VGFGEntlG vgl. v. H. VollstrA vs. VwGO VwVG VwZG

vor allem Verwaltungsblatt Vorbehalt der Nachprüfung Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofes Verwaltungsarchiv Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vergleiche vom Hundert Vollstreckungsanweisung versus Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsvollstreckungsgesetz Verwaltungszustellungsgesetz

WP

Wirtschaftsprüfer

z. B. ZfZ Ziff. ZIP ZKF ZParl ZPO ZRP ZSEG

zum Beispiel Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Kommunalfinanzen Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen XXI

Abkürzungsverzeichnis

ZSteu ZVG ZWH zzgl. ZZP

XXII

Zeitschrift für Steuern und Recht Gesetz über die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen zuzüglich Zeitschrift für Zivilprozess

Kapitel 1 Einführung A. Steuerrechtsschutz . . . . . . . . . . . . .

1.1

B. Praxisüberblick über die wichtigsten förmlichen Rechtsbehelfe

V. Rechtsschutz beim Europäischen Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.21

VI. Rechtsschutz gegen internationale Doppelbesteuerung. . . . . . . . . . . . . .

1.23

I. Einspruchsverfahren. . . . . . . . . . . . .

1.3

II. Finanzgerichtliches Klageverfahren .

1.5

III. Verfahren vor dem Bundesfinanzhof 1. Revisionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

1.12 1.15

I. Motive für die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.26

IV. Anrufung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.18

II. Erwägungen gegen die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe . . . . . . . .

1.34

III. Abwägung im Einzelfall . . . . . . . . . .

1.39

C. Entscheidungsparameter und Einzelabwägung

Literatur: Birk, Die Finanzgerichtsbarkeit – Erwartungen, Bedeutung, Einfluss, DStR 2014, 65; Mack, Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess, in FS Streck, 2011, S. 337; Schmidt-Troje/Schaumburg, Lohnt sich ein Verfahren vor den Finanzgerichten?, Stbg 2003, 154; Seer, Finanzrichterlicher Rechtsschutz in Verfassungsfragen, in FS Spindler, 2011, S. 219; Spindler, Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter, in FS Streck, 2011, S. 417; Tipke, Zwischen materiellem Steuerrecht und Steuerverfahrensrecht, StuW 2004, 3.

A. Steuerrechtsschutz Steuerrecht ist Massenfallrecht. Die Vielzahl der von den Finanzbehörden zu treffenden Entscheidungen macht das Steuerrecht in der Praxis fehleranfällig. Zum Teil ist die richtige Rechtsanwendung und damit Einzelfallgerechtigkeit nur über den Weg förmlicher oder nicht förmlicher Rechtsbehelfe zu erreichen. Der Steuerpflichtige hat das verfassungsrechtlich verbürgte Recht, die staatliche Maßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Steuerrechtsschutz ist insoweit verfassungsrechtlich verbürgt; häufig stellen Rechtsschutzmaßnahmen die einzige Möglichkeit des Steuerpflichtigen dar, eine gesetzeskonforme Besteuerung sicherzustellen.

1.1

Gleichwohl scheuen viele Steuerpflichtige und ihre Berater die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe. Hierfür besteht kein Anlass. Im Gegensatz zu anderen Staaten verfügt Deutschland seit langem über eine etablierte Streitkultur in Steuersachen. Im Regelfall werden Streitverfahren von den auf Behördenseite agierenden Beamten sachorientiert und konstruktiv behandelt. Oftmals sind zwischen Steuerpflichtigem und Finanzverwaltung auch lediglich Rechtsfragen im Streit, bei denen die Finanzverwaltung ebenso wie der Steuerpflichtige ein Interesse an einer gerichtlichen Klärung hat. Nur im absoluten Ausnahmefall reagieren Finanzbeamte unprofessionell, wenn eine von ihnen geltend gemachte Steuerforderung gerichtlich überprüft werden soll. In noch selteneren Fällen eskaliert die Auseinandersetzung in eine emotionale Streitführung. Derartige Erwägungen sollten den Steuerpflichtigen jedoch nicht davon abhalten, eine gesetzeskonforme Besteuerung einzufordern.

1.2

Schaumburg/Hendricks

1

Kap. 1 Rz. 1.3

Einführung

B. Praxisüberblick über die wichtigsten förmlichen Rechtsbehelfe I. Einspruchsverfahren 1.3 Hält der Steuerpflichtige einen Steuerbescheid für rechtswidrig, hat er zunächst die Möglichkeit, den Bescheid bei der Behörde, die diesen Steuerbescheid erlassen hat, mit dem Einspruch anzufechten. Durch das dem Gerichtsverfahren vorgeschaltete Einspruchsverfahren sollen die Gerichte entlastet werden (Entlastungs- und Filterfunktion). Darüber hinaus sollen die Behörden die Möglichkeit haben, ihren Steuerbescheid noch einmal selbst zu überprüfen (Selbstkontrolle der Verwaltung).

1.4 Von der Möglichkeit, gegen einen Steuerbescheid oder einen anderen Verwaltungsakt einer Finanzbehörde Einspruch einzulegen, wird häufig Gebrauch gemacht. Nach Statistiken des Bundesfinanzministeriums lag die Anzahl der Einsprüche in den letzten Jahren (2013 bis 2016) zwischen ca. 3,32 Mio. und ca. 4,23 Mio. pro Jahr. Diese Einsprüche sind sehr häufig von Erfolg gekrönt, so dass ein gerichtliches Verfahren vermieden werden kann. In ca. zwei Dritteln aller Fälle führt der Einspruch dazu, dass die angefochtene Maßnahme (z. B. der Steuerbescheid) antragsgemäß geändert wird1. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Abhilfe auch darauf beruhen kann, dass erstmals im Einspruchsverfahren überhaupt Aufwendungen geltend gemacht wurden oder aber eine Steuererklärung abgegeben wurde. Zur durchschnittlichen Dauer von Einspruchsverfahren werden keine Statistiken veröffentlicht. Die Bearbeitungszeit hängt ganz maßgeblich von der Qualität der Begründung des Einspruchs sowie von der Arbeitsbelastung der zuständigen Beamten ab. In Fällen, in denen das Einspruchsverfahren nicht ruht oder ausgesetzt wurde, wird über den Einspruch erfahrungsgemäß innerhalb von drei bis zwölf Monaten nach Begründung des Einspruchs entschieden.

II. Finanzgerichtliches Klageverfahren 1.5 Wird dem Begehren des Steuerpflichtigen im Einspruchsverfahren nicht oder nicht vollständig entsprochen und erlässt die Finanzbehörde eine formelle Ablehnungsentscheidung in Form einer Einspruchsentscheidung, kann der Steuerpflichtige die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung durch ein Finanzgericht überprüfen lassen. Entscheidet die Behörde ohne Mitteilung eines sachlichen Grundes nicht in angemessener Frist über den Einspruch, kann der Steuerpflichtige, ohne das Einspruchsverfahren abzuschließen, dennoch Klage beim Finanzgericht erheben (Untätigkeitsklage). Will der Steuerpflichtige überhaupt kein Einspruchsverfahren durchführen, kann er mit Zustimmung der Finanzbehörde Sprungklage erheben. Diese empfiehlt sich jedoch nur, wenn es um reine Rechtsfragen geht.

1.6 Bei den Finanzgerichten handelt es sich um eigenständige, von den Finanzbehörden unabhängige Gerichte, die durch fachlich und persönlich unabhängige Richter, die nicht weisungsgebunden sind, über die Rechtmäßigkeit steuerbehördlicher Maßnahmen entscheiden. In Deutschland existieren insgesamt 18 Finanzgerichte.2 Im Regelfall ist die Klage innerhalb eines 1 Nach der Statistik des Bundesfinanzministeriums lag die Abhilfequote in 2013 bei 64,2 %, in 2014 bei 67,8 %, in 2015 bei 64,5 % und in 2016 bei 63,5 %. 2 Geordnet nach Bundesländern: das Finanzgericht Baden-Württemberg (mit Sitz in Stuttgart und Außensenaten in Freiburg); das Finanzgericht München (mit Sitz in München und Außensenaten in Augsburg) und das Finanzgericht Nürnberg (für Bayern); das Finanzgericht Berlin-Brandenburg (mit Sitz in Cottbus); das Finanzgericht Bremen; das Finanzgericht Hamburg; das Hessische Finanzgericht (mit Sitz in Kassel); das Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern (mit Sitz in Greifswald);

2

Schaumburg/Hendricks

B. Praxisüberblick über die wichtigsten förmlichen Rechtsbehelfe

Rz. 1.9 Kap. 1

Monats nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung beim zuständigen Finanzgericht zu erheben. Welches Finanzgericht zuständig ist, richtet sich grundsätzlich nach der Behörde, die die angefochtene Einspruchsentscheidung erlassen hat. Der Schriftsatz mit der Erhebung der Klage muss erkennen lassen, gegen welche behördliche Entscheidung sich die Klage richtet. Zudem muss bezeichnet werden, worin die Rechtsverletzung gesehen wird. Es ist nicht erforderlich, die Klage innerhalb der Monatsfrist zu begründen. Nach Eingang der Klage wird eine Frist zur Klagebegründung gesetzt. Im Regelfall sollte die Klage innerhalb von vier bis sechs Wochen nach Erhebung der Klage begründet werden. Allerdings wird die Begründungsfrist auf Antrag darüber hinaus verlängert. Wurde die Klage begründet, hat die Behörde die Möglichkeit der schriftlichen Stellungnahme. Zu den Äußerungen der Behörde kann wiederum der Steuerpflichtige Stellung nehmen. Im Regelfall ist die schriftliche Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten ca. drei bis neun Monate nach Einreichung der Klagebegründung abgeschlossen.

1.7

Der weitere Ablauf des Klageverfahrens hängt sehr stark davon ab, um welche Fragen es in dem Rechtsstreit geht. Wird ausschließlich über Rechtsfragen gestritten und ist der Sachverhalt eindeutig, wird das Klageverfahren erfahrungsgemäß schneller beendet. Ist der Sachverhalt dagegen nicht klar und geht es deshalb zunächst um Sachverhaltsfragen, ist gegebenenfalls eine Beweisaufnahme durch das Gericht erforderlich. Diese erfolgt überwiegend durch die Vernehmung von Zeugen sowie durch Vorlage von Urkunden. In einzelnen Fällen werden auch Sachverständige zu Beweiszwecken hinzugezogen. Häufig werden auch vom zuständigen Berichterstatter oder Einzelrichter Erörterungstermine durchgeführt, die in zahlreichen Fällen zur Erledigung des Verfahrens führen. Erledigt sich das Verfahren nicht im Vorfeld, entscheidet das Gericht durch Urteil darüber, ob die Klage zulässig und begründet ist.

1.8

Bei den 18 Finanzgerichten sind die Klageeingänge und Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz seit Jahren deutlich rückläufig. So gingen in 2013 rd. 37.500, in 2014 rd. 35.900 und in 2015 rd. 35.000 neue Klagen ein.1 Die bei Gericht neu eingehenden Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz betrugen in 2013 rd. 6.900, in 2014 rd. 6.250 und in 2015 rd. 6.000. Die Dauer eines Klageverfahrens beträgt im bundesweiten Durchschnitt rund 14,3 Monate.2 Bei Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz ist die Verfahrenslaufzeit mit durchschnittlich weniger als 4 Monaten deutlich kürzer.3 Die konkrete Länge des Verfahrens hängt sehr stark davon ab, vor

1.9

das Niedersächsische Finanzgericht (mit Sitz in Hannover); das Finanzgericht Düsseldorf, das Finanzgericht Köln und das Finanzgericht Münster (für Nordrhein-Westfalen); das Finanzgericht Rheinland-Pfalz (mit Sitz in Neustadt an der Weinstraße); das Finanzgericht des Saarlandes (mit Sitz in Saarbrücken); das Sächsische Finanzgericht (mit Sitz in Leipzig); das Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt (mit Sitz in Dessau-Roßlau); das Finanzgericht Schleswig-Holstein (mit Sitz in Kiel); das Finanzgericht Thüringen (mit Sitz in Gotha). 1 Vgl. dazu Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2013 bis 2015, abgedruckt in EFG 2016, 957. Nach der Statistik des Bundesfinanzministeriums wurden gegen Finanzämter unter Zugrundelegung einer anderen statistischen Zählweise in 2013 in 61.137 Fällen, in 2014 in 61.958 Fällen, in 2015 in 59.830 Fällen und in 2016 in 61.018 Fällen Klage erhoben. Nach dieser Statistik wird in ca. 1,5 % aller Einspruchsverfahren Klage erhoben. 2 Vgl. hierzu die Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zur Rechtspflege durch Finanzgerichte, Fachserie 10 Reihe 2.5 betreffend das Jahr 2014, Wiesbaden 2016, dort S. 18, und Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2013–2015, abgedruckt in EFG 2016, 957. 3 Vgl. dazu Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2013–2015, abgedruckt in EFG 2016, 957.

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Kap. 1 Rz. 1.10

Einführung

welchem Finanzgericht geklagt wird. So lag die durchschnittliche Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens vor dem Finanzgericht Hamburg in 2016 bei 8,2 Monaten, während ein finanzgerichtliches Klageverfahren vor dem Finanzgericht Sachsen-Anhalt im Schnitt 20,1 Monate dauerte.1 Wird die Klage als zulässig qualifiziert, kann das Verfahren noch deutlich länger dauern. Beschränkt man die Betrachtung auf Klageverfahren, die durch ein Urteil oder einen Gerichtsbescheid abgeschlossen werden, bei denen die Klage als zulässig qualifiziert wird, lag die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2016 bundesweit bei 21,5 Monaten.2 Auch hier sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Finanzgerichten erheblich: Während derartige Verfahren beim Finanzgericht Niedersachsen z. B. nach durchschnittlich 13,8 Monaten abgeschlossen wurden, liegt die durchschnittliche Verfahren beim Finanzgericht Sachsen-Anhalt im selben Erhebungszeitraum bei 32,7 Monaten.3 Die Verfahrensdauer hängt naturgemäß von der Arbeitsbelastung des zuständigen Senates oder Einzelrichters ab. Darüber hinaus wird die Dauer des Verfahrens davon bestimmt, ob Sachverhaltsfragen zu klären sind. Ist die Sachverhaltsaufklärung schwierig, zieht sich das Verfahren erfahrungsgemäß in die Länge. Auch die Komplexität der entscheidungsrelevanten Rechtsfragen wirkt sich erfahrungsgemäß auf die Dauer des Verfahrens aus. So ist beispielsweise bei einem Streit über die steuerliche Anerkennung eines Arbeitszimmers mit einer kürzeren Verfahrensdauer zu rechnen, als etwa bei einem komplizierten Streit über eine spezielle Frage des Umwandlungssteuerrechts.

1.10 Da durch ein Urteil nicht zwingend Rechtsfrieden hergestellt wird, sind die Gerichte häufig bemüht, das Klageverfahren ohne Urteil zu beenden. Hat sich das Gericht eine Meinung gebildet, erhalten die Beteiligten häufig einen richterlichen Hinweis, wie derzeit die Rechtslage eingeschätzt wird. Halten die Richter die Klage ganz oder teilweise für erfolgversprechend, wird bei der Finanzbehörde angefragt, ob sie die angefochtene staatliche Maßnahme (z. B. den Steuerbescheid) von sich aus im Sinne des Steuerpflichtigen ganz oder teilweise ändern will, um ein Urteil zulasten der Behörde zu vermeiden. Im umgekehrten Fall gibt das Gericht dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit, die Klage zurück zu nehmen oder seinen Klageantrag entsprechend einzuschränken, um eine Klageabweisung zu vermeiden. Ca. zwei Drittel aller Verfahren enden auf diese Weise ohne Urteil aufgrund einer beiderseitigen Erledigungserklärung der Beteiligten oder aufgrund einer Klagerücknahme.4

1.11 Kommt es zu einem Urteil oder Gerichtsbescheid, was 2016 in 22,8 % der erhobenen Klagen der Fall war, kommt es in ca. 20 % der Fälle zu einer Entscheidung ganz oder teilweise im Sinne des Steuerpflichtigen.5 Immerhin wird in rund 20 % der Urteile die Klage als unzuläs1 Vgl. Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zur Rechtspflege durch Finanzgerichte, Fachserie 10 Reihe 2.5 betreffend das Jahr 2016, Wiesbaden 2017, dort S. 18. 2 Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zur Rechtspflege durch Finanzgerichte, Fachserie 10 Reihe 2.5 betreffend das Jahr 2016, Wiesbaden 2017, dort S. 19. 3 Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zur Rechtspflege durch Finanzgerichte, Fachserie 10 Reihe 2.5 betreffend das Jahr 2016, Wiesbaden 2017, dort S. 19 f. 4 Vgl. Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zur Rechtspflege durch Finanzgerichte, Fachserie 10 Reihe 2.5 betreffend das Jahr 2016, Wiesbaden 2017, dort S. 16. Hiernach wurden im Jahr 2014 bundesweit 32,8 % durch Rücknahme der Klage abgeschlossen, in 33,2 % der Fälle wurde des Klageverfahren durch Erledigung nach Ergehen eines Abhilfebescheides oder Teilabhilfebescheides eingestellt. 5 Vgl. zur bundesweiten Statistik für 2016 Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zur Rechtspflege durch Finanzgerichte, Fachserie 10 Reihe 2.5 betreffend das Jahr 2016, Wiesbaden 2017, dort S. 16. Danach wurde, soweit ein Urteil oder ein Gerichtsbescheid erging, der Klage in 10,1 % der Fälle vollumfänglich, in 9,8 % der Fälle zumindest teilweise stattgegeben.

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B. Praxisüberblick über die wichtigsten förmlichen Rechtsbehelfe

Rz. 1.14 Kap. 1

sig abgewiesen.1 Dass Steuerpflichtige häufiger verlieren als obsiegen, hängt zum einen damit zusammen, dass die Finanzverwaltung in etlichen Fällen vor Ergehen eines Urteils der Klage ganz oder teilweise abhilft. Zum anderen ist aber ebenfalls von Bedeutung, wie auch die hohe Zahl der unzulässigen Klagen zeigt, dass vor den Finanzgerichten kein Beraterzwang besteht. Viele Steuerpflichtige klagen, ohne sich dabei fachkundig von einem erfahrenen Rechtsanwalt oder Steuerberater vertreten zu lassen.

III. Verfahren vor dem Bundesfinanzhof 1. Revisionsverfahren Endet das Klageverfahren durch Urteil und hält die unterlegene Seite das Urteil für fehlerhaft, kann es vor dem BFH mit der Revision angefochten werden, wenn das Finanzgericht die Revision zum BFH zugelassen hat. Vor dem BFH herrscht Vertretungszwang. Es kann ausschließlich gerügt werden, dass das Finanzgericht Rechtsfragen falsch beurteilt hat. Dabei muss die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Im Revisionsverfahren kann grundsätzlich nicht geltend gemacht werden, das Finanzgericht sei von einem falschen Sachverhalt ausgegangen. Hält der unterlegene Beteiligte den vom Finanzgericht angenommenen Sachverhalt für unzutreffend, kann er eine Aufhebung des Urteils nur dann erreichen, wenn er dem BFH darlegt, dass das Urteil unter Verstoß gegen Prozessvorschriften zustande gekommen ist („Rüge eines Verfahrensfehlers“). Bejaht der BFH einen solchen Verfahrensfehler wird der Rechtsstreit im Regelfall an das Finanzgericht zurückverwiesen. Das erstinstanzliche Verfahren muss in diesen Fällen erneut durchgeführt werden.

1.12

Die Frist zur Erhebung der Revision endet einen Monat nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils. Die Revision ist zwei Monate nach Bekanntgabe des finanzgerichtlichen Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann verlängert werden. Die Gegenseite (der „Revisionsbeklagte“) hat die Möglichkeit, zur Revisionsbegründung Stellung zu nehmen. Im Regelfall beschränkt sich das schriftliche Verfahren auf zwei bis drei Schriftsätze.2 Das Revisionsverfahren endet im Regelfall durch Urteil, welches der jeweils zuständige Senat im Anschluss an eine mündliche Verhandlung spricht. Zum Teil machen die Senate von der Möglichkeit Gebrauch, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Ein Gerichtsbescheid gilt jedoch als nicht ergangen, wenn einer der Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids mündliche Verhandlung beantragt.

1.13

Im Jahr 2016 haben die elf Senate des BFH insgesamt 609 Revisionsverfahren erledigt. Soweit in der Sache zu entscheiden war, lag die durchschnittliche Dauer eines Revisionsverfahrens gerechnet von der Revisionseinlegung bis zur Entscheidung über die Revision bei 18 Monaten. Von den in 2016 gerichtlich beschiedenen Revisionen wurden 3,1 % als unzulässig verworfen, 33,4 % waren unbegründet und 46,3 % waren von Erfolg gekrönt.3

1.14

1 Vgl. Geschäftsbericht für die Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2013–2015, abgedruckt in EFG 2016, 957. 2 Im Regelfall bleibt es bei der Revisionsbegründung und einer einmaligen Erwiderung des Revisionsbeklagten. 3 Vgl. Jahresbericht des Bundesfinanzhofs für 2016, S. 23.

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Kap. 1 Rz. 1.15

Einführung

2. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

1.15 Endet das finanzgerichtliche Klageverfahren durch Urteil und hat das Finanzgericht die Revision nicht zugelassen, kann der unterlegene Beteiligte beim BFH Nichtzulassungsbeschwerde einlegen. Eine solche Beschwerde hat dann Erfolg, wenn der Unterlegene darlegen kann, dass das Finanzgericht die Revision eigentlich hätte zulassen müssen. Er muss darlegen, dass für den Rechtsstreit eine Rechtsfrage entscheidungserheblich war, die der BFH bislang nicht geklärt hat („grundsätzliche Bedeutung“) oder abweichend vom Finanzgericht beurteilt hat („Divergenz“). Eine Nichtzulassungsbeschwerde hat auch dann Erfolg, wenn dem BFH dargelegt werden kann, dass das Urteil unter Verstoß gegen Bestimmungen des Prozessrechts zustande gekommen ist („Rüge eines Verfahrensfehlers“).

1.16 Die Frist zu Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde endet einen Monat nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils. Die Beschwerde ist im Grundsatz zwei Monate nach Bekanntgabe des finanzgerichtlichen Urteils zu begründen. Über eine Nichtzulassungsbeschwerde entscheidet der BFH durch Beschluss. Der zuständige Senat prüft zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde. Fehlt es hieran, wird die Beschwerde als unzulässig verworfen. Eine Unzulässigkeit wird regelmäßig schon dann angenommen, wenn es dem Beschwerdeführer evident nicht gelungen ist, die vorgehend beschriebenen Darlegungsanforderungen zu erfüllen. Eine zulässige aber unbegründete Beschwerde wird vom BFH „als unbegründet zurückgewiesen“. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch den BFH wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig. Hat die Nichtzulassungsbeschwerde mit Rücksicht auf einen Verfahrensfehler Erfolg, wird das erstinstanzliche Urteil aufgehoben; der Rechtsstreit wird an das Finanzgericht zurückverwiesen. Hat die Beschwerde aus anderen Gründen Erfolg (z. B. wegen Divergenz oder wegen grundsätzlicher Bedeutung), wird der Streit als Revisionsverfahren vor dem BFH fortgesetzt.

1.17 Die Verfahrensdauer ist kürzer als bei Revisionsverfahren. Im Durchschnitt entscheidet der BFH über eine Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb von sechs Monaten nach Erhebung der Beschwerde. Statistisch gesehen sind die Erfolgsquoten ernüchternd. Im Jahr 2016 hat der BFH von den beschiedenen Nichtzulassungsbeschwerden 41,95 % als unzulässig verworfen und 37,38 % als unbegründet. Lediglich 14,36 % der Beschwerden waren von Erfolg gekrönt, was aber nicht bedeutet, dass der dann zugelassenen Revision auch tatsächlich Erfolg beschieden ist.

IV. Anrufung des Bundesverfassungsgerichts 1.18 Grundrechtsverletzungen werden wie alle anderen Rechtsverletzungen auch bereits im Rechtsbehelfsverfahren gerügt. Hierauf sollten der Steuerpflichtige bzw. sein Berater bereits im Klageverfahren achten. Hält das Finanzgericht oder der BFH einen Verfassungsverstoß für gegeben, muss das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt werden.

1.19 Hat der Steuerpflichtige mit den dargestellten Rechtsbehelfen keinen Erfolg, kann er nach Ausschöpfung des Rechtsweges – ggf. einschließlich einer Anhörungsrüge – im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anrufen. Diese Möglichkeit steht außerhalb des normalen Instanzenzuges; das Bundesverfassungsgericht ist also nicht etwa eine Superrevisionsinstanz. Eine solche Verfassungsbeschwerde macht nur dann Sinn, wenn der Steuerpflichtige die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht, also eine Grundrechtsverletzung darlegen kann und diese auch möglich erscheint. Die Verfassungsbeschwerde muss innerhalb eines Monats nach Zustellung der letzten gerichtlichen 6

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B. Praxisüberblick über die wichtigsten förmlichen Rechtsbehelfe

Rz. 1.24 Kap. 1

Entscheidung erhoben und auch begründet werden. Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen eines Finanzgerichts oder des BFH waren in der Vergangenheit selten von Erfolg gekrönt. Die Länge eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens hängt sehr von der Konstellation des Einzelfalls ab. Während über einige Verfassungsbeschwerden bereits innerhalb weniger Monate entschieden wird, sind Verfassungsbeschwerden mit besonderer Breitenwirkung oft mehrere Jahre anhängig.

1.20

V. Rechtsschutz beim Europäischen Gerichtshof Will sich der Steuerpflichtige gegen die Unvereinbarkeit von gesetzlichen Normen mit Unionsrecht oder beispielsweise die Verletzung von europäischen Grundfreiheiten wenden, so muss er dies bereits im Rechtsbehelfsverfahren vorbringen und seine Argumentation entsprechend einrichten. Hierauf sollten der Steuerpflichtige bzw. sein Berater bereits im Klageverfahren achten. Hält das Finanzgericht einen Verstoß gegen Europarecht für gegeben, so kann es das Verfahren aussetzen und die Sache dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen; es ist hierzu aber nicht verpflichtet. Der BFH muss die Sache dagegen dem Europäischen Gerichtshof vorlegen, wenn er der Auffassung ist, dass die Maßnahme der Finanzverwaltung gegen europäische Grundfreiheiten verstößt.

1.21

Der Steuerpflichtige selbst kann den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg nicht unmittelbar anrufen.

1.22

VI. Rechtsschutz gegen internationale Doppelbesteuerung Kommt es bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt zu einer internationalen Doppelbesteuerung, kann der Steuerpflichtige versuchen, sich mit den vorgehend dargestellten Rechtsbehelfen (insbesondere Einspruchsverfahren und Klageverfahren) hiergegen zu wehren. In Fällen, in denen nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden kann, welcher Staat das einschlägige Doppelbesteuerungsabkommen unzutreffend anwendet, besteht die Gefahr, dass nationale Streitverfahren ohne Erfolg bleiben. Denn abkommensrechtlich ist es nicht ausgeschlossen, dass die nationalen Gerichte divergierende Maßstäbe anlegen und den jeweiligen Steuerbescheid als rechtmäßig qualifizieren. In diesen Fällen sollte der Steuerpflichtige – gegebenenfalls parallel zu nationalen Rechtsbehelfen – einen Antrag auf Durchführung eines zwischenstaatlichen Verständigungsverfahrens oder – soweit möglich – eines zwischenstaatlichen Schiedsverfahrens stellen.

1.23

Alle von Deutschland abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen sehen (mindestens) die Durchführung eines zwischenstaatlichen Verständigungsverfahrens vor. In den meisten Abkommen muss der Steuerpflichtige das Verständigungsverfahren spätestens drei Jahre nach Eintritt der Doppelbesteuerung beantragen (nach wenigen Abkommen beträgt die Frist zwei oder vier Jahre)1. Auf den Antrag des Steuerpflichtigen hin bemühen sich die zuständigen Behörden der betroffenen Staaten, die Doppelbesteuerung im Rahmen zwischenstaatlicher Konsultationen in gegenseitigem Einvernehmen zu beseitigen (eigentliches Verständigungsverfahren). In Deutschland ist der Antrag auf Einleitung eines solchen Verfahrens in aller Regel beim Bundeszentralamt für Steuern in Bonn zu stellen. Ein Anspruch darauf, dass die Doppel-

1.24

1 Einzelne Abkommen enthalten gar keine Antragsfrist.

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Kap. 1 Rz. 1.25

Einführung

besteuerung im Rahmen des Verständigungsverfahrens beseitigt wird, besteht nicht. In der Mehrzahl der Fälle, in denen die deutsche Finanzverwaltung an einem zwischenstaatlichen Verständigungsverfahren beteiligt ist, kommt es jedoch zu einer zwischenstaatlichen Einigung, durch welche die Doppelbesteuerung beseitigt oder jedenfalls abgemildert wird.

1.25 Das Risiko, dass es bei der Doppelbesteuerung bleibt, wird minimiert, wenn der Steuerpflichtige nach den einschlägigen Rechtsgrundlagen auch die Einleitung eines zwischenstaatlichen Schiedsverfahrens beantragen kann. Ist ein solches Schiedsverfahren vorgesehen, wird über den Besteuerungskonflikt durch den Schiedsspruch einer unabhängigen Stelle entschieden. Der Schiedsspruch urteilt über die zutreffende abkommensrechtliche Beurteilung des fraglichen Sachverhalts. Er ist für beide Staaten verbindlich. Dieses Verfahren gewährleistet, dass eine abkommenswidrige Besteuerung auf jeden Fall beseitigt wird. Bislang ist die Durchführung eines Schiedsverfahrens noch in recht wenigen deutschen Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehen. In Bezug auf die Gewinnabgrenzung zwischen nahestehenden Personen sowie für die Abgrenzung von Stammhaus und Betriebsstätte sieht jedoch die EUSchiedsverfahrenskonvention auf Antrag des Steuerpflichtigen die zwingende Durchführung eines Schiedsverfahrens vor, wenn die abkommenswidrige Besteuerung zuvor nicht durch ein Verständigungsverfahren beseitigt werden konnte. In ihrem Anwendungsbereich ist die EUSchiedsverfahrenskonvention eine wichtige Rechtsgrundlage zur Bekämpfung der Doppelbesteuerung für innereuropäische Sachverhalte. Die Konvention hat sich in der Praxis nachhaltig bewährt.

C. Entscheidungsparameter und Einzelabwägung I. Motive für die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe 1.26 Die Gründe für die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe können vielfältig sein. Im Regelfall geht es dem Steuerpflichtigen um die Minderung der Steuerlast: Mit einem Rechtsbehelf ist die Chance verbunden, eine gegen ihn geltend gemachte Steuerforderung abzuwehren. Dies gilt auch dann, wenn mit dem fraglichen Steuerverwaltungsakt lediglich mittelbar Steuerforderungen verbunden sind (wie beispielsweise bei Feststellungsbescheiden, insbesondere Verlustfeststellungsbescheiden).

1.27 Motiv für einen Steuerrechtsstreit kann auch sein, Rechtsklarheit hinsichtlich der Behandlung eines bestimmten Sachverhaltes zu erreichen. Gerade bei Dauersachverhalten, bei denen die steuerliche Behandlung vom Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde unterschiedlich beurteilt wird, kann eine gerichtliche Klärung zweckmäßig sein. Zwar entfaltet ein finanzgerichtliches Urteil keine Bindungswirkung für zukünftige Zeiträume; da die Beteiligten in nachfolgenden Jahren mit einer entsprechenden Entscheidung rechnen dürfen, entsteht so eine über das jeweilige Streitjahr herausgehende (faktische) Bindungswirkung

1.28 In bestimmten Fällen ist es sinnvoll, dass der Steuerpflichtige durch die Nutzung des Rechtsbehelfs seine Abwehrbereitschaft unterstreicht. In diesen Fällen greift der Steuerpflichtige zum Rechtsbehelf und verspricht sich hiervon – zu Recht oder zu Unrecht – eine Ausstrahlungswirkung auf andere finanzbehördliche Entscheidungen. Er signalisiert, dass er bereit ist, finanzbehördliche Maßnahmen gerichtlich auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu lassen.

1.29 Bisweilen wird ein steuerlicher Rechtsbehelf dazu genutzt, Verhandlungspotential („Verhandlungsmasse“) zu schaffen. In seiner Erwartung ist mit dem Rechtsbehelf aus Sicht der 8

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C. Entscheidungsparameter und Einzelabwägung

Rz. 1.33 Kap. 1

Finanzverwaltung ein gewisser Lästigkeitswert verbunden, der im Rahmen der Verhandlungen über andere Streitthemen argumentativ verwertet werden soll. Nicht selten soll durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs ein bestimmter Steuerverwaltungsakt oder ein bestimmtes Verfahren offengehalten werden. Das Bedürfnis für einen derartigen vorsorglichen Steuerstreit resultiert regelmäßig daraus, dass der Steuerpflichtige oder seine Berater nicht in der Lage waren, die Zweckmäßigkeit eines Rechtsbehelfs vor Ablauf der jeweiligen Rechtsbehelfsfrist mit der nötigen Sicherheit zu beurteilen. Dies kann daran liegen, dass etwa ein Betriebsprüfungs- oder Steuerfahndungsbericht noch abschließend auszuwerten ist, kann aber auch darin wurzeln, dass die maßgebende Rechtslage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, mit der Folge, dass die Erfolgsaussichten nicht abschließend geklärt werden konnten.

1.30

Des Öfteren liegt die Motivation für die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe außerhalb des eigentlichen Steuerrechts. So kann ein Steuerstreit geboten sein, um das Bestehen oder Nichtbestehen des Steueranspruchs für Zwecke eines etwaigen Haftungsanspruchs gegen den steuerlichen Berater des Steuerpflichtigen zu klären. Steht ein Haftungsanspruch des steuerlichen Beraters im Raume, bestehen die Haftpflichtversicherer regelmäßig darauf, alle Rechtsbehelfe gegen die betroffene Steuerforderung auszuschöpfen.

1.31

Daneben werden steuerliche Rechtsbehelfe häufig mit Rücksicht auf ein laufendes Steuerstrafverfahren geführt. Durch den Rechtsbehelf signalisiert der Steuerpflichtige, dass er begründete Zweifel an der geltend gemachten Steuerforderung hegt. Hat der steuerliche Rechtsbehelf Erfolg, fällt es den Strafverfolgungsbehörden schwer, den Vorwurf einer Steuerverkürzung (und damit einen zentralen Bestandteil des objektiven Tatbestandes der Steuerhinterziehung) aufrechtzuhalten. Selbst wenn dem steuerlichen Rechtsbehelf der Erfolg versagt geblieben ist, können aus dem Verfahren im Einzelfall Argumente abzuleiten sein, warum der Beschuldigte jedenfalls ohne Hinterziehungsvorsatz (subjektiver Tatbestand) gehandelt hat. Dies gilt insbesondere, wenn aus dem Steuerstreit erkennbar wird, dass es sich um eine komplizierte und vom Laien nicht ohne weiteres zu beurteilende Rechtslage handelt.

1.32

Häufig wird ein Steuerrechtsstreit auch nur geführt, um hierdurch einen Zahlungsaufschub zu erreichen. Verfügt der Steuerschuldner nicht über ausreichende Liquidität zur Begleichung der festgesetzten Steuern und kann er diese Liquidität auch nicht kurzfristig im Wege einer Fremdfinanzierung bereitstellen, dann kann ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zweckmäßig sein. Dieser wiederum hat ausschließlich dann Aussicht auf Erfolg, wenn der fragliche Bescheid mit einem Einspruch bzw. einer Klage angefochten wurde (§ 361 Abs. 2 Satz 1 AO bzw. § 69 Abs. 2 FGO). Der mit einem derartigen Steuerstreit verbundene Zeitgewinn wird allerdings nur dann erreicht, wenn die übrigen Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung vorliegen. Das Gesetz fordert ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts. Auch ohne ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit kann eine Aussetzung erfolgen, wenn die Vollziehung des Verwaltungsakts für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Als Alternative zu einem Steuerstreit, der auf die Erreichung eines Zahlungsaufschubs gerichtet ist, kommt in geeigneten Fällen ein Stundungsantrag in Betracht.

1.33

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Kap. 1 Rz. 1.34

Einführung

II. Erwägungen gegen die Nutzung steuerlicher Rechtsbehelfe 1.34 Gegen ein Steuerstreitverfahren kann sprechen, dass ein solches Verfahren mit Aufwand verbunden ist. Selbst wenn sich der Steuerpflichtige durch einen Verfahrensbevollmächtigten vertreten lässt, um auf diesem Wege zu verhindern, eigene Ressourcen zu binden, bleibt der Steuerstreit für ihn mit einem Kostenrisiko verbunden. Denn der Verfahrensbevollmächtigte wird seinen Vergütungsanspruch unabhängig vom Ausgang des Steuerstreits beanspruchen. Hinzu kommen Gerichtsgebühren. Während das behördliche Einspruchsverfahren keine Gebühren auslöst, entstehen im Rahmen eines regulären erstinstanzlichen Klageverfahrens vor einem Finanzgericht im Regelfall vier Gerichtsgebühren, für ein Revisionsverfahren vor dem BFH gar fünf Gerichtsgebühren. Im Regelfall hat der Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen, der am Ende des Steuerrechtsstreits schlussendlich unterliegt (vgl. § 135 Abs. 1 FGO).

1.35 Nur in wenigen Fallkonstellationen ist der Ausgang eines Steuerstreits sicher prognostizierbar. Daher ist ein Steuerstreit im Regelfall bis zu seinem Abschluss mit einem Verlust an Rechtsund Planungssicherheit verbunden. Die Bestandskraft des angefochtenen Steuerbescheides ist – mindestens punktuell – gehemmt, so dass bis auf weiteres unklar ist, mit welcher Steuerbelastung endgültig zu rechnen ist. Die Erlangung von Sicherheit hinsichtlich der endgültigen Steuerbelastung wird durch den Steuerstreit hinausgeschoben. Da auch die Finanzverwaltung daran interessiert ist, das fragliche Besteuerungsverfahren endgültig abschließen zu können, kommt es häufig im Vorfeld eines Steuerstreits – z. B. im Rahmen einer Außenprüfung – zu einer einvernehmlichen Lösung, durch die eine gerichtliche Auseinandersetzung vermieden werden kann.

1.36 Auch kann ein Steuerstreit das Risiko mit sich bringen, dass der Rechtsbehelf schlussendlich zu einer höheren Steuerbelastung führt. Das Risiko einer „Verböserung“. besteht nur im Einspruchsverfahren; im Klageverfahren ist eine Verböserung ausgeschlossen. Die Verböserung im Einspruchsverfahren kann der Einspruchsführer aber regelmäßig verhindern. Denn vor „Verböserung“ muss die Finanzbehörde den Einspruchsführer auf eine geplante Verböserung hinweisen. Der Steuerpflichtige kann den Einspruch mit Rücksicht auf diesen Hinweis zurücknehmen und hierdurch eine Schlechterstellung im Einspruchsverfahren endgültig verhindern.1 In einem finanzgerichtlichen Klageverfahren ist es dem Gericht untersagt, den Kläger in Bezug auf den streitgegenständlichen Bescheid schlechter zu stellen, als er vor dem gerichtlichen Urteil stand.2

1.37 Dass ein Steuerstreit für den Steuerpflichtigen gleichwohl zu einer insgesamt höheren Steuerbelastung führt, ist trotz der vorgehend dargestellten Regelungen zur Verböserung nicht von vornherein gänzlich ausgeschlossen. Dies gilt zunächst für das Streitjahr selbst. Erkennt die Finanzbehörde im Rahmen der durch den Steuerstreit ausgelösten vertieften Bearbeitung des Falles oder auch aufgrund eines – ggf. beiläufigen – richterlichen Hinweises, dass die fraglichen Steuern bislang zu niedrig festgesetzt wurden und sind die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift gegeben (z. B. für eine Steuererhöhung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO), kann der Steuerpflichtige eine solche letztlich durch den Steuerstreit ausgelöste Mehrbelastung kaum verhindern. Das Gericht selbst kann im Übrigen in diesen Fällen bis zur Höhe des begründeten Klageantrages saldieren und die Klage im Ergebnis abweisen.3

1 Hierzu ausführlich Rz. 2.160. 2 Hierzu ausführlich Rz. 3.1032. 3 Hierzu ausführlich Rz. 3.1034.

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C. Entscheidungsparameter und Einzelabwägung

Rz. 1.39 Kap. 1

Aber auch wenn der Steuerpflichtige im Steuerstreit obsiegt, kann sich eine Mehrbelastung daraus ergeben, dass die Finanzverwaltung die im Rechtsbehelfsverfahren bestätigte Sicht der Dinge unter Berufung auf § 174 Abs. 4 AO auf andere Besteuerungszeiträume überträgt, in denen diese Sicht zu einer höheren Steuerbelastung führt. Die Folgen dieser Berichtigungsvorschrift werden in der Praxis häufig übersehen, teilweise aber auch überschätzt. Diese Bestimmung kann im Einzelfall dazu führen, dass die steuerliche Gesamtbelastung in Folge des Steuerstreits steigt, obwohl der Steuerpflichtige sich innerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens mit seiner Rechtsansicht durchsetzen konnte. Einen Verböserungshinweis für derartige Steuermehrbelastungen hält die Rechtsprechung für entbehrlich.1 Ob im konkreten Einzelfall das Risiko einer solchen steuerstreitbedingten Mehrbelastung besteht, lässt sich in aller Regel im Vorfeld des Steuerstreits sehr gut einschätzen. Das Risiko besteht insbesondere bei Dauersacherhalten, bei denen die Anwendung der streitigen Rechtsnorm aus Sicht des Steuerpflichtigen zum Teil mit Vorteilen und zum Teil mit Nachteilen verbunden ist.

1.38

III. Abwägung im Einzelfall Unter Beachtung der vorgenannten Motive und Entscheidungskriterien ist das Für und Wider eines Steuerstreits gegeneinander abzuwägen2. In den meisten Fällen kann die Entscheidung für oder gegen einen Steuerstreit auf Basis einer rationalen Analyse getroffen werden. Wenn es dem Steuerpflichtigen primär darum geht, sich erfolgreich gegen einen Akt der Finanzverwaltung zu wehren, ist eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des potenziellen Rechtsbehelfs gefragt. Geht es hierbei – wie häufig – allein um Sachverhaltsfragen, ist vorab zu klären, welche Beweismittel beschafft und in das Verfahren eingeführt werden können. Unter Beachtung der Beweis(last)regeln kann sehr häufig eine professionelle Prognose zu den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs angestellt werden. Ist nicht der Sachverhalt streitig, sondern die auf den unstreitigen Sachverhalt anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen, dann ist auch hierzu im Regelfall eine mehr oder weniger belastbare Prognose zu den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs möglich.3 Handelt es sich um einen Rechtsbehelf, über den eine Behörde zu entscheiden hat, kommt den einschlägigen Verwaltungsanweisungen zentrale Bedeutung zu. Im Rahmen gerichtlicher Verfahren ist die Prognoseentscheidung vor allem unter Berücksichtigung veröffentlichter Rechtsprechung zu treffen. Aber auch eine Analyse der einschlägigen Fachliteratur ist regelmäßig geboten. Da sich der zuständige Senat des Finanzgerichts oder des BFH zum fraglichen Thema gegebenenfalls im Rahmen einer veröffentlichten Entscheidung bereits geäußert haben könnte, sollte vor Klageerhebung zwingend berücksichtigt werden, welcher Senat nach dem Geschäftsverteilungsplan über den Streit zu entscheiden hat.

1 BFH v. 5.5.2011 – V R 45/09, BFH/NV 2011, 1655; v. 19.5.2005 – IV R 17/02, BStBl. II 2005, 637. 2 Hierzu auch Schmidt-Troje/Schaumburg, Stbg 2003, 154 ff. 3 Vgl. Birk, DStR 2014, 65 (68).

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11

1.39

Kapitel 2 Rechtsschutz bei der Finanzbehörde A. Förmliche Rechtsbehelfe I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.1

II. Einspruch 1. Allgemeine Vorüberlegungen a) Prüfung des Bescheids . . . . . . . . . 2.4 b) Anzufechtende Maßnahme . . . . . 2.7 c) Prüfung der Beschwer . . . . . . . . . 2.11 d) Einspruchsfrist . . . . . . . . . . . . . . . 2.12 e) Zweckmäßigkeit des Einspruchs . 2.16 f) Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.18 2. Zulässigkeit des Einspruchs a) Statthaftigkeit aa) Gegen Verwaltungsakte . . . . 2.20 bb) Untätigkeitseinspruch. . . . . . 2.24 cc) Ausschluss des Einspruchs in besonderen Fällen. . . . . . . 2.28 b) Zuständigkeit aa) Regelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.33 bb) Zuständigkeitswechsel . . . . . 2.34 cc) Beauftragung einer anderen Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.36 c) Beschwer des Einspruchsführers aa) Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.37 bb) Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . 2.38 cc) Beschwer durch einen Verwaltungsakt oder dessen Unterlassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.42 dd) Geltendmachung der Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . 2.50 ee) Wegfall der Beschwer . . . . . . 2.57 d) Einspruchsbefugnis . . . . . . . . . . . 2.59 e) Bindungswirkung anderer Verwaltungsakte aa) Anfechtungsbeschränkung bei Änderungsbescheiden. . . 2.67 bb) Änderung von Folgebescheiden. . . . . . . . . . . . . . . 2.69 f) Beteiligtenfähigkeit . . . . . . . . . . . 2.73 g) Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . 2.75 h) Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.77 i) Form und Inhalt des Einspruchs aa) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.89 bb) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.94 j) Einspruchsfrist aa) Dauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.98 bb) Einspruch vor Bekanntgabe . 2.100

cc) Unwirksame und nichtige Bescheide . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Einspruchsfrist bei Steueranmeldungen . . . . . . . . . . . . ee) Untätigkeitseinspruch. . . . . . ff) Rechtsbehelfsbelehrung . . . . gg) Fristenberechnung . . . . . . . . hh) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . ii) Versäumung der Einspruchsfrist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Einspruchsverzicht . . . . . . . . . . . l) Rechtsschutzbedürfnis. . . . . . . . . m) Zeitpunkt des Vorliegens der Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . 3. Begründetheit des Einspruchs a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prüfungsumfang. . . . . . . . . . . . . . c) Verböserung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erörterung des Sach- und Rechtsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ausschlussfrist zur Beschleunigung des Verfahrens aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtmäßigkeit der Fristsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfolge: Präklusion im Einspruchsverfahren . . . . . . . 4. Stillstand des Verfahrens a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aussetzung des Verfahrens. . . . . . c) Ruhen des Verfahrens aa) Ruhen aus Zweckmäßigkeitsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ruhen wegen Musterverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ruhen aufgrund einer Allgemeinverfügung . . . . . . . dd) Fortsetzung des Verfahrens . . d) Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . e) Exkurs: Unterbrechung des Verfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Änderungsbescheid während des Einspruchsverfahrens a) Vollabhilfebescheid und Erledigung des Einspruchsverfahrens . . b) Gegenstand des Einspruchsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.102 2.105 2.108 2.109 2.112 2.121 2.127 2.129 2.140 2.144 2.150 2.152 2.160 2.171 2.181 2.184 2.189 2.196 2.199 2.201 2.203 2.207 2.209 2.212 2.215

2.218 2.221

Schaumburg

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Kap. 2 Rz. 2.1

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

6. Hinzuziehung zum Einspruchsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Rücknahme des Einspruchs a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rücknahmeerklärung . . . . . . . . . c) Wirkungen der Rücknahme . . . . d) Teilrücknahme . . . . . . . . . . . . . . . 8. Einspruchsentscheidung a) Abschluss des Verfahrens. . . . . . . b) Teil-Einspruchsentscheidung . . . c) Allgemeinverfügung. . . . . . . . . . . 9. Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorläufiger Rechtsschutz 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . .

2.225 2.233 2.235 2.240 2.245 2.250 2.254 2.258 2.260 2.269 2.276

3. Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verzinsung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.277 2.283

B. Nichtförmliche Rechtsbehelfe I. Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.292

II. Antrag auf schlichte Änderung des Steuerbescheids. . . . . . . . . . . . . .

2.294

III. Petition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.303

IV. Gegenvorstellung . . . . . . . . . . . . . . .

2.309

V. Aufsichtsbeschwerde. . . . . . . . . . . . .

2.314

C. Exkurs: Amtshaftungsansprüche gegen das Finanzamt . . . . . . . . . . . .

2.326

A. Förmliche Rechtsbehelfe Literatur: Bilsdorfer/Morsch/Schwarz, Handbuch des steuerlichen Einspruchsverfahrens, 2. Aufl. 2008; Eberhart, Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren, 1996; Günther, Das Einspruchsverfahren gegen VA der Finanzverwaltung, AO-StB 2008, 280 (Teil I), 313 (Teil II), 348 (Teil III); Hettler, Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren nach der Abgabenordnung, Diss. Tübingen 1999; Marx, Einspruch und Klage im Steuerrecht aus entscheidungsorientierter Sicht, Ubg 2015, 421; Meier/Spohrer, Der Einspruch im Steuerrecht, 2. Aufl. 2014; Munkert/Naczinsky, Außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren, DStR 2009, Beih. 7; Pelka, Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht, in FS Joachim Lang, 2010, S. 981; Pump, Strukturierte Bearbeitung des Einspruchs und richtige Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (§ 366 AO) bei der Umsatzsteuer, StBp 2012, 162, 200, 229; Tormöhlen, Betriebsprüfung und Rechtsschutz, AO-StB 2013, 192.

I. Einführung 2.1 Beim außergerichtlichen Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Finanzbehörden ist zu differenzieren zwischen nichtförmlichen Rechtsbehelfen und förmlichen Rechtsbehelfen. Die nichtförmlichen Rechtsbehelfe sind im Unterschied zu den förmlichen Rechtsbehelfen mit Ausnahme des Antrags auf schlichte Änderung nach § 172 AO in der Abgabenordnung nicht geregelt. Sie können nicht die Wirkungen eines förmlichen Rechtsbehelfs erzielen, da sie den Eintritt der Bestandskraft eines Bescheides nicht verhindern können.

2.2 Sofern Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Bescheides bestehen, sollte in jedem Fall von einem förmlichen Rechtsbehelf, in der Regel dem Einspruch, Gebrauch gemacht werden, um den betreffenden Bescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen und um ggf. eine Aussetzung der Vollziehung erreichen zu können.

2.3 Das Einspruchsverfahren ist ein reines Verwaltungsverfahren, bei dem die Finanzbehörde die Einspruchsbehörde ist. Diese ist – anders als die Gerichte im gerichtlichen Verfahren – nicht unabhängig und bei ihren Entscheidungen an Verwaltungsvorschriften wie Richtlinien, BMFSchreiben, OFD-Verfügungen gebunden.1

1 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 16.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.8 Kap. 2

II. Einspruch Literatur: Bartone, Der Rechtsweg zu den Finanzgerichten, AO-StB 2008, 5; Bilsdorfer/Morsch/ Schwarz, Handbuch des steuerlichen Einspruchsverfahrens, 2. Aufl. Berlin 2008; Braun/Günther, Das Steuer-Handbuch, Einspruchsverfahren, Loseblatt; Eberhart, Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren, Stuttgart 1996; Gersch, Die Anfechtung von Steuerbescheiden, AO-StB 2003, 373; Günther, Das Einspruchsverfahren gegen VA der Finanzverwaltung, AO-StB 2008, 280 (Teil I), 313 (Teil II), 348 (Teil III); Haarmann, Rechtsschutz in Steuer- und Abgabensachen, Heidelberg 1997; Hettler, Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren nach der Abgabenordnung, Diss. Tübingen 1999; Marx, Einspruch und Klage im Steuerrecht aus entscheidungsorientierter Sicht, Ubg 2015, 421; Meier/Spohrer, Der Einspruch im Steuerrecht, 2. Aufl. 2014; Munkert/Naczinsky, Außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren, DStR 2009, Beih. 7; Pelka, Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht, in FS Joachim Lang, 2010, S. 981; Pump, Strukturierte Bearbeitung des Einspruchs und richtige Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (§ 366 AO) bei der Umsatzsteuer, StBp 2012, 162, 200, 229; Pump/Krüger, Die isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung in der finanzgerichtlichen Klage, DStR 2013, 891; Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Das Widerspruchsverfahren als Voraussetzung des Gerichtszugangs in VwGO, FGO und SGG, NVwZ 2011, 914; Stolterfoht, Die Verwirklichung des Rechtsschutzes im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren, DStJG 18 (1995), 77; Szymczak, Das Einspruchsverfahren nach der Abgabenordnung, NWB Fach 2, 7689.

1. Allgemeine Vorüberlegungen a) Prüfung des Bescheids Wenn der Steuerpflichtige bzw. sein Berater einen Steuerbescheid vom Finanzamt erhält, sollte der Bescheid zunächst daraufhin überprüft werden, ob das Finanzamt den in der betreffenden Steuererklärung gemachten Angaben gefolgt ist. Insbesondere etwaige Erläuterungen zum Steuerbescheid sollten sorgfältig gelesen und analysiert werden, da Abweichungen von der Erklärung hier regelmäßig bezeichnet und begründet werden.

2.4

Allerdings sollte die Prüfung nicht auf die Lektüre der Erläuterungen beschränkt bleiben. Denn die Erfahrung zeigt, dass häufig von der Erklärung zum Nachteil des Steuerpflichtigen abgewichen worden ist und hierauf in den Erläuterungen nicht hinreichend hingewiesen wird.

2.5

Schließlich sollte überlegt werden, ob in dem Bescheid noch irgendwelche zusätzlichen – bisher nicht geltend gemachten – Punkte berücksichtigt werden sollen und/oder weitere bisher vergessene Angaben gemacht werden sollen, bevor der Bescheid bestandskräftig wird.

2.6

b) Anzufechtende Maßnahme Vor Einlegung des Einspruchs muss sich der Steuerpflichtige/Berater darüber im Klaren sein, welche Maßnahme des Finanzamts mit dem Einspruch angegriffen werden soll. Dabei sind insbesondere die Vorschriften der §§ 157 Abs. 2 und 351 AO zu beachten.

2.7

Bei Bescheiden, die eine betragsmäßig festgesetzte Steuer (z. B. Einkommensteuer-, Körperschaftsteuer-, Umsatzsteuer- oder auch Erbschaftsteuerbescheid) oder einen zahlenmäßig festgesetzten Messbetrag (z. B. Gewerbesteuermessbetragsbescheid) enthalten, ist für eine Anfechtung grundsätzlich nur die Höhe der Steuer oder dieses zahlenmäßig festgesetzten Betrags maßgeblich. Die Besteuerungsgrundlagen bilden hier gem. § 157 Abs. 2 AO grundsätzlich einen mit Rechtsbehelfen nicht selbständig anfechtbaren Teil der Steuerfestsetzung, soweit diese nicht in einem besonderen Bescheid besonders festgestellt worden sind. Hieraus folgt: Der Steuerpflichtige kann sich grundsätzlich nur gegen die Höhe der Steuerfestsetzung als sol-

2.8

Schaumburg

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Kap. 2 Rz. 2.9

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

che oder den Messbetrag als solchen in dem Bescheid wenden und nicht eine einzelne der Berechnung zu Grunde gelegte Besteuerungsgrundlage, die lediglich zur Begründung der Steuerfestsetzung oder der Festsetzung des Messbetrags dient, isoliert anfechten1.

2.9 Nach § 351 Abs. 2 AO können Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid (z. B. Feststellungsbescheid) nur durch Anfechtung dieses Bescheides, nicht aber durch Anfechtung des Folgebescheides angegriffen werden. In der Praxis spielt gerade das Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid eine erhebliche Rolle. Denn häufig werden Folgebescheide mit Gründen angefochten, die sich gegen die Rechtmäßigkeit des Grundlagenbescheides richten. Dies kann zur Unzulässigkeit des betreffenden Einspruchs und vor allem dazu führen, dass die gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen bestandskräftig und damit – auch in einem Folgebescheid – bindend werden (s. Rz. 2.69 ff. und 3.254).2

2.10 Bei der Überprüfung des Steuer- oder Messbescheides muss in der Praxis in jedem Fall festgestellt werden, ob die Abweichung auf einem Feststellungsbescheid/Grundlagenbescheid beruht. Ist dies der Fall, muss für eine Anfechtung des Grundlagenbescheides gesorgt werden. c) Prüfung der Beschwer

2.11 Ein Einspruch ist nur dann zulässig, wenn der Steuerpflichtige durch den entsprechenden Steuerbescheid auch beschwert ist (s. hierzu im Einzelnen Rz. 2.37 ff.). Ist das Finanzamt von der Erklärung abgewichen, steht damit noch nicht fest, dass der Steuerpflichtige hierdurch auch beschwert ist. Deshalb muss der Steuerpflichtige/Berater feststellen, wie sich die Abweichung auf die festgesetzte Steuer ausgewirkt hat. Hat die Abweichung zu einer höheren Steuerfestsetzung geführt, liegt immer eine Beschwer vor. Ausnahmen s. Rz. 2.37 ff.) d) Einspruchsfrist

2.12 Unverzüglich sollten Steuerpflichtiger/Berater Beginn und Ende der Einspruchsfrist festhalten. Denn die Verbindlichkeit des Steuerbescheides kann nur dadurch beseitigt werden, dass dieser fristgerecht angefochten wird, damit das Finanzamt ihn aufhebt bzw. antragsgemäß ändert.

2.13 Die Einspruchsfrist beträgt in der Regel einen Monat (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO) und beginnt mit Ablauf des Tages, an dem der Verwaltungsakt (Steuerbescheid) bekannt gegeben worden ist (zur Einspruchsfrist s. Rz. 2.98 ff.). Ist die Frist schuldlos versäumt worden, kann ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden (s. Rz. 2.121 ff.).

2.14 In der Praxis sollte der Steuerpflichtige/Berater in jedem Fall versuchen, innerhalb der Frist Einspruch einzulegen: Hierfür reicht es aus, wenn der Einspruch innerhalb der Frist per Telefax, Computerfax oder E-Mail an das Finanzamt übermittelt wird. Er braucht innerhalb der Einspruchsfrist nicht begründet zu werden. Deshalb reicht es zur Fristwahrung aus, dass dem Finanzamt innerhalb der Frist ein Schriftsatz zugeht, aus dem sich ergibt, dass gegen einen bestimmten Steuerbescheid, Feststellungsbescheid oder Messbescheid Einspruch eingelegt wird.3

1 BFH v. 22.12.2003 – IX B 100/03, BFH/NV 2004, 532; Levedag in Gräber, § 40 FGO Rz. 73. 2 BFH v. 26.4.2017 – I R 76/15, DB 2017, 2140. 3 S. hierzu auch Muster M 1, Rz. 11.1.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.19 Kap. 2

Beispiel: St.-Nr. …/…/… Einkommensteuerbescheid 00 vom … Sehr geehrte Damen und Herren, gegen den o. g. Einkommensteuerbescheid lege ich Einspruch ein. Eine Begründung folgt. Unterschrift

Zur Wahrung der Einspruchsfrist reicht es aus, wenn dem Finanzamt per Email ein solches Schreiben übermittelt wird.

2.15

e) Zweckmäßigkeit des Einspruchs Vor der Einlegung eines Einspruchs sollte sich der Steuerpflichtige/Berater überlegen, ob die Einlegung eines Einspruchs tatsächlich zweckmäßig ist. Denn das Einspruchsverfahren führt grundsätzlich zu einer Gesamtaufrollung des gesamten Falles. Die Finanzbehörde kann also im Einspruchsverfahren nicht nur Fehler zu Ungunsten des Steuerpflichtigen mit Fehlern zugunsten des Steuerpflichtigen saldieren; es kann – nach vorherigem Hinweis – die Steuer auch höher festsetzen, also den Bescheid verbösern (§ 367 Abs. 2 AO; s. Rz. 2.160 ff.). Einer drohenden Verböserung kann der Steuerpflichtige allerdings dann noch durch Rücknahme des Einspruchs entgehen (s. Rz. 2.170). Schließlich sollte auch über eine mögliche Hinzuziehung Dritter nachgedacht werden, was für den Steuerpflichtigen sehr unangenehm werden kann (vgl. Rz. 2.225).

2.16

Kostengesichtspunkte spielen bei der Frage, ob Einspruch eingelegt werden soll, keine Rolle, da das Einspruchsverfahren bei der Finanzbehörde kostenfrei ist.

2.17

f) Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz Gem. § 361 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Einlegung eines Einspruchs keinen Einfluss auf die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides. Das heißt, der Steuerpflichtige muss den in dem Bescheid festgesetzten Steuerbetrag auch dann zahlen, wenn er Einspruch eingelegt hat, um Vollstreckungsmaßnahmen zu vermeiden.

2.18

Um den nachgeforderten Betrag nicht sofort zahlen zu müssen, muss der Steuerpflichtige gem. § 361 Abs. 2 Satz 2 AO beim Finanzamt einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellen.1 Diesem Antrag muss stattgegeben werden, wenn und soweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen (s. Rz. 2.269 ff.).

2.19

2. Zulässigkeit des Einspruchs Literatur: App, Zum Antrag des Einspruchsführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und zur Entscheidung des Finanzamts über diesen Antrag, BB 1990, 2312; Bilsdorfer/Morsch/Schwarz, Handbuch des steuerlichen Einspruchsverfahrens, 2. Aufl. 2008, S. 38 ff.; Bink, Rechtsbehelfseinlegung schon vor Bekanntgabe des Verwaltungsakts?, DB 1983, 1626; von Cölln, Bescheidbekanntgabe und Beginn der Einspruchsfrist, AO-StB 2006, 100; Dißars/Dißars, Einspruchsbefugnis bei einheitlicher Feststellung, Der neue § 352 der Abgabenordnung, BB 1996, 773; Gersch, Einspruchsbefugnis des Rechtsnachfolgers, AO-StB 2002, 282; Günther, Das Einspruchsverfahren gegen VA der Finanzverwaltung, AO-StB 2008, 280; Halaczinsky/Volquardsen, Außergerichtliche Rechtsbehelfe in Erbschaft- und 1 S. Muster M 3, Rz. 11.3, und M 15, Rz. 11.15.

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Kap. 2 Rz. 2.20

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

Schenkungsteuerangelegenheiten, ErbStB 2010, 240; Heinke, Der Einspruchsbevollmächtigte, § 352 Abs. 2 AO, DStZ 1997, 558; Kies, Besonderheiten bei Einspruchsverfahren gegen korrigierte Steuerbescheide, DStR 2001, 1555; Hummel, Erledigung eines Einspruchsverfahrens durch nachträgliche vorläufige Steuerfestsetzung?, in FS G. Frotscher, 2013, S. 239; Kuhfus/Schmitz, Rechtsschutz gegen Maßnahmen des Außenprüfers als Voraussetzung für ein Verwertungsverbot, BB 1996, 1468; Lohmeyer, Anfechtungsbefugnis des Rechtsnachfolgers, ZKF 1998, 113; Mutschler, Einspruchseinlegung gegen Bescheide der Finanzverwaltung durch einfache E-Mail, SteuK 2012, 241; Saradjuk/Pump, Wann beginnt die Einspruchsfrist gegen den Steuerbescheid bei unterschiedlichen Formen der Bekanntgabe?, DStR 2015, 1788.

a) Statthaftigkeit aa) Gegen Verwaltungsakte

2.20 Gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch als einziger außergerichtlicher Rechtsbehelf im steuerrechtlichen Verfahren gegen Verwaltungsakte statthaft, die erlassen werden – in Abgabenangelegenheiten, auf die die Abgabenordnung Anwendung findet (Nr. 1), – in Verfahren zur Vollstreckung von Verwaltungsakten in anderen als den oben bezeichneten Angelegenheiten, soweit die Verwaltungsakte durch Bundesfinanzbehörden oder Landesfinanzbehörden nach den Vorschriften der Abgabenordnung zu vollstrecken sind (Nr. 2), – in öffentlich-rechtlichen und berufsrechtlichen Angelegenheiten, auf die gem. § 164a StBerG die Abgabenordnung anzuwenden ist (Nr. 3) – und in anderen durch die Finanzbehörden verwalteten Angelegenheiten, soweit die Vorschriften über die außergerichtlichen Rechtsbehelfe durch Gesetz für anwendbar erklärt worden sind oder erklärt werden (Nr. 4).

2.21 § 347 Abs. 1 Satz 1 AO korrespondiert im Wesentlichen mit § 33 FGO, der Vorschrift über den Rechtsweg zu den Finanzgerichten. Wegen der Einzelheiten zu den Nrn. 1–4 des § 347 Abs. 1 AO wird deshalb auf die entsprechenden Ausführungen zu § 33 FGO verwiesen (s. Rz. 3.304 ff.). Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings: Der Rechtsweg zu den Finanzgerichten ist gegen alle finanzbehördlichen Maßnahmen eröffnet, während das Einspruchsverfahren nur gegen Verwaltungsakte i. S. des § 118 AO statthaft ist. Dabei nimmt die Rechtsprechung inzwischen beim Handeln der Finanzverwaltung in immer mehr Fällen das Vorliegen eines Verwaltungsakts an.

2.22 Mit dem Einspruch anfechtbare Verwaltungsakte sind z. B.: – Aufforderung zur Anzeige nach § 33 ErbStG durch die Steuerfahndung nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO1, – Aufforderung, den Datenzugriff zu dulden und durch Übergabe des Datenträgers hieran mitzuwirken2, – Aufforderung zur Einreichung der Anlage EÜR3, – Aufhebungs- und Änderungsbescheide, 1 BFH v. 31.5.2006 – II R 66/04, BFH/NV 2007, 350. 2 BFH v. 8.4.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579. 3 BFH v. 16.11.2011 – X R18/09, BStBl. II 2012, 129.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.23 Kap. 2

– Aufteilungsbescheide, – Abrechnungsbescheide, – die Ablehnung, einen Bescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, – Beauftragung einer anderen Behörde mit der Außenprüfung nach § 195 Satz 2 AO1, – Entscheidungen über Stundung und Erlass, – Festsetzung von Zinsen und Kosten sowie von Verspätungszuschlägen, Säumniszuschlägen u. Ä., – Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide, Zerlegungsbescheide, – Bescheide über Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO, – Haftungsbescheide und Duldungsbescheide, – Prüfungsanordnungen2 und Ergänzungsprüfungsanordnungen3, – Steuerbescheide, Steuervergütungsbescheide, – verbindliche Zolltarifauskünfte, – verbindliche Zusagen – Vollabhilfebescheide während des Einspruchsverfahrens4, – Vorlageverlangen im Rahmen einer Außenprüfung5,

2.23

Keine Verwaltungsakte und mit dem Einspruch nicht anfechtbar sind u. a.: – Antrag des Finanzamts auf Eröffnung des

Insolvenzverfahrens,6

– der Außenprüfungsbericht (er trifft keine Regelung, diese erfolgt erst durch den nachfolgenden Steuerbescheid)7, – das Benennungsverlangen nach § 160 Satz 1 AO,8 – Bestimmung des Betriebsprüfers9, – die Mahnung nach § 259 AO10, 1 Umstritten, so Seer in Tipke/Kruse, § 195 AO Rz. 11 ff. m. w. N.; vgl. BFH v. 21.4.1993 – X R 112/91, BStBl. II 1993, 649 (wenn sie zusammen mit der Prüfungsanordnung bekannt gegeben wird). 2 BFH v. 16.6.2015 – IX R 51/14, BFH/NV 2016, 1341; v. 25.11.1997 – VIII R 4/94, BStBl. II 1998, 461. 3 BFH v. 29.8.2008 – X R 9/08, BFH/NV 2009, 3. 4 BFH v. 8.4.2007 – XI R 47/05, BStBl. II 2007, 736. 5 BFH v. 25.10.2004 – VIII R 78/05, BStBl. II 2005, 455. 6 BFH v. 19.12.1989 – VII R 30/89, BFH/NV 1990, 710 m. w. N.; Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 18 m. w. N. 7 BFH v. 6.8.2014 – V B 116/13, BFH/NV 2014, 1722. 8 BFH v. 9.11.2007 – IV B 170/06, BStBl. II 1999, 199. 9 BFH v. 5.9.2009 – IV B 3/09, BFH/NV 2009, 1401; v. 29.5.2012 – IV B 79/11, BFH/NV 2012, 1412. 10 BFH v. 18.10.1994 – VII R 20/94, BStBl. II 1995, 42, BFH v. 12.7.2007 – IX S 13/07, BFH/NV 2007, 2134.

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Kap. 2 Rz. 2.24

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

– innerdienstliche Kontrollmitteilungen, – schriftliche oder mündliche Hinweise und Belehrungen bzw. unverbindliche Auskünfte (sie treffen keine verbindliche Regelung). bb) Untätigkeitseinspruch

2.24 Darüber hinaus ist der Einspruch gem. § 347 Abs. 1 Satz 2 AO statthaft, wenn geltend gemacht wird, dass über einen Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes binnen angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Hierdurch soll verhindert werden, dass die Finanzverwaltung den Rechtsschutz durch Untätigbleiben unterläuft.1

2.25 Welche Frist als angemessen angesehen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von Umfang und Schwierigkeit der Bearbeitung des Antrags in tatsächlicher (möglicherweise umfangreiche, zeitaufwändige Ermittlungen) und rechtlicher Hinsicht sowie vom schutzwürdigen Interesse des Antragstellers ab.2 Feste Regeln wird man hier kaum aufstellen können.

2.26 Weitere Voraussetzung für einen Untätigkeitseinspruch ist, dass die Behörde ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes untätig geblieben ist. Das bedeutet: Der Untätigkeitseinspruch ist nicht statthaft, wenn ein zureichender Grund für die Untätigkeit vorliegt (z. B. Voraussetzungen für das Ruhen des Verfahrens gem. § 363 Abs. 2 AO) und die Finanzbehörde dem Steuerpflichtigen diesen Grund rechtzeitig mitteilt.

2.27 Wird auch über den Untätigkeitseinspruch nicht innerhalb angemessener Frist entschieden, so kann der Steuerpflichtige gem. § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO Untätigkeitsklage (s. Rz. 3.490) erheben. cc) Ausschluss des Einspruchs in besonderen Fällen

2.28 Der Einspruch ist nicht statthaft – gegen Einspruchsentscheidungen (§ 348 Nr. 1 AO). Zwar ist auch die Einspruchsentscheidung ein Verwaltungsakt; so dass an sich hiergegen gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO wiederum der Einspruch statthaft wäre. Dies würde indessen zu einer wenig sinnvollen Häufung von Einsprüchen führen und wäre auch im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes wenig sinnvoll. Das gilt auch dann, wenn die Einspruchsentscheidung eine höhere Steuerfestsetzung und damit eine erstmalige Beschwer enthält3, sowie bei Teileinspruchsentscheidungen4. Nach Abschluss des Einspruchsverfahrens kann der Steuerpflichtige vielmehr gem. § 44 Abs. 1 FGO Klage erheben, sofern der Einspruch ganz oder teilweise ohne Erfolg geblieben ist.

2.29 – bei Nichtentscheidung über einen Einspruch (§ 348 Nr. 2 AO). Das gilt für den in § 348 Nr. 2 AO beschriebenen Fall der Nichtentscheidung über einen Einspruch. Auch hier würde die Einlegung weiterer Einsprüche wenig Sinn machen; denn auch 1 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 347 AO Rz. 24. 2 Ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 347 AO Rz. 27. 3 Vgl. dazu BFH v. 12.7.2005 – II R 10/04, BFH/NV 2006, 228; v. 22.3.2006 – XI R 24/05, BFH/NV 2006, 1179 sowie Seer in Tipke/Kruse, § 348 AO Rz. 1. 4 BFH v. 18.1.2014 – VI R 80/13, BStBl. II 2015, 115.

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Rz. 2.35 Kap. 2

in diesem Fall hat der Steuerpflichtige die Möglichkeit, ohne Abschluss des Einspruchsverfahrens gem. § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO Klage zu erheben, sog. Untätigkeitsklage (s. Rz. 3.490). – gegen Verwaltungsakte der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, außer wenn ein Gesetz das Einspruchsverfahren vorschreibt (§ 348 Nr. 3 AO). Verwaltungsakte der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, d.h. des Bundesfinanzministeriums und der Landesfinanzministerien bzw. Landesfinanzsenate, können gem. § 44 Abs. 1 FGO direkt – also ohne Vorverfahren – mit der finanzgerichtlichen Klage angegriffen werden.

2.30

– gegen Entscheidungen in Angelegenheiten des 2. und 6. Abschnitts des 2. Teils des Steuerberatungsgesetzes (§ 348 Nr. 4 AO). Diese Vorschrift betrifft Verwaltungsakte in Steuerberatungsangelegenheiten und fasst die früheren Nrn. 4 und 5 des § 348 AO zusammen.

2.31

– gegen Allgemeinverfügungen i. S. des § 172 Abs. 3 AO (§ 348 Nr. 6 AO). Gegen diese Allgemeinverfügungen kann sofort Klage erhoben werden, wobei entsprechend § 367 Abs. 2b Satz 5 AO die Klagefrist von einem Jahr nach Bekanntgabe der Allgemeinverfügung im Bundessteuerblatt Teil I zu beachten ist.1

2.32

b) Zuständigkeit aa) Regelfall Über den Einspruch entscheidet im Regelfall gem. § 367 Abs. 1 Satz 1 AO die Finanzbehörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat.

2.33

bb) Zuständigkeitswechsel Die örtliche Zuständigkeit der Finanzbehörde kann auch während des Einspruchsverfahrens wechseln. Dies kann geschehen durch Umstände, die in der Person des Steuerpflichtigen liegen (z. B. Umzug; Verlegung des Sitzes oder der Geschäftsleitung), oder durch Änderung der Zuständigkeit der betreffenden Finanzbehörde (z. B. in Fällen einer Umorganisation). Zu beachten ist dabei, dass ein Zuständigkeitswechsel kraft Gesetzes nicht bereits mit dem Vorliegen der sie begründenden Umstände (z. B. Wohnsitzwechsel) eintritt, sondern erst dann, wenn eine der beteiligten Finanzbehörden hiervon Kenntnis erlangt (§ 26 Satz 1 AO).

2.34

Bei einem Zuständigkeitswechsel entscheidet gem. § 367 Abs. 1 Satz 2 AO grundsätzlich die nachträglich zuständig gewordene Finanzbehörde. Ausnahmsweise kann aber die bisher zuständige Finanzbehörde das Einspruchsverfahren zu Ende führen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die neu zuständig gewordene Finanzbehörde ausdrücklich zustimmt (§ 367 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 26 Satz 2 AO). Der Einspruchsführer kann die Fortführung des Verfahrens durch die bisher zuständige Behörde in der Praxis natürlich anregen. Die Zustimmung und damit die Entscheidung, welche Finanzbehörde das Einspruchsverfahren zu Ende führt, ist

2.35

1 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 348 AO Rz. 6; Loose in Tipke/Kruse, § 172 AO Rz. 55.

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Kap. 2 Rz. 2.36

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

kein Verwaltungsakt, sondern eine behördeninterne Maßnahme1. Sie kann deshalb nicht mit dem Einspruch angegriffen werden. cc) Beauftragung einer anderen Behörde

2.36 Richtet sich der Einspruch gegen einen Verwaltungsakt, den eine Behörde aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift für die zuständige Finanzbehörde erlassen hat, so entscheidet die zuständige Finanzbehörde über den Einspruch; allerdings kann auch die für die zuständige Finanzbehörde handelnde Behörde dem Einspruch abhelfen (§ 367 Abs. 3 AO). Diese Vorschrift ist einschlägig in Fällen der sog. Beförderungseinzelbesteuerung durch die zuständigen Zolldienststellen gem. §§ 16 Abs. 5; 18 Abs. 5 UStG.2 Nach der Rechtsprechung des BFH gilt diese Vorschrift nicht für die Auftragsaußenprüfung gem. § 195 Satz 2 AO, so dass der Einspruch gegen die Prüfungsanordnung stets bei der Finanzbehörde zu erheben ist, die sie erlassen hat.3 c) Beschwer des Einspruchsführers aa) Zweck

2.37 § 350 AO bezweckt, die Befugnis, Einspruch gegen einen Verwaltungsakt einzulegen, einzuschränken. Nur derjenige, der durch den Verwaltungsakt oder dessen Unterlassung beschwert ist, ist berechtigt, Einspruch einzulegen; andere Personen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, sind von dieser Rechtsschutzmöglichkeit ausgeschlossen. Hierdurch sollen – ähnlich wie bei der Klagebefugnis des § 40 Abs. 2 FGO – Popularrechtsbehelfe4 verhindert werden. Dritte können daher Verwaltungsakte nur dann anfechten, wenn diese ihnen gegenüber Rechtswirkungen entfalten.5 Sie müssen geltend machen können, dass ihnen aus dem Verwaltungsakt eine steuerliche Beschwer erwächst.6 Denn das steuerliche Verfahrensrecht räumt dem Bürger keine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung ein, sondern dient der Realisierung des Individualrechtsschutzes. Dadurch wird auch Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen.7 bb) Beschwer

2.38 Im Unterschied zu § 40 Abs. 2 FGO, der Vorschrift über die Klagebefugnis, spricht § 350 AO nicht von der Geltendmachung einer „Rechtsverletzung“, sondern verwendet den Begriff „Beschwer“.

2.39 Der Begriff „Beschwer“ ist weiter als der der „Rechtsverletzung“. Zwar ist stets eine Beschwer anzunehmen, wenn der Einspruchsführer geltend macht, in seinen Rechten verletzt zu sein (s. Rz. 3.416 ff.). Darüber hinaus liegt aber auch dann eine Beschwer vor, wenn z. B. bei Ermessensentscheidungen kein Ermessensfehler in Form eines Ermessensfehlgebrauchs oder einer Ermessensüberschreitung (§ 102 FGO; s. Rz. 3.450) gerügt wird, sondern lediglich, dass – in1 BFH v. 11.8.2010 – VI B 143/09, BFH/NV 2010, 2230; Drüen in Tipke/Kruse, § 26 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 7. 2 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 9. 3 BFH v. 18.11.2008 – VIII R 16/07, BStBl. II 2009, 507; v. 15.5.2013 – IX R 27/12, BStBl. II 2013, 570; kritisch hierzu Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 9 und § 195 AO Rz. 18 f. 4 BFH v. 27.11.1985 – II R 90/83, BStBl. II 1986, 243. 5 S. dazu auch Rz. 3.435. 6 FG Bremen v. 5.8.2010 – 1 K 116/09, EFG 2010, 1773. 7 Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 1.

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Rz. 2.45 Kap. 2

nerhalb des bestehenden Ermessensspielraums – die besonderen Belange des Steuerpflichtigen stärker hätten berücksichtigt werden sollen.1 Beispiel: A stellt bei der Finanzbehörde einen Stundungsantrag bzgl. der Einkommensteuerabschlusszahlung für das Jahr 00, der mit vorübergehenden Liquiditätsproblemen begründet wird. Die Finanzbehörde lehnt den Antrag ab, ohne auf die Liquidität des A einzugehen. Hiergegen kann A Einspruch einlegen. Er ist durch die ablehnende Entscheidung in jedem Fall beschwert, da er mit seinem Einspruch geltend machen kann, die Finanzbehörde hätte seine finanzielle Situation stärker berücksichtigen sollen.

Darüber hinaus liegt eine Beschwer auch dann vor, wenn Richtlinien, Erlasse oder Verfügungen, an die die Finanzbehörde im Gegensatz zum Gericht gebunden ist, überhaupt nicht oder unrichtig angewendet worden sind.2

2.40

Generell kann davon ausgegangen werden, dass jeder belastende Verwaltungsakt eine Beschwer darstellt, also insbesondere Steuerbescheide, die zu einer Steuerschuld führen. Hier braucht das Vorliegen einer Beschwer auch nicht besonders begründet zu werden (zu Besonderheiten s. Rz. 2.54).3

2.41

cc) Beschwer durch einen Verwaltungsakt oder dessen Unterlassung Die Beschwer muss gem. § 350 AO auf einem Verwaltungsakt oder auf dessen Unterlassung beruhen. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn der Verwaltungsakt tatsächlich existent, also bekannt gegeben worden ist. Denn nur dann entfaltet er Rechtswirkungen (vgl. § 124 Abs. 1 AO).4 Vor der Bekanntgabe handelt es sich um einen behördeninternen Vorgang.

2.42

Hiervon zu unterscheiden sind die Verfahren, in denen über die Wirksamkeit der Bekanntgabe gestritten wird. In diesen Fällen ist eine Beschwer gegeben, weil zumindest der Anschein einer wirksamen Bekanntgabe erzeugt worden ist und der Steuerpflichtige ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an einer Entscheidung über die Wirksamkeit der Bekanntgabe und damit über die Wirksamkeit des Bescheides hat.5

2.43

Eine Beschwer kann sich grundsätzlich nur aus dem Ausspruch/Tenor des Verwaltungsaktes ergeben, nicht aus der Begründung.6 Falsche Begründungen, Hinweise oder Erläuterungen, die keinen Einfluss auf den Ausspruch des Verwaltungsaktes haben, können deshalb nicht zu einer Beschwer führen. Dies wird in der Praxis mitunter übersehen. Geht es dem Steuerpflichtigen beispielsweise lediglich um die Klärung einer steuerneutralen Aktivierungsfrage, die auf die Höhe der festgesetzten Steuer keinen Einfluss hat, so fehlt ihm für einen etwaigen Einspruch die Beschwer,7 so dass ein Einspruch unzulässig ist.

2.44

Ob der Tenor des Verwaltungsaktes eine Beschwer enthält, ist vielfach nicht einfach zu beantworten:

2.45

1 2 3 4 5 6 7

Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 5. Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 6. Vgl. BFH v. 27.11.1985 – II R 90/83, BStBl. II 1986, 243. Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 9. BFH v. 20.8.2014 – X R 15/10, BStBl. II 2015, 109. BFH v. 23.8.2006 – IV B 114/05, BFH/NV 2007, 66. H. M., vgl. BFH v. 4.4.1974 – IV R 7/71, BStBl. II 1974, 522.

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Kap. 2 Rz. 2.46

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

Ist die Steuerschuld auf 0 Euro festgesetzt, liegt in der Regel keine Beschwer vor.1 Dies gilt für Einkommensteuerbescheide2 und in der Regel für Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag, in denen der Gewerbesteuermessbetrag auf 0 Euro festgesetzt wird.3 Auch bei Umsatzsteuerbescheiden, die auf 0 Euro lauten, liegt im Allgemeinen keine Beschwer vor.4 Hiervon gibt es verschiedene Ausnahmen: – Mit dem Einspruch wird die Festsetzung einer Steuervergütung (z. B. die Festsetzung einer negativen Umsatzsteuer aufgrund von Vorsteuern) begehrt.5 – Durch den Einspruch betr. das Verlustrücktragsjahr soll die Anwendung des § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG ermöglicht werden.6 – Es wird eine Körperschaftsteuerfreistellung z. B. wegen Gemeinnützigkeit begehrt.7 – Einzelne Besteuerungsgrundlagen in einem Bescheid sind für andere Behörden auch zu Lasten des Steuerpflichtigen bindend. Dies gilt z. B. für Leistungen nach dem BAföG hinsichtlich der positiven Einkünfte, nicht aber hinsichtlich der außergewöhnlichen Belastungen.8. – Die zu günstige Steuerfestsetzung oder die Feststellung kann sich in späteren Jahren zum Nachteil des Steuerpflichtigen auswirken, – z. B. bei einem unrichtigen Bilanzansatz9 im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Bilanzidentität – oder bei der steuerlichen Beurteilung von bestimmten Aufwendungen als sofort abzugsfähige Werbungskosten und hieraus entstehenden Nachteilen in den Folgejahren, weil dem Steuerpflichtigen hinsichtlich der steuerrechtlichen Beurteilung ein Wahlrecht zusteht.10

2.46 Bei Gewinn- und Verlustfeststellungsbescheiden liegt eine Beschwer nicht nur dann vor, wenn geltend gemacht wird, der festgestellte Gewinn sei zu hoch, sondern auch dann, wenn eine höhere Verlustfeststellung erstrebt wird.11

2.47 Die Beschwer ergibt sich nicht zwingend nur aus der Höhe der festgesetzten Steuer. Sie kann sich auch aus der Beifügung einer unselbständigen Nebenbestimmung – Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 Abs. 1 AO oder Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 Abs. 1 AO – ergeben. Diese Nebenbestimmungen sind zwar nicht gesondert anfechtbar; der Steuerpflichti1 BFH v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015,147; v. 15.4.2010 – V R 11/09, BFH/NV 2010, 1830; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 13 m. w. N. 2 BFH v. 3.1.2011 – III B 209/09, BFH/NV 2011, 638; v. 20.4.2005 – X R 40/04, BFH/NV 2005, 1739. 3 BFH v. 25.6.2014 – I R 29/13, BFH/NV 2015, 27. 4 So BFH v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015, 147. 5 BFH v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015, 147; v. 15.10.2010 – V R 11/09, BFH/NV 2010, 1630. 6 BFH v. 11.11.2014 – I R 51/13, BFH/NV 2015, 305. 7 BFH v. 13.7.1994 – I R 5/93, BStBl. II 1995, 134; v. 13.5.1995 – II R 24/91, BStBl. II 1995, 653; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 13; AEAO zu § 350 Tz. 3 c. 8 BFH v. 29.5.1996 – III R 49/93, BStBl. II 1996, 654; AEAO zu § 350 Tz. 3 d. 9 BFH v. 19.9.1997 – IV R 16/95, BStBl. II 1997, 808. 10 Vgl. BFH v. 7.11.1989 – IX R 190/85, BStBl. II 1990, 460 m. w. N. 11 BFH v. 5.11.2009 – IV R 40/07, BStBl. II 2010, 720; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 13.

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Rz. 2.52 Kap. 2

ge kann aber mit seinem Einspruch gegen den Bescheid geltend machen, dieser sei zu Unrecht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erteilt worden oder zu Unrecht vorläufig ergangen.1 Wird mit dem Einspruch allein die Verfassungsmäßigkeit einer angewendeten Norm gerügt und ist der Bescheid insoweit vorläufig (§ 165 Abs. 1 AO) ergangen, so fehlt grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis für das Einspruchsverfahren, wenn sich die verfassungsrechtliche Streitfrage in einer Vielzahl gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und diesbezüglich bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist.2 Allerdings kann ein Rechtsschutzbedürfnis und damit auch eine Beschwer vorliegen, wenn der Einspruchsführer besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend macht3 oder eine Aussetzung der Vollziehung begehrt.4

2.48

Da die im Zusammenhang mit der Beschwer auftretenden Probleme im Wesentlichen mit denen der Klagebefugnis übereinstimmen, wird wegen weiterer Einzelheiten auf das ABC der Klagebefugnis verwiesen (s. Rz. 3.436 ff.).

2.49

dd) Geltendmachung der Beschwer Einspruchsbefugt ist gem. § 350 AO nur derjenige, der geltend macht, durch einen Verwaltungsakt oder dessen Ablehnung beschwert zu sein. Hieraus folgt, dass nur derjenige Einspruch einlegen kann, der von dem Inhalt des Verwaltungsaktes betroffen ist, für den der Verwaltungsakt also nach seinem Inhalt bestimmt ist. Dies ist in der Regel der Adressat des Verwaltungsaktes (vgl. §§ 122 Abs. 1, 124 Abs. 1 AO). Daraus folgt für Fälle der körperschaftsteuerlichen Organschaft, dass bei einem Feststellungsbescheid i. S. von § 14 Abs. 5 KStG, der sich gleichermaßen gegen den Organträger und die Organgesellschaft richtet, sowohl Organträger als auch Organgesellschaft beschwert und damit einspruchsbefugt sind.5 Drittbetroffene sind ebenfalls ohne weiteres einspruchsbefugt, soweit ihnen gegenüber der Steuerbescheid bekannt gegeben worden ist. Ist die Bekanntgabe gegenüber dem Drittbetroffenen unterblieben, hat dieser gleichwohl die Möglichkeit, Einspruch einzulegen (Drittanfechtungsrecht).6 Siehe hierzu auch Rz. 3.435.

2.50

Wird gegen Ehegatten als Gesamtschuldner ein einheitlicher Bescheid i. S. des § 155 Abs. 2 AO erlassen (z. B. Einkommensteuerbescheid), so können beide Ehegatten Einspruch einlegen, da sie beide betroffen sind. Ist der Bescheid jedoch nur an einen Ehegatten gerichtet (z. B. Umsatzsteuerbescheid, wenn nur einer der Ehegatten Unternehmer ist), so ist der Einspruch des anderen Ehegatten mangels Beschwer unzulässig. Dies wird in der Praxis häufig nicht hinreichend beachtet.

2.51

Die Zulässigkeit des Einspruchs hängt nicht davon ab, ob im Ergebnis tatsächlich eine Beschwer vorliegt. Insoweit muss sich aus dem insoweit schlüssigen Vortrag des Einspruchs-

2.52

1 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 164 AO Rz. 55 und § 165 AO Rz. 49. 2 BFH v. 16.5.2005 – VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323; v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. 3 AEAO zu § 350 Tz. 6. 4 AEAO zu § 350 Tz. 6 unter Berufung auf BFH v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. 5 Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 12; Rödder/Liekenbrock in Rödder/Herlinghaus/Neumann, § 14 KStG Rz. 769; Rödder, Ubg 2012, 717; Dötsch/Pung, DB 2013, 313; Jesse, FR 2013, 681 (689 ff.). 6 BFH v. 8.6.2011 – I R 79/10, BStBl. II 2012, 421; v. 6.2.2014 – I B 168/13; Seer in Tipke/Kruse, § 40 FGO Rz. 55a, 71.

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Kap. 2 Rz. 2.53

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

führers die ernsthafte Möglichkeit einer Beschwer ergeben. Dies folgt aus dem mit § 350 AO verfolgten Zweck, sog. Popularrechtsbehelfe1 auszuschließen.

2.53 Bei Feststellungsbescheiden nach § 151 BewG wird § 350 AO durch § 155 BewG ergänzt. Danach sind zur Einlegung von Rechtsbehelfen gem. § 155 BewG die Beteiligten i. S. des § 154 Abs. 1 BewG sowie diejenigen befugt, für deren Besteuerung nach dem GrEStG der Feststellungsbescheid von Bedeutung ist. § 352 AO und § 48 FGO gelten hier nicht.2

2.54 Der Einspruchsführer braucht das Vorliegen einer Beschwer nicht stets zu begründen. In der Abgabenordnung gibt es keine Vorschriften, die eine Pflicht zur Substantiierung des Rechtsbehelfsbegehrens normieren. § 357 Abs. 3 Satz 3 AO spricht lediglich davon, dass die Tatsachen, die zur Begründung des Einspruchs dienen, angegeben werden sollen. Deshalb besteht dann keine Notwendigkeit zur Darlegung der Beschwer, wenn der Adressat eines ihn belastenden Steuerbescheides Einspruch einlegt (sog. Adressatentheorie); mit der Einlegung des Einspruchs macht er geltend, dass er eine Überprüfung eines ihm nachteiligen Verwaltungsaktes begehrt.3

2.55 Eine Beschwer setzt aber nicht voraus, dass der Einspruchsführer den Bescheid auch tatsächlich erhalten hat. So kann der Schenker, gegen den Schenkungsteuer festgesetzt wurde, den gegen den Bedachten ergangenen Bescheid über die gesonderte Feststellung des Werts des zugewendeten Grundstücks anfechten, obwohl der Bescheid dem Schenker gegenüber keine bindende Wirkung entfaltet; insoweit wird § 350 AO durch § 155 BewG nur ergänzt, nicht aber eingeschränkt.4

2.56 Eine Beschwer setzt auch nicht voraus, dass dem Einspruchsführer etwas versagt worden ist. Sie kann auch vorliegen, wenn er antragsgemäß veranlagt worden ist. Beispiel: A hat bei der zuständigen Finanzbehörde seine Einkommensteuererklärung 00 eingereicht: Er ist antragsgemäß veranlagt worden. Bei der Überprüfung des entsprechenden Steuerbescheides stellt A fest, dass er vergessen hat, Fortbildungskosten als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend zu machen. Hier liegt eine Beschwer vor, da A geltend macht, dass die festgesetzte Einkommensteuer zu hoch ist, weil noch weitere Werbungskosten zu berücksichtigen sind, die zu einer Verminderung der Steuerschuld führen. Dass der A diesen Umstand schuldhaft nicht bereits mit seiner Erklärung geltend gemacht hat, schließt eine Beschwer nicht aus. Die Beurteilung einer Beschwer hängt nicht von Verschuldensfragen ab.

ee) Wegfall der Beschwer

2.57 Eine Beschwer muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch vorliegen. Entfällt sie nach Einlegung des Einspruchs, aber vor der Einspruchsentscheidung, so ist der Einspruch unzulässig geworden.

2.58 Die Beschwer kann entfallen, wenn der angefochtene Bescheid aufgehoben oder antragsgemäß geändert wird. Sie entfällt nicht durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides.

1 2 3 4

BFH v. 27.11.1985 – II R 90/83, BStBl. II 1986, 243. BFH v. 6.7.2011 – II R 43/10, BFH/NV 2011, 2122. BFH v. 27.11.1985 – II R 90/83, BStBl. II 1986, 243. BFH v. 6.7.2011 – II R 43/10, BFH/NV 2011, 2122.

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Rz. 2.66 Kap. 2

d) Einspruchsbefugnis Wer beschwert ist, ist grundsätzlich auch einspruchsbefugt (§ 350 AO). Allerdings ist zu beachten:

2.59

Bei mehreren Personen ist neben der Beschwer als allgemeiner Einspruchsbefugnis bei einheitlichen Feststellungsbescheiden (§ 179 Abs. 2 Satz 2 AO) zusätzlich die Einspruchsbefugnis nach § 352 AO zu beachten. Bei Gesellschaftern, Gemeinschaftern oder sonstigen Mitberechtigten ist in der Praxis immer sorgfältig zu prüfen, wer überhaupt befugt ist, gegen den Feststellungsbescheid Einspruch einzulegen.1 Wird Einspruch für eine nicht einspruchsbefugte Person eingelegt, ist der Einspruch unzulässig mit der Folge, dass der anzufechtende Bescheid in Bestandskraft erwächst. Dies könnte ggf. eine Haftung des Beraters auslösen.

2.60

§ 352 Abs. 1 Nr. 1 AO schränkt die Einspruchsbefugnis ein, wenn zur Vertretung berufene Geschäftsführer oder Empfangsbevollmächtigte i. S. von § 183 AO vorhanden sind. Da § 352 AO dem § 48 FGO entspricht, kann hierauf verwiesen werden (s. Rz. 3.418 ff.).

2.61

Der ausgeschiedene Gesellschafter kann gegen den Feststellungsbescheid immer Einspruch einlegen (§ 352 Abs. 1 Nr. 3 AO), sobald der Bescheid mit der Bekanntgabe an einen der Beteiligten existent geworden ist.2 Die fehlende Bekanntgabe an den einspruchsberechtigten Beteiligten hat dabei zur Folge, dass die Anfechtung ohne zeitliche Begrenzung möglich ist.

2.62

Bei der Rechtsnachfolge ist in § 353 AO die Einspruchsbefugnis des Rechtsnachfolgers für verschiedene Fälle klarstellend erwähnt:

2.63

Bei der Gesamtrechtsnachfolge (z. B. Erbfolge) tritt der Erbe in die Rechtsposition des Rechtsvorgängers ein (§ 45 AO). Er kann die Steuerbescheide, die gegen den Erblasser als Adressaten vor Eintritt der Gesamtrechtsnachfolge ergangen sind, nur anfechten, wenn die Einspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist.3 Ist ein Bescheid schon bestandskräftig, tritt der Gesamtrechtsnachfolger auch hier in die Rechtsstellung des Rechtsvorgängers ein und hat keine Möglichkeit mehr, hiergegen Einspruch einzulegen.

2.64

Bei der Einzelrechtsnachfolge (rechtsgeschäftlicher Erwerb) hat der Erwerber mit den gegen den Veräußerer ergangenen Steuerbescheiden grundsätzlich nichts zu tun und hat insoweit auch keine Einspruchsbefugnis, da er insoweit nicht beschwert ist. Lediglich bei Feststellungsbescheiden mit quasi dinglicher Wirkung (Einheitswertbescheide – § 182 Abs. 2 AO –, Grundsteuermessbescheide – § 184 Abs. 1 Satz 4 AO – sowie Zerlegungs- und Zuteilungsbescheide – §§ 185 und 190 AO –), die bereits vor der Einzelrechtsnachfolge ergangen sind und die auch gegen den Rechtsnachfolger wirken, ist der Erwerber innerhalb der für den Rechtsvorgänger maßgebenden Einspruchsfrist befugt, Einspruch einzulegen.4

2.65

Tritt die Rechtsnachfolge ein, bevor einer der in § 353 AO genannten Bescheide erlassen worden ist, wirkt der Bescheid gegen den Rechtsnachfolger nur dann, wenn er ihm bekannt gegeben worden ist.5

2.66

1 Vgl. dazu BFH v. 18.8.2015 – I R 42/14, BFH/NV 2016, 164. 2 BFH v. 31.7.1980 – IV R 18/77, BStBl. II 1981, 33; v. 14.10.2003 – VIII R 32/01, BStBl. II 2004, 359. 3 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 353 AO Rz. 2. 4 Vgl. auch AEAO zu § 353 Tz. 2 und 3. 5 Vgl. AEAO zu § 353 Tz. 1.

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Kap. 2 Rz. 2.67

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

e) Bindungswirkung anderer Verwaltungsakte aa) Anfechtungsbeschränkung bei Änderungsbescheiden

2.67 Gem. § 351 Abs. 1 AO können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, grundsätzlich nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht, es sei denn dass sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten etwas anderes ergibt. In der Praxis wird diese Einschränkung der Einspruchsmöglichkeit häufig übersehen. Damit soll verhindert werden, dass die bereits eingetretene Bestandskraft bei Erlass von Änderungsbescheiden durchbrochen wird.

2.68 Diese eingeschränkte Anfechtungsmöglichkeit von Änderungsbescheiden tritt nur ein, wenn der ursprüngliche Bescheid bereits vor Erlass des Änderungsbescheids unanfechtbar war. War die Einspruchsfrist noch nicht angelaufen, findet § 351 Abs. 1 AO keine Anwendung. Der Änderungsbescheid ist dann ohne Einschränkung anfechtbar. Ohne Einschränkung anfechtbar ist der Änderungsbescheid auch dann, wenn der geänderte Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand. bb) Änderung von Folgebescheiden

2.69 Eine weitere Einschränkung der Einspruchsbefugnis enthält § 351 Abs. 2 AO: Danach können Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid i. S. des § 171 Abs. 10 AO nur durch Anfechtung dieses Bescheides, nicht auch durch Anfechtung des Folgebescheides angegriffen werden. Auch dies wird in der Praxis häufig nicht hinreichend beachtet. Mit dieser Regelung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die in dem Grundlagenbescheid festgestellten Besteuerungsgrundlagen gem. § 182 AO für den Folgebescheid bindend sind und deshalb auch nicht mehr von dem für den Erlass des Folgebescheides zuständigen Finanzamt überprüft werden können (vgl. § 171 Abs. 10 AO).1

2.70 Für die Praxis besonders bedeutsam sind hier die Fälle des § 180 AO, insbesondere die sog. Gewinnfeststellungsbescheide. Streitig, ist, ob die gegenüber dem Folgebescheid erhobenen Einwendungen, die den Grundlagenbescheid betreffen, zur Unzulässigkeit oder zur Unbegründetheit des Einspruchs gegen den Folgebescheid führen.2 Letztlich handelt es sich dabei aber um ein akademisches Problem.

2.71 Wichtig für die Praxis ist jedenfalls die folgende Konstellation: Wird z. B. der Gewinn gem. § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO gesondert festgestellt, so können Einwendungen gegen die Höhe des festgestellten Gewinns nur durch einen Einspruch gegen den betreffenden Grundlagenbescheid (Feststellungsbescheid) geltend gemacht werden, nicht aber im Rahmen eines Einspruchs gegen den Folgebescheid (Einkommensteuerbescheid). Wird dies übersehen und wird der Grundlagenbescheid bestandskräftig, so könnte dies zur Haftung des Beraters führen.

1 BFH v. 12.10.2010 – I R 99/09, BFH/NV 2011, 650; v. 16.9.2015 – I R 20/13, BFH/NV 2016, 586; v. 26.4.2017 – I R 76/15, DB 2017, 2140. 2 Der BFH geht von der Zulässigkeit, aber Unbegründetheit aus, vgl. z. B. BFH v. 12.10.2011 – VIII R 2/10, BFH/NV 2012, 776; kritisch hierzu Seer in Tipke/Kruse, § 351 AO Rz. 54 m. w. N. der unterschiedlichen Meinungen hierzu in Rechtsprechung und Literatur.

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Rz. 2.77 Kap. 2

Allerdings kann im Verfahren gegen den Folgebescheid immer eingewendet werden, ein Grundlagenbescheid sei noch nicht oder nicht wirksam erlassen worden, weil dann keine Bindungswirkung eingetreten sein kann.1

2.72

f) Beteiligtenfähigkeit Beteiligter eines Einspruchsverfahrens kann nur derjenige sein, der beteiligtenfähig ist (§ 78 AO). Hierunter ist die Fähigkeit zu verstehen, in einem Verwaltungsverfahren Träger von Rechten und Pflichten sein zu können. Im Steuerrecht kann deshalb Beteiligter nur sein, wer steuerrechtsfähig ist. Die Steuerrechtsfähigkeit bestimmt sich nach den jeweiligen Steuergesetzen. Deshalb sind steuerrechtsfähig natürliche und juristische Personen, aber auch nichtrechtsfähige Personenvereinigungen wie z. B. die OHG, KG oder BGB-Gesellschaft, sofern das jeweilige Steuergesetz sie für steuerrechtsfähig erklärt, wie z. B. für den Bereich des Umsatzsteuerrechts.2

2.73

Unabhängig davon ist im Einspruchsverfahren jeder beteiligtenfähig, der Adressat des betreffenden Steuerbescheides ist, gegen den sich also der Steuerbescheid seinem Inhalt nach richtet. In der Praxis ist die Frage der Beteiligtenfähigkeit lediglich von untergeordneter Bedeutung.

2.74

g) Handlungsfähigkeit Die Handlungsfähigkeit (§ 79 AO) ist von der Beteiligtenfähigkeit zu unterscheiden. Sie entspricht der Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht. Man versteht hierunter die Fähigkeit, in rechtlich zulässiger Weise Verfahrenshandlungen selbst, also ohne Vertreter vornehmen zu können, z. B. selbst Einspruch einlegen zu können.

2.75

Gem. § 365 Abs. 1 i. V. m. § 79 Abs. 1 AO sind im Einspruchsverfahren handlungsfähig

2.76

1. natürliche Personen, die nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig sind, 2. natürliche Personen, die nach bürgerlichem Recht in der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind, soweit sie für den Gegenstand des Verfahrens durch Vorschriften des bürgerlichen Rechts als geschäftsfähig oder durch Vorschriften des öffentlichen Rechts als handlungsfähig anerkannt sind, 3. juristische Personen, Vereinigungen oder Vermögensmassen durch ihre gesetzlichen Vertreter oder durch besondere Beauftragte sowie 4. Behörden durch ihre Leiter, deren Vertreter oder Beauftragte. h) Vertretung Literatur: Baum/Sonnenschein, Modernisierung des Besteuerungsverfahrens, Teil 5: Neuerungen bei Vollmachten zur Vertretung im Besteuerungsverfahren und bei den amtlichen Vollmachtsformularen, NWB 2016, 2934; Höreth/Stelzer, Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens, DStZ 2016, 520.

Der Steuerpflichtige kann den Einspruch selbst ohne steuerlichen Berater einlegen und das Einspruchsverfahren selbst durchführen. Er muss dies aber nicht tun, sondern kann sich 1 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 351 AO Rz. 54; BFH v. 6.12.1995 – I R 131/94, BFH/NV 1996, 592. 2 Wegen weiterer Einzelheiten vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 33 AO Rz. 25 ff.

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2.77

Kap. 2 Rz. 2.78

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

auch gem. § 80 AO durch einen von ihm ausgewählten Bevollmächtigten vertreten lassen, der für ihn handelt. Die Finanzbehörde muss diese ausgewählte Person – es muss sich nicht zwingend um einen Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe handeln1 – grundsätzlich akzeptieren und muss sich auch grundsätzlich an den Bevollmächtigten wenden.2 Die maßgebliche Vorschrift des § 80 AO ist durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (StModernG) vom 18.7.20163 mit Wirkung ab dem 1.1.2017 neu gefasst und ergänzt worden. Im Folgenden wird die Neuregelung dargestellt.

2.78 Die Vollmacht kann nach wie vor formlos erteilt werden.4 Aus Beweisgründen ist es aber empfehlenswert, diese schriftlich zu erteilen. Die dem Bevollmächtigten erteilte Vollmacht ermächtigt grundsätzlich zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt (§ 80 Abs. 1 Satz 2 AO). Soll der Bevollmächtigte also z. B. nicht zur Rücknahme des Einspruchs berechtigt sein, so muss die ihm erteilte Vollmacht ausdrücklich eine solche Einschränkung enthalten. Die Vollmachtserteilung berechtigt auch zur Erteilung einer Untervollmacht.5 Erteilt der Steuerpflichtige eine allgemeine Vollmacht, so schließt diese in aller Regel eine Empfangsvollmacht ein, es sei denn, der Bevollmächtigte weist ausdrücklich darauf hin, dass keine Bevollmächtigung zur Empfangnahme von Steuerbescheiden bestehe.6 Die Vollmacht ermächtigt wie bisher allerdings nicht zum Empfang von Steuererstattungen und Steuervergütungen (§ 80 Abs. 1 Satz 2 2. Halbs. AO). Das Finanzamt kann nach § 80 Abs. 3 AO nunmehr auch ohne Anlass den Nachweis der Vollmacht verlangen. Da es sich hierbei um eine Ermessensvorschrift handelt, muss das Finanzamt nach pflichtgemäßem Ermessen eine Entscheidung treffen, ob der Nachweis der Vollmacht notwendig ist oder nicht. Dabei darf es jedenfalls nicht willkürlich handeln. Im Hinblick darauf wird das Finanzamt den Nachweis nur verlangen, wenn begründete Zweifel an der Vertretungsmacht bestehen. Das gilt insbesondere für die Bevollmächtigung von Angehörigen der steuerberatenden Berufe.7 Denn nach § 80 Abs. 2 AO besteht eine gesetzliche Vollmachtsvermutung für bestimmte Angehörige der steuerberatenden Berufe, die allerdings nicht die Befugnis zum Abruf von Daten bei der Finanzverwaltung umfasst. Diese muss gesondert nachgewiesen werden.

2.79 Die Vollmachtsvermutung gilt für – Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer – Partnerschaftsgesellschaften, deren Partner ausschließlich den steuer- und rechtsberatenden Berufen angehören, – Steuerberatungsgesellschaften, Rechtsanwaltsgesellschaften, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Buchprüfungsgesellschaften – Lohnsteuerhilfevereine, soweit sie für ihre Mitglieder Hilfe in Steuersachen leisten.

1 2 3 4 5 6

Baum/Sonnenschein, NWB 2016, 2934. S. dazu die Ausführungen bei Baum/Sonnenschein, NWB 2016, 2934. BGBl. I 2016, 1679. BFH v. 23.3.2010 – IV B 28/09, BFH/NV 2010, 1242; Drüen in Tipke/Kruse, § 80 AO Rz. 9. BFH v. 23.3.2010 – IV B 28/09, BFH/NV 2010, 1242; Drüen in Tipke/Kruse, § 80 AO Rz. 15. BFH v. 7.9.2005 – IV B 67/04, BFH/NV 2006, 234; Werth in Kühn/von Wedelstädt, § 123 AO Anm. 4; Fritsch in Koenig, § 123 AO Rz. 8. 7 Drüen in Tipke/Kruse, § 80 AO Rz. 24a, 25.

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Rz. 2.83 Kap. 2

Der Nachweis kann erbracht werden durch schriftliche oder elektronische Übermittlung der Vollmacht seitens des Bevollmächtigten oder aber durch mündliche Bestätigung durch den Vollmachtgeber an Amtsstelle.1

2.80

Die Vollmacht erlischt durch Widerruf, der dem Finanzamt gegenüber allerdings erst mit dem Zugang wirksam wird (§ 80 Abs. 1 Satz 3 AO). Gleiches gilt für eine Änderung im Umfang der Vollmacht.

2.81

Beispiel: Der Steuerberater X legt mit Vollmacht für den A fristgerecht Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 00 ein. Da A sich nicht gut beraten fühlt, wird die Vollmacht am 30.12.00 von A widerrufen. Am 2.1.01 nimmt X den von ihm eingelegten Einspruch zurück. Am 4.1.01 gehen beim Finanzamt der Widerruf der Vollmacht und eine Begründung des Einspruchs durch A ein. Die Einspruchsfrist ist abgelaufen. Das Vorbringen des A kann nicht mehr berücksichtigt werden, weil der Einspruch wirksam durch X zurückgenommen worden ist.

Die Vollmacht erlischt ferner durch den Tod oder durch den Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Bevollmächtigten. Demgegenüber wird sie nicht durch den Tod des Vollmachtgebers oder durch eine Veränderung in seiner Handlungsfähigkeit oder durch eine Veränderung seiner gesetzlichen Vertretung aufgehoben (§ 80 Abs. 4 Satz 1 AO). Der Bevollmächtigte hat jedoch, wenn er für den Rechtsnachfolger im Verwaltungsverfahren, also auch im Einspruchsverfahren, auftritt, auf Verlangen des Finanzamts die Vollmacht des Rechtsnachfolgers nachzuweisen (§ 80 Abs. 4 Satz 2 AO).

2.82

Das Finanzamt hat die Bevollmächtigung und die Person des Bevollmächtigten grundsätzlich zu akzeptieren. Das Finanzamt muss einen Bevollmächtigten jedoch nach der Neuregelung in § 80 Abs. 7 AO zurückweisen, wenn er geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leistet, ohne dazu befugt zu sein. Es kann ferner einen Bevollmächtigten von einem schriftlichen, elektronischen oder mündlichen Vortrag zurückweisen, soweit er hierzu ungeeignet ist (§ 80 Abs. 8 Satz 1 AO). Zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen berufene Personen – wie Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer (§ 3 Nr. 1 StBerG) sowie Notare und Patentanwälte (§ 4 Nr. 1 und 2 StBerG), der Leiter eines Lohnsteuerhilfevereins (§ 23 Abs. 3 StBerG) und natürliche Personen, die für eine landwirtschaftliche Buchstelle tätig sind, können nicht wegen Ungeeignetheit zurückgewiesen werden. Die Zurückweisung muss dem Bevollmächtigten und dem Einspruchsführer bekanntgegeben werden (§ 80 Abs. 7 Satz 2 AO). Hierbei handelt es sich um einen rechtsgestaltenden Verwaltungsakt,2 der von beiden Adressaten angefochten werden kann.3 Es kann auch eine Aussetzung der Vollziehung erfolgen. Zu beachten ist allerdings, dass die Zurückweisung in jeden Fall dazu führt, dass Verfahrenshandlungen des zurückgewiesenen Bevollmächtigten, die dieser nach der Zurückweisung vornimmt, unwirksam sind (§ 80 Abs. 10 AO), wenn im Hauptsacheverfahren die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung bestätigt wird.4 Damit wirkt sich die Zurückweisung unmittelbar auf die Wirksamkeit später vorgenommener Verfahrenshandlungen des Bevollmächtigten aus. In der Praxis sollte der Vollmachtgeber, der die Zurückweisung anficht, jedenfalls keine Aussetzung der Vollziehung beantragen, da er hiermit ein großes Risiko eingeht.

2.83

1 2 3 4

Baum/Sonnenschein, NWB 2016, 2934 (2935); Höreth/Stelzer, DStZ 2016, 520 (522). BFH v. 19.12.2014 – II B 115/14, BFH/NV 2015, 473. Drüen in Tipke/Kruse, § 80 AO Rz. 100. BFH v. 19.12.2014 – II B 115/14, BFH/NV 2015, 473.

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Kap. 2 Rz. 2.84

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.84 Die Bevollmächtigung hat zur Folge, dass Handlungen des Bevollmächtigten unmittelbar dem Steuerpflichtigen zuzurechnen sind. Das bedeutet, Verfahrenshandlungen und Erklärungen des Bevollmächtigten werden rechtlich als solche des Steuerpflichtigen behandelt.1 Dies gilt konsequenterweise auch für Versäumnisse, z.B. Fristversäumnisse (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 2 AO).

2.85 Das Finanzamt soll sich an den Bevollmächtigten wenden (§ 80 Abs. 5 AO). Grundsätzlich steht es in dem von den Gerichten nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessen der Behörde, ob sie sich an den Beteiligten selbst oder an dessen Bevollmächtigten wendet.2 In aller Regel soll sich die Behörde aber an den Bevollmächtigten halten und darf nur in Ausnahmefällen an den Beteiligten selbst herantreten.3 Liegt aber eine schriftliche Vollmacht vor, so muss die Finanzbehörde förmliche Zustellungen gegenüber dem Bevollmächtigten vornehmen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG).4

2.86 Wendet sich das Finanzamt an den Beteiligten selbst, so soll der Bevollmächtigte hiervon verständigt werden (§ 80 Abs. 5 Satz 2 AO).

2.87 Der Einspruchsführer, der keinen Bevollmächtigten bestellt hat, kann zu Verhandlungen und Besprechungen im Einspruchsverfahren mit einem Beistand erscheinen (§ 80 Abs. 6 AO). Dieser hat keine Vollmacht, sondern ist dadurch legitimiert, dass er in Anwesenheit des Einspruchsführers für diesen das Wort ergreifen darf. Das von dem Beistand Vorgetragene muss sich der Einspruchsführer dann zurechnen lassen, sofern er nicht unverzüglich widerspricht. Auch der Beistand kann vom Finanzamt zurückgewiesen werden, wenn er zu einem sachgemäßen Vortrag nicht fähig oder willens ist (§ 80 Abs. 9 Satz 2 AO). Leistet er unbefugt geschäftsmäßig Hilfeleistung in Steuersachen, so hat das Finanzamt keine Wahl, sondern es muss ihn dann zurückweisen (§ 80 Abs. 9 Satz 1 AO). Insoweit gelten die zur Zurückweisung von Bevollmächtigten gemachten Ausführungen entsprechend.

2.88 Durch den neu eingeführten und ab dem 1.1.2017 geltenden § 80a AO wird ein rechtlicher Rahmen für die elektronische Übermittlung von Vollmachtsdaten an die Landesfinanzbehörden auf der Grundlage der erstmals im Jahre 2013 eingeführten amtlichen Vollmachtsformulare geschaffen. Diese Formulare können abgerufen werden unter www.formulare-bfinv.de, Stichworte: „Formulare A–Z“, „Vollmacht“. Die Verwendung dieser Formulare ist unabdingbare Voraussetzung für die elektronische Übermittlung von Vollmachtsdaten nach dem amtlich vorgeschriebenen Datensatz, um die Tatsache der Bevollmächtigung sowie den Umfang der Vollmacht anzuzeigen.5 Dem Bevollmächtigten ist es aber freigestellt, an diesem Verfahren teilzunehmen. i) Form und Inhalt des Einspruchs Literatur: Levandowski/Ackermann, Elektronische Kommunikation mit dem Finanzamt, DStR 2014, 1646; Nöcker, Die E-Mail im Einspruchs- und Klageverfahren, AO-StB 2007, 267; Nöcker, Das Drama um den Nullbescheid – Auslegung des fehlerhaft bezeichneten Einspruchsschreibens eines Beraters, AO-StB 2014, 54. 1 Drüen in Tipke/Kruse, § 80 AO Rz. 5. 2 BFH v. 3.2.2004 – VII R 30/02, BStBl. II 2004, 439; v. 27.2.1986 – IV R 72/85, BStBl. II 1986, 547. 3 BFH v. 26.10.2005 – X B 41/05, BFH/NV 2006, 243. 4 BFH v. 29.7.1987 – I R 367, 379/83, BStBl. II 1988, 242 zu § 8 VwZG a. F. 5 Vgl. dazu Baum/Sonnenschein, NWB 2016, 2934 ff. (2939 ff.).

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.94 Kap. 2

aa) Form Der Einspruch muss gem. § 357 Abs. 1 Satz 1 AO schriftlich oder elektronisch eingelegt oder zur Niederschrift der Finanzbehörde erklärt werden. Es genügt, wenn aus dem Einspruch hervorgeht, wer ihn eingelegt hat (§ 357 Abs. 1 Satz 2 AO).

2.89

Die Schriftform ist bereits dann gewahrt, wenn sich aus einem Schriftstück der Wille des Steuerpflichtigen ergibt, gegen einen Verwaltungsakt Einspruch einlegen zu wollen. Eine unrichtige Bezeichnung des Einspruchs schadet nicht (so ausdrücklich § 357 Abs. 1 Satz 3 AO). Im Unterschied zur Schriftform des § 126 BGB ist eine eigenhändige Namensunterschrift des Steuerpflichtigen nicht zwingend erforderlich.1 Dies ergibt sich aus § 357 Abs. 1 Satz 2 AO: Danach genügt es für einen Einspruch, wenn aus dem Schriftstück hervorgeht, wer den Einspruch eingelegt hat. In der Praxis ist jedenfalls darauf zu achten, dass bei Einlegung des Einspruchs die Schriftform gewahrt wird. Es empfiehlt sich, das Schriftstück mit einer Unterschrift zu versehen.

2.90

Ein Einspruch kann auch beim Finanzamt durch Erklärung zur Niederschrift eingelegt werden. Die Wahrung der Schriftform durch Erklärung zur Niederschrift setzt das persönliche Erscheinen des Steuerpflichtigen oder seines Vertreters an Amtsstelle voraus. Erforderlich ist, dass der Steuerpflichtige selbst oder sein Vertreter persönlich die Erklärung bei dem zuständigen Finanzbeamten, meist dem Sachbearbeiter der Veranlagungsstelle, abgibt und dieser die Erklärung schriftlich niederlegt und unterzeichnet. Eine mündliche oder telefonische Einspruchseinlegung ist nicht möglich, auch wenn der Finanzbeamte hierüber einen Vermerk fertigt.2

2.91

Das Einspruchsschreiben kann per Telegramm, Telefax, Telebrief, Fernschreiben, Telekopie, Computerfax u. Ä. übermittelt werden.3 Es kommt auch eine Einlegung per E-Mail in Betracht, sofern eine entsprechende Zugangsöffnung durch die Finanzverwaltung erfolgt ist (§ 87a Abs. 1 Satz 1 AO). Für diese Fälle ist eine qualifizierte elektronische Signatur nicht erforderlich.4 Dies ist auch konsequent, da das Einspruchsschreiben nicht zwingend mit einer Unterschrift versehen werden muss.

2.92

Will der Einspruchsführer zugleich für seinen Ehegatten Einspruch einlegen, so muss klar und unmissverständlich erkennbar sein, dass der Einspruchsführer auch für den anderen Ehegatten handeln will.5

2.93

bb) Inhalt Zum Inhalt des Einspruchs enthält das Gesetz in § 357 Abs. 3 AO lediglich Sollvorschriften. Insbesondere muss der Einspruch nicht begründet und auch kein Antrag gestellt werden.6

1 BFH v. 13.5.2015 – III R 26/14, BStBl. II 2015, 790; Seer in Tipke/Kruse, § 357 AO Rz. 12. 2 BFH v. 10.7.1964 – III 120/61 U, BStBl. III 1964, 590; Seer in Tipke/Kruse, § 357 AO Rz. 9; Bartone in Beermann/Gosch, § 357 AO Rz. 22. 3 Vgl. BFH v. 19.1.1989 – IV R 21-23/87, BStBl. II 1989, 567, und v. 26.3.1991 – VIII B 83/90, BStBl. II 1991, 463 (zur Klageerhebung). 4 BFH v. 13.5.2015 – III R 26/14, BStBl. II 2015, 790; Drüen in Tipke/Kruse, § 357 AO Rz. 8.12; AEAO zu § 87a Tz. 3.2.4; zu § 357 Tz. 1 Satz 2. 5 BFH v. 30.10.1997 – III 27/93, BFH/NV 1998, 982. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 357 AO Rz. 22, § 364b AO Rz. 6.

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2.94

Kap. 2 Rz. 2.95

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.95 Danach soll bei der Einlegung des Einspruchs der angefochtene Verwaltungsakt bezeichnet werden. Außerdem soll angegeben werden, inwieweit der Verwaltungsakt angefochten und seine Aufhebung beantragt wird. Ferner sollen die Tatsachen, die zur Begründung dienen, und die Beweismittel (§ 92 AO) angeführt werden. Mit der Formulierung der Anforderungen an den Inhalt des Einspruchs als Sollvorschriften hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass die entsprechenden Angaben nicht innerhalb der Einspruchsfrist gemacht werden müssen, sondern nachgeholt werden können.

2.96 Innerhalb der Einspruchsfrist muss feststehen, welcher Verwaltungsakt tatsächlich angefochten wird. Der angefochtene Verwaltungsakt muss sich aus der Einspruchsschrift dergestalt ergeben, dass er sich entweder durch Auslegung unter Anwendung der allgemeinen1 Auslegungsgrundsätze2 und unter Berücksichtigung von Umständen außerhalb der Einspruchsschrift3 ermitteln lässt oder dass Zweifel oder Unklarheiten am Gewollten von der Finanzbehörde durch Rückfragen beseitigt werden können.4 Denn ein Einspruch, mit dem ein Verwaltungsakt angefochten werden soll, muss sich gegen einen (bestimmten) Verwaltungsakt richten, und die Zulässigkeit eines solchen Einspruchs setzt voraus, dass der Einspruchsführer geltend macht, durch diesen Verwaltungsakt beschwert zu sein. Die genauen Angaben zu dem angefochtenen Bescheid – z. B. das Datum – können allerdings später nachgeholt werden.

2.97 Gelingt es in der Praxis nicht, innerhalb der Einspruchsfrist den Bescheid sorgfältig zu überprüfen, so empfiehlt es sich, vorsorglich einen Einspruch einzulegen, ohne diesen zu begründen. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass der Bescheid bestandskräftig wird. Stellt sich später heraus, dass der angefochtene Bescheid rechtmäßig und nicht zu beanstanden ist, wird der Einspruch zurückgenommen. Kosten fallen hierbei nicht an. j) Einspruchsfrist aa) Dauer

2.98 Gem. § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes einzulegen. Die Frist verlängert sich bei einem schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsakt bei unrichtiger oder unterbliebener Rechtsbehelfsbelehrung auf ein Jahr ab Bekanntgabe des Verwaltungsakts (§ 356 Abs. 2 AO). Die Rechtsbehelfsbelehrung ist jedenfalls nicht deshalb unrichtig, weil sie nicht auf die Möglichkeit der Einspruchseinlegung auf elektronischem Weg hinweist.5

2.99 Die Einspruchsfrist ist eine gesetzliche Ausschlussfrist; sie kann deshalb nicht nach § 109 Abs. 1 AO von der Finanzbehörde verlängert werden. bb) Einspruch vor Bekanntgabe

2.100 Der Beginn der Einspruchsfrist hängt von der wirksamen Bekanntgabe ab. Ein vor der Bekanntgabe eingelegter Einspruch ist deshalb grundsätzlich unzulässig und muss nach Be-

1 2 3 4

S. M 1, Rz. 11.1. Seer in Tipke/Kruse, § 357 AO Rz. 14. BFH v. 19.8.2013 – X R 44/11, BStBl. II 2014, 234. Vgl. BFH v. 28.11.2001 – I R 93/00, BFH/NV 2002, 613; v. 19.6.1997 – IV R 51/96, BFH/NV 1996, 6. 5 St. Rspr., vgl. BFH v. 18.3.2014 – VIII R 33/12, BStBl. II 2014, 922 m. w. N.

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Rz. 2.103 Kap. 2

kanntgabe wiederholt werden.1 Das gilt auch dann, wenn der Inhalt des Bescheids dem Steuerpflichtigen schon – etwa aufgrund einer Schlussbesprechung oder einer mündlichen Erörterung an Amtsstelle – bekannt ist.2 Derartige schon im Voraus „vorsorglich“ eingelegte Einsprüche sind unzulässig und wachsen auch nicht in die Zulässigkeit hinein. Sie müssen vielmehr wiederholt werden. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Steuerpflichtige den Bescheid vor der Bekanntgabefiktion des § 122 AO erhalten hat. Hier wäre es bloße Förmelei, die Bekanntgabefiktion aufgrund der sog. Dreitagesfrist abzuwarten, bevor ein zulässiger Einspruch eingelegt werden kann.3 Beispiel: Der an A adressierte Einkommensteuerbescheid 00 wird am 1.2.01 per einfachem Brief zur Post gegeben. A erhält diesen Bescheid am 2.2.01. Natürlich kann er jetzt sofort einen zulässigen Einspruch einlegen, auch wenn der Bescheid gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tage nach Aufgabe zur Post, also am 4.2.01 als bekanntgegeben gilt.

Für die Anfechtung ist immer Voraussetzung, dass der Bescheid durch die Bekanntgabe existent geworden ist. Ein einheitlicher und gesonderter Feststellungsbescheid kann von einem einspruchsbefugten Feststellungsbeteiligten allerdings dann vor der Bekanntgabe an ihn selbst ohne zeitliche Begrenzung angefochten werden, wenn der Bescheid an einen anderen Beteiligten bekannt gegeben worden ist, da der Bescheid mit der Bekanntgabe an einen Feststellungsbeteiligten existent geworden ist4.

2.101

cc) Unwirksame und nichtige Bescheide Voraussetzung für den Beginn der Einspruchsfrist ist eine wirksame Bekanntgabe. Bei Bekanntgabemängeln, die zur Unwirksamkeit des Bescheides führen, beginnt die Frist nicht zu laufen5. Dies ist konsequent, da gem. § 124 Abs. 1 AO ohnehin der Verwaltungsakt erst in dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem er demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, bekannt gegeben wird. Allerdings hat das Finanzamt durch die fehlerhafte Bekanntgabe den Rechtsschein eines wirksam gewordenen Verwaltungsakts ausgelöst, was zur unbefristeten Anfechtung, und zwar auch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist, führt.6

2.102

Weist das Finanzamt auf die Versäumung der Einspruchsfrist hin und droht die Abweisung des Einspruchs als unzulässig an, so sollte in der Praxis in jedem Fall mit besonderer Aufmerksamkeit geprüft werden, ob eine wirksame Bekanntgabe des Bescheides gem. § 122 AO erfolgt ist. Ein häufiger zu beobachtender Bekanntgabefehler ist, dass der Bescheid an eine nicht zur Empfangnahme berechtigte Person bekannt gegeben wird. Ebenso ist hier die falsche Bekanntgabe bei Vorliegen einer schriftlichen Empfangsvollmacht zu erwähnen. Ist dem Finanzamt eine schriftliche Empfangsvollmacht zugeleitet worden, muss die Bekanntgabe von Bescheiden bei der nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO gebotenen Ermessensausübung (Ermessensreduzierung auf null) an den Empfangsbevollmächtigten erfolgen.7 Wird stattdessen der Bescheid lediglich dem Steuerpflichtigen bekannt gegeben, ist die Bekanntgabe zunächst unwirksam und

2.103

1 BFH v. 8.4.1983 – V I R 209/79, BStBl. II 1983, 551; BFH v. 14.11.2012 – II R 14/11, BFH/NV 2013, 693. 2 Siegers in HHSp, § 355 AO Rz. 19. 3 Seer in Tipke/Kruse, § 355 AO Rz. 9 m. w. N.; Siegers in HHSp, § 355 AO Rz. 19. 4 BFH v. 7.8.1990 – VIII R 257/84, BFH/NV 1991, 507; BFH v. 6.7.2011 – II R 44/10, BStBl. II 2012, 5 m. w. N. 5 BFH v. 10.7.1986 – V R 96/95, BStBl. II 1986, 834. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 355 AO Rz. 6. 7 BFH v. 9.6.2005 – IX R 25/04, BFH/NV 2006, 225; Drüen in Tipke/Kruse, § 80 AO Rz. 16; Werth in Beermann/Gosch, § 355 AO Rz. 16.

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Kap. 2 Rz. 2.104

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

die Einspruchsfrist beginnt nicht zu laufen. In diesem Fall gilt aber in analoger Anwendung von § 8 VwZG der Bescheid in dem Zeitpunkt als bekannt gegeben, in dem der richtige Empfänger bzw. der Empfangsbevollmächtigte den Bescheid tatsächlich erhält. Insoweit tritt eine Heilung ein, die zum Beginn der Einspruchsfrist führt.1

2.104 Die Einspruchsfrist beginnt auch dann nicht zu laufen, wenn der angefochtene Bescheid aus anderen Gründen nichtig ist, da nichtige Bescheide keinerlei Rechtswirkungen entfalten können. Gleichwohl kann gegen den nichtigen Bescheid Einspruch eingelegt werden, denn er erweckt den Schein der Rechtswirksamkeit. Die Rechtsbehelfsfrist braucht in einem solchem Fall nicht gewahrt zu werden.2 dd) Einspruchsfrist bei Steueranmeldungen

2.105 Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gem. § 355 Abs. 1 Satz 2 1. Halbs. AO innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde einzulegen. Auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe kann hier nicht abgestellt werden, da die Steueranmeldungen (Umsatzsteuervoranmeldung, Lohnsteueranmeldung, Kapitalertragsteueranmeldung u. a.) gem. § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichkommen, folglich kein förmlicher Bescheid erteilt wird, wenn die Festsetzung nicht zu einer abweichenden Steuer führt (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO).

2.106 Führt die Voranmeldung allerdings zu einer niedrigeren Steuer als bisher oder zu einer Steuervergütung, steht sie einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erst dann gleich, wenn die Finanzbehörde zustimmt (§ 168 Satz 2 AO). Für die Zustimmung ist keine Form vorgeschrieben (§ 168 Satz 3 AO); sie kann schriftlich wie mündlich erfolgen, ausdrücklich oder konkludent, z. B. durch Überweisung des Vergütungsbetrages.3 In diesen Fällen ist gem. § 355 Abs. 1 Satz 2 2. Halbs. AO der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden – nicht Bekanntgabe – der Zustimmung einzulegen.4 Jede Form des Bekanntwerdens reicht hier aus. Erhält der Steuerpflichtige keine schriftliche Mitteilung über die Zustimmung des Finanzamtes zur Steueranmeldung, beginnt die Frist regelmäßig erst mit der Zahlung der Steuervergütung oder des Mindersolls zu laufen.

2.107 Da die Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich steht, kann auch nach Ablauf der Einspruchsfrist trotz formeller Bestandskraft die Steueranmeldung noch umfassend bis zum Ablauf der Festsetzungsverjährung (§ 164 Abs. 4 AO) geändert werden. ee) Untätigkeitseinspruch

2.108 Der sog. Untätigkeitseinspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 2 AO – s. Rz. 2.24 ff.) kann unbefristet eingelegt werden (§ 355 Abs. 2 AO). Hier laufen keine Einspruchsfristen.

1 2 3 4

AEAO zu § 122 Tz. 4.5.1; BFH v. 6.6.2000 – VII R 55/99, BStBl. II 2000, 560. FG München v. 26.7.2012 – 5 K 2812/11, juris m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 355 AO Rz. 3. BFH v. 28.2.1996 – XI R 42/94, BStBl. II 1996, 660. BFH v. 28.2.1996 – XI R 42/94, BStBl. II 1996, 660; AEAO zu § 168 Tz. 2.

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Rz. 2.113 Kap. 2

ff) Rechtsbehelfsbelehrung Bei schriftlichen1 oder elektronischen2 Verwaltungsakten beginnt die Frist für die Einlegung des Einspruchs gem. § 356 Abs. 1 AO nur, wenn der Bescheid mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist. Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung ist, dass der Beteiligte über den Einspruch und die Finanzbehörde, bei der er einzulegen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist (§ 356 Abs. 1 AO). Eine solche Rechtsbehelfsbelehrung wird den Steuerbescheiden in aller Regel beigefügt (vgl. § 157 Abs. 1 Satz 3 AO).

2.109

Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Einspruchs nur binnen eines Jahres nach der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zulässig, es sei denn,

2.110

– dass die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Hier gilt aber § 110 Abs. 2 AO sinngemäß (§ 356 Abs. 2 Satz 2 AO), weshalb der Einspruch innerhalb eines Monats, nachdem die höhere Gewalt beseitigt ist, einzulegen ist, – oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Einspruch nicht gegeben sei (§ 356 Abs. 2 Satz 1 AO). Droht die Abweisung des Einspruchs wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig, so sollte in der alltäglichen Praxis auf jeden Fall geprüft werden, ob die Rechtsbehelfsbelehrung ordnungsgemäß erfolgt ist. Denn die Frist verlängert sich bei einem schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsakt bei unrichtiger oder unterbliebener Rechtsbehelfsbelehrung auf ein Jahr ab Bekanntgabe des Verwaltungsakts (§ 356 Abs. 2 AO). Die Rechtsbehelfsbelehrung ist allerdings nicht allein deshalb unrichtig, weil nicht auf die Möglichkeit der Einspruchseinlegung auf elektronischem Weg hingewiesen worden ist.3

2.111

gg) Fristenberechnung Für die Berechnung der Einspruchsfrist gelten gem. § 365 Abs. 1 i. V. m. § 108 Abs. 1 AO die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 187 ff. BGB entsprechend. Wichtig für den Beginn der Einspruchsfrist ist § 187 Abs. 1 BGB: Danach wird bei der Berechnung der Einspruchsfrist der Tag nicht mitgerechnet, an dem der betreffende Verwaltungsakt bekannt gegeben worden ist. Denn die Bekanntgabe ist nach § 355 Abs. 1 AO ein Ereignis, das für den Anfang der Einspruchsfrist maßgebend ist. Die Frist endet nach § 108 Abs. 1 AO i. V. m. § 188 Abs. 2 1. Halbs. BGB mit dem Ablauf des Tages des Monats, welcher durch seine Benennung oder durch seine Zahl dem Tag entspricht, in den das Ereignis – hier: die Bekanntgabe – fällt. Nach § 108 Abs. 3 AO und § 193 AO endet die Einspruchsfrist immer mit Ablauf des nächstfolgenden Werktages, wenn das Ende der Frist auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt.

2.112

Der Tag der Bekanntgabe ist4 bei einfacher Zusendung:

2.113

– bei Zusendung durch einfachen Brief der 3. Tag nach Aufgabe zur Post (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO), 1 2 3 4

Gem. § 157 Abs. 1 AO müssen Steuerbescheide grundsätzlich schriftlich erteilt werden. S. § 87a AO Abs. 4. St. Rspr., vgl. BFH v. 18.3.2014 – VIII R 33/12, BStBl. II 2014, 922 m. w. N. Überblick bei Brandis in Tipke/Kruse, § 108 AO Rz. 11.

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Kap. 2 Rz. 2.114

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

– bei Zustellung durch eingeschriebenen Brief der Tag der Quittung auf dem Rückschein (§ 4 Abs. 1 VwZG) bzw. der 3. Tag nach Aufgabe zur Post (§ 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG), – bei elektronischer Übermittlung der 3. Tag nach der Absendung (§ 122 Abs. 2a AO).

2.114 bei förmlicher Zustellung: – bei Zustellung mit Postzustellungsurkunde der Tag der Zustellung (§ 3 VwZG), – bei Zustellung durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis der Tag der Zustellung (§ 5 VwZG), – bei Zustellung mittels elektronischer Zustellung der Tag der Zustellung (§ 5 Abs. 7 Satz 2 VwZG) – bei Nutzung eines De-Mail-Dienstes der 3. Tag nach der Absendung (§ 5a Abs. 4 VwZG).

2.115 bei öffentlicher Zustellung: – der Tag, an dem seit der Bekanntmachung der Benachrichtigung zwei Wochen vergangen sind (§ 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG).

2.116 Bei der Fristenberechnung ist in der Praxis für den Fristenbeginn immer darauf zu achten, welche Form der Bekanntgabe die Finanzbehörde gewählt hat, ob die Zustellung durch einfachen Brief erfolgt ist oder mit Postzustellungsurkunde.

2.117 Bei Zustellung durch einfachen Brief gilt für die Bekanntgabe immer die Dreitagevermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, wonach der Bescheid als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, auch wenn er früher zugegangen ist, es sei denn der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Fällt dabei der dritte Tag des Dreitageszeitraums auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend, so verlängert sich die Frist bis zum nächstfolgenden Werktag.1 Diese Fristverlängerung hinsichtlich der Bekanntgabe, die nur an einem Werktag erfolgen kann, gilt aber nur bei der Bekanntgabefiktion nach § 122 AO und sonst nicht!2 Beispiel: Ein Bescheid wird am Mittwoch, 10.1., mit einfachem Brief zur Post gegeben (Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 AO). Der Bescheid gilt nach der Dreitagevermutung, da der dritte Tag auf einen Sonnabend fällt, am Montag, den 15.1., als bekannt gegeben. Die Einspruchsfrist beginnt am 16.1., da der Tag der Bekanntgabe gem. § 187 Abs. 1 BGB nicht mitgerechnet wird, und endet gem. § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des Tages, welcher mit seiner Benennung demjenigen entspricht, in den das Ereignis – hier die Bekanntgabe – gefallen ist, also am 15.2. (sofern kein Samstag oder Sonntag, sonst am nächsten Werktag).

2.118 Bei der förmlichen Zustellung mit Postzustellungsurkunde gilt dagegen der Bescheid an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die Zustellung nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes tatsächlich als bewirkt gilt und der von dem Zusteller beurkundet wird (z. B. Tag der Übergabe oder der Ersatzzustellung). Dieser Tag hat mit der o. g. Dreitagevermutung nichts zu tun! Beispiel: Ein Bescheid wird am Freitag, 12.1. per Zustellungsurkunde förmlich zugestellt. Hier beginnt die Einspruchsfrist am 13.1., da der Tag der Bekanntgabe gem. § 187 Abs. 1 BGB nicht mit1 St. Rspr. seit BFH v. 14.10.2003 – IX 68/98, BStBl. II 2003, 898; v. 11.3.2004 – VII R 13/03, BFH/ NV 2004, 1065; BFH v. 5.5.2014 – III B 85/13, BFH/NV 2014, 1186 m. w. N. 2 Siegers in HHSp, § 355 AO Rz. 60.

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Rz. 2.125 Kap. 2

gerechnet wird. Die Einspruchsfrist endet gem. § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des Tages, welcher mit seiner Benennung demjenigen entspricht, in den das Ereignis – hier die Bekanntgabe – gefallen ist, also am 12.2. (sofern kein Samstag oder Sonntag, sonst am nächsten Werktag).

Existiert bei einer nach Monaten bemessenen Frist ein der Benennung entsprechender Tag in dem Monat des Fristablaufs nicht, endet die Frist gem. § 108 Abs. 1 AO i. V. m. § 188 Abs. 3 BGB mit dem Ablauf des letzten Tages des betreffenden Monats.

2.119

Beispiel: Bekanntgabe des Bescheids am 31.1.; Fristbeginn am 1.2.; Fristende: 28.2. um 24.00 Uhr (bei Schaltjahr am 29.2.)!

Der Steuerpflichtige bzw. sein Berater haben dafür Sorge zu tragen, dass der Einspruch bis zum Ablauf der Einspruchsfrist beim zuständigen Finanzamt eingeht. Er hat hierfür im Zweifelsfall den Nachweis zu erbringen.

2.120

hh) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Literatur: Zaumseil, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Verfahrensfehlern des Finanzamts, StBW 2012, 609.

Wird die Einspruchsfrist versäumt, so müssen Steuerpflichtiger und Berater in jedem Fall sorgfältig prüfen, ob nicht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommt.

2.121

Gem. § 110 Abs. 1 AO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist (hierzu rechnet auch die Einspruchsfrist) einzuhalten. Ein etwaiges Verschulden des Beraters wird dem Steuerpflichtigen zugerechnet, dieses muss der Steuerpflichtige also gegen sich gelten lassen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO).

2.122

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfolgt grundsätzlich aufgrund eines – formlosen – Antrags, der innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen ist.1 Er ist zu begründen; die Tatsachen zu seiner Begründung sind glaubhaft zu machen. Außerdem muss – darauf ist stets zu achten, wenn der Antrag Erfolg haben soll – die versäumte Handlung (hier die Einlegung des Einspruchs) innerhalb der Monatsfrist nachgeholt werden. Die Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe kann erst später erfolgen.

2.123

Über die Frage der Wiedereinsetzung wird nicht in einem besonderen Verfahren entschieden. Hierüber entscheidet die Finanzbehörde vielmehr im Einspruchsverfahren. Sieht sie den Antrag als begründet an, wird sie – sofern die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen – in die Prüfung der Begründetheit des Einspruchs eintreten. Sieht sie die Wiedereinsetzung als nicht begründet an, wird sie den Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verwerfen.

2.124

Da die Voraussetzungen des § 110 AO für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand denen des § 56 FGO für eine Wiedereinsetzung entsprechen, wird wegen der Einzelheiten auf die entsprechenden Ausführungen unter Rz. 3.541 ff. verwiesen. Abweichend von § 56 Abs. 2 FGO beträgt die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Einspruchsfrist einen Monat und nicht nur lediglich zwei Wochen (vgl. § 110 Abs. 2 AO).

2.125

1 S. Muster M 2, Rz. 11.2.

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Kap. 2 Rz. 2.126

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.126 Wird der Einspruch wegen Verspätung als unzulässig verworfen, so sollte in der Praxis zusätzlich überprüft werden, ob die Steuerfestsetzung möglicherweise unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) steht, und deshalb eine Änderung des Bescheides – unabhängig von Einspruchsfristen – beantragt werden kann. Dies wird immer wieder übersehen! ii) Versäumung der Einspruchsfrist

2.127 Wird die Einspruchsfrist versäumt und kommt auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht, ist der Einspruch gem. § 358 Satz 2 AO grundsätzlich als unzulässig zu verwerfen. Das bedeutet: Mag der Steuerpflichtige mit seinen Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides im Recht sein und die Steuer zu seinen Lasten zu hoch festgesetzt sein, kann er mit seinem Einspruch keinen Erfolg haben. Die Steuer kann also nicht herabgesetzt werden, weil der Einspruch unzulässig ist. In diesem Fall findet keine Überprüfung der Rechtmäßigkeit mehr statt.

2.128 Trifft den steuerlichen Berater an der Versäumung der Einspruchsfrist ein Verschulden, so kann dieser haftpflichtig gemacht werden, wenn die Fristversäumung für den Eintritt eines Schadens kausal ist, das heißt, wenn der Einspruch ansonsten Erfolg gehabt hätte und zu einer Herabsetzung der Steuer geführt hätte. In diesen Fällen sollte der Berater darauf achten, dass er den Fall rechtzeitig seiner Berufshaftpflichtversicherung meldet und ggf. nach Rücksprache mit der Versicherung eine finanzgerichtliche Entscheidung herbeiführt, ob ihn tatsächlich ein Verschulden an der Versäumung der Frist trifft. In der Praxis sollte in diesen Fällen zusätzlich überprüft werden, ob die Steuerfestsetzung möglicherweise unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) steht, und deshalb eine Änderung des Bescheides – unabhängig von Einspruchsfristen – beantragt werden kann. k) Einspruchsverzicht

2.129 Gem. § 354 Abs. 1 AO kann der Steuerpflichtige auf die Einlegung eines Einspruchs verzichten. Ein solcher Einspruchsverzicht führt zum Verlust der Möglichkeit, in zulässiger Weise Einspruch einlegen zu können, darüber hinaus aber auch jedenfalls faktisch zu einem Verlust der Klagemöglichkeit.1 Der Einspruchsverzicht hat deshalb in der Praxis keine große Bedeutung. Er kommt allerdings im Rahmen von Schlussbesprechungen bei tatsächlichen Verständigungen vor, wobei dann aus einer analogen Anwendung von § 354 Abs. 1 Satz 2 AO hergeleitet werden muss, dass ein solcher Verzicht wirksam ist.2 Schließlich kommt ein Einspruchsverzicht als Teilverzicht auch im Zusammenhang mit Verständigungs- und Schiedsverfahren insbesondere bei DBA in Betracht (§ 354 Abs. 1a AO).

2.130 Folgende Besonderheiten sind beim Einspruchsverzicht zu beachten: 2.131 Der Verzicht kann grundsätzlich erst nach Erlass des Verwaltungsaktes wirksam erklärt werden (§ 354 Abs. 1 Satz 1 AO). Erlass ist gleichbedeutend mit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (vgl. § 124 Abs. 1 Satz 1 AO).

2.132 Der Verzicht kann allerdings auch bereits bei Abgabe einer Steueranmeldung ausgesprochen werden für den Fall, dass die Steuer nicht abweichend von der Steueranmeldung festgesetzt wird (§ 354 Abs. 1 Satz 2 AO). Hieraus ist abzuleiten, dass ein Verzicht im Rahmen einer

1 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 354 AO Rz. 1. 2 Ähnlich Brandis in Tipke/Kruse, § 354 AO Rz. 3.

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Rz. 2.140 Kap. 2

tatsächlichen Verständigung – bestimmter Änderungsbescheid gegen Einspruchsverzicht – wirksam ist. Der Verzicht ist gegenüber der zuständigen Finanzbehörde schriftlich oder zur Niederschrift zu erklären (§ 354 Abs. 2 Satz 1 AO). Dies entspricht der Form, in der der Einspruch einzulegen ist (vgl. § 357 Abs. 1 AO und Rz. 2.89 ff.).

2.133

Der Schriftsatz oder die Niederschrift, worin der Verzicht erklärt wird, darf keine weitere Erklärung enthalten (§ 354 Abs. 2 Satz 1 2. Halbs. AO). Der Verzicht darf nicht Bestandteil eines anderen Textes sein,1 weil sich der Steuerpflichtige über die Bedeutung seiner Erklärung bewusst sein soll.

2.134

Der Verzicht kann nur vor der Einlegung eines Einspruchs erklärt werden; wird er nach Einlegung eines Einspruchs erklärt, ist er regelmäßig als Rücknahme des Einspruchs auszulegen.2

2.135

Erfüllt ein Rechtsbehelfsverzicht die o. g. Voraussetzungen nicht, so ist er unwirksam. Er ist darüber hinaus dann unwirksam, wenn er durch eine Täuschungshandlung, Drohung, Zwang und ähnliche Handlungen durch die Finanzbehörde zu Stande gekommen ist.3

2.136

Nach § 354 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 110 Abs. 3 AO kann die Unwirksamkeit eines Verzichts nach einem Jahr seit Ablauf der Einspruchsfrist nicht mehr geltend gemacht und der unterlassene Einspruch nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf des Jahres infolge höherer Gewalt nicht möglich war.

2.137

Die Unwirksamkeit des Verzichts kann nicht in einem besonderen Verfahren geltend gemacht werden. Der Steuerpflichtige muss vielmehr gegen den betreffenden Verwaltungsakt Einspruch einlegen. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens muss die Finanzbehörde dann über die Wirksamkeit des Verzichts entscheiden. Hält sie den Einspruchsverzicht für wirksam, muss sie den Einspruch als unzulässig verwerfen. Hält sie den Verzicht für unwirksam und liegen die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vor, so muss sie in eine Sachprüfung eintreten, also prüfen, ob der Einspruch begründet und der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist.

2.138

Von einem Einspruchsverzicht sollte man in der Praxis nur vorsichtig Gebrauch machen. Will der Steuerpflichtige einen Bescheid nicht anfechten, braucht er lediglich die Rechtsbehelfsfrist verstreichen zu lassen. Einer Verzichtserklärung bedarf es hierzu nicht. Im Rahmen von Schlussbesprechungen kann der Steuerpflichtige auch mit einer tatsächlichen Verständigung arbeiten, ohne auf die Einlegung eines Einspruchs verzichten zu müssen. Denn an eine wirksame tatsächliche Verständigung ist der Steuerpflichtige ebenso wie die Finanzverwaltung ohnehin gebunden.

2.139

l) Rechtsschutzbedürfnis Aus den allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen folgt, dass der Rechtsschutz suchende Bürger ein schutzwürdiges Interesse an einer konkreten Entscheidung haben muss. Fehlt

1 BFH v. 3.4.1984 – VII R 18/80, BStBl. II 1984, 513; Birkenfeld in HHSp, § 354 AO Rz. 33; Brandis in Tipke/Kruse, § 354 AO Rz. 4. 2 So Brandis in Tipke/Kruse, § 354 AO Rz. 4. 3 Brandis in Tipke/Kruse, § 354 AO Rz. 4.

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2.140

Kap. 2 Rz. 2.141

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

ein derartiges Rechtsschutzbedürfnis, ist der Einspruch unzulässig. Insoweit wird auf die Ausführungen zum Rechtsschutzinteresse bei der Klageerhebung verwiesen (s. Rz. 3.472).

2.141 Einem Einspruch fehlt z.B. grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis, wenn mit ihm ausschließlich Einwände erhoben werden, die sich auf die Verfassungsmäßigkeit einer im Steuerfall angewendeten gesetzlichen Regelung beziehen und der Bescheid in diesem Punkt deshalb gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig ergangen ist, weil die verfassungsrechtliche Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist.1 In einem solchen Fall kann der Steuerpflichtige im Allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden.2 Eine weitere verfassungsrechtliche Klärung in eigener Sache kann er gegebenenfalls später durch Rechtsbehelfe gegen die vom Finanzamt nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO zu treffende Entscheidung herbeiführen, wenn ihm nach dem Ausgang des Musterverfahrens die Streitfrage nicht ausreichend beantwortet erscheint.

2.142 Musterverfahren und Einspruchsverfahren müssen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleich gelagert sein; in dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche, möglicherweise sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Musterverfahren und Einspruchsverfahren müssen schließlich dieselbe Vorschrift,3 nicht aber notwendigerweise auch das gleiche Streitjahr betreffen.4

2.143 Das Rechtsschutzbedürfnis ist allerdings trotz des o. g. Vorläufigkeitsvermerks ausnahmsweise dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige eigene bisher nicht vorgetragene andere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert betr. die Verfassungsmäßigkeit einer Norm vorbringen will und eine weitere Vorlage an das BVerfG mit neuen Argumenten und neuen zusätzlichen Gerichtspunkten oder eine erstmalige Entscheidung des BFH herbeiführen will.5 Das Rechtsschutzbedürfnis ist auch dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige die Aussetzung der Vollziehung begehrt, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen.6 m) Zeitpunkt des Vorliegens der Zulässigkeitsvoraussetzungen

2.144 Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Einspruchs müssen im Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzamts über den Einspruch vorliegen. Bis dahin können Zulässigkeitsmängel, soweit sie überhaupt heilbar sind, noch geheilt werden, so dass ein zunächst unzulässiger Einspruch ggf. noch zulässig werden kann.

2.145–2.149

Einstweilen frei.

1 BFH v. 22.3.1996 – III B 173/95, BStBl. II 1996, 506. 2 BFH v. 10.11.1993 – X B 83/93, BStBl. II 1994, 119; v. 16.2.2005 – VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323. 3 BFH v. 27.11.1992 – III B 133/91, BStBl. II 1993, 240. 4 BFH v. 22.3.1996 – III B 173/95, BStBl. II 1996, 506. 5 BFH v. 7.2.1992 – III B 24-25/91, BStBl. II 1992, 408; v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. 6 So ausdrücklich AEAO zu § 350 Tz. 6 Abs. 3; Niedersächsisches FG v. 16.2.2016 – 7 V 237/15, juris.

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Rz. 2.153 Kap. 2

3. Begründetheit des Einspruchs Literatur: Hirschfeld, Vorbehalt der Nachprüfung im Einspruchs- und Rechtsmittelverfahren, DB 1981, 337; Kirchhof, Rückkehr zur Gesamtaufrollung?, DStR 2007, 2284; Kirchhof, Rechtsstaatliche Anforderungen an den Rechtsschutz in Steuersachen, DStJG 18 (1995), 17; List, Überlange Dauer von Einspruchsverfahren – Grundgesetzliche Problematik und Sanktionen, DB 2005, 571; Mittelbach, Änderung angefochtener Steuerbescheide im Einspruchsverfahren, DStR 1974, 715; Olgemöller/ Kamps, Handlungsbedarf bei „Abhilfebescheiden“, die entgegen der Erklärung des Finanzamts dem Einspruch tatsächlich nicht umfassend abhelfen?, DStR 2000, 1723; Patzschke, Selbstanzeige gemäß § 371 AO und Einspruch gegen den Steuerbescheid, StB 2013, 78; Pump, Ist der Einspruch gegen den Vollabhilfebescheid statthaft?, StBp. 1998, 22.

a) Allgemeines Kommt die Finanzbehörde zu dem Ergebnis, dass der eingelegte Einspruch zulässig ist, hat sie seine Begründetheit zu überprüfen. Begründet ist der Einspruch dann, wenn der angefochtene Verwaltungsakt ganz oder teilweise rechtswidrig ist und den Einspruchsführer in seinen Rechten verletzt bzw. der Anspruch des Einspruchsführers auf Erlass eines abgelehnten Verwaltungsaktes ganz oder teilweise zu Unrecht abgelehnt worden ist. Bei Ermessensentscheidungen kann der Einspruch auch dann ganz oder teilweise begründet sein, wenn die Finanzbehörde aus Zweckmäßigkeitserwägungen heraus zu einer Korrektur des Verwaltungsaktes gelangt.

2.150

Für die Überprüfung des angefochtenen Bescheides im Einspruchsverfahren gelten im Prinzip die gleichen Grundsätze wie für das Veranlagungsverfahren. Dies ergibt sich aus der Verweisung in § 365 Abs. 1 AO auf die Vorschriften, die für den Erlass des angefochtenen oder begehrten Verwaltungsaktes gelten. Das Einspruchsverfahren ist insofern ein „verlängertes Verwaltungsverfahren“.1 Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass das Gesetz für das Einspruchsverfahren Abweichungen vorschreibt, wie z. B. für die sog. Verböserung (s. Rz. 2.160 ff.).

2.151

b) Prüfungsumfang § 367 Abs. 2 Satz 1 AO verpflichtet die zuständige Finanzbehörde, die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen. Dabei gelten für sie dieselben Regeln, die für das dem Einspruchsverfahren vorangegangene Verfahren gegolten haben (vgl. § 365 Abs. 1 AO). Das Einspruchsverfahren hat also nicht lediglich Rechtsschutzfunktion – im Unterschied zum finanzgerichtlichen Verfahren. Es ist vielmehr als Verlängerung des Verwaltungsverfahrens ausgestaltet.2 Allerdings entspricht die erneute Gesamtüberprüfung nicht der Realität, da diese für die Rechtsbehelfsstellen zu zeitaufwändig ist.3

2.152

Die Finanzbehörde ist an die Sachanträge des Steuerpflichtigen nicht gebunden; sie kann den angefochtenen Bescheid grundsätzlich auch bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung zu seinem Nachteil ändern (sog. Verböserung, s. Rz. 2.160 ff.). im Klageverfahren ist eine solche Änderung nur zulässig, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift vorliegen. Die Verböserung kann der Einspruchsführer nur durch Rücknahme des Einspruchs vermeiden.

2.153

1 So BFH v. 20.7.2007 – VIII B 8/06, BFH/NV 2007, 2069. 2 So BFH v. 20.7.2007 – VIII B 8/06, BFH/NV 2007, 2069. 3 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 11.

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Kap. 2 Rz. 2.154

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.154 Die Verböserungsmöglichkeit endet bei einem endgültigen, nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid mit der Festsetzungsverjährung. Der Ablauf der Verjährung des Steueranspruchs wird durch die Einlegung des Einspruchs gem. § 171 Abs. 3a AO in vollem Umfang gehemmt. Die frühere Rechtsprechung, wonach die Festsetzungsfrist nur im Umfang des Rechtsbehelfsantrags gehemmt wurde1, ist durch § 171 Abs. 3a AO überholt.2

2.155 Bei einem Feststellungsbescheid, der allerdings mehrere, selbständig anfechtbare Feststellungen enthält und dadurch ohne weiteres teilbar ist, kann der Steuerpflichtige durch eine Teilanfechtung die Verböserungsmöglichkeit des Finanzamts hinsichtlich der nicht angefochtenen Feststellungen ausschließen. Derartige im Einzelnen selbständig anfechtbare Feststellungen enthalten z. B. Gewinnfeststellungsbescheide hinsichtlich der Feststellungsbeteiligten, der Höhe des Gewinns und der Gewinnverteilungsquote oder aber Einheitswertbescheide betreffend Art, Wert und Zurechnung eines Grundstücks. Die Teilanfechtung hat zur Folge, dass die nicht angegriffene Feststellung bestandskräftig wird (Teilbestandskraft). Eine Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen kommt deshalb nur dann noch in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift (z. B. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – Änderung wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen, die zu einer höheren Steuer führen – oder § 164 Abs. 2 AO bei einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung) vorliegen, falls keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.

2.156 Dies gilt auch, wenn gegen mehrere Verwaltungsakte (mehrere Steuerarten und/oder mehrere Jahre) in einem Schreiben – äußerlich verbundene – Einsprüche eingelegt werden, wie dies häufig nach einer Betriebsprüfung geschieht. Hier kann natürlich jeder einzelne Einspruch zurückgenommen werden, so dass die entsprechenden Steuerbescheide in Bestandskraft erwachsen.3

2.157 Die Prüfungskompetenz der Finanzbehörde ist auf den Sachverhalt beschränkt, der von dem angefochtenen Bescheid erfasst wird. Mit anderen Worten: Nur im Rahmen des Lebenssachverhalts, der durch den angefochtenen Bescheid erfasst worden ist, darf die Finanzbehörde prüfen, ob der steuerrechtlich erhebliche Sachverhalt vollständig und richtig ermittelt und die betreffende Steuer richtig festgesetzt worden ist.4 Denn Gegenstand des Einspruchsverfahrens ist der angefochtene Bescheid (§ 347 Abs. 1, § 357 Abs. 2 und 3 AO). Insoweit findet die Überprüfungsmöglichkeit des Finanzamts ihre Grenze im angefochtenen Verwaltungsakt. Die Prüfung darf also nicht auf Personen, Zeiträume oder Steuern ausgedehnt werden, die von dem angefochtenen Bescheid nicht erfasst werden.5

2.158 Von Bedeutung wird diese Beschränkung vor allem bei der Grunderwerbsteuer6: Hat die Finanzbehörde in dem angefochtenen Bescheid, z. B. in dem Vorgang A, einen grunderwerbsteuerpflichtigen Sachverhalt erfasst, so kann sie im Einspruchsverfahren nicht stattdessen den Vorgang B grunderwerbsteuerlich erfassen.

2.159 Steht der angefochtene Verwaltungsakt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO), oder ist er ganz oder teilweise vorläufig ergangen (§ 165 Abs. 1 AO), ist die Fi1 2 3 4 5

BFH v. 8.7.1998 – I R 112/97, BStBl. II 1999, 123. BFH v. 6.9.2006 – XI R 51/05, BStBl. II 2007, 83. So auch Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 34. BFH v. 28.7.1993 – II R 50/90, BFH/NV 1993, 712. Vgl. ausführlich BFH v. 4.7.2013 – X B 91/13, BFH/NV 2013, 1540 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 16. 6 Vgl. BFH v. 19.1.1994 – II R 32/90, BFH/NV 1994, 758.

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Rz. 2.161 Kap. 2

nanzbehörde im Einspruchsverfahren zwar gehalten, die Sache in vollem Umfang erneut zu überprüfen;1 sie ist aber nicht zu einer abschließenden Prüfung verpflichtet. Vielmehr macht das Finanzamt durch den Vorbehalt deutlich, dass es die Sache noch nicht abschließend geprüft hat und der Steuerpflichtige weiterhin mit einer abweichenden Beurteilung rechnen muss, und zwar auch insoweit als das Finanzamt im Einspruchsverfahren bereits abgeholfen hat.2 Deshalb kann die Finanzbehörde über das Einspruchsverfahren nicht gezwungen werden, bei solchen Bescheiden in eine abschließende Prüfung einzusteigen. c) Verböserung Literatur: Apitz, Die Möglichkeit der Änderung zum Nachteil des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einspruchsverfahrens – Verböserung, § 367 Abs. 2 AO, DStR 1985, 101; App, Änderung der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Verböserung im Einspruchsverfahren, DStZ 1990, 170; Bartone, Die Verböserung im Einspruchsverfahren, AO-StB 2015, 328; Daumke, Zur Verböserung bei Einsprüchen gegen Vorbehaltsbescheide, DStR 1984, 517; Flies, Verböserung im Einspruchsverfahren, DB 1995, 950; Messmer, Zur Verböserung im Einspruchsverfahren, DStR 1984, 68; Seitrich, Wann ist das Finanzamt an einer Verböserung gehindert?, BB 1988, 1799.

Das Finanzamt kann den Einspruch grundsätzlich unter allen in Betracht kommenden rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten zugunsten und zuungunsten des Einspruchsführers erneut überprüfen und ein etwaiges Ermessen erneut ausüben oder aber bei Änderung der Sach- und Rechtslage eine neue Ermessenentscheidung treffen.3 Diese normalerweise nur theoretisch „in vollem Umfang“ (§ 367 Abs. 1 AO) erfolgende Überprüfung des angefochtenen Bescheids im Einspruchsverfahren – normalerweise erfolgt nur eine punktuelle Überprüfung – kann zu der Feststellung führen, dass der Bescheid im Ergebnis zu Gunsten des Steuerpflichtigen rechtswidrig ist, die Steuer also z. B. zu niedrig festgesetzt ist, und dass die Finanzbehörde hieraus die Konsequenzen zieht und nach einem entsprechenden Hinweis die Steuer erhöht (sog. Verböserung oder reformatio in peius).

2.160

Beispiel: A hat vergessen, in seiner Einkommensteuererklärung Beiträge zu einer Berufshaftpflichtversicherung in Höhe von 400 Euro zu erklären. Mit seinem Einspruch macht A diese Beiträge geltend. Bei ihrer Überprüfung stellt die Finanzbehörde fest, dass sie zu Unrecht von A geltend gemachte Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung in Höhe von 4000 Euro als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit anerkannt hat, so dass sich das zu versteuernde Einkommen im Ergebnis um 3600 Euro erhöht. Hier kann die Finanzbehörde in der Einspruchsentscheidung – nach einem entsprechenden Hinweis – die Einkommensteuer höher festsetzen (sog. Verböserung).

Eine Verböserung setzt immer voraus, dass der Einspruch zulässig ist und eine Sachentscheidung ansteht.4 Sie ist auch nur während des Einspruchsverfahrens bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung möglich. Sie muss allerdings nicht erst in der Einspruchsentscheidung erfolgen, sondern kann auch schon vorher geschehen.

1 BFH v. 15.12.1992 – VIII R 52/91, BFH/NV 1993, 684. 2 BFH v. 5.6.2003 – III R 26/00, BFH/NV 2003, 1529. 3 BFH v. 26.8.2010 – III R 16/08, BStBl. II 2013, 617; Bartone in Beermann/Gosch, § 367 AO Rz. 28; Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 10, 12; Bartone, AO-StB 2015, 328. 4 BFH v. 9.8.2007 – VI R 7/04, BFH/NV 2008, 9; v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015, 147.

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2.161

Kap. 2 Rz. 2.162

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.162 Verböserung bedeutet nicht nur, dass die Steuer heraufgesetzt wird, sondern als Verböserung ist auch die Aufhebung oder Änderung eines begünstigenden Bescheides anzusehen.1 Ebenso liegt eine Verböserung vor, wenn der angefochtene Bescheid nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand, die Einspruchsentscheidung aber mit einem Vorbehaltsvermerk versehen werden soll2. Entsprechendes gilt für die spätere Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks in einen endgültigen Bescheid.

2.163 Auch der umgekehrte Fall, dass nämlich der Vorbehalt der Nachprüfung in der Einspruchsentscheidung aufgehoben werden soll, ist als Verböserung zu werten, da dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit genommen wird, künftig noch Änderungen gem. § 164 Abs. 2 AO zu seinen Gunsten herbeiführen zu können;3 insoweit ist aber ein Verböserungshinweis nicht erforderlich, weil sich die Verböserung ohnehin nicht durch die Rücknahme des Einspruchs vermeiden lässt.4

2.164 Ebenso braucht auf die Verböserungsmöglichkeit dann nicht hingewiesen zu werden, wenn das Finanzamt den angefochtenen Bescheid auch nach Rücknahme des Einspruchs zuungunsten des Einspruchsführers ändern kann und sich die Verböserung nicht durch die Rücknahme des Einspruchs vermeiden lässt.5 Dies ist insbesondere der Fall, wenn der angefochtene Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) steht6 oder auch sonst die höhere Steuerfestsetzung nach §§ 172 ff. AO noch nach Rücknahme des Einspruchs möglich ist. Ist zweifelhaft, ob eine entsprechende Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen noch möglich ist, darf auf den Hinweis nicht verzichtet werden.7

2.165 In der Praxis ist zu beachten, dass eine Verböserung verfahrensrechtlich grundsätzlich nur dann zulässig ist, wenn der Steuerpflichtige zuvor darauf hingewiesen worden ist. Bei einer ungewollten Verböserung sollte vom Steuerpflichtigen/Berater überprüft werden, ob der entsprechende Hinweis ordnungsgemäß erteilt worden ist.

2.166 Gem. § 367 Abs. 2 AO muss der Verböserungshinweis folgende Voraussetzungen erfüllen: – Der Steuerpflichtige muss auf die Möglichkeit einer nachteiligen Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes hingewiesen werden. – Ihm müssen die Gründe für diese Änderung mitgeteilt werden. Das heißt: Die Finanzbehörde hat konkret darzulegen, in welchem Punkt bzw. in welchen Punkten sie ihre Auffassung geändert hat und aus welchem Grund. Allgemein gehaltene Angaben genügen nicht.8 Denn der Hinweis soll dem Steuerpflichtigen ermöglichen, den Umfang des Risikos einer Entscheidung nicht nur zu seinen Gunsten, sondern auch zu seinem Nachteil abwägen zu können. Insoweit ist jeweils der Einzelfall für die Auslegung des erforderlichen Inhalts des Hinweises maßgeblich.9 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 22 f. Vgl. BFH v. 12.6.1980 – IV R 23/79, BStBl. II 1980, 527. So auch BFH v. 10.7.1996 – I R 5/96, BStBl. II 1997, 5. BFH v. 17.2.1998 – IX R 45/96, BFH/NV 1998, 816. BFH v. 6.2.2014 – IV R 41/10, BFH/NV 2014, 847; v. 22.12.2010 – I R 86/09, BFH/NV 2011, 1140; v. 25.2.2009 – IX R 24/08, BStBl. II 2009, 587. BFH v. 10.7.1996 – I R 5/96, BStBl. II 1997, 5. BFH v. 22.3.2006 – XI R 24/05, BStBl. II 2006, 576. BFH v. 25.9.2007 – IX R 16/06, BFH/NV 2008, 730; Bartone, AO-StB 2015, 328 (329). BFH v. 25.9.2007 – IX R 16/06, BFH/NV 2008, 730; v. 21.1.1997 – V B 110/96, BFH/NV 1997, 388.

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Rz. 2.169 Kap. 2

– Er muss Gelegenheit haben, sich zu der für ihn nachteiligen Änderung zu äußern.1 Dies setzt eine angemessene Frist zur Stellungnahme voraus.2 Erlässt das Finanzamt vor Fristablauf eine verbösernde Einspruchsentscheidung, verstößt es damit gegen Treu und Glauben.3 Die Hinweispflicht ist Ausfluss des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs. Durch den Hinweis soll dem Steuerpflichtigen insbesondere Gelegenheit gegeben werden, in seine Überlegungen die Möglichkeit der Rücknahme seines Einspruchs einzubeziehen, um so der drohenden Änderung zu seinem Nachteil zu entgehen.4 Allerdings braucht der Steuerpflichtige nicht darüber belehrt zu werden, er könne durch Rücknahme seines Einspruchs der Verböserung entgehen.5 Auch nach einer neuen Äußerung des Einspruchsführers ist grundsätzlich keine Wiederholung des Verböserungshinweises erforderlich.6

2.167

Wird der Verböserungshinweis nicht oder nicht ordnungsgemäß erteilt oder die Frist zur Stellungnahme unangemessen kurz bemessen, liegt eine Verletzung des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs vor, der auf eine entsprechende Klage hin zur isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung7 und damit zur Zurückverweisung an die Finanzbehörde führt, sofern der Steuerpflichtige im Klageverfahren einen solchen Antrag auf bloße Aufhebung der Einspruchsentscheidung stellt.8 Dadurch kann der Steuerpflichtige wieder in das Einspruchsverfahren zurückversetzt werden, wodurch ihm die Möglichkeit eröffnet wird, nunmehr den Einspruch zurückzunehmen und der Verböserung zu entgehen.

2.168

Beispiel: Es wird beantragt, die Einspruchsentscheidung wegen Einkommensteuer 00 vom … aufzuheben. Begründung: Es wird gerügt, dass der Verböserungshinweis nicht ordnungsgemäß erteilt worden ist …

Allerdings kann der Steuerpflichtige auf die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung verzichten, wenn er eine Entscheidung des Gerichts in der Sache selbst erstrebt. Dies sollte er aber im Klageverfahren durch seinen Klageantrag und seine Klagebegründung unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Beispiel: Es wird beantragt, unter Änderung des Einkommensteuerbescheides 00 vom … und Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … 03 zusätzliche Werbungskosten in Höhe von 2000 Euro anzuerkennen und die Einkommensteuer 00 entsprechend herabzusetzen. Begründung: Der unterbliebene/nicht ordnungsgemäße Verböserungshinweis wird nicht gerügt. Es wird eine Sachentscheidung beantragt. …

1 Vgl. dazu BFH v. 15.5.2013 – VIII R 18/10, BStBl. II 2013, 669. 2 Vgl. Bartone in Beermann/Gosch, § 367 AO Rz. 40; vgl. dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 31. 3 Vgl. dazu BFH v. 15.5.2013 – VIII R 18/10, BStBl. II 2013, 669. 4 BFH v. 3.7.2012 – IX B 37/12, BFH/NV 2012, 1630. 5 So auch Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 30. 6 Bartone, AO-StB 2015, 330. 7 BFH v. 3.7.2012 – IX B 37/12, BFH/NV 2012, 1630. 8 S. Muster M 6, Rz. 11.6.

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2.169

Kap. 2 Rz. 2.170

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.170 Bei drohender Verböserung sollte der Einspruchsführer/Berater in der Praxis immer abwägen, ob das mit dem Einspruch verfolgte Begehren weiter verfolgt werden soll, oder ob es günstiger ist, die Ausgangsentscheidung zur Vermeidung der Verböserung zu akzeptieren und den Einspruch zurückzunehmen. Bei einer rechtswidrig vorgenommenen Verböserung kann eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung in Betracht gezogen werden. Diese bietet sich an, wenn nach isolierter Aufhebung der Einspruchsentscheidung das ursprüngliche Begehren weiter verfolgt und der Einspruch zurückgenommen werden soll. d) Erörterung des Sach- und Rechtsstandes

2.171 Gem. § 364a Abs. 1 AO soll die Finanzbehörde vor Erlass einer Einspruchsentscheidung den Sach- und Rechtsstand auf Antrag des Einspruchsführers erörtern. Fehlt es an einem Antrag, steht es im Ermessen der Finanzbehörde, ob sie eine Erörterung durchführen will (§ 364a Abs. 1 Satz 3 AO).

2.172 § 364a AO verfolgt das Ziel, eine einvernehmliche Erledigung des Einspruchsverfahrens zu fördern und damit Rechtsstreitigkeiten von den Finanzgerichten fern zu halten.1 Die mündliche Erörterung mit den Verfahrensbeteiligten ist in besonderem Maße geeignet, den Sachverhalt aufzuklären, Missverständnisse zu beseitigen, Rechtsfragen zu diskutieren und auf eine einvernehmliche Lösung oder gar tatsächliche Verständigung hinzuwirken. Die Befriedungsfunktion solcher Erörterungen sollte nicht unterschätzt werden. Ziel einer mündlichen Erörterung kann auch eine sog. tatsächliche Verständigung über schwierig zu ermittelnde tatsächliche Umstände sein.2

2.173 Nach § 364a Abs. 1 Satz 1 AO hat der Einspruchsführer die Möglichkeit, durch einen entsprechenden Antrag auf eine Erörterung hinzuwirken. Besondere Anforderungen an einen solchen Antrag sind im Gesetz nicht geregelt, so ist insbesondere keine besondere Form oder Frist vorgeschrieben. Der Antrag kann deshalb auch telefonisch gestellt werden. Schon aus Beweisgründen empfiehlt es sich aber, den Antrag schriftlich zu stellen. Auch sollte der Antrag so früh wie möglich gestellt werden, weil der Steuerpflichtige nicht weiß, wann die Finanzbehörde über den Einspruch entscheiden wird. Darüber hinaus sollten in dem Antrag die für erörterungswürdig gehaltenen Punkte angegeben werden, um die Abweisung des Antrags zu erschweren.

2.174 In der Praxis empfiehlt es sich für den Steuerpflichtigen und seinen Berater, insbesondere in tatsächlich und/oder rechtlich schwierigen Fällen, einen Antrag auf Erörterung zu stellen. Denn durch die Erörterung lässt sich eher als im schriftlichen Verfahren eine tatsächliche Verständigung über Sachverhaltsfragen erzielen. Auch der eigene Rechtsstandpunkt lässt sich oftmals besser verdeutlichen.

2.175 Hat der Steuerpflichtige einen Antrag gestellt, soll die Finanzbehörde erörtern. Aus dieser gesetzlichen Formulierung folgt, dass die Finanzbehörde für den Regelfall die Erörterung durchzuführen hat.3 Ihr Ermessen ist insoweit eingeschränkt. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände, z. B. fehlender Begründung des Einspruchs und des Antrags, Nichtabgabe der Steuererklärung4, Verschleppungsabsicht, kann sie von einer Erörterung absehen. Ebenso 1 2 3 4

AEAO zu § 364a Tz. 1. AEAO zu § 364a Tz. 1. AEAO zu § 364a Tz. 2. FG München v. 24.4.1998 – 7 K 3785/97, EFG 1998, 1310.

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Rz. 2.178 Kap. 2

hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass die Finanzbehörde von einer Erörterung mit mehr als zehn Beteiligten absehen kann (§ 364a Abs. 2 Satz 1 AO).1 Bestellen die Beteiligten aber innerhalb einer von der Finanzbehörde bestimmten Frist einen gemeinsamen Vertreter, so soll die Sach- und Rechtslage mit diesem erörtert werden (§ 364a Abs. 2 Satz 2 AO). Die Ablehnung des Antrags auf Durchführung einer Erörterung des Sach- und Rechtsstands gem. § 364a AO ist eine einzelfallbezogene Regelung und damit ein Verwaltungsakt i. S. des § 118 AO.2 Sie ist faktisch aber nicht mit dem Einspruch und anschließender Klage anfechtbar, da hierfür das Rechtsschutzinteresse fehlt.3 Aus § 44a VwGO wird insoweit ein allgemeiner Grundsatz hergeleitet, wonach Verfahrenshandlungen nicht selbständig anfechtbar sind, solange das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.4 Ob die Ablehnung zu Unrecht erfolgt ist, kann aber im Rahmen einer Klage gegen den Steuerbescheid überprüft werden. Eine zu Unrecht erfolgte Ablehnung kann dann dazu führen, dass das Finanzgericht im Klageverfahren Verwaltungsakt und Einspruchsentscheidung aufhebt, sofern die Voraussetzungen des § 100 Abs. 3 FGO erfüllt sind.5 Eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung kommt nur in Betracht, wenn der Kläger durch die Ablehnung der Erörterung im Einspruchsverfahren beschwert (§ 40 Abs. 2 FGO) ist. Dafür muss er darlegen6, was er erörtert hätte, dass das Einspruchsverfahren aufgrund der Erörterung nach § 364a AO anders als vorliegend abgeschlossen worden wäre7 und dass er ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die Sache noch einmal an das Finanzamt zurückgeht.8

2.176

Wenn der Einspruchsführer/Berater meint, dass die Erörterung im Einspruchsverfahren zu Unrecht unterblieben ist und die ergangene Einspruchsentscheidung rechtswidrig ist, so empfiehlt es sich in der Praxis, bei Klageerhebung auf die Sache selbst einzugehen und anzuregen, einen Erörterungstermin vor dem Berichterstatter anzuberaumen (zum Erörterungstermin im Klageverfahren s. Rz. 3.734).

2.177

Gem. § 364a Abs. 1 Satz 3 AO kann die Finanzbehörde auch nach ihrem eigenen Ermessen zu einem Erörterungstermin laden, ohne dass ein entsprechender Antrag des Steuerpflichtigen vorliegt. Sachgerecht dürfte eine Erörterung insbesondere dann sein, wenn die Finanzbehörde absehen kann, dass sich das Einspruchsverfahren durch eine einvernehmliche Regelung erledigen lässt und so ein Klageverfahren vermieden werden kann. Zu dem Termin können weitere Beteiligte – das sind die zum Einspruchsverfahren Hinzugezogenen – geladen werden, wenn die Finanzbehörde dies für sachdienlich hält (§ 364a Abs. 1 Satz 2 AO). Der Einspruchsführer und die Hinzugezogenen können sich im Erörterungstermin durch einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe vertreten lassen (§ 364a Abs. 3 Satz 1 AO). Allerdings können die Beteiligten zum Termin auch persönlich geladen werden, wenn die Finanzbehörde dies für sachdienlich hält (§ 364a Abs. 3 Satz 2 AO).

2.178

1 Zu Recht kritisch hierzu Seer in Tipke/Kruse, § 364a AO Rz. 9. 2 BFH v. 11.4.2012 – I R 63/11, BStBl. II 2012, 539. 3 BFH v. 11.4.2012 – I R 63/11, BStBl. II 2012, 539; Rätke in Klein, § 364a AO Rz. 14; Dumke in Schwarz/Pahlke, § 364a AO Rz. 27a. 4 So BFH v. 11.4.2012 – I R 63/11, BStBl. II 2012, 539; s. auch Seer in Tipke/Kruse, § 364a AO Rz. 6. 5 So BFH v. 11.4.2012 – I R 63/11, BStBl. II 2012, 539; Seer in Tipke/Kruse, § 364a AO Rz. 6; Werth in Beermann/Gosch, § 364a AO Rz. 19; Dumke in Schwarz/Pahlke, § 364a AO Rz. 29. 6 BFH v. 6.9.2005 – IV B 14/04, BFH/NV 2005, 2166; v. 26.9.2008 – VIII B 23/08, juris. 7 Vgl. Birkenfeld in HHSp, § 364a AO Rz. 68; Werth in Beermann/Gosch, § 364a AO Rz. 19. 8 Rätke in Klein, § 364a AO Rz. 15.

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Kap. 2 Rz. 2.179

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.179 Die Ladung zum Erörterungstermin ist nicht anfechtbar. In jedem Fall fehlt es für einen Einspruch gegen die Ladung an einer Beschwer i. S. des § 350 AO, denn das persönliche Erscheinen ist gem. § 364a Abs. 4 AO nicht erzwingbar.

2.180 Die Erörterung kann in geeigneten Fällen auch telefonisch durchgeführt werden.1 Bei telefonischen Erörterungen ist in der Praxis aber Vorsicht geboten, da Missverständnisse bei der Kommunikation nie auszuschließen sind. Eine telefonische Erörterung ist nur unbedenklich, wenn der Einspruchsführer bzw. sein Bevollmächtigter dem zustimmen.2 Auf einen überraschenden Anruf des Finanzamts sollte sich der Einspruchsführer/Berater nicht einlassen. e) Ausschlussfrist zur Beschleunigung des Verfahrens Literatur: von Groll, Bestandskraft in Fällen der Präklusion nach § 364b AO, in FS K. Offerhaus, 1999, S. 837; Lieber, Präklusion im Steuerverfahren, Frankfurt a.M. 1998; A. Müller, Die Präklusionsregelungen der §§ 364b AO, 76 Abs. 3 FGO – ein „zahnloser Tiger“?, AO-StB 2005, 176; Nacke, Die Anfechtbarkeit der Fristsetzung nach § 364b AO, NJW 1996, 3402; Schmidt-Troje/Fumi, Fristsetzung nach § 364b AO – wem zum Nutzen?, Stbg 2000, 119; von Wedelstädt, Präklusion nach § 364b AO und anschließende Korrektur des Steuerbescheids mit präkludiertem Vortrag, DB 1996, 113; von Wedelstädt, Die präkludierende Festsetzung durch die Finanzbehörde, AO-StB 2002, 200.

aa) Überblick

2.181 § 364b Abs. 1 AO ermöglicht es der Finanzbehörde, nach ihrem Ermessen dem Einspruchsführer eine Ausschlussfrist zu setzen 1. zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich beschwert fühlt (Nr. 1), 2. zur Erklärung über bestimmte klärungsbedürftige Punkte (Nr. 2), 3. zur Bezeichnung von Beweismitteln oder zur Vorlage von Urkunden, soweit er dazu verpflichtet ist (Nr. 3).

2.182 Der Steuerpflichtige ist im Einspruchsverfahren ebenso wie im Besteuerungsverfahren gem. § 365 Abs. 1 i. V. m. §§ 85, 88, 90 und 149 AO zur Mitwirkung verpflichtet. § 364b AO gibt der Finanzbehörde die Möglichkeit, für die Erfüllung der Mitwirkungspflichten Ausschlussfristen zu setzen mit der Folge, dass Vorbringen oder Beweismittel nach Fristablauf zurückgewiesen werden können. Es handelt sich hierbei um eine ähnliche Regelung wie in § 79b FGO (s. Rz. 3.657 ff.). Die Finanzbehörde kann eine Ausschlussfrist setzen, sie muss es aber nicht. Sie kann auch nach § 365 Abs. 1 AO verfahren und dem Einspruchsführer wie im Veranlagungsverfahren eine einfache Frist zur Mitwirkung setzen, ohne dass an deren Nichteinhaltung besondere Rechtsfolgen geknüpft sind.

2.183 § 364b AO dient der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration und soll dem Missbrauch des Rechtsbehelfsverfahrens zu rechtsbehelfsfremden Zwecken (z. B. Zeitgewinn) entgegenwirken3. Dieser Gesetzeszweck, Missbräuchen zu begegnen, ist bei der Ermessensausübung, ob überhaupt eine Ausschlussfrist gesetzt werden soll, zu berücksichtigen. Deshalb macht die Finanzbehörde von der Möglichkeit der Fristsetzung nach dieser Vorschrift

1 AEAO zu § 364a Tz. 5. 2 Vgl. auch Rätke in Klein, § 364a AO Rz. 10. 3 BT-Drucks. 12/7427, 37.

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Rz. 2.187 Kap. 2

vorwiegend in solchen Einspruchsverfahren Gebrauch, die einen Schätzungsbescheid nach Nichtabgabe der Steuererklärung betreffen.1 bb) Rechtmäßigkeit der Fristsetzung Die Finanzbehörde kann eine Frist setzen zur Angabe von Tatsachen, zur Erklärung über bestimmte Punkte sowie zur Bezeichnung von Beweismitteln und Vorlage von Urkunden. Damit orientiert sich § 364b Abs. 1 AO weitgehend an § 79b FGO. Wegen der Einzelheiten zum Inhalt der Fristsetzung wird auf die entsprechenden Ausführungen zu § 79b FGO verwiesen (s. Rz. 3.658 ff.).

2.184

Ob die Finanzbehörde eine Frist setzt, mit welchem Inhalt und wie lang die Frist bemessen wird, obliegt ihrem Ermessen. Die Finanzbehörde kann eine Ermessensentscheidung darüber treffen, ob sie dem Steuerpflichtigen überhaupt eine Ausschlussfrist nach § 364b Abs. 1 AO setzen will. Es müssen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Einspruchsführer das Einspruchsverfahren zu verfahrensfremden Zwecken benutzen will, es ihm also nicht um Rechtsschutz, sondern um Zeitgewinn geht.2 Da die sachgerechte Ermessensausübung gerichtlich überprüfbar sein muss, müssen die entsprechenden Ermessenserwägungen spätesten in der Einspruchsentscheidung, in der die Zurückweisung der verspätet vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel erfolgt, angegeben werden.3

2.185

Auch die Fristbemessung hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, da das Gesetz eine bestimmte Frist nicht vorsieht. Wie lang die Frist zu bemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von dessen Umfang und seiner Schwierigkeit. Allgemein verbindliche Regeln wird man hier kaum aufstellen können. In der Regel dürfte eine Frist von mindestens einem Monat an der unteren Grenze des Zulässigen liegen und angemessen sein.4 Auch der AEAO sieht in Tz. 2 Satz 2 zu § 364b AO eine Frist von mindestens einem Monat vor. In jedem Fall muss die Frist aber so bemessen sein, dass ausreichend Überlegungszeit verbleibt und die gewünschten Angaben tatsächlich auch gemacht bzw. die Urkunden und Beweismittel beschafft werden können.

2.186

Die Frist kann als finanzbehördliche Frist gem. § 109 Abs. 1 Satz 1 AO verlängert werden. Die Fristverlängerung kann auf Antrag oder aber auch von Amts wegen erfolgen; es handelt sich ebenfalls um eine Ermessensentscheidung.5 Der Antrag auf Fristverlängerung muss vor Ablauf der Frist bei der Finanzbehörde eingehen; eine rückwirkende Verlängerung der Frist ist ausgeschlossen.6 Geht der Antrag auf Fristverlängerung erst nach Ablauf der Frist beim Finanzamt ein, so kommt nur eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 364b Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 110 AO in Betracht.

2.187

1 AEAO zu § 364b Tz. 1 Satz 2. 2 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 364b AO Rz. 18. 3 Vgl. hierzu den Überblick bei Bartone in Beermann/Gosch, § 364b AO Rz. 20 ff., 62; FG Köln v. 6.6.2014 – 15 K 2180/13, EFG 2014, 1559. 4 So auch FG Brandenburg v. 24.10.1997 – 2 K 566/97 F, EFG 1998, 387 (388 m. w. N.); s. auch Tiedchen, BB 1996, 1033; ferner zuletzt FG Köln v. 9.2.2012 – 15 K 3613/11, EFG 2012, 1231. 5 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 364b AO Rz. 29; Bartone in Beermann/Gosch, § 364b AO Rz. 31. 6 Ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 364b AO Rz. 29.

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Kap. 2 Rz. 2.188

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.188 Die Fristsetzung nach § 364b Abs. 1 AO ist nach überwiegender Meinung im Schrifttum ein Verwaltungsakt i. S. des § 118 AO.1 Die selbständige Anfechtbarkeit der Fristsetzung nach § 364b AO ist allerdings umstritten2 und wird von der finanzgerichtlichen Rechtsprechung verneint.3 Über die Rechtmäßigkeit der Fristsetzung und die daraus folgende Präklusion entscheidet die Finanzbehörde erfahrungsgemäß jedoch grundsätzlich erst im Rahmen der Einspruchsentscheidung, so dass eine selbständige Anfechtbarkeit der Fristsetzung auf jeden Fall abzulehnen ist. cc) Rechtsfolge: Präklusion im Einspruchsverfahren

2.189 Wird die nach § 364b Abs. 1 AO unter Fristsetzung erteilte Aufforderung nicht innerhalb der gesetzten Frist erfüllt, tritt eine sog. obligatorische Präklusion4 ein. Das bedeutet: Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der Frist vorgebracht werden, dürfen von der Finanzbehörde zu Gunsten des Steuerpflichtigen nicht mehr berücksichtigt werden. Insoweit besteht kein Ermessen der Finanzbehörde.5 Sie ist kraft Gesetzes gehindert, das verspätete Vorbringen zu berücksichtigen, es sei denn, die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind erfüllt (§ 364b Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 110 AO – s. auch Rz. 3.679 ff.).

2.190 In der Praxis ist zu beachten, dass die Präklusionswirkung gem. § 364b Abs. 2 AO nur eintritt, wenn – dem Einspruchsführer eine Frist unter Bezugnahme auf die Ausschlusswirkung gesetzt wurde – die Frist angemessen ist und – die Fristsetzung als Ermessensentscheidung hinreichend begründet wird, wobei diese Begründung spätestens in der Einspruchsentscheidung geschehen muss, mit der das Finanzamt die nach Fristablauf vorgetragenen Tatsachen zurückweist.

2.191 Ist die Ausschlussfrist versäumt worden und kommt auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht, so muss in der Praxis Klage erhoben werden, wenn der Einspruch ganz oder teilweise zurückgewiesen wird. Im Klageverfahren hat der Steuerpflichtige nämlich noch die Möglichkeit, die versäumte Handlung nachzuholen; die Regelung des § 364b AO läuft insofern regelmäßig leer.6 Das Gericht ist gem. § 76 Abs. 3 FGO nicht auf eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fristsetzung nach § 364b AO beschränkt und wird insoweit auch nicht präjudiziert, sondern es hat eine eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen.7 Dabei kann das Finanzgericht die nachgeholte Handlung nur unter engen Voraussetzungen als ver-

1 Vgl. den Überblick bei Seer in Tipke/Kruse, § 364b AO Rz. 26; a. A. Bartone in Beermann/Gosch, § 364b AO Rz. 41 f., der die Fristsetzung für eine reine Vorbereitungshandlung ohne Regelungscharakter hält. 2 Ausführlich hierzu Rätke in Klein, § 364b AO Rz. 13 ff.; Seer in Tipke/Kruse, § 364b AO Rz. 38 f. 3 FG Saarland v. 21.2,1997 – 1 K 166/96, EFG 1997, 651; FG München v. 4.12.1997 – 13 K 2613/97, EFG 1998, 436, bestätigt durch BFH v. 20.7.2000 – VI R 8/98, n. v. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 113. 5 Bartone in Beermann/Gosch, § 364b AO Rz. 64. 6 So auch Seer in Tipke/Kruse, § 364b AO Rz. 2. 7 Einhellige Auffassung, BFH v. 30.11.2004 – IX B 29/04, BFH/NV 2005, 711 m. w. N.; vgl. auch Bartone in Beermann/Gosch, § 364b AO Rz. 83.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.199 Kap. 2

spätet zurückweisen.1 Allerdings sieht § 137 Satz. 3 FGO vor, dass die Kosten des Gerichtsverfahrens in diesem Fall dem Kläger aufzuerlegen sind.

2.192–2.195

Einstweilen frei. 4. Stillstand des Verfahrens

Literatur: Bergan/Martin, Die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO – Zwang ohne Ausweg?, DStR 2006, 1923; Nebe, Praxishinweise zum Ruhen von Einspruchsverfahren aus Zweckmäßigkeitsgründen nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO, Stbg 2010, 293; Nebe, Aktualisierung und Ergänzungen zu den Praxishinweisen in Stbg 2010, 293, Stbg 2014, 97; Thouet/Thouet, Das Ruhen des Verfahrens gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, DStZ 1999, 87.

a) Überblick Der vorläufige Stillstand des Einspruchsverfahrens tritt ein, wenn das Verfahren gem. § 363 Abs. 1 AO ausgesetzt (s. unter Rz. 2.199 ff.) oder das Ruhen des Verfahrens gem. § 363 Abs. 2 AO angeordnet (s. unter Rz. 2.201 ff.) wird.

2.196

§ 363 Abs. 1 und Abs. 2 AO finden nebeneinander Anwendung,2 Voraussetzung ist aber immer, dass der Einspruch zulässig und auch nicht offensichtlich unbegründet ist.3 Bei einem unzulässigen Einspruch besteht kein Bedürfnis für einen Stillstand des Verfahrens.4 Der Stillstand des Verfahrens führt dazu, dass Verfahrenshandlungen von der Finanzbehörde gegenüber den Verfahrensbeteiligten insoweit nicht wirksam vorgenommen werden können, insbesondere kann keine Einspruchsentscheidung hinsichtlich der Punkte, die zur Aussetzung oder zum Ruhen des Verfahrens geführt haben, ergehen. Es laufen insoweit keine Fristen; § 249 ZPO findet sinngemäß Anwendung.5 Allerdings können Änderungsbescheide oder sogar eine Teil-Einspruchsentscheidung ergehen in Fragen, die mit dem Verfahrensstillstand nichts zu tun haben.6 Auch der Erlass von Änderungsbescheiden nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO bleibt zulässig.7 Der entsprechende Änderungsbescheid wird dann nach § 365 Abs. 3 AO zum Gegenstand des anhängigen Einspruchsverfahrens, wobei sich der Verfahrensstillstand fortsetzt.

2.197

Ein Stillstand des Verfahrens tritt auch bei der nicht in der AO geregelten Unterbrechung des Verfahrens ein (s. Exkurs unter Rz. 2.215).

2.198

b) Aussetzung des Verfahrens Gem. § 363 Abs. 1 AO kann das Einspruchsverfahren wegen Vorgreiflichkeit eines anderen Verfahrens von der Finanzbehörde ausgesetzt werden. Eine Aussetzung setzt danach voraus, dass die Entscheidung ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreites bildet oder von einem Gericht oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Vorbild für diese Vorschrift 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 3.679 ff. Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 3; BFH v. 12.8.2013 – VI B 101/12, BFH/NV 2014, 355. Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 2 und 7. Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 2. Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 1; Rätke in Klein, § 363 AO Rz. 31. Vgl. auch Rätke in Klein, § 363 AO Rz. 21, 31. Hiervon geht auch die Finanzverwaltung aus AEAO zu § 363 Tz. 3.

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2.199

Kap. 2 Rz. 2.200

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

ist § 74 FGO1, so dass für die Frage, wann ein vorgreifliches Rechtsverhältnis vorliegt und den Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf § 74 FGO verwiesen wird (s. unter Rz. 3.760 ff.).

2.200 Liegen die Voraussetzungen vor, kann die Finanzbehörde die Entscheidung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung des Gerichts oder der Verwaltungsbehörde aussetzen (§ 363 Abs. 1 AO). Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde, die nicht der Zustimmung oder eines Antrags des Steuerpflichtigen bedarf. Beispiel: A streitet mit der Finanzbehörde über die Höhe der AfA eines im Jahre 00 erworbenen Hauses. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid für 00 erhebt A Klage beim Finanzgericht. In seiner Einkommensteuererklärung für 01 setzt er wiederum die von der Finanzbehörde nicht anerkannte AfA an. Diese wird in dem betreffenden Einkommensteuerbescheid 01 wiederum nicht berücksichtigt. Deshalb legt A Einspruch ein. Hier kann die Finanzbehörde die Entscheidung über den Einspruch gem. § 363 Abs. 1 AO bis zur Entscheidung des Finanzgerichts über die Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 00 aussetzen.

c) Ruhen des Verfahrens aa) Ruhen aus Zweckmäßigkeitsgründen

2.201 Gem. § 363 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde das Verfahren mit Zustimmung des Einspruchsführers ruhen lassen, wenn dies aus wichtigen Gründen zweckmäßig erscheint. Zweckmäßig ist die Anordnung der Aussetzung des Verfahrens dann aus wichtigem Grund, wenn dadurch für das Finanzamt unnötiger Verwaltungsaufwand, widersprüchliche Entscheidungen oder spätere Korrekturen der Entscheidung vermieden werden.2 Das bloße Interesse des Steuerpflichtigen, den Steuerfall offen zu halten, um an künftigen Änderungen der Rechtsprechung zu nicht streitigen Rechtsfragen teilhaben zu können, stellt keinen wichtigen Grund dar3. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere dann vor, wenn der Ausgang eines Musterverfahrens abgewartet werden soll, für das allerdings nicht bereits die Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO eingetreten ist, weil bereits ein Verfahren beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist. Deshalb hat Satz 1 dieser Vorschrift in der Praxis an Bedeutung verloren, da als Musterverfahren hier nur Verfahren vor den erstinstanzlichen Gerichten in Frage kommen, besonders vor den Finanzgerichten. Ein wichtiger Grund kann aber auch angenommen werden, wenn die streitige Frage durch Erlass geregelt werden soll.

2.202 Die Entscheidung über das Ruhen des Verfahrens ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde, die die ausdrückliche Zustimmung des Einspruchsführers voraussetzt. Bei der Ausübung des Ermessens spielen insbesondere verfahrensökonomische Gesichtspunkte eine Rolle, nämlich unnötige Klageverfahren zu vermeiden. bb) Ruhen wegen Musterverfahren

2.203 Von Gesetzes wegen ruht das Einspruchsverfahren gem. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird. Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für 1 Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 5. 2 Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 7; Thür. FG v. 18.4.2012 – 3 K 257/11, juris. 3 BFH v. 6.7.1999 – IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587; v. 26.9.2006 – X R 39/05, BStBl. II 2007, 222; Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 7: vgl. dazu auch BFH v. 23.1.2013 – X R 32/08, BStBl. II 2013, 423.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.207 Kap. 2

Menschenrechte (EGMR) fällt vom Wortlaut der Vorschrift nicht hierunter.1 Der Einspruchsführer muss sich zur Begründung seines Einspruchs ausdrücklich auf ein anhängiges Verfahren bei einem der o. g. Gerichte berufen und dieses Verfahren muss für das Einspruchsverfahren präjudizielle Bedeutung haben, es muss also eine in dem Einspruchsverfahren entscheidungserhebliche Rechtsfrage betreffen.2 Ob das in Bezug genommene Musterverfahren zu einem automatischen Ruhen des Einspruchsverfahrens führt, kann den im BStBl. veröffentlichten Listen über die beim EuGH, BVerfG und BFH anhängigen Verfahren entnommen werden. Die Zwangsruhe gilt allerdings dann nicht, wenn wegen der anhängigen Verfahren die Steuer gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig festgesetzt ist, so ausdrücklich § 363 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. AO.3

2.204

§ 363 Abs. 2 AO dient der Verfahrensökonomie. Durch die Zwangsruhe des Einspruchsverfahrens soll verhindert werden, dass durch eine Vielzahl von Verfahren die Finanzbehörden und die Finanzgerichte blockiert werden, deren einheitliche Regelung nach Abschluss des Musterverfahrens zu erwarten ist.

2.205

Wenn nicht nur wegen eines Punktes Einspruch eingelegt worden ist, der Gegenstand eines Musterverfahrens ist, sondern darüber hinaus noch weitere Punkte streitig sind, ruht das Verfahren nicht insgesamt, sondern nach dem klaren Wortlaut des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO nur insoweit, als es um die in dem Musterverfahren anhängige Rechtsfrage geht.4 Wegen anderer Streitpunkte kann das Einspruchsverfahren fortgesetzt und abgeschlossen werden. Dieser Teil kann durch Teil-Einspruchsentscheidung gem. § 367 Abs. 2a AO entschieden werden, soweit die Finanzbehörde eine solche für sachdienlich hält.5 Im Übrigen ruht das Einspruchsverfahren wegen des Musterverfahrens weiter kraft Gesetzes. Kann dem noch ruhenden Einspruch nach Ausgang des Musterverfahrens dann nicht abgeholfen werden, kann dieser – wie ruhende Einsprüche anderer Steuerpflichtiger betr. dieselbe Rechtsfrage – gem. § 367 Abs. 2b AO durch Allgemeinverfügung der obersten Finanzbehörde zurückgewiesen werden (s. Rz. 2.258).

2.206

cc) Ruhen aufgrund einer Allgemeinverfügung Nach § 363 Abs. 2 Satz 3 AO kann durch öffentlich bekannt zu gebende Allgemeinverfügung mit Zustimmung der obersten Finanzbehörde für bestimmte Gruppen gleich gelagerter Fälle angeordnet werden, dass das Einspruchsverfahren auch in anderen als den o. g. Fällen ruht. Dabei kann es sich insbesondere um künftig anstehende Fälle von grundsätzlicher Be-

1 Rätke in Klein, § 363 AO Rz. 17; Nds. FG v. 16.11.2011 – 3 K 269/11, EFG 2012, 294; FG Köln v. 9.5.2012 – 5 K 3528/11, EFG 2012, 2254; offengelassen in BFH v. 10.5.2012 – X B 183/11, BFH/NV 2012,1570; ablehnend mit ausführlicher Begründung FG Münster v. 25.4.2013 – 3 K 5734/11 E, EFG 2013, 1288. 2 BFH v. 25.11.2003 – II B 68/02, BFH/NV 2004, 462; v. 26.9.2006 – X R 39/05, BStBl. II 2007, 222; Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 13; Rätke in Klein, § 363 AO Rz. 17. 3 Zur Zulässigkeit des Einspruchs und der Klage in diesen Fällen s. BFH v. 16.2.2005 – VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323; vgl. zum Vorläufigkeitsvermerk auch zuletzt BFH v. 23.1.2013 – X R 32/08, BStBl. II 2013, 423. 4 Ebenso Rätke in Klein, § 363 AO Rz. 21. 5 Vgl. zur Teileinspruchsentscheidung Rz. 2.254 ff.

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2.207

Kap. 2 Rz. 2.208

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

deutung handeln, vor allem wenn abzusehen ist, dass verfassungsrechtliche Fragen in Kürze zu klären sein werden.1

2.208 Unklar ist, welche Behörde für den Erlass der Allgemeinverfügung in diesem Fall zuständig sein soll (Finanzamt, Oberfinanzdirektion, Landesfinanzministerium).2 Nicht geregelt ist auch – anders als in § 367 Abs. 2b Satz 2 AO –, wie die öffentliche Bekanntmachung erfolgen und wo die Veröffentlichung erfolgen soll. dd) Fortsetzung des Verfahrens

2.209 Ruht das Verfahren, so ist es fortzusetzen, wenn der Einspruchsführer dies beantragt oder die Finanzbehörde dies dem Einspruchsführer mitteilt (§ 363 Abs. 2 Satz 4 AO). Der Einspruchsführer hat also die Möglichkeit, auf eine Fortsetzung des Verfahrens durch einen entsprechenden Antrag hinzuwirken. Dies gilt in allen Fällen des § 363 Abs. 2 AO.3

2.210 Die Entscheidung und Mitteilung der Finanzbehörde, das Verfahren fortsetzen zu wollen, ist als rechtsgestaltender Verwaltungsakt eine Ermessensentscheidung. Der Einspruchsführer hat zwar kein subjektives Recht darauf, dass die Finanzbehörde von einer Fortsetzung des Einspruchsverfahrens vor Beendigung der gesetzlichen Zwangsruhe absieht. Er hat aber einen Anspruch auf rechtmäßige Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens.4

2.211 Hat sich der Grund für die Verfahrensruhe erledigt, so kann das Einspruchsverfahren nach der BFH-Rechtsprechung fortgesetzt werden, ohne dass es einer Fortsetzungserklärung i. S. von § 363 Abs. 2 Satz 4 AO bedarf.5 Dieser Auffassung kann nur dann gefolgt werden, wenn sie nicht gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstößt und nicht zu Überraschungsentscheidungen führt.6 Auch der AEAO sieht vor, dass dem Einspruchsführer in diesen Situationen erst einmal Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist.7 d) Rechtsbehelfe

2.212 Lehnt die Finanzbehörde einen Antrag auf Aussetzung oder auf Ruhen des Verfahrens ab oder widerruft sie eine Aussetzungsentscheidung oder das Ruhen des Verfahrens, so kann diese ablehnende Entscheidung nicht isoliert mit dem Einspruch angegriffen werden. Die Rechtswidrigkeit einer derartigen Entscheidung kann nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung – ein Rechtsschutzinteresse für die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung ist in diesen Fällen grundsätzlich vorhanden8 – geltend gemacht werden (§ 363 Abs. 3 AO).9

2.213 In der Praxis darf in diesen Fällen aber nur ein verfahrensrechtlicher Antrag auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung und kein Sachantrag gestellt werden. Wird eine materiell-recht1 Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 18. 2 Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 18. 3 BFH v. 27.11.1998 – IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587; v. 26.9.2006 – X R 39/05, BStBl. II 2007, 222; Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 20. 4 BFH v. 26.9.2006 – X R 39/05, BStBl. II 2007, 222. 5 So BFH v. 29.5.2007 – X B 66/06, BFH/NV 2007, 1692. 6 Kritisch insoweit auch Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 20. 7 AEAO zu § 363 Tz. 4. 8 BFH v. 26.9.2006 – X R 39/05, BStBl. II 2007, 222; vgl. dazu auch BFH v. 23.1.2013 – X R 32/08, BStBl. II 2013, 423. 9 BFH v. 14.7.2004 – IX R 13/01, BStBl. II 2005, 125; v. 26.9.2006 – X R 39/05, BStBl. II 2007, 222.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.218 Kap. 2

liche Entscheidung in der Sache beantragt, kommt eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung nicht mehr in Betracht. Hat die Finanzbehörde die Aussetzung oder das Ruhen des Einspruchsverfahrens ermessensfehlerhaft verweigert, so kann es, auch wenn die Klage letztlich abzuweisen ist, billigem Ermessen entsprechen, dem Finanzamt die gesamten Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.1 Die Anordnung der Finanzbehörde, das Verfahren auszusetzen oder zum Ruhen zu bringen, ist dagegen ein selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt;2 dies folgt aus einem Umkehrschluss zu § 363 Abs. 3 AO.

2.214

e) Exkurs: Unterbrechung des Verfahrens Die §§ 347 ff. AO enthalten keine Regelungen über die Unterbrechung des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens. Sie sind insoweit lückenhaft. Die bestehende Gesetzeslücke ist nach allgemeiner Auffassung in entsprechender Anwendung der §§ 239 ff. ZPO zu schließen.3 Hauptfälle sind hier der Tod des Einspruchsführers und die Gesamtrechtsnachfolge oder die Eröffnung des Insolvenzverfahrens4 über das Vermögen des Einspruchsführers, die kraft Gesetzes zur Unterbrechung des Verfahrens in analoger Anwendung des § 240 ZPO führen. Zu Einzelheiten s. die vergleichbare Regelung zur Unterbrechung des Klageverfahrens Rz. 2.215.

2.215

2.216–2.217

Einstweilen frei. 5. Änderungsbescheid während des Einspruchsverfahrens

Literatur: Bilsdorfer/Morsch, Erfolg auf ganzer oder halben Linie: Die Abhilfe im Rahmen des Einspruchsverfahrens, BB 2008, 2610; Hummel, Erledigung eines Einspruchsverfahrens durch nachträgliche vorläufige Steuerfestsetzung?, in FS G. Frotscher, 2013, S. 239; Kamps, Handlungsbedarf bei „Abhilfebescheiden“, die entgegen der Erklärung des Finanzamts dem Einspruch tatsächlich nicht umfassend abhelfen?, DStR 2000, 1723; Steinhauff, Verbösernde Einspruchsentscheidung nach Ergehen eines Teilabhilfebescheids, jurisPR SteuerR 8/2007 Anm. 1; Steinhauff, Anspruch auf Einspruchsentscheidung trotz Bestandskraft eines während des Einspruchsverfahrens ergangenen Änderungsbescheids, jurisPR SteuerR 6/2006 Anm. 2.

a) Vollabhilfebescheid und Erledigung des Einspruchsverfahrens Wird dem Einspruch durch die Finanzbehörde voll stattgegeben und ergeht ein Vollabhilfebescheid, so ist das Einspruchsverfahren mit dem Abhilfebescheid erledigt, und es bedarf keiner Einspruchsentscheidung (§ 367 Abs. 2 Satz 3 AO).5 Der Einspruch gegen den ursprünglich angefochtenen Bescheid wird unzulässig, weil mit dem Abhilfebescheid die Beschwer entfallen ist.6 Ob eine derartige Vollabhilfe vorliegt, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen 1 §§ 138 Abs. 1, 137 Satz 2 FGO; BFH v. 27.11.1998 – VI R 161-162/90, BFH/NV 1999, 659. 2 Brandis in Tipke/Kruse § 363 AO Rz. 21. 3 Vgl. BFH v. 10.6.1970 – III R 128/67, BStBl. II 1970, 665; v. 10.12.1975 – II R 150/67, BStBl. II 1976, 506; Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Rz. 4; Birkenfeld in HHSp, § 363 AO Rz. 40; Rätke in Klein, § 363 AO Rz. 3. 4 Vgl. dazu aktuell FG Köln v. 28.6.2016 – 8 K 92/13, BB 2016, 2198 (Revision eingelegt, AZ beim BFH: VIII R 21/16). 5 BFH v. 4.2.1976 – I R 203/73, BStBl. II 1976, 551; v. 5.6.2003 – IV R 38/02, BStBl. II 2004, 2; v. 21.1.2015 – XI R 12/14, BFH/NV 2015, 957. 6 BFH v. 21.1.2015 – XI R 12/14, BFH/NV 2015, 957.

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2.218

Kap. 2 Rz. 2.219

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

dem Antrag des Einspruchsführers im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Abhilfebescheids – der Antrag kann bis zu diesem Zeitpunkt erweitert oder eingeschränkt werden – und der Regelung im Abhilfebescheid.1

2.219 Der Vollabhilfebescheid wird nicht zum Gegenstand des laufenden Einspruchsverfahrens, weil dieses mit der Bekanntgabe des Abhilfebescheids beendet ist. Allerdings kann der Vollabhilfebescheid wiederum selbständig mit dem Einspruch angefochten werden. Ein solcher Einspruch ist zulässig, insbesondere steht dem nicht die Anfechtungsbeschränkung nach § 351 Abs. 1 AO entgegen, weil ein durch den Einspruch nicht bestandskräftiger Bescheid geändert worden ist.2 Beispiel: A legt gegen den Einkommensteuerbescheid 00 fristgerecht Einspruch ein und beantragt, zusätzliche Werbungskosten in Höhe von 4.000 Euro steuermindernd zu berücksichtigen. Das Finanzamt gibt dem Antrag voll statt und erlässt einen entsprechend geänderten Einkommensteuerbescheid 00. Dem A fällt im Nachhinein ein, dass er noch weitere – andere – Aufwendungen als Sonderausgaben bisher nicht geltend gemacht hat. In diesem Fall kann er das alte Einspruchsverfahren nicht fortsetzen, da sich dieses mit der Bekanntgabe des Abhilfebescheids erledigt hat und der Änderungsbescheid nicht mehr zum Gegenstand des Verfahrens werden konnte. A muss vielmehr erneut fristgerecht Einspruch einlegen und ein neues Einspruchsverfahren nunmehr gegen den Abhilfebescheid beginnen.

2.220 Ein Abhilfebescheid, der zur Erledigung des Einspruchsverfahrens führt, liegt auch dann vor, wenn sich der Bescheid zwar teilweise als dem Einspruchsführer nachteilig erweist, der Einspruchsführer dieser Änderung aber nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a 1. Halbs. AO zugestimmt hat.3 Auch in diesem Fall muss gegen den Abhilfebescheid erneut fristgerecht Einspruch eingelegt werden, wenn der Einspruchsführer feststellt, dass dieser Bescheid noch andere Fehler zu seinen Ungunsten enthält. b) Gegenstand des Einspruchsverfahrens

2.221 Wird im Übrigen der angefochtene Verwaltungsakt während des Einspruchsverfahrens geändert oder ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt automatisch – ohne Erklärung des Einspruchsführers – Gegenstand des Einspruchsverfahrens (§ 365 Abs. 3 AO). § 365 Abs. 3 AO verfolgt den Zweck, zu verhindern, dass der Einspruchsführer aus dem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren hinausgedrängt wird, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt durch einen neuen Verwaltungsakt geändert oder ersetzt wird.4 Diesem Zweck entsprechend ist entscheidend, dass der angefochtene ursprüngliche Bescheid und der neue Bescheids „dieselbe Steuersache“ betreffen.5 Ein gegen den Änderungsbescheid eingelegter Einspruch ist sogar unzulässig und sollte nach entsprechendem Hinweis der Finanzverwaltung zurückgenommen werden. In der Praxis enthalten die Erläuterungen zum Änderungsbescheid normalerweise den Hinweis, dass der Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens wird und ein Einspruch nicht erforderlich ist.

1 2 3 4

BFH v. 21.12.2012 – IX B 101/12, BFH/NV 2013, 510. BFH v. 18.4.2007 – XI R 47/05, BStBl. II 2007, 736. BFH v. 5.6.2003 – IV R 38/02, BStBl. II 2004, 2. BFH v. 4.11.1999 – V R 35/98, BStBl. II 2000, 454; Birkenfeld in HHSp, § 365 AO Rz. 155; FG Baden-Württemberg v. 27.2.2013 – 1 K 2850/11, juris. 5 BFH v. 3.11.2011 – V R 32/10, BStBl. II 2012, 525.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.224 Kap. 2

Ein Änderungsbescheid kann aber nur dann zum Gegenstand des anhängigen Einspruchsverfahrens werden, wenn der Einspruch als solcher zulässig ist. Bei einem – z. B. wegen Fristversäumung – unzulässigen Einspruch, ist der Einspruch gegen den zunächst angefochtenen Bescheid als unzulässig zu verwerfen. § 365 Abs. 3 AO findet in diesem Fall keine Anwendung und der neue Verwaltungsakt kann in diesem Verfahren in der Sache nicht geprüft werden.1 Vielmehr muss gegen den Änderungsbescheid erneut Einspruch eingelegt werden, wobei die sämtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Einspruch – wie z. B. Form, Fristen, Beschwer – zu beachten sind.

2.222

Ist sich der Steuerpflichtige oder sein Berater nicht sicher, ob der „neue“ Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens wird, so sollte – um eine Haftung des Beraters zu vermeiden – vorsorglich immer Einspruch eingelegt werden, der ggf. durch Einspruchsentscheidung als unzulässig abgewiesen wird. Dies ist insoweit ohne Bedeutung, als das Einspruchsverfahren nach derzeitiger Rechtslage nicht kostenpflichtig ist.

2.223

Zu erwähnen sind insbesondere folgende von der Rechtsprechung zu § 365 Abs. 3 AO entschiedene Fallkonstellationen, in denen der während des Einspruchsverfahrens ergehende Bescheid den angefochtenen Bescheid ändert oder ersetzt:

2.224

– Während des Einspruchsverfahrens gegen den Erstbescheid ergeht ein Änderungsbescheid über eine Teilabhilfe.2 Das ist der übliche Fall, der immer wieder vorkommt. – Während des Einspruchsverfahrens gegen den Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheid ergeht der Umsatzsteuer-Jahresbescheid 00 oder es wird die Umsatzsteuererklärung abgegeben, die gem. § 168 Satz 1 AO als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung wirkt.3 – Während des Einspruchsverfahrens gegen den Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheid ergeht der Einkommensteuer-Jahresbescheid.4 – Während des Einspruchsverfahrens gegen den Gewerbesteuermessbescheid für Vorauszahlungszwecke ergeht der Gewerbesteuermessbescheid für das Kalenderjahr.5 – Während des Einspruchsverfahrens gegen einen gem. § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid ergeht ein Bescheid, in dem der Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 Abs. 3 Satz 1 AO aufgehoben wird.6 – Während des Einspruchsverfahrens ergeht ein verbösernder Bescheid nach § 367 Abs. 2 Satz 2 AO.7 – Während des Einspruchsverfahrens gegen den Erstbescheid ergeht ein Änderungsbescheid nach § 129 AO. Dieser Fall ist in § 365 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO geregelt.

1 2 3 4

BFH v. 13.4.2000 – V R 56/99, BStBl. II 2000, 490. Seer in Tipke/Kruse, § 365 AO Rz. 30. BFH v. 4.11.1999 – V R 35/98, BStBl. II 2000, 454; v. 3.11.2011 – V R 32/10, BStBl. II 2012, 525. BFH v. 13.12.2006 – VIII R 62/04, BFH/NV 2007, 584; m. w. N.; v. 28.8.2003 – IV R 20/02, BStBl. II 2004, 10; v. 23.1.2003 – IV R 71/00, BStBl. II 2004, 43; Birkenfeld in HHSp, § 365 AO Rz. 240; Seer in Tipke/Kruse, § 365 AO Rz. 28. 5 BFH v. 9.9.1986 – VIII R 198/84, BStBl. II 1987, 28. 6 BFH v. 26.2.2002 – IV R 3/01, BStBl. II 2003, 112; Birkenfeld in HHSp, § 365 AO Rz. 234; Seer in Tipke/Kruse, § 365 AO Rz. 27. 7 Seer in Tipke/Kruse, § 365 AO Rz. 27.

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Kap. 2 Rz. 2.225

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

– Während des Einspruchsverfahrens gegen einen unwirksamen Bescheid ergeht ein wirksamer Bescheid. Dieser Fall ist in § 365 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AO geregelt. 6. Hinzuziehung zum Einspruchsverfahren Literatur: Billig, Kosten des Erben aufgrund einer Hinzuziehung und Beiladung zu den Rechtsbehelfsverfahren des Vermächtnisnehmers, UVR 2007, 158; Bruschke, Hinzuziehung und Beiladung – Rechtsfolgen beachten, DStR 2011, 753; Kobor, Hinzuziehung zum Einspruchsverfahren und Beiladung zum Klageverfahren, SteuK 2013, 49; Meier, Auswirkungen einer unterbliebenen notwendigen Hinzuziehung im Sinne des § 360 Abs. III AO bei Erlass einer Einspruchsentscheidung in Gewerbesteuer-Zerlegungsfällen, KStZ 1999, 207; Steinhauff, Voraussetzungen und Grenzen der Klagebefugnis von im Einspruchsverfahren nicht – notwendig – Hinzugezogenen, DStR 2005, 2027; von Wedelstädt, Hinzuziehung und Beiladung – Verfahrensvereinfachung durch Beteiligung an fremden Rechtsbehelfsverfahren, AO-StB 2007, 15 (Teil 1) und AO-StB 2007, 46 (Teil 2).

2.225 Die Hinzuziehung (§ 360 AO) dient dem Zweck, dritte Personen in das Einspruchsverfahren mit einzubeziehen, denen gegenüber die Entscheidung zweckmäßigerweise oder aber auch notwendig bindende Wirkung haben soll. Zu unterscheiden ist zwischen einfacher Hinzuziehung (§ 360 Abs. 1 AO) und notwendiger Hinzuziehung (§ 360 Abs. 3 AO). Wegen der Voraussetzungen im Einzelnen wird auf die Erläuterungen zur insoweit gleich lautenden Vorschrift des § 60 FGO (s. Rz. 3.781 ff.) und für Beiladungen in Massenverfahren (bei mehr als 50 beizuladenden Personen) auf die Erläuterungen zu der § 360 Abs. 5 AO entsprechenden Vorschrift des § 60a FGO verwiesen (s. Rz. 3.803 f.).

2.226 Bei der Hinzuziehung ist Folgendes besonders zu beachten: Die Hinzuziehung erfolgt gem. § 360 Abs. 1 Satz 1 AO von Amts wegen oder auf Antrag. Dabei ist die notwendige Hinzuziehung immer von Amts wegen durchzuführen. Bei der einfachen Hinzuziehung ist der Einspruchsführer vorher zu hören (§ 360 Abs. 1 Satz 2 AO). Es erscheint allerdings sinnvoll, den Einspruchsführer auch im Fall der notwendigen Hinzuziehung vorher zu hören, damit dieser die Möglichkeit erhält, die Hinzuziehung durch Rücknahme des Einspruchs zu vermeiden. Dies sieht deshalb auch zu Recht der AEAO zu § 360 Tz. 2 vor.

2.227 Erhält der Einspruchsführer bzw. dessen Berater einen derartigen Hinweis auf eine beabsichtigte Hinzuziehung eines fremden Dritten zum Einspruchsverfahren, so empfiehlt es sich in der Praxis abzuwägen, wie groß die Aussichten des Einspruchs auf Erfolg sein dürften, und welcher Nachteil durch die Öffnung der Steuergeheimnissphäre durch die Hinzuziehung des Dritten entstehen könnte.1 Eine nicht gewollte Hinzuziehung kann nur durch die Rücknahme des Einspruchs vermieden werden.

2.228 Die Hinzuziehung erfolgt durch Verwaltungsakt, der durch den Einspruchsführer und den Hinzugezogenen angefochten werden kann. Der Hinzugezogene kann während des Einspruchsverfahrens, unabhängig davon, ob eine einfache oder notwendige Hinzuziehung vorliegt, dieselben Rechte geltend machen wie der Einspruchsführer (§ 360 Abs. 4 AO). Er kann Einwendungen gegen den angefochtenen Bescheid unabhängig vom Vorbringen des Einspruchsführers vorbringen.2 Er kann auch abweichende Sachanträge stellen.3 Eine Pflicht des Hinzugezogenen zu einer irgendwie gearteten Mitwirkung besteht allerdings nicht.4 In 1 2 3 4

Brandis in Tipke/Kruse, § 360 AO Rz. 4. Brandis in Tipke/Kruse, § 360 AO Rz. 7. Brandis in Tipke/Kruse, § 360 AO Rz. 7. Brandis in Tipke/Kruse, § 360 AO Rz. 7; BFH v. 7.2.2007 – IV B 210/04, BFH/NV 2007, 869.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.232 Kap. 2

der Praxis machen die Hinzugezogenen von ihren Rechten erfahrungsgemäß aber nur selten Gebrauch. Viele wollen mit dem Verfahren gar nichts zu tun haben. Der Hinzugezogene sollte aber einen Antrag stellen, wenn er sich die Möglichkeit der Klage im Fall einer für ihn nachteiligen Einspruchsentscheidung in der Sache des Einspruchsführers offen halten will (s. Rz. 2.231).1 „Herr des Verfahrens“ bleibt auch in den Fällen der Hinzuziehung der Einspruchsführer. Nimmt der Einspruchsführer den Einspruch zurück, so kann der Hinzugezogene das Verfahren nicht fortsetzen. Die Rücknahme des Einspruchs durch den Einspruchsführer kann er nicht verhindern.2 Dies gilt auch, wenn der angefochtene Verwaltungsakt aufgehoben wird und sich das Einspruchsverfahren dadurch erledigt.3 Die Hinzuziehung ist insoweit akzessorisch.4

2.229

Eine Entscheidung durch Abhilfebescheid (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO) wahrt die Rechte des Hinzugezogenen nur, wenn sie seinem Antrag der Sache nach entspricht oder wenn er ihr zustimmt.5 Verweigert er seine Zustimmung, so ist durch Einspruchsentscheidung zu entscheiden, auch wenn dem Begehren des Einspruchsführers in vollem Umfang entsprochen wird. Die Finanzbehörde darf den Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Hinzugezogenen abändern, wenn über den Streitpunkt zwangsläufig nur einheitlich entschieden werden kann. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich die Entscheidung notwendigerweise auf alle Feststellungsbeteiligten auswirkt.6

2.230

Da die Einspruchsentscheidung auch gegenüber dem Hinzugezogenen wirkt, kann der Hinzugezogene Klage erheben, wenn er geltend machen kann, in seinen Rechten verletzt zu sein. Eine Rechtsverletzung liegt vor, wenn er durch die Einspruchsentscheidung formell und materiell-rechtlich beschwert ist.7 Eine formelle Beschwer setzt voraus, dass der Hinzugezogene im Verfahren des Einspruchsführers Anträge gestellt hat und diese Anträge zurückgewiesen worden sind.8 Es reicht für eine Beschwer des Hinzugezogenen nicht aus, dass dem Einspruchsbegehren des Hauptbeteiligten nicht entsprochen worden ist.9 Außerdem können im nachfolgenden Klageverfahren des Hinzugezogenen dessen Interessen nur im Rahmen des vorherigen Einspruchsgegenstandes Berücksichtigung finden.10

2.231

Die unterlassene notwendige Hinzuziehung wird im Klageverfahren durch eine notwendige Beiladung (§ 60 Abs. 3 Satz 1 FGO) geheilt.11

2.232

7. Rücknahme des Einspruchs Literatur: Beyer, Ungewollte Einspruchsrücknahme – Argumentationshilfen am praktischen Fall, AOStB 2011, 244; Krauss, Rechtsbehelfsverzicht und -Rücknahme im Steuerstreit, Diss. München 1976. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. dazu BFH v. 4.3.2015 – II R 1/14, BStBl. II 2015, 595 m. w. N. BFH v. 22.3.2006 – XI R 24/05, BStBl. II 2006, 576. Brandis in Tipke/Kruse, § 360 AO Rz. 8. BFH v. 7.2.2007 – IV B 210/04, BFH/NV 2007, 869. BFH v. 11.4.1991 – V R 40/86, BStBl. II 1991, 605. BFH v. 7.2.2007 – IV B 210/04, BFH/NV 2007, 869. BFH v. 29.4.2009 – X R 16/06, BStBl. II 2009, 732. BFH v. 4.3.2015 – II R 1/14, BStBl. II 2015, 595 m. w. N. BFH v. 4.3.2015 – II R 1/14, BStBl. II 2015, 595. BFH v. 24.7.2012 – IX B 19/11, BFH/NV 2012, 2011. BFH v. 28.10.1999 – I R 8/98, BFH/NV 2000, 579.

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Kap. 2 Rz. 2.233

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

a) Allgemeines

2.233 § 362 Abs. 1 AO sieht vor, dass der Einspruch bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung zurückgenommen werden kann.

2.234 Die Rücknahme des Einspruchs ist eine verfahrensrechtliche Willenserklärung. Sie besteht in der Erklärung, dass das Ersuchen um Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes oder um Erlass eines unterlassenen Verwaltungsaktes nicht weiter verfolgt werden soll.1 Die Erklärung unterliegt den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB2 und darf nicht an eine Bedingung geknüpft werden.3 Bedingung ist ein zukünftiges ungewisses Ereignis, das vom Wissen oder Willen der Finanzbehörde oder eines anderen Beteiligten unabhängig ist. Beispiel: A nimmt seinen Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 01 mit der Bemerkung zurück, die Rücknahme erfolge unter der Voraussetzung, dass seine Aufwendungen, die Gegenstand des Einspruchs sind, im Folgejahr 02 anerkannt werden. Die Rücknahme ist unwirksam, da sie an eine unzulässige Bedingung geknüpft ist.

b) Rücknahmeerklärung

2.235 Nur der Einspruchsführer oder sein Vertreter können den Einspruch zurücknehmen. Dabei schließt die Vollmacht, Einspruch einlegen zu können, grundsätzlich die Vollmacht zur Rücknahme ein. Wenn die Vollmacht nicht so weit gehen soll, muss der Steuerpflichtige sie ausdrücklich einschränken. Für die Vollmacht, ihre Wirkung und ihren Nachweis gilt auch hier § 80 AO (Rz. 2.77 ff.).

2.236 Die Rücknahme des Einspruchs hat schriftlich oder elektronisch oder zur Niederschrift zu erfolgen; sie erfolgt also in derselben Form wie die Einlegung des Einspruchs. Dies folgt daraus, dass § 357 Abs. 1 und 2 AO in § 362 Abs. 1 Satz 2 AO ausdrücklich in Bezug genommen worden sind. Bzgl. der Form wird deshalb auf die entsprechenden Ausführungen zur Einlegung des Einspruchs verwiesen (Rz. 2.89 ff.). Im AEAO wird zu § 362 Tz. 1 Satz 3 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die elektronisch erklärte Rücknahme keiner qualifizierten Signatur nach dem Signaturgesetz bedarf. Richtiger Adressat der Rücknahme ist gem. § 362 Abs. 1 Satz 2 AO i. V. m. § 357 Abs. 2 AO die Finanzbehörde, deren Verwaltungsakt angefochten worden ist.

2.237 Die Einspruchsrücknahme ist zwar als Willenserklärung unter Berücksichtigung der §§ 133, 157 BGB auslegungsfähig.4 Das heißt, es braucht nicht unbedingt das Wort „Rücknahme“ verwendet zu werden. Der Erklärung muss aber klar und eindeutig zu entnehmen sein, dass das eingeleitete Einspruchsverfahren nicht weiter fortgeführt werden soll. Um Auslegungsschwierigkeiten und Rückfragen zu vermeiden, sollte jedoch eine eindeutige Erklärung abgegeben werden. Beispiel: „Hiermit wird der Einspruch vom … gegen den Einkommensteuerbescheid 00 vom … zurückgenommen“.

1 BFH v. 8.6.2000 – IV R 37/99, BStBl. II 2001, 162; Brandis in Tipke/Kruse, § 362 AO Rz. 5. 2 BFH v. 8.6.2000 – IV R 37/99, BStBl. II 2001, 162. 3 BFH v. 20.12.2006 – X R 38/05, BFH/NV 2007, 1016; Brandis in Tipke/Kruse, § 362 AO Rz. 6; Rätke in Klein, § 362 AO Rz. 11. 4 BFH v. 8.6.2000 – IV R 37/99, BStBl. II 2001, 162.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.242 Kap. 2

Als Verfahrenserklärung ist die Einspruchsrücknahme darüber hinaus grundsätzlich nicht anfechtbar und auch nicht widerrufbar, wenn die Rücknahmeerklärung der Finanzbehörde zugegangen und damit wirksam geworden ist. Allerdings ist der vorherige oder gleichzeitige Widerruf der Einspruchsrücknahme möglich.1

2.238

Beispiel: A gibt am 1.3.00 ein Schreiben zur Post, in dem der Einspruch vom … gegen den Einkommensteuerbescheid 00 zurückgenommen wird. Nachts kommen ihm Bedenken, ob die Rücknahme richtig war. Er schickt der Finanzbehörde am 2.3.00 noch vor Dienstbeginn ein Schreiben per Fax, dass die Rücknahme widerrufen werde und das Einspruchsverfahren fortgesetzt werden solle. Hier wird das Einspruchsverfahren fortgesetzt, weil der Widerruf vor Eingang der Rücknahmeerklärung beim Finanzamt eingegangen ist.

Die Rücknahme des Einspruchs ist gem. § 362 Abs. 1 Satz 1 AO nur zulässig bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Das ist für die Fälle von besonderer Bedeutung, in denen die Finanzbehörde die Verböserung angedroht hat. Geht die Rücknahme verspätet, also erst nach der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, bei der Finanzbehörde ein, bleibt sie ohne Wirkung. Dem Steuerpflichtigen steht dann nur noch der Klageweg zur Verfügung.

2.239

c) Wirkungen der Rücknahme Die Rücknahme des Einspruchs hat folgende Wirkungen: Es tritt der Verlust des eingelegten Rechtsbehelfs ein, § 362 Abs. 2 AO. Das bedeutet: Es werden lediglich die rechtlichen Wirkungen des konkret eingelegten Einspruchs aufgehoben; es bleibt die Möglichkeit bestehen – falls die Einspruchsfrist noch nicht abgelaufen und eine (Teil-)Einspruchsentscheidung noch nicht ergangen ist2 –, erneut Einspruch einzulegen. Dies unterscheidet die Rücknahme vom Einspruchsverzicht (Rz. 2.129 ff.).

2.240

Beispiel: A hat am 5.7.00 den Einkommensteuerbescheid 00 erhalten. Am 10.7.00 legt er rein vorsorglich Einspruch ein, um den Bescheid in Ruhe überprüfen zu können. Nach Beendigung der Prüfung nimmt er am 15.7.00 den Einspruch zurück. Am 20.7.00 fällt ihm auf, dass er vergessen hat, Aufwendungen für Fortbildung als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend zu machen. Hier kann A erneut Einspruch einlegen, da die Einspruchsfrist von einem Monat noch nicht abgelaufen ist.

Ist die Einspruchsfrist im Zeitpunkt der Rücknahme bereits abgelaufen – dies wird in der Praxis der Regelfall sein –, führt die Rücknahme zur Bestandskraft des betreffenden Steuerbescheides. Dies hat zur Folge, dass nunmehr auch ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung unzulässig geworden ist, da ein solcher Antrag gem. § 361 Abs. 1 AO einen „angefochtenen Verwaltungsakt“ voraussetzt. Sollte bereits eine Aussetzung der Vollziehung gewährt worden sein, ist damit zu rechnen, dass eine gewährte Aussetzung der Vollziehung beendet wird.

2.241

Das Rechtsbehelfsverfahren wird nur durch eine wirksame Rücknahme beendet. Unwirksam ist die Rücknahme dann, wenn sie nicht der vorgeschriebenen Form entspricht, verspätet oder bei einer nicht zuständigen Behörde erklärt wird. Darüber hinaus ist die Rücknahme auch in den Fällen unwirksam, in denen sie durch eine unzulässige Beeinflussung seitens der Finanzbehörde erwirkt worden ist, also durch bewusste Täuschung, Drohung, bewusst

2.242

1 BFH v. 20.12.2006 – X R 38/05, BStBl. II 2007, 823; Birkenfeld in HHSp, § 362 AO Rz. 102; Werth in Beermann/Gosch, § 362 AO Rz. 19. 2 BFH v. 18.9.2014 – VI R 80/13, BStBl. II 2015, 115.

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Kap. 2 Rz. 2.243

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

falsche Auskunft oder mittels rechtlich offensichtlich unzutreffender Erwägungen – insbesondere gegenüber rechtsunkundigen Steuerpflichtigen – veranlasst worden ist. Dies gilt aber nur in krassen Fällen unzulässiger Einwirkung auf die Willensbildung des Steuerpflichtigen, wobei jeweils im Einzelfall die individuellen Erkenntnismöglichkeiten des die Rücknahme Erklärenden zu berücksichtigen sind. Wird die Rücknahme durch einen rechtskundigen oder sachkundigen Bevollmächtigten erklärt, hat eine vorausgegangene objektiv unrichtige Auskunft oder Beurteilung der Rechtslage durch das Finanzamt auf die Wirksamkeit der Rücknahme keinen Einfluss.1 Keine unzulässige Beeinflussung ist auch die Anregung der Rücknahme im Zusammenhang mit der Erteilung eines Verböserungshinweises.

2.243 Die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme ist grundsätzlich innerhalb eines Jahres nach Eingang der Rücknahmeerklärung bei der zuständigen Finanzbehörde geltend zu machen (§ 363 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 110 Abs. 3 AO). Das Einspruchsverfahren wird dann wieder aufgenommen und zunächst die Wirksamkeit der Rücknahme geprüft. Wird diese bejaht, wird das Verfahren fortgesetzt und in der Sache entschieden.

2.244 Auch wenn das Finanzamt zu einer Rücknahme des Einspruchs „rät“, ist in der Praxis sorgfältig zu überlegen, ob die Rücknahme, die zu einem Rechtsverlust führt, tatsächlich erklärt werden soll. Wird die Rücknahme durch einen rechtskundigen oder sachkundigen Bevollmächtigten erklärt, hat eine vorausgegangene objektiv unrichtige Auskunft oder Beurteilung der Rechtslage durch das Finanzamt auf die Wirksamkeit der Rücknahme keinen Einfluss. d) Teilrücknahme

2.245 Ein Steuerbescheid für eine laufend veranlagte Steuer – wie die Einkommen- oder Umsatzsteuer – bildet für einen bestimmten Veranlagungszeitraum jeweils einen selbständigen und unteilbaren Verfahrensgegenstand und nur einen einzigen Verwaltungsakt.2 Sind in einem Einspruchsverfahren mehrere Verfahrensgegenstände und damit mehrere Verwaltungsakte anhängig – beispielsweise verschiedene Steuerarten und/oder Steuerjahre oder verschiedene Feststellungen in einem Feststellungsbescheid – so kann der Einspruch natürlich hinsichtlich einzelner Verfahrensgegenstände, also für jeden einzelnen Verwaltungsakt, zurückgenommen werden.3 Diese sog. unechte Teilrücknahme des Einspruchs4, die zur Bestandskraft einzelner Verfahrensgegenstände führt, ist kein Problem. Nimmt einer von mehreren Einspruchsführern seinen Einspruch gegen den Bescheid zurück, so wird das Einspruchsverfahren für den anderen Einspruchsführer fortgeführt und der Bescheid in diesem Verfahren vollständig auf seine Rechtmäßigkeit überprüft. Beispiel: A hat gegen die Einkommensteuerbescheide 00 und 01 sowie gegen den Umsatzsteuerbescheid 01 Einspruch eingelegt. Er nimmt den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 00 zurück. Damit wird der Einkommensteuerbescheid 00 bestandskräftig. Das Verfahren wegen Einkommensteuer 01 und Umsatzsteuer 01 wird fortgesetzt.

1 Vgl. hierzu ausführlich BFH v. 29.6.2005 – II R 21/04, BFH/NV 2005, 1964 m. w. N. 2 FG Düsseldorf v. 16.8.2005 – 10 K 4172/03 E, EFG 2005, 1831, bestätigt durch BFH v. 6.9.2006 – XI R 51/05, BStBl. II 2007, 83. 3 Vgl. auch Werth in Beermann/Gosch, § 362 AO Rz. 16. 4 Werth in Beermann/Gosch, § 362 AO Rz. 16.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.249 Kap. 2

Eine Teilrücknahme des Einspruchs ist jedoch bei einem nicht teilbaren Verfahrensgegenstand, d. h. hinsichtlich einzelner Besteuerungsgrundlagen, soweit diese nicht gesondert festgestellt werden, grundsätzlich unzulässig.1 Wird der Einspruch hier „teilweise zurückgenommen“ bedeutet dies lediglich eine Einschränkung der Einspruchsbegründung bzw. des Einspruchsbegehrens und hat sonst keine Auswirkung. Der fallen gelassene Punkt kann auch in einem späteren Klageverfahren wieder aufgenommen werden.2

2.246

Beispiel: A hat gegen den Einkommensteuerbescheid 00 Einspruch eingelegt und geltend gemacht, dass bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit und bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung weitere Werbungskosten zu berücksichtigen seien. Später erklärt er, dass die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit doch zutreffend seien, und nimmt „insoweit seinen Einspruch zurück“. Das Einspruchsverfahren, das nur den Verfahrensgegenstand Einkommensteuer 00 und nicht einzelne Besteuerungsgrundlagen hat, wird von dieser Erklärung nicht weiter berührt und fortgesetzt, wobei das Finanzamt erfahrungsgemäß sein Hauptaugenmerk jetzt nur noch auf die Einkunftsart Vermietung und Verpachtung lenken wird. Der A kann aber auch später in diesem Einspruchsverfahren oder sogar erst in einem Klageverfahren nochmals die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die eine reine Besteuerungsgrundlage sind, oder auch andere Besteuerungsgrundlagen in Frage stellen.

Eine Ausnahme ist nur in § 362 Abs. 1a AO geregelt. Danach kann der Einspruch allerdings begrenzt zurückgenommen werden, soweit Besteuerungsgrundlagen für ein Verständigungs- oder Schiedsverfahren nach einem Doppelbesteuerungsabkommen von Bedeutung sein können. Sinn dieser Regelung ist, dass der Verwaltungsakt hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen, auf die sich die begrenzte Rücknahme bezieht, in Teilbestandskraft erwachsen soll. Diese Besteuerungsgrundlagen müssen deshalb genau bezeichnet sein (§ 362 Abs. 1a Satz 2 i. V. m. § 354 Abs. 1a AO).3 Diese Regelung ist erforderlich, weil die Einleitung des Verständigungs- und Schiedsverfahrens in der Praxis häufig die Bestandskraft des betreffenden Verwaltungsakts voraussetzt.4

2.247

Wurde der Einspruch nur wegen der vorgenannten Besteuerungsgrundlagen eingelegt, ist das Einspruchsverfahren nach der Rücknahme des Einspruchs beendet. Betrifft der Einspruch auch noch andere Punkte, so wird das Einspruchsverfahren fortgeführt und hinsichtlich der übrigen Besteuerungsgrundlagen durch Einspruchsentscheidung abgeschlossen.5 Die Teilrücknahme und die damit eingetretene Teilbestandskraft hindert aber nicht eine etwaige Saldierung durch die Finanzverwaltung.6

2.248

Nach Durchführung des Verständigungs- oder Schiedsverfahrens kann der insgesamt oder teilweise bestandskräftige Bescheid nach § 175a Satz 1 AO geändert werden, soweit dies zur Umsetzung des Ergebnisses erforderlich ist.7

2.249

1 FG Düsseldorf v. 16.8.2005 – 10 K 4172/03 E, EFG 2005, 1831, bestätigt durch BFH v. 6.9.2006 – XI R 51/05, BStBl. II 2007, 83; Werth in Beermann/Gosch, § 362 AO Rz. 15. 2 Birkenfeld in HHSp, § 362 AO Rz. 123; Brandis in Tipke/Kruse, § 362 AO Rz. 6. 3 Werth in Beermann/Gosch, § 362 AO Rz. 20. 4 Birkenfeld in HHSp, § 362 AO Rz. 148. 5 Birkenfeld in HHSp, § 362 AO Rz. 151. 6 Birkenfeld in HHSp, § 362 AO Rz. 160. 7 Birkenfeld in HHSp, § 362 AO Rz. 152.

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Kap. 2 Rz. 2.250

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

8. Einspruchsentscheidung Literatur: Apitz, Die Möglichkeit der Änderung zum Nachteil des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einspruchsverfahrens – Verböserung, § 367 Abs. 2 AO, DStR 1985, 101; App, Form und Inhalt von Einspruchsentscheidungen, StWa. 1988, 69; Bergan/Martin, Allgemeinverfügung und Teileinspruchsentscheidung – die Wunderwaffe der Finanzverwaltung im Kampf gegen Massenrechtsbehelfe?, DStR 2007, 1384; Bilsdorfer/Morsch, Erfolg auf ganzer oder halber Linie: Die Abhilfe im Rahmen des Einspruchsverfahrens, BB 2008, 2610; Carlé, Die Teileinspruchsentscheidung – § 367 Abs. 2a AO, AOStB 2013, 224; Daumke, Zur Verböserung bei Einsprüchen gegen Vorbehaltsbescheide, DStR 1984, 517; Fichtelmann, Änderung von Steuerbescheiden während des Einspruchsverfahrens, DStZ/A 1975, 123; Flies, Verböserung im Einspruchsverfahren, DB 1995, 950; Hildesheim, Die Verböserung im steuerlichen Rechtsbehelfsverfahren, NWB Fach 2, 5151; Kirchhof, Rückkehr zur Gesamtaufrollung?, DStR 2007, 2284; Krüger, Zum Für und Wider der Teileinspruchsentscheidung gem. § 367 Abs. 2a AO, DStZ 2009, 810; Mann, Teileinspruchsentscheidung gemäß § 367 Abs. 2a AO – Rechtsschutzverkürzung par excellence oder zahnloser Papiertiger?, Stbg 2008, 394; Meier, Auswirkungen einer unterbliebenen notwendigen Hinzuziehung im Sinne des § 360 Abs. 3 AO bei Erlass einer Einspruchsentscheidung in Gewerbesteuer-Zerlegungsfällen, KStZ 1999, 207; Olgemöller/Kamps, Handlungsbedarf bei „Abhilfebescheiden“, die entgegen der Erklärung des Finanzamts dem Einspruch tatsächlich nicht umfassend abhelfen?, DStR 2000, 1723; Schneider, Teileinspruchsentscheidung – ein Foulspiel der Finanzverwaltung?, SteuerConsultant, 2007, Nr. 12, S. 29; Schwarz, Verfahrensrechtliche Besonderheiten beim Kindergeld, AO-StB 2003, 377; Seitrich, Wann ist das Finanzamt an einer Verböserung gehindert?, BB 1988, 1799; Steinger, Zur Frage der Sachdienlichkeit von Teil-Einspruchsentscheidungen nach § 367 Abs. 2a Satz 1 AO, DStZ 2008, 674; von Wedelstädt, Die Änderungen der Abgabenordnung durch das Jahressteuergesetz 2007, DB 2006, 2715; von Wedelstädt, Die Änderungen und Ergänzungen im Anwendungserlass zur Abgabenordnung durch das BMF-Schreiben vom 26.1.2007, DB 2007, 363; von Wedelstädt, Die Änderungen und Ergänzungen im Anwendungserlass zur Abgabenordnung durch das BMF-Schreiben vom 12.7.2007, DB 2007, 1661; Zinn, Die Verböserung – Eine sprachkritische Anmerkung, Stbg 1987, 321.

a) Abschluss des Verfahrens

2.250 Will die Finanzbehörde dem Einspruch nicht abhelfen oder erledigt sich das Einspruchsverfahren nicht durch Rücknahme des Einspruchs durch den Einspruchsführer, so muss die Finanzbehörde das Verfahren durch eine förmliche Einspruchsentscheidung beenden (vgl. § 367 Abs. 2 Satz 3 AO). Die Einspruchsentscheidung ist nach § 366 AO schriftlich abzufassen, zu begründen, mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen und den Beteiligten bekannt zu geben.

2.251 Stand der angefochtene Verwaltungsakt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO), kann der Vorbehalt in der Einspruchsentscheidung aufrechterhalten werden.1 Denn das Einspruchsverfahren ist nicht automatisch als abschließende Prüfung i. S. des § 164 Abs. 1 AO anzusehen, und das Finanzamt kann nur durch die Einlegung des Einspruchs, der nicht einmal begründet werden muss, nicht zu einer abschließenden Prüfung gezwungen werden.2 Wird der Vorbehalt nicht ausdrücklich in der Einspruchsentscheidung aufgehoben, bleibt er bestehen3. Dies gilt auch dann, wenn der Vorbehalt der Nachprüfung in der Einspruchsentscheidung nicht erneut erwähnt wird. In diesem Fall steht der Bescheid weiterhin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, bis dieser ausdrücklich aufgehoben wird oder wegen Eintritts der

1 BFH v. 12.6.1980 – IV R 23/79, BStBl. II 1980, 527; Birkenfeld in HHSp, § 367 AO Rz. 248. 2 BFH v. 12.6.1980 – IV R 23/79, BStBl. II 1980, 527. 3 BFH v. 14.9.1993 – VIII R 9/93, BStBl. II 1995, 2; v. 1.8.1984 – V R 91/83, BStBl. II 1984, 788.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.254 Kap. 2

vierjährigen Festsetzungsverjährung nach § 164 Abs. 4 AO entfällt. Entsprechendes gilt für den Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 Abs. 1 AO. Die Finanzbehörde kann der Steuerfestsetzung im Einspruchsverfahren oder in der Einspruchsentscheidung auch erstmals einen Nachprüfungsvorbehalt beifügen, wenn es eine spätere abschließende Prüfung für erforderlich hält. Dies bedeutet eine Verböserung und setzt verfahrensrechtlich den vorherigen Hinweis auf diese Verböserungsabsicht oder die Zustimmung des Einspruchsführers voraus.1

2.252

Obwohl der Einspruch ganz oder teilweise Erfolg hat, kann die Finanzbehörde im Rahmen der Einspruchsentscheidung mit bisherigen Fehlern bei der Steuerfestsetzung saldieren. Dabei ist der Saldierungsrahmen zu beachten, so dass die Saldierung allenfalls zur Abweisung des Einspruchs im Rahmen der Einspruchsentscheidung führen kann. Ein saldierungsfähiger materieller Fehler i. S. des § 177 Abs. 3 AO ist auch dann gegeben, wenn insoweit Festsetzungsverjährung eingetreten ist.2 § 177 AO ist selbst keine Korrekturvorschrift, sondern begrenzt lediglich die Wirkungen von Korrekturvorschriften und führt zur Begrenzung der gegenläufigen Festsetzung eines nicht verjährten Teilbetrags.3

2.253

b) Teil-Einspruchsentscheidung Literatur: Dißars, Entscheidung durch Allgemeinverfügung und Teileinspruchsentscheidung – gesetzliche Regelung und ungeklärte Rechtsfragen, StB 2008, 407; Förster, Teileinspruchsentscheidung bezüglich unstreitiger Bestandteile des Bescheids zulässig, BFH/PR 2012, 327; Intemann, Ausgewählte Probleme der Teileinspruchsentscheidung, DB 2008, 1005; Bergan/Martin, Teileinspruchsentscheidung und Allgemeinverfügung, DStZ 2008, 518; Bergan/Martin, Allgemeinverfügung und Teileinspruchsentscheidung – die Wunderwaffe der Finanzverwaltung im Kampf gegen Massenrechtsbehelfe?, DStR 2007, 1384; Carlé, Die Teileinspruchsentscheidung – § 367 Abs. 2a AO, AO-StB 2013, 224; Krüger, Zum Für und Wider der Teileinspruchsentscheidung gem. § 367 Abs. 2a AO, DStZ 2009, 810; Mann, Teileinspruchsentscheidung gemäß § 367 Abs. 2a AO – Rechtsschutzverkürzung par excellence oder zahnloser Papiertiger?, Stbg 2008, 394; Steinger, Zur Frage der Sachdienlichkeit von Teil-Einspruchsentscheidungen nach § 367 Abs. 2a Satz 1 AO, DStZ 2008, 674.

Gem. § 367 Abs. 2a Satz 1 AO kann die Finanzbehörde vorab eine Teil-Einspruchsentscheidung erlassen, wenn dies sachdienlich ist. In dieser Entscheidung ist dann zu bestimmen, hinsichtlich welcher Teile des angefochtenen Bescheids keine Bestandkraft eintreten soll (§ 367 Abs. 2a Satz 2 AO). Dies hat im Tenor der Einspruchsentscheidung zu geschehen. Dort ist aus Gründen der Rechtssicherheit eindeutig klarzustellen, welche Teile des angefochtenen Bescheides nicht bestandskräftig werden sollen. Dazu müssen zur inhaltlichen Bestimmtheit des Tenors nur die betreffenden Besteuerungsgrundlagen angegeben werden; eine Bezifferung des Betrages ist nicht erforderlich.4 Bezüglich der entschiedenen Teile – dazu gehören, was für die Praxis besonders wichtig ist, regelmäßig auch die unbenannten Streitpunkte5 – erwächst die Teil-Einspruchsentscheidung in Bestandskraft, wenn hiergegen keine Klage erhoben wird. Dies bedeutet, dass die in der Teil-Entscheidung vorab entschie-

1 2 3 4 5

Birkenfeld in HHSp, § 367 AO Rz. 248. BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6. BFH v. 22.4.2015 – X R 24/13, BFH/NV 2015, 1334; v. 9.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87. BFH v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. BFH v. 14.3.2012 – X R 50/09, BStBl. II 2012, 536; v. 30.9.2010 – III R 39/08; BStBl. II 2011, 11.

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2.254

Kap. 2 Rz. 2.255

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

denen Punkte nicht mehr Gegenstand des Einspruchsverfahrens sind und der Einspruchsführer insoweit auch sein Vorbringen nicht mehr erweitern kann.1

2.255 Die Möglichkeit einer Teil-Einspruchsentscheidung wird vielfach kritisch gesehen, weil dadurch die „Waffengleichheit“ zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigem, der keinen Teileinspruch einlegen kann, zu Lasten des Steuerpflichtigen nachhaltig verschoben würde.2 Inzwischen sind verschiedene BFH-Entscheidungen ergangen, in denen der insoweit geäußerten Kritik nicht gefolgt wird.3 Der BFH geht hier sehr weit:

2.256 Die Sachdienlichkeit (unbestimmter Rechtsbegriff) der Teil-Einspruchsentscheidung sei in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar. Diese sei auch dann gegeben, wenn die Teil-Einspruchsentscheidung nicht allein auf schnelleren Rechtsschutz im Interesse des Steuerpflichtigen gerichtet ist, sondern dem Interesse der Finanzverwaltung an einer zeitnahen Entscheidung über den entscheidungsreifen Teil des Einspruchs diene, der ersichtlich nur zu dem Zweck eingelegt wird, die Steuerfestsetzung nicht bestandskräftig werden zu lassen.4 Liegt die Sachdienlichkeit vor, entspricht der Erlass der Teil-Einspruchsentscheidung regelmäßig billigem Ermessen, das damit vorgeprägt ist, so dass nicht einmal eine weitere Begründung der Ermessensentscheidung erforderlich ist.5 Bei teilweiser Entscheidungsreife eines Einspruchs ist damit eine Teileinspruchsentscheidung im Allgemeinen auch sachdienlich, soweit keine besonderen Umstände entgegenstehen; dabei wird auch über unbenannte Streitpunkte mit entschieden, denn auch insoweit soll Bestandskraft eintreten.6

2.257 Die Teil-Einspruchsentscheidung bietet sich zwar vor allem zur Bewältigung von Masseneinsprüchen in den Fällen der Musterverfahren an, wenn einzelne Punkte des Einspruchs entscheidungsreif sind und im Übrigen die Voraussetzungen für ein automatisches Ruhen des Verfahrens gem. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO gegeben sind (s. Rz. 2.203 ff.).7 Darauf ist sie aber letztlich nicht beschränkt. c) Allgemeinverfügung Literatur: Dißars, Entscheidung durch Allgemeinverfügung und Teileinspruchsentscheidung – gesetzliche Regelung und ungeklärte Rechtsfragen, StB 2008, 407; Bergan/Martin, Teileinspruchsentscheidung und Allgemeinverfügung, DStZ 2008, 518; Bergan/Martin, Allgemeinverfügung und Teileinspruchsentscheidung – die Wunderwaffe der Finanzverwaltung im Kampf gegen Massenrechtsbehelfe?, DStR 2007, 1384.

2.258 Nach § 367 Abs. 2b Satz 1 AO können wegen Musterverfahren vor dem EuGH, dem BVerfG oder dem BFH anhängige Einsprüche, denen nach Ausgang des Verfahrens bei einem dieser Gerichte nicht abgeholfen werden kann, insoweit durch Allgemeinverfügung zurückgewiesen werden. Es handelt sich hier um eine Regelung für Massenverfahren, bei denen zunächst kraft Gesetzes gem. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO das Ruhen des Einspruchsverfahrens eingetreten war. Sachlich zuständig für den Erlass der Allgemeinverfügung ist gem. § 367 Abs. 2b Satz 2 Abs. 2 AO die oberste Finanzbehörde, das heißt das Bundes- oder Landesfinanzministerium. 1 2 3 4 5 6 7

BFH v. 18.9.2014 – VI R 80/13, BStBl. II 2015, 115. Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz. 62; Carlé, AO-StB 2013, 224 m. w. N. BFH v. 14.3.2012 – X R 50/09, BStBl. II 2012, 536; v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. BFH v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. BFH v. 14.3.2012 – X R 50/09, BStBl. II 2012, 536; v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. BFH v. 14.3.2012 – X R 50/09, BStBl. II 2012, 536. BT-Drucks. 16/3368, 25.

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Rz. 2.263 Kap. 2

Erfahrungsgemäß werden in diesen Fällen sog. koordinierte Ländererlasse erlassen. Die Allgemeinverfügung ist nach Satz 3 der Vorschrift im BStBl. und auf den Internetseiten des Bundesministeriums der Finanzen (www.bundesfinanzministerium.de) zu veröffentlichen und gilt am Tag nach der Herausgabe des BStBl. als bekannt gegeben. Die Klagefrist endet – nur insoweit – mit Ablauf eines Jahres nach der Bekanntgabe. In § 367 Abs. 2b Satz 5 AO wird darauf hingewiesen, dass die Klage auch bei Zurückweisung des Einspruchs durch Allgemeinverfügung nicht etwa gegen die Bundesrepublik Deutschland oder das Bundesland, sondern gegen die Behörde zu richten ist, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat. Die Zurückweisung des Einspruchs aufgrund der Allgemeinverfügung betrifft nur die Frage, die dem vorgreiflichen Verfahren vor einem der obersten Gerichte entspricht. Hat der Einspruchsführer noch wegen weiterer Punkte Einspruch erhoben, ist insoweit eine Einspruchsentscheidung zu erlassen, soweit nicht dem Einspruch abgeholfen wird oder der Einspruchsführer den Einspruch zurücknimmt oder bereits eine Teileinspruchsentscheidung (s. Rz. 2.254 ff.) erlassen worden ist. Hier gilt dann die „übliche“ Klagefrist von einem Monat.

2.259

9. Kosten Literatur: Kohlhepp, Kosten des Einspruchsverfahrens und Amtshaftung wegen fehlerhafter Steuerveranlagung durch das Finanzamt, DStR 2006, 549; Lüdicke, Kostenerstattungsansprüche in steuerund abgabenrechtlichen Vorverfahren, 1986; Mewes, Verfassungsrechtliche Bewertung der (Nicht)Erstattung von Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung im isolierten abgabenrechtlichen Vorverfahren, DStZ 1997, 213.

Das außergerichtliche Einspruchsverfahren ist im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren nicht kostenpflichtig. Außerdem haben der Einspruchsführer und die Finanzbehörde jeweils ihre eigenen Kosten zu tragen. Dies heißt: Der erfolgreiche Einspruchsführer hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Erstattung der notwendigen Auslagen, insbesondere nicht auf einen Ersatz der ihm entstandenen Beraterkosten. wenn sich kein finanzgerichtliches Verfahren anschließt – anders als in § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Obsiegt nämlich der Steuerpflichtige im Gerichtsverfahren und werden die Kosten ganz oder teilweise dem Beklagten auferlegt, so sind nach § 139 Abs. 1 und 3 FGO auf Antrag auch die notwendigen Kosten des Vorverfahrens erstattungsfähig (s. Rz. 10.22 ff.).

2.260

Für eine derartige Kostenerstattung ist in der Abgabenordnung selbst keine Rechtsgrundlage vorhanden. Dies hat der BFH für nicht willkürlich gehalten, da es sich beim Einspruchsverfahren um ein verlängertes Verwaltungsverfahren handele und auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen der Behörde zum Erfolg des Einspruchs beitragen könnten.1

2.261

Hier könnte allerdings überlegt werden, ob die durch ein isoliertes Einspruchsverfahren entstandenen Kosten nicht über einen Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung geltend gemacht werden können (s. dazu Rz. 2.326 ff.).

2.262

Anders ist es ausnahmsweise im Einspruchsverfahren gegen Kindergeldfestsetzungen. Dem erfolgreichen Einspruchsführer werden vom Arbeitsamt – Familienkasse – die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder -verteidigung notwendigen Aufwendungen erstattet (§ 77

2.263

1 BFH v. 23.7.1996 – VII B 42/96, BStBl. II 1996, 501 unter Berufung auf BVerfG v. 20.6.1973 – 1 BvL 10/71, BStBl. II 1973, 720.

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Kap. 2 Rz. 2.269

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

Abs. 1 EStG). Diese Ausnahme lässt sich sozialstaatlich rechtfertigen.1 Keine Erstattung wird gewährt bei Verschulden des Einspruchsführers, beispielsweise bei der Verletzung der Mitwirkungspflichten.2

2.264–2.268

Einstweilen frei.

III. Vorläufiger Rechtsschutz 1. Allgemeines

2.269 Dem vorläufigen Rechtsschutz ist in diesem Buch ein gesondertes Kapitel gewidmet (s. unter Rz. 3.1150 ff.). Deshalb soll hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden, soweit dieser für das Einspruchsverfahren von Bedeutung ist:

2.270 Wenn der Steuerpflichtige gegen einen Steuerbescheid Einspruch einlegt, wird hierdurch die Vollziehung des Bescheides grundsätzlich nicht gehemmt, insbesondere wird die Steuererhebung nicht aufgehalten (§ 361 Abs. 1 Satz 1 AO). Mit anderen Worten: Trotz Einlegung eines Einspruchs muss der Steuerpflichtige die in dem angefochtenen Bescheid festgesetzte Steuer zunächst einmal zahlen, andernfalls drohen ihm Vollziehungsmaßnahmen der Finanzbehörde. Auf die Erfolgsaussichten des Einspruchs kommt es nicht an. Wird die Steuer nicht rechtzeitig bei Fälligkeit bezahlt, fallen Säumniszuschläge (12 v. H. jährlich bzw. 1 v. H. monatlich – § 240 AO) an.

2.271 Die Zahlung braucht nur dann nicht zu erfolgen, wenn dem Steuerpflichtigen die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides gewährt worden ist. Die Aussetzung der Vollziehung bewirkt insoweit eine aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid eingelegten Einspruchs (sog. Suspensiveffekt).3 Die Aussetzung der Vollziehung kann von Amts wegen erfolgen (§ 361 Abs. 2 Satz 1 AO). Im Regelfall wird sie jedoch nur auf Antrag (§ 361 Abs. 2 Satz 2 AO) gewährt.4 Dieser Antrag sollte mit Begründung vor Fälligkeit gestellt werden, damit die Aussetzung der Vollziehung ab Fälligkeit ausgesprochen werden kann (AEAO zu § 361 Tz. 8.1.1 Satz 1). Wird der Antrag erst später gestellt oder begründet, kann die Aussetzung der Vollziehung ab einem späteren Zeitpunkt gewährt werden (AEAO zu § 361 Tz. 8.1.1 Satz 2). Bis dahin angefallene Säumniszuschläge bleiben bestehen.

2.272 Die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ist ein begünstigender Verwaltungsakt, der nach § 119 Abs. 2 AO schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise – ausdrücklich – erlassen werden kann.5 Das bloße Schweigen der Finanzbehörde auf einen gestellten Antrag und das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen können nicht dahingehend ausgelegt werden, dass das Finanzamt die Aussetzung der Vollziehung stillschweigend gewährt hat.6 Die Finanzämter sind allerdings nach dem AEAO zu § 361 Tz. 3.1 Satz 1 gehalten, über Anträge auf Aussetzung der Vollziehung unverzüglich zu entscheiden. Bis zur 1 Seer in Tipke/Kruse, vor § 347 AO Rz. 23. 2 BFH v. 2.4.2014 – XI B 2/14, BFH/NV 2014, 1049; v. 23.7.2002 – VIII R 73/00, BFH/NV 2003, 25. 3 BFH v. 23.1.2004 – VII B 131/03, BFH/NV 2004, 794. 4 S. Muster M 3, Rz. 11.3, und M 15, Rz. 11.15. 5 BFH v. 18.3.2014 – VII R 12/13, BFH/NV 2014, 1093; Birkenfeld in HHSp, § 361 AO Rz. 752; Seer in Tipke/Kruse, § 361 AO Rz. 9. 6 BFH v. 16.6.2005 – VII B 273/04, BFH/NV 2005, 1747.

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A. Förmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.278 Kap. 2

Entscheidung über einen bei der Finanzbehörde gestellten Antrag sollen Vollstreckungsmaßnahmen unterbleiben (AEAO zu § 361 Tz. 3.1 Satz 2), es sei denn, der Antrag ist aussichtslos. Ergeht ein Änderungsbescheid, so erledigt sich die bisher gewährte Aussetzung der Vollziehung, ohne dass eine Aufhebungsverfügung erforderlich ist.1 Der Änderungsbescheid nimmt den bisherigen Bescheid in sich auf und die Aussetzung der Vollziehung setzt sich nicht an dem Änderungsbescheid fort. Für den Änderungsbescheid muss eine Aussetzung der Vollziehung neu beantragt und geprüft werden. Das ist sehr umständlich. Deshalb ist in Tz. 8.2.2, 2. Absatz zu § 361 AEAO bestimmt, dass die Finanzbehörde von sich aus erneut über die Aussetzung der Vollziehung entscheidet, wenn der Änderungsbescheid nach § 365 Abs. 3 AO zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens gegen einen von der Vollziehung bereits ausgesetzten Bescheid wird.

2.273

Wird ein Grundlagenbescheid (z. B. Feststellungsbescheid) ausgesetzt, so ist nach § 361 Abs. 3 Satz 1 AO auch die Vollziehung des Folgebescheids auszusetzen. Wegen der Einzelheiten s. Rz. 3.1229 ff.

2.274

Die Aussetzung der Vollziehung ist grundsätzlich bis zur Erledigung des konkreten Rechtsmittels, also für eine Rechtsbehelfsstufe, zu gewähren.2 Dies geschieht so auch in der Praxis und bedeutet, dass die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids zunächst bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens – und nicht länger – befristet ist. Sollte gegen die Einspruchsentscheidung später Klage erhoben werden, ist ein erneuter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu stellen, wobei dann von der Finanzbehörde oder ggf. dem Gericht erneut geprüft wird, ob die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung des Bescheids vorliegen.

2.275

2. Voraussetzungen Nach § 361 Abs. 2 Satz 2 AO soll die Finanzbehörde – auf Antrag – die Vollziehung aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da die Voraussetzungen des § 361 AO für eine Aussetzung der Vollziehung mit denen des § 69 FGO für eine Aussetzung der Vollziehung durch das Finanzgericht nahezu wörtlich übereinstimmen, wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die entsprechenden Ausführungen zu § 69 FGO verwiesen (s. Rz. 3.1196 ff.).

2.276

3. Verfahren Wird die Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörde abgelehnt, so ist hiergegen nach Wahl des Steuerpflichtigen der Einspruch gegeben (§ 347 AO) und/oder unmittelbar ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht (§ 69 Abs. 3 AO).

2.277

Wenn die Finanzbehörde in der Aussetzungssache auf den Einspruch des Steuerpflichtigen hin eine Einspruchsentscheidung erlässt, so ist hiergegen keine Klagemöglichkeit gegeben

2.278

1 Vgl. dazu AEAO zu § 361 Tz. 8.2.2 Satz 1. 2 BFH v. 6.2.1986 – IV S 14/85, BFH/NV 1986, 336.

Schaumburg

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Kap. 2 Rz. 2.279

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

(§ 361 Abs. 5 AO).1 Dies wird in der Praxis immer wieder übersehen und hat unnötige Kosten zur Folge. Eine derartige Klage in einer Aussetzungssache ist unzulässig, denn beim Finanzgericht kann unmittelbar ein selbständiges Aussetzungsverfahren eingeleitet werden.

2.279 Voraussetzung für einen Antrag beim Finanzgericht ist immer, dass zuvor erfolglos ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Finanzbehörde gestellt worden ist (§ 69 Abs. 4 FGO), es sei denn, dass das Finanzamt in angemessener Frist über den Antrag nicht entschieden hat oder die Vollstreckung droht. Sonst ist ein unmittelbar bei Gericht gestellter Antrag unzulässig (s. Rz. 3.1180 ff.).

2.280 Wird eine Aussetzung der Vollziehung gewährt, so kann auch hiergegen in besonderen Fällen bei einer Beschwer des Einspruchsführers Einspruch eingelegt werden oder ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht gestellt werden. Gegen die sog. „aufgedrängte Aussetzung“, das heißt, wenn dem Steuerpflichtigen eine Aussetzung der Vollziehung gegen seinen Willen gewährt wird, ist die Anfechtungsklage gegeben und zulässig.2 Die Beschwer ist hier darin zu sehen, dass der Einspruchsführer bei einem Unterliegen mit Aussetzungszinsen belastet wird, die über dem Kapitalmarktniveau liegen.

2.281 Eine Beschwer liegt auch vor, wenn die Aussetzung der Vollziehung nur gegen eine Sicherheitsleistung gewährt wird.3 Die Anordnung der Sicherheitsleistung ist eine unselbständige Nebenbestimmung und kann nicht isoliert, sondern nur zusammen mit der Aussetzung der Vollziehung angefochten werden.4

2.282 Der Antrag lautet in diesem Fall, „die Vollziehung ohne Sicherheitsleistung auszusetzen“.

4. Verzinsung

2.283 Soweit der Einspruch gegen einen Steuerbescheid (§ 155 Abs. 1 AO) oder eine Steueranmeldung (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO) oder gegen einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, endgültig keinen Erfolg hat, fallen gem. § 237 Abs. 1 Satz 1 AO Aussetzungszinsen an. Dies gilt auch, wenn aufgrund der Aussetzung der Vollziehung eines Grundlagenbescheids der Folgebescheid ausgesetzt wird (§ 237 Abs. 1 Satz 2 AO). Haftungsansprüche fallen nicht unter diese Vorschrift und werden ebenfalls wie steuerliche Nebenleistungen nicht verzinst.5

2.284 Der ausgesetzte Betrag wird mit 0,5 v. H. pro angefangenen Monat (= 6 v. H. Jahreszinssatz) verzinst (§ 238 AO). Die Entstehung des Zinsanspruchs setzt allein die endgültige Erfolglosigkeit eines förmlichen Rechtsbehelfs bei gewährter Aussetzung der Vollziehung voraus. Die Fehlerhaftigkeit der bestandskräftigen Aussetzungsentscheidung6 oder ein Überschreiten

1 BFH v. 19.7.2010 – I B 207/09, BFH/NV 2011, 48; Gosch in Beermann/Gosch, § 361 AO Rz. 20; Rätke in Klein, § 361 AO Rz. 95. 2 Ausführlich FG Köln v. 8.9.2010 – 13 K 960/08, EFG 2011, 105 mit Anm. von Neu; bestätigt durch BFH v. 9.5.2012 – I R 91/10, BFH/NV 2012, 2004; Seer in Tipke/Kruse, § 361 AO Rz. 3. 3 BFH v. 15.9.2015 – I B 57/15, BFH/NV 2016, 212. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 361 AO Rz. 14. 5 BFH v. 25.7.1989 – VII R 39/86, BStBl. II 1989, 821; Nds. FG v. 30.9.2010 – 11 K 279/09, EFG 2011, 504. 6 BFH v. 18.7.1994 – X R 33/91, BStBl. II 1995, 4.

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B. Nichtförmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.293 Kap. 2

der angemessenen Verfahrensdauer ohne Hinzutun des Steuerpflichtigen1 berühren den Zinsanspruch grundsätzlich nicht. Der Zinssatz von 6 v. H. pro Jahr wird wegen der derzeit herrschenden Niedrigzinsphase, deren Ende nicht absehbar ist, teilweise für nicht mehr zeitgerecht oder gar verfassungswidrig gehalten.2 Bis Ende 2011 bestehen nach der Rechtsprechung jedenfalls keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen.3 Der zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirkende Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO von 0,5 % für jeden Monat hält sich im Zinszeitraum 2004 bis 2011 beim Vergleich mit den Marktzinsen noch in einem der wirtschaftlichen Realität entsprechenden angemessenen Rahmen. Überdies sei die Abkopplung des gesetzlichen Zinssatzes von dem individuellen Zinsvorteil oder -nachteil ein grundlegendes Prinzip, das auch bei unbesicherten Kreditformen nicht gänzlich markt- und realitätsfremd erscheine.4

2.285

In der Praxis sollte immer unter Berücksichtigung des Kapitalmarktzinsniveaus überlegt werden, ob eine Aussetzung der Vollziehung überhaupt in Anspruch genommen werden soll, wenn liquide Mittel zur Begleichung der Steuerschuld vorhanden sind oder die offenen Beträge vorübergehend refinanziert werden können.

2.286

2.287–2.291

Einstweilen frei.

B. Nichtförmliche Rechtsbehelfe I. Überblick 2.292

Als nichtförmliche Rechtsbehelfe kommen in Betracht – der Antrag auf schlichte Änderung nach § 172 AO, – die Petition, – die Gegenvorstellung, – die Aufsichtsbeschwerde. All diese Möglichkeiten können einen förmlichen Rechtsbehelf, insbesondere den Einspruch, nicht ersetzen. Sollen sachliche Einwendungen gegen einen förmlichen Bescheid, z. B. einen Steuerbescheid, erhoben werden, muss unbedingt auch der förmliche Rechtsbehelf eingelegt werden, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern.

II. Antrag auf schlichte Änderung des Steuerbescheids Literatur: Fischer, Einspruchsverfahren vs. Antrag auf schlichte Änderung, SteuerStud 2008, 458; Kamps, „Schlichter“ Änderungsantrag nach Erlass einer Einspruchsentscheidung – einschränkende 1 BFH v. 21.2.1991 – V R 105/84, BStBl. II 1991, 498. 2 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 238 AO Rz. 2 m. w. N. 3 BFH v. 1.7.2014 – IX R 31/13, BStBl. II 2014, 925, bestätigt durch BFH v. 14.4.2015 – IX R 5/14, BStBl. II 2015, 986; v. 21.10.2015 – V B 36/15, BFH/NV 2016, 223. 4 So hat die Frage bis 2013 keine grundsätzliche Bedeutung: BFH v. 19.2.2016 – X S 38/15 (PKH), BFH/NV 2016, 940.

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2.293

Kap. 2 Rz. 2.294

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

Zulassungsvoraussetzungen?, Stbg 2008, 429; Lüdicke, Schlichte Änderung von Steuerbescheiden, BB 1986, 1266; Mihatsch, Die „schlichte“ Änderung von Steuerbescheiden nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a, StBp 1988, 149 und 232; Müller, Antragstellung auf Änderung des Steuerbescheids oder Einspruch?, AO-StB 2009, 111; Ruppel, Warnung vor dem schlichten Änderungsantrag des § 172 AO, DStR 1995, 205; Unverricht, Steuervereinfachung durch Beseitigung des Antrags auf „schlichte“ Änderung nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO, DStR 1989, 7.

2.294 Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO kann ein Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden, soweit einem Antrag des Steuerpflichtigen der Sache nach entsprochen wird; dabei ist eine Änderung zu seinen Gunsten nur zulässig, wenn der Antrag vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gestellt ist. Diese Regelung gilt nur für Steuerbescheide, nicht aber für andere Bescheide wie z. B. Haftungsbescheide, Duldungsbescheide oder dgl.

2.295 Ein solcher schlichter Änderungsantrag ist kein förmlicher Rechtsbehelf. Er unterliegt keiner Form; er kann mündlich, auch fernmündlich, und schriftlich gestellt werden. Es empfiehlt sich aus Beweisgründen aber immer die Schriftform.

2.296 Strebt der Steuerpflichtige eine Änderung zu seinen Gunsten an – was der Regelfall sein wird –, so muss der Antrag auf Änderung des Steuerbescheides vor Ablauf der Einspruchsfrist und der Antrag auf schlichte Änderung des Steuerbescheides in Form der Einspruchsentscheidung vor Ablauf der Klagefrist beim Finanzamt gestellt werden. Ferner muss der Antrag bis zum Ablauf der Rechtsbehelfsfrist konkretisiert werden. Das bedeutet, der Aufhebungsbzw. Änderungsrahmen muss gegenüber der Finanzbehörde vor Fristablauf festgelegt sein. Auch eine betragsmäßige Erweiterung ist deshalb nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist nicht mehr zulässig.1

2.297 Die Finanzbehörde darf den Bescheid nur im Rahmen des Antrags ändern. Sie darf über den Antrag nicht hinausgehen, insbesondere auch nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen verbösern. Insoweit unterscheidet sich der Änderungsantrag vom Einspruch (vgl. § 367 Abs. 2 Satz 2 AO). Eine Saldierung im Rahmen des Antrags ist allerdings zulässig.2 Beispiel: A hat beim Finanzamt seine Einkommensteuererklärung für das Jahr 00 eingereicht und ist erklärungsgemäß veranlagt worden. Bei Überprüfung des Steuerbescheids stellt er fest, dass er Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (Aufwendungen für Arbeitsmittel) in Höhe von 1.500 Euro versehentlich nicht angegeben hat. Er beantragt beim Finanzamt – noch innerhalb der Einspruchsfrist –, den Einkommensteuerbescheid 00 zu ändern und weitere Werbungskosten von 1500 Euro zu berücksichtigen. Stellt das Finanzamt nunmehr fest, dass bei der Veranlagung des A zu Unrecht Sonderausgaben (Aufwendungen für nicht abziehbare Versicherungen) in Höhe von 5.000 Euro anerkannt waren, kann es in Höhe von 1.500 Euro saldieren und den Änderungsantrag abweisen. Eine Verböserung durch Streichung der Sonderausgaben in Höhe von insgesamt 5.000 Euro und entsprechende Erhöhung der festgesetzten Einkommensteuerschuld kann nicht erfolgen.

2.298 Bei einem schlichten Änderungsantrag ist – im Gegensatz zum Einspruch – keine Aussetzung der Vollziehung möglich, weil kein „angefochtener“ Verwaltungsakt vorliegt. Es könnte allenfalls an einen Stundungsantrag gedacht werden.

1 BFH v. 27.10.1993 – XI R 17/93, BStBl. II 1994, 439; v. 20.12.2006 – X R 30/05, BStBl. II 2007, 503; v. 25.9.2013 – VIII R 86/11, juris. 2 BFH v. 20.12.2006 – X R 30/05, BStBl. II 2007, 503.

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B. Nichtförmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.303 Kap. 2

Ein Steuerpflichtiger, der die Änderung eines ihm zugegangenen und ihn beschwerenden Steuerbescheides erreichen will, kann zwischen der schlichten Änderung und dem förmlichen Rechtsbehelf/Einspruch wählen. Er kann den Antrag auf schlichte Änderung aber nicht – kumulativ – neben dem Einspruch stellen. Hat er Einspruch eingelegt, so überlagert der Einspruch einen daneben gestellten Antrag auf schlichte Änderung. Denn der Einspruch wahrt die Rechte des Steuerpflichtigen umfassender und wirkungsvoller.1

2.299

In der Praxis empfiehlt es sich, von dem Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO nur sehr selten Gebrauch zu machen. Der Einspruch unterscheidet sich von einem Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO nämlich in folgenden Punkten und ist deshalb für den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen in der Regel wirkungsvoller2:

2.300

– Er hindert den Eintritt der formellen und materiellen Bestandskraft. – Die Begründung des Einspruchs kann auch nach Ablauf der Einspruchsfrist von einem Monat erfolgen bzw. erweitert werden. – Er kann zwar zur Verböserung führen (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO); der Verböserungsgefahr kann der Steuerpflichtige aber durch rechtzeitige Rücknahme des Einspruchs entgehen. – Nur der Einspruch ermöglicht auch die Aussetzung der Vollziehung. Entschließt sich der Steuerpflichtige für einen Antrag auf „schlichte“ Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a AO, dann muss dieser Antrag innerhalb der Einspruchsfrist hinreichend konkretisiert sein. Das heißt, der Steuerpflichtige muss sein Änderungsbegehren seinem sachlichen Gehalt nach zumindest in groben Zügen zu erkennen geben.3 Insofern ist nicht die konkrete Berechnung des Änderungsbetrages erforderlich – und allein auch nicht ausreichend –; erforderlich ist vielmehr die Angabe der sachverhaltsbezogenen Korrekturpunkte.4

2.301

Gegen die Ablehnung des Änderungsantrags nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO ist grundsätzlich der Einspruch und anschließend die Verpflichtungsklage gegeben.5

2.302

III. Petition Literatur: Gerner, Das Petitionsrecht nach Art 17 GG, NZS 2012, 847; Guckelberger, Neue Erscheinungen des Petitionsrechts: E-Petitionen und öffentliche Petitionen, DÖV 2008, 85; Hölscheidt, Die Ausgestaltung des Petitionsrecht in der EU-Grundrechte-Charta, EuR 2002, 440; Hoffmann-Riem, Zum Gewährleistungsgehalt der Petitionsfreiheit, in FS P. Selmer, 2004, S. 93; Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1977; Lindner/Riehm, Modernisierung des Petitionswesens und der Einsatz neuer Medien, ZParl 2009, 495; Rüsken, Wird die Gegenvorstellung abgeschafft?, NJW 2008, 481; Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, Rheinbreitbach 1985.

Art. 17 GG gewährleistet jedermann das Recht, sich schriftlich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. 1 So ausdrücklich BFH v. 27.9.1994 – VIII R 36/89, BStBl. II 1995, 353; Loose in Tipke/Kruse, § 172 AO Rz. 30. 2 BFH v. 27.2.2003 – V R 87/01, BStBl. II 2003, 505. 3 BFH v. 25.9.2013 – VIII R 46/11, juris. 4 BFH v. 20.12.2006 – X R 30/05, BStBl. II 2007, 503. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 172 AO Rz. 58.

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2.303

Kap. 2 Rz. 2.304

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.304 Voraussetzung für eine Petition ist lediglich ein schriftliches Begehren. Die weite Formulierung des Art. 17 GG verbietet es, sonstige formelle Voraussetzungen für eine Petition aufzustellen. Auch Fristen sind im Gegensatz zu den förmlichen Rechtsbehelfen nicht vorgeschrieben.

2.305 Adressaten der Petition sind gem. Art. 17 GG die „zuständigen Stellen und die Volksvertretung“. Das Grundgesetz sieht damit als Adressaten der Parlamentspetition ein Organ vor, das in der Regel keine eigene Abhilfekompetenz hat und nicht selbst entscheidet, sondern politischen Einfluss ausüben, Lösungen anregen und Regierungen und Verwaltungen um Abhilfe ersuchen kann.1 Die zuständige Stelle bestimmt sich im Einzelfall danach, ob sie nach den sich aus den Gesetzen ergebenden Organisationsregelungen zur sachlichen Befassung mit der Eingabe berufen sind. Wendet sich der Steuerpflichtige z. B. gegen eine Maßnahme des Finanzamts, so kann er seine Position beim Finanzamt oder der übergeordneten Behörde, der Oberfinanzdirektion, einreichen, die die Entscheidungen der Finanzämter in vollem Umfang überprüfen kann. Stattdessen kann er sich natürlich auch direkt an den Landtag bzw. den im Landtag für die Bearbeitung zuständigen Petitionsausschuss wenden. Die Einreichung der Petition, die als Sofortsache zu behandeln ist, löst in der Praxis zeitaufwändige Berichtspflichten aus.2

2.306 Der aus Art. 17 GG folgenden umfassenden Behandlungskompetenz der Parlamente entspricht eine Behandlungspflicht. Art. 17 GG verpflichtet die Volksvertretungen des Bundes und der Länder – ebenso wie die anderen zuständigen Stellen i. S. des Art. 17 GG – zur Kenntnisnahme, sachlicher Prüfung und Bescheidung der bei ihnen eingereichten Bitten und Beschwerden.3

2.307 Das Petitionsrecht gewährt also einen Anspruch auf einen Bescheid: Es verpflichtet die Stelle, bei der die Petition einzureichen ist, nicht nur zur Empfangnahme, sondern auch zur sachlichen Prüfung. Dabei muss die Antwort zum Ausdruck bringen, dass von dem Inhalt der Petition Kenntnis genommen wurde. Außerdem muss die Art der Erledigung angegeben werden.4

2.308 In der Praxis kann eine Petition einen förmlichen Rechtsbehelf, insbesondere den Einspruch, nicht ersetzen. Sollen sachliche Einwendungen gegen einen förmlichen Bescheid, z. B. einen Steuerbescheid, erhoben werden, muss unbedingt auch der förmliche Rechtsbehelf eingelegt werden, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern. Diese Wirkung hat eine Petition nicht. Sofern die Einspruchsfrist versäumt worden ist, sollte gleichwohl alsbald Einspruch eingelegt und ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden. Zu erwägen wäre allenfalls, neben Einspruch und ggf. Wiedereinsetzungsantrag zusätzlich eine Petition bzw. Gegenvorstellung oder Aufsichtsbeschwerde zu erheben.

IV. Gegenvorstellung Literatur: Carlé, Die Gegenvorstellung im finanzbehördlichen und finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2007, 302; Nöcker, Verhältnis der Anhörungsrüge zur Gegenvorstellung, AO-StB 2011, 55; Rüsken, Wird die Gegenvorstellung abgeschafft?, NJW 2008, 481. 1 2 3 4

BVerfG v. 15.5.1992 – 1 BvR 1553/90, NJW 1992, 3033. Vgl. hierzu z. B. für NRW: AO-Kartei NRW, vor § 1 Karte 801 – 4/99. BVerfG v. 15.5.1992 – 1 BvR 1553/90, NJW 1992, 3033 m. w. N. Klein in Maunz/Dürig, Art. 17 GG Rz. 89 ff.

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B. Nichtförmliche Rechtsbehelfe

Rz. 2.314 Kap. 2

Auch die Gegenvorstellung gehört zu den nichtförmlichen Rechtsbehelfen. Sie ist zwar gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Ihre Zulässigkeit ergibt sich aber unmittelbar aus Art. 17 GG, dem allgemeinen Petitionsrecht, sich nämlich mit Bitten und Beschwerden an die „zuständigen Stellen“ zu wenden.1

2.309

Die Gegenvorstellung unterliegt weder einer besonderen Frist noch einer besonderen Form. Sie kann auch mündlich erhoben werden; jedoch empfiehlt sich die Schriftform, und zwar zum einen aus Beweisgründen, zum andern deshalb, um die Gegenvorstellung dem Schutzbereich des Art. 17 GG zuordnen zu können.2 Denn ein Anspruch auf einen Bescheid ist nur bei Wahrung der Schriftform gegeben.

2.310

Im Unterschied zur Aufsichtsbeschwerde richtet sich die Gegenvorstellung an den Beamten bzw. Bediensteten, dessen Anordnungen oder Maßnahmen gerügt werden sollen. Sie stellt inhaltlich eine Bitte an den sachentscheidenden Amtsträger dar, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken und ggf. i. S. des Petenten zu ändern. Dabei können mit der Gegenvorstellung persönliche Dienstpflichtverletzungen gerügt werden. Gegenstand einer Gegenvorstellung kann aber auch die Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahme sein, insbesondere mit dem Ziel, dass ein Ermessen sachgerecht ausgeübt wird.

2.311

Da die Gegenvorstellung eine besondere Ausprägung des allgemeinen Petitionsrechts des Art. 17 GG ist, besteht – wie bei der Petition – ein Anspruch auf einen Bescheid. Der betreffende Amtsträger darf die Gegenvorstellung also nicht nur entgegennehmen und eine Empfangsbestätigung ausstellen. Die Gegenvorstellung muss beantwortet und die Art der Erledigung mitgeteilt werden, wenn die Gegenvorstellung schriftlich eingereicht worden ist. Lehnt die Behörde eine Gegenvorstellung ab, so ist hiergegen grundsätzlich kein Rechtsbehelf gegeben.3

2.312

In der Praxis kann eine Gegenvorstellung einen förmlichen Rechtsbehelf, insbesondere den Einspruch, nicht ersetzen. Sollen sachliche Einwendungen gegen einen förmlichen Bescheid, z. B. einen Steuerbescheid, erhoben werden, muss unbedingt auch der förmliche Rechtsbehelf eingelegt werden, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern. Diese Wirkung hat eine Gegenvorstellung nicht. Sofern die Einspruchsfrist versäumt worden ist, sollte gleichwohl alsbald Einspruch eingelegt und ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden. Zu erwägen wäre allenfalls, neben Einspruch und ggf. Wiedereinsetzungsantrag zusätzlich eine Gegenvorstellung bzw. Aufsichtsbeschwerde zu erheben.

2.313

V. Aufsichtsbeschwerde Literatur: Becker-Kavan, Die Dienstaufsichtsbeschwerde, DÖD 2000, 273; Oswald, Die Dienstaufsichtsbeschwerde im Abgabenrecht, DB 1967, 135; Roth/Sauerland, Die Dienstaufsichtsbeschwerde im Steuerrecht, AO-StB 2010, 53; Strunz, Einspruch, Beschwerde und Dienstaufsichtsbeschwerde, DStZ 1992, 272; Thieme, Die Dienstaufsichtsbeschwerde, DÖD 2001, 77.

Auch die Aufsichtsbeschwerden (Sachaufsichtsbeschwerde, Dienstaufsichtsbeschwerde) gehören zu den in der Abgabenordnung nicht geregelten nichtförmlichen Rechtsbehelfen.

1 Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 30. 2 Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 31. 3 Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 41.

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2.314

Kap. 2 Rz. 2.315

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

Ihre Zulässigkeit folgt ebenso wie die der Gegenvorstellung aus dem allgemeinen Petitionsrecht des Art. 17 GG.1

2.315 Die Aufsichtsbeschwerden unterliegen als nichtförmliche Rechtsbehelfe keinen besonderen Voraussetzungen. Sie sind insbesondere form- und fristfrei.2 Allerdings sollte auch hier auf die Schriftform geachtet werden, um die Aufsichtsbeschwerde dem Schutz des Art. 17 GG (Bescheidungsanspruch) zu unterstellen.3 Insoweit gelten die vorgenannten Ausführungen zur Gegenvorstellung entsprechend.

2.316 Adressat der Aufsichtsbeschwerde ist jeweils der Dienstvorgesetzte des Amtsträgers, dessen Maßnahmen bzw. dessen Verhalten gerügt wird. Das ist in der Regel der Behördenleiter (z. B. Finanzamtsvorsteher) oder die übergeordnete Dienstbehörde (z. B. Oberfinanzdirektion).

2.317 Die Aufsichtsbeschwerden untergliedern sich in Dienstaufsichts- und Sachaufsichtsbeschwerden. Beide unterscheiden sich lediglich in ihrem Inhalt. Mit der Sachaufsichtsbeschwerde wird die – unrichtige, insbesondere ermessensfehlerhafte – Sachbehandlung gerügt; demgegenüber bezieht sich die Dienstaufsichtsbeschwerde auf persönliches Fehlverhalten eines Amtsträgers.

2.318 Derjenige, der eine Aufsichtsbeschwerde erhebt, hat einen Anspruch auf einen Bescheid wie bei der Gegenvorstellung. Insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen zur Gegenvorstellung Bezug genommen (s. Rz. 2.312).

2.319 Wie die Gegenvorstellung kann auch die Aufsichtsbeschwerde in der Praxis einen förmlichen Rechtsbehelf nicht ersetzen: Sollen sachliche Einwendungen gegen einen förmlichen Bescheid, z. B. einen Steuerbescheid, erhoben werden, muss unbedingt auch der förmliche Rechtsbehelf, nämlich der Einspruch eingelegt werden, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern. Diese Wirkung hat eine Aufsichtsbeschwerde nicht. Zu erwägen wäre allenfalls, neben dem Einspruch zusätzlich eine Aufsichtsbeschwerde zu erheben.

2.320 Im Übrigen sollte von Aufsichtsbeschwerden, insbesondere Dienstaufsichtsbeschwerden, nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden. Sie führen erfahrungsgemäß nur zu einer – zum Teil recht deutlichen – Verschlechterung des Klimas zwischen Steuerpflichtigem/Berater und Finanzbehörde, ohne in der Sache selbst hilfreich zu sein. Eher zu empfehlen ist, parallel zum Einspruchsverfahren ein persönliches, klärendes Gespräch an Amts Stelle zu führen; erst wenn dieses keinen Erfolg hat, sollte als letztes Mittel zur Dienstaufsichtsbeschwerde gegriffen werden.

2.321–2.325

Einstweilen frei.

C. Exkurs: Amtshaftungsansprüche gegen das Finanzamt Literatur: Albrecht/Lustig, Amtshaftung bei unterlassener Anpassung eines Folgebescheids, DStR 2008, 409; Balmes/von Collenberg, Die Amtshaftung im Steuerrecht, AO-StB 2003, 77; Bruschke, Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung, AO-StB 2015, 45; Buchbinder, Schadensersatzpflicht der Steuerverwaltung, DStZ 2009, 250; Hidien, Kostenerstattung nach Amtshaftungsgrundsätzen im 1 Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 30. 2 Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 31. 3 Seer in Tipke/Kruse, Vor § 347 AO Rz. 31.

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C. Exkurs: Amtshaftungsansprüche gegen das Finanzamt

Rz. 2.330 Kap. 2

abgabenrechtlichen Vorverfahren?, NJW 1987, 2211; Kilian/Schwerdtfeger, Amtshaftung und Einspruchsverfahren, DStR 2006, 1773; Kohlhepp, Kosten des Einspruchsverfahrens und Amtshaftung wegen fehlerhafter Steuerveranlagung durch das Finanzamt, DStR 2006, 549; Lange, Amtshaftung der Finanzverwaltung bei Nichtanwendung neuer BFH-Rechtsprechung, DB 2003, 360; Krömker/Nöcker, Amtshaftung des Staates für seine Finanzbeamten, AO-StB 2016, 44; Marx/Simon, Determinanten der Amtshaftung im Steuerrecht, DB 2013, 477; Nissen, Amtshaftung der Finanzverwaltung, 2. Aufl. 2004; Steinhauff, Amtshaftung der Finanzverwaltung, AO-StB 2012, 142.

Grundsätzlich werden dem Steuerpflichtigen die notwendigen Auslagen für einen im Einspruchsverfahren zugezogenen Bevollmächtigten nicht erstattet, wenn sich das Begehren des Steuerpflichtigen bereits im Einspruchsverfahren endgültig erledigt; § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO findet hier keine entsprechende Anwendung.1

2.326

In der AO fehlt eine Bestimmung, wonach dem bereits im Einspruchsverfahren obsiegenden Steuerpflichtigen ein abgabenrechtlicher Anspruch auf Ersatz seiner Vertreterkosten zusteht.

2.327

Kommen allerdings zusätzliche Umstände hinzu, die in die Risikosphäre des Finanzamtes fallen und als solche eine Amtspflichtverletzung begründen, steht der Geltendmachung der Beraterkosten über einen Amtshaftungsanspruch gem. § 839 BGB, Art. 34 GG nichts im Wege.2 Im Zusammenhang mit dem steuerlichen Rechtsbehelf (Einspruch) kann dann gegen die Finanzverwaltung ggf. ein Kostenerstattungsanspruch hinsichtlich der Auslagen für den Bevollmächtigten geltend gemacht werden. Es handelt sich hier um einen Anspruch auf Auslagenerstattung unter dem Gesichtspunkt schuldhafter Amtspflichtverletzung, so dass hierfür nicht die Finanzgerichte, sondern gem. Art. 34 Abs. 3 GG i. V. m. § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG die ordentlichen Gerichte (Landgericht) zuständig sind.3

2.328

§ 839 BGB setzt voraus, dass ein Beamter schuldhaft seine ihm gegenüber einem Dritten obliegende Amtspflicht verletzt hat und hierdurch ein Schaden entstanden ist, für den keine anderweitige Ersatzmöglichkeit besteht. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Steuerpflichtige darzulegen und zu beweisen,4 und dies zeigt schon deutlich, dass nicht jede Amtspflichtverletzung zu einem Schadensersatzanspruch gegen den Staat führt. Denn von einer Amtspflichtverletzung kann schnell die Rede sein.5

2.329

Eine schuldhafte Amtspflichtverletzung setzt Vorsatz oder Fahrlässigkeit (§ 276 BGB) voraus. Grundsätzlich handelt der Beamte fahrlässig, wenn er gegen den klaren und eindeutigen Gesetzeswortlaut oder die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung verstößt, wenn ihm Verfahrensfehler bei der Schätzung unterlaufen oder wenn er einfache Flüchtigkeitsfehler macht.6

2.330

1 BFH v. 21.5.1971 – III B 48/70, BStBl. II 1971, 714; v. 23.7.1996 – VII B 42/96, BStBl. II 1996, 501. 2 Zu Einzelheiten s. Kohlhepp, DStR 2006, 549 mit zahlreichen Nachw. aus der Rspr.; Balmes/von Collenberg, AO-StB 2003, 77; Krömker/Nöcker, AO-StB 2016, 44. 3 BGH v. 6.2.1975 – III ZR 149/72, NJW 1975, 972; v. 8.9.2015 – V B 5/15, BFH/NV 2016, 7. 4 Vgl. Steinhauff, AO-StB 2012, 142. 5 S. die zahlreichen Beispiele bei Krömker/Nöcker, teilweise mit Rechtsprechungshinweisen, AO-StB 2016, 44 ff. 6 OLG Celle v. 19.2.2002 – 16 U 185/01, DStRE 2002, 1152.

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Kap. 2 Rz. 2.331

Rechtsschutz bei der Finanzbehörde

2.331 Der Schaden besteht in Form der durch die Durchführung des Einspruchsverfahrens entstandenen Kosten des hiermit beauftragten Steuerberaters,1 wenn die schuldhafte Amtspflichtverletzung hierfür kausal war.

2.332 Außerdem ist die Frage des Mitverschuldens des Steuerpflichtigen oder seines Beraters (§ 254 BGB) mit zu berücksichtigen, wofür allerdings die Finanzbehörde die Darlegungs- und Beweislast hat. Von Bedeutung ist hier insbesondere ein vorwerfbarer Verstoß des Steuerpflichtigen gegen seine Mitwirkungspflichten2 oder seine Schadensminderungspflicht. Letztere kann auch von Bedeutung sein, wenn anstelle eines Einspruchs ein einfaches Handeln wie ein Telefonat, das zu nur einer Beratergebühr führt (§ 21 StBGebV), angemessen war. Der Steuerpflichtige muss sich aber grundsätzlich nicht selbst mit der Finanzverwaltung auseinandersetzen; die Einschaltung eines Beraters ist im Regelfall auch nach der Rechtsprechung gerechtfertigt. Das Verschulden des Beraters ist aber dem Steuerpflichtigen zuzurechnen. Beispiel 1: Gegen den Einzelhändler A ergeht infolge eines Eingabefehlers bei der elektronischen Datenverarbeitung ein Umsatzsteuerbescheid, der zu einer Umsatzsteuernachforderung i. H. von 4 Mio. Euro führt. A muss einen Steuerberater beauftragen, der für ihn Einspruch einlegt. Der Umsatzsteuerbescheid wird daraufhin aufgehoben. Die Rechnung des Steuerberaters beläuft sich auf … Euro. Sofern den Finanzbeamten eine schuldhafte Pflichtverletzung trifft, kann A das Finanzamt im Schadensersatzwege für die Steuerberatergebühren in Anspruch nehmen.3 Beispiel 2: Das Finanzamt stellt ermessensmissbräuchlich – wegen geringfügiger Steuerrückstände – einen Insolvenzantrag gegen A. Hierin kann eine haftungsbegründende Amtspflichtverletzung des Finanzbeamten nach § 839 BGB liegen, die zum Schadensersatz verpflichtet.4

2.333 Die Bereitschaft der Finanzverwaltung, Amtshaftungsansprüche außergerichtlich anzuerkennen, ist kaum vorhanden. Normalerweise ist hierfür ein gerichtliches Verfahren erforderlich. Der Berater ist grundsätzlich verpflichtet, seinen Mandanten auf diese Möglichkeit des Schadensersatzprozesses gegen den Staat hinzuweisen.5

1 Brandenburgisches OLG v. 23.2.2006 – 2 U 1/05, ZSteu 2006, R303–R306; OLG Düsseldorf v. 10.11.2010 – 18 U 56/10, juris; OLG Celle v. 23.8.2012 – 16 U 8/12, ZWH 2012, 407. 2 Vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG v. 21.4.2006 – 11 W 22/05, n. v. 3 Vgl. hierzu OLG München v. 3.5.2006 – 1 U 2398/06, n. v. 4 Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 118; OLG Stuttgart v. 16.11.2011 – 4 U 67/11, juris. 5 Vgl. Krömker/Nöcker, AO-StB 2016, 44 (46).

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Kapitel 3 Rechtsschutz vor dem Finanzgericht IX. Klagebegründung . . . . . . . . . . . . . .

A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1

II. Klageziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.5

III. 1. 2. 3.

Zweckmäßigkeit einer Klage . . . . . Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . Saldierungsbefugnis des Gerichts . Gefahr der Kompensation in anderen Bescheiden . . . . . . . . . . . . 4. Dritte im Verfahren . . . . . . . . . . . . 5. Kostenrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.12 3.13 3.15 3.17 3.18 3.19

B. Form und Inhalt der Klage I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Form der Klage 1. Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonderfälle der Schriftform a) Telegramm und Telebrief . . . . . b) Telefax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Computerfax . . . . . . . . . . . . . . . d) E-Mail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1. 2. 3.

3.25 3.30 3.42 3.43 3.47 3.48 3.53

Erhebung der Klage Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrenshandlung. . . . . . . . . . . .

3.57 3.62 3.68

IV. Bezeichnung des Klägers . . . . . . . .

3.75

V. Bezeichnung des Beklagten . . . . . .

3.81

VI. Streitgegenstand und Klagebegehren 1. Streitgegenstand. . . . . . . . . . . . . . . 2. Klagebegehren . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausschlussfrist . . . . . . . . . . . . . . . .

3.93 3.96 3.104

VII. Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.111

VIII. 1. 2. 3. 4. 5.

Klageantrag Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formulierung des Antrags. . . . . . . Erweiterung des Antrags . . . . . . . . Antrag bei Klageverbindung . . . . . Beispiele für Klageanträge a) Anfechtungsklage . . . . . . . . . . . b) Verpflichtungsklage. . . . . . . . . . c) Allgemeine Leistungsklage . . . . d) Feststellungsklage . . . . . . . . . . .

3.142

C. Klagearten

3.118 3.119 3.123 3.127 3.129 3.131 3.135 3.136

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

3.158

Anfechtungsklage Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufhebungsklage . . . . . . . . . . . . . . Änderungsklage . . . . . . . . . . . . . . .

3.166 3.169 3.172

III. Verpflichtungsklage . . . . . . . . . . . .

3.176

IV. Allgemeine Leistungsklage. . . . . . .

3.178

V. 1. 2. 3. 4. 5.

Feststellungsklage Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes Feststellungsinteresse . . . . . . . . . . . Fortsetzungsfeststellungsklage. . . .

3.180 3.183 3.185 3.188 3.193

D. ABC der Klagemöglichkeiten . . .

3.207

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage I. 1. 2. 3.

Rechtsweg Allgemeine Voraussetzungen. . . . . Abgrenzung zu den Strafgerichten Abgrenzung zu den Zivilgerichten/ Arbeitsgerichten . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Zuständigkeit des Finanzgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Entscheidung über die Zulässigkeit des Finanzrechtswegs . . . . . . . . . . .

3.304 3.312 3.324 3.332 3.336

II. Beteiligtenfähigkeit 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beginn und Ende der Beteiligtenfähigkeit a) Natürliche Personen . . . . . . . . . b) Juristische Personen . . . . . . . . . c) Personengesellschaften . . . . . . .

3.352 3.357 3.360

III. Prozess- und Postulationsfähigkeit 1. Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Postulationsfähigkeit . . . . . . . . . . .

3.370 3.375

IV. 1. 2. 3. 4.

3.378 3.385 3.391 3.399

Prozessbevollmächtigter Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessvollmacht . . . . . . . . . . . . . . Einreichung der Vollmacht . . . . . . Erlöschen der Vollmacht . . . . . . . .

3.345

Schaumburg/Hendricks

81

Kap. 3

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

V. Klagebefugnis 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelheiten a) Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . b) Ermessensentscheidungen . . . . c) Geltendmachung der Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Klagebefugnis bei Feststellungsbescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Klagebefugnis drittbetroffener Nichtadressaten. . . . . . . . . . . . . 3. ABC der Klagebefugnis . . . . . . . . . 4. Sachliche Grenzen der Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtsschutzinteresse. . . . . . . . . . . VII. Vorverfahren 1. Grundsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen a) Sprungklage aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . bb) Zustimmung der Finanzbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nichtannahme durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sprungklage und Einspruch b) Anordnung eines dinglichen Arrestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Untätigkeitsklage aa) Allgemeines. . . . . . . . . . . . . bb) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . cc) Klagebegehren und Klageantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Untätigkeitseinspruch . . . . VIII. Klagefrist 1. Klagefrist a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirksame Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung . . . . . . c) Zutreffende Rechtsmittelbelehrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anbringen der Klage . . . . . . . . . 2. Berechnung der Klagefrist a) Beginn der Frist. . . . . . . . . . . . . b) Ende der Frist . . . . . . . . . . . . . . 3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) ABC der Wiedereinsetzung. . . . 4. Verfahren bei der Wiedereinsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Schaumburg/Hendricks

F. Die Durchführung des Verfahrens 3.407 3.409 3.413 3.416 3.418 3.435 3.436 3.471 3.472 3.474 3.476 3.479 3.484 3.486 3.488 3.490 3.492 3.499 3.505

3.514 3.517 3.525 3.529 3.534 3.538 3.541 3.548 3.584

I. Die Spruchkörper und ihre Mitglieder 1. Senate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorsitzender . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Berichterstatter. . . . . . . . . . . . . . . . II. Amtsermittlungsprinzip/Untersuchungsgrundsatz 1. Aufklärungspflicht des Finanzgerichts a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Amtsermittlungspflicht. . . . . . . c) Verletzung der Aufklärungspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitwirkungspflichten der Beteiligten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zurückweisung verspäteten Vorbringens a) Beschleunigung des Verfahrens durch Ausschlussfristen . . . . . . b) Voraussetzungen für die Zurückweisung aa) Wirksame Fristsetzung . . . . bb) Fristsetzung nach § 79b Abs. 1 FGO . . . . . . . . cc) Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 FGO . . . . . . . . dd) Präklusion . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Fristsetzung im Einspruchsverfahren . . . . . . . . . 4. Beweislast (Feststellungslast) . . . . .

3.604 3.611 3.619 3.625

3.635 3.638 3.641 3.643 3.649

3.657 3.663 3.667 3.675 3.679 3.690 3.696

III. Vorbereitung der mündlichen Verhandlung 1. Vorbereitende Schriftsätze . . . . . . . 2. Aktenvorlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Akteneinsicht a) Einsichtnahme. . . . . . . . . . . . . . b) Ort der Einsichtnahme . . . . . . . c) Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke, Abschriften. . . . . . . d) Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erörterungstermin . . . . . . . . . . . . . 5. Änderungsbescheid während des Klageverfahrens a) Fortsetzung des Verfahrens . . . . b) Erledigung der Hauptsache . . . c) Klagerücknahme . . . . . . . . . . . .

3.747 3.751 3.755

IV. Stillstand des Verfahrens 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aussetzung des Verfahrens. . . . . . .

3.758 3.760

3.702 3.708 3.713 3.721 3.725 3.728 3.734

3. Ruhen des Verfahrens . . . . . . . . . . 4. Unterbrechung des Verfahrens a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tod der Partei . . . . . . . . . . . . . . V. 1. 2. 3. 4.

Beiladung Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfache Beiladung . . . . . . . . . . . . Notwendige Beiladung . . . . . . . . . Besondere Beiladung auf Antrag des Finanzamts. . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfahren und Rechtsfolgen . . . . . 6. Ausnahmefall: Beiladung in Massenverfahren . . . . . . . . . . . . . .

VI. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Mündliche Verhandlung Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminsbestimmung . . . . . . . . . . . Ladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminsänderung . . . . . . . . . . . . . . Öffentlichkeit des Verfahrens . . . . Gesetzlicher Richter a) Bestimmung des Richters durch Geschäftsverteilungspläne. . . . . b) Gesetzlicher Ausschluss von der Ausübung des Richteramts . . . . c) Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit d) Ablehnungsgründe . . . . . . . . . . e) Ablehnungsantrag und weiteres Verfahren . . . . . . . . . . . 7. Ablauf der mündlichen Verhandlung a) Allgemeiner Verhandlungsablauf aa) Eröffnung und Feststellung der erschienenen Personen. bb) Sachvortrag des Berichterstatters . . . . . . . . . . . . . . . cc) Plädoyer der Beteiligten . . . dd) Erörterung der Streitsache . ee) Anträge der Beteiligten. . . . ff) Schließung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . b) Beratung und Entscheidung . . . c) Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . d) Rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . e) Fragerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Aufrechterhaltung der Ordnung der Sitzung . . . . . . . . . . . . 8. Beweisaufnahme a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beweisbeschluss. . . . . . . . . . . . . c) Berücksichtigung von Beweisanträgen . . . . . . . . . . . . .

3.770 3.773 3.775 3.781 3.786 3.789 3.794 3.797 3.803 3.805 3.808 3.812 3.820 3.837

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Kap. 3

d) Beweisbedürftige Tatsachen . . . e) Beweismittel aa) Überblick. . . . . . . . . . . . . . . bb) Augenschein . . . . . . . . . . . . cc) Zeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sachverständige. . . . . . . . . . ee) Urkunden . . . . . . . . . . . . . . ff) Gerichtseigene Prüfungsbeamte. . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Beteiligtenvernehmung. . . . f) Durchführung der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zeugnisverweigerungsrecht . . . 9. Videokonferenz . . . . . . . . . . . . . . . 10. Verhandlungsprotokoll . . . . . . . . . 11. Ende der mündlichen Verhandlung und Entscheidung . . . . . . . . .

3.930

3.990

VII. Verzicht auf mündliche Verhandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.997

3.937 3.939 3.942 3.943 3.947 3.950 3.951 3.954 3.963 3.974 3.983

VIII. Verfahren nach billigem Ermessen 3.1005 3.847 3.855 3.858 3.862

3.871 3.877 3.881 3.884 3.885 3.888 3.890 3.892 3.901 3.908 3.911 3.917 3.920

IX. Entscheidung des Gerichts 1. Urteil a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schriftliche Abfassung aa) Absetzen des Urteils . . . . . . bb) Fristen bei verkündeten Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fristen bei zugestellten Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entscheidungsgrundlagen. . . . . d) Richterliche Überzeugungsbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bindung an das Klagebegehren. f) Urteilsausspruch aa) Überblick. . . . . . . . . . . . . . . bb) Aufhebung der Verwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . cc) Regelfall: Herabsetzung der Steuer . . . . . . . . . . . . . . dd) Aufhebung und Zurückverweisung . . . . . . . . . . . . . g) Entscheidungsgründe . . . . . . . . 2. Zwischenurteil . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teilurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gerichtsbescheid . . . . . . . . . . . . . .

3.1011 3.1016 3.1018 3.1020 3.1024 3.1029 3.1031 3.1036 3.1041 3.1042 3.1045 3.1052 3.1058 3.1068 3.1074

X. Exkurs: Selbständiges Beweisverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1085 XI. Exkurs: Eidliche Vernehmung . . . . 3.1094 XII. Exkurs: Streitbeilegung im Güteverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1096

3.923

Schaumburg/Hendricks

83

Kap. 3

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

G. Urteilsberichtigung I. Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1101 II. Tatbestandsberichtigung . . . . . . . . 3.1111 III. Urteilsergänzung . . . . . . . . . . . . . . 3.1117 H. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . 3.1128 J. Wiederaufnahme des Verfahrens

3.1137

K. Vorläufiger Rechtsschutz I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1150 II. 1. 2. 3.

4.

5.

6. 7.

8.

9. 10. 11.

Aussetzung der Vollziehung Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Voraussetzungen a) Vollziehbarer Verwaltungsakt . . b) Angefochtener Verwaltungsakt. c) Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ganze oder teilweise Ablehnung eines Antrags durch die Finanzbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine zeitnahe Entscheidung der Finanzbehörde . . . . . . . . . . d) Drohende Vollstreckung . . . . . . Materiell-rechtliche Voraussetzungen a) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . b) Unbillige Härte . . . . . . . . . . . . . c) Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheitsleistung . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen der Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung a) Keine Zahlungspflicht . . . . . . . . b) Aussetzungszinsen. . . . . . . . . . . Sonderfälle der Vollziehungsaussetzung a) Grundlagenbescheid/ Folgebescheid . . . . . . . . . . . . . . b) Verlustfeststellungsbescheid . . . c) Negativer Feststellungsbescheid Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderung des Beschlusses . . . . . . .

3.1152 3.1161 3.1171 3.1175 3.1178 3.1180 3.1184 3.1192 3.1195

3.1196 3.1207 3.1210 3.1212 3.1218 3.1224

3.1228 3.1233 3.1235 3.1238 3.1245 3.1249

III. Einstweilige Anordnung 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1255 2. Voraussetzungen

84

Schaumburg/Hendricks

3. 4. 5. 6.

a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anordnungsanspruch . . . . . . . . c) Anordnungsgrund. . . . . . . . . . . Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt der einstweiligen Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfälle a) Gesonderte Feststellung von Verlusten . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Negative Feststellungsbescheide c) Negative Umsatzsteuerfestsetzung (Erstattung) . . . . . . . . . . .

3.1260 3.1265 3.1269 3.1274 3.1277 3.1282 3.1285 3.1286 3.1287

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1290 II. Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unzuständiges Gericht. . . . . . . . . . 3. Unzuständiger Spruchkörper . . . . 4. Fehlerhafte Besetzung des Spruchkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Unzulässige Entscheidung durch den Einzelrichter . . . . . . . . . . . . . . 6. Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder abgelehnten Richters . . .

3.1296 3.1297 3.1298 3.1301 3.1304 3.1307

III. Beteiligungsmängel (Verletzung der Pflicht zur notwendigen Beiladung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1311 IV. Mängel in der Sachaufklärungsphase (Sachaufklärungsmängel) 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichtwidriges Übergehen eines Beweisantrages . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterlassen gebotener Beweiserhebung in sonstigen Fällen. . . . . 4. Fehler bei der Beweiserhebung . . . 5. Fehler bei der Beweiswürdigung . . V. Mängel in Bezug auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verletzung der Pflicht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine ordnungsgemäße Ladung zur mündlichen Verhandlung . . . . 3. Versagte Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung . . . . 4. Verletzung der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung . . . . . . .

3.1321 3.1324 3.1327 3.1328 3.1330

3.1333 3.1334 3.1340 3.1344 3.1349

A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung

5. Mängel bei der Protokollierung der mündlichen Verhandlung . . . . 3.1352 6. Versagte Vertagung einer begonnenen mündlichen Verhandlung. . . . 3.1354 7. Versagte Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . 3.1361 VI. Mängel bei der Überzeugungsbildung 1. Missachtung des gesetzlichen Entscheidungsprogramms . . . . . . . 2. Verkennen von Sachentscheidungsvoraussetzungen a) Unzulässiges Sachurteil. . . . . . . b) Unzulässiges Prozessurteil . . . . 3. Urteil trotz Unterbrechung des Verfahrens oder Pflicht zur Aussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteil oder Gerichtsbescheid trotz Verfahrensunterbrechung b) Unterlassene Aussetzung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fehlende Überzeugungsbildung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1366 3.1370 3.1372 3.1374 3.1375 3.1379

Rz. 3.2 Kap. 3

5. Überzeugungsbildung unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Missachtung des Äußerungsrechts eines Beteiligten . . . . . . . b) Missachtung der gerichtlichen Informations- und Unterrichtungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verletzung der gerichtlichen Beachtungspflicht . . . . . . . . . . . 6. Missachtung der Bindungswirkung einer rückverweisenden BFHEntscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1385 3.1386 3.1387 3.1391 3.1395

VII. Mängel in der Urteilserlassphase 1. Mängel bei Übermittlung des Tenors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1398 2. Mängel bei der Abfassung des Tenors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1399 3. Mängel bei der Abfassung von Tatbestand und Entscheidungsgründen (Begründungsmängel) . . 3.1400

3.1384

A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung Literatur: Balmes/Felten, Kosten des Steuerstreits, DStZ 2010, 454; Birk, Die Finanzgerichtsbarkeit – Erwartungen, Bedeutung, Einfluss, DStR 2014, 65; Bruschke, Hinzuziehung und Beiladung, DStR 2011, 753; Just, Das Kostenrecht im Finanzprozess, DStR, Beih. zu Heft 40/2008, S. 1 ff.; Mack, Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess, in FS Streck, 2011, S. 337; Marx, Einspruch und Klage im Steuerrecht aus entscheidungsorientierter Sicht, Ubg 2015, 421; Schmidt-Troje/Schaumburg, Lohnt sich ein Verfahren vor den Finanzgerichten?, Stbg 2003, 154; Stahl-Sura, Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten, FS Streck 2011, S. 435; Streck/Mack/Schwedhelm, Über die Dauer der Steuerprozesse, Stbg. 2010, 264; Thönnes, Invesititionsentscheidung „Finanzgerichtsverfahren“, Berlin 2005; Thönnes, Das Finanzgerichtsverfahren als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Investitionsrechnung, StuW 2008, 134; Tipke, Zwischen materiellem Steuerrecht und Steuerverfahrensrecht, StuW 2004, 3; v. Wedelstädt, Hinzuziehung und Beiladung, AO-StB 2007, 15 und AO-StB 2007, 46.

I. Allgemeines Steuerermittlungs- und Steuerfestsetzungsverfahren sind mit erheblichen Eingriffen in die private und wirtschaftliche Sphäre von Steuerpflichtigen verbunden. Gleiches gilt für das Vollstreckungsverfahren. Zum Schutz der Interessen des Einzelnen gegenüber den Entscheidungen der Finanzbehörden gibt es deshalb außergerichtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe.

3.1

Waren die außergerichtlichen Rechtsbehelfe ganz oder teilweise erfolglos (s. Rz. 2.250 ff.), dann stellt sich für den Steuerpflichtigen und seinen Berater die Frage, ob, wie, wo, wann und mit welchen Erfolgsaussichten gegen die betreffende Maßnahme der Finanzverwaltung vorgegangen werden kann (zu den Motiven für die Durchführung eines Klageverfahrens s. Rz. 1.26 ff.).

3.2

Hendricks

85

Kap. 3 Rz. 3.3

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Beispiel 1: K betreibt eine Reparaturwerkstatt mit Tankstellenbetrieb. Im Betrieb arbeiten seine Ehefrau als kaufmännische Angestellte und sein Sohn als Geselle mit. Die Arbeitsverhältnisse hatte das Finanzamt zunächst steuerlich anerkannt. Im Jahr 2015 wurden die Löhne an die Ehefrau und den Sohn nicht regelmäßig gezahlt. K machte die Lohnzahlungen als Betriebsausgaben geltend. Das Finanzamt erkannte bei der Einkommensteuerveranlagung 2015 den Betriebsausgabenabzug nicht an. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Beispiel 2: E wurde nach dem Tode seines Vaters vom Finanzamt vergeblich zur Abgabe einer Erbschaftsteuer-Erklärung aufgefordert. Das Finanzamt erließ daraufhin gegen E am 5.11.2015 einen Erbschaftsteuer-Bescheid über 90.000 Euro; dabei war der Wert des von E erworbenen Nachlasses auf 1 Mio. Euro geschätzt worden. Der Steuerbescheid wurde bestandskräftig. Mit Schreiben vom 13.6.2016 reichte E nachträglich eine Steuererklärung ein, aus der sich ein Wert des Reinnachlasses von 273.000 Euro ergab. Er beantragte, den unanfechtbaren Steuerbescheid aufzuheben. Das Finanzamt lehnte diesen Antrag ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos.

3.3 Bevor ein Steuerpflichtiger Klage erhebt, sollte er sich die Frage stellen: – Was will ich mit der Klage erreichen? – Welche konkrete Entscheidung des Gerichts begehre ich mit meiner Klage?

3.4 Es empfiehlt sich deshalb zunächst, das Klageziel so genau wie möglich klar heraus zu arbeiten. Nur so kann ein klarer Klageantrag gestellt und die Klage überzeugend begründet werden. Nach der genauen Formulierung des Klageziels müssen der Steuerpflichtige bzw. sein Berater weitere Überlegungen anstellen, nämlich, – welche Maßnahme der Finanzverwaltung mit der Klage angegriffen werden soll bzw. welche Maßnahme mit der Klage erstrebt wird (s. Rz. 3.5 ff.); – ob der Rechtsweg zu den Finanzgerichten für die angegriffene bzw. erstrebte Maßnahme gegeben ist (s. Rz. 3.304 ff.); – wer als richtiger Kläger bezeichnet werden soll (wichtig z. B. bei Personengesellschaften und im Insolvenzverfahren, s. Rz. 3.78 ff.); – wer der richtige Beklagte ist (s. Rz. 3.81 ff.); – welche Klageart in Betracht kommt (s. Rz. 3.158 ff.); – welcher Klageantrag zu stellen ist (s. Rz. 3.118 ff.); – ob der Kläger klagebefugt/beschwert ist (s. Rz. 3.407 ff.); – ob ein vorgeschriebenes Vorverfahren durchgeführt worden (s. Rz. 3.474 f.) ist oder ob auf ein (abgeschlossenes) Vorverfahren ausnahmsweise verzichtet werden kann (Untätigkeitsklage, s. Rz. 3.490 ff., oder Sprungklage s. Rz. 3.476 ff.); – ob eine Klagefrist zu beachten ist, und – falls ja – ob diese gewahrt werden kann oder der Bescheid bereits bestandskräftig geworden ist (s. Rz. 3.514 ff.); – ob eine schriftliche Prozessvollmacht vorgelegt werden kann (s. Rz. 3.385 ff.); – ob es – auch unter Berücksichtigung der vorgenannten Aspekte – zweckmäßig und sinnvoll ist zu klagen (s. Rz. 3.12 ff.).

86

Hendricks

A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung

Rz. 3.7 Kap. 3

II. Klageziel Vor Klageerhebung muss sich der Steuerpflichtige bzw. sein Berater darüber im Klaren sein, welche Maßnahme der Finanzverwaltung er mit seiner Klage angreifen will (z. B. einen Steuerbescheid, eine Prüfungsanordnung, eine Maßnahme der Vollstreckung) bzw. welche Maßnahme der Finanzverwaltung er mit seiner Klage erstrebt (z. B. Erlass eines Änderungsbescheides zu seinen Gunsten, Rückzahlung zu viel gezahlter Steuern, Einsicht in die Steuerakten). Welche Maßnahmen der Finanzverwaltung im Einzelnen Gegenstand eines Klageverfahrens sein können, ergibt sich aus dem ABC der Klagemöglichkeiten (s. Rz. 3.207).

3.5

Zielt das potenzielle Klageverfahren auf die Aufhebung oder Änderung eines Bescheides ab, muss der Steuerpflichtige bzw. sein Berater im Rahmen seiner Überlegungen insbesondere die sachlichen Grenzen der Klagebefugnis beachten, die sich aus § 42 FGO i. V. m. § 351 AO ergeben. Nach § 351 Abs. 2 AO können Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid, der gem. § 182 Abs. 1 AO Bindungswirkung für den Folgebescheid hat, nur durch Anfechtung dieses Bescheides, nicht auch durch Anfechtung des Folgebescheides angegriffen werden. Der Gedanke des § 351 Abs. 2 AO ist nicht nur im Einspruchsverfahren, sondern auch im Rahmen des sich anschließenden Klageverfahrens zu beachten.1 In der Praxis spielt gerade das Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid eine erhebliche Rolle. Denn häufig werden Folgebescheide mit Gründen angefochten, die sich gegen die Rechtmäßigkeit des Grundlagenbescheides richten. Eine solche Klage ist zwar nicht allein deshalb unzulässig; die Rechtsfolge des § 351 Abs. 2 AO besteht vielmehr nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung vielmehr darin, dass die Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid im Klageverfahren unberücksichtigt bleiben müssen, mit der Folge, dass die Klage insoweit als unbegründet abzuweisen ist.2 Hingegen wird eine gegen einen Folgebescheid gerichtete Klage auch für begründet erachtet, wenn mit ihr das Fehlen eines wirksamen Grundlagenbescheids geltend gemacht wird.3 Im Regelfall hat jedoch eine Klage gegen den Folgebescheid von vornherein keine Aussicht auf Erfolg. Die Klage ist vielmehr gegen den Grundlagenbescheid zu richten.

3.6

Werden ausschließlich Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid vorgebracht, ist eine Klage gegen den Folgebescheid grundsätzlich nicht erforderlich, da der Folgebescheid ohnehin gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu ändern ist, wenn ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert wird.

3.7

Beispiel 1: K hat seinen Wohnsitz im Bezirk des Finanzamts W und seinen Gewerbebetrieb im Bezirk des Finanzamts F. Er will sich mit seiner Klage gegen den Ansatz der vom Finanzamt F gesondert festgestellten Gewinne seines Gewerbebetriebes wenden (nicht gegen die übrigen Besteuerungsgrundlagen). Hier muss K den Feststellungsbescheid des Finanzamtes F, in dem seine Einkünfte aus Gewerbebetrieb gesondert festgestellt worden sind, angreifen. Der Einkommensteuerbescheid wird dann gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geändert werden. Richtet K seine Klage stattdessen gegen den Einkommensteuerbescheid und lässt den Feststellungsbescheid unanfechtbar werden, so läuft er Gefahr, dass die Klage als unbegründet abgewiesen wird, weil die Feststellungen im Feststellungsbescheid als 1 So z. B. BFH v. 8.11.2016 – I R 35/15, BFH/NV 2017, 783; BFH v. 24.5.2005 – II R 57/03, BFH/NV 2005, 1982. 2 So ausdrücklich BFH v. 9.11.2005 – I R 10/05, BFH/NV 2006, 750 m. w. H.; Steinhauff in HHSp, § 42 FGO Rz. 23. 3 So z. B. BFH v. 9.11.2005 – I R 10/05, BFH/NV 2006, 750; Steinhauff in HHSp, § 42 FGO Rz. 27 m. w. N.

Hendricks

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Kap. 3 Rz. 3.8

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Grundlagenbescheid gem. § 182 Abs. 1 AO Bindungswirkung für den Einkommensteuerbescheid als Folgebescheid haben. Beispiel 2: In seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 2015 hat K einen gewerblichen Verlust aus einer Beteiligung an einer Abschreibungs-KG i. H. v. 100.000 Euro erklärt. Das Finanzamt hat diesen Verlust bei der Einkommensteuerveranlagung nicht berücksichtigt. Das für die Besteuerung der KG zuständige Finanzamt hatte nämlich durch Bescheid die Durchführung einer einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung für die KG und ihre Gesellschafter abgelehnt (negativer Feststellungsbescheid), weil nach Auffassung dieses Finanzamts keine Mitunternehmerschaft i. S. des § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG vorlag. Will K nunmehr erreichen, dass das Finanzamt den erklärten Verlust aus der Beteiligung an der KG bei der Einkommensteuerveranlagung berücksichtigen muss, müssen seine entsprechenden Einwendungen in einem Verfahren gegen den negativen Feststellungsbescheid vorgebracht werden.1 In der Praxis wird häufig übersehen, dass es sich bei der Festsetzung von Zuschlagssteuern (z. B. die Festsetzung des Solidaritätszuschlags) in der Regel um Folgebescheide handelt.2 Wird gegen die Festsetzung dieser Zuschlagssteuer ausschließlich aus Gründen geklagt, die auch für die zu Grunde liegende Maßstabssteuer (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer) zu beachten sind, kann die Klage schon mit Rücksicht auf das Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis keinen Erfolg haben.3 In diesen Fällen begründet die gleichzeitige Klage auch gegen die Festsetzung der Zuschlagssteuer mithin ein unnötiges Kostenrisiko.

3.8 Bei seinen Vorüberlegungen sollte der Steuerpflichtige (bzw. sein Berater) auch die Vorschrift des § 157 Abs. 2 AO beachten. Danach bildet die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen einen mit Rechtsbehelfen nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuerbescheides, soweit die Besteuerungsgrundlagen nicht gesondert festgestellt werden (s. Rz. 2.8). Der Steuerpflichtige kann sich mit einem Rechtsbehelf also nur gegen die Steuerfestsetzung als solche – gegen die Höhe der Steuer – wenden. Dies ist im Klageverfahren, wie der Vorschrift des § 40 Abs. 2 FGO zu entnehmen ist, nur möglich, sofern der Steuerpflichtige durch den Ausspruch des Bescheides in seinen Rechten verletzt wird. Dies ist aber ein Problem der sog. Klagebefugnis (s. Rz. 3.407 ff.). Die einzelnen Besteuerungsgrundlagen (z. B. den Ansatz der Einkünfte aus Gewerbebetrieb, der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, Sonderausgaben usw.) kann der Steuerpflichtige nicht gesondert angreifen. Dieser Teil ist unselbständiger Teil des die Steuer festsetzenden Bescheides und zählt zur Begründung i. S. des § 121 AO. Er ist für sich genommen kein Verwaltungsakt, da ihm ein eigenständiger Regelungscharakter fehlt. Beispiel: X erzielte im Jahre 2015 einen Gewinn aus Gewerbebetrieb i. H. v. 15.000 Euro und erlitt einen Verlust aus Vermietung und Verpachtung i. H. v. 12.000 Euro. Im Einkommensteuerbescheid 2015 wird der gewerbliche Gewinn nach Auffassung des X um 1.000 Euro zu hoch (der Verlust aus Vermietung und Verpachtung hingegen zutreffend) angesetzt. Die Einkommensteuer für das Streitjahr 2015 wird – im Ergebnis zutreffend – auf 0 Euro festgesetzt. Einer Klage gegen den Einkommensteuerbescheid, mit der X begehrt, die Einkünfte jeweils zutreffend zu berücksichtigen, steht die Vorschrift des § 157 Abs. 2 AO entgegen. Denn die Berechnung des zu versteuernden Einkommens ist grundsätzlich eine unselbständige Besteuerungsgrundlage i. S. dieser Vorschrift. Im Übrigen ist X durch eine Steuerfestsetzung auf 0 Euro nicht beschwert. Etwas anderes würde jedoch gelten, wenn die Verluste so hoch gewesen wären, dass X insgesamt einen negativen Gesamtbetrag der Einkünfte erzielt hätte, mit der Folge, dass dieser Verlust zum Schluss des 1 Verpflichtungsklage gegen die durch den negativen Feststellungsbescheid versagte Verlustfeststellung, vgl. nur BFH v. 22.11.1994 – VIII R 63/93, BStBl. II 1996, 93. 2 Vgl. nur Kirchhof in Kirchhof, § 51a EStG Rz. 10 m. w. N. 3 So bereits BFH v. 17.4.1996 – I R 123/95, BStBl. II 1996, 619; ebenso zuletzt BFH v. 26.4.2017 – I R 76/15, DB 2017, 2140.

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A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung

Rz. 3.11 Kap. 3

Veranlagungszeitraums nach § 10d Abs. 4 EStG festzustellen gewesen wäre. In diesem Fall kommt der Berechnung der Besteuerungsgrundlagen im Rahmen der Steuerfestsetzung (auf 0 Euro) ausnahmsweise Bedeutung zu; sie sind gem. § 10d Abs. 4 Sätze 4–5 EStG für die Verlustfeststellung bindend.1

Nicht angreifbar sind auch mündliche oder schriftliche Belehrungen, Erläuterungen, Ratschläge und Hinweise des Finanzamts, die sich steuerlich nicht auswirken. Durch solche Maßnahmen ist der Steuerpflichtige in aller Regel nicht beschwert.

3.9

Beispiel: Im Zuge einer im Jahre 2016 bei A durchgeführten Betriebsprüfung behandelte der Betriebsprüfer ein bestimmtes unbebautes Grundstück, das bisher dem Privatvermögen zugeordnet war, als Betriebsvermögen. Eine Gewinnänderung trat aufgrund dessen nicht ein. In dem geänderten Gewinnfeststellungsbescheid ist u. a. folgende Erläuterung enthalten: „Unter Bezugnahme auf die im Betriebsprüfungsbericht dargestellten Prüfungsfeststellungen ist der Grund und Boden in Ihrer Bilanz auch zukünftig als Betriebsvermögen mit den Anschaffungskosten zu berücksichtigen.“ Eine Klage des A, mit der sich dieser gegen diese Feststellungen wendet, wäre unzulässig, sofern diese sich lediglich gegen die Behandlung des Grund und Bodens als Betriebsvermögen und damit lediglich gegen den Inhalt der Erläuterungen und gleichzeitig gegen die im Betriebsprüfungsbericht vertretene Rechtsauffassung richtet.2

Sowohl die Erläuterungen zum Bescheid als auch der Betriebsprüfungsbericht stellen keine rechtserheblichen Meinungsäußerungen des Finanzamts dar, die sich auf die Höhe des festgestellten Gewinns auswirken. Dies gilt selbst dann, wenn sich in späteren Jahren die Auffassung des Finanzamts für den Steuerpflichtigen als nachteilig erweisen könnte. Denn die in den Erläuterungen und im Betriebsprüfungsbericht vertretene Rechtsauffassung erwächst nicht in Bestandskraft und kann deshalb auch für die Zukunft keine Bindungswirkung entfalten.

3.10

Beispiel: Das Finanzamt weist den S im Steuerbescheid darauf hin, dass seine Einkünfte solche aus selbständiger Arbeit und nicht solche aus nichtselbständiger Arbeit sind. Steuerliche Folgen zu seinem Nachteil ergeben sich hieraus nicht. S kann gegen diese Belehrung keinen Rechtsbehelf einlegen, da er hierdurch nicht beschwert ist.

Bei der Frage der örtlichen Zuständigkeit müssen zunächst Maßnahmen des Finanzamtes, z. B. der Steuerbescheid, abgewartet werden. Erst gegen den Steuerbescheid kann der Steuerpflichtige nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der Begründung vorgehen, das Finanzamt sei örtlich unzuständig. Allerdings muss er hierbei die Vorschrift des § 127 AO im Auge behalten; nach dieser Vorschrift kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zu Stande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Beispiel: Die Finanzämter A und B streiten darüber, welches von beiden Ämtern für die Besteuerung des S zuständig ist. Sie schließen eine Vereinbarung des Inhalts ab, dass das Finanzamt B für die Besteuerungsmaßnahmen des S zuständig sein soll. Dies wird dem S mitgeteilt. Einige Zeit später teilt die Oberfinanzdirektion dem S mit, sie habe die Finanzämter A und B angewiesen, die Vereinbarung 1 § 10d Abs. 4 Sätze 4 und 5 EStG in der Fassung des JStG 2010 (v. 8.12.2010, BGBl. I 10, 1768) führen nunmehr zu einer inhaltlichen Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den Einkommensteuerbescheid, obwohl dieser kein Grundlagenbescheid im eigentlichen Sinne ist; vgl. BFH v. 13.1.2015 – IX R 22/14, BFH/NV 2015, 891; Pfirrmann in Kirchhof, § 10d EStG Rz. 23 m. w. N. 2 Die Klage wäre weder als Anfechtungsklage noch als Feststellungsklage zulässig, vgl. BFH v. 26.11.1974 – VIII R 258/72, BStBl. II 1975, 206.

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3.11

Kap. 3 Rz. 3.12

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

zu widerrufen und angeordnet, dass das Finanzamt A für die Besteuerung zuständig sein solle. S will sich gegen diese Mitteilung der Oberfinanzdirektion wehren. Mit Erfolg? Gegen die Mitteilung der Oberfinanzdirektion kann S sich nicht im Klagewege zur Wehr setzen, da es sich bei der Mitteilung um eine verwaltungsinterne Maßnahme handelt.1 Eine solche Klage wäre daher unzulässig. S muss in einem solchen Fall Maßnahmen des Finanzamts A abwarten, bei der § 127 AO einer Unzuständigkeitsrüge nicht entgegensteht, z. B. den Erlass eines Ermessensaktes wie z. B. einem Mitwirkungsverlangen.2

III. Zweckmäßigkeit einer Klage 3.12 Bevor eine Klage beim Finanzgericht erhoben wird, sollten der Steuerpflichtige und sein Berater prüfen, ob eine Klage überhaupt zweckmäßig ist (s. zu dieser Abwägung auch Rz. 1.26 ff.). 1. Verfahrensdauer

3.13 Die sich für den Steuerpflichtigen aus einer längeren Verfahrensdauer ergebenden nachteiligen Folgen können allerdings dadurch beeinflusst werden, dass in Verfahren, in denen über die Steuerfestsetzung gestritten wird, ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt wird. Über solche Anträge entscheiden die Finanzgerichte in aller Regel innerhalb von wenigen Monaten. Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Gericht – dieser ist allerdings nur zulässig, wenn das Finanzamt zuvor einen entsprechenden Antrag abgelehnt hat – bietet darüber hinaus für den Steuerpflichtigen einen weiteren Vorteil: Er erfährt die vorläufige Rechtsauffassung des Gerichts innerhalb relativ kurzer Zeit. Sollte das Gericht dem Antrag stattgeben, ist das Finanzamt erfahrungsgemäß eher geneigt, von sich aus den angefochtenen Bescheid zu ändern und das Klageverfahren damit zu erledigen.

3.14 Wird der Antrag vom Gericht abgelehnt, sollte es sich der Steuerpflichtige bzw. sein Berater nach dem Studium der Gründe überlegen, ob er die Klage im Hauptsacheverfahren weiter verfolgen soll. Zu berücksichtigen ist ferner, dass nach der Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung Aussetzungszinsen i. H. v. 6 % jährlich zu zahlen sind, wenn die Klage letztlich keinen Erfolg hat (s. Rz. 3.1224). Auch bei lang andauernden Verfahren führt die Aussetzung der Vollziehung im Übrigen dazu, dass – aus Sicht der Finanzverwaltung sehr günstig – keine Zahlungsverjährung eintreten kann.3 Bei der Abwägung, ob ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt werden soll, um hierdurch eine schnelle (aber summarische) Einschätzung des Gerichts zu erlangen, ist auch das Kapitalmarktzinsniveau zu berücksichtigen. Liegen die am allgemeinen Kapitalmarkt zu realisierenden bzw. zu zahlenden Zinsen gravierend unterhalb der gesetzlichen Aussetzungszinsen i. H. v. 6 % jährlich, können die hieraus resultierenden Zinsrisiken in der Abwägung gegen einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sprechen.4

1 Schmieszek in Beermann/Gosch, § 28 AO Rz. 14; Sunder-Plassmann in HHSp, § 28 AO Rz. 21. 2 Da bei Ermessensakten eine keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können, steht § 127 AO der Rüge der örtlichen Unzuständigkeit nicht entgegen vgl. nur BFH v. 25.1.1989 – X R 158/87, BStBl. II 1989, 483 (487). 3 § 231 Abs. 1 Satz 1 AO, vgl. nur BFH v. 23.6.1998 – VII R 119/97, BFH/NV 1998, 1322. 4 Vgl. bereits Seer, Ubg 2008, 249 ff.

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A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung

Rz. 3.16 Kap. 3

2. Saldierungsbefugnis des Gerichts Noch ein weiterer Aspekt sollte bei der Prüfung der Zweckmäßigkeit der Klage nicht unberücksichtigt bleiben: Zwar darf eine Entscheidung des Finanzgerichts gegen den Kläger höchstens in der Abweisung der Klage bestehen, nicht aber in der Veränderung des vor Klageerhebung bestehenden Rechtszustandes zu seinem Nachteil (sog. Verböserung). Das Finanzgericht kann aber Fehler, die dem Finanzamt zu Lasten des Steuerpflichtigen unterlaufen sind, mit solchen Fehlern ausgleichen (saldieren), die sich zu Gunsten des Steuerpflichtigen ausgewirkt haben. Das Gleiche gilt auch im umgekehrten Fall.

3.15

Beispiel 1: X begründet seine Klage gegen den über 5.000 Euro lautenden Einkommensteuerbescheid 2015 damit, dass das Finanzamt die Reisekosten nicht in vollem Umfang als Betriebsausgaben anerkannt habe, und beantragt, die Steuer auf 4.000 Euro herabzusetzen. Gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Einwendungen des X zwar berechtigt sind, stellt es aber fest, dass bestimmte Aufwendungen, die zu einer Steuerminderung i. H. v. 6.000 Euro führen, nicht als Sonderausgaben hätten anerkannt werden dürfen, so sind diese Beträge nach vorherigem Hinweis auszugleichen. Eine gerichtliche Erhöhung des Steuerbetrages über 5.000 Euro hinaus ist allerdings im Hinblick auf das sog. Verböserungsverbot nicht zulässig. Von der Erhöhung des Steuerbetrages im Rahmen einer gerichtlichen Entscheidung ist die Erhöhung durch die zuständige Behörde zu unterscheiden. Eine Erhöhung des Steuerbetrages durch das Finanzamt kommt dann in Betracht, wenn in Bezug auf die zu Unrecht berücksichtigten Sonderausgaben die Voraussetzungen einer Änderungsnorm vorliegen (z. B. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO). Denn die Vorschriften über die Änderung von Verwaltungsakten gelten auch während des finanzgerichtlichen Klageverfahrens (vgl. § 132 Satz 1 AO sowie § 172 Abs. 1 Satz 1 AO). Ist eine behördliche Änderung in zeitlicher Hinsicht nur deshalb noch möglich, weil der Steuerpflichtige gegen den fraglichen Bescheid geklagt hat, muss die Behörde den Steuerpflichtigen hierüber im Rahmen eines „Verböserungshinweises“ aufklären,1 damit er die Klage nach Prüfung ggf. zurücknehmen kann um hierdurch eine Schlechterstellung zu vermeiden. Beispiel 2: Stellt das Gericht fest, dass das Vorbringen des X hinsichtlich der Anerkennung der Reisekosten unbegründet ist, das Finanzamt aber andere Kosten i. H. v. 5.000 Euro (z. B. Bewirtungsaufwendungen) zu Unrecht nicht als Betriebsausgaben anerkannt hat, ist die Klage trotz der unrichtigen Begründung gleichwohl erfolgreich.

Das Gericht kann also die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides aus anderen als den vom Kläger geltend gemachten Gründen bejahen, selbst wenn die Angaben des Klägers keinerlei Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit enthalten haben. Umgekehrt muss das Gericht aber auch eine Klage abweisen, obwohl das Vorbringen des Klägers an sich erfolgreich ist, wenn die durch den Kläger geltend gemachten, ihn belastenden Fehler durch andere Fehler, die sich bisher in dem angefochtenen Bescheid zu seinem Vorteil ausgewirkt haben, ausgeglichen werden. Diese Saldierung kann also dazu führen, dass das Gericht, obwohl der Klagevortrag zutrifft, die Klage als unbegründet abzuweisen hat, weil der festgesetzte Steuerbetrag im Ergebnis richtig ist.2 Eine aus diesem Grund erfolgte Klageabweisung hat notwendigerweise zur Folge, dass der Steuerpflichtige die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Insoweit ist Vorsicht geboten. Vor Erhebung der Klage sollten der Steuerpflichtige und sein Berater überlegen, ob dem Finanzamt nicht Fehler zu Gunsten des Steuerpflichtigen unterlaufen sind, die möglicherweise zu einer Abweisung der Klage führen können, obwohl dem Finanzamt auch einige Fehler zu Lasten des Steuer1 Zutreffend Wernsmann in HHSp, § 132 AO Rz. 11: im Ergebnis ebenso BFH v. 25.2.2009 – IX R 24/08, BStBl. II 2009, 587. 2 BFH v. 19.4.2005 – III B 19/04, juris; grundlegend zum Saldierungsgebot: sog. Saldierungsgebot Beschluss des Großen Senats des BFH v. 17.7.1967 – GrS 1/66, BStBl. II 1968, 344.

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3.16

Kap. 3 Rz. 3.17

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

pflichtigen unterlaufen sind. Waren die Fehler zu Gunsten des Steuerpflichtigen evident oder hängen eng mit dem eigentlichen Thema der geplanten Klage zusammen, kann dies gegen die Durchführung eines Klageverfahrens sprechen, weil damit zu rechnen ist, dass die Klage aus diesem Grund keinen Erfolg haben wird. So können unnötige Verfahrenskosten vermieden werden.

3. Gefahr der Kompensation in anderen Bescheiden

3.17 Eine weitere Gefahr der Kompensation ergibt sich bei bestimmten Fallkonstellationen aus § 174 Abs. 4 AO.1 Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO können dann, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist und dieser Bescheid aufgrund eines Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten geändert wird, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen Folgerungen gezogen werden. Durch diese Regelung soll der Finanzbehörde die Möglichkeit eröffnet werden, Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt, die zunächst nicht im „richtigen“ Bescheid, sondern in einem anderen Verfahren gezogen wurden, durch Änderung des „richtigen“ Bescheids oder durch erstmaligen Erlass eines solchen zu einem späteren Zeitpunkt noch zu ziehen.2 § 174 Abs. 4 AO betrifft also den Fall, dass die Finanzbehörde oder das Gericht aufgrund eines Rechtsbehelfs eine Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen ändert, die Klage also Erfolg hat. In dieser Konstellation lässt die Vorschrift zu, dass aus dem nämlichen „bestimmten“ Sachverhalt nachträglich die richtigen steuerlichen Konsequenzen auch in anderen Steuerbescheiden gezogen werden.3 Ist bei diesen Bescheiden die Festsetzungsfrist eigentlich schon abgelaufen, kann die Finanzverwaltung gleichwohl die Änderung vornehmen, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids gezogen werden, der Gegentand des erfolgreichen Klageverfahrens war (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO). Beispiel: Seit Anfang 2013 arbeitet X als IT-Berater und wird dabei nahezu ausschließlich für einen einzigen Auftraggeber tätig. In 2013 und 2014 tätigt er sehr teure Anschaffungen (Firmenwagen, Computer, Software). Die hierauf entfallenden Vorsteuern macht er als Unternehmer jeweils im Rahmen einer Umsatzsteuererklärung geltend, die für beide Jahre antragsgemäß und endgültig veranlagt werden. Für 2015 übersteigt die Umsatzsteuer auf seine Vergütungen sehr deutlich die Vorsteuern auf weitere Ausgaben. X stellt sich nunmehr auf den Standpunkt, dass er gar kein Unternehmer war (sondern Arbeitnehmer des zentralen Auftraggebers) und legt – unter Hinweis auf das Prinzip der Abschnittsbesteuerung – gegen den Umsatzsteuerbescheid 2015 Einspruch ein und klagt anschließend. Sollte die Klage von Erfolg gekrönt sein, weil A nahezu ausschließlich für einen einzigen Auftraggeber tätig war, könnte das Finanzamt unter Hinweis auf § 174 Abs. 4 AO die Steuerbescheide für 2013 und 2014 aufheben und die Erstattung des ausbezahlten Vorsteuerüberhangs verlangen. Der Steuerpflichtige und sein Berater sollten gleichermaßen im Vorfeld überlegen, ob möglicherweise die steuerlichen Auswirkungen aufgrund einer Folgeänderung in einem anderen Bescheid zu erfassen sind und der Erfolg der Klage damit nur ein „Pyrrhussieg“ wäre.

1 Hierauf weisen ausdrücklich Fumi/Müller, sj. 2006, Heft 21, S. 21 hin. 2 BFH v. 8.7.1992 – XI R 54/89, BStBl. II 1992, 867; v. 28.2.2001 – I R 29/99, BFH/NV 2001, 1099 m. w. N. 3 Vgl. dazu die Anm. Braun zum Urteil des FG Köln v. 20.3.2007 – 15 K 1487/03, EFG 2007, 1221.

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Hendricks

A. Ausgangssituation und Erwägungen vor Klageerhebung

Rz. 3.19 Kap. 3

4. Dritte im Verfahren Der Steuerpflichtige und sein Berater sollten auch überlegen, welche Personen u. U. vom Gericht gem. § 60 Abs. 3 FGO notwendig beizuladen sind (s. Rz. 3.789), weil die Entscheidung dann nur mit Wirkung für und gegen Dritte ergehen kann. Es könnte sein, dass die beizuladenden Personen, die als Beteiligte dann z. B. auch ein Akteneinsichtsrecht haben, unerwünscht sind. Diese Frage spielt insbesondere bei Klagen einer Personengesellschaft gegen Feststellungsbescheide eine Rolle. Hier müssen ggf. z. B. ausgeschiedene Gesellschafter, zu denen der Kläger sonst keinen Kontakt mehr hat, beigeladen werden.

3.18

5. Kostenrisiko Schließlich sollte auch das Kostenrisiko bedacht werden. Zu den Kostenregelungen im Einzelnen s. Rz. 10.1. Bei Erhebung einer Klage fallen seit dem 1.7.2004 sofort Gerichtsgebühren an. Die kurz nach Eingang der Klage von dem Kläger zu zahlende Vorfälligkeitsgebühr beträgt, ausgehend von einer vierfachen Verfahrensgebühr bei einem Mindeststreitwert von 1.500 Euro 284 Euro (71 Euro × 4) für jede einzelne Klage. Lediglich dann, wenn der Kläger den tatsächlichen Streitwert bereits im Rahmen des Klageerhebungsschriftsatzes offenlegt, wird die Vorfälligkeitsgebühr nach dem tatsächlichen Streitwert bestimmt, was dann zu einer deutlich höheren Vorfälligkeitsgebühr führen kann (s. Rz. 10.19). Im Rahmen der Entscheidung über eine mögliche Klage wird der Kläger bzw. sein Berater bei der Bestimmung des Kostenrisikos indes auf die endgültige Belastung im Rahmen einer Klageabweisung bzw. einer vorherigen Klagerücknahme abstellen müssen. Hier bestimmen sich die Gerichtskosten nicht nach dem Mindeststreitwert, sondern nach dem tatsächlichen Streitwert (s. Rz. 10.32 ff.). Insoweit muss entschieden werden, ob die mit einem Klageerfolg verbundenen finanziellen Vorteile es rechtfertigen, dieses Kostenrisiko einzugehen. Sind die finanziellen Mittel für die Bezahlung der Gerichtskosten und auch des Beraters nicht vorhanden, so ist zu überlegen, ob Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts oder Steuerberaters beantragt werden soll (s. Rz. 10.41 ff.).

3.19

Beispiel: A ist Freiberufler und will mit seiner Klage die Berücksichtigung von zusätzlichen Betriebsausgaben i. H. v. 500 Euro erreichen, was zu einer Steuerherabsetzung von 200 Euro führen würde. A muss eine Vorfälligkeitsgebühr i. H. v. 284 Euro leisten. Vor Klageerhebung sollte das Kostenrisiko bedacht werden. Gerichtsgebühren entstehen für jede einzelne Klage. Deshalb sollten möglichst viele Klagebegehren (Steuerarten, Streitjahre) in einer Klage zusammengefasst werden. Dies ist ohne weiteres zulässig. Im Regelfall sollte eine Klage auch nicht nur „vorsorglich“ zur Fristwahrung erhoben werden, die dann nach Überprüfung des Bescheids wieder zurückgenommen wird. Kann die Vorfälligkeitsgebühr nicht geleistet werden und kann auch das Geld für den Prozessbevollmächtigten nicht aufgebracht werden, weil die persönlichen Verhältnisse dies nicht zulassen, so empfiehlt es sich, Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des namentlich zu benennenden Bevollmächtigten zu beantragen.

3.20–3.24

Einstweilen frei.

Hendricks

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Kap. 3 Rz. 3.25

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

B. Form und Inhalt der Klage I. Allgemeines Literatur: Bartone, Der Rechtsweg zu den Finanzgerichten, AO-StB 2008, 55; Erhardt-Rauch, Die Konkurrentenklage im Steuerrecht, DStZ 2004, 641; von Groll, Das Handeln der Finanzverwaltung als Gegenstand des Rechtsschutzbegehrens, DStJG 18 (1995), 47; Kirchhof, Rechtsstaatliche Anforderungen an den Rechtsschutz in Steuersachen, DStJG 18 (1995), 17; Knobbe-Keuk, Die Konkurrentenklage im Steuerrecht, BB 1982, 385; Offerhaus, Möglichkeiten der Verbesserung des Finanzgerichtsverfahrens?, DStR 1986, 99; Roßnagel, Recht der Multimedia-Dienste, 1999; Schmidt-Troje/Schaumburg, Lohnt sich ein Verfahren vor den Finanzgerichten?, Stbg 2003, 154; Seer, Defizite im finanzgerichtlichen Rechtsschutz – zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit dem 2. FGO-Änderungsgesetz, StuW 2001, 3; Steinhauff, Die Praxis der steuerrechtlichen Konkurrentenklage, AO-StB 2011, 270; Tipke, Zwischen materiellem Steuerrecht und Steuerverfahrensrecht, StuW 2004, 3.

3.25 Entschließt sich der Steuerpflichtige, den Finanzrechtsweg zu beschreiten, muss er neben der Frist auch bestimmte Formalien beachten. Das auf Erlass eines Urteils gerichtete gerichtliche Verfahren wird durch Erhebung einer Klage in Gang gesetzt.1 Die Klage ist bei dem Finanzgericht schriftlich oder zu Protokoll2 des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Finanzgerichts zu erheben (§ 64 Abs. 1 FGO). Eine telefonische Klageerhebung ist nicht möglich, und zwar auch dann nicht, wenn das Telefongespräch vom Urkundsbeamten zu Protokoll genommen wird.3 Der Grund dafür ist, dass die Einlegung eines Rechtsmittels nicht nur zu Beweiszwecken an eine gesetzliche Form gebunden ist. Die Form soll es dem Gericht vielmehr auch ermöglichen, sich Gewissheit über die klagende Person und den Inhalt der Erklärung zu verschaffen. Schließlich soll sie den Erklärenden von der übereilten Einlegung eines Rechtsmittels abhalten. All das ist nur dann ausreichend gewährleistet, wenn der Erklärende persönlich anwesend ist.4

3.26 Die Gerichtssprache ist gem. § 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 184 GVG deutsch. Hierbei handelt es sich um eine zwingende Regelung, die von Amts wegen zu beachten ist.5 Dies bedeutet, dass ein in fremder Sprache abgefasster Schriftsatz, insbesondere eine Klageerhebung in ausländischer Sprache keine rechtserhebliche Wirkung hat und insbesondere nicht fristwahrend wirkt.6 In diesem Fällen sollte aber auf jeden Fall überprüft werden, ob nicht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommt, und ein entsprechender Antrag gestellt werden sollte.7 Ein fremdsprachiger Beteiligter soll die ihn betreffenden Verfahrensvorgänge verstehen und sich in der Verhandlung verständlich machen können.8 Deshalb ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers nach § 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 185 GVG erforderlich, wenn unter Beteiligung einer Person verhandelt wird, die der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Der Mitwirkung eines Dolmetschers bedarf es nicht, wenn ein Beteiligter die deutsche Sprache zwar nicht beherrscht, sie aber in einem die Verständigung mit ihm in der mündlichen 1 S. Muster M 4, Rz. 11.4. 2 Früher: „Niederschrift“. Dieser Begriff wird ab 1.1.2018 in der FGO durch den moderneren Begriff „Protokoll“ durchgängig ersetzt (Art. 22 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs, BGBl. I 2017, 2208). 3 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 64 FGO Rz. 10 m. w. N. 4 BGH v. 12.3.2009 – V ZB 71/08, NJW-RR 2009, 852. 5 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 52 FGO Rz. 26 f. 6 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 52 FGO Rz. 27 m. w. N. 7 So auch Brandis in Tipke/Kruse, § 52 FGO Rz. 27. 8 BFH v. 11.1.2013 – V S 27/42 (PKH), BFH/NV 2013, 945.

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Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.30 Kap. 3

Verhandlung ermöglichenden Maße spricht und versteht.1 Ein Anspruch auf Bestellung eines Dolmetschers besteht jedoch weder zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung noch zum Zweck der Überprüfung von Entscheidungen eines Gerichts außerhalb der mündlichen Verhandlung.2 Auch besteht kein Rechtsanspruch auf eine schriftliche Übersetzung.3

3.27

Inhaltlich muss die Klage gem. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO bezeichnen – den Kläger, – den Beklagten, – den Gegenstand des Klagebegehrens, – bei Anfechtungsklagen den angefochtenen Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf.

3.28

Außerdem soll sie gem. § 65 Abs. 1 Sätze 2 und 3 FGO enthalten – einen Antrag sowie – die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel. Der Klage sollen gem. § 65 Abs. 1 Satz 4 FGO ferner eine Abschrift des angefochtenen Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung beigefügt werden.

3.29

II. Form der Klage Literatur: Bozza-Bodden, Klageerhebung per Computerfax, EFG 2010, 2110; Brandt, Elektronisch übermittelte Schriftsätze im FG-Verfahren, Strategien gegen die Verwerfung von Rechtsbehelfen, AOStB 2001, 197; Hartmann, Wahren E-Mails an das BVerfG und an die Fachgerichte die Form?, NJW 2006, 1390; Krömker, Formunwirksamkeit einer Klageerhebung per E-Mail ohne qualifizierte Signatur, AO-StB 2011, 330; Loose, Die elektronische Klageerhebung – die Voraussetzungen und Risiken, AO-StB 2006, 206; Loose, Zulässigkeit einer per Email erhobenen Klage, EFG 2009, 1772; MellerHannich, Zur Übermittlung bestimmender Schriftsätze per Computerfax, EWIR 2001, 47; Müller, Die Container-Signatur zur Wahrung der Schriftform, NJW 2013, 3758; Nöcker, Die E-Mail im Einspruchs- und Klageverfahren, AO-StB 2007, 267; Pedak, Die ladungsfähige Anschrift im Klageverfahren vor dem Finanzgericht, StBp 2014, 107; Schmittmann, Verwendung moderner Kommunikationsmittel im finanzgerichtlichen Verfahren, StuB 2007, 43; Schneider/Hoffmann, Fehlende Unterschrift bei einer Klage, Stbg 2000, 171; Schoenfeld, Klageeinreichung in elektronischer Form, DB 2002, 1629; Siegers, Eigenhändige Unterschrift bei Übermittlung der Klage per ComputerFax, EFG 2001, 303; Späth, Ist die handschriftliche Unterzeichnung eines bestimmenden Schriftsatzes zwingendes Formerfordernis der Schriftlichkeit?, DStZ 1996, 323; Weigel, Die elektronische Klage, StBW 2013, 275.

1. Schriftform Die Klage ist schriftlich zu erheben (§ 64 Abs. 1 FGO). Diese Voraussetzung ist grundsätzlich nur dann erfüllt, wenn die Klage in einem Schriftstück niedergelegt und vom Kläger oder sei-

1 BFH v. 11.8.2010 – III S 19/10 (PKH), BFH/NV 2010, 2064; v. 29.2.2000 – V B 18/99, BFH/NV 2000, 983. 2 BFH v. 11.1.2013 – V S 27/42 (PKH), BFH/NV 2013, 945. 3 BFH v. 11.1.2013 – V S 27/42 (PKH), BFH/NV 2013, 945.

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3.30

Kap. 3 Rz. 3.31

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

nem Vertreter eigenhändig (handschriftlich) unterzeichnet ist.1 Nach ständiger Rechtsprechung soll die Schriftform gewährleisten, dass der Inhalt der Erklärung und die erklärende Person hinreichend zuverlässig festgestellt werden können. Des Weiteren soll das aus dem Schriftformerfordernis abgeleitete Gebot einer Unterschrift des Erklärenden sicherstellen, dass das Schriftstück keinen Entwurf betrifft, sondern mit Wissen und Wollen des Erklärenden an das Gericht gesandt wurde.2

3.31 Unterschreiben können nur natürliche Personen, nicht hingegen juristische Personen wie z. B. Aktiengesellschaften, GmbHs und Vereine. Für juristische Personen müssen ihre gesetzlichen Vertreter unterzeichnen. Wird deshalb am Ende der Klageschrift lediglich eine juristische Person angegeben, so fehlt die erforderliche Unterschrift. Es liegt keine wirksame Klageerhebung vor.

3.32 Die Schriftform ist gewahrt, wenn die Klageschrift von einem bevollmächtigten Vertreter, z. B. einem Steuerberater oder Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigtem unterschrieben wird. Lässt sich ein Kläger durch einen Bevollmächtigten vertreten, dann ist das Erfordernis der Eigenhändigkeit der Unterschrift nicht gewahrt, wenn der Bevollmächtigte mit dem Namen des Klägers unterschreibt und die Bevollmächtigung nicht aus der Klageschrift oder aus den dieser beigefügten Unterlagen ersichtlich ist.3 Die Unterschriftsleistung kann nach Ablauf der Klagefrist nicht mehr nachgeholt werden.

3.33 Ist die Klageschrift lediglich von einem Angestellten des Prozessbevollmächtigten unterzeichnet worden, dem seinerseits keine Vollmacht (auch keine Untervollmacht) erteilt worden ist – eine entsprechende Nachfrage des Gerichts wird z. B. durch die Unterzeichnung der Klageschrift mit dem Zusatz „im Auftrag“ hervorgerufen –, kann der Mangel in der Vertretung durch eine spätere Genehmigung seitens des Prozessbevollmächtigten oder des Klägers persönlich geheilt werden.4 Dies geschieht „automatisch“ dadurch, dass spätere Schriftsätze vom Prozessbevollmächtigten selbst unterzeichnet sind.

3.34 Von einer Unterschrift kann nur dann ausgegangen werden, wenn es sich um einen die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden individuellen Schriftzug handelt, der nach dem Schriftbild die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen lässt.5 Dazu gehörte bisher auch, dass mindestens einzelne Buchstaben zu erkennen sind, weil es sonst am Merkmal einer Schrift überhaupt fehlte. Eine Unterschrift ist von der älteren Rechtsprechung deshalb in folgenden Fällen nicht mehr anerkannt worden: – bei zwei gewellten Linien mit einem Punkt, selbst wenn sie über dem Wort „Steuerberater“ gezogen sind;6 1 BFH v. 3.5.2005 – X B 190/03, BFH/NV 2005, 1824 unter Berufung auf BFH v. 10.7.2002 – VII B 6/02, BFH/NV 2002, 1597. 2 GmS-OGB v. 30.4.1979 – GmS-OGB 1/78, NJW 1980, 172; BFH v. 22.6.2010 – VIII R 38/08, BStBl. II 2010, 1017. 3 BFH v. 3.5.2005 – X B 190/03, BFH/NV 2005, 1824 unter Berufung auf BFH v. 7.11.1997 – VI R 45/97, BStBl. II 1998, 54; v. 17.12.1998 – III R 87/96, BStBl. II 1999, 313. – § 126 BGB, der eine Unterschrift des Vertreters mit dem Namen des Vertretenen zulässt, ist wegen der Eigenständigkeit des Prozessrechts auf Prozesshandlungen weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. 4 BFH v. 28.2.2000 – IX B 143/99, BFH/NV 2000, 982. 5 BFH v. 2.8.2002 – IV R 14/01, BFH/NV 2002, 1604; v. 23.6.1999 – X R 113/96, BStBl. II 1999, 668. 6 BFH v. 30.5.1984 – I R 2/84, BStBl. II 1984, 669.

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B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.35 Kap. 3

– bei einer sog. Paraphe, d. h. bei Unterzeichnung mit erkennbar nur einzelnen Buchstaben oder einer abgekürzten Form des Namens,1 allerdings mit der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn diese Art der Unterzeichnung im Geschäftsverkehr, bei Behörden und in Gerichtsverfahren jahrelang ohne Beanstandungen verwendet worden ist; – bei einem Faksimile-Stempel;2 – bei einem handgeschriebenen Schriftzeichen, aus dem sich ein Buchstabe mit einem zusätzlichen Schnörkel erkennen lässt;3 – bei einem Zusatz auf einer Telekopie in Maschinenschrift „gez. …, Rechtsanwalt“.4 Inzwischen scheint die Rechtsprechung hier aber großzügiger zu verfahren, obwohl die Wirksamkeit einer Unterschrift unter einer Prozesserklärung bedauerlicherweise im Ergebnis immer noch nicht absehbar und nach wie vor ein recht unerfreuliches Thema ist. Dem Schriftformerfordernis ist nur entsprochen, wenn das Schriftstück eigenhändig, d. h. mit einem die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden, individuellen Schriftzug handschriftlich unterzeichnet ist.5 Der Name muss nicht voll ausgeschrieben oder lesbar sein; der individuell gestaltete Schriftzug muss aber die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen lassen, auch wenn er nur flüchtig geschrieben ist.6 Es reicht aus, wenn sich aus dem Namenszug, jedenfalls in Zusammenschau mit der maschinenschriftlichen Wiederholung des Namens unter der Unterschrift, mindestens einzelne Buchstaben erkennen lassen und es sich eindeutig um die Wiedergabe eines Namens und nicht nur eines bloßen Namenszeichens (Paraphe) oder eines einzigen Buchstabens handelt. Jedenfalls soll inzwischen bei gesicherter Urheberschaft ein großzügiger Maßstab7 anzulegen sein. Erforderlich, aber auch genügend ist, dass der Schriftzug, der individuelle und entsprechend charakteristische Merkmale aufweisen muss, die die Nachahmung erschweren, sich als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt, selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist.8 Unter diesen Voraussetzungen kann selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer Namenszug als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei insbesondere von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt.9 Also: Nicht die Lesbarkeit oder die Ähnlichkeit des handschriftlichen Gebildes mit den Namensbuchstaben ist entscheidend, sondern es kommt darauf an, ob der Name vollständig, wenn auch nicht unbedingt lesbar, wiedergegeben wird; ein Schriftzug, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild eine bewusste und gewollte Namensabkürzung (Handzeichen, Paraphe) darstellt, genügt hingegen den an eine eigenhändige Unterschrift zu stellenden Anforderungen nicht.10

1 2 3 4 5 6 7

BFH v. 16.3.1999 – X R 41/96, BStBl. II 1999, 565. BFH v. 7.8.1974 – II R 169/70, BStBl. II 1975, 194. BFH v. 8.10.1991 – IX R 48/91, BFH/NV 1992, 188. BFH v. 10.7.2002 – VII B 6/02, BFH/NV 2002, 1597. BFH v. 19.12.2012 – I R 81/11, BFH/NV 2013, 698 m. w. N. BFH v. 19.12.2012 – I R 81/11, BFH/NV 2013, 698. BFH v. 26.6.2014 – X B 215/, BFH/NV 2014, 1568; v. 19.12.2012 – I R 81/11, BFH/NV 2013, 698. 8 BFH v. 26.6.2014 – X B 215/, BFH/NV 2014, 1568. 9 BFH v. 26.6.2014 – X B 215/, BFH/NV 2014, 1568. 10 BFH v. 26.6.2014 – X B 215/, BFH/NV 2014, 1568.

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3.35

Kap. 3 Rz. 3.36

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.36 Die Schriftform soll sicherstellen, dass ein Schriftsatz vom Absender stammt und es sich nicht um einen Entwurf handelt, der an das Gericht geschickt worden ist.

3.37 Die vorstehenden Beispiele machen deutlich, dass die Klageschrift, sofern nicht im Hinblick auf neuere moderne Kommunikationsmittel eine eigenhändige Unterschrift entbehrlich ist (z. B. bei Klageerhebung per Computerfax oder per E-Mail) immer eigenhändig zu unterschreiben ist und dass hieraus in der Praxis der Rechtsprechung unverständlicherweise immer noch Probleme gemacht werden. Bei der Unterzeichnung der Klageschrift sollte in der Praxis deshalb zur Vermeidung von Rechtsnachteilen unbedingt darauf geachtet werden, dass die Unterschrift auf jeden Fall als solche lesbar ist. Denn: Enthält die Klageschrift keine Unterschrift bzw. keine wirksame Unterschrift, kann die Unterschriftsleistung rechtswirksam nur bis zum Ablauf der Klagefrist nachgeholt werden. Liegt eine wirksame Unterschrift bis zum Ablauf der Klagefrist nicht vor, so ist keine rechtswirksame Klage erhoben worden mit der Folge, dass die angegriffenen Bescheide bestandskräftig geworden sind.1 In diesem Fall kann sich der Prozessvertreter schadensersatzpflichtig machen.

3.38 Von einer schriftlichen Klageerhebung kann ausnahmsweise auch ohne eigenhändige Unterzeichnung der Klageschrift dann ausgegangen werden, – wenn der nicht unterzeichneten Klageschrift ein handschriftlich unterzeichnetes Schriftstück, insbesondere ein Anschreiben oder eine Abschrift der Klage beigefügt ist,2 – wenn aus dem betreffenden Schriftsatz und ggf. beigefügten weiteren Unterlagen hinreichend sicher auf die Urheberschaft geschlossen werden kann und außerdem der Briefumschlag, der die maßgebenden Schriftstücke enthält, vom Verfasser handschriftlich mit der Absenderangabe versehen ist.3

3.39 So wird der Mangel der Unterschrift z. B. dadurch geheilt, dass der Klage eine vom Kläger unterzeichnete Vollmacht beigefügt wird, die sich auf dieselben Steuerarten und dieselben Veranlagungszeiträume bezieht. Denn Verfahrensvorschriften sind im Zweifel so auszulegen, dass sie – wenn irgendwie vertretbar – eine Entscheidung der materiellen Rechtsfrage ermöglichen; es muss allerdings feststehen, dass es sich bei dem Schriftstück nicht um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Wollen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist.4

3.40 Darüber hinaus bedarf es nach ständiger Rechtsprechung keiner eigenhändigen Unterschrift, wenn der jeweilige bestimmende Schriftsatz durch Telegramm, Fernschreiber, Telebrief, Telekopie oder Bildschirmtextmitteilung übermittelt wird.5 Auch die Übermittlung der Klageschrift per Computerfax ist ohne Unterschrift wirksam, weil bei dieser Form auf der Seite des Absenders kein körperliches Schriftstück existiert. Infolgedessen genügt es für die Wirksamkeit einer derart erhobenen Klage, dass sich aus dem Schriftsatz selbst oder den Begleitumständen die Urheberschaft und der Wille, das Schriftstück in den Verkehr zu bringen, hinreichend sicher ergeben.6

1 2 3 4

BFH v. 29.8.1969 – III R 86/68, BStBl. II 1970, 89. BFH v. 5.11.1973 – GrS 2/72, BStBl. II 1974, 242; v. 6.6.2005 – X B 56/05, n. v. BFH v. 1.12.1989 – VI R 57/86, BFH/NV 1990, 586. BFH v. 26.6.2014 – X B 215/, BFH/NV 2014, 1568; v. 28.9.1995 – IV R 76/94, BFH/NV 1996, 332. 5 BFH v. 22.6.2010 – VIII R 38/08, BStBl. II 2010, 1017 m. w. N. 6 BFH v. 22.6.2010 – VIII R 38/08, BStBl. II 2010, 1017 m. w. N.

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B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.47 Kap. 3

Eine eingescannte Unterschrift erfüllt schon nach der früheren Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (GemSOBG) das Schriftformerfordernis.1

3.41

2. Sonderfälle der Schriftform a) Telegramm und Telebrief Von den Möglichkeiten, eine Klage durch Telegramm2 oder Telebrief3 zu erheben, wird im Hinblick auf die neueren technischen Kommunikationsmittel in der Praxis kein Gebrauch mehr gemacht. Die vom Gesetz geforderte Schriftform gilt jedenfalls auch in diesen Fällen als gewahrt.

3.42

b) Telefax Die Klage kann auch wirksam per Telefax erhoben werden, d. h. auch bei einer Übermittlung der Klageschrift im Telefax-Verfahren direkt an das Gericht ist die Schriftform gewahrt, wenn die Kopiervorlage erkennbar ordnungsgemäß unterschrieben worden ist.4 Diese Möglichkeit ist an sich unproblematisch, weil die unterschriebene Originalklageschrift die Kopiervorlage ist, die auf diesem Wege als Kopie an das Finanzgericht übermittelt wird. Ein weiteres Anschreiben ist nicht erforderlich.

3.43

Das Fehlen der Unterschrift ist unschädlich, wenn das Telefaxformblatt unterschrieben ist, mit der Klageschrift eine Einheit bildet, die Person des Absenders vollständig bezeichnet und kein Zweifel daran besteht, dass die Kopiervorlage ordnungsgemäß eigenhändig unterzeichnet wurde.5

3.44

Häufig wird dann noch die Originalklageschrift auf dem Postweg an das Gericht übersandt, z. B. wenn dann noch zahlreiche Anlagen beigefügt werden, die vorher nicht gefaxt worden sind.

3.45

Wird die Klageschrift zunächst per Telefax an das Gericht geschickt und wird anschließend die Originalklageschrift nochmals auf dem Postweg übersandt, so empfiehlt es sich, das Telefax mit einem Zusatz wie „vorab per Fax“ zu versehen, damit die Klage bei Gericht nicht zweimal – ggf. mit Kostenfolgen – erfasst wird.

3.46

c) Computerfax Die Klage kann auch wirksam durch Computerfax – ohne eigenhändige Unterschrift – an das Finanzgericht übermittelt werden.6 Dabei muss in der Klageschrift die Person des Erklä1 BFH v. 22.6.2010 – VIII R 38/08, BStBl. II 2010, 1017 unter Berufung auf den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 2340. 2 S. z. B. BFH v. 14.6.1985 – III R 265/84, BStBl. II 1985, 522. 3 Vgl. BFH v. 10.3.1982 – I R 91/81, BStBl. II 1982, 573. 4 BFH v. 22.6.2010 – VIII R 38/08, BStBl. II 2010, 1017 m. w. N.; v. 19.5.2000 – VIII B 13/00, BFH/ NV 2000, 1358. 5 BFH v. 22.6.2010 – VIII R 38/08, BStBl. II 2010, 1017; v. 31.3.2000 – VII B 87/99, BFH/NV 2000, 1224. 6 BVerfG v. 4.7.2002 – 2 BvR 2168/00, NJW 2002, 3534; BFH v. 4.9.2000 – III B 41/00, BFH/NV 2001, 231.

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3.47

Kap. 3 Rz. 3.48

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

renden dadurch hinreichend bestimmt sein, dass am Ende des Schriftstücks, wenn nicht eine Unterschrift eingescannt wird,1 der gedruckte Name enthalten und der Hinweis angebracht ist, dass der benannte Urheber wegen der gewählten Übertragungsform nicht eigenhändig zu unterzeichnen vermag.2 Auch bei einer Klageerhebung per Computerfax genügt nicht die Angabe des Firmennamens; es ist die – gedruckte – Unterschrift des gesetzlichen Vertreters erforderlich.3 Beispiel: (1) Die „X-GmbH, Geschäftsführer Peter Meier“ erhebt Klage gegen den Körperschaftsteuerbescheid 00 durch ein Computerfax: Dieses ist am Schluss nur mit der Firmenbezeichnung der Gesellschaft (Einzelhandel-X-GmbH) versehen. Die Klage ist nicht wirksam erhoben worden. Es fehlt an einer Unterzeichnung der Klageschrift. (2) Die Klageschrift müsste vielmehr den zusätzlich den Namen des Geschäftsführers enthalten und den Hinweis auf darauf, dass im Hinblick auf die gewählte Übertragungsform per Computerfax eine eigenhändige Unterschrift nicht möglich ist, damit die Klageerhebung wirksam ist. Also: … Mit freundlichen Grüßen Einzelhandel-X-GmbH Peter Meier Hinweis: Eine eigenhändige Unterschrift ist wegen der gewählten Übertragungsform per Computerfax nicht möglich.

d) E-Mail Literatur: Henning, Neue Rechtsbegriffe im Zustellungsrecht, NJW 2017, 2713; Jost/Kempe, E-Justice in Deutschland, NJW 2017, 2705; Kesper/Ory, Der zeitliche Fahrplan zur Digitalisierung von Anwaltschaft und Justiz, NJW 2017, 2709.

3.48 Im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs muss ein elektronisch erstelltes Dokument und damit auch eine Klage nicht mehr ausgedruckt und per Post oder als Fax versendet werden, sondern das elektronische Dokument kann unmittelbar an das Gericht gesendet werden.4 Dabei ist zu beachten, dass im Gerichtsverfahren elektronische Dokumente, die einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleich stehen, mit einer besonderen Form der „elektronischen Unterschrift“ versehen werden müssen, einer so genannten qualifizierten 1 Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 234. 2 So ausdrücklich BVerfG v. 4.7.2002 – 2 BvR 2168/00, NJW 2002, 3534 unter Hinweis auf den Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 2340. 3 Vgl. BFH v. 4.9.2000 – III B 41/00, BFH/NV 2001, 321; v. 5.9.2008 – V B 43/08, BFH/NV 2009, 39. 4 Zur Regelung des elektronischen Rechtsverkehrs haben Bund und Länder zahlreiche Gesetze und Verordnungen erlassen, die den elektronischen Informationsaustausch regeln. Auf Bundesebene ist 2013 das wichtige „Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ (ERV-Gesetz) in Kraft getreten. Hiervon war auch die FGO betroffen. Durch das am 12.7.2017 verkündete „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs“ (BGBl. I 2017, 2208) wurden in Art. 22 noch diverse Änderungen in der FGO vorgenommen. Der elektronische Rechtsverkehr soll für Anwaltschaft und Behörden ab dem 1.1.2022 bindend werden (§ 52d FGO). Gleiches gilt nach § 52d Satz 2 FGO für die nach der FGO vertretungsberechtigten Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg zur Verfügung steht.

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B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.51 Kap. 3

elektronischen Signatur.1 Dies ist ein elektronisches Verfahren, das sicherstellt, dass ein im elektronischen Rechtsverkehr übermitteltes Dokument von einem bestimmten Absender stammt und unverfälscht übermittelt wurde. Für eine solche qualifizierte elektronische Signatur benötigt der Bevollmächtigte eine entsprechende Signatursoftware und eine Signaturkarte. Einzelheiten hierzu können auf den Internetseiten der am elektronischen Rechtsverkehr beteiligten Gerichte abgefragt werden.2 Die Möglichkeit der Übermittlung elektronischer Dokumente an die Finanzgerichte regelt § 52a FGO. Voraussetzung für eine elektronische Klageerhebung ist, dass für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich eine Rechtsverordnung erlassen worden ist, in der die Art und Weise der Dokumentenübermittlung genau festgelegt ist. Für den elektronischen Rechtsverkehr mit dem BFH gibt es eine solche Rechtsverordnung.3 Für den mit den Finanzgerichten kann der Stand betr. die einzelnen Gerichte im Internet auf den Homepages der einzelnen Gerichte abgerufen werden.4 Solche Rechtsverordnungen, die Ländersache sind, existieren inzwischen für alle Bundesländer; nahezu alle Finanzgerichte nehmen inzwischen auch am elektronischen Rechtsverkehr teil.

3.49

Nach § 52a Abs. 3 FGO ist das Dokument ab dem 1.1.2018 zwingend mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz (SigG)5 zu versehen oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg einzureichen. Ihrer Rechtsnatur nach ist die Signatur ein Funktionsäquivalent zur eigenhändigen Unterschrift.6 Gem. § 2 Nr. 1 SigG sind „elektronische Signaturen“ i. S. dieses Gesetzes Daten in elektronischer Form, die anderen elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit ihnen verknüpft sind und die zur Authentifizierung dienen.7 Dementsprechend hat auch der BFH die elektronische Signatur für erforderlich gehalten, selbst wenn der Aussteller des Schriftsatzes feststeht und sicher ist, dass das Schreiben wissentlich in den Verkehr gegeben worden ist und es sich nicht nur um einen Entwurf handelt.8

3.50

„Sicherer Übermittlungsweg“ bedeutet dabei nicht die technische Sicherheit – beispielsweise gegenüber Angriffen Dritter oder eine besondere Ausfallsicherheit –, sondern beschrieben ist hiermit die durch den Übertragungsweg gegebene Authentifizierung des Absenders der Nachricht.9 Da schon der Übertragungsweg hinreichende Auskunft über die Identität des Absenders und des Nachrichtenurhebers gibt, kann bei der Nutzung eines sicheren Übermittlungswegs deshalb konsequenterweise auf die qualifizierte elektronische Signatur ver-

3.51

1 Zum Einspruchsverfahren s. Rz. 2.92. Für die Einlegung des Einspruchs per E-Mail ist eine qualifizierte elektronische Signatur nicht erforderlich. 2 Z. B. www.fg-koeln.nrw.de oder www.fg-duesseldorf.nrw.de, jeweils zum Stichwort „Elektronischer Rechtsverkehr“. 3 Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesverwaltungsgericht und beim Bundesfinanzhof vom 26.11.2004, BGBl. I 2004, 3091; geändert durch Verordnung zur Änderung der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesverwaltungsgericht und beim Bundesfinanzhof vom 10.12.2015, BGBl. I 2015, 2207. 4 www.egvp.de/gerichte/index.php. 5 V. 16.5.2001, BGBl. I 2001, 876; vgl. auch die Signaturverordnung v. 16.11.2001, BGBl. I 2001, 3074. 6 Roßnagel, Recht der Multimedia-Dienste, 1999, § 2 SigG Rz. 25. 7 BFH v. 18.10.2006 – XI R 22/06, BStBl. II 2007, 276. 8 BFH v. 28.7.2011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925 mit kritischer Besprechung von Krömker, AOStB 2011, 330. 9 Henning, NJW 2017, 2713.

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Kap. 3 Rz. 3.52

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

zichtet werden. § 52a Abs. 4 FGO benennt ab dem 1.1.2018 verschiedene gesetzlich definierte sichere Übermittlungswege: – die absenderauthentifizierte De-Mail (Nr. 1), – das besondere elektronische Anwaltspostfach (Nr. 2), – das besondere Behördenpostfach (Nr. 3), – sonstige bundeseinheitliche Übermittlungswege, die durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats festgelegt werden (Nr. 4). Wie die Rechtsprechung zukünftig mit Verstößen gegen die jeweiligen Verpflichtungen umgehen wird, ist noch nicht abzusehen; sicherer ist es jedenfalls, sich auch dort gesetzeskonform zu verhalten, wo keine explizite Sanktion in das Gesetz aufgenommen wurde. In der Praxis ist zu beachten, dass durch den „sicheren Übermittlungsweg“ die übrigen Vorteile der qualifizierten elektronischen Signatur – insbesondere der Schutz vor nachträglicher Manipulation, aber auch die Verschlüsselung der Datei – nicht ersetzt werden. Ratsam ist es deshalb im Zweifel, auch bei Benutzung eines sicheren Übermittlungswegs nicht auf einen wirksamen Schutz des Dokuments durch die qualifizierte elektronische Signatur zu verzichten.1

3.52 Entspricht die elektronisch eingelegte Klage nicht den Anforderungen des § 52a Abs. 1 und 2 FGO,2 weil es ersichtlich an der qualifizierten elektronischen Signatur nach § 2 Nr. 3 SigG bzw. an der Einhaltung eines anderen sicheren Verfahrens fehlt, das die Authentizität und die Integrität des übermittelten elektronischen Dokuments sicherstellt, so ist die Klage nicht wirksam erhoben und damit unzulässig.3 Hierauf wird auf den Homepages der Finanzgerichte ausdrücklich hingewiesen.4 e) Fazit

3.53 Im Hinblick auf die immer noch nicht absehbare Auslegung, wann überhaupt eine Unterschrift vorliegt, und das in § 52a FGO geregelte Signaturerfordernis kann für die Praxis nur empfohlen werden, bei einem bestimmenden Schriftsatz, insb. bei Klageschriften, das Originalschriftstück nach wie vor eigenhändig und auch lesbar zu unterschreiben und dem Gericht zur Fristwahrung mit dem Hinweis „vorab per Fax“ per Faxübertragung zuzuleiten und das Original per Briefpost nachzusenden.5 Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes wäre es wünschenswert, auf das Erfordernis einer eigenhändigen Unterschrift und die sie ersetzende elektronische Signatur zu verzichten, wenn sich aus den Umständen keine Zweifel an der Absenderidentität und am Bekanntgabewillen aufdrängen.

3.54–3.56

Einstweilen frei.

1 S. Henning, NJW 2017, 2713; Müller, eJustice-Praxishandbuch, S. 84. 2 Zu Einzelheiten zu dem beim BFH zu benutzenden Verfahren s. auf den Internetseiten des BFH www.bundesfinanzhof.de, Stichwort „Elektronischer Rechtsverkehr“. 3 BFH v. 28.7.2011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925; v. 14.9.2005 – VII B 138/05, BFH/NV 2006, 104; Stapperfend in Gräber, § 52a FGO Rz. 4 ff. 4 Z.B. fg-koeln.nrw.de. 5 Ebenso Krömker, AO-StB 2011, 330.

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B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.61 Kap. 3

III. Erhebung der Klage Literatur: Offerhaus, Einreichung der Steuererklärung ist keine Klageerhebung, StBp 1989, 240; Rund, Der fristwahrende Klageschriftsatz, AO-StB 2001, 26.

1. Adressat Die Klage ist bei dem Gericht zu erheben (§ 64 Abs. 1 FGO). Die Anbringung der Klage bei einer hierfür zuständigen Behörde (z. B. FA) wahrt die Klagefrist (vgl. § 47 Abs. 2 FGO – s. Rz. 3.532), stellt aber noch keine Klageerhebung dar. Die Klage wird vielmehr erst mit dem Eingang beim Finanzgericht rechtshängig.1

3.57

Gericht in diesem Sinne ist das sachlich und örtlich zuständige Gericht. Richtet sich die Klage gegen einen Verwaltungsakt, kann der Kläger das zuständige Gericht und dessen Anschrift der Rechtsbehelfsbelehrung entnehmen.

3.58

Soweit der Finanzrechtsweg gegeben ist, sind grundsätzlich in der ersten Instanz die Finanzgerichte zuständig. Örtlich zuständig ist dabei grundsätzlich das Finanzgericht, in dessen Bezirk die beklagte Behörde ihren Sitz hat (§ 38 Abs. 1 FGO – Behördenprinzip). Die Zuständigkeit richtet sich danach, gegen welche Behörde die Klage tatsächlich gerichtet worden ist. Die örtliche Zuständigkeit des Finanzgerichts wird durch eine nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt. Es ist daher für ein beim örtlich zuständigen Finanzgericht eingeleitetes Verfahren unerheblich, wenn der Kläger während des Prozesses seinen Wohnsitz verlegt.2

3.59

Nach § 38 Abs. 2 FGO gibt es von der Grundregel eine Ausnahme: Ist die beklagte Behörde eine oberste Finanzbehörde des Bundes oder eines Landes, so ist das Finanzgericht zuständig, in dem der Kläger seinen Wohnsitz (§ 8 AO), seine Geschäftsleitung (§ 10 AO) oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) hat. Dieses sog. Wohnsitzprinzip gewährleistet für den Steuerpflichtigen einen ortsnahen Rechtsschutz und entlastet gleichzeitig das für den Sitz der obersten Finanzbehörde zuständige Finanzgericht.3

3.60

Das Wohnsitzprinzip gilt nach § 38 Abs. 2a FGO4 auch seit dem 1.5.2013 für Angelegenheiten des Familienleistungsausgleichs, also in Kindergeldsachen. Diese Vorschrift wurde als Reaktion auf die Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit im Bereich der Familienkassen, die mit einer deutlichen Reduzierung der Zahl der örtlichen Familienkassen verbunden war, eingeführt.5 Hierdurch sollten für die Kläger nähere Anfahrtswege geschaffen werden. Unsicherheit besteht derzeit, ob dies entsprechend auch dann gilt, wenn eine juristische Person Klage erhebt,6 da in § 38 Abs. 2a FGO nur von Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt des Klägers die Rede ist.

3.61

1 BFH v. 9.2.2001 – II B 10/99, BFH/NV 2001, 935. 2 BFH v. 29.6.2015 – III S 12/15, BFH/NV 2015, 1421; v. 26.11.2009 – III B 10/08, BFH/NV 2010, 658; Brandis in Tipke/Kruse, § 70 FGO Rz. 4. 3 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 38 FGO Rz. 2. 4 Eingefügt durch das EGMR-Kostenhilfegesetz v. 20.4.2013, BGBl. I 2013, 829. 5 Wendt, Anm. zum Nds. FG v. 23.3.2015 – 14 K 93/14, EFG 2015, 1291; Brandis in Tipke/Kruse, § 38 FGO Rz. 4. 6 Bejahend Nds. FG v. 23.3.2015 – 14 K 93/14, EFG 2015, 1290 mit Anm. Wendt; Brandis in Tipke/ Kruse, § 38 FGO Rz. 4; Herbert in Gräber, § 38 FGO Rz. 16; verneinend FG Düsseldorf v. 9.4.2014

Schaumburg

103

Kap. 3 Rz. 3.62

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

2. Klageerhebung

3.62 Die Klage ist bei Gericht erhoben, wenn sie diesem zugegangen ist. Dieser Zeitpunkt ist wichtig für die Frage, ob die Klagefrist (§ 47 FGO) noch gewahrt worden ist.

3.63 Wird die Klage beim Finanzgericht zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben, ist sie in dem Zeitpunkt zugegangen, in dem der Kläger das Protokoll des Urkundsbeamten genehmigt. Die Protokollierung durch einen Richter des Gerichts ist ebenfalls wirksam.1

3.64 Wird Klage durch Einreichung eines Schriftsatzes erhoben, liegt ein Zugang erst in dem Zeitpunkt vor, in dem die Klageschrift tatsächlich in den Verfügungsbereich des Gerichts gelangt.2 Damit ist eine telefonische Klageerhebung nicht möglich, auch wenn das Telefonat vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle aufgenommen wird.3

3.65 Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine per Telefax übermittelte Klage bei störungsfreier Übermittlung dem Gericht erst dann zugegangen, wenn die Klageschrift innerhalb der Klagefrist von dem Empfangsgerät vollständig, d. h. einschließlich der Seite, welche die Unterschrift trägt, aufgezeichnet worden ist.4 Für den Zugang kommt es also allein auf den vollständigen Empfang (Speicherung) der gesendeten technischen Signale im Telefaxgerät des Gerichts an. Der Zeitpunkt des Ausdrucks5 des empfangenen Schriftsatzes ist unerheblich.6 Wird eine Klage am letzten Tag der Klagefrist per Telefax erhoben, so sollte mit der Übermittlung in der Praxis so rechtzeitig begonnen werden, dass unter gewöhnlichen Umständen mit ihrem Abschluss noch bis 24.00 Uhr gerechnet werden kann.7 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Belegung des gerichtseigenen Telefaxanschlusses durch andere eingehende Sendungen häufig vorkommt. Dem muss durch einen zeitlichen „Sicherheitszuschlag“ über die zu erwartende Übermittlungsdauer hinaus Rechnung getragen werden.8 Der BFH hält hier eine Größenordnung von zusätzlich 20 Minuten für angemessen.9

3.66 Wird die Klage per E-Mail mit qualifizierter elektronischer Signatur erhoben, so ist das elektronische Dokument eingegangen, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist (§ 52a Abs. 5 Satz 1 FGO). Dem Absender ist dann eine automatisierte Bestätigung über den Zeitpunkt des Eingangs zu erteilen (§ 52a Abs. 5 Satz 2 FGO). Abschriften für die übrigen Beteiligten müssen in diesen Fällen nicht beigefügt werden (§ 52a Abs. 5 Satz 3 FGO). Ist das elektronische Dokument für die Bearbeitung durch das Gericht nicht geeignet, so hat das Gericht dies dem Absender unter Hinweis auf die Un-

1 2 3 4 5 6 7 8 9

– 13 K 582/14 Kg n. v. und v. 27.4.2015 – 13 K 1059/15 Kg; v. 17.6.2014 – 13 K 1521/14, n. v. (erwähnt in der vorgenannten Anm. Wendt). BFH v. 20.7.2012 – VII R 12/10, BFH/NV 2012, 1845; Brandis in Tipke/Kruse, § 64 FGO Rz. 10. BVerfG v. 7.5.1991 – BvR 215/90, NJW 1991, 2076. BFH v. 10.7.1964 – III 120/61 U, BStBl. III 1964, 590; Herbert in Gräber, § 64 FGO Rz. 28. BFH v. 21.8.2012 – X B 6, 7/12, BFH/NV 2013, 385; v. 28.1.2010 – VIII B 88/09, BFH/NV 2010, 919. So aber noch die inzwischen aufgegebene Rspr., z. B. BFH v. 25.11.2003 – I R 9/03, BFH/NV 2004, 519; v. 5.11.2003 – B 99-101/03, BFH/NV 2004, 358. So ausdrücklich BGH v. 25.4.2006 – IV ZB 20/05, NJW 2006, 2263; nunmehr ebenfalls BFH v. 21.8.2012 – X B 6, 7/12, BFH/NV 2013, 385; v. 28.1.2010 – VIII B 88/09, BFH/NV 2010, 919. BVerfG v. 1.8.1996 – 1 BvR 121/95, NJW 1996, 2857. BVerfG v. 21.6.2001 – 1 BvR 436/01, NJW 2001, 3473; BVerfG v. 19.11.1999 – BvR 565/98, NJW 2000, 574. BFH v. 8.10.2015 – VII B 147/14, BFH/NV 2016, 214.

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Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.70 Kap. 3

wirksamkeit des Eingangs und die geltenden technischen Rahmenbedingungen unverzüglich mitzuteilen (§ 52a Abs. 6 Satz 1 FGO). Sofern der Absender das Schriftstück dann in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt, gilt das nunmehr eingereichte Dokument als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen (§ 52a Abs. 6 Satz 2 FGO). Mit dieser ab dem 1.1.2018 eingeführten Neuregelung wird den doch recht verwirrenden technischen Besonderheiten Rechnung getragen. Geht die Klage verspätet ein, so kann dies zur Haftung des Beraters führen, sofern ihn hieran ein Verschulden trifft und dadurch ein Schaden entstanden ist, weil die Klage Erfolg gehabt hätte.

3.67

3. Verfahrenshandlung Von einer Klage kann nur dann gesprochen werden, wenn der Wille des Steuerpflichtigen oder seines Bevollmächtigten, Klage zu erheben, klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird. Es ist allerdings unschädlich, wenn der Ausdruck „Klage“ nicht gebraucht wird, sofern nur der Wille, eine Entscheidung des Gerichts herbeizuführen, auf andere Weise hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass der Schriftsatz an das Gericht adressiert wird.

3.68

Eine vorsorglich erhobene Klage ist uneingeschränkt wirksam.1 Aus der Klageschrift muss sich aber die unbedingte Anrufung des Gerichts zum Zwecke förmlicher Rechtsschutzgewährung entnehmen lassen.2 Die Klageerhebung darf nicht von einer Bedingung, d. h. von dem Eintritt eines zukünftigen ungewissen Ereignisses, abhängig gemacht werden. Bei einer bedingten Klageerhebung ist die Klage als unzulässig abzuweisen.3 Die Erhebung einer Klage „falls aus zeitlichen Gründen eine Änderung nicht mehr durchgeführt werden kann“ steht unter einer außerprozessualen Bedingung, so dass der erforderliche unbedingte Wille zur Klageerhebung fehlt und die Klage unzulässig ist.4

3.69

Der einem Antrag auf Prozesskostenhilfe üblicherweise beigefügte Entwurf einer Klageschrift ist nicht als wirksam erhobene Klage abzusehen.5 Ebenso ist eine bedingte Klageerhebung für den Fall der Gewährung von Prozesskostenhilfe im finanzgerichtlichen Verfahren unzulässig.6 Allerdings ist in diesen Fällen nach Gewährung der Prozesskostenhilfe auf Antrag des Klägers regelmäßig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, so dass für die Frage der Bewilligung der Prozesskostenhilfe immer von einer zulässigen Klage auszugehen ist. Zulässig ist jedoch auch der isolierte Prozesskostenhilfeantrag vor Klageerhebung, in dem die Klageerhebung erst nach der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag in Aussicht gestellt wird. Insoweit hat das Gericht aufgrund der ihm vorliegenden Schriftstücke ggf. im Wege der Auslegung zu entscheiden, was der Kläger letztlich begehrt.7

3.70

1 2 3 4 5 6

Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 4. BFH 3.2.2005 – II B 304/03, BFH/NV 2005, 1111. BFH v. 19.3.2014 – VII B 166/13, juris. BFH v. 24.2.2010 – III B 13/09, BFH/NV 2010, 931. BFH v. 19.3.2014 – VII B 166/13, juris. Vgl. hierzu z. B. BFH v. 19.11.1985 – VII B 103/85, BFH/NV 1986, 180; v. 3.4.1987 – VI B 150/85, BStBl. II 1987, 573; v. 3.2.2005 – VII B 304/03, BFH/NV 2005, 1111; a. A. BFH v. 24.8.2001 – VI S 5/01, n. v. 7 Vgl. dazu vor allem FG Münster v. 17.8.2006 – 14 S 1430/06 PKH, EFG 2006, 1688; FG Düsseldorf v. 6.8.2007 – 18 Ko 2303/07 GK, EFG 2008, 78.

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Kap. 3 Rz. 3.71

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.71 Eine bedingte – unzulässige – Klage löst Gerichtskosten aus. Eine gerichtsgebührenfreie Klagerücknahme ist nicht möglich. Die mit der Klageerhebung entstehende, einheitliche Verfahrensgebühr in Höhe einer vierfachen Gebühr ermäßigt sich lediglich im Falle einer Klagerücknahme auf die zweifache Gebühr (§ 3 Abs. 2 GKG i. V. m. Nr. 6110 und 6011 Kostenverzeichnis – KV), so dass die Klagerücknahme nach einem entsprechenden Hinweis des Gerichts in der Praxis immer noch günstiger ist, als eine Entscheidung abzuwarten.

3.72 Eine solche – da bedingt – unzulässige Klage lässt sich vermeiden. Denn es ist im finanzgerichtlichen Verfahren möglich, innerhalb der Klagefrist lediglich einen isolierten – ordnungsgemäßen – Prozesskostenhilfeantrag zu stellen, über den gerichtsgebührenfrei entschieden wird. Es sollte in der Praxis darauf geachtet werden, dass dem Prozesskostenhilfeantrag deshalb nur eine nicht unterschriebene und ausdrücklich als Entwurf gekennzeichnete Klageschrift beigefügt wird. Nach Erhalt des Beschlusses über die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist dann innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 FGO die Klage zu erheben und ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen. Ein Wiedereinsetzungsgrund liegt hier anerkanntermaßen vor (s. Rz. 3.579 Stichwort: Prozesskostenhilfe).

3.73–3.74

Einstweilen frei.

IV. Bezeichnung des Klägers Literatur: Gersch, Klagebefugnis und Klägerbezeichnung im Finanzgerichtsprozess, AO-StB 2003, 241; Hildebrand, „Falschbezeichnung des Geschäftsführers bei einer Klageerhebung durch die GmbH schadet zunächst nicht“, BB 2014, 2728; Hoffmann, Angabe der Anschrift des Klägers als Zulässigkeitsvoraussetzung, Anm. EFG 2007, 1264; Kempermann, Ladungsfähige Klägeranschrift als Zulässigkeitsvoraussetzung im Finanzrechtsstreit und Zivilprozess, Anm. HFR 2001, 252; Pedak, Die ladungsfähige Anschrift im Klageverfahren vor dem Finanzgericht, StBp 2014, 107.

3.75 Die Klage muss den Kläger bezeichnen (§ 65 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das bedeutet: Die Person des Klägers muss aus der Klage eindeutig und klar feststellbar sein. Dazu gehört auch die Angabe der ladungsfähigen Anschrift, und zwar auch dann, wenn der Kläger durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist.1

3.76 Hierdurch soll vor allem eine sachgerechte Prozessführung sichergestellt werden, wozu auch die eindeutige Identifizierung des Klägers gehört. Außerdem soll dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt werden, ggf. das persönliche Erscheinen vor Gericht anzuordnen und durchzusetzen. Die Verpflichtung zur Angabe der ladungsfähigen Anschrift besteht ausnahmsweise dann nicht, wenn die Erfüllung dieser Pflicht im Einzelfall unmöglich oder unzumutbar ist, etwa weil sich der Kläger der konkreten Gefahr einer Verhaftung aussetzen würde.2 Auch in diesem Fall muss die Identität des Klägers aber aufgrund anderer Umstände eindeutig feststehen und die Möglichkeit der Zustellung vor Schriftsätzen durch einen Zustellungs- oder Prozessbevollmächtigten sichergestellt sein.3 Die Pflicht zur Angabe der Wohnanschrift gilt wäh-

1 St. Rspr., vgl. BFH v. 4.5.2016 – V B 108/15, juris m. w. N.; v. 30.6.2015 – V B 28/15, BFH/NV 2015, 1423; v. 19.10.2000 – R 25/00, BStBl. II 2001, 112; v. 15.2.2002 – B 55/01, BFH/NV 2002, 800. 2 BFH v. 19.10.2000 – IV R 25/00, BStBl. II 2001, 112. 3 Vgl. dazu auch Hessisches FG v. 26.4.2007 – 3 K 1997/05, juris; FG Hamburg v. 19.4.2007 – 5 K 193/06, EFG 2007, 1263 mit Anm. Hoffmann, EFG 2007, 1264.

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Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.79 Kap. 3

rend des gesamten Verfahrens.1 Auch wenn der Kläger umzieht, muss er also dem Gericht seine neue Anschrift mitteilen. Die Angabe der ladungsmäßigen Anschrift ist regelmäßig unverzichtbar; andernfalls besteht die Gefahr, dass die Klage nach Fristsetzung nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO, die diesbezüglichen Angaben zu machen, als unzulässig abgewiesen wird. Auch der Prozessbevollmächtigte sollte entsprechend bezeichnet werden.

3.77

Beispiel: Klage des Hans Meier, X-Straße 23, 5… Köln (= Privatanschrift) – Klägers Prozessbevollmächtigter: Steuerberater Peter Müller, Y-Straße 100, 5… Köln (= Büroanschrift) gegen …

Problematischer ist jedoch die Frage, wer überhaupt richtiger Kläger und damit Beteiligter ist. Die Bezeichnung des Klägers in der Klageschrift ist für die Beteiligtenstellung nicht allein ausschlaggebend. Vielmehr kommt es darauf an, welcher Sinn der in der Klageschrift gewählten Parteibezeichnung bei objektiver Würdigung des Erklärungsinhalts beizulegen ist. In diese Beurteilung ist auch der im weiteren Verlauf des Verfahrens erfolgte Tatsachenvortrag mit einzubeziehen. Bei unrichtiger äußerer Bezeichnung ist grundsätzlich die Person als Partei anzusprechen, die erkennbar durch die Parteibezeichnung betroffen werden soll; die Klageschrift ist als Prozesshandlung auslegungsfähig.2 Dabei ist der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung zu berücksichtigen.3 Auch bei scheinbar eindeutiger Erklärung sind bei der Bestimmung des Klägers alle dem Finanzgericht als Empfänger der Klageschrift bekannten oder erkennbaren Umstände tatsächlicher oder rechtlicher Art zu berücksichtigen.4 Dabei ist im Allgemeinen nicht anzunehmen, dass eine Klage für jemanden erhoben wird, der nicht mehr existent ist.5 Im Hinblick darauf ist die Angabe eines durch Tod oder auch Umwandlung nicht mehr existierenden Rechtssubjekts als Kläger grundsätzlich unschädlich, so dass die Klage als vom Rechtsnachfolger erhoben anzusehen ist.6

3.78

In der Praxis ist dennoch besonders zu beachten:

3.79

– Die Person des Klägers sollte möglichst in der Klageschrift mit Namen, Beruf und Wohnanschrift im Verfahren aufgeführt werden. – Erhebt jemand als gesetzlicher Vertreter Klage für einen anderen (z. B. der vertretungsberechtigte Gesellschafter einer GmbH für die Gesellschaft), so muss erkennbar gemacht werden, dass der Betreffende für einen anderen auftritt und nicht eine Klage im eigenen Namen erhebt. – Sofern für den Kläger ein Prozessbevollmächtigter handelt, sollte auch dieser so genau wie möglich mit Namen, Beruf und Büroanschrift bezeichnet werden. Dies ist wichtig,

1 Vgl. dazu Hoffmann, EFG 2007, 1264. 2 BFH v. 6.5.1998 – B 108/97, BFH/NV 1999, 146. 3 BFH v. 7.10.2009 – VII B 26/09, BFH/NV 2010, 441; v. 29.1.2007 – IX B 181/05, BFH/NV 2007, 1511 m. w. N. 4 BFH v. 8.11.2005 – VIII B 3/96, BFH/NV 2006, 570 m. w. N. 5 BFH v. 14.11.1986 – III R 12/81, BStBl. II 1987, 178; v. 8.11.2005 – VIII B 3/96, BFH/NV 2006, 570 m. w. N. 6 BFH v. 8.11.2005 – VIII B 3/96, BFH/NV 2006, 570; Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 9.

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107

Kap. 3 Rz. 3.80

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

weil das Gericht gem. § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO Zustellungen und Mitteilungen an den Prozessbevollmächtigten zu richten hat, wenn ein solcher bestellt ist. – Im Zweifel sollten die im Rubrum der Einspruchsentscheidung benannten Personen in die Klägerbezeichnung so übernommen werden, wie sie dort bezeichnet sind. Damit ist der Kläger normalerweise zutreffend benannt.

3.80 Es ist ein Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, wenn das FG einen falschen Kläger annimmt und die an sich zulässige Klage durch Prozessurteil abweist.

V. Bezeichnung des Beklagten Literatur: von Bornhaupt, Zulässige Klage ohne ausdrückliche Bezeichnung des Beklagten, DStZ 1993, 254; Brandt, Zuständigkeit eines mit der Außenprüfung beauftragten Finanzamtes für Einsprüche gegen seine Prüfungsanordnung, StBp 2009, 115; Rosenke, Klageerhebung ohne Bezeichnung der beklagten Behörde, EFG 2011, 900; Valentin, Auslegung der Klage: Klarstellung der Beklagtenbezeichnung, EFG 2002, 37; Zimmermann, Unzulässigkeit einer Klage bei Angabe der richtigen Steuernummer und des falschen Finanzamtes, EFG 2004, 359.

3.81 Gem. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO muss die Klage auch den Beklagten bezeichnen. Wer der richtige Beklagte ist, ergibt sich aus § 63 FGO. Danach ist die Klage grundsätzlich gegen die Behörde zu richten, – die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat oder – die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat oder – der gegenüber die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird.

3.82 Ist vor Erlass der Entscheidung über den Einspruch eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden, so ist die Klage gem. § 63 Abs. 2 FGO zu richten – gegen die Behörde, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat; – wenn über einen Einspruch ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist (sog. Untätigkeitsklage i. S. des § 46 FGO), gegen die Behörde, die im Zeitpunkt der Klageerhebung für den Steuerfall örtlich zuständig ist.

3.83 Hat eine Behörde, die aufgrund gesetzlicher Vorschriften berechtigt ist, für die zuständige Behörde zu handeln, den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt, so ist die Klage gegen die zuständige Behörde zu richten (§ 63 Abs. 3 FGO). Dieser Fall ist in der Praxis von geringer Bedeutung.1

3.84 Gesetzlich nicht geregelt ist die Frage, welche Auswirkungen auf die Position des Beklagten ein Wechsel der Zuständigkeit während des finanzgerichtlichen Verfahrens hat. Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: 1 Vgl. im Einzelnen Brandis in Tipke/Kruse, § 63 FGO Rz. 8.

108

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B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.88 Kap. 3

– Ändern sich während des finanzgerichtlichen Verfahrens die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 17 ff. AO, z. B. wegen eines Wohnsitzwechsels des Klägers oder aufgrund einer Sitzverlegung, bleibt das bisher zuständige Finanzamt richtiger Beklagter.1 Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn das neu zuständige Finanzamt einen Änderungsbescheid erlassen hat und nunmehr über diesen Bescheid gestritten wird.2 – Ändert sich im Laufe des Verfahrens jedoch aufgrund eines Organisationsaktes (z. B. Gesetzesänderung, Änderung der Finanzamts-Bezirke) die Zuständigkeit des beklagten Finanzamts, so wird das nunmehr zuständige – neue – Finanzamt im Wege des gesetzlichen Beteiligtenwechsels Beklagter.3 Zur Bezeichnung der beklagten Behörde ist regelmäßig die Angabe der amtlichen Bezeichnung des betreffenden Finanzamts erforderlich. Soweit Abkürzungen verwendet werden, müssen diese aus sich heraus verständlich oder allgemein gebräuchlich sein. Regelmäßig genügt zur Bezeichnung des beklagten Finanzamts die Angabe des Ortes, an dem das Finanzamt seinen Sitz hat. Gibt es in einer Stadt mehrere Finanzämter, ist die genaue amtliche Bezeichnung erforderlich. Eine genaue Anschrift des beklagten Finanzamts braucht die Klageschrift nicht zu enthalten, wenn die Anschrift gerichtsbekannt ist. Hiervon kann bei Klagen gegen Finanzämter in aller Regel ausgegangen werden.

3.85

In Zweifelsfällen sollte sich der Kläger in der Praxis hinsichtlich der Bezeichnung der beklagten Behörde an die Angabe in dem angefochtenen Bescheid oder dem Ablehnungsbescheid halten.

3.86

Wird die falsche Behörde verklagt, ist die Klage unzulässig.4 Will der Kläger nach Klageerhebung eine Auswechslung der beklagten Behörde vornehmen, liegt eine sog. Klageänderung vor. Diese ist bei fristgebundenen Klagen – wie der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage – nur innerhalb der Klagefrist zulässig.5

3.87

Allerdings können Unklarheiten in der Bezeichnung des Beklagten im Wege der Auslegung im Laufe des Verfahrens berichtigt werden.6 Dabei ist im Zweifel davon auszugehen, dass die Klage den zutreffenden Beklagten als solchen bezeichnen will. Es reicht aus, wenn sich das beklagte Finanzamt z. B. durch die Bezeichnung der Steuernummer und/oder der Rechtsbehelfsnummer in der Klageschrift7 oder durch beigefügte Anlagen wie den angefochtenen Verwaltungsakt oder die Einspruchsentscheidung alsbald leicht und eindeutig bestimmen lässt.8

3.88

Beispiel9: S hat vom zuständigen Finanzamt Köln-Süd einen Einkommensteuerbescheid 00 erhalten, der nach seiner Auffassung eine überhöhte Einkommensteuerschuld ausweist. Nach erfolglosem Ein1 Vgl. BFH v. 2.12.2015 – I R 3/15, BFH/NV 2016, 939; v. 16.10.2002 – I R 17/01, BStBl. II 2003, 631 m. w. N. 2 BFH v. 25.1.2005 – I R 87/04, BStBl. II 2005, 575 in Einschränkung zur bisherigen Rechtsprechung (z. B. BFH v. 9.11.2004 – V S 21/04, BStBl. II 2005, 101). 3 BFH v. 2.12.2015 – I R 3/15, BFH/NV 2016, 939; v. 16.10.2002 – I R 17/01, BStBl. II 2003, 631 m. w. N. 4 BFH v. 13.5.2014 – XI B 129-132/13, BFH/NV 2014, 1385. 5 BFH v. 13.5.2014 – XI B 129-132/13, BFH/NV 2014, 1385; v. 26.2.1980 – VII R 60/78, BStBl. II 1980, 331; Herbert in Gräber, § 63 FGO Rz. 5. 6 BFH v. 22.1.2004 – III R 26/02, BFH/NV 2004, 792. 7 BFH v. 22.1.2004 – III R 26/02, BFH/NV 2004, 792 m. w. N. 8 BFH v. 16.6.1994 – IV R 97/93, BFH/NV 1995, 279. 9 Vgl. dazu auch BFH v. 13.5.2014 – XI B 129-132/13, BFH/NV 2014, 1385.

Schaumburg

109

Kap. 3 Rz. 3.89

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

spruchsverfahren erhebt S Klage. In der Klageschrift gibt er als beklagtes Finanzamt versehentlich das Finanzamt Köln-West an. Allerdings enthält die Klageschrift die Angabe der richtigen Steuernummer, aus der sich entnehmen lässt, dass der Bescheid vom Finanzamt Köln-Süd erlassen worden ist. Hier kann der Klageschrift aufgrund der korrekten Angabe der Steuernummer im Wege der Auslegung entnommen werden, dass das Finanzamt Köln-Süd verklagt werden sollte. Die Klage ist deshalb gegen das Finanzamt Köln-Süd zulässig.

3.89 Eine Klageschrift kann den Mindestanforderungen des § 65 Abs. 1 FGO auch dann entsprechen – und damit zulässig sein –, wenn in ihr zwar die Person des Beklagten nicht ausdrücklich bezeichnet ist, diese sich jedoch aufgrund anderer Angaben in der Klageschrift (z. B. Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes und der Einspruchsentscheidung) alsbald leicht und eindeutig bestimmen lässt.1 Diese weniger formstrenge Auslegung trägt dem sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Grundsatz einer Rechtsschutz gewährenden Auslegung Rechnung: Danach soll der Zugang zum Gericht nicht unnötig erschwert werden; deshalb ist eine Prozesserklärung so auszulegen, dass sie – wenn irgend vertretbar – im Ergebnis dem Willen eines verständigen Klägers entspricht.

3.90–3.92

Einstweilen frei.

VI. Streitgegenstand und Klagebegehren Literatur: Adamek, Bezeichnung des „Gegenstands des Klagebegehrens“ bei einem Haftungsbescheid, EFG 2004, 827; Barbey, Bemerkungen zum Streitgegenstand im Verwaltungsprozess im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, in FS Menger, 1985, S. 177; Bilsdorfer, Zur ausreichenden Bezeichnung des „Gegenstandes des Klagebegehrens“ im finanzgerichtlichen Verfahren, INF 1998, 646; Binnewies/Zumwinkel, Finanzgerichtliche Fristen nach §§ 65, 79b FGO, Stbg 2009, 363; Eberl, Streitwertbezifferung?, DStZ 1995, 34; Grube, Zum Kern der Klagebegründung im Steuerprozess, DStZ 2012, 583; Hollatz, Gegenstand des Klagebegehrens, HFR 2001, 43; Jarosch, Darlegungspflichten im FG-Verfahren, AO-StB 2001, 199; Nieland, Zur Auslegung des Gegenstands des Klagebegehrens, AO-StB 2004, 349; Olgemüller/Streck, Kläger muss Streitwert nicht beziffern, DStZ 1984, 643; Pust, Überhöhte Anforderungen an die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens durch die Finanzgerichtsbarkeit?, DStR 2002, 1119; Raupach, Die Einspruchsentscheidung als alleiniger Klagegegenstand, DStR 1970, 170; Rößler, Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens, DStZ 1999, 110; Rößler, Richterliche Ausschlussfristen für Klagebegehren und Tatsachenvortrag, DStZ 1996, 145; Rößler, Zur Umdeutung eines Einspruchs in Klage, DStZ 1996, 92; Rund, Der fristwahrende Klageschriftsatz, AO-StB 2001, 26; Heide Schaumburg, Richterliche Ausschlussfristen für Klagebegehren und Tatsachenvortrag, DStZ 1995, 545; Streck, Der Schriftsatz im Steuerstreitverfahren, DStR 1989, 439; Streck/Mack/Schwedhelm, Bei der Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens (§ 65 FGO) ist Aufmerksamkeit geboten, Stbg 2002, 463; von Wedelstädt, Feststellungsbescheide im Rechtsbehelfsverfahren, AO-StB 2004, 211.

1. Streitgegenstand

3.93 Streitgegenstand im finanzgerichtlichen Verfahren ist nicht das einzelne Besteuerungsmerkmal, sondern die Rechtmäßigkeit des die Steuer festsetzenden Steuerbescheides.2 Dies bedeutet: Die Finanzgerichte haben im Rahmen des Klagebegehrens nicht nur die Rechtmäßigkeit der festgesetzten Steuer aus den vom Kläger angegebenen Gründen zu prüfen; sie müssen vielmehr die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides insgesamt im Rahmen des Kla1 So BFH v. 16.6.1994 – IV B 97/93, BFH/NV 1995, 279. 2 BFH v. 26.11.1979 – GrS 1/78, BStBl. II 1980, 99 (102).

110

Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.97 Kap. 3

gebegehrens ohne Rücksicht auf die nach Auffassung der Beteiligten bestehenden oder fehlenden rechtmäßigen oder rechtswidrigen Besteuerungsgrundlagen untersuchen. Hieraus folgt: Fehler in einem Steuerbescheid, die sich zu Ungunsten des Klägers ausgewirkt haben und von ihm mit der Klage geltend gemacht werden, können mit solchen Fehlern, die sich zu seinen Gunsten ausgewirkt haben, ausgeglichen (saldiert) werden.

3.94

Beispiel: Das Finanzamt hat zu Unrecht Schuldzinsen i. H. v. 5.000 Euro bei der Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nicht als Werbungskosten anerkannt, wogegen sich der Kläger mit seiner Klage wendet. Das Finanzamt hat aber, was der Richter im Klageverfahren feststellt, Unfallkosten i. H. v. 6.000 Euro – zu Unrecht – bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit als Werbungskosten berücksichtigt. Die Saldierung kann zur Klageabweisung führen, obwohl dem Finanzamt, wie vom Kläger geltend gemacht, ein Fehler zu seinen Ungunsten unterlaufen war.

Der Streitgegenstand bei einer Klage gegen einen (Gewinn-)Feststellungsbescheid ist hiervon deutlich zu unterscheiden. Die Klage gegen einen Feststellungsbescheid kann nämlich verschiedene Ziele verfolgen, da ein Feststellungsbescheid einzelne Feststellungen von Besteuerungsgrundlagen zusammenfasst, die eine rechtlich selbständige Würdigung enthalten und prozessual selbständig sind. Diese einzelnen Feststellungen können jeweils selbständiger Streitgenstand sein. Solche selbständigen Feststellungen sind insbesondere die Qualifikation der Einkünfte, das Bestehen einer Mitunternehmerschaft, die Höhe des Gesamtgewinns, des laufenden Gewinns, eines Veräußerungsgewinns oder eines Sondergewinns bzw. einer Sondervergütung.1

3.95

2. Klagebegehren Vom Streitgegenstand zu unterscheiden ist die Frage, wie genau der Kläger das Klagebegehren in der Klageschrift zu bezeichnen hat. Denn § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO schreibt zwingend vor, dass der Kläger den Gegenstand des Klagebegehrens darlegen muss. Im Hinblick darauf, dass das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen darf (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), hat der Kläger den Umfang des von ihm begehrten Rechtsschutzes zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund ist die ausreichende Bezeichnung des Klagebegehrens zu beurteilen.

3.96

Der Kläger muss deshalb substantiiert darlegen, inwieweit der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig sein soll und ihn in seinen Rechten verletzt.2 Mit anderen Worten: Der Kläger muss dem Gericht substantiiert den konkreten Sachverhalt unterbreiten, in dessen steuerrechtlicher Würdigung durch das Finanzamt er eine Rechtsverletzung erblickt; welche konkreten Anforderungen damit erfüllt sein müssen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab,3 insbesondere von dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsakts, der Steuerart und der Klageart.4 Hierzu gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung. Diese Rechtsprechung, die das Erfordernis der rechtsschutzgewährenden Auslegung berücksichtigt, kann inzwischen nur noch als „großzügig-unformalistisch“ bezeichnet werden.5 Entscheidend ist, ob das Gericht durch die Angaben des Klägers in die Lage versetzt wird zu erkennen, worin die den Kläger

3.97

1 2 3 4

Vgl. dazu BFH v. 20.8.2015 – IV R 12/12, BFH/NV 2016, 412 m. w. N. BFH v. 8.6.2004 – XI B 46/02, BFH/NV 2004, 1417. BFH v. 2.12.2015 – X K 4/14, BFH/NV 2016, 758; v. 14.6.2000 – X R 18/99, BFH/NV 2001, 170. BFH v. 15.7.2015 – VIII B 56/15, BFH/NV 2015, 1429; v. 28.6.2012 – XI B 44/12, BFH/NV 2012, 1811. 5 So Grube, DStZ 2012, 586; ebenso zu Recht Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 14.

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111

Kap. 3 Rz. 3.98

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

treffende Rechtsverletzung nach dessen Ansicht liegt.1 Ggf. muss der Gegenstand des Klagebegehrens im Wege der Auslegung festgestellt werden.2

3.98 Auch ein bestimmter Klageantrag allein kann im Einzelfall für die Bezeichnung des Klagebegehrens ausreichen, wenn der Kläger die Herabsetzung der Steuerschuld bzw. einer bestimmten Besteuerungsgrundlage oder bei einem Gewinnfeststellungsbescheid die Herabsetzung der Einkünfte auf einen genau bezeichneten Betrag beantragt.3 Bei einem bezifferten Klageantrag sind weitere Angaben zum Sachverhalt jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Sachverhalt, um den gestritten wird, in groben Zügen aus der Einspruchsentscheidung oder aus dem Inhalt der den Streitfall betreffenden Verwaltungsakte erkennbar ist.4

3.99 Bei einer Klage gegen einen Schätzungsbescheid erfordert die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich substantiierte Darlegungen dazu, weshalb die geschätzten Besteuerungsgrundlagen zu hoch angesetzt wurden.5 Insoweit kommt – gerade bei Schätzungsbescheiden – auch eine Bezugnahme auf eine beim Finanzamt nach Erlass des angefochtenen Steuerbescheides tatsächlich eingereichte und diesem auch vorliegende Steuererklärung mit den erforderlichen Angaben oder Anlagen in Frage. Die bloße Ankündigung, die Steuererklärung einreichen zu wollen, reicht nicht aus. Allerdings kann der Hinweis auf Erklärungen, die eine andere Festsetzung oder Steuerart betreffen, ebenfalls genügen, soweit deren Inhalt Grundlage für die Entscheidung des angefochtenen Bescheides ist. Betrifft der Rechtsstreit also ausschließlich gewerbliche Einkünfte, ist für die Bezeichnung des Klagebegehrens zur Einkommensteuer somit der Hinweis auf eine vorliegende Erklärung zum Gewerbesteuermessbetrag ausreichend.6

3.100 Auch ein bloßer Antrag auf Aufhebung eines Steuerbescheids kann zur hinreichenden Bezeichnung ausreichen, wenn eine Auslegung des Antrags auch unter Berücksichtigung des Inhalts der den Streitfall betreffenden Verwaltungsakte ergibt, dass der Bescheid dem Grunde nach angegriffen wird.7 So wird der Gegenstand des Klagebegehrens durch einen Antrag auf Aufhebung eines genau bezeichneten Zinsbescheids hinreichend bezeichnet,8 da durch den Antrag eindeutig erkennbar wird, dass der Kläger die Berechtigung des Finanzamts, Zinsen festzusetzen, dem Grunde nach angreift.

3.101 Anderes kann gelten, wenn mit der Klage entgegen ihrem Wortlaut erkennbar keine Aufhebung, sondern eine nicht näher bezeichnete Abänderung des Steuerbescheids begehrt wird.9

1 BFH v. 28.6.2012 – XI B 44/12, BFH/NV 2012, 1811. 2 BFH v. 15.7.2015 – VIII B 56/15, BFH/NV 2015, 1429. 3 BFH v. 17.1.2002 – VI B 114/01, BStBl. II 2002, 306 unter Berufung auf BFH v. 17.10.1990 – I R 118/88, BStBl. II 1991, 242; v. 23.1.1997 – IV R 84/95, BStBl. II 1997, 462. 4 BFH v. 17.1.2002 – VI B 114/01, BStBl. II 2002, 306; v. 25.9.2006 – IV B 58/05, n. v. 5 BFH v. 15.1.2015 – I B 45/14, BFH/NV 2015, 696 m. w. N. 6 BFH v. 22.4.1998 – XI R 31-32/97, BFH/NV 1998, 1245 m. w. N. 7 BFH v. 15.7.2015 – VIII B 56/15, BFH/NV 2015, 1429; v. 28.6.2012 – XI B 44/12, BFH/NV 2012, 1811; v. 24.7.1997 – V R 65/96, BFH/NV 1998, 324; v. 17.1.2002 – VI B 114/01, BStBl. II 2002, 306; v. 25.9.2006 – IV B 58/05, n. v. 8 Vgl. BFH v. 24.7.1997 – V R 65/96, BFH/NV 1998, 324. v. 19.3.1996 – VII S 17/95, BFH/NV 1996, 818. 9 BFH v. 8.7.1998 – I R 23/97, BStBl. II 1998, 628; v. 25.5.2000 – XI B 10/99, BFH/NV 2000, 1362.

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Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.103 Kap. 3

In Bezug auf einen Haftungsbescheid ist hingegen angenommen worden, dass es für die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens im Haftungsverfahren nicht ausreiche, wenn der Kläger den angefochtenen Haftungsbescheid und die Haftungssumme konkret benannt und einen Klageantrag lediglich auf Aufhebung des Haftungsbescheids gestellt habe,1 wenn nicht die besondere Fallkonstellation besteht, dass dieser Bescheid dem Grunde nach angefochten werden soll.1

3.102

Folgendes ist in der Praxis zu beachten: Für die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens reicht es grundsätzlich nicht aus, dass der Kläger den angefochtenen Steuerbescheid und die Daten der Einspruchsentscheidung bezeichnet sowie einen bestimmten Klageantrag (z. B. Aufhebung des Einkommensteuerbescheides oder des Haftungsbescheides) stellt. Der Kläger muss vielmehr substantiiert Gründe für die Rechtswidrigkeit angeben, d. h., im Einzelnen darlegen, inwiefern der angefochtene Bescheid rechtswidrig sein soll. Es reicht die Bezugnahme auf den Inhalt der in der Klage genau bezeichneten Einspruchsentscheidung nur aus, wenn sich hieraus – zusammen mit dem erklärten Klageziel – ergibt, worum genau gestritten wird. Die Streitpunkte müssen von anderen Streitpunkten abgrenzbar und unverwechselbar fixiert sein.2 Es reicht aus, wenn der Kläger die anderweitig festzusetzenden Besteuerungsgrundlagen dem Betrag nach bezeichnet. Die Präzisierung des Klagebegehrens kann auch durch Bezugnahme auf das Einspruchsverfahren oder auf beim Finanzamt oder Finanzgericht eingereichte Unterlagen – wie auch die abgegebene Steuererklärung – erfolgen. Bei einer Klage gegen einen Schätzungsbescheid reicht es nicht aus vorzutragen, die Steuer sei zu hoch; vielmehr sollten hier die genauen Besteuerungsgrundlagen, am besten in Form der Steuererklärung genau benannt werden.

3.103

Beispiel 1: K hat für das Streitjahr keine Einkommensteuererklärung abgegeben. Das Finanzamt hat deshalb die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO geschätzt und die Einkommensteuer entsprechend festgesetzt. Gegen den Einkommensteuerbescheid legte K Einspruch ein, den er jedoch nicht begründete. Das Finanzamt hat den Einspruch deshalb zurückgewiesen. In seiner Klage trägt K lediglich vor, das Gericht möge den Einkommensteuerbescheid aufheben. Legt K nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung substantiiert dar, in welchen Punkten er den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für rechtswidrig hält, ist seine Klage als unzulässig abzuweisen, denn das Klagebegehren ist nicht hinreichend bestimmt. Gibt K allerdings in der mündlichen Verhandlung an, die Einkünfte aus Gewerbebetrieb seien vom Finanzamt zu hoch geschätzt worden, weil er im Streitjahr um ca. 10.000 Euro geringere Einnahmen erzielt habe, so hat er das Klagebegehren bereits hinreichend bestimmt. Die Klage kann jedenfalls nicht aus diesem Grund als unzulässig abgewiesen werden. Beispiel 2: Sachverhalt wie vor, K beantragt jedoch in der mündlichen Verhandlung, die Steuer nach Maßgabe der von ihm später noch nachzureichenden Steuererklärung festzusetzen. Hier ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht zu erkennen, inwiefern der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig und K in seinen Rechten verletzt sein soll. Wenn keine Vertagung in Betracht kommt, müsste die Klage mangels ausreichender Bezeichnung des Klagebegehrens als unzulässig abgewiesen werden. Beispiel 3: A erhebt Klage gegen einen Einkommensteuerbescheid und beantragt die Herabsetzung der Steuer um 1.500 Euro. Aus welchem Grunde die Herabsetzung begehrt wird, ob z. B. Betriebsausgaben oder Werbungskosten oder Sonderausgaben vom Finanzamt zu Unrecht nicht anerkannt worden sind, führt er nicht aus. 1 Vgl. FG Berlin-Brandenburg v. 13.5.2014 – 9 K 9297/13, EFG 2014, 1606 m. w. N. aus Rspr. und Literatur und mit Anm. Rosenke, EFG 2014, 1607. 2 BFH v. 14.6.2000 – X R 18/99, BFH/NV 2001, 170.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.104

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Auch in diesem Fall ist das Klagebegehren nicht hinreichend bestimmt. Die Klage müsste deshalb als unzulässig abgewiesen werden. Beispiel 4: K wurde nach dem Tode seines Vaters vom beklagten Finanzamt vergeblich zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung aufgefordert. Das Finanzamt erließ daraufhin gegen ihn einen auf einer Schätzung beruhenden Erbschaftsteuerbescheid. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Ein Jahr später reichte K nachträglich eine Steuererklärung ein, aus der sich ein erheblich geringerer Wert des Nachlasses ergab, als das Finanzamt bei seiner Schätzung angesetzt hatte. K beantragte deshalb, den Steuerbescheid aufzuheben. Das Finanzamt lehnte dies ab. Auch der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Mit seiner Klage macht K geltend, er beantrage, den Steuerbescheid nach § 174 AO aufzuheben. Der überwiegende Teil des vom Finanzamt berücksichtigten Nachlasses sei bereits in einem gegen seine Mutter gerichteten Erbschaftsteuerbescheid erfasst worden. Die Klage ist zulässig. Das Klagebegehren ist von K hinreichend bestimmt worden. Er hat konkret zum Ausdruck gebracht, weshalb er die Ablehnung des Erlasses eines Berichtigungsbescheides durch das Finanzamt für rechtswidrig hält.

3. Ausschlussfrist

3.104 Die Bezeichnung des Klagebegehrens kann grundsätzlich noch in der mündlichen Verhandlung erfolgen. Allerdings kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter dem Kläger für die Bezeichnung des Klagebegehrens eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen (§ 65 Abs. 2 Satz 2 FGO). Unterlässt es der Kläger, die Bezeichnung des Klagebegehrens innerhalb der ihm gesetzten Ausschlussfrist nachzuholen, so ist die Klage allein aus diesem Grund als unzulässig abzuweisen.

3.105 Die Bezeichnung des Klagebegehrens ist dem Finanzgericht gegenüber vorzunehmen. Die Ausschlussfrist wird nicht gewahrt, wenn das Klagebegehren lediglich gegenüber dem Finanzamt konkretisiert wird1 und das Finanzgericht hiervon nichts innerhalb der Ausschlussfrist erfährt. Eine entsprechende Erklärung z. B. durch Einreichen einer Steuererklärung beim Finanzamt genügt deshalb nicht, um einer entsprechenden Verfügung des Gerichts nachzukommen; vielmehr muss dann noch innerhalb der Ausschlussfrist zusätzlich dem Finanzgericht hiervon Mitteilung gemacht werden.2

3.106 Die Ausschlussfrist kann verlängert werden.3 Die Gründe für die Fristverlängerung müssen vor Fristablauf dargelegt und glaubhaft gemacht werden.4 Das Gericht ist nicht verpflichtet, von Amts wegen auf eine – fristgerechte – Glaubhaftmachung hinzuwirken.5 Für eine Fristverlängerung kommen nur erhebliche Gründe in Betracht, die es dem Kläger unmöglich machen, die Frist einzuhalten. Zu berücksichtigen ist in jedem Fall, dass allein der Antrag auf Fristverlängerung die gesetzte Ausschlussfrist nicht hinfällig macht; vielmehr ist die Klage mit dem fruchtlosen Ablauf der Ausschlussfrist unzulässig.6

1 2 3 4

BFH v. 22.4.1998 – XI R 31-32/97, BFH/NV 1998, 1245. So st. Rspr., s. BFH v. 24.10.2001 – X R 39/99, BFH/NV 2002, 498. Vgl. BFH 17.3.2003 – IV B 51/02 NV 2004, 348. § 54 Abs. 2 FGO i. V. m. § 224 Abs. 2 ZPO, BFH v. 24.3.1999 – V B 136/98, BFH/NV 1999, 1237; zur Glaubhaftmachung vgl. Rz. 3.592. 5 BFH v. 1.8.1996 – XI B 149/150/95, BFH/NV 1997, 131. 6 BFH v. 18.2.2003 – VIII B 218/02, BFH/NV 2003, 1186.

114

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B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.113 Kap. 3

In der Praxis ist zu beachten, dass der Antrag auf Fristverlängerung die gesetzte Ausschlussfrist nicht hinfällig macht. Ist die gesetzte Frist zu kurz und soll Verlängerung der Frist beantragt werden, so sollte der entsprechende Antrag unter Darlegung und Glaubhaftmachung der Gründe, warum die Einhaltung der Frist nicht möglich ist, so rechtzeitig vor Fristablauf gestellt werden, dass das Gericht hierüber noch vor Fristablauf entscheiden und die Entscheidung dem Kläger mitteilen kann, so dass die ausstehende Prozesshandlung ggf. noch erfolgen kann.

3.107

Bei unverschuldeter Fristversäumung ist nach § 65 Abs. 2 Satz 3 FGO Wiedereinsetzung in vorigen Stand in entsprechender Anwendung des § 56 FGO möglich. Wegen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird auf Rz. 3.541 ff. verwiesen.

3.108

3.109–3.110

Einstweilen frei.

VII. Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung Literatur: Rosenke, Ordnungsgemäße Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens, EFG 2014, 1607; Rößler, Bei fehlender Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts ist Klage unzulässig, DStZ 1992, 317; Rund, Der fristwahrende Klageschriftsatz, AO-StB 2001, 26.

Gem. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO müssen bei Anfechtungsklagen auch der angefochtene Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnet werden. Dabei hat die Bezeichnung so genau zu erfolgen, dass das Gericht mit Sicherheit feststellen kann, welchen Verwaltungsakt und welche Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (Einspruchsentscheidung) der Kläger zum Gegenstand des Verfahrens machen will. Um insoweit Klarheit zu schaffen, sollen nach § 65 Abs. 1 Satz 4 FGO der Klage die Urschrift oder Abschrift des angefochtenen Verwaltungsaktes und der Einspruchsentscheidung beigefügt werden.

3.111

Um von Anfang an jegliche Missverständnisse über den Verfahrensgegenstand zu vermeiden, sollten in der Praxis vor allem der angefochtene Verwaltungsakt und die Einspruchsentscheidung mit Datum, Aktenzeichen und Betreff (z. B. Einkommensteuer 00, Umsatzsteuer 01) angegeben werden. Sofern die Möglichkeit von Verwechslungen besteht, sollte in jedem Fall darauf geachtet werden, dass zweifelsfrei erkennbar wird, welcher konkrete Verwaltungsakt und welche konkrete Einspruchsentscheidung angefochten werden soll.

3.112

Beispiel 1: Hat das Finanzamt die Steuer und einen Verspätungszuschlag in dem gleichen BescheidFormular festgesetzt, sollte erkennbar gemacht werden, ob nur die Steuerfestsetzung oder nur die Festsetzung des Verspätungszuschlags oder beides angefochten werden soll. Beispiel 2: Hat das Finanzamt mehrere Bescheide unter demselben Datum und demselben Aktenzeichen erlassen, ist in jedem Fall klarzustellen, welche Steuerfestsetzung für welches Jahr angegriffen werden soll. Dies kann z. B. in folgender Weise geschehen: Wegen Bescheiden vom … – St.-Nr. …/…/… – betreffend Einkommensteuer und Umsatzsteuer 00 – sowie Gewerbesteuermessbescheid 00 vom …

Da vor Klageerhebung regelmäßig ein außergerichtliches Verfahren stattgefunden hat, sind in der Regel gegenüber dem Kläger zwei Verwaltungsakte erlassen worden, nämlich der Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung. Zwar ist nach § 44 Abs. 2 FGO grundsätzlich Verfahrensgegenstand der ursprüngliche Verwaltungsakt (Steuerbescheid) in der Gestalt, die er durch die Einspruchsentscheidung gefunden hat. Diese Vorschrift ist aber lüSchaumburg

115

3.113

Kap. 3 Rz. 3.114

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ckenhaft. Es ist in Ausnahmefällen auch möglich, die Rechtsbehelfsentscheidung allein zum Verfahrensgegenstand zu machen. Ein solcher Ausnahmefall liegt z. B. vor, wenn der Kläger ausschließlich Verstöße gegen Verfahrensvorschriften innerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens rügt. In diesen Fällen kann in der Einspruchsentscheidung selbst eine selbständige Beschwer des Klägers enthalten sein, z. B. weil der Einspruch zu Unrecht als unzulässig abgewiesen worden ist. Beispiel 1: S hat gegen den gegen ihn ergangenen Einkommensteuerbescheid 00 Einspruch eingelegt. Das Finanzamt hat diesen Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verworfen und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt. S kann allein gegen die Einspruchsentscheidung mit dem Antrag vorgehen, diese Entscheidung ersatzlos aufzuheben, weil ihm Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Mit einem solchen Antrag kann er erreichen, dass das Verfahren in den Stand des Einspruchsverfahrens zurückversetzt wird und das Finanzamt die Möglichkeit erhält, noch einmal im Vorverfahren eine Sachprüfung und Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides vorzunehmen. Beispiel 2: Der gegen die Eheleute X ergangene Einkommensteuerbescheid wird nur vom Ehemann mit dem Einspruch angefochten. Die Einspruchsentscheidung ergeht gegen beide Eheleute, obwohl die Ehefrau gar keinen Einspruch eingelegt hat. Hier kann die Ehefrau mit der Klage die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung begehren, da sie durch diese beschwert ist.1

3.114 Sofern ein Steuerpflichtiger diesen Weg beschreiten will, sollte er in der Klageschrift unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass er lediglich die Aufhebung der Einspruchsentscheidung und nicht die Änderung oder die Aufhebung des Steuerbescheides durch das Gericht begehrt.

3.115 Nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO kann dem Kläger auch zur Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes und der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf eine Frist mit ausschließender Wirkung gesetzt werden (s. Rz. 3.104 ff.). Dies bedeutet: Erfolgt die Bezeichnung dieser Entscheidungen nicht innerhalb der gesetzten Frist, wird die Klage allein aus diesem Grund als unzulässig abgewiesen; es sei denn, es ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (vgl. § 65 Abs. 2 Satz 3 FGO).

3.116–3.117

Einstweilen frei.

VIII. Klageantrag Literatur: Grube, Zum Hilfsantrag im Steuerprozess, DStZ 2011, 913; Killat, Zum Hilfsantrag im Steuerprozess, DStZ 2011, 913; Mössner, Der Antrag im Finanzprozess, in FS Streck, 2011, S. 355; Woring, Die Richtigstellung eines Klageantrags nach Ablauf der Klagefrist, DStZ 1988, 405.

1. Bedeutung

3.118 Die Klage soll auch einen bestimmten Antrag enthalten (§ 65 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Klageantrag hat wesentliche Bedeutung für das Klageverfahren. Er ist z. B. wichtig für

1 BFH v. 26.4.2006 – II R 35/06, BFH/NV 2006, 1800.

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Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.122 Kap. 3

– die richtige Klageart, – die Charakterisierung des Klagebegehrens, über das das Gericht nicht hinausgehen darf (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), – die Bestimmung des Streitwerts und seine Auswirkung auf die Kosten, – den Umfang des Obsiegens bzw. Unterliegens des Klägers und insoweit auch für die Kostenentscheidung. 2. Formulierung des Antrags Der Kläger sollte sich bemühen, den Klageantrag so klar wie möglich zu fassen. Als Kontrollüberlegung könnte hier gelten: Kann das Gericht auf den Klageantrag – würde ihm stattgegeben – eine verständliche, inhaltlich abgegrenzte und vollstreckbare Entscheidung treffen?

3.119

Um einen hinreichend klaren Antrag zu stellen, muss sich der Kläger deshalb zunächst über folgende Fragen im Klaren sein:

3.120

– Soll ein bereits erlassener Verwaltungsakt/Steuerbescheid angefochten werden (Anfechtungsklage)? – Soll die Verurteilung des Finanzamts zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes/Steuerbescheids erreicht werden (Verpflichtungsklage)? – Soll die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes/Steuerbescheids begehrt werden (Feststellungsklage)? – Soll eine andere Maßnahme des Finanzamts angegriffen oder erstrebt werden, die nicht als Verwaltungsakt angesehen werden kann (allgemeine Leistungsklage)? Der Antrag sollte zwar möglichst klar formuliert werden. Es reicht aber aus, wenn das Begehren des Klägers durch Auslegung ermittelt werden kann. Hierbei gilt der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung aus Art. 19 Abs. 4 GG,1 wonach im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht.2 Spätestens in der mündlichen Verhandlung muss der Vorsitzende nämlich im Rahmen seiner Hinweispflichten darauf hinwirken, dass ein sachdienlicher Antrag gestellt und ein unklarer Antrag erläutert wird (§ 76 Abs. 2 FGO). In der Praxis kommt es selten vor, dass der Kläger auch auf einen entsprechenden Hinweis des Vorsitzenden keinen bestimmten Antrag stellt, zumal ihm der Vorsitzende auch hilft, einen sachdienlichen Antrag zu formulieren. Ist die Berechnungs- oder Bemessungsgrundlage für die Steuerfestsetzung unsicher, etwa weil noch ein Sachverständigengutachten einzuholen oder eine Schätzung durchzuführen ist, ist auch ein unbezifferter Antrag auf Festsetzung des sich aufgrund des Gerichtsverfahrens ergebenden Betrages zulässig. Ein in dieser Weise unbestimmter Klageantrag hat den Vorteil, dass der Kläger auf diese Weise eine Teilabweisung vermeidet und Gerichtskosten spart.

3.121

Es gibt aber den Fall, dass kein Antrag gestellt wird, wenn in der mündlichen Verhandlung für den Kläger niemand erschienen ist und nicht schon vorher in den Schriftsätzen ein An-

3.122

1 BFH v. 10.9.2015 – X B 134/14, BFH/NV 2016, 54; v. 22.6.2010 – VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846. 2 BFH v. 2.7.2012 – III B 101/11, BFH/NV 2012, 1628.

Schaumburg

117

Kap. 3 Rz. 3.123

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

trag gestellt worden ist. Sollte dies ausnahmsweise der Fall sein, so ist die Klage nicht unzulässig, vielmehr hat das Finanzgericht das Klagebegehren unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles zu bestimmen. Wird kein bestimmter Steuerbetrag angegeben, ist dies unschädlich, wenn das Gericht den Betrag aufgrund des Klagebegehrens ermitteln kann. 3. Erweiterung des Antrags Literatur: Koenig, Klageerweiterung nach Ablauf der Klagefrist im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 1990, 512.

3.123 Auch nach Ablauf der gem. § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO gesetzten Ausschlussfrist kann die durch die Benennung einzelner Streitpunkte nunmehr zulässige Klage um weitere Streitpunkte erweitert werden. Durch die Stellung eines Klageantrages tritt grundsätzlich keine Teilbestandskraft des angefochtenen Einkommensteuerbescheides ein.1 Mit dieser Frage hat sich der Große Senat des BFH schon früh beschäftigt und ausgeführt, dass die Anfechtungsklage gegen einen Einkommensteuerbescheid regelmäßig auch insoweit zulässig ist, als sie nach Ablauf der Klagefrist erweitert wird.2 Nur wenn der Kläger eindeutig zu erkennen gegeben hat, dass er von einem weiter gehenden Klagebegehren absehen will, ist die Klage insoweit unzulässig, als sie nach Ablauf der Klagefrist erweitert wird. Letzteres kommt in der Praxis aber nicht vor.

3.124 Werden dagegen bei Feststellungsbescheiden, die mehrere selbständige Feststellungen (z. B. Höhe des Gewinns und dessen Verteilung, Veräußerungsgewinn) enthalten, innerhalb der Ausschlussfrist nur einzelne selbständige Feststellungen angegriffen, ist die nach Ablauf der Ausschlussfrist vorgenommene Klageerweiterung bezüglich anderer Feststellungen unzulässig.3 Diese selbständig anfechtbaren Feststellungen sind dann unanfechtbar geworden.

3.125 Um zu vermeiden, dass eine Klageerweiterung nach Ablauf der Klagefrist vom Finanzgericht als unzulässig angesehen werden könnte, sollte in der Praxis in jedem Fall bei der Antragstellung in der Klageschrift oder in einem späteren Schriftsatz vor Ablauf der Klagefrist darauf hingewiesen werden, dass es sich um einen vorläufigen Antrag bzw. um die Ankündigung eines Antrags handelt, der in der mündlichen Verhandlung gestellt werden soll. Der endgültige Antrag wird dann für die mündliche Verhandlung vorbehalten und kann nach dem Rechtsgespräch mit dem Gericht gestellt bzw. noch entsprechend angepasst werden. Dadurch wird auch vermieden, dass die Klage später ggf. teilweise mit entsprechender Kostenfolge als unbegründet zurückgewiesen wird, weil der Antrag zunächst zu weit gefasst war. Beispiel: Es wird zunächst (vorläufig) beantragt, die Einkommensteuer 00 unter Änderung des Bescheides vom … und Aufhebung der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung auf 10.000 Euro herabzusetzen. Oder: In der mündlichen Verhandlung werde ich folgenden Antrag stellen: Unter Änderung des Einkommensteuerbescheides vom … und Aufhebung der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung wird die Einkommensteuer 00 auf 10.000 Euro herabgesetzt.

1 BFH v. 12.9.1995 – IX R 78/94, BStBl. II 1996, 16. 2 BFH v. 23.10.1989 – GrS 2/87, BStBl. II 1990, 327; anders dagegen i. S. einer Klageänderung BFH v. 12.9.2006 – I B 169/05, BFH/NV 2007, 48; vgl. zum Streitstand Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 18. 3 Vgl. BFH v. 23.10.1989 – GrS 2/87, BStBl. II 1990, 327.

118

Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.128 Kap. 3

Eine Klageerweiterung ist natürlich nicht mehr möglich, wenn sich das Verfahren in der Hauptsache erledigt hat. Dies kann dadurch geschehen, dass das beklagte Finanzamt einen Änderungsbescheid erlässt, durch den dem Klageantrag in vollem Umfang stattgegeben wird.1

3.126

4. Antrag bei Klageverbindung Gem. § 43 FGO können auch mehrere Klagebegehren vom Kläger in einer Klage zusammengefasst werden, wenn sie sich gegen denselben Beklagten richten, im Zusammenhang stehen und dasselbe Gericht zuständig ist. Mit der Verbindung mehrerer Klagen oder Klagebegehren kann der Kläger die Vorteile ausnützen, die sich durch eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung z. B. durch eine prozessökonomische Sachaufklärung und Verhandlung oder zur Vermeidung von Widersprüchen bei verschiedenen gerichtlichen Entscheidungen ergeben. Entschließt sich der Kläger zu einer Verbindung mehrerer Klagebegehren, sollte er unbedingt beachten, dass hinsichtlich eines jeden einzelnen Klagebegehrens ein möglichst konkreter Antrag gestellt wird.

3.127

Beispiel: Der Kläger will sich mit seiner Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 01 und 02 wenden. In beiden Streitjahren sind vom Finanzamt bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Schuldzinsen nicht als Werbungskosten berücksichtigt worden. In 01 sind zusätzlich verschiedene Sonderausgaben nicht berücksichtigt worden. In diesem Fall sollte der Kläger für jedes Streitjahr deutlich machen, welches Klagebegehren er verfolgt, indem er in zwei Klageanträgen die begehrte Entscheidung des Finanzgerichts für das jeweilige Streitjahr wie folgt zum Ausdruck bringt: In der mündlichen Verhandlung werde ich beantragen, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … im Streitjahr 01 weitere Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung i. H. v. … Euro sowie zusätzliche Sonderausgaben i. H. v. … Euro zu berücksichtigen und die Einkommensteuer 2001 entsprechend herabzusetzen, im Streitjahr 02 weitere Werbungskosten i. H. v. … Euro bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen und die Einkommensteuer 02 entsprechend herabzusetzen.

Zulässig ist auch die Verbindung mehrerer Klagebegehren durch eine eventuelle Klageverbindung. In einem solchen Fall soll nach dem Willen des Klägers über das zweite Begehren (Hilfsbegehren) erst entschieden werden, wenn das erste Begehren (Hauptbegehren) abgewiesen wird. Es handelt sich hier um einen Haupt- und einen Hilfsantrag. Beispiel: Der Kläger begehrt in erster Linie die Aufhebung des vom Finanzamt zu seinen Ungunsten geänderten Einkommensteuerbescheides 00 mit der Begründung, die Voraussetzungen für eine Änderung hätten nicht vorgelegen. Für den Fall, dass das Gericht seinem Aufhebungsantrag nicht entsprechen sollte, begehrt er die Anerkennung weiterer Werbungskosten. Sein Antrag wird lauten: In der mündlichen Verhandlung werde ich beantragen, den geänderten Einkommensteuerbescheid 00 vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … ersatzlos aufzuheben, hilfsweise zusätzliche Werbungskosten i. H. v. … Euro steuermindernd anzuerkennen und die Einkommensteuer 00 entsprechend herabzusetzen. Hier handelt es sich um einen Haupt- und um einen Hilfsantrag. Über die Frage der Berücksichtigung weiterer Werbungskosten soll erst entschieden werden, wenn dem Hauptantrag – Aufhebung des Änderungsbescheides – nicht stattgegeben wird.

1 BFH v. 9.1.2001 – X R 101/97, BFH/NV 2001, 922.

Schaumburg

119

3.128

Kap. 3 Rz. 3.129

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

5. Beispiele für Klageanträge a) Anfechtungsklage

3.129 Das Klagebegehren bei einer Anfechtungsklage1 ist immer die Aufhebung oder Anfechtung eines belastenden Verwaltungsakts (§ 40 Abs. 1 1. Alt. FGO). Deshalb sollte der Antrag bei einer Aufhebungsklage lauten: Es wird beantragt, – den Einkommensteuerbescheid 00 vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.130 Bei einer Änderungsklage sollte wie folgt formuliert werden: Es wird beantragt, – den Einkommensteuerbescheid 00 vom … (in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom …) dahin abzuändern, dass die Steuer auf … Euro herabgesetzt wird. – oder: … unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … den Einkommensteuerbescheid 00 vom … dahin gehend abzuändern, dass ein weiterer Betrag von … Euro als Betriebsausgaben bei den Einkünften des Klägers aus Gewerbebetrieb berücksichtigt wird (oder: dass der erklärte Verlust bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb berücksichtigt wird).

b) Verpflichtungsklage

3.131 Das Klagebegehren bei einer Verpflichtungsklage2 ist, die Behörde zu verpflichten, einen abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakt zu erlassen (§ 40 Abs. 1 2. Alt. FGO).

3.132 Der Verpflichtungsantrag nach Ablehnung einer Berichtigung eines Bescheides, z. B. wegen neuer Tatsachen zu Gunsten des Steuerpflichtigen (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) sollte daher lauten: Es wird beantragt, – das beklagte Finanzamt zu verpflichten, unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom … und Aufhebung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … Einkommensteueränderungsbescheid 00 zu erlassen und die Steuer auf … Euro herabzusetzen

3.133 Wird der Erlass einer bisher abgelehnten Ermessensentscheidung des Finanzamts begehrt, so sollte der Antrag wie folgt gestellt werden: Es wird beantragt, – das beklagte Finanzamt zu verpflichten, unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom … und Aufhebung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Erlassantrag des Klägers vom … unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

3.134 Würde der Kläger in diesem Fall seinen Klageantrag direkt auf Erlass der Steuer richten, obwohl noch ein Ermessensspielraum für das beklagte Finanzamt besteht, liefe er Gefahr, dass seine Klage zum Teil abgewiesen würde.

1 Zu Einzelheiten s. Rz. 3.166 ff. 2 Zu Einzelheiten s. Rz. 3.176 f.

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Schaumburg

B. Form und Inhalt der Klage

Rz. 3.142 Kap. 3

c) Allgemeine Leistungsklage Das Klagebegehren betrifft bei einer allgemeinen Leistungsklage1 keinen Verwaltungsakt, sondern eine andere Leistung (§ 40 Abs. 1 3. Alt. FGO), also ein Tun, Dulden oder Unterlassen, das keinen Verwaltungsakt darstellt, z. B. Realakte wie die Erstattung zu viel gezahlter Steuern oder aber das Unterlassen der Weitergabe einer Information. Deshalb sollte der Klageantrag wie folgt lauten:

3.135

Es wird beantragt – das beklagte Finanzamt zu verurteilen, an den Kläger … Euro zu bezahlen – das beklagte Finanzamt zu verpflichten, die Auskunftserteilung an den Staat XY zu unterlassen (sog. Unterlassungsklage).

d) Feststellungsklage Das Klagebegehren bei der Feststellungsklage2 ist auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (§ 41 Abs. 1 1. Alt. FGO) oder aber auf die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts (§ 41 Abs. 1 2. Alt. FGO) gerichtet.

3.136

Bei der allgemeinen Feststellungsklage ist immer darauf zu achten, ob das Begehren nicht auch durch Erhebung einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erreicht werden kann. Wenn dies nicht der Fall ist, lautet der entsprechende Antrag:

3.137

Es wird beantragt, – festzustellen, dass …

Eine besondere Form ist die sog. Nichtigkeitsfeststellungsklage. Hier lautet der Antrag richtigerweise,

3.138

– die Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 00 vom … festzustellen.

In der Praxis kommt häufiger die sog. Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO vor. Hier lautet der Antrag nach Erledigung der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage

3.139

– festzustellen, dass der vom Beklagten aufgehobene Einkommensteuerbescheid 00 vom … rechtswidrig war.

3.140–3.141

Einstweilen frei.

IX. Klagebegründung Literatur: Grube, Zum Kern der Klagebegründung im Steuerprozess, DStZ 2012, 583; Steinhauff, Zum Kern der Klagebegründung im Steuerprozess, AO-StB 2012, 332.

Gem. § 65 Abs. 1 Satz 3 FGO soll die Klage ferner die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel enthalten.

1 Zu Einzelheiten s. Rz. 3.178. 2 Zu Einzelheiten s. Rz. 3.180 ff.

Schaumburg

121

3.142

Kap. 3 Rz. 3.143

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.143 Vor der Abfassung der Begründung muss sich der Kläger zunächst darüber klar werden: – Trifft der vom Finanzamt angenommene Sachverhalt zu, ist also lediglich die vom Finanzamt vertretene Rechtsauffassung unrichtig, oder aber – ist das Finanzamt von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen und deshalb zu einer falschen rechtlichen Würdigung gekommen?

3.144 Kommt der Kläger zu dem Ergebnis, dass der vom Finanzamt angenommene Sachverhalt nicht zutrifft, sollte er die richtigen Tatsachen vollständig vortragen und zur Klarstellung auf die vom Finanzamt fälschlicherweise angenommenen Tatsachen hinweisen. Außerdem sollte der Kläger die von ihm vorgetragenen Tatsachen unter Beweis stellen. Dabei kommen als Beweismittel in Betracht (vgl. § 81 FGO) – Augenscheineinnahme durch das Gericht, – Zeugenvernehmung, – Einholung eines Sachverständigengutachtens, – Vorlage von Urkunden, – Vernehmung eines oder beider Beteiligten (Parteivernehmung).

3.145 Die Angabe von Beweismitteln geschieht in der Praxis üblicherweise so, dass sie sofort nach der jeweils zu beweisenden Tatsache durch Einrücken im Schriftsatz genannt werden. Beispiel: Das beklagte Finanzamt hat zu Unrecht eine Zusammenveranlagung abgelehnt. Die Behauptung, der Kläger und seine Ehefrau hätten im Streitjahr nicht mehr zusammengelebt, die Ehefrau hätte den Kläger vielmehr bereits ein Jahr zuvor verlassen, trifft nicht zu. Richtig ist vielmehr, dass sich der Kläger und seine Ehefrau einmal vor drei Jahren für zwei Monate getrennt hatten. Anschließend ist die Ehefrau des Klägers jedoch wieder in die eheliche Wohnung zurückgekehrt. Beweis: 1) Zeugnis der Frau S, der Ehefrau des Klägers, wohnhaft in X-Stadt, Y-Straße 2) Zeugnis der Frau X, der Schwägerin des Klägers, wohnhaft in X-Stadt, Z-Straße; 3) Parteivernehmung des Klägers.

3.146 Der Kläger kann die der Klagebegründung dienenden Tatsachen unmittelbar in seiner Klageschrift vortragen oder in einem späteren Schriftsatz an das Gericht. Er hat allerdings auch die Möglichkeit, sich in der Klageschrift auf andere Schriftstücke zu beziehen, z. B. auf die Einspruchsbegründung. In einem solchen Fall sollte allerdings das in Bezug genommene Schriftstück so genau wie möglich angegeben oder besser noch: in Fotokopie beigefügt werden.

3.147 Kommt der Kläger bei seinen Vorüberlegungen hinsichtlich der Begründung der Klage zu dem Ergebnis, dass das Finanzamt von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, gilt für die Klagebegründung Folgendes: Zu Rechtsausführungen ist der Kläger nicht verpflichtet. Er kann davon ausgehen, dass das Gericht das anzuwendende Recht kennt und anwendet. Gleichwohl empfehlen sich Rechtsausführungen insbesondere in solchen Fällen, in denen die gesetzlichen Regelungen unübersichtlich sind und/oder der Kläger für seine Auffassung Rechtsprechung und Literatur anführen kann, die nur schwer zugänglich ist.

3.148–3.157 122

Einstweilen frei. Schaumburg

C. Klagearten

Rz. 3.161 Kap. 3

C. Klagearten Literatur: Dürr, Die Klagemöglichkeiten im Finanzrechtsstreit, INF 1990, 202; von Groll, Das Handeln der Finanzverwaltung als Gegenstand des Rechtsschutzbegehrens, DStJG 18 (1995), 47; Loose, Das Klagesystem der Finanzgerichtsordnung, BB 1966, 243; Martens, Die Klagearten im Verwaltungsprozess, DÖV 1970, 476; Martens, Fehlentwicklungen und Kurskorrekturen im Steuerprozess, StuW 1994, 287; Munkert/Naczinsky, Gerichtliche Rechtsbehelfs-/-mittelverfahren, DStR Beihefter 7/2009, 7.

I. Überblick In der Finanzgerichtsordnung wird umfassender Rechtsschutz durch folgende Klagearten gewährt (§§ 40, 41 FGO):

3.158

– Anfechtungsklage, – Verpflichtungsklage, – sonstige Leistungsklage, – Feststellungsklage. Dabei bestimmt sich die jeweilige Klageart nach dem Klagebegehren, d. h. dem Ziel, das mit der Klage verfolgt werden soll. Als prozessuale Willenserklärung ist die Klageschrift wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig.1 Dabei ist der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (§ 133 BGB analog), wobei der Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 GG) zu beachten ist.2 Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung.3

3.159

Mit der Anfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 1. Alt. FGO) wird ein Verwaltungsakt oder ein selbständiger Teil eines Verwaltungsaktes als rechtswidrig oder nichtig angegriffen.

3.160

Beispiel: X meint, in dem gegen ihn gerichteten Einkommensteuerbescheid sei die Einkommensteuer zu hoch festgesetzt worden, und begehrt eine niedrigere Festsetzung der Einkommensteuer.

Mit der Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 2. Alt. FGO) wird der Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes begehrt. Mit dieser Klage soll also die Verwaltungsbehörde zum Erlass eines Verwaltungsaktes durch eine gerichtliche Entscheidung veranlasst werden. Beispiel 1: S meint, durch die Ablehnung einer Stundung durch das Finanzamt in seinen Rechten verletzt zu sein. Er erstrebt eine Verpflichtung des Finanzamts, die begehrte Stundung zu gewähren. Beispiel 2: X ist der Auffassung, dass der gegen ihn ergangene endgültige und bestandskräftige Einkommensteuerbescheid wegen neuer Tatsachen geändert werden müsse und begehrt eine Änderung des Bescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO.

1 BFH v. 29.9.2015 – I B 37/14, BFH/NV 2016, 415; v. 29.1.2010 – IV B 56/08, BFH/NV 2010, 1108. 2 BFH v. 29.9.2015 – I B 37/14, BFH/NV 2016, 415. 3 BFH v. 29.1.2010 – IV B 56/08, BFH/NV 2010, 1108; v. 20.9.1996 – VI R 43/93, BFH/NV 1997, 249.

Schaumburg

123

3.161

Kap. 3 Rz. 3.162

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.162 Eine sonstige Leistungsklage (§ 40 Abs. 1 3. Alt. FGO) liegt vor, wenn der Kläger eine Leistung der Finanzverwaltung begehrt, die nicht in dem Erlass eines Verwaltungsaktes besteht. Eine derartige Leistung kann ein positives Tun, Dulden oder ein Unterlassen darstellen. Beispiel 1: S will von dem Finanzamt eine bestimmte Information erhalten, die ihm nicht erteilt wird. Beispiel 2: S will erreichen, dass dem Finanzamt untersagt wird, Dritten Einblick in seine Steuerakten zu gewähren.

3.163 Eine Feststellungsklage (§ 41 Abs. 1 FGO) kommt in Betracht, wenn der Kläger die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes (sog. Nichtigkeitsfeststellungsklage) begehrt. Beispiel: S ist der Auffassung, ein gegen ihn gerichteter Einkommensteuerbescheid sei nicht wirksam bekannt gegeben worden. Er begehrt deshalb die Feststellung durch das Gericht, dass der Einkommensteuerbescheid unwirksam sei.

3.164 Verschiedene Klagearten können in einer Klage zusammengefasst werden (§ 43 FGO). 3.165 Die Unterscheidung der verschiedenen Klagearten ist wichtig für die Stellung des richtigen Klageantrags (s. Rz. 3.118 ff.). Außerdem sind die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der jeweiligen Klageart im Gesetz unterschiedlich geregelt. So sind z. B. die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage grundsätzlich erst dann zulässig, wenn ein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt worden ist und die Klagefrist eingehalten wird. Eine Feststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Abgesehen davon ist eine allgemeine Feststellungsklage unzulässig, soweit der Kläger seine Rechte durch eine Anfechtungs-, Verpflichtungs- oder allgemeine Leistungsklage verfolgen kann.

II. Anfechtungsklage Literatur: Brüning, Ist die Rechtsprechung zur isolierten Anfechtbarkeit von Nebenbestimmungen wieder vorhersehbar?, NVwZ 2002, 1081; Hellriegel/Malmendier, Isolierte Anfechtung von Nebenbestimmungen und vorläufiger Rechtsschutz: ein Unterfall des faktischen Vollzugs?, DVBl. 2010, 486; Holbeck, Die richtige Klageart (Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage?) gegen einen Gewinn-/ Verlustfeststellungsbescheid mit den sich daraus ergebenden Folgerungen für den vorläufigen Rechtsschutz, DStR 1979, 157; Klenk, Ist die Klage gegen einen Verlustfeststellungsbescheid eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage?, BB 1978, 1666; Munkert/Naczinsky, Gerichtliche Rechtsbehelfs-/-mittelverfahren, DStR Beihefter 7/2009, 7; Pump/Krüger, Isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung, DStR 2013, 891; Seibel, Die Anfechtung von Prüfungsanordnungen, AO-StB 2002, 417; Sproll, Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen eines Verwaltungsakts, NJW 2002, 3221.

1. Allgemeines

3.166 Die in der Praxis bedeutsamste Klageart ist die Anfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 1. Alt. FGO). Sie ist auf die Aufhebung oder Abänderung eines belastenden Verwaltungsaktes durch richterliches Urteil gerichtet. Dabei ist unter Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder sonstige Maßnahme zu verstehen, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (§ 118 Satz 1 AO). Belastende Verwaltungsakte in diesem Sinne sind z. B. Steuer-

124

Schaumburg

C. Klagearten

Rz. 3.170 Kap. 3

bescheide, die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung, zur Erteilung einer Auskunft, zur Vorlage von Büchern usw.

3.167

Die Finanzgerichtsordnung kennt zwei Arten der Anfechtungsklage, nämlich – die Aufhebungsklage und – die Änderungsklage. Beide Arten der Anfechtungsklage richten sich gegen belastende Verwaltungsakte. Sie unterscheiden sich indessen nach dem Klagebegehren, dem Inhalt der Entscheidung des Gerichts, sofern die Klage begründet ist, sowie ihren Rechtswirkungen.

3.168

2. Aufhebungsklage Mit der Aufhebungsklage1 wird die volle oder – bei Teilbarkeit des Verwaltungsaktes – ggf. die teilweise Aufhebung des angegriffenen Bescheides und des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erstrebt. Ist die Klage begründet, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (Einspruchsentscheidung) auf.

3.169

Beispiel 1: Gegen S ist ein Haftungsbescheid wegen Umsatzsteuer ergangen, weil er als Geschäftsführer einer GmbH im Handelsregister eingetragen ist. S legt gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein mit der Begründung, er sei in dem fraglichen Zeitraum nicht mehr Geschäftsführer gewesen, die Haftungsvoraussetzungen lägen damit nicht vor. Das Finanzamt weist seinen Einspruch als unbegründet zurück. Mit der Klage erstrebt S in diesem Fall die Aufhebung des Haftungsbescheides und der Einspruchsentscheidung. Wäre die Klage begründet, würde das Gericht beide Entscheidungen, nämlich den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufheben. Beispiel 2: A ist Gewerbetreibender. Er ist für die Streitjahre zur Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer veranlagt worden. Die Bescheide sind von A nicht angefochten und deshalb bestandskräftig geworden. Nach einer Betriebsprüfung werden die Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre zu Ungunsten des A gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert. A ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Änderung der ursprünglichen Bescheide (neue Tatsachen) lägen nicht vor. Seine aus diesem Grund gegen die Steuerbescheide gerichteten Einsprüche bleiben ohne Erfolg. In diesem Fall müsste A, wenn er die ersatzlose Aufhebung der Bescheide erstrebt, ebenfalls eine Aufhebungsklage bzw. Aufhebungsklagen gegen die erlassenen Änderungsbescheide erheben. Würde er mit seinen Klagen Erfolg haben, würde das Gericht die Änderungsbescheide sowie die Einspruchsentscheidung/en aufheben. Für diesen Fall wäre der ursprüngliche Rechtszustand wieder eingetreten, d. h. die ursprünglichen, bestandskräftig gewordenen Bescheide wären wieder in Kraft.

Neben der Nichtigkeitsfeststellungsklage kann die Nichtigkeit eines Bescheides zusätzlich mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage geltend gemacht werden,2 mit der begehrt wird, den unwirksamen Bescheid zur Beseitigung des Rechtsscheins aufzuheben. Die Anfechtungsklage ist dann aber nur zulässig, wenn die einmonatige Klagefrist des § 47 FGO gewahrt ist,3 und nur begründet, wenn der Bescheid nicht durch Versäumung der Einspruchsfrist formell unanfechtbar geworden ist.4 1 2 3 4

S. Muster M 5, Rz. 11.5. BFH v. 16.9.2004 – VII B 20/04, BFH/NV 2005, 231 und unter Rz. 3.185. BFH v. 8.7.1998 – I R 17/96, BStBl. II 1999, 48. BFH v. 26.6.1985 – IV R 62/83, BFH/NV 1987, 19.

Schaumburg

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3.170

Kap. 3 Rz. 3.171

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.171 In der Praxis ist oftmals nicht sicher, ob der Verwaltungsakt tatsächlich nichtig bzw. z. B. wegen nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe tatsächlich unwirksam ist. In diesem Fall empfiehlt es sich, neben dem Hauptantrag auf Feststellung der Nichtigkeit auch Anfechtungsklage zu erheben und den Hilfsantrag zu stellen, den Verwaltungsakt aufzuheben bzw. umgekehrt. Dabei ist für den mit der Anfechtungsklage gestellten Aufhebungsantrag das Vorverfahren und die Klagefrist von einem Monat zu beachten. Die beiden Klagearten bzw. –begehren (§ 43 FGO) können jedenfalls miteinander verbunden werden Beispiel: Es wird beantragt, festzustellen, dass der Einkommensteuerbescheid vom … nichtig ist, hilfsweise, den Einkommensteuerbescheid vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung aufzuheben.

3. Änderungsklage

3.172 Mit der Änderungsklage1 wird eine Änderung des in einem Verwaltungsakt, in der Regel einem Steuerbescheid, festgesetzten Betrages begehrt. Eine Änderungsklage ist nur gegen die Verwaltungsakte i. S. des § 347 Abs. 1 AO zulässig, also gegen Steuerbescheide, Steuervergütungsbescheide, Steueranmeldungen, sowie Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide, Haftungsbescheide und Duldungsbescheide, Verwaltungsakte über Zinsen und Kosten usw. (vgl. § 40 Abs. 1 und § 100 Abs. 2 FGO). Beispiel: S erhebt nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 00, weil nach seiner Auffassung das Finanzamt Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu Unrecht versagt und deshalb die Einkommensteuerschuld zu hoch festgesetzt hat. Hier empfiehlt sich für A eine Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage. Würde er in diesem Fall eine Aufhebungsklage einreichen, würde A, sofern das Finanzamt tatsächlich die Werbungskosten zu Unrecht versagt hat, mit seiner Klage zum überwiegenden Teil unterliegen, denn im Streit wären dann nicht nur die Werbungskosten, sondern der gesamte in dem Bescheid festgesetzte Steuerbetrag. Denn das Gericht würde nicht den gesamten Einkommensteuerbescheid aufheben, sondern lediglich die Einkommensteuer herabsetzen und im Übrigen die Klage abweisen.

3.173 Eine Änderungsklage ist nicht nur auf solche Steuer-, Steuermess- und Feststellungsbescheide beschränkt, in denen eine positive Steuerschuld bzw. ein positiver Betrag festgesetzt ist. Sie ist vielmehr auch bei Steuerbescheiden gegeben, in denen ein negativer Betrag festgesetzt oder ein Verlust festgestellt wird. Beispiel 1: A reicht beim Finanzamt seine Umsatzsteuerjahreserklärung ein, nach der die Vorsteuerbeträge die angefallenen Umsatzsteuern übersteigen. Das Finanzamt setzt die Umsatzsteuer-Zahllast mit einem zu niedrigen Negativbetrag fest, da nach seiner Auffassung bestimmte Vorsteuern nicht abziehbar sind. Hiergegen wendet sich A nach erfolglosem Einspruch mit seiner Klage. Er begehrt, die Vorsteuern in voller Höhe zu berücksichtigen und die Umsatzsteuer mit einem höheren Negativbetrag festzusetzen, so dass sich ein höherer Erstattungsbetrag ergibt. Auch hier handelt es sich um eine Änderungsklage, denn A erstrebt die Änderung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheides und nicht seine Aufhebung. Würde A in diesem Fall eine Aufhebungsklage erheben, würde auch die bereits festgesetzte Erstattung entfallen.

1 S. Muster M 7, Rz. 11.7.

126

Schaumburg

C. Klagearten

Rz. 3.177 Kap. 3

Beispiel 2: In dem gegen die X-KG ergangenen Gewinnfeststellungsbescheid 00 sind die entstandenen Verluste nicht voll berücksichtigt. Die X-KG beantragt nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit ihrer Klage, die Verluste höher festzustellen und die Gewinnfeststellungsbescheid 00 entsprechend zu ändern. Hier handelt es sich um den Normalfall der Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage.

Anders ist dies allerdings, wenn erreicht werden soll, dass überhaupt ein Feststellungsbescheid ergeht, in dem Verluste berücksichtigt werden sollen. Hier kommt keine Anfechtungsklage, sondern nur die Verpflichtungsklage auf Erlass des Feststellungsbescheids in Betracht.

3.174

Einstweilen frei.

3.175

III. Verpflichtungsklage Literatur: Büchele, Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage gegen fehlerhafte Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte?, DStR 1983, 435; Munkert/Naczinsky, Gerichtliche Rechtsbehelfs-/-mittelverfahren, DStR Beihefter 7/2009, 7; Scholtz, Zur Reichweite einer Verpflichtungsklage, FR 1985, 155.

Die Verpflichtungsklage1 ist nach der Anfechtungsklage die wichtigste Klageart im finanzgerichtlichen Verfahren. Ziel dieser Klage ist die Verurteilung der beklagten Behörde, einen abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakt zu erlassen (§ 40 Abs. 1 FGO). Die Verpflichtungsklage ist eine Leistungsklage und muss auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet sein. Eine reine Amtshandlung des Finanzamts, die nicht als Verwaltungsakt anzusehen ist, genügt nicht.

3.176

Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sind zu trennen. Gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erlass eines Bescheides ist, um den begehrten Bescheid zu erhalten, nur eine Verpflichtungsklage zu erheben, nicht aber eine zusätzliche Anfechtungsklage mit dem Ziel einer Aufhebung des ablehnenden Bescheides. Ist die Ablehnung eines Bescheides rechtswidrig und der Kläger in seinen Rechten verletzt, so hat das Gericht die Verpflichtung des Finanzamts auszusprechen, den beantragten Bescheid zu erlassen bzw. bei einer Ermessensentscheidung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 101 FGO). Das Gericht muss also, bevor es das Finanzamt zum Erlass eines Verwaltungsaktes oder zur Neubescheidung verpflichtet, notwendigerweise die Rechtmäßigkeit der ablehnenden Verfügung überprüfen. Die Verpflichtungsklage hat damit zwangsläufig nicht nur die Verpflichtung zum Erlass des begehrten Verwaltungsaktes, sondern auch die Anfechtung der Ablehnung des erlassenen Verwaltungsaktes zum Inhalt. In der Verpflichtungsklage ist also eine Anfechtungsklage enthalten, der keine selbständige Bedeutung zukommt, auch nicht in kostenrechtlicher Hinsicht.

3.177

Beispiel 1: Die X-GbR betreibt einen Automobilrennstall. Das Finanzamt lehnt es ab, die Verluste aus diesem Rennstall gesondert festzustellen, weil nach seiner Auffassung keine steuerpflichtigen Einkünfte erzielt werden, also Liebhaberei vorliegt. In diesem Fall würde die GbR mit einer Klage die Durchführung eines Feststellungsverfahrens erstreben. Mit einer Aufhebung des eine Feststellung ablehnenden Bescheides des Finanzamts wäre der GbR nicht gedient. Hier kommt deshalb als Klageart nicht die Anfechtungsklage in Betracht, sondern eine Verpflichtungsklage auf Erlass eines Feststellungsbescheides.

1 S. Muster M 8, Rz. 11.8, und M 9, Rz. 11.9 (bei Ermessensentscheidungen).

Schaumburg

127

Kap. 3 Rz. 3.178

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Beispiel 2: Durch eine Betriebsprüfung bei dem Gewerbetreibenden G werden ausschließlich Tatsachen bekannt, die eine niedrigere Einkommensteuerveranlagung rechtfertigen. Das Finanzamt lehnt es ab, einen Änderungsbescheid zu erlassen. Der hiergegen eingelegte Einspruch bleibt ohne Erfolg. Will G nunmehr im Klagewege eine Änderung der Einkommensteuer erreichen, muss er eine Verpflichtungsklage erheben. Hat seine Klage Erfolg, spricht das Gericht unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung die Verpflichtung des Finanzamts aus, eine Änderungsveranlagung durchzuführen. Beispiel 3: Das Finanzamt hat den begehrten Antrag auf Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer nach getrennter Veranlagung abgelehnt, weil nach seiner Auffassung die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Der hiergegen eingelegte Einspruch ist ohne Erfolg geblieben. Will der Kläger nunmehr im Klagewege die Durchführung einer Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer erreichen, so ist die richtige Klageart die Verpflichtungsklage, gerichtet auf Verurteilung des Finanzamts zur Durchführung eines Zusammenveranlagungsverfahrens zur Einkommensteuer und nicht auf Änderung des bereits ergangenen Veranlagungsbescheids.1 Das Gericht kann, wenn es die Klage für begründet hält, den begehrten Bescheid nicht selbst erlassen (§ 101 FGO). Im Übrigen schließt ein solches Begehren das Ziel mit ein, den im Wege der getrennten Veranlagung ergangenen Steuerbescheid aufzuheben.

IV. Allgemeine Leistungsklage Literatur: Gräber, Die Leistungsklage im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ 1981, 91; von Groll, Das Handeln der Finanzverwaltung als Gegenstand des Rechtsschutzbegehrens, DStJG 18 (1995), 47; Loose, Das Klagesystem der Finanzgerichtsordnung, BB 1966, 243; Munkert/Naczinsky, Gerichtliche Rechtsbehelfs-/-mittelverfahren, DStR Beihefter 7/2009, 7.

3.178 Die allgemeine Leistungsklage2 richtet sich nicht gegen einen Verwaltungsakt, seine Ablehnung oder Unterlassung, sondern auf eine andere Leistung. Diese kann in einem Tun, Dulden oder Unterlassen des Finanzamts bestehen. Da die Leistungen der Finanzverwaltung zumeist auf Verwaltungsakten beruhen, kommt die allgemeine Leistungsklage im finanzgerichtlichen Verfahren nur in Ausnahmefällen vor. Beispiel 1: S hat erfahren, dass das Finanzamt einem Dritten, den es durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen hat, Einblick in seine Steuerakten gewähren will. Will S im Klagewege erreichen, dass dem Finanzamt untersagt wird, dem Dritten die Steuerakten zugänglich zu machen, muss er eine Klage in Form einer allgemeinen Leistungsklage erheben. S erstrebt hier nämlich nicht die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes (für diesen Fall wäre die Verpflichtungsklage die richtige Klageart); er begehrt vielmehr eine andere Leistung als den Erlass eines Verwaltungsaktes. Er will nämlich, dass das Finanzamt etwas unterlässt und hierzu verurteilt wird. Beispiel 2: S hat beim Finanzamt einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer gestellt. Das Finanzamt hat daraufhin den Erstattungsbetrag auf 2500 Euro festgesetzt und einen entsprechenden Abrechnungsbescheid erteilt, aus dem sich der Erstattungsbetrag ergibt, diesen Betrag jedoch trotz mehrfacher Aufforderung durch S nicht ausgezahlt. Hier kann S die Auszahlung des Erstattungsbetrages in Form einer allgemeinen Leistungsklage gerichtlich durchsetzen.

1 Vgl. dazu BFH v. 31.1.2013 – III R 15/10, BFH/NV 2013, 1071. 2 S. Muster M 10, Rz. 11.10.

128

Schaumburg

C. Klagearten

Rz. 3.183 Kap. 3

Beispiel 3: U erbittet vom Finanzamt, ihm eine bestimmte Auskunft zu erteilen, um eine Konkurrentenklage erheben zu können. Das Finanzamt verweigert die Auskunftserteilung. U kann sein Auskunftsbegehren mit der allgemeinen Leistungsklage vor Gericht verfolgen.1

Für eine neben der Anfechtungsklage erhobene Leistungsklage, mit der die Rückzahlung des Betrages begehrt wird, der aufgrund des angefochtenen Bescheides entrichtet worden ist, fehlt in der Regel das Rechtsschutzbedürfnis. Denn es ist davon auszugehen, dass das Finanzamt die sich aus der Änderung eines Bescheides zu Gunsten des Steuerpflichtigen ergebenden Konsequenzen ziehen wird.2

3.179

V. Feststellungsklage Literatur: Grube, Zum vielfältigen Rechtsschutz gegen nichtige Steuerbescheide, DStZ 2011, 569; Loose, Das Klagesystem der Finanzgerichtsordnung, BB 1966, 243; Munkert/Naczinsky, Gerichtliche Rechtsbehelfs-/-mittelverfahren, DStR Beihefter 7/2009, 7; Weber, Fortsetzungsfeststellungsklage bei „Judiz-Kassation“, DStR 2007, 2298 (2304).

1. Allgemeines Gem. § 41 Abs. 1 FGO kann durch eine Klage auch die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes begehrt werden.3 Damit wird bezweckt, eine Rechtsschutzlücke auszufüllen. Durch die Möglichkeit einer Feststellungsklage soll der Rechtsschutz in Form der Anfechtungs-, Verpflichtungs- oder sonstigen Leistungsklage ergänzt werden.

3.180

Die Feststellungsklage ist gerichtet auf Feststellung

3.181

– des Bestehens eines Rechtsverhältnisses, – des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder – der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes. Die Feststellungsklage ist an keine Frist gebunden. Ebenso ist ein Vorverfahren nicht erforderlich.

3.182

2. Rechtsverhältnis Gegenstand der Feststellungsklage ist ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis. Hierunter ist eine bestimmte, konkrete, durch den vorgetragenen Sachverhalt gegebene, rechtlich geregelte Beziehung von Personen untereinander oder von Personen zu einem Gegenstand zu verstehen. Mit anderen Worten: Ein Rechtsverhältnis liegt dann vor, wenn sich aus der Anwendung von Rechtssätzen auf einen Sachverhalt rechtliche Beziehungen zwischen mehreren Personen oder zwischen einer Person und einem Gegenstand ergeben.

1 BFH v. 5.10.2006 – VII R 24/03, BStBl. II 2007, 243. 2 BFH v. 28.1.2002 – VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934 unter Berufung auf BFH v. 16.7.1980 – VII R 24/77, BStBl. II 1980, 632. 3 S. Muster M 11, Rz. 11.11.

Schaumburg

129

3.183

Kap. 3 Rz. 3.184

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Beispiel 1: Der körperschaftsteuerbefreite Verband klagte auf Feststellung, ob und in welchem Umfang er befugt ist, Spendenbescheinigungen auszustellen.1 Beispiel 2: Der Optionsberechtigte U klagt auf Feststellung, dass ein bestimmter Veräußerungsvorgang betr. ein Grundstück steuerpflichtig ist, so dass er vom Grundstücksveräußerer eine Rechnung verlangen und den Vorsteuerabzug geltend machen kann.2

3.184 Die Feststellungsklage kann nicht auf die Feststellung der Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Rechtsnorm gerichtet werden.3 Dem Kläger wird es allerdings in den meisten Fällen gar nicht um die abstrakte Gültigkeit der Norm gehen, sondern darum, ob die von ihm in ihrer Gültigkeit angezweifelte Norm in seinem Fall angewendet werden kann. Er kann deshalb in aller Regel mit der Anfechtungsklage gegen den Bescheid vorgehen, in dem die von ihm als ungültig angesehene Norm angewendet worden ist. Ferner können eine bestimmte Rechtsfrage, die Feststellung abstrakter Rechtsfragen sowie die Feststellung von Tatsachen oder von Sachverhalten nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein. Auch künftige Rechtsbeziehungen stellen noch kein Rechtsverhältnis dar, weil es insoweit an der nötigen Konkretisierung fehlt. Deshalb ist eine sog. vorbeugende Feststellungsklage im Besteuerungsverfahren grundsätzlich ausgeschlossen.4 Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass weitere Rechtsverletzungen drohen, die auf andere Weise nicht abgewehrt werden können, und nachträglicher Rechtsschutz nicht wirksam oder zumutbar ist.5 Dies kann ausnahmsweise im Vollstreckungsverfahren gelten, wenn ansonsten kein anderer Rechtsschutz mehr zu erlangen ist.6 Normalerweise muss aber auch hier Rechtsschutz in dem dafür vorgesehenen Verwaltungsverfahren gesucht werden. 3. Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes

3.185 Auch die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes kann Gegenstand der Feststellungsklage sein, obwohl ein Verwaltungsakt kein Rechtsverhältnis darstellt, sondern ein solches lediglich begründet, ändert oder aufhebt.7 Da aber auch durch einen nichtigen Verwaltungsakt der Rechtsschein eines Rechtsverhältnisses begründet wird, hat der Gesetzgeber in § 41 Abs. 1 FGO ausdrücklich eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes zugelassen. Mit der Feststellungsklage kann auch die Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes wegen fehlerhafter Bekanntgabe und damit das Vorliegen eines Nichtaktes geltend gemacht werden. Eine auf die Beseitigung des Rechtsscheins der ordnungsgemäßen Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes gerichtete Feststellungsklage ist gegenüber einer auf das gleiche Rechtsschutzziel gerichteten Anfechtungsklage nicht subsidiär (§ 41 Abs. 2 Satz 2 FGO). Die Feststellungsklage ist vielmehr wahlweise neben der Anfechtungsklage gegeben; es sollten insoweit Hauptund Hilfsantrag (s. Rz. 3.128) gestellt werden.8 1 2 3 4

5 6 7 8

BFH v. 23.9.1999 – XI R 66/98, BStBl. II 2000, 533. BFH v. 10.7.1997 – V R 94/96, BStBl. II 1997, 707. Levedag in Gräber, § 41 FGO Rz. 13. So ausdrücklich BFH v. 8.4.1981 – II R 47/79, BStBl. II 1981, 581; nicht ganz so eindeutig in BFH v. 11.12.2012 – VII R 69/11, BFH/NV 2013, 739 unter Berufung auf BFH v. 3.11.2010 – VII R 21/10, BStBl. II 2011, 401; vgl. dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 41 FGO Rz. 11; a. A. Steinhauff in HHSp, § 41 FGO Rz. 75. Ebenso Steinhauff in HHSp, § 41 FGO Rz. 75 f. Vgl. BFH v. 11.12.2012 – VII R 69/11, BFH/NV 2013, 739 unter Berufung auf BFH v. 3.11.2010 – VII R 21/10, BStBl. II 2011, 401. S. Muster M 11, Rz. 11.11. BFH v. 16.9.2004 – VII B 20/04, BFH/NV 2005, 231 m. w. N.

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Schaumburg

C. Klagearten

Rz. 3.190 Kap. 3

In der Praxis kommt die sog. Nichtigkeitsfeststellungsklage (§ 41 Abs. 1 3. Alt.; Abs. 2 Satz 2 FGO) recht häufig vor. Bei dieser gibt es keine Zulässigkeitsprobleme bestehen; allem die Beschwer und das Feststellungsinteresse sind immer zu bejahen.

3.186

Die Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes oder die Frage, ob überhaupt ein Verwaltungsakt vorliegt, kann dagegen nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein. Eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit einer Maßnahme, die nicht als Verwaltungsakt anzusehen ist, ist unzulässig.

3.187

4. Feststellungsinteresse Eine Feststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (§ 41 Abs. 1 FGO). Dieses Feststellungsinteresse ist eine Sachentscheidungsvoraussetzung. Das bedeutet: Liegt diese Voraussetzung im Zeitpunkt der Entscheidung – in aller Regel zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – nicht vor, ist die Klage als unzulässig abzuweisen. Bei Klage der Feststellung auf Nichtigkeit eines Verwaltungsakts ist dieses Feststellungsinteresse immer gegeben.

3.188

Ein berechtigtes Interesse ist jedes nach der Sachlage anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art.1 Liegt ein solches Interesse vor, kann es nur dann als berechtigt angesehen werden, wenn eine Unsicherheit in der Rechtsstellung des Klägers besteht, die der Klarstellung bedarf und die er nicht anderweitig beheben kann. Aus diesem Grunde sind zahlreiche allgemeine Feststellungklagen von der Rechtsprechung als unzulässig angesehen worden.

3.189

Beispiel: E hat mehrere Eigentumswohnungen. Er hat vor, im nächsten Jahr drei Wohnungen zu verkaufen. Er bittet um Mitteilung, ob die Verkaufserlöse steuerlich zu erfassen seien. Das Finanzamt lehnt die erbetene Stellungnahme ab. E kann sein Begehren nicht mit einer Feststellungsklage durchsetzen. Es liegt noch kein konkreter Sachverhalt vor, aus dem sich rechtliche Beziehungen zwischen dem Finanzamt und E ergeben könnten.2 A könnte einen Antrag auf eine verbindliche Auskunft nach § 89 AO stellen (gebührenpflichtig!), wenn er den Verkauf davon abhängig machen will, dass die Veräußerungserlöse steuerfrei bleiben.

Nach § 41 Abs. 2 Satz 1 FGO fehlt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Feststellungsklage insbesondere dann, wenn der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- (z. B. durch Anfechtungsklage) oder Leistungsklage (z. B. Verpflichtungsklage) verfolgen kann oder hätte verfolgen können (sog. Subsidiarität der Feststellungsklage).3 Durch diese Vorschrift ist gewährleistet, dass die für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen geltenden Vorschriften für das Vorverfahren und die Klagefrist nicht umgangen werden können. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt allerdings nicht bereits deshalb, weil das Finanzamt das streitige Rechtsverhältnis irgendwann durch Verwaltungsakt klären könnte. Für den Ausschluss des Rechtsschutzbedürfnisses kommt es entscheidend darauf an, ob in absehbarer Zeit mit einem klärenden Verwaltungsakt zu rechnen ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die steuerliche Beurteilung eines Sachverhalts grundsätzlich dem Steuerfestsetzungsverfahren vorbehalten ist, und zwar unabhängig davon, wie viel Zeit zwischen der Verwirklichung des Sachverhaltes und der 1 BFH v. 27.8.2003 – II R 18/02, BFH/NV 2004, 203; s. hierzu auch Levedag in Gräber, § 41 FGO Rz. 28 f.; Seer in Tipke/Kruse, § 41 FGO Rz. 8 ff.; Steinhauff in HHSp, § 41 FGO Rz. 230 ff. 2 Vgl. BFH v. 8.4.1981 – II R 47/79, BStBl. II 1981, 581. 3 BFH v. 10.11.1998 – VIII R 3/98, BStBl. II 1999, 199; v. 13.10.1999 – IV B 8/99, BFH/NV 2000, 458.

Schaumburg

131

3.190

Kap. 3 Rz. 3.191

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Durchsetzung des Steuerfestsetzungsverfahrens regelmäßig vergeht und wie groß das Interesse des Steuerpflichtigen an einer baldigen Klärung der steuerlichen Rechtslage ist. Beispiel: A streitet mit dem Finanzamt darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen eine stille Beteiligung seiner minderjährigen Kinder an seinem Komplementär-Anteil an einer KG steuerlich anzuerkennen ist. K kann diese Streitfrage nicht durch eine Feststellungsklage klären lassen. Denn diese Frage hat das Finanzamt zunächst in einem Steuerbescheid zu beurteilen, der dann mit der Anfechtungsklage ggf. angefochten werden kann.1

3.191 Ist an sich eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage möglich, so kommt eine Feststellungsklage nach § 41 Abs. 2 Satz 1 FGO nicht in Betracht. Dies gilt auch dann, wenn die Frist für die an sich mögliche Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage verstrichen ist (Subsidiarität der Feststellungsklage). Unter Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip wird das Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellungsklage immer wieder abgelehnt.2

3.192 Nicht subsidiär ist allerdings die sog. Nichtigkeitsfeststellungsklage (§ 41 Abs. 1 3. Alt.; Abs. 2 Satz 2 FGO), mit der auch die Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes wegen fehlender Bekanntgabe geltend gemacht werden kann. Diese Klage wird in der Praxis ohne Probleme als zulässig angesehen. 5. Fortsetzungsfeststellungsklage

3.193 Die Fortsetzungsfeststellungsklage3 ist ein Sonderfall der Feststellungsklage. Ihre Zulässigkeit wird aus § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO hergeleitet. Sie bezieht sich auf die Fälle, in denen sich eine zulässige Anfechtungsklage vor der gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache erledigt hat, z. B. durch Rücknahme des angefochtenen Verwaltungsaktes oder durch antragsgemäße Änderung. In entsprechender Anwendung des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO kommt eine Fortsetzungsfeststellungsklage auch dann in Betracht, wenn sich während des Rechtsstreits der mit der Klage verfolgte Verpflichtungsantrag4 erledigt hat. Schließlich ist die Fortsetzungsfeststellungsklage auch zulässig, wenn sich der streitbefangene Verwaltungsakt schon vor Klageerledigung erledigt hat.5 Die Fortsetzungsfeststellungsklage, die sich immer auf einen Verwaltungsakt bezieht, kommt nicht bei der Erledigung von Leistungs- oder Feststellungsklagen in Betracht.6

3.194 Bei Erledigung der Hauptsache muss der Kläger in der Regel den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären, darf also nur einen Kostenantrag stellen, über den das Gericht dann zu entscheiden hat. Hält er an seinem Klageantrag (Sachantrag) fest, müsste die Klage mangels Rechtsschutzinteresses abgewiesen werden. In derartigen Fällen kann der Kläger aber gem. § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO beantragen,

1 2 3 4

Vgl. dazu BFH v. 1.2.1973 – IV R 1/72, BStBl. II 1973, 533. Vgl. BFH v. 12.8.2011 – VII B 159/10, BFH/NV 2011, 2104. S. Muster M 12, Rz. 11.12. BFH v. 8.1.2014 – VII R 38/12, BFH/NV 2014, 562; v. 21.2.2006 – IX R 78/99, BStBl. II 2006, 930. 5 BFH v. 10.7.2002 – X R 65/96, BFH/NV 2002, 1567. 6 Brandis in Tipke/Kruse, § 100 FGO Rz. 46; Stapperfend in Gräber, § 100 FGO Rz. 82.

132

Schaumburg

C. Klagearten

Rz. 3.198 Kap. 3

– das Gericht möge die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bzw. die Rechtswidrigkeit der Ablehnung des Erlasses eines beantragten Verwaltungsaktes feststellen.

3.195

Erledigt sich der angefochtene Verwaltungsakt, so ist in der Praxis immer zu prüfen, – ob die Klage aus Kostengründen zurückgenommen werden soll – oder die Hauptsache für erledigt erklärt werden soll – dies ist in den meisten Fällen der Fall – – oder ob die Klage als „Fortsetzungsfeststellungsklage“ fortgeführt werden soll. Letzteres setzt voraus, dass noch ein besonderes Rechtsschutzinteresse an einer Entscheidung durch das Gericht vorliegt. In diesem Fall empfiehlt es sich, den bisherigen Klageantrag auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag ausdrücklich umzustellen.

3.196

Beispiel: Nachdem sich der angefochtene Einkommensteuerbescheid 00 vom … durch antragsgemäße Änderung erledigt hat, wird nunmehr beantragt, festzustellen, dass der ursprüngliche Verwaltungsakt vom … rechtswidrig war. Begründung: Der Kläger hat an dieser Feststellung ein berechtigtes Interesse, weil …

Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Fortsetzungsfeststellungsklage ist immer, dass der Kläger an dieser Feststellung ein berechtigtes Interesse hat. Es genügt jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art.1 Dass ein solches berechtigtes Interesse besteht, muss vom Kläger hinreichend substantiiert dargelegt werden.2

3.197

Ein berechtigtes Interesse in diesem Sinne ist in folgenden Fällen angenommen worden:

3.198

– Wenn der erledigte Verwaltungsakt diskriminierende Wirkung hatte und deshalb ein schutzwürdiges Rehabilitierungsinteresse besteht. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn in dem angefochtenen Bescheid der Vorwurf der Steuerhinterziehung enthalten war.3 – Wenn die beantragte Entscheidung für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen in Verfahren vor den Zivilgerichten von Bedeutung ist. Voraussetzung ist allerdings, dass die Schadensersatzklage bereits anhängig ist und mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist, dass die finanzgerichtliche Entscheidung für das zivilgerichtliche Urteil nicht unerheblich ist und die Rechtsverfolgung vor dem Zivilgericht nicht offensichtlich aussichtslos ist. Dies muss der Kläger substantiiert darlegen, wozu auch Ausführungen zur Art und Höhe des Schadens gehören.4 – Unter dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr wird ein Feststellungsinteresse dann bejaht, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit auch in den Folgejahren ein im Wesentlichen gleicher Sachverhalt der Besteuerung zu Grunde liegen wird und anzunehmen 1 Vgl. BFH v. 11.8.1998 – VII R 72/97, BStBl. II 1998, 750. 2 BFH v. 10.2.2010 – XI R 3/09, BFH/NV 2010, 1450. 3 BFH v. 4.12.2012 – VIII R 5/10, BStBl. II 2014, 220; v. 15.12.2004 – X B 56/04, BFH/NV 2005, 714. 4 BFH v. 22.7.2008 – VIII R 8/07, BStBl. II 2008, 941; v. 22.12.2003 – VII B 35/03, BFH/NV 2004, 652; v. 17.5.2001 – I S 2/01, BFH/NV 2001, 1426 m. w. N.

Schaumburg

133

Kap. 3 Rz. 3.199

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ist, dass das Finanzamt dabei zu seiner ursprünglichen, dem Steuerpflichtigen ungünstigen Rechtsauffassung zurückkehren wird.1

3.199 Bei einer Ablehnung einer begehrten Fristverlängerung wird das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach Zeitablauf ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr bejaht.2 Darüber hinaus wird das Feststellungsinteresse auch aus der sich aus der Ablehnung der Fristverlängerung ergebenden Festsetzung und Androhung von Zwangsgeldern hergeleitet.3

3.200 Bei einer erledigten Prüfungsanordnung wird ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt eines Verwertungsverbots4 und unter dem Aspekt, ob die Festsetzungsverjährung nach § 171 Abs. 4 AO5 gehemmt wird, bejaht. Denn die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Prüfungsanordnung ist notwendig, um in einem Verfahren gegen die betreffenden Änderungsbescheide mit Erfolg geltend machen zu können, die anlässlich der Betriebsprüfung bekannt gewordenen Tatsachen dürften nicht verwertet werden. Haben die Prüfungsfeststellungen bereits Eingang in Steuerbescheide gefunden, so kann ein Verwertungsverbot nur dann Erfolg haben, wenn diese Bescheide noch geändert werden können. Deshalb müssen diese Steuerbescheide zusätzlich angefochten werden, um die aus den Prüfungsfeststellungen gezogenen Folgerungen zu beseitigen.

3.201 Eine Fortsetzungsfeststellungsklage i. S. des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO kann auch in den Fällen erhoben werden, in denen sich der streitige Verwaltungsakt bereits vor Klageerhebung erledigt hat.6 Voraussetzung ist allerdings auch hier, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist. Beispiel: Im Rahmen einer bei S durchgeführten Betriebsprüfung richtete das Finanzamt ein Auskunftsersuchen an A betr. Provisionszahlungen. A erteilte die erbetenen Auskünfte sofort. Gegen das Auskunftsersuchen legte S Einspruch ein. Hier kann S eine Fortsetzungsfeststellungsklage erheben mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit des Auskunftsersuchens gerichtlich feststellen zu lassen, obwohl sich das Auskunftsersuchen durch Beantwortung bereits vor Erhebung der Klage erledigt hatte. Das für die Zulässigkeit dieser Klage erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung könnte z. B. unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr vorliegen, wenn weitere Auskunftsersuchen des Finanzamts zu befürchten sind, oder aber wenn S gegen das Finanzamt einen Schadensersatzprozess anstrengen will, der nicht offensichtlich aussichtslos ist.

3.202–3.206

Einstweilen frei.

1 Vgl. BFH v. 29.7.2015 – X R 9/14, BStBl. II 2016, 135; v. 29.1.2003 – XI R 82/00, BStBl. II 2003, 550; v. 16.12.1971 – IV R 221/67, BStBl. II 1972, 182. 2 BFH v. 28.6.2000 – X R 24/95, BStBl. II 2000, 514; v. 11.4.2006 – VI R 64/02, BStBl. II 2006, 642. 3 BFH v. 21.2.2006 – IX R 78/99, BStBl. II 2006, 392. 4 BFH v. 27.7.2015 – X R 4/14, BStBl. II 2016, 135; v. 15.12.1999 – X B 86/99, BFH/NV 2000, 681. 5 BFH v. 25.9.2006 – VI B 79/05, BFH/NV 2007, 84. 6 BFH v. 10.7.2002 – X R 65/96, BFH/NV 2002, 1567; v. 26.9.2007 – I R 43/06, BStBl. II 2008, 134.

134

Schaumburg

D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.211 Kap. 3

D. ABC der Klagemöglichkeiten Literatur: von Eichborn, Wie kommt der Unternehmer an seine Rechnung?, DStR 2011, 1249; Grube, Zum vielfältigen Rechtsschutz gegen nichtige Steuerbescheide, DStZ 2011, 569; Lindwurm, Anordnen, Annehmen und Ablehnen von Sicherheitsleistungen – Überlegungen zum Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der Finanzbehörden, DStZ 2009, 328; Loose, Das Klagesystem der Finanzgerichtsordnung, BB 1966, 243; Maidorn, Der automatisierte Kontenabruf – Rechtsschutz gegen einen „Realakt“, NJW 2006, 3752; Müller, Ermittlungsfehler der Finanzverwaltung – So lässt sich erfolgreich ein Verwertungsverbot erwirken!, AO-StB 2009, 20; Munkert/Naczinsky, Gerichtliche Rechtsbehelfs-/-mittelverfahren, DStR Beihefter 7/2009, 7; Sinewe/Frase, Die Praxis der steuerrechtlichen Konkurrentenklage, BB 2011, 1567; Weber, Fortsetzungsfeststellungsklage bei „Judiz-Kassation“, DStR 2007, 2298 (2304).

Änderungsbescheid: (1) Erstrebt der Steuerpflichtige die Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids und damit den Erlass eines Änderungsbescheids zu seinen Gunsten, z. B. nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, so muss er den Erlass eines Änderungsbescheids nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der Verpflichtungsklage geltend machen.

3.207

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, einen Einkommensteueränderungsbescheid 00 zu erlassen und die Einkommensteuer 00 auf …,– Euro herabzusetzen. oder besser unbeziffert: … den Beklagten zu verpflichten, bei der Einkommensteuer 00 zusätzliche Ausgaben i. H. v. … anzuerkennen und einen entsprechenden Änderungsbescheid zu erlassen.

(2) Will der Steuerpflichtige sich hingegen gegen einen ergangenen Änderungsbescheid mit der Begründung wenden, die Voraussetzungen für eine Änderung lägen nicht vor, z. B. weil keine neuen Tatsachen vorlägen, muss er eine Anfechtungsklage (Aufhebungsklage) erheben.

3.208

Antrag: Es wird beantragt, den geänderten Einkommensteuerbescheid 00 vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

(3) Geht es dem Steuerpflichtigen wiederum um eine Änderung des Änderungsbescheids, weil die Änderung dem Grunde nach zwar zutreffend, aber nicht in vollem Umfang gerechtfertigt ist, und um die Herabsetzung der Steuer, so ist die Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage die richtige Klageart.

3.209

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … und Änderung des Einkommensteueränderungsbescheids 00 vom … die Einkommensteuer 00 auf …,– Euro herabzusetzen oder unbeziffert: … die Einkommensteuer 00 unter Berücksichtigung weiterer Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb herabzusetzen.

Anteilsbewertung: s. Feststellungsbescheid

3.210

Auflage: Soll die einem begünstigenden Bescheid beigefügte Auflage, die eine selbständige Bedeutung hat und den Inhalt des Bescheids nicht berührt, beseitigt werden, ist Anfechtungsklage gegen die Auflage zu erheben. Denn nach herrschender Meinung ist die Auflage selbständi-

3.211

Schaumburg

135

Kap. 3 Rz. 3.212

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ger und damit auch selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt.1 Dieser Fall kommt in der Praxis aber nur selten vor. Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … die dem Stundungsbescheid vom … beigefügte Auflage … aufzuheben.

3.212 Auskunftsersuchen: Das Auskunftsersuchen nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AO gegenüber Beteiligten oder anderen Personen, über die zur Feststellung eines für die Besteuerung erheblichen Sachverhaltes erforderlichen Auskünfte zu erteilen, ist ein Verwaltungsakt, gegen den Anfechtungsklage erhoben werden kann.2 Beschwert sind bei einem Auskunftsersuchen gegenüber Dritten sowohl der Dritte als auch der Steuerpflichtige selbst;3 beide können also gegen das Auskunftsersuchen vorgehen. Im Einspruchs- und im Klageverfahren muss überprüft werden, ob die Sachaufklärung durch den Steuerpflichtigen selbst zu keinem Erfolg geführt hat oder keinen Erfolg verspricht. Ferner ist zu beachten, dass es sich um eine Ermessensentscheidung des Finanzamts handelt, die vom Gericht nur eingeschränkt (§ 102 FGO) überprüfbar ist. Antrag: Es wird beantragt, das Auskunftsersuchen vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.213 Außenprüfung s. Betriebsprüfung 3.214 Berichtigungsbescheid: s. Änderungsbescheid 3.215 Betriebsprüfung (Außenprüfung): Die Anordnung einer steuerlichen Außenprüfung und Fragen im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit von Prüfungsmaßnahmen sind nur selten Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen.4 Ausgangspunkt für eine Klagemöglichkeit ist hier immer die Frage, ob es sich bei der Maßnahme um einen Verwaltungsakt handelt – dann sind Einspruch und Anfechtungsklage möglich – oder um eine bloße Vorbereitungshandlung, die erst inzident im Rahmen einer Anfechtung des nachfolgenden Steuerbescheids überprüft werden kann – eine Feststellungsklage wäre wegen ihrer Subsidiarität insoweit unzulässig.

3.216 (1) Die Anordnung der Betriebsprüfung stellt einen solchen Verwaltungsakt dar. Sie kann deshalb mit Einspruch und Anfechtungsklage (Aufhebungsklage) angefochten werden. Will der Steuerpflichtige verhindern, dass die anlässlich einer Betriebsprüfung gewonnenen Erkenntnisse vom Finanzamt verwertet werden, so muss er die Betriebsprüfungsanordnung anfechten. Nur auf diese Weise kann er ein Verwertungsverbot erreichen. Antrag: Es wird beantragt, die Betriebsprüfungsanordnung vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.217 Ist die Betriebsprüfung bereits beendet, bevor der Kläger Klage erhoben hat oder wird die Prüfung während des Klageverfahrens beendet, muss der Kläger statt der Anfechtungsklage die sog. Fortsetzungsfeststellungsklage (s. Rz. 3.193 ff.) erheben bzw. von der Anfechtungs-

1 2 3 4

Vgl. BFH v. 25.8.1981 – VII B 3/81, BStBl. II 1982, 34; Ratschow in Klein, § 120 AO Rz. 11. BFH v. 19.12.2006 – VII R 56/05, BFH/NV 2007, 799. Seer in Tipke/Kruse, § 93 AO Rz. 34. Drüen, AO-StB 2009, 88; Tormöhlen, AO-StB 2009, 88.

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Schaumburg

D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.222 Kap. 3

klage zur Fortsetzungsfeststellungsklage überwechseln, um später ein Verwertungsverbot geltend machen zu können. Antrag: Es wird beantragt, festzustellen, dass die Prüfungsanordnung des Beklagten vom … rechtswidrig war.

Die Prüfungsanordnung ist ggf. auch nur teilweise anfechtbar, und zwar sind die Bestimmung des Prüfungsortes1 und des Prüfungsbeginns2 selbständig anfechtbare Verwaltungsakte, die gesondert angefochten werden können. Die Bestimmung des Betriebsprüfers ist nach der insoweit zweifelhaften Rechtsprechung dagegen kein selbständiger Verwaltungsakt und nicht selbständig anfechtbar.3 Insoweit kann der Kläger ggf. nur die Besorgnis der Befangenheit geltend machen.

3.218

(2) Die Ablehnung der Verlegung des Betriebsprüfungsbeginns (§ 197 Abs. 2 AO) ist ein Verwaltungsakt.4 Nach erfolglosem Einspruchsverfahren ist, da der Steuerpflichtige eine Verlegung des Prüfungsbeginns erstrebt – also einen neuen Verwaltungsakt –, Verpflichtungsklage auf Verlegung des Prüfungsbeginns zu erheben. Mit einer Anfechtungsklage gegen die ablehnende Entscheidung des Finanzamts könnte der Steuerpflichtige sein Ziel nicht erreichen; denn mit dieser Klage würde nur die ablehnende Entscheidung aufgehoben, die Festsetzung des Prüfungsbeginns aber bliebe bestehen. Außerdem handelt es sich bei der Entscheidung über die Terminverlegung um eine Ermessensentscheidung. Deshalb ist es ratsam, einen Bescheidungsantrag zu stellen.

3.219

Es empfiehlt sich deshalb folgender

3.220

Antrag: Es wird beantragt, die Festsetzung des Prüfungsbeginns durch Verfügung vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Antrag auf Terminverlegung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

(3) Auch die Erweiterungsanordnung ist ein Verwaltungsakt.5 Es gelten deshalb die Ausführungen zum Stichwort „Anordnung einer Betriebsprüfung“ entsprechend.

3.221

(4) Der vorzeitige Abbruch einer Betriebsprüfung, etwa weil der Betriebsprüfer die Aufdeckung von Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen vermeiden will, ist ein Verwaltungsakt und deshalb mit dem Einspruch und der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angreifbar.6

3.222

Antrag: Es wird beantragt, die Entscheidung vom … über den Abbruch der Betriebsprüfung und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

1 BFH v. 23.2.2011 – VIII B 63/10, BFH/NV 2011, 964. 2 BFH v. 25.1.1989 – X R 158/87, BStBl. II 1989, 483. 3 BFH v. 13.12.1994 – VII R 46/94, BFH/NV 1995, 758; v. 9.4.2009 – IV S 5/09, BFH/NV 2009, 1080. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 197 AO Rz. 17. 5 BFH v. 22.12.2011 – VIII B 251/09, BFH/NV 2012, 443; v. 3.11.2011 – IV B 62/10, BFH/NV 2012, 369; v. 20.6.2011 – VIII B 246/09, BFH/NV 2011, 748. 6 BFH v. 24.10.1972 – VIII R 108/72, BStBl. II 1973, 542.

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Kap. 3 Rz. 3.223

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.223 Mit der Klage kann dann z. B. geltend gemacht werden, die Betriebsprüfung sei nur abgebrochen worden, um die Aufdeckung neuer Tatsachen zu Gunsten des Steuerpflichtigen zu verhindern.

3.224 (5) Die Ablehnung einer Schlussbesprechung ist ebenso wie der Abbruch einer Betriebsprüfung ein anfechtbarer Verwaltungsakt.1 Deshalb gelten die Ausführungen zum Stichwort „Abbruch einer Betriebsprüfung“ sinngemäß.

3.225 (6) Die Konkretisierung der in § 200 AO festgelegten Mitwirkungspflichten durch den Betriebsprüfer ist als Verwaltungsakt anzusehen, z. B. die Aufforderung, bestimmte Aufzeichnungen, Bücher oder Urkunden vorzulegen, bestimmte Auskünfte zu erteilen. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren kann die betreffende Maßnahme mit der Anfechtungsklage angefochten werden. Antrag: Es wird beantragt, die Aufforderung des Beklagten vom …, Auskunft darüber zu erteilen, ob …, sowie die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.226 Hat sich die Aufforderung vor einer gerichtlichen Entscheidung durch Rücknahme oder anders erledigt, kommt statt einer Anfechtungsklage eine Fortsetzungsfeststellungsklage in Betracht, falls der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat (s. Rz. 3.193 ff.). Antrag: Es wird beantragt, festzustellen, dass die Aufforderung des Beklagten vom …, Auskunft darüber zu erteilen, ob …, sowie die Einspruchsentscheidung vom … rechtswidrig waren.

3.227 (7) Die Ablehnung der Durchführung einer Betriebsprüfung ist ein Verwaltungsakt und deshalb mit dem Einspruch und der anschließenden Verpflichtungsklage auf Durchführung einer Betriebsprüfung anfechtbar.

3.228 Da der Erlass einer Prüfungsanordnung eine Ermessensentscheidung ist, kann das Gericht das Finanzamt nur verurteilen, den Steuerpflichtigen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 101 FGO). Eine Ermessensreduzierung auf null, die zu einem unmittelbaren Anspruch führt, dürfte regelmäßig nicht vorliegen.

3.229 Es empfiehlt sich deshalb folgender Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Prüfungsanordnung hinsichtlich der folgenden Steuerarten … und Steuerjahre … unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

3.230 Datenzugriff: Die Aufforderung des Beklagten, den Datenzugriff zu dulden und durch Übergabe des Datenträgers hieran mitzuwirken (§ 147 Abs. 6 Satz 2 AO), ist ein Verwaltungsakt, der durch Einspruch und Anfechtungsklage angefochten werden kann.2

1 BFH v. 16.12.1987 – I R 66/84; BFH/NV 1988, 319; Seer in Tipke/Kruse, Vor § 193 AO Rz. 33 und § 201 AO Rz. 3 m. w. N. 2 BFH v. 8.4.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579; Drüen in Tipke/Kruse, § 147 AO Rz. 82; Rätke in Klein, § 147 AO Rz. 67.

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D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.235 Kap. 3

Antrag: Es wird beantragt, die Aufforderung des Beklagten vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

Einheitswertbescheid: Bei Klagen gegen Einheitswertbescheide kommen mehrere Klagearten in Betracht, je nachdem, gegen welche Art Bescheid sich der Kläger wendet und mit welchem Ziel:

3.231

(1) Hauptfeststellungs- und Nachfeststellungsbescheide enthalten jeweils drei Feststellungen, die selbständig nebeneinander stehen und selbständig angegriffen werden können, nämlich die Feststellung der Art und des Wertes der wirtschaftlichen Einheit sowie die Zurechnung der wirtschaftlichen Einheit. Wendet sich der Kläger gegen die Artfeststellung (z. B. Feststellung der Grundstücksart „Geschäftsgrundstück“ statt „Mietwohngrundstück“) oder gegen die Zurechnung der wirtschaftlichen Einheit, so muss er eine Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage erheben.

3.232

Antrag: Es wird beantragt, den Nachfeststellungsbescheid vom … hinsichtlich der Artfeststellung „Geschäftsgrundstück“ bzw. hinsichtlich der Zurechnung des Grundstücks auf den Kläger sowie die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

Will der Kläger Einwendungen gegen die Höhe des festgestellten Einheitswertes erheben, erstrebt er also eine Herabsetzung des Einheitswertes, so ist richtige Klageart die Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage.

3.233

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … und Änderung des Einheitswertbescheides vom … den Einheitswert auf … Euro herabzusetzen. Oder unbeziffert: den Einheitswert unter Berücksichtigung einer Jahresrohmiete von … festzusetzen.

(2) Erstrebt der Kläger eine Fortschreibung hinsichtlich der Art-, Wert- oder Zurechnungsfeststellung, so muss er eine Verpflichtungsklage erheben, da er den Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes (Fortschreibungsbescheid) erstrebt.

3.234

Antrag: Es wird beantragt, den Beklagten zu verpflichten, hinsichtlich des Grundstücks … auf den 1.1. … eine Artfortschreibung zum Mietwohngrundstück durchzuführen, oder: den Beklagten zu verpflichten, den Einheitswert des Grundstücks … im Wege der Wertfortschreibung auf den 1.1. … auf … ,– Euro herabzusetzen, oder: den Beklagten zu verpflichten, auf den 1.1. … hinsichtlich des Grundstücks … eine Zurechnungsfortschreibung durchzuführen und das Grundstück dem Kläger zuzurechnen.

Einkommensteuerbescheid: (1) Erstrebt der Steuerpflichtige eine Herabsetzung der Einkommensteuer, so muss er eine Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage erheben (s. Muster M 7, Rz. 11.7).

Schaumburg

139

3.235

Kap. 3 Rz. 3.236

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.236 (2) Will der Steuerpflichtige geltend machen, dass zu Unrecht eine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt ist, z. B. weil die Voraussetzungen für eine Einkommensteuerveranlagung nicht erfüllt sind oder das Finanzamt zu Unrecht eine Zusammenveranlagung statt einer getrennten Veranlagung durchgeführt hat, so kann er sein Ziel mit einer Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage erreichen (s. Muster M 6, Rz. 11.6).

3.237 (3) Zur Berichtigung eines Einkommensteuerbescheides im Anschluss an die Änderung eines Grundlagenbescheides vgl. Stichwort „Folgebescheid“.

3.238 Einspruchsentscheidung: Ausnahmsweise kann eine Einspruchsentscheidung auch isoliert, d. h. ohne Anfechtung des betreffenden Steuerbescheids, angefochten werden, z. B. wenn der Einspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen worden ist (s. Rz. 3.448, Stichwort Einspruchsentscheidung). Hier kommt als Klageart nur die Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage in Betracht. Antrag: Es wird beantragt, die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.239 Feststellungsbescheid: Bei Feststellungsbescheiden ist auf die Frage der Klage- und Prozessführungsbefugnis besonders zu achten (s. Rz. 3.418 ff.).

3.240 (1) Lehnt das Finanzamt die Durchführung einer einheitlichen und gesonderten Feststellung von Einkünften ab, z. B. mit der Begründung, es läge sog. Liebhaberei vor, kann der Steuerpflichtige sein Ziel nur mit einer Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Feststellungsbescheides erreichen. Antrag: Es wird beantragt, unter Änderung der ablehnenden Verfügung vom … und Aufhebung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung den Beklagten zu verpflichten, für das Jahr 00 antragsgemäß eine einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte der Klägerin (z. B. einer GbR usw.) durchzuführen. oder: … den Beklagten zu verpflichten, für die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung des Grundstückes … für das Jahr 00 eine einheitliche und gesonderte Feststellung durchzuführen.

3.241 (2) Hatte das Finanzamt ursprünglich eine einheitliche und gesonderte Feststellung durchgeführt und die betreffenden Bescheide später aufgehoben mit der Begründung, die Voraussetzungen für eine gesonderte Feststellung lägen nicht vor, kann der Steuerpflichtige sein Ziel mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage erreichen. Wird der Aufhebungsbescheid auf die Klage hin aufgehoben, ist der ursprüngliche Feststellungsbescheid automatisch wieder in Kraft. Antrag: Es wird beantragt, den Aufhebungsbescheid vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.242 (3) Will der Steuerpflichtige erreichen, dass der Gewinnfeststellungsbescheid aufgehoben wird, weil die Voraussetzungen für eine gesonderte Feststellung nicht vorliegen, ist Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage zu erheben. Antrag: Es wird beantragt, den Feststellungsbescheid 00 vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

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D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.248 Kap. 3

Kommt es dem Steuerpflichtigen hingegen auf eine Änderung des Gewinnfeststellungsbescheides (Herabsetzung der Höhe des Gewinns, Herabsetzung des Gewinnanteils usw.) an, so ist eine Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage zu erheben.

3.243

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … den Gewinnfeststellungsbescheid vom … zu ändern und den Gewinn auf … herabzusetzen und/oder: den Gewinn wie folgt aufzuteilen …

(4) Für einen Bescheid, in dem nicht ein Gewinn, sondern ein Verlust einheitlich und gesondert festgestellt wird, gelten die Ausführungen zum Stichwort „Gewinnfeststellung“ sinngemäß. Wendet sich der Kläger gegen die Höhe oder die Verteilung des festgestellten Verlustes, muss er also eine Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage erheben. Soll geltend gemacht werden, die Voraussetzungen für eine gesonderte Feststellung lägen nicht vor, so ist die richtige Klageart die Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage.

3.244

(5) Auch der Bescheid über die Anteilsbewertung ist ein Feststellungsbescheid. Soll im Klagewege eine Herabsetzung des Wertes erreicht werden, ist die richtige Klageart die Anfechtungsklage in Form der Änderungsklage.

3.245

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … den Bescheid über die gesonderte Feststellung des gemeinen Wertes der Anteile an der Klägerin (GmbH) vom … zu ändern und den gemeinen Wert mit … festzustellen.

Soll mit der Klage geltend gemacht werden, dass die Voraussetzungen für eine gesonderte Feststellung nicht vorliegen, weil z. B. die Feststellung für die Besteuerung nicht von Bedeutung ist, so ist Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage zu erheben.

3.246

Antrag: Es wird beantragt, den Bescheid über die gesonderte Feststellung des gemeinen Wertes der Anteile an der Klägerin vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

Folgebescheid: Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH sind Klagen gegen einen Folgebescheid (z. B. Einkommensteuerbescheid, sofern einzelne Einkünfte gesondert festgestellt sind, Grundsteuermessbescheide im Verhältnis zu Einheitswertbescheiden) auch insoweit zulässig, als Einwendungen erhoben werden, die im Verfahren gegen einen Grundlagenbescheid zu prüfen sind;1 die Rechtsfolge des § 351 Abs. 2 AO besteht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur darin, dass die Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid im Klageverfahren unberücksichtigt bleiben, so dass die Klage insoweit unbegründet ist (s. Rz. 2.69 ff.). Es empfiehlt sich in diesem Fall in aller Regel, von der Klage gegen den Folgebescheid abzusehen, weil hierdurch ein zusätzliches Kostenrisiko entsteht. Wird das Verfahren gegen den Grundlagenbescheid verloren, so wird automatisch auch die Klage gegen den Folgebescheid abgewiesen, sofern sie nur auf Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid gestützt war.

3.247

Ist noch kein Grundlagenbescheid ergangen, oder ist er zwar ergangen, aber hiergegen ist noch ein Einspruchs- oder Klagverfahren anhängig, so hat das Gericht die Klage gegen den

3.248

1 So ausdrücklich BFH v. 9.11.2005 – I R 10/05, BFH/NV 2006, 750 m. w. N.

Schaumburg

141

Kap. 3 Rz. 3.249

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Folgebescheid bis zur Entscheidung über den Grundlagenbescheid gem. § 74 FGO auszusetzen (s. Rz. 3.761 f.).

3.249 Will der Steuerpflichtige gegen den Folgebescheid klagen mit Einwendungen, die im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid zu prüfen sind, so muss er Anfechtungsklage in Form einer Änderungsklage erheben. Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom …, den Einkommensteuerbescheid 00 vom … zu ändern und die Einkommensteuer auf … ,– Euro herabzusetzen oder unbeziffert: … die Einkommensteuer unter Berücksichtigung eines Verlustes aus Gewerbebetrieb von … ,– Euro herabzusetzen.

3.250 Werden bei einer Klage gegen einen Folgebescheid Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid erhoben, so muss der Kläger in der Praxis dafür Sorge tragen, dass der Grundlagenbescheid noch geändert werden kann und nicht bestandskräftig wird. Dies kann in den meisten Fällen nur durch Einspruchseinlegung und Klageerhebung gegen den Grundlagenbescheid geschehen. Unterläuft dem Berater hier ein schuldhaftes Versehen, kann dies zur Haftung führen. Bei einem Grundlagen- und Folgebescheid ist also besondere Vorsicht geboten!

3.251 Gewerbesteuermessbescheid: Hinsichtlich der Klagemöglichkeiten für Gewerbesteuermessbescheide gelten die Ausführungen zum Stichwort „Einkommensteuerbescheid“ sinngemäß.

3.252 Gewerbesteuerbescheid: Eine Klage gegen einen Gewerbesteuerbescheid ist nicht vor dem Finanzgericht möglich. Hierfür sind vielmehr die Verwaltungsgerichte zuständig. Ob vorher ein Widerspruchsverfahren durchzuführen ist, ist in den Bundesländern uneinheitlich geregelt und unübersichtlich. Seit dem 1.1.2016 muss in Nordrhein-Westfalen für ab dem 1.1.2016 bekannt gegebene Gewerbesteuerbescheide vor Anrufung des Verwaltungsgerichts das Widerspruchsverfahren, das seit 2007 abgeschafft worden war, wieder durchgeführt werden.1

3.253 Grunderwerbsteuerbescheid: Hinsichtlich der Klagemöglichkeiten bei Grunderwerbsteuerbescheiden gelten die Ausführungen zum Stichwort „Einkommensteuerbescheid“ entsprechend.

3.254 Grundlagenbescheid: S. die Ausführungen zum Stichwort „Folgebescheid“. – Ein typischer Grundlagenbescheid ist der Feststellungsbescheid; insoweit gelten die Ausführungen zum Stichwort „Feststellungsbescheid“.

3.255 Grundsteuermessbescheid: Es gelten sinngemäß die Ausführungen zum Stichwort „Einkommensteuerbescheid“.

3.256 Haftungsbescheid: Auch hier gelten sinngemäß die Ausführungen zum Stichwort „Einkommensteuerbescheid“.

1 Gesetz zur Änderung des Landesbeamtengesetzes und des Justizgesetzes Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung weiterer Rechtsvorschriften v. 9.12.2014, GV.NRW. Nr. 39 v. 16.12.2014.

142

Schaumburg

D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.260 Kap. 3

Insolvenzantrag1: Nach allgemeiner Meinung ist der vom Finanzamt gestellte Insolvenzantrag kein Verwaltungsakt,2 weil dem Antrag der verbindliche Regelungscharakter fehlt, indem durch den Antrag das Insolvenzverfahren nicht unmittelbar selbst eröffnet, sondern lediglich dessen Einleitung angestrebt wird. Finanzgerichtlicher Rechtsschutz gegen einen finanzamtlich gestellten Insolvenzantrag kann deshalb nur durch Erhebung einer Leistungsklage nach § 40 Abs. 1 FGO auf Verurteilung des Finanzamtes zur Rücknahme des Insolvenzantrages, die bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder bis zur rechtskräftigen Abweisung des Eröffnungsantrages möglich ist (§ 13 Abs. 2 InsO), erreicht werden. Ein Vorverfahren ist nicht erforderlich. Eine Feststellungsklage, dass der vom Finanzamt gestellte Insolvenzantrag rechtswidrig ist, ist unzulässig, da der Kläger sein Begehren auch durch Leistungsklage verfolgen kann.3 Zu beachten ist, dass es sich um eine Ermessensentscheidung des Finanzamts handelt, ob ein solcher Antrag gestellt wird. Dieser kann vom Gericht nach § 102 FGO nur eingeschränkt überprüft werden.

3.257

Antrag: Es wird beantragt, das beklagte Finanzamt zu verurteilen, den Insolvenzantrag vom … zurückzunehmen.

Der Kläger muss hier vortragen, dass die Stellung des Antrags ermessensfehlerhaft ist bzw. sich nach der Antragstellung Gesichtspunkte ergeben hätten, die die Aufrechterhaltung des Insolvenzantrages als ermessensfehlerhaft erscheinen lassen.

3.258

Konkurrentenklage: Bei der sog. Konkurrentenklage geht es um die Durchsetzung einer im Rahmen des geltenden Steuerrechts wettbewerbsneutralen Besteuerung für die betroffenen Marktteilnehmer. Die Zulässigkeit einer solchen negativen steuerlichen Konkurrentenklage, die auf die rechtmäßige Besteuerung der zu Unrecht steuerbegünstigten Konkurrenten abzielt, ist anerkannt, wenn die Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung gegen eine Norm verstößt, die drittschützenden Charakter hat.4 Macht ein Mitbewerber substantiiert geltend, die Nichtbesteuerung der wirtschaftlichen Tätigkeit der öffentlichen Hand oder einer steuerbefreiten Körperschaft beeinträchtige ihr Recht auf Teilnahme an einem steuerrechtlich nicht zu ihrem Nachteil verfälschten Wettbewerb, steht ihm die Verpflichtungsklage zu. Diese Klage ist nach Durchführung eines Vorverfahrens darauf gerichtet, das Finanzamt zu verpflichten, die juristische Person des öffentlichen Rechts hinsichtlich ihres Betriebes gewerblicher Art bzw. die steuerbefreite Körperschaft hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs zu besteuern.5

3.259

Antrag: Es wird beantragt, das beklagte Finanzamt zu verpflichten, die XY hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs zu besteuern.

Die Rechtsverletzung muss substantiiert dargelegt werden; ein unsubstantiierter Verdacht der steuerlichen Bevorzugung reicht insoweit nicht aus. Der regelbesteuerte Wettbewerber sollte zunächst einen Auskunftsanspruch gegenüber der Finanzbehörde geltend machen, um Gewissheit über die Steuerbegünstigung des Konkurrenten, normalerweise einem Betrieb der öffentlichen Hand oder eines gemeinnützigen Unternehmens zu haben. Sollte die Aus1 Vgl. dazu im Einzelnen Rz. 9.56 ff. 2 BFH v. 12.8.2011 – VII B 159/10, BFH/NV 2011, 2104; v. 26.2.2007 – VII B 98/06, BFH/NV 2007, 1270; Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 18. 3 BFH v. 12.8.2011 – VII B 159/10, BFH/NV 2011, 2104. 4 BFH v. 18.9.2007 – I R 30/06, BStBl. II 2009, 126; v. 15.10.1997 – I R 10/92, BStBl. II 1998, 63. 5 BFH v. 18.9.2007 – I R 30/06, BStBl. II 2009, 126; vgl. auch Steinhauff, AO-StB 2011, 270.

Schaumburg

143

3.260

Kap. 3 Rz. 3.261

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

kunft verweigert werden, so kann der Auskunftsanspruch unmittelbar mit der Leistungsklage beim Finanzgericht verfolgt werden.

3.261 Kontenabruf: Der Kontenabruf (§ 93 Abs. 1–7 AO) ist ein Realakt und mangels Regelung im Außenverhältnis kein Verwaltungsakt.1 Die Rechtmäßigkeit kann daher im Vorgriff nur durch eine allgemeine Leistungsklage in Form einer vorbeugenden Unterlassungsklage überprüft werden. Ansonsten kann die Rechtmäßigkeit des Kontenabrufs auf jeden Fall inzidenter im Rahmen des Rechtsschutzes gegen die dann folgenden Bescheide – wie Auskunftsersuchen an den Steuerpflichtigen, Prüfungsanordnung, Vollstreckungsmaßnahmen – die ihre Grundlage in dem Kontenabruf haben, überprüft werden.

3.262 Mitteilungen, rufgefährdende: Gegen rufgefährdende, durch den Besteuerungszweck nicht mehr gedeckte Mitteilungen des Finanzamts an Dritte oder auch an andere Finanzämter ist eine sog. sonstige Leistungsklage (§ 40 Abs. 2 FGO) – in Gestalt einer vorbeugenden Unterlassungsklage2 – zulässig. In solchen Fällen hat der Steuerpflichtige einen durch § 30 AO gesicherten Anspruch auf Unterlassung dergestalt, dass das Finanzamt Verhältnisse, die ihm im Rahmen des Besteuerungsverfahrens bekannt geworden sind, nicht unbefugt anderen Personen offenbaren darf.3 Darüber hinaus dürfte eine Feststellungsklage zulässig sein, solang noch keine weiteren Folgerungen aus dem Kontenabruf durch weitere Verwaltungsakte gezogen worden sind.4 Antrag: Es wird beantragt, dem Finanzamt aufzugeben, die Mitteilung an X, …, zu unterlassen.

3.263 Umsatzsteuerbescheid: Es gelten sinngemäß die Ausführungen zum Stichwort „Einkommensteuerbescheid“.

3.264 Untätigkeitsklage: Die Untätigkeitsklage (s. dazu ausführlich unter Rz. 3.490 ff.) ist eine normale Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage. Streitgegenstand ist nicht die Untätigkeit der Finanzbehörde, sondern die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bzw. die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Erlasses des begehrten Verwaltungsaktes. Hieraus folgt für den Klageantrag: Er lautet nicht auf die Verurteilung der Behörde, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen. Er ist vielmehr bei der Anfechtungsklage auf Aufhebung bzw. Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes und bei der Verpflichtungsklage auf Verpflichtung der beklagten Behörde auf Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf Neubescheidung entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts gerichtet.

3.265 Vollstreckungsverfahren: (zum besonderen Rechtsschutz in Vollstreckungssachen s. Rz. 9.1 ff.): (1) Der Aufteilungsbescheid (§ 279 AO) ist ein Verwaltungsakt. Dieser betrifft mehrere Gesamtschuldner. Mit dem Aufteilungsbescheid wird das Aufteilungsverfahren verbindlich für alle Beteiligten abgeschlossen. Hält einer der Gesamtschuldner den Aufteilungsbescheid für rechtswidrig, muss er ihn mit der Anfechtungsklage angreifen.5 In diesem Fall ist der andere 1 FG Düsseldorf v. 25.4.2007 – 7 K 4756/06, EFG 2007, 1536 mit Anm. Loose; vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 93 AO Rz. 51. 2 Vgl. BFH v. 16.10.1986 – V B 3/86, BStBl. II 1987, 30. 3 BFH v. 11.1.2001 – VIII B 83/00, BFH/NV 2001, 578; v. 12.1.1975 – I B 73/75, BStBl. II 1976, 118. 4 Ebenso Loose, EFG 2007, 1537; ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 93 AO Rz. 51. 5 BFH v. 8.10.2002 – III B 74/02, BFH/NV 2003, 195.

144

Schaumburg

D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.270 Kap. 3

Gesamtschuldner, der von dem Aufteilungsbescheid ebenfalls betroffen ist, notwendig beizuladen.1 Zur Begründung der Klage können nur Einwendungen gegen die Art der Aufteilung erhoben werden; Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung als solche sind unzulässig. Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … den Aufteilungsbescheid vom … dahin gehend zu ändern, dass …

(2) Streit kann auch über die Auskunftserteilung im Vollstreckungsverfahren entstehen. Ein Auskunftsersuchen gem. § 93 Abs. 1 AO, das sich an den Beteiligten selbst und an Dritte richten kann, ist auch im Vollstreckungsverfahren zulässig,2 z. B. das Ersuchen um Mitteilung der Bankverbindung. Daneben ist eine Aufforderung an den Vollstreckungsschuldner, die zur Geltendmachung einer gepfändeten Forderung notwendige Auskunft zu erteilen und die über die Forderung vorhandenen Urkunden herauszugeben, nach § 315 Abs. 2 AO möglich.3 Die Aufforderung ist – unabhängig davon, auf welche Rechtsgrundlage sie gestützt wird – ein Verwaltungsakt, der deshalb mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angegriffen werden muss, wenn der Steuerpflichtige diese Maßnahmen für rechtswidrig hält.

3.266

Antrag: Es wird beantragt, die Aufforderung zur Auskunftserteilung und zur Vorlage von Urkunden vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

Zur Begründung der Klage kann im Wesentlichen nur vorgetragen werden, dass die begehrte Auskunft und Urkundenvorlage zur Geltendmachung der Forderung nicht notwendig sind. Einwendungen gegen die Einziehungsverfügung müssen gegen diese Verfügung vorgebracht werden, Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung gegen die entsprechenden Steuerbescheide.

3.267

(3) Wird die Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung nach § 257 AO begehrt, so erstrebt der Steuerpflichtige einen ihn begünstigenden Verwaltungsakt. Er muss deshalb, falls sein Antrag und sein Einspruch erfolglos bleiben, Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Bescheides über die Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung erheben.

3.268

Antrag: Es wird beantragt, den Beklagten zu verpflichten, die Vollstreckung wegen rückständiger Beträge an Einkommensteuer 00 einzustellen und die bereits getroffenen Vollstreckungsmaßnahmen … aufzuheben.

Zur Begründung der Klage muss im Einzelnen dargelegt werden, dass die Voraussetzungen des § 257 AO für eine Einstellung bzw. Einschränkung der Vollstreckung vorliegen.

3.269

(4) Begehrt der Steuerpflichtige die einstweilige Einstellung der Vollstreckung nach § 258 AO, so erstrebt er ebenfalls einen ihn begünstigenden Verwaltungsakt. Er muss deshalb ebenfalls, falls sein Antrag und sein Einspruch erfolglos bleiben, Verpflichtungsklage erheben. Im Unterschied zur Einstellung der Vollstreckung nach § 257 AO handelt es sich bei der einstweiligen Einstellung der Vollstreckung nach § 258 AO um eine Ermessensentscheidung. Daraus folgt: Das Gericht kann das Finanzamt nur dann zur einstweiligen Einstellung der Vollstre-

3.270

1 BFH v. 8.10.2002 – III B 74/02, BFH/NV 2003, 195. 2 BFH v. 19.12.2006 – VII R 46/05, BFH/NV 2007, 799; v. 22.2.2000 – VII R 73/98, BStBl. II 2000, 366. 3 BFH v. 30.3.1989 – VII R 89/88, BStBl. II 1989, 537.

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Kap. 3 Rz. 3.271

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ckung verurteilen, wenn das Ermessen des Finanzamts auf null reduziert ist, d. h. jede andere Entscheidung als die Einstellung rechtswidrig wäre. Im Übrigen kann das Gericht das Finanzamt lediglich verurteilen, den Steuerpflichtigen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Deshalb empfiehlt sich in der Regel folgender Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom …, den Beklagten zu verpflichten, die Vollstreckung wegen rückständiger Steuern aus dem Einkommensteuerbescheid 00 einstweilen einzustellen, hilfsweise den Beklagten für verpflichtet zu erklären, den Antrag des Klägers auf einstweilige Einstellung der Vollstreckung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

3.271 Mit der Klage kann nur geltend gemacht werden, dass die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist (vgl. § 258 AO).

3.272 (5) Der Antrag des Finanzamts als Vollstreckungsgläubiger auf Eintragung einer Sicherungshypothek stellt einen anfechtbaren Verwaltungsakt dar, da der Antrag gem. § 322 Abs. 3 Satz 2 AO die Bestätigung enthalten muss, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Vollstreckung vorliegen.1 Antrag: Den Beklagten zu verpflichten, den Antrag vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung zurückzunehmen

3.273 (6) Die Einziehungsverfügung (§ 314 AO) ist ein Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch angreifbar ist. Beschwert sind durch die Einziehungsverfügung sowohl der Vollstreckungsschuldner als auch der Drittschuldner. Gegen diese Verfügung können deshalb sowohl der Vollstreckungsschuldner als auch der Drittschuldner die Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage erheben mit dem Antrag: die Einziehungsverfügung des Beklagten vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

3.274 Die Klage kann im Wesentlichen nur darauf gestützt werden, dass die Voraussetzungen für eine Einziehungsverfügung nicht gegeben sind (z. B. weil eine Pfändungsverfügung unterblieben ist) bzw. dass die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen des § 254 AO nicht vorliegen.

3.275 Die Einziehungsverfügung wird in der Praxis vielfach mit der Pfändungsverfügung verbunden (s. auch Stichwort: „Pfändungsverfügung“), beide sind aber gleichwohl selbständig anfechtbare Verwaltungsakte, die in einem solchen Fall lediglich äußerlich zusammengefasst sind.2

3.276 (7) Das Leistungsgebot gem. § 254 Abs. 1 AO ist ein eigenständiger Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch bzw. nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage anfechtbar ist.3 Mit der Klage kann nur das Leistungsgebot

1 BFH v. 21.8.2008 – VII B 243/07, BFH/NV 2008, 1990; v. 15.12.1992 – VII B 131/92, BFH/NV 1993, 460; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 322 AO Rz. 34. 2 Loose in Tipke/Kruse, § 314 AO Rz. 6. 3 BFH v. 31.10.1975 – VIII B 14/74, BStBl. II 1976, 258; v. 20.12.2002 – VII B 66/02, BFH/NV 2003, 592.

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D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.281 Kap. 3

als solches angegriffen werden, nicht auch die Rechtmäßigkeit des dem Leistungsgebot zu Grunde liegenden Bescheides (vgl. § 256 AO). Antrag: Es wird beantragt, das Leistungsgebot vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

(8) Sowohl die Pfändung beweglicher Sachen durch den Vollstreckungsbeamten (§ 286 AO) als auch die Pfändungsverfügung hinsichtlich Forderungen und anderen Vermögensrechten (§§ 309, 321 AO) sind Verwaltungsakte. Sie sind deshalb mit Einspruch und Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angreifbar.

3.277

Antrag: Es wird beantragt, die Pfändung der … (Bezeichnung der gepfändeten Sachen) lt. Pfändungsniederschrift vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben oder: die Pfändungsverfügung vom … sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben.

(9) Der Vollstreckungsschuldner kann gem. § 297 AO die Aussetzung der Verwertung gepfändeter Sachen verlangen. Die Aussetzung ist ein begünstigender Verwaltungsakt, die Ablehnung der Voraussetzungen für eine Aussetzung der Verwertung ist mit dem Einspruch angreifbar. Will der Vollstreckungsschuldner im Klagewege vorgehen, ist richtige Klageart die Verpflichtungsklage.

3.278

Die Aussetzung der Verwertung nach § 297 AO ist eine Ermessensentscheidung. Daraus folgt: Das Gericht kann das Finanzamt nur dann zur Aussetzung der Verwertung verurteilen, wenn das Ermessen auf null reduziert ist, d. h. jede andere Entscheidung als die Aussetzung der Verwertung rechtswidrig ist. Ansonsten kann das Gericht das Finanzamt lediglich verurteilen, den Vollstreckungsschuldner unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Deshalb empfiehlt sich in der Regel folgender

3.279

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung den Beklagten zu verpflichten, die Verwertung folgender am … gepfändeter Sachen auszusetzen: … (Aufzählung der gepfändeten Sachen), hilfsweise, den Beklagten für verpflichtet zu erklären, den Antrag des Klägers auf Aussetzung der Verwertung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Mit der Klage kann nur geltend gemacht werden, dass die alsbaldige Verwertung unbillig wäre. Deshalb kommt – nach durchgeführtem Vorverfahren – eine Verpflichtungsklage auf vorläufige Einstellung der Verwertung (§ 258 AO) in Betracht.

3.280

(10) Die Anträge des Finanzamts an das Vollstreckungsgericht auf Anordnung der Zwangsversteigerung/Zwangsverwaltung von Grundbesitz sind in der Regel als Verwaltungsakte anzusehen. Bei einem solchen Antrag handelt es sich um eine eigenständige behördliche Maßnahme, durch die das behördliche Vollstreckungsverfahren abgeschlossen wird. Außerdem hat die Vollstreckungsbehörde die Verantwortung dafür zu tragen, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung vorliegen und dies zu bestätigen, so dass das Vollstreckungsgericht diese Vo-

3.281

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147

Kap. 3 Rz. 3.282

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

raussetzungen nicht selbst zu prüfen hat.1 Das bedeutet, dass solche Anträge mit dem Einspruch und der Anfechtungsklage angreifbar sind. Antrag: Es wird beantragt, den Antrag des Beklagten vom … betreffend die Anordnung der Zwangsversteigerung über das Grundstück … sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom … ersatzlos aufzuheben.

3.282 Vorbehalt der Nachprüfung: Zum Inhalt des Steuerbescheids gehört auch die Entscheidung der Finanzbehörde, ob die Steuerfestsetzung gem. § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorbehaltlos ergeht. Die Beifügung des Nachprüfungsvorbehalts stellt eine unselbständige Nebenbestimmung zum Steuerbescheid dar, die der Steuerpflichtige nicht gesondert, sondern nur zusammen mit den übrigen Bestandteilen des Verwaltungsakts anfechten kann.2 Bestätigt die Einspruchsentscheidung eine Vorbehaltsfestsetzung des Finanzamts oder wird der Nachprüfungsvorbehalt zulässigerweise erstmals in die Einspruchsentscheidung aufgenommen,3 ist deshalb als Rechtsbehelf die Anfechtungsklage gegeben; die Entscheidung über die Aufnahme des Nachprüfungsvorbehalts ist Teil der Einspruchsentscheidung und nicht ein gesonderter Verwaltungsakt, der selbständig angefochten werden könnte.

3.283 In der Begründung kann man sich darauf beschränken, im Einzelnen darzulegen, weshalb der Vorbehalt der Nachprüfung rechtswidrig sein soll.

3.284 Nach § 164 Abs. 3 Satz 2 AO steht die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung einer Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Wird der einem Bescheid beigefügte Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) aufgehoben, so ist Anfechtungsklage gegen den Bescheid als solchen zu erheben, da der Vorbehalt der Nachprüfung eine unselbständige Nebenbestimmung des Bescheides ist.4 Ebenso verhält es sich, wenn das Finanzamt den Steuerbescheid in der im Übrigen abschlägigen Einspruchsentscheidung für vorbehaltlos erklärt und damit den Nachprüfungsvorbehalt aufhebt. Diese Regelung bildet gleichfalls einen unselbständigen Teil der Einspruchsentscheidung und kann nicht gesondert mit dem Einspruch angefochten werden, vielmehr kann die Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts (wie auch die Aufnahme des Vorbehalts in den Steuerbescheid) nur gemeinsam mit der Steuerfestsetzung angefochten werden.

3.285 Vorläufigkeit: (1) Gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 AO kann eine Steuer insoweit vorläufig festgesetzt werden, als ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für ihre Erhebung eingetreten sind. Soll geltend gemacht werden, dass der Bescheid nicht als vorläufig (§ 165 AO) hätte ergehen dürfen, so ist richtige Klageart die Anfechtungsklage gegen den für vorläufig erklärten Bescheid. Denn auch der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO ist – ebenso wie der Vorbehalt der Nachprüfung – eine unselbständige Nebenbestimmung, die mit dem Steuerbescheid eine Einheit bildet und nur mit ihm zusammen angefochten werden darf.5 Dem Kläger ist es aber unbenommen, sein gegen den Steuerbescheid insgesamt gerichtetes Klagebegehren auf die Beseitigung des Vorläufigkeitsvermerks und damit die Aufhebung des gesamten Bescheids zu beschränken.6 1 BFH v. 21.8.2008 – VII B 243/07, BFH/NV 2008, 1990; v. 25.1.1988 – VII B 85/87, BStBl. II 1988, 566. 2 BFH v. 30.10.1980 – IV R 168-170/79, BStBl. II 1981, 150. 3 Vgl. dazu BFH v. 12.6.1980 – IV R 23/79, BStBl. II 1980, 527. 4 Vgl. BFH v. 10.7.1996 – I R 5/96, BStBl. II 1997, 5. 5 BFH v. 25.10.1989 – X R 109/87, BStBl. II 1990, 278. 6 BFH v. 25.10.1989 – X R 109/87, BStBl. II 1990, 278.

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D. ABC der Klagemöglichkeiten

Rz. 3.290 Kap. 3

Antrag: Es wird beantragt, den Einkommensteuerbescheid 00 vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.1

In der Begründung muss dann dargelegt werden, weshalb die Vorläufigkeitserklärung rechtswidrig ist.

3.286

(2) Erfolgt die Ablehnung einer Vorläufigkeitserklärung, so ist der Steuerpflichtige beschwert, sofern der Vorläufigkeitsvermerk für ihn vorteilhaft ist. Gegen den Ablehnungsbescheid sind Einspruch und Verpflichtungsklage gegeben mit dem

3.287

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, den angefochtenen Bescheid 00 vom … hinsichtlich … (genaue Bezeichnung des oder der Punkte) für vorläufig zu erklären oder: den Beklagten zu verpflichten, den Kläger unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beifügung des Vorläufigkeitsvermerks ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde. Der Antrag setzt in der 1. Alternative voraus, dass von den verschiedenen, theoretisch in Betracht kommenden Ermessensentscheidungen im konkreten Fall nur eine einzige Entscheidung ermessensgerecht ist, also eine sog. Ermessensreduzierung auf „null“ vorliegt. Nur in diesem Fall ist das FG berechtigt, die Behörde zu verpflichten, die allein ermessensgerechte Rechtsfolgeentscheidung zu treffen.2

3.288

(3) Entfällt die Ungewissheit i. S. des § 165 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO, kann der Steuerpflichtige die Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks und die Endgültigkeitserklärung des Steuerbescheids beantragen und dieses Begehren durch Einspruch und Verpflichtungsklage durchsetzen.

3.289

Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 00 vom … für endgültig zu erklären.

Hebt das Finanzamt den Vorläufigkeitsvermerk auf, weil die Voraussetzungen für die Ungewissheit entfallen sein sollen, so kann der Steuerpflichtige hiergegen Anfechtungsklage erheben mit dem Antrag: Es wird beantragt, den Änderungsbescheid vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben oder: dahingehend zu ändern, dass der Vorläufigkeitsvermerk aufrechterhalten bleibt.

1 BFH v. 14.7.2003 – II B 121/01, BFH/NV 2004, 2, wonach die Fehlerhaftigkeit des Vorläufigkeitsvermerks zur Aufhebung des Bescheids in vollem Umfang führt. 2 BFH v. 18.12.2001 – VIII R 27/96, BFH/NV 2002, 747.

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3.290

Kap. 3 Rz. 3.291

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.291 Widerrufsvorbehalt: Der Widerrufsvorbehalt ist kein selbständiger Verwaltungsakt, sondern eine unselbständige Nebenbestimmung zu dem Bescheid, dem er beigefügt ist. Dabei handelt es sich in aller Regel um den Steuerpflichtigen begünstigende Bescheide.

3.292 Erstrebt der Steuerpflichtige einen ihn begünstigenden Bescheid ohne Widerrufsvorbehalt, muss er eine Verpflichtungsklage auf Erlass des Bescheides ohne Widerrufsvorbehalt erheben. Antrag: Es wird beantragt, den Beklagten zu verpflichten, die Einkommensteuerabschlusszahlung vom … bis zum … ohne einen Widerrufsvorbehalt zu stunden.

3.293 In der Begründung ist dann darzulegen, dass die Voraussetzungen für eine Stundung vorliegen und ein Widerrufsvorbehalt ermessensfehlerhaft ist.

3.294–3.303

Einstweilen frei.

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage Literatur: Kirchhof, Rechtsstaatliche Anforderungen an den Rechtsschutz in Steuersachen, DStJG 18 (1995), 17; Krebs, Subjektiver Rechtsschutz und objektive Rechtskontrolle, in FS Menger, 1985, S. 191; Seer, Defizite im finanzgerichtlichen Verfahren, StuW 2001, 3.

I. Rechtsweg Literatur: Bartone, Der Rechtsweg zu den Finanzgerichten, AO-StB 2008, 55; Durst, Rechtsschutz gegen Ehrverletzungen durch Finanzbehörden im finanzgerichtlichen Verfahren, KÖSDI 2000, 12424; Fu, Rechtsschutz gegen Insolvenzanträge des Finanzamtes, DStR 2010, 1411; Jauernig, Zum Prüfungs- und Entscheidungsvorrang von Prozessvoraussetzungen, in FS Schiedermaier, 1976, S. 289; Lambrecht, Europa- und verfassungsrechtlicher Rechtsschutz jenseits der deutschen Gerichtsbarkeit, StuW 2006, 201; Lechelt, Die Eröffnung des Finanzrechtsweges durch Landesgesetz, DStZ 1996, 611; Leist, Überblick über die Abgrenzung des Finanzrechtswegs (§ 33 FGO) zu anderen Rechtswegzuständigkeiten in der Praxis des Finanzgerichts, Thür.VBl. 2004, 252; Meilicke, Hindernislauf zum gesetzlichen Richter, BB 2000, 17; Moritz, Ordentliche Gerichtsbarkeit oder Rechtsweg zu den Finanzgerichten, PStR 2000, 179; Nieland, Zuständiges Gericht bei negativem Kompetenzkonflikt, AOStB 2004, 206; Rößler, Die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs in Kirchensteuersachen, DStZ 1995, 23; Schaake/Bruns, Eröffneter Rechtsweg für Auskunftsansprüche von Insolvenzverwaltern gegenüber Finanzbehörden, ZInsO 2012, 1708; Tombrink, Was ist Willkür? – Die „willkürliche“ Verweisung des Rechtsstreits an ein anderes Gericht, NJW 2003, 2364.

1. Allgemeine Voraussetzungen

3.304 Der Rechtsweg zu den Finanzgerichten ist lediglich in den in § 33 FGO abschließend aufgezählten Fällen gegeben. Alle übrigen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art, die nicht ausdrücklich den Sozialgerichten zugewiesen sind, gehören vor die allgemeinen Verwaltungsgerichte (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auf diese Weise ist der von Art. 19 Abs. 4 GG garantierte lückenlose Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt gewährleistet.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.307 Kap. 3

3.305

Nach § 33 Abs. 1 Nr. 1–4 FGO ist der Finanzrechtsweg gegeben: – in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten, soweit die Abgaben der Gesetzgebung des Bundes unterliegen und durch Bundesfinanz- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO), – in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über die Vollziehung von Verwaltungsakten, soweit sie durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden nach den Vorschriften der Abgabenordnung zu vollziehen sind und der Finanzrechtsweg nicht bereits gem. § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO eröffnet ist (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 FGO), – in öffentlich-rechtlichen und berufsrechtlichen Streitigkeiten über Angelegenheiten, die durch bestimmte Teile des Steuerberatungsgesetzes geregelt werden (§ 33 Abs. 1 Nr. 3 FGO) sowie – in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, soweit durch Bundes- oder Landesgesetze der Finanzrechtsweg eröffnet ist (§ 33 Abs. 1 Nr. 4 FGO). Zentralvorschrift ist also § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO, wonach der Finanzrechtsweg eröffnet ist, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

3.306

– Es muss sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit über Abgabenangelegenheiten handeln. – Die Abgaben müssen der Gesetzgebung des Bundes unterliegen. – Sie müssen durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Entscheidende Voraussetzung für die Zuständigkeit der Finanzgerichte ist hiernach immer, dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt. Diese Voraussetzung ist in aller Regel erfüllt, wenn zumindest auf einer Seite ein Träger öffentlicher Gewalt in seiner Funktion als Hoheitsträger beteiligt ist. Die Rechtsprechung berücksichtigt hier in erster Linie, durch welche Rechtssätze der Sachverhalt wesentlich geprägt wird und welche Rechtssätze für die Beurteilung des Klagebegehrens in Anspruch genommen werden können, also nach der Rechtsnatur des Klagebegehrens.1 Entscheidend ist dabei nicht die rechtliche Beurteilung des Klägers, sondern ob sich das Klagebegehren nach den zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen bei objektiver Würdigung aus einem Sachverhalt herleitet, der nach öffentlichem Recht zu beurteilen ist.2 Dabei sind abgabenrechtliche Streitigkeiten immer öffentlich-rechtlicher Natur, denn das Steuerrecht ist in diesem Sinne eindeutig öffentliches Recht. Es regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den steuerberechtigten Körperschaften und den Steuerpflichtigen. Finanzämter treten hier als Hoheitsträger auf und greifen nicht unerheblich in die Rechte der Steuerpflichtigen ein. Über strafrechtliche, zivilrechtliche, verwaltungsrechtliche und sozialrechtliche Fragen haben die Finanzgerichte und damit auch der BFH nicht zu entscheiden, es sei denn, es handelt sich um Vorfragen für eine steuerrechtliche Frage, über die im Rahmen des Finanzrechtsstreits zu entscheiden ist.3 Die Finanzgerichte haben insoweit – wie andere Gerichte auch – die sog. Vorfragenkompetenz.4 Ebenso sind die

1 BFH v. 18.11.2003 – VII B 277/03, BFH/NV 2004, 288; v. 6.2.2001 – VII B 277/00, BStBl. II 2001, 306. 2 BFH v. 18.11.2003 – VII B 277/03, BFH/NV 2004, 288; BAG v. 7.5.2013 – 10 AZB 8/13, HFR 2013, 953. 3 BFH v. 1.9.2006 – X B 108/06, n. v.; Herbert in Gräber, § 33 FGO Rz. 5. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 8 ff.

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3.307

Kap. 3 Rz. 3.308

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Strafgerichte umgekehrt nicht an die Entscheidungen des Finanzgerichts gebunden.1 Hält das Strafgericht die Überlegungen des Finanzgerichts nicht für überzeugend, so muss es sie nicht übernehmen.

3.308 Nach § 33 Abs. 2 FGO sind Abgabenangelegenheiten alle mit der Verwaltung der Abgaben einschließlich der Abgabenvergütungen oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden Angelegenheiten einschließlich der Maßnahmen der Bundesfinanzbehörden zur Beachtung der Verbote und Beschränkungen für den Warenverkehr über die Grenze; den Abgabenangelegenheiten stehen die Angelegenheiten der Verwaltung der Finanzmonopole gleich.2 Zu den Abgabenangelegenheiten rechnen danach insbesondere alle Maßnahmen zur Vorbereitung der Besteuerung, zur Ermittlung der steuerlich relevanten Sachverhalte, zur Steuerfestsetzung und Abgabenerhebung einschließlich Vollstreckung sowie die Inanspruchnahme als Haftender durch Haftungsbescheid oder Duldungsbescheid.

3.309 Zu den Abgabenangelegenheiten zählen auch Streitigkeiten über die Pflicht der Finanzbehörde zur Erstellung von Bescheinigungen über steuerliche Verhältnisse auf der Grundlage amtlicher Kenntnisse. Auch hierfür sind die Finanzgerichte zuständig.3 Erfasst wird somit auch die Klage auf Erteilung einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung zum Erhalt einer Gaststättenerlaubnis.4

3.310 Die Rechtsfrage, ob und inwieweit das Finanzamt an die Gewerbebehörde der Gemeinde einen Antrag auf Gewerbeuntersagung wegen Steuerrückständen stellen und dabei Steuerrückstände offenbaren bzw. Auskunft über das steuerliche Verhalten des Steuerpflichtigen geben darf, fällt ebenfalls in die Zuständigkeit der Finanzgerichte.5

3.311 Begrenzt wird diese weite Zuständigkeit durch die Gesetzgebungskompetenz (des Bundes) für Abgaben und deren Verwaltungshoheit (von Bund und Ländern, nicht der Gemeinden (!)). Hieraus folgt, dass örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern nicht unter § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO fallen. Ihre Regelung fällt in die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Eine Zuständigkeit der Finanzgerichte ist hier grundsätzlich nicht gegeben. Vielmehr ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Da für die Festsetzung und Verwaltung der Gewerbesteuer und der Grundsteuer die Gemeinden nach § 16 Abs. 1 GewStG bzw. § 1 GrStG zuständig sind, sind diesbezügliche Rechtsschutzbegehren vor den Verwaltungsgerichten zu verfolgen. Dies führt zu einem zweispurigen Rechtsweg, da die Gewerbesteuermessbescheide und Grundsteuermessbescheide von den Landesfinanzbehörden erlassen werden und insoweit der Finanzrechtsweg gegeben ist. 2. Abgrenzung zu den Strafgerichten

3.312 Für die Praxis sehr wichtig ist die Abgrenzung des Finanzrechtswegs gegenüber dem Rechtsweg zu den Strafgerichten. Insoweit stellt § 33 Abs. 3 FGO klar, dass der Finanzrechtsweg im 1 BFH v. 18.4.2013 – V R 19/12, BStBl. II 2013, 843; v. 24.6.2014 – XI B 45/13, BFH/NV 2014, 1584; Herbert in Gräber, § 33 FGO Rz. 5; Jäger in Klein, § 396 AO Rz. 3. 2 Das Branntweinmonopol läuft zum 31.12.2017 aus (Branntweinmonopolabschaffungsgesetz v. 21.6.2013, BGBl. I 2013, 1650). 3 Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 32. 4 FG Hamburg v. 4.9.2006 – 2 K 33/06, EFG 2007, 234; a. A. FG des Saarlandes v. 20.5.1983 – II 77/83, EFG 1984, 559. 5 Vgl. BFH v. 29.7.2003 – VII R 39, 43/02, BFH/NV 2003, 1463.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.316 Kap. 3

Steuerstraf- und Bußgeldverfahren keine Anwendung findet. Es gelten dann die Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO) bzw. des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG), wenn und solange ein Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren anhängig ist und in dessen Rahmen Anträge gestellt werden.1 Die Steuerfahndung kann sowohl in Abgabenangelegenheiten2 als auch in Steuerstraf- und Bußgeldsachen3 tätig werden. Diese doppelfunktionale Tätigkeit der Steuerfahndung bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben ist allgemein anerkannt.4 Es hängt deshalb vom Einzelfall ab, ob im konkreten Fall eine Abgabenangelegenheit oder eine dem Straf- und Bußgeldverfahren zuzuordnende Sache zu entscheiden ist. Geht es um die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen im Rahmen von § 208 Abs. 1 Nr. 2 AO, so handelt es sich jedenfalls um eine Abgabenangelegenheit, solange noch kein förmliches Straf- und Bußgeldverfahren eingeleitet worden ist. Auch bei den sog. Vorfeldermittlungen5 nach § 208 Abs. 1 Nr. 3 AO handelt es sich um eine abgabenrechtliche Angelegenheit, für die der Finanzrechtsweg eröffnet ist.6 Sobald dagegen ein steuerstrafrechtlicher Anfangsverdacht vorliegt, ist nach § 385 Abs. 1 AO, § 152 Abs. 2 StPO zwingend ein Steuerstrafverfahren einzuleiten und die Vorfeldermittlungen in strafrechtliche Vorermittlungen überzuleiten.7 Hier sind dann die Vorschriften der Strafprozessordnung maßgeblich.

3.313

Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens, also auch nach dessen Einstellung oder sonstiger Beendigung, ist ggf. wieder die Zuständigkeit des Finanzrechtswegs eröffnet, wenn erneut oder erst jetzt eine abgabenrechtliche Streitigkeit aufgeworfen wird. Die Zuständigkeit der Strafgerichte (§ 13 GVG) ist allerdings weiterhin gegeben, wenn es um Fragen geht, die sich gerade im Zusammenhang oder anlässlich der Einstellung des Strafverfahrens stellen, wie etwa nach der Wirksamkeit der Einstellung oder nach der Höhe der Geldauflage (§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO).8

3.314

Daraus folgt im Einzelnen:9 Akteneinsicht: Ist bereits ein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet und wird der Antrag auf Einblick in die Akten der Steuerfahndung im Straf- oder Bußgeldverfahren gestellt, so richtet sich die Akteneinsicht nach § 147 StPO. Damit ist der Finanzrechtsweg nicht eröffnet, vielmehr sind für Rechtsschutzbegehren die Strafgerichte zuständig. Die Geltendmachung eines etwaigen Anspruchs auf Akteneinsicht ist hier Sache des Straf- und Bußgeldverfahrens, bis dieses Verfahren durch rechtskräftige Entscheidung oder durch Einstellung abgeschlossen ist.10

3.315

Vor Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens bzw. nach dessen Abschluss ist die Tätigkeit der Steuerfahndung mehr dem Betriebsprüfungsdienst vergleichbar. In diesen

3.316

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

BFH v. 6.5.1997 – VII B 4/97, BStBl. II 1997, 543; v. 6.2.2001 – VII B 277/00, BStBl. II 2001, 306. § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO. § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. BFH v. 29.6.2005 – II R 3/04, BFH/NV 2006, 1. Zur Abgrenzung von Vorermittlungen und Vorfeldermittlungen vgl. Peters in Schaumburg/Peters, Internationales Steuerstrafrecht, Rz. 6.17 ff. Matthes in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 404 AO Rz. 66. S. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 208 AO Rz. 28 m. w. N. BFH v. 26.2.2004 – VII B 341/03, BStBl. II 2004, 458. S. dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 63 ff. BFH v. 2.12.1976 – IV R 2/76, BStBl. II 1977, 318.

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153

Kap. 3 Rz. 3.317

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Fällen ist deshalb für die Entscheidung über die Akteneinsicht der Finanzrechtsweg eröffnet.1

3.317 Wird allerdings die Einsichtnahme in die Akten eines abgeschlossenen Verfahrens verweigert, so ist die Rechtsgrundlage hierfür nicht mehr § 78 Abs. 1 FGO, sondern es handelt sich gem. § 155 FGO i. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO um eine Angelegenheit der Gerichtsverwaltung und damit um einen sog. Justizverwaltungsakt. Hiergegen ist nicht der Finanzrechtsweg, sondern der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 VwGO gegeben.2

3.318 Auskunftsersuchen: Für eine Klage gegen ein Auskunftsersuchen, das die Steuerfahndung nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens und unter Hinweis auf dieses Strafverfahren an einen Dritten richtet, ist nicht der Finanzrechtsweg, sondern der ordentliche Rechtsweg zu den Strafgerichten gegeben,3 unabhängig davon, auf welche Rechtsgrundlage das Auskunftsersuchen gestützt wird.4

3.319 Wird ein Bankinstitut aufgrund eines von der Steuerfahndungsstelle beantragten richterlichen Beschlusses zur Vermeidung der möglichen Durchsuchung und Beschlagnahme ersucht, Auskunft über Konten zu geben und werden nach Erteilung dieser Auskunft Entschädigungsanspruche nach dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZSEG) seitens des Bankinstituts geltend gemacht, so ist für dieses Begehren nicht der Finanzrechtsweg, sondern der Rechtsweg zu den Strafgerichten eröffnet.5

3.320 Abgabe an Staatsanwaltschaft: Für eine Klage auf Aufhebung der Abgabe einer Steuerstrafsache an die Staatsanwaltschaft ist der Finanzrechtsweg ausgeschlossen.6

3.321 Schlussbesprechung: Für den Streit darüber, ob im Rahmen einer Steuerfahndungsprüfung eine Schlussbesprechung abgehalten werden muss, ist der Finanzrechtsweg nicht eröffnet.7 Es handelt sich nämlich um einen Vorgang, der im Zusammenhang mit der Verfolgung einer Steuerstraftat steht. Dies gilt auch dann, wenn es bei der Besprechung der Prüfungsfeststellungen letztlich um steuerliche Beurteilungen geht, die zu Mehrsteuern in beträchtlichem Umfang führen können. Insoweit gehört die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen unmittelbar zur Erforschung der Steuerhinterziehung und ist ein davon nicht abtrennbarer Teil.8

3.322 Steuerbescheide: Wendet sich ein Beschuldigter oder Angeklagter gegen die aufgrund der Ermittlung der Steuerfahndung festgesetzten Steuern, handelt es sich immer um eine Abgabenangelegenheit i. S. des § 33 Abs. 2 FGO, über die gem. § 393 Abs. 1 Satz 1 AO unabhängig vom Strafverfahren zu entscheiden ist.9 Dabei können nach § 393 Abs. 3 Satz 1 AO auch rechtmäßig erlangte Erkenntnisse aus dem Strafverfahren berücksichtigt werden. Die Finanzbehörden und Finanzgerichte sind jedenfalls an die Feststellungen der Strafgerichte nicht gebunden und können auch selbständig – inzidenter beispielsweise bei Hinzuschät1 Vgl. BFH v. 2.12.1976 – IV R 2/76, BStBl. II 1977, 318; vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 25. 2 BFH v. 1.3.2016 – VI B 89/15, BFH/NV 2016, 936. 3 BFH v. 20.4.1983 – VII R 2/82, BStBl. II 1983, 482. 4 BFH v. 20.4.1983 – VII R 2/82, BStBl. II 1983, 482. 5 Vgl. BFH v. 23.12.1980 – VII R 92/79, BStBl. II 1981, 349. 6 Vgl. BFH v. 25.1.1972 – VII R 109/68, BStBl. II 1972, 286. 7 BFH v. 4.9.1989 – IV B 54/89, BFH/NV 1990, 151. 8 BFH v. 4.8.1989 – IV B 54/89, BFH/NV 1990, 151; v. 20.4.1983 – VII R 2/82, BStBl. II 1983, 482. 9 BFH v. 4.5.2005 – IX B 230/03, BFH/NV 2005, 1485.

154

Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.327 Kap. 3

zungen oder bei Fragen der Verjährung – feststellen, ob eine Steuerhinterziehung nach § 370 AO vorliegt. Frist nach § 371 Abs. 3 AO: Für Streitigkeiten um die Festsetzung einer Frist zur Entrichtung verkürzter Steuern nach § 371 Abs. 3 AO ist dagegen der Rechtsweg zu den Strafgerichten und nicht der Finanzrechtsweg gegeben.1

3.323

3. Abgrenzung zu den Zivilgerichten/Arbeitsgerichten Diese Abgrenzung ist leichter vorzunehmen, da es sich ganz überwiegend um die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche handelt, auch wenn diese einen steuerlichen Bezug haben. Insbesondere handelt es sich dabei nicht, wie dies eine Klage vor dem Finanzgericht voraussetzt um Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis,2 sondern die Ansprüche haben ihre Rechtsgrundlage im bürgerlichen Recht.

3.324

Verschiedene Fallkonstellationen sind aber wiederholt Gegenstand der Rechtsprechung gewesen: Aufrechnung mit einer rechtswegfremden Forderung: Über eine dem Grunde oder der Höhe nach streitige zivilrechtliche Gegenforderung, mit der im finanzgerichtlichen Verfahren aufgerechnet werden soll, hat das Zivilgericht zu entscheiden. Das Finanzgericht muss das finanzgerichtliche Klageverfahren gem. § 74 FGO aussetzen, wenn Gegenstand des Verfahrens die Aufrechnung mit einer rechtswegfremden, bestrittenen und noch nicht rechtskräftig festgestellten Gegenforderung ist.3

3.325

Erteilung einer (elektronischen) Lohnsteuerbescheinigung: Es bestehen nach wie vor zwischen den Arbeits- und Finanzgerichten unterschiedliche Auffassungen, welche der beiden Gerichtsbarkeiten für einen Rechtsstreit wegen der Erteilung einer (elektronischen) Lohnsteuerbescheinigung und der zutreffenden Eintragung, Ergänzung oder Berichtigung von Daten in der (elektronischen) Lohnsteuerbescheinigung zuständig ist. Nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung sind ausschließlich die Gerichte für Arbeitssachen zuständig, da es sich im Kern um eine bürgerlich-rechtliche Angelegenheit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber über Arbeitspapiere handelt.4 Nach Meinung des Bundesarbeitsgerichts5 ist für diese Fälle dagegen der Finanzrechtsweg gegeben, da die Verpflichtung zur Erstellung der (elektronischen) Lohnsteuerbescheinigung aus § 41b Abs. 1 EStG folgt und es sich damit im Kern um eine steuerrechtliche Frage handele.

3.326

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist bei einem Streit um die Berichtigung einer Lohnsteuerbescheinigung der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten jedenfalls dann gegeben, wenn es bei dem Rechtsstreit im Kern um arbeitsrechtliche Fragen geht, bei denen die vom Arbeitnehmer beanstandeten Eintragungen in der (elektronischen) Lohnsteuerbescheinigung oder das Begehren des Arbeitnehmers auf Ausstellung einer (elektronischen) Lohnsteuerbescheini-

3.327

1 2 3 4

BFH v. 17.12.1981 – IV R 94/77, BStBl. II 1982, 352; Jäger in Klein, § 371 AO Rz. 229. Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 57 ff. BFH v. 19.2.2007 – VII B 253/06, BFH/NV 2007, 968 m. w. N. BFH v. 4.9.2008 – VI B 108/07, BFH/NV 2009, 175; v. 30.6.2005 – VI S 7/05, NV 2005, 1849; v. 29.6.1993 – VI B 108/92, BStBl. II 1993, 760; FG Münster v. 4.7.2005 – X K 640/05, EFG 2006, 283; v. 30.3.2011 – 8 K 1968/10, EFG 2011, 1735; FG München v. 9.6.2004 – 1 K 1234/04, EFG 2004, 1704. 5 BAG v. 7.5.2013 – 10 AZB 8/13, HFR 2013, 953; v. 11.6.2003 – 5 AZB 1/03, NJW 2003, 2629.

Schaumburg

155

Kap. 3 Rz. 3.328

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

gung einen bloßen Reflex bilden. Der zur Klagebegründung vorgetragene Sachverhalt wird für die aus ihm hergeleitete Rechtsfolge insbesondere dann von Rechtssätzen des Arbeitsrechts geprägt, wenn Streit besteht, ob überhaupt ein Arbeitsverhältnis vorgelegen hat, für welchen Zeitraum ein Arbeitsverhältnis bestanden hat oder welche arbeitsrechtlichen Ansprüche – insbesondere Barlohnansprüche – bestehen oder bestanden haben. Die letztgenannte Frage prägt insbesondere dann den Kern des Rechtsstreits, wenn um Bestehen und Inhalt einer Nettolohnvereinbarung gestritten und damit nach dem sachlichen Gehalt des Klagebegehrens zusätzlicher Lohn gefordert wird.1

3.328 Dies bedeutet jedoch in der Praxis: Der Kläger hat es mit seiner Klagebegründung ggf. in der Hand, herauszustellen, wo der Kern des Rechtsstreits liegt – ob der zur Klagebegründung vorgetragene Sachverhalt für die aus ihm hergeleitete Rechtsfolge von Rechtssätzen des Arbeitsrechts oder des öffentlichen Rechts geprägt ist – und damit Einfluss zu nehmen, welches Gericht sich für die Entscheidung für zuständig hält. Wer sich dann allerdings im Vertrauen auf die o. g. Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit seiner Klage auf Erteilung bzw. Berichtigung seiner Lohnsteuerbescheinigung an die Finanzgerichte wendet, läuft Gefahr, dass der Rechtsstreit an das Arbeitsgericht verwiesen wird. Wird umgekehrt im Vertrauen auf die Rechtsprechung der Finanzgerichte das Arbeitsgericht angerufen, so kann es sein, dass der Rechtsstreit an das Finanzgericht verwiesen wird. Nach Meinung des BFH sind die Finanzgerichte bei einer Verweisung gem. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG aber an diese gebunden und dürfen keine Rückverweisung vornehmen, da der Verweisungsbeschluss durch die Arbeitsgerichte nicht offensichtlich unhaltbar sei.2 Letzte Klarheit könnte in dieser unbefriedigenden Situation nur durch den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes erreicht werden.

3.329 Rechnungserteilung mit offenem Steuerausweis: Für die gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs auf Rechnungserteilung mit offenem Umsatzsteuerausweis ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gegeben.3 Für eine beim Finanzgericht vorgeschaltete Feststellungsklage besteht grundsätzlich kein Rechtsschutzinteresse, so dass eine solche unzulässig ist.4

3.330 Schadensersatzanspruch: Ein Schadensersatzanspruch wegen einer vermeintlichen Amtspflichtverletzung (Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB) ist gem. Art. 34 Abs. 3 GG i. V. m. § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG vor den Landgerichten, bei denen Vertretungszwang herrscht, nicht aber vor den Finanzgerichten geltend zu machen.5 Dieser Anspruch ist nur auf Geldersatz gerichtet, nicht auf eine Naturalrestitution durch Vornahme oder Unterlassen einer Handlung.

3.331 Zustimmung zum Realsplitting: Für die Klage auf Zustimmung zum Realsplitting sind die ordentlichen Gerichte in Zivilsachen zuständig.6

1 BFH v. 4.9.2008 – VI B 108/07, BFH/NV 2009, 175; v. 13.12.2007 – I R 57/04, BStBl. II 2008, 434 m. w. N.; v. 30.6.2005 – VI S 7/05, BFH/NV 2005, 1849. 2 BFH v. 14.10.2005 – VI S 17/05, BFH/NV 2006, 329; vgl. auch BFH v. 30.6.2005 – VI S 7/05, NV 2005, 1849. 3 BFH v. 30.3.2011 – XI R 5/09, BFH/NV 2011, 1724. 4 BFH v. 30.3.2011 – XI R 5/09, BFH/NV 2011, 1724. 5 BFH v. 8.9.2015 – V B 5/15, BFH/NV 2016, 7; v. 21.8.2012 – VIII R 33/09, BStBl. II 2013, 171 m. w. N. 6 FG München v. 31.3.2005 – 1 K 619/05, EFG 2005, 1627.

156

Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.335 Kap. 3

4. Weitere Zuständigkeit des Finanzgerichts Nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist der Finanzrechtsweg ferner gegeben in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über die Vollziehung von Verwaltungsakten in anderen als den in Nr. 1 bezeichneten Angelegenheiten, soweit die Verwaltungsakte durch Bundesfinanzbehörden oder Landesfinanzbehörden nach den Vorschriften der Abgabenordnung zu vollziehen sind.

3.332

Es kommt in der Praxis nicht häufig vor, dass die Finanzbehörde für eine andere Behörde als Vollstreckungsbehörde tätig wird und die Auftragstätigkeit nach den Vorschriften der Abgabenordnung abzuwickeln hat. Streitigkeiten in diesem Bereich, die vor den Finanzgerichten ausgetragen werden – zumeist geht es um einstweilige Anordnungen nach § 114 FGO – sind recht selten.

3.333

Nach § 33 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist der Finanzrechtsweg gegeben in öffentlich-rechtlichen und berufsrechtlichen Streitigkeiten über Angelegenheiten, die durch den Ersten Teil, den Zweiten und den Sechsten Abschnitt des Zweiten Teils und des Ersten Abschnitts des Dritten Teils des Steuerberatungsgesetzes geregelt werden. Wegen des engen Sachzusammenhangs mit den übrigen zum Finanzrechtsweg gehörenden Angelegenheiten sind auch bestimmte öffentlich-rechtliche und berufsrechtliche Streitigkeiten nach dem Steuerberatungsgesetz dem Finanzgericht zugewiesen, die hier aber nicht weiter abgehandelt werden sollen. Hierzu rechnen

3.334

– Streitigkeiten über die Hilfeleistung in Steuersachen1 (insbesondere Befugnis, Verbot und Untersagung der Hilfeleistung, Verbot der Werbung, Verbot der Vereinbarung eines Erfolgshonorars) einschließlich der Angelegenheiten der Lohnsteuerhilfevereine, – Streitigkeiten über die Voraussetzungen für die Berufsausübung,2 insbesondere das Prüfungswesen (Zulassung zur Prüfung und Prüfungsentscheidungen), die Bestellung zum Steuerberater, die Anerkennung als Steuerberatungsgesellschaft sowie Rücknahme und Widerruf der Bestellung bzw. Anerkennung, – Streitigkeiten über die Zusammenführung der steuerberatenden Berufe,3 insbesondere über die Auslegung von Übergangsvorschriften, – Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit von Zwangsmitteln,1 die zur Durchsetzung einer Untersagung der Hilfeleistung in Steuersachen oder zur Durchsetzung von Aufsichtsmaßnahmen angewendet werden. Schließlich ist der Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 1 Nr. 4 FGO in anderen als den in Nr. 1 bis 3 bezeichneten öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, soweit für diese durch Bundesgesetz oder Landesgesetz der Finanzrechtsweg eröffnet ist. Verschiedentlich ist in Landes- bzw. Bundesgesetzen eine ausdrückliche Zuweisung erfolgt und festgelegt, dass für bestimmte Rechtsstreitigkeiten der Finanzrechtsweg eröffnet wird. Auf Einzelheiten soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden,4 da diese Zuständigkeit für die Praxis nicht von großer Bedeutung ist.

1 2 3 4

1. Teil des StBerG, §§ 1-31. 2. Teil des StBerG, §§ 35-55. Sechster Abschnitt des 2. Teils des StBerG, §§ 154-157. Es wird auf die zusammenfassende Darstellung bei Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 77 ff., verwiesen.

Schaumburg

157

3.335

Kap. 3 Rz. 3.336

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

5. Entscheidung über die Zulässigkeit des Finanzrechtswegs

3.336 Für die Entscheidung über die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs wichtig ist die Vorschrift des § 17a GVG, die gem. § 155 FGO auch für das finanzgerichtliche Verfahren gilt: Danach hat das Finanzgericht, wenn der zu ihm beschrittene Rechtsweg unzulässig ist, dies nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, der zu begründen ist, auszusprechen, und zwar von Amts wegen. Zugleich hat es den Rechtsstreit an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs zu verweisen. Dieser Beschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Das heißt: Das andere Gericht kann die Sache nicht wieder an ein Finanzgericht zurückverweisen.1 Gegen eine Verweisung ist eine Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG nur gegeben, wenn diese in dem Verweisungsbeschluss ausdrücklich zugelassen ist.2

3.337 Dies gilt aber auch umgekehrt, wenn ein anderes Gericht den Rechtsstreit an das Finanzgericht verweist. Auch in diesen Fällen ist der Verweisungsbeschluss gem. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG für das Gericht, an das die Sache verwiesen wird, hier also das Finanzgericht, bindend. Dies gilt auch dann, wenn der Verweisungsbeschluss sachlich fehlerhaft ist. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist und sich in willkürlicher Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt.3

3.338 Auch wenn eine Verweisung an das zuständige Gericht erfolgen kann, so sollte in der Praxis doch vor Einreichung des Rechtsmittels geprüft werden, welches Gericht zuständig ist, damit durch eine Verweisung keine Zeit verloren wird und zeitnah Rechtsschutz erreicht werden kann. Die Wirkungen der Rechtshängigkeit bleiben bei der Verweisung allerdings bestehen (§ 17a Abs. 1 Satz 2 GVG). Das bedeutet, dass die Klagefrist durch die Erhebung der Klage beim unzuständigen Gericht gewahrt wird.4

3.339 Ist der beschrittene Rechtsweg zulässig, kann das Finanzgericht dies vorab aussprechen. Eine solche Entscheidung muss es treffen, wenn eine Partei die Zulässigkeit des Rechtswegs rügt (§ 17a Abs. 3 Satz 2 GVG).5

3.340–3.344

Einstweilen frei.

II. Beteiligtenfähigkeit Literatur: Burkhard, Streitverkündung im Finanzgerichtsverfahren, INF 2004, 434; Eicker, Beteiligtenfähigkeit einer gelöschten GmbH, AO-StB 2002, 310; Heidner, Die Beteiligungsfähigkeit von vermögenslosen Gesellschaften im Besteuerungsverfahren, DB 1991, 569; Horn, Die GmbH & atypisch Still als Verfahrensbeteiligte im Steuerrecht, GmbHR 2001, 138; Jarosch, Die GbR im FinanzgerichtsProzess, AO-StB 2001, 82; Lang, Zur Subjektfähigkeit von Personengesellschaften im Einkommensteuerrecht, in FS Schmidt, 1994, S. 291; Steinhauff, Systemwidrige Erstreckung der Ewigkeitstheorie

1 § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG. 2 BFH v. 17.7.2013 – V B 128/12, BFH/NV 2013, 1611; v. 6.2.2001 – VIII B 277/00, BStBl. II 2001, 306. 3 BFH v. 20.4.2016 – II R 501/14, BFH/NV 2016, 1117; v. 11.1.2013 – V S 27/12 (PKH), BFH/NV 2013, 945. 4 BFH v. 16.12.2014 – X K 5/14, BFH/NV 2015, 515. 5 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz. 93.

158

Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.349 Kap. 3

auf Rechtsbehelfsverfahren wegen einheitlicher und gesonderter Feststellungsbescheide – Änderung der BFH-Rspr. zur Prozessführungsbefugnis der Gesellschaft, AO-StB 2010, 182.

1. Überblick

3.345

Gem. § 57 FGO sind Beteiligte am finanzgerichtlichen Verfahren – der Kläger, – der Beklagte, – der Beigeladene,

3.346

und zusätzlich nur im Revisionsverfahren – die Behörde, die dem Verfahren nach § 122 Abs. 2 FGO beigetreten ist. Der Kreis der Beteiligten ist in 57 FGO abschließend bestimmt.1 Die Vorschriften der §§ 64–77 ZPO über die Beteiligung Dritter am Rechtsstreit (Haupt- und Nebenintervention, Streitverkündung) gelten im finanzgerichtlichen Verfahren nicht, da durch die Möglichkeit der einfachen Beiladung hinreichend gewährleistet ist, dass widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden.2

3.347

Der Begriff der Beteiligtenfähigkeit ist in der FGO nicht geregelt.3 Hierunter ist die Fähigkeit zu verstehen, Subjekt eines finanzgerichtlichen Prozessrechtsverhältnisses zu sein, also an einem finanzgerichtlichen Verfahren als Kläger, Beklagter, Beigeladener oder Beigetretener beteiligt zu sein.4 Die Beteiligtenfähigkeit ist Sachentscheidungsvoraussetzung. Das bedeutet: Fehlt die Beteiligtenfähigkeit des Klägers, muss die Klage allein aus diesem Grund als unzulässig abgewiesen werden.5

3.348

Nach der Rechtsprechung des BFH setzt die Fähigkeit, Beteiligter i. S. des § 57 FGO zu sein, eine – wenn auch begrenzte – Steuerrechtsfähigkeit auf dem steuerrechtlichen Gebiet voraus, das Gegenstand des Verfahrens ist.6 Dabei ist beteiligtenfähig derjenige, der den steuerlich relevanten Tatbestand verwirklicht. Die Beteiligtenfähigkeit korrespondiert demzufolge mit der Steuerrechtsfähigkeit. Steuerrechtsfähig und damit beteiligtenfähig ist der, der für den betreffenden Bereich steuerliche Rechte und Pflichten zu tragen hat. Dies richtet sich in der Regel nach den einzelnen Steuergesetzen.7

3.349

1 BFH v. 11.11.1982 – IV B 9/79, juris; v. 14.5.1968 – II R 31/67, BStBl. II 1968, 586. 2 BFH v. 27.12.2012 – V B 31/11, BFH/NV 2013, 944; v. 13.6.2007 – V B 179/06, BFH/NV 2007, 2296; v. 17.9.2002 – III B 81/02, n. v.; v. 29.11.1995, BStBl. II 1996, 322; kritisch und eine Streitverkündung bejahend Burkhard, INF 2004, 434 ff. 3 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; Brandis in Tipke/Kruse, § 57 FGO Rz. 3. 4 BFH v. 9.7.1996 – VII R 136/95, BFH/NV 1997, 10. 5 Brandis in Tipke/Kruse, § 57 FGO Rz. 4. 6 Vgl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; v. 9.7.1996 – VII R 136/95, BFH/NV 1997, 10; v. 12.11.1985 – VIII R 364/83 BStBl. II 1986, 311. 7 Vgl. BFH v. 6.12.1983 – VIII R 203/81, BStBl. II 1984, 318; Brandis in Tipke/Kruse, § 57 FGO Rz. 3.

Schaumburg

159

Kap. 3 Rz. 3.350

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.350 Damit sind z. B. steuerrechtsfähig und somit beteiligtenfähig: – bei der Einkommensteuer die natürlichen Personen (vgl. § 1 EStG); – bei der Körperschaftsteuer die Körperschaften (vgl. § 1 und § 2 KStG); – im Feststellungsverfahren für Zwecke der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer ihrer Gesellschafter die Personengesellschaften. Diese sind hier insoweit Steuerrechtssubjekt, als sie in der Einheit ihrer Gesellschafter Merkmale eines Besteuerungstatbestandes verwirklichen, welche den Gesellschaftern für deren Besteuerung zuzurechnen sind, wie etwa die Verwirklichung oder Nichtverwirklichung des Tatbestands einer bestimmten Einkunftsart und das Erzielen von Gewinn oder Überschuss im Rahmen dieser Einkunftsart.1 Insoweit wird den Personengesellschaften eine Teil-Steuerrechtsfähigkeit zuerkannt.2 Nach diesen Maßstäben ist z. B. eine als Vermieterin auftretende Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Feststellung der Vermietungseinkünfte beteiligtenfähig und kann auch selbst Klägerin sein.3 – bei der Umsatzsteuer die Unternehmer i. S. des § 2 UStG, also alle, die eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausüben; hierzu rechnen neben natürlichen Personen auch die GbR, offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften sowie Körperschaften i. S. des § 1 KStG, nicht dagegen bloße Innengesellschaften, wie die stillen Gesellschaften. – bei der Gewerbesteuer der Unternehmer (vgl. § 5 GewStG), also der, für dessen Rechnung das Gewerbe betrieben wird; das kann z. B. auch eine GbR, eine offene Handelsgesellschaft bzw. Kommanditgesellschaft und die Körperschaft i. S. des § 1 KStG sein; – bei der Grunderwerbsteuer können neben natürlichen und juristischen Personen auch Personengesellschaften Steuerrechtssubjekt sein; in diesem Fall ist nur die Personengesellschaft, vertreten durch ihre vertretungsberechtigten Gesellschafter, beteiligtenfähig. Das sind bei einer GbR in der Regel nur die gemeinschaftlich zur Vertretung der Gesellschaft berufenen Gesellschafter; – bei der Erbschaftsteuer der einzelne Erbe, Schenker und Beschenkter sowie die Familienstiftung. Die Erbengemeinschaft als solche ist nicht Steuersubjekt und auch nicht Steuerschuldner der Erbschaftsteuer (§ 20 Abs. 1 Satz 1 ErbStG) und damit nicht beteiligtenfähig und nicht klagebefugt.4

3.351 Darüber hinaus muss als Ausfluss der Rechtsschutzgarantie nach § 19 Abs. 4 GG auch demjenigen Gebilde in einem finanzgerichtlichen Verfahren Beteiligtenfähigkeit zugesprochen werden, das von der Finanzbehörde zu Unrecht als steuerrechtsfähig angesehen worden und durch einen Steuerbescheid in Anspruch genommen worden ist.5

1 BFH v. 22.3.2011 – IX B 151/10, BFH/NV 2011, 1164; v. 21.2.2006 – IX B 119/05, BFH/NV 2006, 1297; v. 18.5.2004 – IX R 83/00, BStBl. II 2004, 898. 2 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 3 BFH v. 16.10.2006 – IX B 7/05, BFH/NV 2007, 238; v. 18.5.2004 – IX R 83/00, BStBl. II 2004, 898. 4 BFH v. 11.3.2011 – II B 152/10, BFH/NV 2011, 1008. 5 BFH v. 9.7.1996 – VII R 136/95, BFH/NV 1997, 10; Levedag in Gräber, § 57 FGO Rz. 14.

160

Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.355 Kap. 3

2. Beginn und Ende der Beteiligtenfähigkeit a) Natürliche Personen Die Beteiligtenfähigkeit beginnt bei natürlichen Personen mit der Vollendung der Geburt und endet mit dem Tod.

3.352

Tritt der Verlust der Beteiligtenfähigkeit während eines finanzgerichtlichen Verfahrens durch den Tod eines Hauptbeteiligten oder eines notwendig Beigeladenen1 ein, so ist das Verfahren zunächst nach § 155 FGO i. V. m. § 239 Abs. 1 ZPO bis zur Aufnahme durch den Rechtsnachfolger/Erben unterbrochen. Der Rechtsnachfolger ist nach Annahme der Erbschaft zur Aufnahme des Verfahrens verpflichtet, wie sich aus § 239 Abs. 5 ZPO ergibt.2 Steht der Rechtsnachfolger fest, so kann ohne besonderen Hinweis auf § 239 Abs. 2 ZPO – diese Vorschrift dient auf Antrag der anderen Beteiligten lediglich der Aufklärung, wer der Rechtsnachfolger ist – zur mündlichen Verhandlung geladen werden; erscheint der ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladene Rechtsnachfolger dann nicht zum Termin, so kann das Gericht in der Sache entscheiden.

3.353

Die Unterbrechung des Verfahrens ist von Amts wegen zu beachten.3 Lässt sich nicht klären, wer der Rechtsnachfolger ist, und bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Erbe des verstorbenen Beteiligten das Verfahren nach § 155 FGO i. V. m. § 239 Abs. 1 ZPO aufnehmen wird, erscheint es zweckmäßig, das Verfahren in den Registern zu löschen.4 Eine spätere Fortsetzung des Verfahrens durch die Rechtsnachfolger wird dadurch nicht verhindert.5 Für diesen Fall werden die Akten beim Gericht weiterhin aufbewahrt und enthalten den Vermerk, dass die Akten nicht vernichtet werden dürfen. Erfahrungsgemäß enden diese Verfahren aber mit der Löschung des Verfahrens in den Registern, ohne dass nach vielen Jahren ein Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens gestellt wird.

3.354

Liegt eine Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten vor, tritt die Unterbrechung des Verfahrens, die dem Schutz des Rechtsnachfolgers dient, nicht ein. Dabei wird vom Gesetzgeber stillschweigend vorausgesetzt, dass der Prozessbevollmächtigte befugt ist, auch für die Rechtsnachfolger rechtsverbindliche Erklärungen abzugeben. Auf Antrag des Prozessbevollmächtigten oder auch des Finanzamts, was aber nicht üblich ist, ist das Verfahren aber auszusetzen (§ 155 FGO i. V. m. § 246 Abs. 1 ZPO). In der Praxis wird der Prozessbevollmächtigte prüfen müssen, wie weit seine Vollmacht reicht, ob er im Sinne der Rechtsnachfolger handelt, wenn er das Verfahren fortführt oder ob er besser einen solchen Antrag stellen soll, um zu klären, für wen und in welchem Sinne er nunmehr tätig werden soll. Wird ein solcher Antrag nicht gestellt, wird das Verfahren – ggf. gegen „Unbekannte Erben nach …“ – fortgeführt und ggf. durch Urteil abgeschlossen. Dies gilt auch dann, wenn der Tod in der Zeit nach Erlass des Urteils und vor Einlegung des Rechtsmittels eintritt; denn der verstorbene Beteiligte wird im Rechtsmittelverfahren noch durch seinen Prozessbevollmächtigten der Vorinstanz als vertreten angesehen.6

3.355

1 2 3 4

BFH v. 20.11.2014 – IV R 1/11, BFH/NV 2015, 409. BFH v. 20.11.2014 – IV R 1/11, BFH/NV 2015, 409. Herbert in Gräber, § 74 FGO Rz. 29. BFH v. 27.8.2008 – II R 23/06, BFH/NV 2008, 2038; v. 28.3.1985 – VII R 141/84, BFH/NV 1987, 248. 5 BFH v. 28.3.1985 – VII R 141/84, BFH/NV 1987, 248. 6 BFH v. 2.8.2004 – V B 96/04, BFH/NV 2004, 1665 m. w. N.

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Kap. 3 Rz. 3.356

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.356 Im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Beteiligten wird das Verfahren, wenn es die Insolvenzmasse betrifft, unterbrochen, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen (s. Rz. 9.71 ff.) oder das Insolvenzverfahren beendet wird (§ 155 FGO i. V. m. § 240 ZPO). b) Juristische Personen

3.357 Bei juristischen Personen des Privatrechts, z. B. Kapitalgesellschaften und rechtsfähigen Vereinen, beginnt die Beteiligtenfähigkeit in der Regel zusammen mit der Rechtsfähigkeit im zivil- bzw. handelsrechtlichen Sinne, letztlich ist sie hiervon aber nicht abhängig. Hierzu gehören auch die in § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG nicht ausdrücklich genannten weder nach deutschem noch nach europäischem Recht gegründeten, nach einem Typenvergleich aber den deutschen Kapitalgesellschaften vergleichbaren Gesellschaften.1 Allerdings kann auch eine durch Abschluss des notariellen Gesellschaftsvertrags errichtete und im Handelsregister noch nicht eingetragene Kapitalgesellschaft als sog. Vorgesellschaft bereits als Körperschaftsteuersubjekt behandelt werden. Voraussetzung ist allerdings eine geschäftliche Tätigkeit sowie eine spätere Eintragung ins Handelsregister.2 In diesem Fall ist die Vorgesellschaft ebenfalls als beteiligtenfähig anzusehen.

3.358 Zur zivilrechtlichen Rechtsfähigkeit ist z. B. bei der AG, der KGaA und der GmbH die Eintragung im Handelsregister erforderlich; diese endet mit der Löschung im Handelsregister. Die Beteiligtenfähigkeit bleibt allerdings, auch wenn die Löschung im Handelsregister erfolgt, solange erhalten, wie die juristische Person noch Rechte hat oder auch nur solche für sich in Anspruch nimmt, und solange sie noch steuerliche Pflichten zu erfüllen hat und gegen sie ergangene Steuerbescheide angreift.3 Die Löschung im Handelsregister hat allerdings zur Folge, dass der bisherige gesetzliche Vertreter (insbesondere der Geschäftsführer, § 35 Abs.1 GmbHG) seine Vertretungsbefugnis verliert und die GmbH mangels eines vertretungsberechtigten Organs prozessunfähig wird.4 Daher wird das gerichtliche Verfahren an sich gem. § 155 FGO i. V. m. § 241 Abs. 1 ZPO bis zur Bestellung eines Liquidators unterbrochen. Diese Unterbrechung des Verfahrens tritt gem. § 155 FGO i. V. m. § 246 Abs. 1 ZPO hingegen nicht ein, wenn die Gesellschaft durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist, der aufgrund seiner Vollmacht vertretungsbefugt und prozessführungsbefugt ist. Die dem Prozessbevollmächtigten vor Löschung erteilte Prozessvollmacht dauert über den Zeitpunkt der Löschung im Handelsregister fort (§ 155 FGO i. V. m. § 86 ZPO). Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH kann das Finanzgericht deshalb in der Sache entscheiden, wenn eine gelöschte GmbH im Klageverfahren durch einen vor der Löschung bevollmächtigten Prozessbevollmächtigten vertreten ist.5 Der Prozessbevollmächtigte einer gelöschten GmbH hat danach die Möglichkeit, einerseits die Aussetzung des Verfahrens, andererseits aber ohne Verzögerung eine Sachentscheidung herbeizuführen. Ergibt diese, dass noch verteilbares Vermögen vorhanden ist (z. 1 Levedag in Gräber, § 57 FGO Rz. 29. 2 BFH v. 18.3.2010 – IV R 88/06, BStBl. II 2010, 991; v. 14.10.1992 – I R 17/92, BStBl. II 1993, 352 m. w. N. 3 Vgl. dazu BFH v. 17.7.2006 – V B 188/05, BFH/NV 2006, 2107; v. 6.5.1977 – III R 19/75, BFH/NV 1977, 783; FG Köln v. 8.10.2015 – 13 K 2932/14, EFG 2016, 368 zur britischen Limited; vgl. auch Levedag in Gräber, § 57 FGO Rz. 22; Brandis in Tipke/Kruse, § 57 FGO Rz. 3 – 5 m. w. N. 4 BFH v. 18.3.1986 – VII R 146/81, BStBl. II 1986, 589; FG München v. 5.10.2011 – 3 V 2049/11, EFG 2012, 723. 5 So BFH v. 17.7.2006 – V B 188/05, BFH/NV 2006, 2107; ausführlich dazu BFH v. 27.4.2000 – I R 65/98, BStBl. II 2000, 500.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.362 Kap. 3

B. Erstattungsansprüche), so lebt die Gesellschaft fort, und es findet eine Nachtragsliquidation statt. Erst dann ist die Bestellung eines Nachtragsliquidators erforderlich, um das weitere Prozessverhalten der GmbH zu bestimmen.1 Die Beteiligtenfähigkeit endet bei juristischen Personen in der Regel mit der Auflösung – ohne Abwicklung – oder im Falle der Abwicklung mit deren Abschluss.

3.359

c) Personengesellschaften Bei Personengesellschaften, wie z. B. OHG, KG oder Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GbR), und Gemeinschaften, wie z. B. Grundstücksgemeinschaften, beginnt die Beteiligtenfähigkeit in dem Zeitpunkt, in dem sie für den Bereich der jeweiligen Steuerart steuerliche Rechte und Pflichten zu tragen haben. Dies ist in der Regel der Zeitpunkt, in dem sie auch gesellschaftsrechtlich bzw. bürgerlich-rechtlich entstanden sind.

3.360

Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach dem Ende der Beteiligtenfähigkeit von Personengesellschaften und Gemeinschaften. Hier ist zu unterscheiden zwischen den Feststellungsbescheiden und den Bescheiden über Betriebssteuern:

3.361

Bei einer Klage gegen einen Feststellungsbescheid endet die Beteiligtenfähigkeit (§ 57 FGO) einer Personengesellschaft, wenn sie nach Gesellschaftsrecht als voll beendet anzusehen ist.2 Damit entfällt die Grundlage für eine Prozessstandschaft der Gesellschaft und für die ihr zur Wahrnehmung dieser Aufgabe eingeräumte Beteiligtenfähigkeit,3 die ihr aufgrund ihrer selbständigen Organisation und Handlungsfähigkeit durch vertretungsberechtigte Organe verliehen ist.4 Dabei bleibt die Personengesellschaft in der Regel trotz Auflösung5 weiterhin beteiligtenfähig. Die bloße Auflösung der Personengesellschaft führt noch nicht zu deren Vollbeendigung, sondern nur zu einer Umwandlung der werbenden in eine Abwicklungsgesellschaft (§§ 145 ff. HGB; § 730 BGB). Bis zur vollständigen Durchführung der Abwicklung besteht die Gesellschaft ohne Änderung ihrer Identität fort. Die Vollbeendigung tritt erst mit Abschluss der Liquidation ein Die Auflösung führt allerdings zu einer Änderung in der Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft durch die Liquidatoren (§ 146 HGB, § 730 Abs. 2 Satz 2 BGB). Die aufgelöste Personengesellschaft ist erst dann voll beendet, wenn die Liquidation abgeschlossen und das Gesamthandsvermögen (Aktivvermögen) vollständig abgewickelt, also verteilt, ist. Zivilrechtlich kommt es hierbei auf die Schuldentilgung gegenüber den Gläubigern, also auch gegenüber der Finanzbehörde, nicht an.6 Darüber hinaus endet eine Personengesellschaft mit dem Auflösungsbeschluss auch ohne Durchführung eines Liquidationsverfahrens, wenn die Gesellschaft zuvor durch ihre geschäftliche Betätigung ihr Aktivvermögen verloren hat und Nachschüsse der Gesellschafter zur Begleichung der Schulden im Rahmen der Abwicklung nicht zu erlangen sind. Auf die Löschung der Personengesellschaft im Handelsregister kommt es dagegen nicht an. Die Personengesellschaft kann also bis zum Abschluss der Liquidation noch Beteiligte des finanzgerichtlichen Verfahrens sein.

3.362

1 Vgl. BGH v. 23.2.1970 – II ZB 5/69, BGHZ 53, 264. 2 BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170; v. 23.4.2009 – IV R 87/05, BFH/NV 2009, 1650. 3 BFH v. 22.9.2011 – IV R 42/09, BFH/NV 2012, 236. 4 Steinhauff, Anm. zu BFH v. 22.1.2015 – IV R 62/11, jurisPR-SteuerR 28/2015 Anm. 4. 5 §§ 723 ff. BGB; § 131, § 161 HGB. 6 BGH v. 29.9.1981 – VI ZR 21/80, NJW 1982, 238; v. 5.4.1979 – II ZR 73/78, NJW 1979, 1592; s. auch FG Hamburg v. 23.9.2009 – 5 K 1501/07, EFG 2010, 348 (rkr.).

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Kap. 3 Rz. 3.363

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.363 In der neueren Rechtsprechung wird inzwischen aus pragmatischen Gründen die Auffassung vertreten, dass die Beteiligtenfähigkeit der Personengesellschaft – trotz zivilrechtlicher Vollbeendigung – jedenfalls so lange fortbesteht, wie die Gesellschaft wegen eines von ihr selbst betriebenen Prozesses wegen betrieblicher Steuern, wo sie selbst Steuersubjekt ist (z. B. wegen Gewerbesteuer), steuerlich als noch nicht vollbeendet behandelt wird (sog. Ewigkeitstheorie1 – s. auch Rz. 3.365).2

3.364 Die bis zum Zeitpunkt der Vollbeendigung (oder ggf. auch bis zu dem vorgenannten fingierten Zeitpunkt – Rz. 3.367) überlagerte Klagebefugnis der einzelnen Gesellschafter lebt erst dann wieder auf. Ist die Personengesellschaft im Zeitpunkt der Klageerhebung bereits voll beendet oder tritt die Vollbeendigung während des gerichtlichen Verfahrens ein, so sind die durch den angefochtenen Bescheid beschwerten Feststellungsbeteiligten selbst klagebefugt und als prozessuale Rechtsnachfolger anzusehen. Sie rücken damit auch wieder selbst in die Beteiligtenstellung ein.3 Der Eintritt der ehemaligen Gesellschafter ist verfahrensrechtlich wie ein Fall der Gesamtrechtsnachfolge i. S. von § 155 FGO i. V. m. § 239 ZPO zu beurteilen4 Daraus folgt: War die Personengesellschaft bei ihrer Vollbeendigung durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten, so gilt § 246 ZPO. Das Verfahren wird fortgeführt. Eine Unterbrechung des Verfahrens tritt nur ein, wenn der Prozessbevollmächtigte oder die übrigen Beteiligten einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gem. § 246 Abs. 1 ZPO stellen.5 Nach § 86 ZPO i. V. m. § 155 FGO wird die Vollmacht durch den Wegfall des Vollmachtgebers nicht aufgehoben. Die Vollmacht behält im Verhältnis zu den Rechtsnachfolgern, die anstelle des Vollmachtgebers Kläger geworden sind, ihre Wirkung.6

3.365 Bei Klagen wegen Betriebssteuern wird im Gegensatz dazu die Personengesellschaft in den Fällen, in denen sie selbst Steuersubjekt ist – z. B. in Bezug auf die Umsatz-, Gewerbe- und Grundsteuer sowie in Bezug auf die Verpflichtung zur Duldung einer Prüfungsanordnung –, im Fall der Liquidation ohne Eintritt einer Rechtsnachfolge auch noch nach ihrer gesellschaftsrechtlichen Vollbeendigung aus pragmatischen Gründen so lange als materiell-rechtlich existent behandelt, bis alle gemeinsamen Rechtsbeziehungen, zu denen auch das Rechtsverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Finanzamt gehört, abgewickelt sind.7

3.366 Dies gilt nach der Rechtsprechung allerdings nicht für die Fälle, in denen die Personengesellschaft nicht durch Abwicklung, sondern durch den Eintritt einer Gesamtrechtsnachfolge erlischt, so z. B. durch Anwachsung8 oder Umwandlung.9 Damit gehen die Steuerschuldnerschaft und damit die Klagebefugnis und die Beteiligtenstellung auf den betreffenden 1 Vgl. dazu Brandis in Tipke/Kruse, § 48 FGO Rz. 15. 2 BFH v. 12.4.2007 – IV B 69/05, BFH/NV 2007, 1923. 3 BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170; v. 17.1.2007 – XI R 19/05, BFH/NV 2007, 1315. 4 BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170; v. 22.11.1988 – VIII R 90/84, BStBl. II 1989, 326. 5 BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170. 6 BBFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170. 7 BFH v. 16.12.2009 – IV R 48/07, BFH/NV 2010, 518 (betreffend FördGG); v. 21.9.2006 – V B 102/05, juris (zur Umsatzsteuer); v. 25.7.2000 – VIII R 32/99, BFH/NV 2001, 178 (zum Gewerbesteuermessbescheid); vgl. hierzu auch Steinhauff, AO-StB 2010, 182 ff. (184) m. w. N. zum Meinungsstreit und zur sog. „Ewigkeitstheorie“. 8 BFH v. 15.10.2010 – IV R 67/07, BFH/NV 2010, 1606; v. 16.12.2009 – IV B 103/07, BFH/NV 2010, 865; v. 13.12.2007 – IV R 91/05, BFH/NV 2008, 1289 m. w. N. 9 BFH v. 8.12.2016 – IV R 55/10, BStBl. II 2017, 982.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.371 Kap. 3

Gesellschafter über,1 so dass es gar nicht erforderlich ist, die Existenz der Personengesellschaft trotz ihrer Vollbeendigung weiterhin zu fingieren.2 In der Praxis ist bei einer vollbeendeten Personengesellschaft immer sorgfältig zu prüfen, wer beteiligtenfähig ist. Hierbei ist auch die neuere Rechtsprechung zu beachten, die bei Feststellungsbescheiden die Klagebefugnis der zivilrechtlich vollbeendeten Personengesellschaft annimmt, solange noch ein Verfahren wegen Betriebssteuern anhängig ist. Je nachdem, welche Klage zuerst erhoben wird (z. B. wegen Gewinnfeststellung oder wegen Gewebesteuermessbetrag sowie Umsatzsteuer) und welches Verfahren zuerst abgeschlossen wird, ergeben sich insoweit unterschiedliche verfahrensrechtliche Konsequenzen, wobei die Auffassung der einzelnen Senate bei den Finanzgerichten hierzu auch noch unterschiedlich sein kann. Dies ist unbefriedigend. Es empfiehlt sich deshalb, auf jeden Fall im Rubrum der Klageschrift neben der Gesellschaft auch die Gesellschafter anzugeben, damit notfalls der richtige Beteiligte im Wege der Auslegung vom Gericht ermittelt werden kann.3

3.367

3.368–3.369

Einstweilen frei.

III. Prozess- und Postulationsfähigkeit Literatur: Drüen, Die Prozessfähigkeit und ihre Prüfung von Amts wegen, AO-StB 2006, 158; Stöcker, Auswirkungen einer Geschäfts- und Prozessunfähigkeit, AO-StB 2003, 290.

1. Prozessfähigkeit Die Verfahrensbeteiligten müssen prozessfähig sein. Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, in einem finanzgerichtlichen Verfahren Verfahrenshandlungen selbst oder durch einen selbst bestellten Vertreter vornehmen zu können, also z. B. Klage zu erheben, Anträge zu stellen, Rechtsmittel einzulegen. Prozesshandlungen prozessunfähiger Personen sind unwirksam.4 Die Prozessfähigkeit ist als Sachentscheidungsvoraussetzung und zugleich Prozesshandlungsvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.5 Sie muss im Urteilsverfahren im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorhanden sein. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, so ist die Klage als unzulässig abzuweisen.6

3.370

Gem. § 58 Abs. 1 Nr. 1 FGO sind unbeschränkt prozessfähig alle nach bürgerlichem Recht geschäftsfähigen natürlichen Personen, d. h. alle Volljährigen mit Ausnahme der nicht nur vorübergehend Geistesgestörten (§ 104 Nr. 2 BGB) und der wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht durch das Vormundschaftsgericht gem. § 1896 BGB unter Betreuung gestellten Personen.7 Ausländische Staatsangehörige sind grundsätzlich prozessfähig, soweit sie nach dem Recht ihres Heimatlandes geschäftsfähig sind (§ 58 Abs. 2 Satz 2 FGO i. V. m. § 55 ZPO).

3.371

1 2 3 4 5

BFH v. 16.12.2009 – IV B 103/07, BFH/NV 2010, 865. BFH v. 22.1.2015 – IV R 62/11, BFH/NV 2015, 295 m. w. N. BFH v. 1.7.2004 – IV R 4/03, BFH/NV 2005, 162. Drüen in Tipke/Kruse, § 58 FGO Rz. 9. § 58 Abs. 2 Satz 2 FGO i. V. m. § 56 Abs. 1 ZPO; vgl. BFH v. 28.6.2011 – IX B 11/11, BFH/NV 2011, 1891 m. w. N. 6 BFH v. 8.7.1999 – III B 22/99, BFH/NV 1999, 1628. 7 Drüen in Tipke/Kruse, § 79 AO Rz. 21.

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Kap. 3 Rz. 3.372

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.372 Gem. § 58 Abs. 1 Nr. 2 FGO sind außerdem prozessfähig alle nach bürgerlichem Recht beschränkt geschäftsfähigen natürlichen Personen, soweit sie nach Vorschriften des bürgerlichen Rechts oder öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt sind. Hierunter fallen z. B. Minderjährige, – die das 7., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben und – zum selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäftes ermächtigt worden sind (§ 112 BGB), für solche Rechtsgeschäfte, die der Geschäftsbetrieb mit sich bringt, bzw. – zum Eintritt in ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis ermächtigt sind (§ 113 BGB), für solche Rechtsgeschäfte, die die Eingehung und Aufhebung eines solchen Verhältnisses oder die Erfüllung der sich aus ihnen ergebenden Verpflichtungen betrifft. Beispiel: Der 17-jährige M ist von seinen Eltern zum Betrieb eines Erwerbsgeschäfts ermächtigt worden. Er kann deshalb selbständig Angelegenheiten im Zusammenhang mit Betriebssteuern erledigen und ggf. – nach Durchführung eines Einspruchsverfahrens – auch gegen einen ablehnenden Bescheid Klage erheben. Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Einkommensteuer fallen nicht hierunter.1

3.373 Nicht prozessfähige natürliche Personen werden durch ihre gesetzlichen Vertreter (z. B. bei ehelichen Kindern die Eltern) vertreten.

3.374 Nach § 58 Abs. 2 Satz 1 FGO werden rechtsfähige und nichtrechtsfähige Personenvereinigungen, nichtrechtsfähige Vermögensverwaltungen usw. durch ihre geschäftsführenden Organe bzw. durch alle Gesellschafter oder Gemeinschafter vertreten, soweit diese nicht im Einzelfall von der Vertretung ausgeschlossen sind oder ggf. auch Einzelvertretung zugelassen ist. Haben sie keinen Vertreter, so sind sie zwar beteiligtenfähig, aber nicht prozessführungsbefugt. Legt z. B. der Geschäftsführer einer GmbH sein Amt nieder, verliert die GmbH ihre Prozessfähigkeit. Hieran ändert der seit dem 1.11.2008 geltende § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG nichts, da diese Vorschrift nur die Passivvertretung im Fall der Führungslosigkeit regelt, nicht aber die für eine Prozessführung erforderliche Aktivvertretung. Sollen Rechte der Gesellschaft wahrgenommen werden, ist es den Gesellschaftern unbenommen, einen neuen Geschäftsführer zu bestellen und dadurch die aktive Geschäfts- und Verfahrensfähigkeit der GmbH wieder herzustellen.2 2. Postulationsfähigkeit

3.375 Von der Prozessfähigkeit ist die Postulationsfähigkeit zu unterscheiden. Unter Postulationsfähigkeit versteht man die Fähigkeit, selbst vor einem bestimmten Gericht auftreten und Verfahrenshandlungen wirksam vornehmen zu können. Im Verfahren vor den Finanzgerichten können die Beteiligten ihre Rechte selbst wahrnehmen (§ 62 Abs. 1 FGO). Demgegenüber besteht nach § 62 Abs. 4 FGO für Verfahren vor dem BFH ein Vertretungszwang. Hier fehlt dem prozessfähigen Steuerpflichtigen die Postulationsfähigkeit und er muss sich durch eine vertretungsberechtigte Person i. S. des § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO als Bevollmächtigten vertreten lassen. Dieser Vertretungszwang vor dem BFH bedeutet, dass die Postulationsfähigkeit der Beteiligten für das gesamte Verfahren fehlt. Verfahrenshandlungen können grundsätz-

1 Drüen in Tipke/Kruse, § 79 AO Rz. 17. 2 BFH v. 24.8.2012 – I B 69/12, BFH/NV 2013, 50 mit ausführlicher Darstellung der Rechtslage und m. w. N.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.380 Kap. 3

lich also nur von den vertretungsberechtigten Personen wirksam vorgenommen werden. Zu Einzelheiten s. Rz. 4.4 ff.

3.376–3.377

Einstweilen frei.

IV. Prozessbevollmächtigter Literatur: Brandt, Die Vollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2001, 115; Busl, Vorlage der schriftlichen Vollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2004, 66; Grunewald/Müller, Ausländische Rechtsberatungsgesellschaften in Deutschland, NJW 2005, 465; Günther, Beratungsbefugnis von Lohnsteuerhilfevereinen, AO-StB 2012, 227; Haunhorst, Die Vollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 2001, 878; Jäger, Der Nachweis der Bevollmächtigung und die Formstrenge des BFH, DStZ 2003, 880; Loose, Die Vertretung im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2008, 252; Mack, Bei Anforderung der Prozessvollmacht durch das Finanzgericht sollte der Berater sensibel reagieren, Stbg 2001, 461; Paulus/Henkel, Rechtsschein der Prozessvollmacht, NJW 2003, 1692; Rüsken, Zurückweisung eines in Deutschland ansässigen Belastingsadviseurs, INF 2003, 328; Spindler, Die Neuregelung des Vertretungsrechts im finanzgerichtlichen Verfahren, DB 2008, 1283; Urban, Zulässigkeit der Klage nach richterlichem Ermessen?, DStZ 2001, 801; Weller/Kienle, Die Anwalts-LLP in Deutschland, DStR 2005, 1060, 1102.

1. Allgemeines Im finanzgerichtlichen Verfahren kann jeder prozessfähige Steuerpflichtige seine Rechte selbst wahrnehmen. Es besteht vor dem Finanzgericht kein Vertretungszwang. In § 62 Abs. 1 FGO wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Beteiligten vor dem Finanzgericht den Rechtsstreit selbst führen können. Sie können also selbst Klage erheben und wirksam Prozesshandlungen vornehmen. Beim BFH gilt dagegen Vertretungszwang (§ 62 Abs. 4 FGO).

3.378

Der Steuerpflichtige, der einen Steuerprozess führen will, kann aber zur Wahrnehmung seiner Rechte einen Bevollmächtigten bestellen (§ 62 Abs. 2 FGO). Bevollmächtigte sind Vertreter der Beteiligten. Sie handeln also in deren Namen; ihre Handlungen und Erklärungen wirken unmittelbar für und gegen den Beteiligten. Es kann aber nicht jede Person zum Prozessbevollmächtigten bestellt werden, sondern die Beteiligten können sich nach § 62 Abs. 2 FGO nur durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten vertreten lassen. Zur Vertretung berechtigt sind auch Gesellschaften i. S. des § 3 Nr. 2 und 3 StBerG, die durch solche Personen handeln. Das sind

3.379

– Partnerschaftsgesellschaften, deren Partner ausschließlich den steuer- und rechtsberatenden Berufen angehören, – Steuerberatungsgesellschaften, Rechtsanwaltsgesellschaften, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Buchprüfungsgesellschaften. In § 62 Abs. 2 Satz 2 FGO wird abschließend aufgezählt, wer darüber hinaus als Bevollmächtigter vor dem Finanzgericht auftreten kann. Das sind: 1. Beschäftigte des Beteiligten oder eines mit ihm verbundenen Unternehmens (§ 15 AktG); Behörden oder juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts

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3.380

Kap. 3 Rz. 3.381

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen, 2. volljährige Familienangehörige (§ 15 AO, § 11 des Lebenspartnerschaftsgesetzes), Personen mit Befähigung zum Richteramt und Streitgenossen, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit steht, 3. Personen und Vereinigungen i. S. des § 3a StBerG im Rahmen ihrer Befugnisse nach § 3a StBerG (diese Regelung betrifft beim Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen Personen oder Vereinigungen, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in der Schweiz beruflich niedergelassen sind und dort befugt geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leisten), 4. landwirtschaftliche Buchstellen im Rahmen ihrer Befugnisse nach § 4 Nr. 8 StBerG, 5. Lohnsteuerhilfevereine im Rahmen ihrer Befugnisse nach § 4 Nr. 11 StBerG, 6. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder, 7. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nr. 6 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.

3.381 Bevollmächtigte, die keine natürlichen Personen sind, handeln durch ihre Organe und durch ihre mit der Prozessvertretung beauftragten Vertreter. Bevollmächtigte, die nicht nach den vorgenannten Vorschriften vertretungsbefugt sind, weist das Gericht gem. § 62 Abs. 3 Satz 1 FGO durch unanfechtbaren Beschluss zurück. Bis zur Zurückweisung vorgenommene Prozesshandlungen eines nicht vertretungsbefugten Bevollmächtigten und bis zur Zurückweisung vorgenommene Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts an diesen sind wirksam (§ 62 Abs. 3 Satz 2 FGO). Die von einem nicht vertretungsbefugten Bevollmächtigten erhobene Klage ist also wirksam erhoben. Beispiel: A bittet seinen Nachbarn N, der Lehrer ist und nicht die Befähigung zum Richteramt hat, ihm bei der Erhebung seiner Klage gegen das Finanzamt wegen Einkommensteuer 00 zu helfen. Er erteilt ihm eine schriftliche Vollmacht hierfür. N formuliert die Klageschrift und erhebt unter Vorlage der Vollmacht als Vertreter des A fristgerecht Klage beim Finanzgericht. Da N nicht vertretungsbefugt ist, weist der zuständige Senat beim Finanzgericht den N durch Beschluss zurück. Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Die Klage (als Prozesshandlung) ist allerdings wirksam erhoben und kann von A weitergeführt werden.

3.382 § 62 Abs. 3 Satz 2 FGO dient der Rechtssicherheit. Für die Beurteilung der Frage, ob eine Zustellung an einen nicht (mehr) vertretungsbefugten Bevollmächtigten wirksam ist, müssen Gericht und Beteiligte hiernach nicht nachforschen, wann die Vertretungsbefugnis entfallen ist. Entscheidend ist allein, ob eine Zurückweisung des Bevollmächtigen erfolgt ist.1

1 BFH v. 2.3.2015 – VI B 125/14, BFH/NV 2015, 848; Stapperfend in Gräber, § 62 FGO Rz. 42.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.388 Kap. 3

Hiervon zu unterscheiden ist allerdings der Fall der Klageerhebung durch einen vollmachtlosen Vertreter (s. Rz. 3.385 ff.).

3.383

In § 62 Abs. 5 FGO ist geregelt, dass Richter nicht als Bevollmächtigte vor dem Gericht auftreten dürfen, dem sie angehören. Dies gilt für ehrenamtliche Richter – außer in den o. g. Fällen der Nr. 1 – für das Auftreten vor dem Spruchkörper, dem sie angehören. Treten sie dennoch entgegen dieser Regelung auf, so weist das Gericht den unbefugt auftretenden Richter oder ehrenamtlichen Richter gem. § 62 Abs. 5 Satz 3 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 FGO durch unanfechtbaren Beschluss zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt vorgenommene Prozesshandlungen sind allerdings wirksam.

3.384

2. Prozessvollmacht Der Bevollmächtigte erhält seine Vertretungsmacht durch die Vollmacht. Er kann den Beteiligten deshalb nur dann wirksam vertreten, wenn er eine gültige Vollmacht erhalten hat. Das Vorliegen einer Vollmacht ist eine Sachentscheidungsvoraussetzung. Wird die Vollmacht auf Verlangen des Gerichts nicht nachgewiesen, so kann das Gericht keine Sachentscheidung treffen. Die Klage muss vielmehr durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen werden, weil es an einer Prozesshandlungsvoraussetzung fehlt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Vorlage der Vollmacht unterblieb, obwohl eine schriftliche Vollmacht vorhanden war, oder ob die Vollmacht nicht vorgelegt wurde, weil sie nicht erteilt war.1

3.385

Liegt keine gültige Vollmacht vor, wirken die von dem vollmachtlosen Vertreter vorgenommenen Verfahrenshandlungen nicht gegenüber dem Beteiligten, in dessen Namen er aufgetreten ist. Der vollmachtlose Vertreter ist auch befugt, die von ihm im Namen des Klägers erhobene Klage wieder zurückzunehmen.2

3.386

Beispiel: Steuerberater A erhebt im Namen des Steuerpflichtigen S Klage gegen den Umsatzsteuerbescheid. Eine Vollmacht war dem A nicht erteilt worden. Die Klageerhebung wirkt nicht für und gegen den Steuerpflichtigen. Ihm können deshalb bei Abweisung der Klage als unzulässig auch keine Gerichtskosten abverlangt werden. Die Kosten hat in diesem Fall der vollmachtlose Vertreter zu tragen.

Der Mangel der Vollmacht kann allerdings nachträglich noch durch eine Genehmigung geheilt werden. Wird diese Genehmigung erteilt, werden sämtliche Verfahrenshandlungen, auch die, die vor der Erteilung der Genehmigung vorgenommen worden sind, wirksam.

3.387

Beispiel: Der Steuerpflichtige S genehmigt in dem vorgenannten Beispiel die Klageerhebung, indem er dem Steuerberater A nachträglich eine entsprechende Vollmacht erteilt. In diesem Fall wirkt die Klageerhebung für und gegen ihn. Das bedeutet: In diesem Fall ist auch die Klagefrist gewahrt, wenn die Klage von dem zunächst vollmachtlosen Steuerberater innerhalb der Klagefrist erhoben worden ist. Dies gilt selbst dann, wenn die Genehmigung der Prozessführung erst nach Ablauf der Klagefrist erteilt wird.

Die Vollmacht wird durch einseitige Erklärung des Vollmachtgebers erteilt. Die Erklärung kann gegenüber dem zu Bevollmächtigenden, dem Gericht oder dem Prozessgegner erfol1 Vgl. BFH v. 16.11.1993 – VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891; Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 51. 2 BFH v. 21.5.2014 – IX B 153/13, BFH/NV 2014, 1391; v. 21.12.1994 – III R 228/94, BFH/NV 1995, 1008.

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3.388

Kap. 3 Rz. 3.389

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

gen. Die Erteilung der Vollmacht ist formlos möglich, kann im finanzgerichtlichen Verfahren aber nur schriftlich nachgewiesen werden.1 Zur Schriftform gehört grundsätzlich die handschriftliche Unterzeichnung der Vollmachtsurkunde durch den Vollmachtgeber und die Übersendung der Originalurkunde an das Gericht.2 Eine Prozessvollmacht kann aber auch in der Weise erteilt werden, dass die Klageschrift vom Kläger sowie seinem als solchen in der Klageschrift bezeichneten Bevollmächtigten unterschrieben wird.3 Aus der Vollmachtsurkunde oder einem an das Gericht gerichteten Begleitschreiben, das zur Auslegung herangezogen werden kann, muss sich eindeutig und klar ergeben, wer, wen wofür bevollmächtigt hat.4 Die ausdrücklich für das Einspruchsverfahren erstellte Vollmacht gilt nicht für das Klageverfahren.5 Bei einer auf eine Sozietät oder eine Partnerschaftsgesellschaft i. S. des PartGG (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 StBerG) ausgestellten Vollmacht gelten im Zweifel alle Sozien bzw. Partner als bevollmächtigt.6 Tritt ein bei der Sozietät/Partnerschaftsgesellschaft angestellter Steuerberater auf, muss er neben der Vollmacht für die Sozietät/Partnerschaftsgesellschaft eine Untervollmacht vorlegen.7

3.389 Die in einem finanzgerichtlichen Verfahren erteilte Prozessvollmacht ist wie im Zivilprozess umfassend (§ 155 FGO i. V. m. §§ 81–84 ZPO). Deshalb ermächtigt die Prozessvollmacht zu allen den Finanzrechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen, also insbesondere dazu, Klage zu erheben, die Klage zu ändern, sie zurückzunehmen, Tatsachen zu behaupten, sie zu bestreiten, zuzugestehen, Rechtsmittel einzulegen, zurückzunehmen oder auf sie zu verzichten, die Hauptsache für erledigt zu erklären.

3.390 Allerdings kann der Umfang der Prozessvollmacht durch den Vollmachtgeber beschränkt werden (§ 155 FGO i. V. m. § 83 ZPO), z. B. auf eine Terminsvollmacht.8 Die Einschränkung muss sich aus der Vollmachtsurkunde selbst oder aus einer anderen schriftlichen Erklärung des Vollmachtgebers eindeutig und klar ergeben.9 Ergibt sich die Einschränkung nicht zweifelsfrei aus der Vollmachtsurkunde, ist von einer umfassenden Vollmacht auszugehen.10 3. Einreichung der Vollmacht

3.391 Nach § 62 Abs. 6 Satz 1 FGO ist die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten einzureichen, d. h., die Prozessvollmacht ist dem zuständigen Spruchkörper zu dem jeweiligen Verfahren im Original einzureichen. Die Vorlage einer Ablichtung der Vollmachtsurkunde reicht ebenso wenig aus11 wie die Übermittlung der schriftlich erteilten Vollmacht durch Telefax.12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

BFH v. 9.6.1999 – I R 23/98, BFH/NV 2000, 51. Vgl. dazu Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 56 ff. und nachfolgend unter Rz. 3.391. BFH v. 1.3.2001 – II R 3/00, BFH/NV 2001, 1129. BFH v. 27.2.1998 – VI R 88/97, BStBl. II 1998, 445. Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 17 m. w. N. BFH v. 24.6.2009 – X B 240/08, juris; v. 29.3.2005 – VI B 198/04, BFH/NV 2005, 1349 m. w. N.; vgl. auch Stapperfend in Gräber, § 62 FGO Rz. 25; Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 7, jeweils m. w. N. BFH v. 22.1.1991 – X R 107/90, BStBl. II 1991, 524. BFH v. 27.7.1983 – II B 68/82, BStBl. II 1983, 644. Vgl. dazu Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 20. BFH v. 17.9.1997 – X S 14/96, BFH/NV 1998, 470. BFH v. 29.11.2005 – II S 15/05, BFH/NV 2006, 593. BFH v. 28.11.1995 – VII R 63/95, BStBl. II 1996, 105; v. 5.6.2003 – III R 38/01, BFH/NV 2004, 489; neuerdings offengelassen in BFH v. 19.1.2017 – IV B 84/16, BFH/NV 2017, 605.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.394 Kap. 3

Diese Auffassung kann zwar im Hinblick auf die Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnik nicht mehr ohne weiteres nachvollzogen werden,1 allerdings empfiehlt es sich in der Praxis, zur Vermeidung von Streitigkeiten dem Gericht die Originalvollmacht vorzulegen.2 Ist dem Prozessbevollmächtigten die Vollmacht nicht von dem Vertretenen selbst erteilt worden, hat er die Vollmacht vielmehr von dessen Vertreter erhalten (sog. Untervollmacht), so gehört zum Nachweis der Prozessvollmacht auch der Nachweis der Vertretungsmacht desjenigen, der die Untervollmacht unterzeichnet hat.3 Hat der Vollmachtgeber eine zunächst erteilte Vollmacht widerrufen, ist zum Nachweis der Vertretungsbefugnis die Vorlage einer neuen Vollmachtsurkunde erforderlich.4

3.392

Eine Bezugnahme auf eine Vollmacht, die in einem anderen Verfahren beigebracht ist, dürfte als Nachweis der Bevollmächtigung allerdings nach wie vor ausreichen, wenn dem Gericht eine Einsicht in diese Vollmachtsurkunde ohne weiteres möglich und aus der Urkunde ersichtlich ist, dass sie auch für das Verfahren, in dem die Bezugnahme erfolgt, bestimmt ist.5

3.393

Das Gericht hat einen Mangel der Vollmacht nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn als Bevollmächtigter nicht eine in § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO bezeichnete Person oder Gesellschaft auftritt (§ 62 Abs. 6 Satz 4 FGO). Daraus folgt aber nicht, dass das Fehlen der Prozessvollmacht in den anderen Fällen unbeachtlich ist.6 Vielmehr wird aufgrund von § 62 Abs. 6 Satz 4 FGO die Vorlage der Prozessvollmacht bei den Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe erleichtert. Danach braucht das Gericht den Mangel der Vollmacht nicht von Amts wegen zu beachten, wenn Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe als Prozessvertreter auftreten, wenn also ein Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer oder eine Gesellschaft i. S. des § 3 Nrn. 2 und 3 StBerG als Bevollmächtigter auftritt (§ 62 Abs. 6 Satz 4 FGO). Aus § 62 Abs. 6 Satz 4 FGO folgt nicht zwingend, dass das Fehlen der Prozessvollmacht bei Auftreten einer der in § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO bezeichneten Personen oder Gesellschaften unbeachtlich ist. Das Gericht ist in diesen Fällen aber nicht mehr gezwungen, eine Vollmacht anzufordern; vielmehr hat es nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob es die Vorlage einer Vollmacht für notwendig erachtet oder nicht.7 Besteht ein wenn auch nur geringer Zweifel daran, dass eine Bevollmächtigung tatsächlich besteht, so darf das Gericht den Nachweis der Vollmacht durch Vorlage der Vollmachtsurkunde verlangen.8 Für die Annahme derartiger notwendiger begründeter Zweifel an einer Bevollmächtigung, die bei dem Auftreten von Angehörigen der steuerberatenden Berufe die Anforderung einer Vollmacht rechtfertigen können, müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass die in § 62 Abs. 6 Satz 4 FGO genannte Person oder Gesellschaft tatsächlich nicht oder nicht wirksam bevollmächtigt ist.9 Bloße

3.394

1 2 3 4 5 6 7

Ebenso zu Recht kritisch Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 58. Ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 58. BFH v. 22.10.1998 – X R 77/95, BFH/NV 1999, 625. BFH v. 7.7.1999 – VI R 203/98, BFH/NV 2000, 59. BFH v. 16.9.1998 – VI R 37/98, BFH/NV 1999, 485. BFH v. 13.12.2011 – X B 109/11, BFH/NV 2012, 438 m. w. N. BFH v. 15.4.2010 – V B 7/09, BFH/NV 2010, 1830; v. 19.1.2017 – IV B 84/16, BFH/NV 2017, 605. 8 BFH v. 24.6.2008 – IV B 83/07, BFH/NV 2008, 1856. 9 BFH v. 11.2.2015 – V B 107/14, BFH/NV 2015, 698; v. 7.5.2014 – II B 117/13, BFH/NV 2014, 1232 m. w. N.; v. 19.1.2017 – IV B 84/16, BFH/NV 2017, 605.

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Kap. 3 Rz. 3.395

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

abstrakte Mutmaßungen reichen insoweit nicht aus.1 Allein der Umstand, dass keine Klagebegründung eingereicht worden ist, begründet noch keinen Zweifel am Bestehen einer Vollmacht.2

3.395 Keiner Prozessvollmacht bedürfen kraft Gesetzes oder aufgrund behördlicher oder gerichtlicher Anordnung zur Vertretung befugte Personen. Hierzu rechnen beispielsweise gesetzliche Vertreter von juristischen Personen, insbesondere Handelsgesellschaften, geschäftsführende Gesellschafter von Personengesellschaften, Liquidatoren und Insolvenzverwalter. Die Anforderung einer Prozessvollmacht durch das Gericht bleibt in diesen Fällen wirkungslos.3 Auch eine Prokura oder eine Generalvollmacht machen eine besondere Prozessvollmacht entbehrlich. Hier ergibt sich das Vertretungsrecht im finanzgerichtlichen Verfahren aus der Generalvollmacht bzw. der Prokura selbst, also aus der sachlich-rechtlichen Vertretungsmacht. Allerdings muss diese sachlich-rechtliche Vertretungsmacht ggf. durch Vorlage entsprechender Urkunden nachgewiesen werden.

3.396 Da in der Praxis immer damit gerechnet werden muss, dass das Gericht die Vorlage der Vollmacht verlangt, sollte sich der Berater hierauf einrichten und bestrebt sein, möglichst noch vor Klageerhebung eine schriftliche Prozessvollmacht seines Mandanten zu erhalten. Es empfiehlt sich, immer dafür Sorge zu tragen, dass eine ordnungsgemäße schriftliche Vollmacht vorhanden ist, aus der hervorgeht, wer, wen wozu bevollmächtigt hat. Wird die Vollmacht vom Gericht angefordert, so empfiehlt es sich, grundsätzlich die Vollmachtsurkunde im Original vorzulegen.4 Ebenso sollte möglichst nicht auf eine Vollmacht in anderen Gerichtsakten oder gar in den Finanzamtsakten verwiesen werden. Wird Akteneinsicht beantragt, ist es immer geboten, eine Vollmacht vorzulegen, damit sichergestellt ist, dass die Gewährung von Akteneinsicht nicht gegen das Steuergeheimnis (§ 30 AO) verstößt.5

3.397 Die Vollmacht kann nachgereicht werden (§ 62 Abs. 6 Satz 2 FGO). Das bedeutet: Der zunächst zur Unzulässigkeit der Klage führende Mangel einer fehlenden Vollmacht kann geheilt werden, wenn die Vollmacht nachgereicht wird. Grundsätzlich wird die Prozessführung durch einen bisher vollmachtlosen Vertreter wirksam, wenn die schriftliche Prozessvollmacht nachgereicht wird.

3.398 Für die Vorlage bzw. Nachreichung der Vollmacht kann vom Vorsitzenden oder Berichterstatter eine einfache richterliche Frist gem. § 62 Abs. 6 Satz 2 FGO gesetzt werden. Eine Ausschlussfrist zur Vorlage der Prozessvollmacht, wie sie früher einmal möglich war, ist gesetzlich nicht mehr vorgesehen und deshalb nicht mehr zulässig. Dies bedeutet, dass die Vollmacht auch noch nach Ablauf der Frist vorgelegt werden kann, ohne dass hieraus Rechtsnachteile erwachsen.

1 Vgl. grundlegend BFH v. 11.2.2003 – VII R 18/02, BStBl. II 2003, 606 m. w. N.; vgl. auch BFH v. 28.5.2003 – VII B 236/02, BFH/NV 2003, 1208; v. 28.11.2003 – III B 75/02, BFH/NV 2004, 523. 2 BFH v. 12.4.2012 – X B 190-196/11, X B 190/11, X B 191/11, X B 192/11, X B 193/11, X B 194/11, X B 195/11, X B 196/11, BFH/NV 2012, 1154; v. 10.2.2009 – X B 211/08, BFH/NV 2009, 782. 3 Vgl. BFH v. 9.11.1994 – I R 96/94, BStBl. II 1995, 204. 4 BFH v. 29.11.2005 – II S 15/05, BFH/NV 2006, 593; ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 58. 5 Großzügiger inzwischen BFH v. 19.1.2017 – IV B 84/16, BFH/NV 2017, 605, wonach die per Telefax übermittelte Urkundeeiner Prozessvollmacht für das Bestehen der Bevollmächtigung spricht, so dass die Anforderung der Originalurkunde nicht ermessensgerecht ist.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.402 Kap. 3

Beispiel: Assessor J, der das 2. juristische Staatsexamen bestanden hat und mit A befreundet ist, erhebt gegen die gegen A ergangene Einspruchsentscheidung des Finanzamts X als vollmachtloser Vertreter des A beim Finanzgericht Klage. Der Berichterstatter fordert den J unter Fristsetzung von einem Monat auf, eine Vollmacht vorzulegen. Dieser Aufforderung kommt J nicht nach. Der Berichterstatter, dem der Fall als Einzelrichter übertragen worden ist, beraumt nunmehr einen Termin zur mündlichen Verhandlung an. Zu diesem Termin sind sowohl der J als auch der A geladen worden. A ist froh, dass J Klage erhoben hat und will vermeiden, dass die Klage als unzulässig abgewiesen wird. Dies kann er dadurch erreichen, dass trotz Ablaufs der Frist die Vollmacht noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegt oder die Klageerhebung bis zu diesem Zeitpunkt durch ihn genehmigt wird.

4. Erlöschen der Vollmacht Die Prozessvollmacht endet durch Widerruf, Zweckerreichung (Beendigung des Rechtsstreits), Tod des Prozessbevollmächtigten sowie durch Beendigung des der Prozessvollmacht zu Grunde liegenden Vertrages (§ 155 FGO i. V. m. §§ 86 und 87 ZPO).

3.399

Der Widerruf ist ein einseitiges und empfangsbedürftiges, formloses Rechtsgeschäft des Vollmachtgebers. Er ist dem Gericht oder dem Prozessbevollmächtigten gegenüber zu erklären. In der Bestellung eines neuen Prozessbevollmächtigten kann ein Widerruf der Bestellung eines früheren Bevollmächtigten nur dann gesehen werden, wenn darin eindeutig zum Ausdruck kommt, dass der neue Bevollmächtigte an Stelle des früheren bestellt werden soll. Gegenüber dem Gericht wird der Widerruf erst wirksam, wenn er dem Gericht angezeigt worden ist.1

3.400

Auch durch eine Beendigung des Rechtsstreits erlischt die für diesen Rechtsstreit erteilte Vollmacht. Hiervon kann allerdings erst ausgegangen werden, wenn der mit der Erteilung der Vollmacht verfolgte Zweck erreicht und keine Handlung durch die Prozessvollmacht mehr gedeckt sein kann.

3.401

Die Vollmacht erlischt auch, wenn der der Erteilung der Vollmacht zu Grunde liegende Vertrag beendet wird. Diese Voraussetzung ist insbesondere dann erfüllt, wenn das Mandat gekündigt wird. Durch eine Niederlegung des Mandats wird die Vollmacht erst dann beendet, wenn in der Niederlegung gleichzeitig eine Kündigung des der Vollmacht zu Grunde liegenden Kausalvertrages zu sehen ist. Das bedeutet: Legt der Bevollmächtigte lediglich das Mandat nieder, ohne gleichzeitig zu erkennen zu geben, dass er auch den der Erteilung der Vollmacht zu Grunde liegenden Vertrag gekündigt hat, bleibt er für das Gericht Prozessbevollmächtigter. Dies hat zur Folge, dass gem. § 62 Abs. 3 Satz 2 FGO Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts weiterhin an ihn zu richten sind. Eine Ladung zur mündlichen Verhandlung, die dem Prozessbevollmächtigten ordnungsgemäß zugestellt worden ist, verliert ihre Wirkung für und gegen den Prozessbeteiligten auch nicht dadurch, dass dem Gericht nach Ladungszustellung die Mandatsniederlegung und das Erlöschen der Prozessvollmacht angezeigt werden.2

3.402

Beispiel: Der Steuerberater A erreicht seinen Mandanten M nicht mehr, weil sich dieser für längere Zeit im Ausland aufhält, und kann keinen Kontakt mehr zu ihm herstellen. Er legt daraufhin gegenüber dem Gericht das Mandat nieder.

1 BFH v. 12.12.2001 – XI R 88/98, BFH/NV 2002, 922. 2 Vgl. BFH v. 3.3.2005 – VIII B 80/04, AO-StB 2005, 202; v. 18.8.2003 – X S 5/03, BFH/NV 2004, 66.

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Kap. 3 Rz. 3.403

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Die Vollmacht ist in diesem Fall noch nicht erloschen, weil weder der Mandant selbst die Kündigung des Mandatsverhältnisses gegenüber dem Gericht ausgesprochen hat noch durch den Prozessbevollmächtigten nachgewiesen werden kann, dass die Kündigung des Mandatsverhältnisses der Prozesspartei zugegangen ist (§ 130 Abs. 1 BGB). Für das Gericht bleibt der S Prozessbevollmächtigter, so dass weiterhin Mitteilungen und Ladungen wirksam an ihn gerichtet werden können. Auch nach der Mandatsniederlegung kann der Bevollmächtigte für den Beteiligten nämlich solange handeln, bis dieser in anderer Weise für die Wahrnehmung seiner Rechte gesorgt hat.1

3.403 Gegenüber dem BFH erlangt die Kündigung der Vollmacht gem. § 62 Abs. 4, § 155 FGO i. V. m. § 87 ZPO erst Wirksamkeit mit der Anzeige der Bestellung eines anderen Prozessbevollmächtigten.2

3.404 Der Tod des Klägers bleibt ohne Auswirkung auf den Fortgang und Abschluss des Verfahrens, wenn der Verstorbene durch einen Prozessbevollmächtigten wirksam vertreten war. Dies ändert sich auch nicht dadurch, dass dem Gericht zum Todeszeitpunkt eine schriftliche Prozessvollmacht (noch) nicht vorlag, da im finanzgerichtlichen Verfahren der Einreichung der Vollmacht bei Gericht allenfalls Nachweisfunktion zukommt.3

3.405–3.406

Einstweilen frei.

V. Klagebefugnis Literatur: Dissars, Einspruchs und Klagebefugnis einheitlicher und gesonderter Feststellung, NWB 2011, 1715; Gersch, Klagebefugnis und Klägerbezeichnung im Finanzgerichtsprozess, AO-StB 2003, 241; Gradl/Wiese, Personengesellschaften – Adressierung der Verwaltungsakte und Klagebefugnis in ausgewählten Situationen, DStZ 2004, 754; Heissenberg, Rechtsbehelfsbefugnisse bei Gesellschaften und Gemeinschaften, KÖSDI 1990, 8037; Jarosch, Die GbR im Finanzgerichts-Prozess, AO-StB 2001, 82; Nieland, Einspruchs- und Klagebefugnis bestehender und vollbeendeter Personengesellschaften, AO-StB 2005, 6; Olbertz, Rechtsbehelfsbefugnis bei einheitlichen Feststellungsbescheiden – § 352 AO, DB 1988, 733; Stahl, Adressat und Rechtsbehelfsbefugnis bei ausländischen Personengesellschaften, ISR 2013, 210; Steinhauff, Voraussetzungen und Grenzen der Klagebefugnis von im Einspruchsverfahren nicht – notwendig – Hinzugezogenen, DStR 2005, 2027; von Wedelstädt, Einspruchs- und Klagebefugnis bei einheitlichen und gesonderten Feststellungsbescheiden, AO-StB 2006, 230 und 261; Wessling, Der zur Vertretung berufene Geschäftsführer i.S.d. § 48 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. FGO bei inund ausländischen Personengesellschaften, BB 2013, 1185.

1. Allgemeines

3.407 Gem. § 40 Abs. 2 FGO ist, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes oder einer anderen Leistung in seinen Rechten verletzt zu sein (sog. Klagebefugnis). Der Sinn dieser Vorschrift besteht darin, Klagen zu vermeiden, die nur zur Klärung theoretischer Rechtsfragen geführt werden bzw. die nicht der Wahrnehmung eigener, sondern der Wahrnehmung der Rechte Dritter oder des Allgemeininteresses dienen sollen. Nur derjenige, der darlegt, dass er selbst in eigenen Rechten 1 § 155 FGO i. V. m. § 87 Abs. 2 ZPO; Spindler in HHSp, § 62 FGO Rz. 175; Brandt in Beermann/ Gosch, § 62 FGO Rz. 68. 2 BFH v. 21.11.2012 – X B 181/12, BFH/NV 2013, 242; v. 8.7.2010 – V B 129/09, BFH/NV 2010, 2088. 3 BFH v. 26.2.2002 – X B 79/01, BFH/NV 2002, 1035.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.411 Kap. 3

durch eine Maßnahme der Finanzbehörde betroffen ist, kann zulässigerweise eine Klage erheben. Die Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 FGO sind erfüllt, wenn das Klagevorbringen es als zumindest möglich erscheinen lässt, dass die angefochtene Entscheidung eigene subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers verletzt (sog. Möglichkeitstheorie), bzw. die Klagebefugnis ist umgekehrt nur dann nicht gegeben, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger geltend gemachten Rechte bestehen oder ihm zustehen können.1 Die Klagebefugnis muss sowohl bei der Anfechtungsklage als auch bei der Verpflichtungsklage und der allgemeinen Leistungsklage vorliegen. Deshalb muss der Kläger geltend machen:

3.408

– bei der Anfechtungsklage eine Rechtsverletzung durch einen Verwaltungsakt, – bei der Verpflichtungsklage eine Rechtsverletzung durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes sowie – bei der allgemeinen Leistungsklage eine Rechtsverletzung durch eine sonstige Leistung, die nicht in einem Verwaltungsakt besteht, oder durch die Ablehnung oder Unterlassung einer solchen Leistung.2 2. Einzelheiten a) Rechtsverletzung Die Klagebefugnis liegt nur vor, wenn der Kläger eine Rechtsverletzung geltend macht. Eine Rechtsverletzung in diesem Sinne liegt nur dann vor, wenn der Verwaltungsakt dem geltenden Recht widerspricht oder bei belastenden Verwaltungsakten (z. B. Steuerbescheiden) durch eine Rechtsnorm nicht gedeckt ist. Der Kläger muss also zweierlei geltend machen:

3.409

– dass der angefochtene Verwaltungsakt objektiv rechtswidrig ist und – dass er gerade ihn, den Kläger, in seinen Rechten verletzt. Es muss sich um eine individuelle Rechtsverletzung handeln. Erforderlich ist ein Verstoß gegen eine Norm, die nicht ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit, insbesondere im öffentlichen Interesse an der gesetzmäßigen Steuererhebung und Sicherung des Steueraufkommens erlassen wurde, sondern zumindest auch dem Schutz der Interessen einzelner an dem betreffenden Steuerschuldverhältnis nicht beteiligter Dritter dient (sog. „drittschützende“ Norm).3 Eine Verletzung lediglich wirtschaftlicher, kultureller oder sonstiger Interessen genügt ebenso wenig wie die Verletzung von Normen, durch die der einzelne Dritte nur aus Gründen des Interesses der Allgemeinheit begünstigt wird, die also reine Reflexwirkungen haben.4 Eine Verletzung von verfahrensrechtlichen Vorschriften kann allerdings auch zu einer Rechtsverletzung führen.

3.410

Die Verletzung von Verwaltungsvorschriften (Richtlinien, Erlasse, OFD-Verfügungen) ist grundsätzlich keine Rechtsverletzung i. S. des § 40 Abs. 2 FGO. Verwaltungsvorschriften binden nämlich in der Regel nur die nachgeordneten Behörden und Bediensteten. Denn norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, die keine Rechtsnormen sind, binden die Steuer-

3.411

1 2 3 4

BFH v. 25.11.2015 – I R 85/13, BStBl. II 2016, 479 m. w. N. Vgl. BFH v. 25.11.2015 – I R 85/13, BStBl. II 2016, 479. BFH v. 25.11.2015 – I R 85/13, BStBl. II 2016, 479. BFH v. 25.11.2015 – I R 85/13, BStBl. II 2016, 479.

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Kap. 3 Rz. 3.412

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

gerichte grundsätzlich nicht.1 Die Gerichte folgen ihnen nur dann, wenn sie eine zutreffende Auslegung des Gesetzes enthalten.2 Eine gewisse Bindungswirkung ergibt sich aber als Ausfluss von Art. 3 Abs. 1 GG bei Bewertungsrichtlinien und Typisierungsanordnungen (AfATabellen, Richtsätzen, Pauschbeträgen).3 Mangels besserer Anhaltspunkte ist deshalb grundsätzlich von den auf Erfahrungssätzen der einzelnen Branchen beruhenden Richtsätzen und Pauschalen auszugehen.4

3.412 Die Gerichte wenden solche Richtlinien im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung an, sofern sie nicht im Einzelfall zu untragbaren, d. h. zu offensichtlich unrichtigen Ergebnissen führen.5 Im Regelfall binden derartige Richtlinien also die Gerichte. Ein Abweichen von diesen Richtlinien würde also als Rechtsverletzung i. S. des § 40 Abs. 2 FGO angesehen werden können.6 b) Ermessensentscheidungen

3.413 Betreffen die Verwaltungsvorschriften ein gesetzlich eingeräumtes Ermessen der Behörde, kann sich der Steuerpflichtige in der Regel auch auf die Verletzung dieser Verwaltungsvorschriften berufen.7 Ermessensregelnde Verwaltungsanweisungen führen nach Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich zu einer behördlichen Selbstbindung.8 Bei der Ausübung des Ermessens ist der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG zu beachten. Deshalb wird ermessensfehlerhaft entschieden und damit das geltende Recht verletzt, wenn die Finanzbehörde im Einzelfall ohne triftigen Grund von der Ermessensrichtlinie innerhalb ihres Ermessensspielraums abweicht.9 Das gilt aber nur für den Fall, dass die Ermessensrichtlinie eine ausreichende Rechtsgrundlage hat und sie der Gesetzeslage nicht widerspricht.10 Sind derartige Ermessensrichtlinien erlassen, überprüfen die Finanzgerichte, ob sich die Behörde an die Richtlinie gehalten hat, ob die erlassene Ermessensrichtlinie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält und ob hierdurch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wird.11 1 BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BFH/NV 2016, 1410; v. 23.4.2015 – V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106; v. 24.9.2013 – VI R 48/12, BFH/NV 2014, 341; v. 18.4.2012 – XI R 14/10, BFH/NV 2012, 1828; v. 13.1.2011 – V R 12/08, BStBl. II 2012, 61. 2 BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BFH/NV 2016, 1410; v. 17.1.1984 – VI R 24/81, BStBl. II 1984, 522; v. 4.6.1997 – X R 12/97, BStBl. II 1997, 740. 3 BFH v. 23.4.2015 – V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106; v. 11.11.2010 – VI R 16/09, BStBl. II 2011, 966. 4 BFH v. 23.4.2015 – V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106; v. 19.3.2007 – X B 191/06, BFH/NV 2007, 1134. 5 BFH v. 12.1.2011 – II R 38/09, BFH/NV 2011, 765; vgl. auch BFH v. 13.12.2001 – III R 40/99, BStBl. II 2002, 224 zur Anwendung der Pauschsätze für Kfz.-Kosten Körperbehinderter. 6 Vgl. BFH v. 17.9.1997 – II R 74/94, BFH/NV 1998, 318 zur Bindung der Gerichte an das Stuttgarter Verfahren für die Anteilsbewertung. 7 BFH v. 16.12.2014 – X R 42/13, BStBl. II 2015, 519; vgl. BFH v. 11.4.2006 – VI R 64/02, BStBl. II 2006, 642 (zu Fristverlängerungsanträgen). 8 BFH v. 14.5.2009 – IV R 27/06, BStBl. II 2009, 881 m. w. N.; s. auch ausführlich Drüen in Tipke/ Kruse, § 4 AO Rz. 93. 9 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BFH/NV 2017, 418; v. 23.4.1991 – VIII R 61/87, BStBl. II 1991, 752; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 93 m. w. N. 10 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BFH/NV 2017, 498; v. 23.4.1991 – VIII R 61/87, BStBl. II 1991, 752. 11 BFH v. 19.3.2009 – V R 48/07, BStBl. II 2010, 92; v. 11.4.2006 – VI R 64/02, BStBl. II 2006, 642.

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Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.418 Kap. 3

Dabei sind die Richtlinien von den Gerichten nicht wie Gesetze auszulegen. Es ist nicht nach jeder denkbaren Auslegung der Anweisungen zu forschen, sondern nach dem Sinn, den ihr die anweisende Behörde erkennbar beigemessen hat.1 Maßgeblich ist deshalb nicht, wie das Gericht eine solche Bestimmung verstünde, wenn sie Gesetz wäre, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das Gericht darf Verwaltungsanweisungen daher nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.2

3.414

Entscheidend ist die durch die Verwaltungsrichtlinie vorgezeichnete tatsächliche Verwaltungsübung.3 Allerdings kann aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht ein Anspruch gegenüber der Behörde auf Fortführung einer gesetzwidrigen Verwaltungspraxis hergeleitet werden.4

3.415

c) Geltendmachung der Rechtsverletzung Der Kläger muss geltend machen, in seinen Rechten verletzt zu sein. Die Klagebefugnis erfordert also nicht, dass der Kläger tatsächlich in seinen Rechten verletzt ist. Es genügt allerdings nicht, dass der Kläger die reine Behauptung aufstellt, er sei in seinen Rechten verletzt. Er muss vielmehr substantiiert und in sich schlüssig Tatsachen vortragen, aus denen sich – ihre Richtigkeit unterstellt – ergibt, dass er in seinen Rechten verletzt ist.

3.416

Die Klagebefugnis bei Feststellungsbescheiden ist zum Teil abweichend von § 40 Abs. 2 FGO in § 48 FGO besonders geregelt. Hierauf ist in der Praxis besonders zu achten (s. nachfolgend Rz. 3.418 ff.).

3.417

d) Klagebefugnis bei Feststellungsbescheiden Eine eingeschränkte Klagebefugnis gegen Feststellungsbescheide wird in § 48 FGO geregelt, und zwar abweichend von der Beschwer nach § 40 Abs. 2 FGO, die voraussetzt, dass der Kläger geltend macht, in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein. Die Klagebefugnis gegen Feststellungsbescheide hängt nicht davon ab, auf welche Einkunfts- oder Vermögensart sich der betreffende Feststellungsbescheid bezieht; sie ist vielmehr einheitlich für alle Feststellungsbescheide festgelegt. Gem. § 48 Abs. 1 FGO können gegen Bescheide über die einheitliche und gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen grundsätzlich nur zur Vertretung berufene Geschäftsführer oder – wenn solche nicht vorhanden sind – Klagebevollmächtigte gem. § 48 Abs. 2 FGO klagen. Die einzelnen Feststellungsbeteiligten können, obwohl sie als Inhaltsadressaten unmittelbar betroffen sind, gegen den Feststellungsbescheid nur eingeschränkt Klage erheben, nämlich wenn keine Geschäftsführer oder Klagebevollmächtigten gem. § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO vorhanden sind (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO), wenn sie aus der Gesellschaft ausgeschieden sind (§ 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO), soweit Streit um die Zurechnung und die Verteilung des festgestellten Betrages besteht (§ 48 Abs. 1 Nr. 4 FGO) oder soweit es sich um eine Frage handelt, die den Feststellungsbeteiligten persönlich angeht (§ 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO).

1 2 3 4

Vgl. ausführlich Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 93. BFH v. 24.10.2000 – VI R 65/99, BStBl. II 2001, 109. BFH v. 21.10.1999 – I R 1/98, BFH/NV 2000, 691. BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BFH/NV 2017, 498; v. 7.10.2010 – V R 17/09, BFH/NV 2011, 865; v. 19.3.2009 – V R 48/07, BStBl. II 2010, 92; v. 3.2.2005 – B 152/04, BFH/NV 2005, 1214.

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3.418

Kap. 3 Rz. 3.419

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.419 Im Einzelnen gilt für die Klagebefugnis gegen Feststellungsbescheide Folgendes: Grundsatz (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. FGO): Die Klagebefugnis gegen Bescheide über die einheitliche und gesonderte Feststellung steht vorrangig den zur Vertretung berufenen Geschäftsführern zu. Ziel dieser Anfechtungsbeschränkungen ist neben der Wahrung der Belange der Gesellschaft (insbesondere also der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse) vor allem, die Rechtsbehelfe im Interesse der Verfahrensökonomie zu konzentrieren und damit über die streitigen und gegenüber allen Beteiligten einheitlich zu treffenden Feststellungen in möglichst nur einem Verfahren zu entscheiden.1 Aus der Regelung des § 48 Abs. Nr. 1 FGO folgt, dass die – durch ihren Geschäftsführer vertretene – Personengesellschaft befugt ist, als Prozessstandschafterin für ihre Gesellschafter Klage gegen den Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen zu erheben.

3.420 Damit knüpft die Klagebefugnis an die zivilrechtliche Vertretungsregelung an.2 Die Klagebefugnis gehört zu den Sachentscheidungsvoraussetzungen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen müssen. Bei der Klagebefugnis nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall einer sog. Prozessstandschaft.3 Das heißt: Der vertretungsberechtigte Gesellschafter klagt nicht im eigenen Namen, sondern im Namen der Gesellschaft, die dann wiederum in gesetzlicher Prozessstandschaft für ihre Gesellschafter tätig wird.

3.421 Insoweit empfiehlt es sich in der Praxis, in der Klageschrift die Gesellschaft als Klägerin anzugeben, aber auch den zur Vertretung befugten Gesellschafter, der die Klage erhoben hat und folgende Formulierungen zu wählen: Klage der X-KG, erhoben durch den zur Vertretung berechtigten Gesellschafter A …

3.422 Dabei wird die Beteiligtenfähigkeit der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft als selbstverständlich vorausgesetzt. Denn sonst fehlt es an der Grundlage für eine Prozessstandschaft.4 Inzwischen wird die Steuerrechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft und damit auch deren Prozess- bzw. Beteiligungsfähigkeit in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung bejaht.5 Bei Einreichung der Klage im Namen der BGB-Gesellschaft oder der Gemeinschaft durch einen organschaftlichen Geschäftsführer und Vertreter (also einen Gesellschafter oder Gemeinschafter) wird die Klage im Rahmen der rechtsschutzgewährenden Auslegung als rechtmäßig erhoben angesehen, ohne dass der Vertretungsumfang weiter geprüft wird. Deshalb ist es unerheblich, ob die Gesellschafter einer GbR nur einzeln oder – wie gesetzlich vorgesehen – gemeinschaftlich vertretungsberechtigt sind.6

3.423 Im Falle der Liquidation sind, da die bisherige Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis erloschen ist (vgl. z. B. § 730 Abs. 2 BGB; §§ 146 ff. HGB), die Liquidatoren vertretungs1 BFH v. 18.8.2015 – I R 42/14, BFH/NV 2016, 164; Brandis in Tipke/Kruse, § 48 FGO Rz. 2; Steinhauff in HHSp, § 48 FGO Rz. 16. 2 Z. B. § 714 BGB für die BGB-Gesellschaft, § 125 HGB für die offene Handelsgesellschaft, §§ 161 Abs. 2, 170, 125 HGB für die Kommanditgesellschaft – jeweils in Verbindung mit den entsprechenden gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen. 3 BFH v. 4.10.2006 – VIII R 7/03, BFH/NV 2007, 145. 4 Levedag in Gräber, § 48 FGO Rz. 23. 5 BFH v. 13.4.2017 – IV R 25/15, BFH/NV 2017, 1182; v. 29.6.2004 – IX R 39/03, BFH/NV 2004, 1371; v. 11.12.2006 – VIII B 82/06, BFH/NV 2007, 453. 6 BFH v. 29.6.2004 – IX R 39/03, BFH/NV 2004, 1371; kritisch insoweit Levedag in Gräber, § 48 FGO Rz. 29; Brandis in Tipke/Kruse, § 48 FGO Rz. 12.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.427 Kap. 3

befugt, deren Person sich aus dem Gesellschaftsvertrag, einem Gesellschafterbeschluss oder aus dem Gesetz ergibt. Dementsprechend ändert sich auch die Klagebefugnis. Solange diese vorrangige Klagebefugnis besteht, sind die einzelnen Gesellschafter nur unter den Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Nr. 3–5 FGO klagebefugt.1 Die Befugnis der Personengesellschaft, in Prozessstandschaft für ihre Gesellschafter Rechtsbehelfe gegen die Gewinnfeststellungsbescheide einzulegen, erlischt erst mit deren Vollbeendigung. Mit dem Abschluss der Liquidation und nach vollständiger Abwicklung ist die Personengesellschaft erloschen; damit hat auch die Vertretungsbefugnis der Liquidatoren ihr Ende gefunden mit der Folge, dass auch ihre Klagebefugnis nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. FGO entfällt.2

3.424

Erst dann lebt die bis zum Zeitpunkt der Vollbeendigung überlagerte Klagebefugnis der einzelnen Gesellschafter wieder auf3 und sowohl die Beteiligtenstellung als auch die Prozessführungsbefugnis gehen von der Personengesellschaft auf die durch den angegriffenen Bescheid beschwerten Gesellschafter über.4

3.425

Diese Grundsätze gelten auch in den Fällen einer im Ausland ansässigen Personengesellschaft, an der in der Bundesrepublik Deutschland ansässige natürliche Personen als Gesellschafter beteiligt sind, auch wenn lediglich für diese eine gesonderte Feststellung nach § 180 Abs. 5 Nr. 1 AO erfolgen muss.5 Etwaige tatsächliche Schwierigkeiten rechtfertigen es nicht, hiervon abzuweichen, da den inländischen Gesellschaftern bei Eingehung des Gesellschaftsverhältnisses diese Tatsache bekannt ist und sie sich hierauf einstellen und etwaige rechtliche Vorsorge treffen können, um sicherzustellen, dass der zur Vertretung berufene ausländische Geschäftsführer ggf. im Inland die Interessen der in der Bundesrepublik steuerpflichtigen Gesellschafter vor den deutschen Finanzbehörden bzw. den Finanzgerichten wahrnimmt.

3.426

Ausnahme 1 (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. FGO): Ist ein zur Vertretung berufener Geschäftsführer nicht vorhanden, so ist der Klagebevollmächtigte i. S. des § 48 Abs. 2 FGO klagebefugt. Der Klagebevollmächtigte i. S. von § 48 Abs. 2 FGO ist dabei in der Regel der (rechtsgeschäftlich bestellte) gemeinsame Empfangsbevollmächtigte i. S. des § 183 Abs. 1 AO.6 Da das Zivilrecht für alle Personengesellschaften Vertretungsregelungen enthält, kommt diese Bestimmung grundsätzlich nur zum Tragen, wenn es sich um eine Gemeinschaft handelt, z. B. Erbengemeinschaft, Miteigentümergemeinschaft, oder wenn es um Feststellungen nach § 180 Abs. 2 AO geht. Haben die Feststellungsbeteiligten keinen gemeinsamen Empfangsbevollmächtigten bestellt, so ist ein nach § 183 Abs. 1 Satz 2 AO fingierter oder unter den Voraussetzungen des § 183 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AO von der Finanzbehörde bestimmter Empfangsbevollmächtigter klagebefugt.

3.427

1 BFH v. 29.3.2012 – IV R 18/08, BFH/NV 2012, 1095 m. w. N. 2 Dies gilt nur für Feststellungsbescheide. Bei einem Rechtsstreit betreffend eine Betriebssteuer (z. B. Gewerbesteuermessbescheid oder Umsatzsteuerbescheid) gilt dies nicht. Hier gilt aus Gründen der Verfahrensvereinfachung die sog. Ewigkeitstheorie, wonach die Prozessführungsbefugnis der Gesellschaft bestehen bleibt, solange das Steuerschuldverhältnis nicht abgeschlossen ist (vgl. dazu Brandis in Tipke/Kruse, § 48 FGO Rz. 15; s. auch Rz. 3.363). 3 BFH v. 16.5.2013 – IV R 21/10, BFH/NV 2013, 1586 m. w. N. 4 BFH v. 28.3.2000 – VIII R 6/99, BFH/NV 2000, 1074; v. 27.7.2005 – II R 35/04, BFH/NV 2006, 18. 5 Vgl. BFH v. 11.9.2013 – I B 79/13, BFH/NV 2014, 161; Wassermeyer/Schönfeld in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 20 AStG Rz. 128. 6 Vgl. zu Einzelheiten Brandis in Tipke/Kruse, § 48 FGO Rz. 19 ff.

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Kap. 3 Rz. 3.428

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.428 Die in § 48 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. FGO geregelte Klagebefugnis des Klagebevollmächtigten greift nur dann ein, wenn die Beteiligten spätestens bei Erlass der Einspruchsentscheidung über die Klagebefugnis des Empfangsbevollmächtigten belehrt worden sind (§ 48 Abs. 2 Satz 3 FGO). Ist die Belehrung unterblieben, so entfällt die Klagebefugnis des Klagebevollmächtigten, da das Gesetz diese Klagebefugnis ausdrücklich vom Vorliegen einer entsprechenden Belehrung abhängig macht. Für diesen Fall gilt § 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO (s. nachstehend).

3.429 Ausnahme 2 (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO): Ist weder ein vertretungsberechtigter Geschäftsführer noch ein Klagebevollmächtigter i. S. des § 48 Abs. 2 FGO vorhanden, fehlt der in § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO vorgesehene Anknüpfungspunkt für die Klagebefugnis. Deshalb bestimmt § 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO, dass in diesen Fällen jeder Gesellschafter, Gemeinschafter oder Mitberechtigte, gegen den der Feststellungsbescheid ergangen ist oder zu ergehen hätte, klagebefugt ist. Für diesen Fall gilt also wieder die allgemeine Regelung der Klagebefugnis in § 40 Abs. 2 FGO.

3.430 Ausnahme 3 (§ 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO): Neben den zur Vertretung berufenen Geschäftsführern und Klagebevollmächtigten, die nur für die aktuell beteiligten Gesellschafter auftreten, sind gem. § 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO auch ausgeschiedene Gesellschafter, Gemeinschafter oder Mitberechtigte, gegen die der Feststellungsbescheid ergangen ist oder zu ergehen hätte, immer klagebefugt.1 Ein ausgeschiedener Gesellschafter oder Gemeinschafter kann gegen einen die Zeit vor seinem Ausscheiden betreffenden Gewinnfeststellungsbescheid, durch dessen Inhalt er unmittelbar betroffen ist, klagen, auch wenn ihm der Bescheid (noch) nicht bekannt gegeben wurde. Eine Klagefrist läuft in diesem Fall nicht. Wegen der für ihn nachteiligen Folgen ist der ausgeschiedene Gesellschafter immer beschwert, sofern es sich um Feststellungsbescheide handelt, die die Zeit vor seinem Ausscheiden betreffen.2

3.431 In der Praxis empfiehlt es sich in diesen Fällen, in denen der Bescheid dem ausgeschiedenen Gesellschafter nicht bekanntgegeben worden ist, obwohl er nach § 183 Abs. 2 Satz 1 AO einen Anspruch auf Einzelbekanntgabe hat, sich zunächst ggf. sogar telefonisch mit dem Finanzamt in Verbindung zu setzen, um den Bescheid zu erhalten, anstatt sofort zu klagen, ohne zu wissen, was der Bescheid eigentlich beinhaltet. Erhält der ausgeschiedene Gesellschafter dann den Bescheid, gelten für ihn die normalen Verfahrensgrundsätze und Fristen.

3.432 Ausnahme 4 (§ 48 Abs. 1 Nr. 4 FGO): Soweit es sich darum handelt, wer an dem festgestellten Betrag beteiligt ist und wie sich dieser auf die einzelnen Beteiligten verteilt, ist jeder Gesellschafter klagebefugt, der durch die Feststellungen hierzu berührt wird. Diese Regelung beruht auf dem Grundgedanken, dass derjenige, der durch einen Bescheid selbst in seiner eigenen Rechtsposition beeinträchtigt ist, selbst die Möglichkeit haben muss, diesen Bescheid gerichtlich überprüfen zu lassen. Letztlich ist dies eine notwendige Folge des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Grundrechts auf individuellen Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Verwaltung.

3.433 Ausnahme 5 (§ 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO): Soweit es sich um eine Frage handelt, die einen Beteiligten persönlich angeht, ist gem. § 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO jeder klagebefugt, der durch die Feststellungen im Feststellungsbescheid betr. diese Frage berührt wird. Hierbei handelt es

1 BFH v. 23.2.2011 – I R 52/10, BFH/NV 2011, 1354. 2 Vgl. BFH v. 31.7.1980 – IV R 18/77, BStBl. II 1981, 33.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.437 Kap. 3

sich in erster Linie um Fragen des Sonderbetriebsvermögens, der Sonderbetriebseinnahmen bzw. Sonderverluste einzelner Gesellschafter.1 Es ist zu beachten, dass § 48 FGO nur die Klagebefugnis bei Feststellungsbescheiden regelt. Handelt es sich um Bescheide, deren Adressat unmittelbar die Gesellschaft ist (z. B. Umsatzsteuerbescheide, Gewerbesteuermessbescheide), so ist ausschließlich die Gesellschaft als Steuerschuldnerin klagebefugt (§ 40 Abs. 2 FGO). Das heißt z. B. für eine GbR, dass gem. §§ 709 Abs. 1, 714 BGB für die GbR die Gesellschafter gemeinschaftlich tätig werden müssen; ein Gesellschafter allein ist nicht klagebefugt.2 Der einzelne Gesellschafter kann hier nicht geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein, da er nicht Adressat des Bescheides ist.

3.434

e) Klagebefugnis drittbetroffener Nichtadressaten Ob jemand von einem Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt ist, hängt davon ab, ob er von dem Verwaltungsakt inhaltlich (rechtlich) betroffen ist. Inhaltlich betroffen kann nicht nur jemand sein, für den der Verwaltungsakt inhaltlich bestimmt ist (der Inhaltsadressat), sondern auch jemand, der – ohne Inhaltsadressat oder Bekanntgabeadressat zu sein – als Dritter rechtlich betroffen ist.3 Dabei muss die Betroffenheit auch des Dritten eine rechtliche und nicht nur eine wirtschaftliche, tatsächliche oder ideelle sein.4 Ist die Bekanntgabe gegenüber dem Drittbetroffenen unterblieben, hat dieser gleichwohl die Möglichkeit, Klage zu erheben (Drittanfechtungsrecht).5 Angesprochen sind damit insbesondere Einbringungsfälle (§ 20 UmwStG), in denen sich nur der einbringende Rechtsträger gegen den für ihn bindenden Bilanzansatz bei der aufnehmenden Kapitalgesellschaft wenden kann.6 Der Grundsatz der „Rechtsverletzung drittbetroffener Nichtadressaten“ kann damit die Klagebefugnis eines Nichtadressaten begründen. Dieser Grundsatz vermag jedoch nicht die Klagebefugnis eines nichtbeschwerten Adressaten dadurch zu begründen, dass ein dritter Nichtadressat durch den Verwaltungsakt beschwert ist.7

3.435

3. ABC der Klagebefugnis Drittbetroffene s. Rz. 3.435.

3.436

Ehegatten: Ist der Steuerbescheid (z. B. Einkommensteuerbescheid bei einer Zusammenveranlagung) gegen beide Ehegatten gerichtet, so sind beide Ehegatten klagebefugt. Es besteht eine getrennte Rechtsbehelfsbefugnis beider Ehegatten.8 Die Zulässigkeit der Klage eines jeden der Ehegatten setzt dann allerdings voraus, dass auch beide Ehegatten ein Vorverfahren durchgeführt haben und die Einspruchsentscheidung gegen beide Ehegatten ergangen ist.

3.437

1 Vgl. BFH v. 23.9.2009 – IV R 21/08, BStBl. II 2010, 337; v. 1.6.1989 – IV R 19/88, BStBl. II 1989, 1018. 2 BFH v. 5.3.2010 – V B 56/09, BFH/NV 2010, 1111; v. 30.4.2007 – V B 194/06, BFH/NV 2007, 1523; v. 10.4.2001 – V B 116/00, BFH/NV 2001, 1220. 3 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 40 FGO Rz. 71. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 40 FGO Rz. 71. 5 BFH v. 8.6.2011 – I R 79/10, BStBl. II 2012, 421; v. 6.2.2014 – I B 168/13, BFH/NV 2014, 921; Seer in Tipke/Kruse, § 40 FGO Rz. 55a, 71. 6 BFH v. 8.6.2011 – I R 79/10, BStBl. II 2012, 421; v. 25.4.2012 – I R 2/11, BFH/NV 2012, 1649. 7 Vgl. dazu Schleswig-Holsteinisches FG v. 24.4.2015 – 3 K 114/11, EFG 2015, 1292 (Revision eingelegt Az. des BFH VI R 64/15). 8 Vgl. dazu BFH v. 27.11.1984 – VIII R 73/82, BStBl. II 1985, 296.

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Kap. 3 Rz. 3.438

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Ist der Bescheid jedoch nur an einen Ehegatten gerichtet (z. B. bei getrennter Veranlagung), so ist der andere Ehegatte nicht betroffen, folglich auch nicht klagebefugt.

3.438 Einkommensteuerbescheid: Zu hohe Steuer: Durch Festsetzung einer zu hohen Steuer (z. B. weil Werbungskosten, Betriebsausgaben, Sonderausgaben zu Unrecht nicht anerkannt worden sind), liegt stets eine Rechtsverletzung und damit eine Klagebefugnis vor.

3.439 Zu niedrige Steuer: Durch die Festsetzung einer zu niedrigen Steuer ist der Steuerpflichtige in der Regel nicht in seinen Rechten verletzt und damit auch gegen den entsprechenden Bescheid nicht klagebefugt. Eine Klage mit dem Begehren, eine höhere Steuer festzusetzen ist grundsätzlich unzulässig.1

3.440 Ausnahmsweise kann ein Kläger aber auch durch eine zu niedrige Steuerfestsetzung in seinen Rechten verletzt sein: Dies ist dann der Fall, wenn die Festsetzung sich in bindender Weise auf einem anderen rechtlichen Gebiet ungünstig auswirkt, weil der Regelungsgehalt des Steuerbescheids ausnahmsweise über die bloße Steuerfestsetzung hinausreicht.2 Liegt nach Darlegung des Steuerpflichtigen eine zu niedrige Steuerfestsetzung vor, die unter Berücksichtigung der in ihr liegenden gegenwärtigen Vorteile und der mit ihr für spätere oder vorhergehende Steuerabschnitte verbundenen Nachteile im steuerlichen Ergebnis eine Schlechterstellung befürchten lässt, liegt eine Rechtsverletzung vor; die Klagebefugnis ist dann gegeben. Deshalb kann eine Einkommensteuerveranlagung auch mit dem Ziel einer höheren Steuerfestsetzung angefochten werden, wenn die angesetzten Besteuerungsgrundlagen eine Bindung für andere Veranlagungen herbeiführen.3 Es muss allerdings mit einer gewissen Sicherheit angenommen werden können, dass der Vorgang, auf dem die zu niedrige Steuerfestsetzung beruht, dem Steuerpflichtigen bei der gleichen Steuer für spätere Steuerabschnitte oder bei einer anderen Steuerart steuerliche Nachteile verursachen wird, die den durch die zu niedrige Steuerfestsetzung bewirkten Vorteil überwiegen.

3.441 So liegt z. B. eine Rechtsverletzung vor, wenn die Steuerfestsetzung auf einem unrichtigen Bilanzansatz beruht und dieser Ansatz nach dem Grundsatz der Bilanzidentität bewirkt, dass der Vorteil sich in anderen (vorhergehenden oder späteren) Veranlagungszeiträumen zu einem noch größeren Nachteil des Steuerpflichtigen auswirkt.4

3.442 Kann sich ein falscher Bilanzansatz aber weder auf die Steuer des betreffenden Jahres noch auf die Steuer der vorigen Jahre zum Nachteil des Klägers auswirken, liegt eine Rechtsverletzung nicht vor. Macht der Steuerpflichtige z. B. mit der Klage gegen einen Einkommensteuerbescheid geltend, der Buchwert einer Beteiligung sei höher als vom Finanzamt angenommen, weil bestimmte Aufwendungen keine Privatentnahmen, sondern zusätzliche Anschaffungskosten gewesen seien, liegt keine Rechtsverletzung vor. Denn der Kläger macht nicht geltend, dass in dem Einkommensteuerbescheid die Höhe der Steuer unrichtig festgesetzt ist. Ob sich der unrichtige Bilanzansatz in einem späteren Veranlagungszeitraum für den Steu1 BFH v. 9.9.2005 – IV B 6/04, BFH/NV 2006, 22 m. w. N. 2 Levedag in Gräber, § 40 FGO Rz. 96. 3 BFH v. 10.12.1992 – IV R 17/92, BStBl. II 1993, 344; v. 9.9.2005 – IV B 6/04, BFH/NV 2006, 22 m. w. N. 4 Vgl. BFH v. 24.10.2006 – I R 2/06, BFH/NV 2007, 814; v. 24.10.2006 – I R 2/06, BFH/NV 2007, 814; v. 13.12.1984 – VIII R 273/81, BStBl. II 1985, 394; v. 19.9.1997 – IV R 16/95, BStBl. II 1997, 808.

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Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.446 Kap. 3

erpflichtigen ungünstig auswirken könnte, ist in diesem Zusammenhang unbeachtlich, solange der unrichtige Bilanzansatz keine Bindungswirkung für spätere Jahre hat. In der Rechtsprechung ist insoweit anerkannt, dass eine Berichtigung unrichtiger Wertansätze in der Bilanz in späteren Jahren zulässig ist, sofern sich der Wertansatz auf die Höhe der Steuern nicht ausgewirkt hat, diese also auch bei richtigem Wertansatz nicht höher oder niedriger gewesen wären.1 Für die Anfechtung des Einkommensteuerbescheids mit dem Ziel der Anrechnung höherer Lohnsteuerabzugsbeträge ist die Klagebefugnis gegeben, da zunächst die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit vollständig in die Einkommensteuerveranlagung mit einbezogen werden müssen.2

3.443

Steuer von 0,– Euro: Es entspricht der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass eine Klage gegen einen Einkommensteuerbescheid, der eine Steuer von 0,– Euro ausweist, in der Regel unzulässig ist, weil der Kläger insoweit nicht beschwert ist.3

3.444

Ausnahmsweise ist auch bei einem Einkommensteuerbescheid über 0,–Euro die Klagebefugnis gegeben, sofern eine Besteuerungsgrundlage für ein anderes Verfahren maßgebend ist4 und wenn die zu niedrige Festsetzung dazu führt, dass der Steuerpflichtige bei späteren Steuerfestsetzungen Nachteile erleidet.5

3.445

Hier sind folgende Fälle denkbar:

3.446

– Durch die Klage betr. das Verlustrücktragsjahr soll die Anwendung des § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG ermöglicht werden.6 – Die zu günstige Steuerfestsetzung oder die Feststellung kann sich in späteren Jahren zum Nachteil des Steuerpflichtigen auswirken, etwa bei der steuerlichen Beurteilung von bestimmten Aufwendungen als sofort abzugsfähige Werbungskosten und hieraus entstehenden Nachteilen in den Folgejahren, weil dem Steuerpflichtigen hinsichtlich der steuerrechtlichen Beurteilung ein Wahlrecht zusteht.7 – Einzelne Besteuerungsgrundlagen in einem Bescheid sind auch für andere Behörden zu Lasten des Steuerpflichtigen bindend und führen damit zu einer Beschwer. Dies gilt z. B. für Leistungen nach dem BAföG hinsichtlich der positiven Einkünfte, nicht aber hinsichtlich der außergewöhnlichen Belastungen.8 Gem. § 21 Abs. 1 BAföG gilt die Summe der im Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen positiven Einkünfte i. S. des § 2 Abs. 1 und 2 EStG als Einkommen, das gem. § 11 Abs. 2 BAföG auf den Bedarf des Auszubildenden anzurechnen ist.9 Die Eltern als Adressaten des Einkommensteuerbescheids sind insoweit 1 Vgl. BFH v. 26.11.1974 – VIII R 258/72, BStBl. II 1975, 206. 2 BFH v. 17.6.2009 – VI R 46/07, BStBl. II 2010, 72. 3 BFH v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015, 147; v. 3.1.2011 – III B 209/09, BFH/NV 2011, 638; v. 15.4.2010 – V R 11/09, BFH/NV 2010, 1830; v. 23.2.2007 – VIII B 106/06, BFH/NV 2007, 1164; v. 3.1.2011 – III B 209/09, BFH/NV 2011, 638; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 13 m. w. N. 4 BFH v. 8.11.1989 – I R 174/86, BStBl. II 1990, 91. 5 BFH v. 8.6.2011 – I R 79/10, BStBl. II 2012, 421. 6 BFH v. 11.11.2014 – I R 51/13, BFH/NV 2015, 305. 7 Vgl. BFH v. 7.11.1989 – IX R 190/85, BStBl. II 1990, 460 m. w. N. 8 BFH v. 29.5.1996 – III R 49/93, BStBl. II 1996, 654; AEAO zu § 350 Tz. 3 d. 9 BFH v. 20.12.1994 – IX R 124/92, BStBl. II 1995, 537; v. 29.5.1996 – III R 49/93, BStBl. II 1996, 654.

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Kap. 3 Rz. 3.447

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

klagebefugt, nicht dagegen der BAföG-Empfänger selbst,1 da er durch die im Bescheid seiner Eltern angesetzten Besteuerungsgrundlagen nur mittelbar betroffen ist.

3.447 Einspruchsentscheidung: In aller Regel enthält eine Einspruchsentscheidung keine selbständige Rechtsverletzung. Für den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen sind nämlich Verwaltungsverfahren und Rechtsbehelfsverfahren sowie die sich daraus ergebenden Entscheidungen der Finanzbehörden als Einheit zu betrachten. Die Klage muss sich deshalb grundsätzlich auf den Verwaltungsakt selbst beziehen, durch den die angefochtene Regelung getroffen worden ist, und zusätzlich auf die Einspruchsentscheidung, durch die diese Regelung bestätigt oder gegebenenfalls abgeändert worden ist.

3.448 Abweichend hiervon kann jedoch in bestimmten Fällen die Einspruchsentscheidung allein Gegenstand der Anfechtungsklage sein: Hat die Finanzbehörde den Rechtsbehelf beispielsweise zu Unrecht als unzulässig verworfen, liegt hierin eine selbständige Rechtsverletzung. Der Kläger ist also in diesem Fall auch insoweit klagebefugt, als er allein die Einspruchsentscheidung mit seiner Klage angreift.2 Gleiches gilt, wenn gegen ihn eine Einspruchsentscheidung ergeht, ohne dass überhaupt Einspruch eingelegt worden ist.3 Diese Fälle kommen immer wieder in Zusammenveranlagungsfällen vor, wenn nur einer der Ehegatten Einspruch eingelegt hat, die Einspruchsentscheidung aber gegen beide Ehegatten ergangen ist. In diesem Fall enthält die Einspruchsentscheidung eine Rechtsverletzung, soweit sie gegen den anderen Ehegatten ergangen ist, und ist insoweit isoliert aufzuheben.4

3.449 Erben: Gegen Steuerbescheide, die gegen den Erblasser ergangen sind, sind auch die Erben klagebefugt, sofern die Bescheide ihnen gegenüber Rechtswirkungen erzeugen. Dies ist bei Steuerbescheiden in aller Regel der Fall, da bei der Gesamtrechtsnachfolge die Forderungen und Schulden aus dem Steuerverhältnis auf den Rechtsnachfolger übergehen (§ 45 Abs. 1 AO). Soweit danach eine Klagebefugnis des Erben zu bejahen ist, übernimmt dieser eine Klagemöglichkeit des Erblassers. Er muss deshalb grundsätzlich auch Einschränkungen in der Klagemöglichkeit gegen sich gelten lassen, die bereits vor dem Erbfall eingetreten sind, z. B. eine bereits dem Erblasser gegenüber verstrichene Rechtsbehelfsfrist.

3.450 Ermessensentscheidung: Bei Ermessensentscheidungen ist der Kläger klagebefugt, wenn er geltend macht, die Ermessensentscheidung sei rechtswidrig und beeinträchtige ihn in seinen Rechten, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder weil von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 102 FGO). Besondere Bedeutung gewinnen in der Praxis in diesem Zusammenhang Verwaltungsvorschriften, die das Ermessen der Verwaltung im Einzelfall einengen. Kann der Steuerpflichtige hier im Einzelfall dartun, dass die Behörde zu Unrecht von einer Verwaltungsvorschrift abgewichen ist,5 reicht dies für seine Klagebefugnis aus. Denn bei der Ausübung des Ermessens ist der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG zu beachten.6 Wegen der Einzelheiten s. hierzu Rz. 3.413. 1 BFH v. 20.12.1994 – IX R 124/92, BStBl. II 1995, 537. 2 Vgl. BFH v. 7.7.1976 – I R 66/75, BStBl. II 1976, 680. 3 Vgl. Hessisches FG v. 19.7.2013 – 3 K 2037/12, juris; vgl. auch Levedag in Gräber, § 44 FGO Rz. 29; Seer in Tipke/Kruse, § 44 FGO Rz. 17. 4 BFH v. 20.12.2006 – X R 38/05, BFH/NV 2007, 1016. 5 Vgl. BFH v. 11.4.2006 – VI R 64/02, BStBl. II 2006, 642 (zu Fristverlängerungsanträgen); v. 21.10.1999 – I R 1/98, BFH/NV 2000, 691. 6 „Selbstbindung der Verwaltung“ gem. Art. 3 Abs. 1 GG; z. B. Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 93.

184

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.457 Kap. 3

Feststellungsbescheide: s. Rz. 3.418 ff.

3.451

Gewerbesteuermessbescheide: Der Grundsatz, dass ein auf 0,– Euro lautender Steuerbescheid keine Beschwer enthält und damit keine Klagebefugnis gegeben ist, gilt gleichermaßen für einen Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag, in dem der Gewerbesteuermessbetrag auf 0,– Euro festgesetzt worden ist. Nur ausnahmsweise ist ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung eines solchen Bescheids zu bejahen, z. B. wenn der Steuerpflichtige seine Gewerbesteuerpflicht schlechthin bestreitet und deshalb die ersatzlose Aufhebung des angegriffenen Bescheids erstrebt.1

3.452

Gewinn- und Verlustfeststellungsbescheide: Bei Gewinn- und Verlustfeststellungsbescheiden liegt eine Beschwer und damit eine Klagebefugnis nicht nur dann vor, wenn geltend gemacht wird, der festgestellte Gewinn sei zu hoch, sondern auch dann, wenn eine höhere Verlustfeststellung erstrebt wird.2

3.453

Haftungsbescheid: Adressat des Haftungsbescheides ist nur der Haftende; deshalb ist der Steuerschuldner durch den Haftungsbescheid in aller Regel nicht in seinen Rechten verletzt. Das bedeutet: Der Steuerpflichtige (Steuerschuldner) besitzt gegen den Haftungsbescheid keine Klagebefugnis. Eine Anfechtung des Haftungsbescheides durch den Steuerschuldner ist in aller Regel auch nicht erforderlich, weil vor dem Haftungsbescheid zunächst ein Steuerbescheid gegen den Steuerschuldner ergeht; denn der Steuerschuldner ist grundsätzlich vorrangig in Anspruch zu nehmen. Hierdurch wird er in die Lage versetzt, Einwendungen gegen Grund und Höhe der Steuerforderungen zu erheben.

3.454

Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung im Rahmen der Haftung des Arbeitgebers für die Lohnsteuer des Arbeitnehmers. Hier wird eine Rechtsverletzung auch des Arbeitnehmers durch den an den Arbeitgeber gerichteten und bekannt gegebenen Haftungsbescheid angenommen mit der Folge, dass der Arbeitnehmer den Haftungsbescheid anfechten kann, wenn er für die nachgeforderte Steuer zivilrechtlich in Anspruch genommen werden kann.3

3.455

Interessenverbände: Interessenverbände, zu denen auch Berufsverbände gehören, sind im finanzgerichtlichen Verfahren nicht befugt, im eigenen Namen gegen Bescheide, die an eines ihrer Mitglieder gerichtet sind, Klage zu erheben; sie können nämlich nicht geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Eine sog. Verbandsklage kennt das Steuerrecht nicht. Dies gilt auch für Lohnsteuerhilfevereine, zu deren satzungsmäßigen Aufgaben es gehört, ihren Mitgliedern in Lohnsteuersachen Hilfe zu leisten.

3.456

Auch dann, wenn ein Steuererstattungsanspruch an den Interessenverband abgetreten wird, entsteht keine Klagebefugnis hinsichtlich des zu Grunde liegenden Bescheides. Denn die an sich zulässige Abtretung eines Erstattungsanspruchs hat nicht zur Folge, dass hierdurch die gesamte Rechtsstellung des Steuerpflichtigen aus dem dem Erstattungsanspruch zu Grunde liegenden Steuerschuldverhältnis auf den Abtretungsempfänger übergeht und dieser dadurch klagebefugt und zur Anfechtung des gegen den Steuerpflichtigen ergangenen Bescheids berechtigt wird.4

3.457

1 BFH v. 9.9.2010 – IV R 38/08, BFH/NV 2011, 423; v. 25.9.2008 – IV R 80/05, BStBl. 2009, 266 m. w. N. 2 BFH v. 5.11.2009 – IV R 40/07, BStBl. 2010, 720; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 13. 3 Vgl. BFH v. 7.8.2015 – VI B 66/15, BFH/NV 2015, 1600; v. 7.2.1980 – VI B 97/79, BStBl. II 1980, 210 und v. 29.6.1973 – VI R 311/69, BStBl. II 1973, 780; 4 Vgl. BFH v. 31.3.1975 – VI R 238/71, BStBl. II 1975, 669.

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Kap. 3 Rz. 3.458

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.458 Körperschaftsteuerbescheide: Auch bei Körperschaftsteuerbescheiden, in denen die Körperschaftsteuer auf 0,– Euro festgesetzt worden ist, ist grundsätzlich keine Klagebefugnis gegeben. Ausnahmen gelten nur dann, wenn beispielsweise eine Körperschaftsteuerfreistellung z. B. wegen Gemeinnützigkeit begehrt wird.1

3.459 Körperschaftsteuerliche Organschaft: Da sich der Feststellungsbescheid i. S. von § 14 Abs. 5 KStG gleichermaßen gegen den Organträger und die Organgesellschaft richtet, sind sowohl Organträger als auch Organgesellschaft beschwert und damit klagebefugt.2

3.460 Mitunternehmer: s. Feststellungsbescheide Nichtadressaten: s. Rz. 3.435.

3.461 Personengesellschaft: s. Feststellungsbescheide 3.462 Pfändungsgläubiger: Gegen eine Forderungspfändung kann sich nicht nur der Vollstreckungsschuldner, sondern auch der Drittschuldner mit der Klage wenden, wenn er von der angefochtenen Pfändung betroffen ist und er Einwendungen gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung geltend macht, zu denen auch die Geltendmachung der Unpfändbarkeit von Forderungen (§ 319 AO) gehört.3 Neben dem Vollstreckungsschuldner ist insoweit auch der Drittschuldner klagebefugt.

3.463 Steuerberater: Ein Steuerberater kann einen gegen seinen Mandanten gerichteten Bescheid nicht in eigenem Namen anfechten. Er kann nicht geltend machen, durch einen solchen Bescheid in eigenen Rechten verletzt zu sein. Dies gilt auch dann, wenn das Finanzamt die für seinen Mandanten beantragte Fristverlängerung abgelehnt hat.4

3.464 Testamentsvollstrecker: Der Testamentsvollstrecker kann Bescheide, die Einkommen oder Vermögen des Erblassers betreffen (z. B. Einkommensteuerbescheide, Gewinnfeststellungsund Einheitswertbescheide) nicht im eigenen Namen anfechten. Er kann insoweit nicht geltend machen, durch derartige Bescheide in eigenen Rechten verletzt zu sein und ist insoweit nicht klagebefugt. Denn Inhaber des Nachlasses ist der Erbe. Dieser ist Schuldner der Nachlassverbindlichkeiten einschließlich der Steuerschulden.5 Dies gilt selbst dann, wenn der Bescheid dem Testamentsvollstrecker gegenüber bekannt gegeben worden ist, ohne dass dieser allerdings selbst in Anspruch genommen wurde.6

3.465 Umsatzsteuerbescheid: Eine Klage gegen einen auf 0,– Euro lautenden Umsatzsteuerbescheid ist im Allgemeinen unzulässig ist, da keine Beschwer vorliegt.7 Eine Klagebefugnis bzw. eine Beschwer liegt nur dann vor, wenn die Festsetzung einer Steuervergütung (z. B. die Festsetzung einer negativen Umsatzsteuer aufgrund von Vorsteuern) erstrebt wird oder wenn sich die 1 BFH v. 13.7.1994 – I R 5/93, BStBl. II 1995, 134; v. 13.5.1995 – II R 24/91, BStBl. II 1995, 653; Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 13; AEAO zu § 350 Tz. 3c. 2 Seer in Tipke/Kruse, § 350 AO Rz. 12; Rödder/Liekenbrock in Rödder/Herlinghaus/Neumann, § 14 KStG Rz. 769; Rödder, Ubg 2012, 717; Dötsch/Pung, DB 2013, 313; Jesse, FR 2013, 681 (689 ff.). 3 BFH v. 30.9.1997 – VII B 67/97, BFH/NV 1998, 421; v. 7.7.1987 – VII R 94/84, BFH/NV 1988, 80; Loose in Tipke/Kruse, § 309 AO Rz. 56. 4 BFH v. 21.2.2006 – IX R 78/99, BStBl. II 2006, 399. 5 Vgl. BFH v. 16.12.1977 – III R 35/77, BStBl. II 1978, 383; v. 15.2.1978 – I R 36/77, BStBl. II 1978, 491; v. 29.11.1995 – X B 328/94, BStBl. II 1996, 322. 6 Vgl. BFH v. 4.11.1981 – II R 144/78, BStBl. II 1982, 262 betr. den Erbschaftsteuerbescheid. 7 So BFH v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015, 147.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.469 Kap. 3

Steuerfestsetzung nicht in der Konkretisierung des Steuerschuldverhältnisses erschöpft, sondern weiterreichende Folgen hat.1 Es genügt nicht, wenn der Kläger geltend macht, er unterliege mangels Unternehmereigenschaft nicht der Umsatzsteuer.2 Vorbehalt der Nachprüfung: Ist ein Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) erlassen worden, so kann allein in der Beifügung dieser unselbständigen Nebenbestimmung eine Rechtsverletzung liegen. Das bedeutet: Der Steuerpflichtige kann selbst dann, wenn das Finanzamt ihn erklärungsgemäß veranlagt hat, nach erfolglosem Vorverfahren Klage gegen den Bescheid erheben mit der Begründung, die Steuerfestsetzung sei zu Unrecht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erfolgt. Insoweit ist er klagebefugt. Das Gleiche gilt, soweit der Steuerpflichtige geltend macht, der Vorbehalt der Nachprüfung sei zu Unrecht aufgehoben worden.3 Die Beschwer ergibt sich insoweit nicht zwingend allein aus der Höhe der festgesetzten Steuer.4

3.466

Vorläufigkeitsvermerk: Ist ein Bescheid vorläufig i. S. des § 165 AO ergangen, so kann allein hierin eine Rechtsverletzung liegen. Die unselbstständige Nebenbestimmung kann zwar nicht gesondert angefochten werden, der Steuerpflichtige kann aber gegen den gesamten Bescheid Klage erheben mit der Behauptung, der Bescheid sei zu Unrecht vorläufig ergangen.5 Das bedeutet: Der Steuerpflichtige kann selbst dann, wenn das Finanzamt ihn erklärungsgemäß veranlagt hat, nach ablehnender Einspruchsentscheidung Klage erheben mit der Behauptung, die Beifügung des Vorläufigkeitsvermerks sei zu Unrecht erfolgt. Insoweit ist er klagebefugt. Das Gleiche gilt, wenn der Steuerpflichtige geltend macht, der Vorläufigkeitsvermerk sei zu Unrecht aufgehoben worden und der Bescheid müsse weiterhin vorläufig ergehen.6

3.467

Wird mit dem Einspruch allein die Verfassungsmäßigkeit einer angewendeten Norm gerügt und ist der Bescheid insoweit vorläufig (§ 165 Abs. 1 AO) ergangen, so fehlt grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis für das Einspruchs- und Klageverfahren, wenn sich die verfassungsrechtliche Streitfrage in einer Vielzahl gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und diesbezüglich bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist.7 Allerdings kann ein Rechtsschutzbedürfnis und damit auch eine Beschwer und Klagebefugnis vorliegen, wenn besondere Gründe materiellrechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden8 oder eine Aussetzung der Vollziehung begehrt wird.9

3.468

Zusammenveranlagung: Sind Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden und ist gegen sie ein zusammengefasster Bescheid ergangen, so ist jeder der beiden Ehegatten klagebefugt,10 unabhängig davon, ob der Bescheid an beide Ehegatten oder nur an einen

3.469

1 BFH v. 24.7.2014 – V R 45/13, BFH/NV 2015, 147; v. 15.4.2010 – V R 11/09, BFH/NV 2010, 1830. 2 BFH v. 15.4.2010 – V R 11/09, BFH/NV 2010, 1830. 3 BFH v. 28.5.1998 – V R 100/96, BStBl. II 1998, 502. 4 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 164 AO Rz. 55 und § 165 AO Rz. 49. 5 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 164 AO Rz. 55 und § 165 AO Rz. 49. 6 BFH v. 28.5.1998 – V R 100/96, BStBl. II 1998, 502. 7 BFH v. 16.5.2005 – VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323; v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. 8 Vgl. dazu auch AEAO zu § 350 Tz. 6. 9 AEAO zu § 350 Tz. 6 unter Berufung auf BFH v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11. 10 Vgl. BFH v. 27.11.1984 – VIII R 73/82, BStBl. II 1985, 296.

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Kap. 3 Rz. 3.471

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Ehegatten bekannt gegeben worden ist. Hieraus folgt: Ein Ehegatte ist auch insoweit klagebefugt, als er geltend macht, dass die Einkünfte des anderen Ehegatten unrichtig festgestellt worden sind, weil z. B. Betriebsausgaben bei den gewerblichen Einkünften des anderen Ehegatten nicht in vollem Umfange berücksichtigt worden sind.1

3.470 Einstweilen frei. 4. Sachliche Grenzen der Klagebefugnis

3.471 Nach § 42 FGO können die aufgrund der Abgabenordnung erlassenen Änderungs- und Folgebescheide nicht in weiterem Umfang angegriffen werden, als sie im außergerichtlichen Vorverfahren angegriffen werden können. Insoweit wird auf die Ausführungen zu § 351 AO (s. Rz. 2.67 ff.) verwiesen.

VI. Rechtsschutzinteresse Literatur: Steinhauff, Kein Rechtsschutzinteresse für eine Verpflichtungsklage wegen der Erörterung im Einspruchsverfahren, AO-StB 2012, 234.

3.472 Eine Klage ist nur zulässig, wenn der Kläger des Rechtsschutzes tatsächlich bedarf, d. h., wenn er an der Durchführung des Klageverfahrens ein rechtlich geschütztes Interesse hat. Im finanzgerichtlichen Verfahren ist das Rechtsschutzinteresse in aller Regel zu bejahen, wenn der Kläger klagebefugt ist. Kann der Kläger geltend machen, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes oder einer anderen Leistung in seinen Rechten verletzt zu sein, kann ihm ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an der Durchführung seiner Klage nicht abgesprochen werden. Deshalb gewinnt im Klageverfahren das allgemeine Rechtsschutzinteresse nur Bedeutung bei der Feststellungsklage. Diese ist nur zulässig, wenn der Kläger ein besonderes Rechtsschutzinteresse, d. h. ein berechtigtes Interesse an baldiger Feststellung hat Wegen der Einzelheiten wird auf die Ausführungen zur Feststellungsklage (s. Rz. 3.180 ff.) verwiesen.

3.473 Soll mit der Klage lediglich die Verfassungswidrigkeit einer Norm gerügt werden, so fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn das Finanzamt bereits im Einspruchsverfahren den angefochtenen Bescheid in diesem Punkt für vorläufig erklärt hat. Eine solche Klage ist grundsätzlich unzulässig. Soll dennoch Klage erhoben werden, so müssen besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden, damit das Rechtsschutzbedürfnis bejaht werden kann.2

VII. Vorverfahren 1. Grundsatz

3.474 In den Fällen, in denen gegen eine Entscheidung der Finanzbehörde ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, ist die Klage in der Regel nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist (§ 44 1 Vgl. hierzu BFH v. 20.10.1987 – VI R 149/84, BStBl. II 1987, 852; Siegers in HHSp, § 350 AO Rz. 101. 2 BFH v. 16.2.2005 – VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323 m. w. N.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.478 Kap. 3

Abs. 1 FGO). Das bedeutet: Klagen, wie die Anfechtungsklage und die Verpflichtungsklage, sind erst dann zulässig, wenn ein Einspruchsverfahren ganz oder zum Teil erfolglos geblieben sind. Es muss also eine Rechtsbehelfsentscheidung ergangen sein, in der das Begehren des Steuerpflichtigen ganz oder zum Teil zurückgewiesen worden ist. Das erfolglos gebliebene Vorverfahren ist Sachentscheidungsvoraussetzung,1 nicht Voraussetzung für die Klageerhebung überhaupt. Das bedeutet: Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Wird vor Abschluss des Vorverfahrens Klage erhoben, ist die Klage zwar grundsätzlich zunächst einmal unzulässig. Die Klage wird aber dadurch zulässig, dass die Finanzbehörde während des gerichtlichen Verfahrens die außergerichtliche Rechtsbehelfsentscheidung erlässt.

3.475

Beispiel: S hat Anfechtungsklage gegen einen Einkommensteuerbescheid erhoben, gegen den er fristgerecht Einspruch eingelegt hatte. Eine Einspruchsentscheidung war vor Klageerhebung noch nicht ergangen. Kurz nach der Klageerhebung ergeht eine teilweise abweisende Einspruchsentscheidung. Die zunächst unzulässige Klage ist durch Ergehen der Einspruchsentscheidung zulässig geworden.

2. Ausnahmen a) Sprungklage Literatur: Bartone, Die Sprungklage (§ 45 FGO) – Beschleunigter Rechtsschutz, aber nur in geeigneten Fällen!, AO-StB 2010, 275; Mösbauer, Die Sprungklage gegen Steuerhaftungsbescheide, DStR 1988, 15.

aa) Überblick Gem. § 45 Abs. 1 FGO kann eine Klage ausnahmsweise auch ohne Vorverfahren erhoben werden, wenn die Behörde, die über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden hat, innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift dem Gericht gegenüber zustimmt. Diese Vorschrift betrifft nur Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen, da diese normalerweise ein Vorverfahren voraussetzen. Ausgeschlossen ist die Sprungklage für sonstige Leistungsklagen und Feststellungsklagen.2

3.476

Eine solche Sprungklage3 kommt insbesondere dann in Betracht,4 wenn

3.477

– die für die Entscheidung erheblichen tatsächlichen Feststellungen von der Finanzbehörde bereits getroffen worden sind und mit weiteren oder andersartigen Feststellungen nicht mehr zu rechnen ist und – wenn nicht zu erwarten ist, dass die Finanzbehörde in einem Vorverfahren den in dem angefochtenen Bescheid angenommenen Rechtsstandpunkt ändern wird. Hat von mehreren Berechtigten einer einen außergerichtlichen Rechtsbehelf eingelegt, ein anderer unmittelbar Klage (Sprungklage) erhoben, ist in jedem Fall zunächst über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden (§ 45 Abs. 1 Satz 2 FGO).

1 BFH v. 10.1.2013 – V R 47/11, BFH/NV 2013, 1101; v. 2.6.1987 – VIII R 192/83, BFH/NV 1988, 104; ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 44 FGO Rz. 13; Levedag in Gräber, § 44 FGO Rz. 33 ff. 2 Vgl. Levedag in Gräber, § 45 FGO Rz. 4. 3 S. Muster M 13, Rz. 11.13. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 45 FGO Rz. 1.

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189

3.478

Kap. 3 Rz. 3.479

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

bb) Zustimmung der Finanzbehörde

3.479 Die Sprungklage ist nur zulässig, wenn die Finanzbehörde, die über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden hat, innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zugestimmt hat (§ 45 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Zustimmung ist kein Verwaltungsakt, sondern eine prozessuale Erklärung der Finanzbehörde. Sie steht in deren Ermessen.1 Dabei hat die Finanzbehörde insbesondere zu prüfen, ob und inwieweit die Sache noch im Einspruchsverfahren gefördert werden kann (z. B. durch weitere Aufklärung von Tatsachen), andererseits aber, ob ein überwiegendes Interesse des Rechtsbehelfsführers an einer möglichst baldigen Entscheidung des Finanzgerichts besteht. Für die Zustimmungserklärung ist keine besondere Form vorgeschrieben; sie kann deshalb schriftlich, aber auch mündlich bzw. fernmündlich erfolgen. Diese sollte schon aus Beweisgründen regelmäßig schriftlich abgegeben werden. Die Zustimmung muss aber ausdrücklich gegenüber dem Gericht erklärt werden. Das Schweigen des Finanzamts reicht ebenso wenig aus wie die rügelose Einlassung zur Sache.2

3.480 Die Zustimmung kann nur innerhalb eines Monats erteilt werden. Dabei beginnt die Frist mit Zustellung der Klage durch das Gericht an das Finanzamt (§ 45 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Zustimmung kann auch schon vor der Klageerhebung – aber erst nach Ergehen des Bescheids – erteilt werden.3

3.481 Will der Steuerpflichtige – z. B. aus Zeitgründen – sofort das Gericht anrufen und kein Vorverfahren mehr durchführen, weil der Sachverhalt klar ist und eine reine Rechtsfrage streitig ist, so sollte er versuchen, die Zustimmung des Finanzamtes zur sofortigen Klageerhebung einzuholen. Dies geschieht in der Praxis häufiger, vor allem im Rahmen von Schlussbesprechungen bei Betriebsprüfungen, wenn sich der Steuerpflichtige und das Finanzamt über einen bestimmten Punkt nicht einigen können. Die Zustimmung darf dann aber erst nach Ergehen des Bescheids erteilt werden. Beispiel: Die X-GmbH und das zuständige Finanzamt streiten darum, wie ein unstreitiger Sachverhalt bei der Körperschaftsteuerveranlagung steuerlich zu würdigen ist. Beide halten die Durchführung eines Einspruchsverfahrens gegen den Körperschaftsteuerbescheid für wenig sinnvoll, da abzusehen ist, dass das Finanzamt seine bisherige Auffassung weiterhin vertreten wird. Deshalb stimmt das Finanzamt nach Erteilung des Bescheids, aber schon vor Klageerhebung in einem Schriftsatz der Erhebung einer Sprungklage zu. Dieser Schriftsatz wird von der X-GmbH mit der Klageerhebung dem Gericht vorgelegt. Damit liegt eine wirksame Zustimmung des beklagten Finanzamts zur Sprungklage vor. Diese Vorgehensweise dient in der Praxis der Zeitersparnis.

3.482 Lehnt die Behörde die Zustimmung ab oder geht die Zustimmungserklärung der Finanzbehörde dem Gericht nicht innerhalb eines Monats zu, wird die Klage nach § 45 Abs. 3 FGO als außergerichtlicher Rechtsbehelf (Einspruch) behandelt. Einer Zustimmung des Klägers hierfür bedarf es nicht. Beispiel: Das Finanzgericht stellt dem Finanzamt eine von A erhobene Sprungklage gegen seinen Einkommensteuerbescheid 00 am 1.2.00 zu. Einen Monat später, am 1.3.00, liegt dem Gericht immer noch keine Zustimmungserklärung des Finanzamts vor. 1 Vgl. dazu Bartone, AO-StB 2010, 275 ff. (276). 2 BFH v. 27.5.2009 – X R 34/06, BFH/NV 2009, 1826; v. 19.5.2004 – III R 18/02, BStBl. II 2004, 980. 3 BFH v. 23.7.1987 – I R 173/82, BFH/NV 1987, 178; Seer in Tipke/Kruse, § 45 FGO Rz. 10a.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.486 Kap. 3

Die Klage des A ist in diesem Fall als Einspruch zu behandeln; das Verfahren wird deshalb formlos an die Finanzbehörde abgegeben. Sollte später noch eine Zustimmungserklärung des Finanzamts eingehen, so ginge diese Erklärung ins Leere.

Da der Steuerpflichtige keinen Anspruch auf Erteilung der Zustimmung hat, ist gegen deren Versagung kein Rechtsbehelf gegeben. Auch gegen die Abgabe des Vorgangs als außergerichtlicher Rechtsbehelf an die Finanzbehörde ist kein Rechtsbehelf gegeben.1 Widerspricht der Kläger der formlosen Abgabe an das Finanzamt, so ist über die Abgabe durch Beschluss zu entscheiden, der unanfechtbar ist und deshalb nicht begründet werden muss.

3.483

cc) Nichtannahme durch das Gericht Zwar hat das Gericht nicht zu überprüfen, ob die Finanzbehörde die Zustimmung zu Recht erteilt hat. Allerdings kann das Gericht gem. § 45 Abs. 2 Satz 1 FGO eine Sprungklage innerhalb von drei Monaten nach Eingang der Akten der Behörde bei Gericht, spätestens innerhalb von sechs Monaten nach Klagezustellung durch Beschluss an die zuständige Behörde zur Durchführung des Vorverfahrens abgeben. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass

3.484

– weitere Tatsachenfeststellungen notwendig sind, die nach Art oder Umfang erhebliche Ermittlungen erfordern, und – die Abgabe auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auch in diesem Fall ist die Klage als außergerichtlicher Rechtsbehelf zu behandeln (§ 45 Abs. 3 FGO). Zweck dieser Vorschrift ist es, darauf hinzuwirken, dass die Finanzbehörden die zur Entscheidung des konkreten Falles notwendigen Tatsachenfeststellungen selbst treffen und der Sprungklage nicht etwa deshalb zustimmen, weil sie sich aufwendige Sachverhaltsermittlungen ersparen wollen. Da sich die Aktenübersendung durch die Verwaltungsbehörde verzögern kann, knüpft die Frist an den Akteneingang bei Gericht an. Zugleich wird eine Höchstfrist von sechs Monaten bestimmt. In der Praxis machen die Finanzgericht von dieser Möglichkeit nur wenig Gebrauch.

3.485

dd) Sprungklage und Einspruch Sprungklage und Einspruch schließen sich in Bezug auf denselben Entscheidungs- und Streitgegenstand aus und können nicht kumulativ nebeneinander geführt werden.2 Dementsprechend ist eine Sprungklage neben einem bereits zuvor eingelegten Einspruch in derselben Angelegenheit nicht zulässig und umgekehrt.3 Allerdings besteht innerhalb der jeweiligen Einspruchs- bzw. Klagefrist die Möglichkeit, den Charakter des zuvor erhobenen zulässigen Rechtsbehelfs zu ändern und insoweit entweder von einer Sprungklage zu einem Einspruch bzw. umgekehrt von einem Einspruch zu einer Sprungklage zu wechseln. Insoweit ist anerkannt, dass auch nach Erhebung eines Einspruchs innerhalb der Rechtsbehelfsfrist eine Sprungklage erhoben werden kann und sich die Klageerhebung dann als Umwandlung des Einspruchs in eine Klage darstellt.4 Das gilt umgekehrt – bis zum Ergehen der Zustimmung des zuständigen Finanzamts nach § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO – auch für den Fall,

1 2 3 4

BFH v. 10.9.1996 – II B 78/96, BFH/NV 1997, 56. BFH v. 4.8.2005 – II B 80/04, BFH/NV 2006, 74; v. 30.10.2003 – VI B 83/03, BFH/NV 2004, 356. BFH v. 8.11.2016 – I R 1/15, BStBl. II 2017, 720 m. w. N.; Rosenke, EFG 2015, 1007. BFH v. 8.11.2016 – I R 1/15, BStBl. II 2017, 720 m. w. N.

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3.486

Kap. 3 Rz. 3.487

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

dass zunächst Sprungklage erhoben wurde und sodann Einspruch eingelegt wird.1 Insoweit bedeutet die nach der Erhebung der Sprungklage und noch vor dem Ergehen der behördlichen Zustimmungserklärung erfolgende Einlegung eines Einspruchs eine Umwandlung der Sprungklage in einen Einspruch, ohne dass eine ausdrückliche „Umwandlungserklärung“ erfolgen muss.2

3.487 In der Praxis sollte der Steuerpflichtige genau überlegen, wie sich seine beabsichtigten Ziele besser erreichen lassen. Die bloße Zeitersparnis ist nicht allein entscheidend. Vielmehr sollte der Steuerpflichtige genau abwägen, ob es nicht sinnvoller ist, doch noch einmal mit der Finanzverwaltung zu verhandeln, um eine günstigere Entscheidung ohne ein Klageverfahren, das mit Kosten verbunden ist, zu erreichen. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen eine Ermessensentscheidung vorliegt. Die Finanzbehörde hat bei der Ermessensausübung nämlich nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit der Entscheidung zu beachten, während das Finanzgericht die Ermessensauübung der Behörde nur im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler überprüfen kann. b) Anordnung eines dinglichen Arrestes

3.488 Macht der Kläger mit seiner Klage die Rechtswidrigkeit der Anordnung eines dinglichen Arrestes (§§ 324, 326 AO) geltend, ist eine solche Klage gem. § 45 Abs. 4 FGO immer ohne Vorverfahren zulässig.3 Das bedeutet: Der Steuerpflichtige kann, ohne Zeit zu verlieren, gegen die Anordnung eines dinglichen Arrestes sogleich unmittelbar beim Finanzgericht Anfechtungsklage erheben, ohne gegen eine solche Anordnung ein Einspruchsverfahren durchführen zu müssen. Auf eine im regulären Vollstreckungsverfahren getroffene Vollstreckungsmaßnahme – wie z. B. die Anordnung der Eintragung einer Sicherungshypothek im Grundbuch – ist § 45 Abs. 4 FGO nicht entsprechend anwendbar.4

3.489 Es bedarf hier im Unterschied zur Sprungklage keiner Zustimmung der Finanzbehörde, die die Anordnung eines dinglichen Arrestes getroffen hat. c) Untätigkeitsklage Literatur: Arndt/Schaefer, Die Untätigkeitsklage im finanzgerichtlichen Verfahren, StVj 1989, 151; Bartone, Die Untätigkeitsklage – Rechtsschutz gegen unangemessene Verzögerung, AO-StB 2004, 68; Binnewies, Doppelte Untätigkeit im zeitlichen Zusammenhang mit Untätigkeitseinspruch und Untätigkeitsklage, FR 2007, 38; Harder, Die Untätigkeitsklage nach § 46 Abs. 1 FGO, DB 1995, 1583.

aa) Allgemeines

3.490 Von dem Grundsatz, dass Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen grundsätzlich erst dann zulässig sind, wenn das Vorverfahren ganz oder teilweise ohne Erfolg geblieben ist, gibt es eine weitere Ausnahme: Ist über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden, ist die Klage auch ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig (vgl. § 46 FGO). Diese Klage, 1 BFH v. 8.11.2016 – I R 1/15, BStBl. II 2017, 720; Seer in Tipke/Kruse, § 45 FGO Rz. 4; Steinhauff in HHSp, § 45 FGO Rz. 21; Levedag in Gräber, § 45 Rz. 17; a. A. von Beckerath in Beermann/ Gosch, § 45 FGO Rz. 36. 2 BFH v. 8.11.2016 – I R 1/15, BStBl. II 2017, 720; Rosenke, EFG 2015, 1007. 3 BFH v. 6.2.2013 – XI B 125/12, BStBl. II 2013, 983. 4 BFH v. 15.3.1999 – VII B 182/98, BFH/NV 1999, 1229.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.494 Kap. 3

die keine eigenständige Klageart ist,1 wird auch als sog. Untätigkeitsklage2 bezeichnet, obwohl diese Bezeichnung irreführend ist. Das Gericht wird nämlich die Behörde nicht verurteilen, tätig zu werden, sondern es muss grundsätzlich in der Sache selbst entscheiden. Deshalb wäre beispielsweise eine Klage mit dem Ziel, das Finanzamt für verpflichtet zu erklären, unverzüglich über den Einspruch zu entscheiden, unzulässig.3 Die „Untätigkeitsklage“ kann nicht nur als Anfechtungsklage, sondern auch als Verpflichtungsklage erhoben werden. So kommt eine Untätigkeitsklage in Form der Verpflichtungsklage dann in Betracht, wenn über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (Einspruch) gegen die Ablehnung eines Antrags wegen Untätigkeit ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist nicht entschieden worden ist.

3.491

bb) Zulässigkeitsvoraussetzungen Die sog. Untätigkeitsklage i. S. des § 46 Abs. 1 FGO ist nur zulässig, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

3.492

– Die Finanzbehörde hat einen Verwaltungsakt erlassen oder den Erlass eines Verwaltungsaktes abgelehnt oder unterlassen. – Gegen den Verwaltungsakt, seine Ablehnung oder Unterlassung ist ein außergerichtlicher Rechtsbehelf eingelegt worden. – Eine Rechtsbehelfsentscheidung ist noch nicht erlassen worden. Eine angemessene Frist zur Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ist abgelaufen. – Die Finanzbehörde hat dem Kläger keinen zureichenden Grund für das Ausbleiben der Rechtsbehelfsentscheidung mitgeteilt. – Die Untätigkeit der Finanzbehörde muss spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem FG gerügt werden.4 Eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage ist, dass in angemessener Frist über den außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht entschieden worden ist. Angemessen ist eine Frist, innerhalb welcher eine Rechtsbehelfsentscheidung nach den Umständen des Falles erwartet werden kann. Hierbei sind zu berücksichtigen:

3.493

– die Schwierigkeiten der Sachverhaltsermittlung, – der Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falles und – das erkennbare Interesse des Rechtsbehelfsführers an einer baldigen Entscheidung.5 Im Regelfall wird eine Klage nach Ablauf von sechs Monaten nach Einlegen des außergerichtlichen Rechtsbehelfs als zulässig angesehen werden können, wie sich aus § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO entnehmen lässt.1 Diese Vorschrift enthält allerdings keine verbindliche Bestimmung 1 BFH v. 18.11.2015 – XI R 24-25/14, XI R 24/14, XI R 25/14, BFH/NV 2016, 418. 2 S. Muster M 14, Rz. 11.14. 3 Vgl. BFH v. 18.11.2015 – XI R 24-25/14, XI R 24/14, XI R 25/14, BFH/NV 2016, 418; v. 9.9.2014 – VIII B 133/13, BFH/NV 2015, 45; v. 25.10.1973 – VII R 15/71, BStBl. II 1974, 116. 4 BFH v. 10.1.2013 – V R 47/11, BFH/NV 2013, 1101 m. w. N. 5 BFH v. 7.3.2006 – VI B 78/04, BFH/NV 2006, 1018; v. 30.10.1987 – IV B 148/86, BFH/NV 1989, 558; von Beckerath in Beermann/Gosch, § 46 FGO Rz. 99; Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 110 ff. m. w. N.; Levedag in Gräber, § 46 FGO Rz. 7 f.

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3.494

Kap. 3 Rz. 3.495

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

über die Angemessenheit der Frist. Sie lässt lediglich die Wertung des Gesetzgebers erkennen, dass eine Frist von weniger als sechs Monaten grundsätzlich nicht als unangemessen angesehen werden kann. Allerdings kann die in § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO vorgesehene Sechs-MonatsSperrfrist für die Erhebung der Untätigkeitsklage wegen besonderer Umstände des Falles abgekürzt werden.1

3.495 Wird die Untätigkeitsklage vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegen des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben, ist sie grundsätzlich unzulässig, es sei denn, dass wegen besonderer Umstände des Falles (z. B. drohende Vollstreckungsmaßnahmen) eine kürzere Frist geboten ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Klage wird aber zulässig, wenn das Gericht nicht binnen der o. g. sechs Monate das klageabweisende Urteil verkündet hat. Denn es genügt für die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage, dass die Sechs-Monats-Frist vor der mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung abgelaufen ist. Die vorzeitig erhobene Klage wächst dann in die Zulässigkeit hinein.2 Nach § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO kann das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten, verlängerbaren Frist aussetzen.3

3.496 Weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage ist, dass die Einspruchsentscheidung ohne vorherige Mitteilung eines zureichenden Grundes ausgeblieben ist. Ein zureichender Grund ist unbeachtlich, wenn die Finanzbehörde ihn erst nach Klageerhebung mitteilt. Die Mitteilung muss vielmehr vor Klageerhebung erfolgen.4 Der Steuerpflichtige soll nicht Gefahr laufen, eine unzulässige Klage zu erheben.5

3.497 Ein zureichender Grund i. S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt vor, wenn bei objektiver Betrachtungsweise gerade aus diesem Grund eine Entscheidung nicht erwartet werden kann. Ob dies der Fall ist, hängt von den Umständen des jeweiligen einzelnen Falles ab. So ist als zureichender Grund, der zur Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage führt, von der Rechtsprechung anerkannt worden: – Das Abwarten der noch ausstehenden Entscheidung in einem finanzgerichtlichen „Musterverfahren“, in dem dieselbe Streitfrage entscheidungserheblich ist wie in demjenigen Verfahren, in dem die Entscheidung über den Einspruch zurückgestellt werden soll.6 – Ein kurz bevorstehender Erörterungstermin in einem vor dem FG anhängigen Klageverfahren, das dieselben Fragen für andere Besteuerungszeiträume betrifft, ist als zureichender Grund anzusehen, vorläufig nicht über Einsprüche zu entscheiden.7 – Ein zureichender Grund für die Untätigkeit der Behörde liegt vor, solange das Einspruchsverfahren gem. § 363 Abs. 1 AO ausgesetzt8 oder gem. § 363 Abs. 2 AO zum Ruhen gebracht worden ist9 oder kraft Gesetzes eine Verfahrensruhe gem. § 363 Abs. 2 Satz 1

1 BVerfG v. 16.1.2007 – 1 BvR 2412/05, HFR 2007, 1023. 2 Vgl. BFH v. 30.9.2015 – V B 135/14, BFH/NV 2016, 51; v. 7.3.2006 – VI B 78/04, BStBl. II 2006, 430 m. w. N. 3 BFH v. 30.9.2015 – V B 135/14, BFH/NV 2016, 51. 4 BFH v. 30.9.2015 – V B 135/14, BFH/NV 2016, 51. 5 BFH v. 27.4.2006 – IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017; von Beckerath in Beermann/Gosch, § 46 FGO Rz. 131; Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 172. 6 BFH v. 31.8.2006 – II B 141/05, BFH/NV 2006, 2296. 7 BFH v. 23.5.2016 – X B 174/15, BFH/NV 2016, 1297. 8 BFH v. 14.10.2002 – V B 170/01, BFH/NV 2003, 197. 9 BFH v. 27.4.2006 – IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017 m. w. N.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.501 Kap. 3

AO wegen eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Normenkontrollverfahrens eingetreten ist.1 – Grundsätzlich kann ein solcher Grund auch gegeben sein, wenn die Ergebnisse einer Außen- oder Fahndungsprüfung, die das Streitjahr betreffen abgewartet werden sollen.2 Dies gilt jedoch nicht, wenn für das von der Untätigkeitsklage erfasste Streitjahr kein Ermittlungsverfahren eingeleitet war.3 Stellt das Finanzamt deshalb bis zum Abschluss der Betriebsprüfung und damit verbundener weiterer Sachverhaltsermittlungen die Einspruchsentscheidung zurück, ist dies in aller Regel als zureichender Grund anzusehen.

3.498

Nicht als zureichender Grund anerkannt wurden: – Das Abwarten einer neuen Gesetzesregelung, die vermutlich zum Nachteil des Klägers rückwirkend eine nachträgliche Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid schafft, ist kein zureichender Grund für ein Nichttätigwerden der Behörde.4 – Ursachen im Bereich der Behördenorganisation, wie Arbeitsüberlastung durch Personalmangel, Urlaub oder Krankheitsfälle sind grundsätzlich kein zureichender Grund für die Überschreitung einer angemessenen Frist.5 – Das Fehlen der Steuerakten bei der für die Entscheidung zuständigen Finanzbehörde stellt in aller Regel keinen zureichenden Grund im oben genannten Sinne dar.6 Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich die Behörde nicht mit erkennbarem Nachdruck um die – gegebenenfalls nur für kurze Zeit erforderliche – Rücksendung der Originalakten oder auch nur um Zusendung einer kompletten Kopie derselben bemüht hat.7 cc) Klagebegehren und Klageantrag Streitgegenstand bei der Untätigkeitsklage ist die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bzw. die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Erlasses des begehrten Verwaltungsaktes.

3.499

Hieraus folgt für den Klageantrag, dass es sich um einen reinen Sachantrag handeln muss:

3.500

Er lautet also nicht etwa auf die Verurteilung der Behörde, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen, was dem Kläger normalerweise auch nicht weiterhilft. Der Antrag ist als Sachantrag vielmehr bei der Anfechtungsklage auf Aufhebung bzw. Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes und bei der Verpflichtungsklage auf Verpflichtung der beklagten Behörde auf Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf Neubescheidung entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts gerichtet.

3.501

1 FG Köln v. 5.6.2014 – 15 K 1958/13, EFG 2014, 1605. 2 BFH v. 13.5.1971 – V B 61/70, BStBl. II 1971, 492; v. 9.4.1968 – I B 48/87, BStBl. II 1968, 61. 3 FG Köln v. 5.6.2014 – 15 K 1958/13, EFG 2014, 1605; Niedersächsisches FG v. 4.5.2010 – 16 K 329/07, EFG 2010, 1939. 4 FG Köln v. 21.11.2001 – 6 K 1134/01, EFG 2002, 1245, aufgehoben durch BFH v. 3.8.2005 – I R 74/02, BFH/NV 2006, 19, da der Untätigkeitseinspruch fehlte; ebenso Levedag in Gräber, § 46 FGO Rz. 16. 5 BFH v. 27.4.2006 – IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017 m. w. N. 6 Vgl. BFH v. 13.5.1971 – V B 61/70, BStBl. II 1971, 492. 7 FG Köln v. 5.6.2014 – 15 K 1958/13, EFG 2014, 1605.

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Kap. 3 Rz. 3.502

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.502 Erlässt die Finanzbehörde nach Erhebung der Untätigkeitsklage, aber vor einer Entscheidung des Finanzgerichts eine Einspruchsentscheidung, die dem Klagebegehren nicht oder nicht in vollem Umfang entspricht, so hat sich der Rechtsstreit nicht in der Hauptsache erledigt. Das Verfahren wird vielmehr mit ggf. verändertem Verfahrensgegenstand fortgeführt, ohne dass es eines entsprechenden Antrags bedarf. Für die Kosten gelten in diesem Fall die allgemeinen Grundsätze: Obsiegt letztlich der Kläger, hat die Finanzbehörde die Kosten zu tragen. Obsiegt die Finanzbehörde, hat der Kläger die Kosten zu tragen. Bei teilweisem Obsiegen werden die Kosten entsprechend aufgeteilt.

3.503 Erlässt die Finanzbehörde im Laufe des Klageverfahrens eine dem Klagebegehren teilweise stattgebende Einspruchsentscheidung, so können die Beteiligten nunmehr allerdings auch von sich aus die Hauptsache für erledigt erklären (s. Rz. 3.752).

3.504 Erlässt die Finanzbehörde nach Erhebung der Untätigkeitsklage, aber vor einer Entscheidung des Finanzgerichts einen Abhilfebescheid, worin dem Begehren des Klägers in vollem Umfang entsprochen wird, ist die Hauptsache erledigt. Geben die Beteiligten entsprechende Erledigungserklärungen ab, ist gem. § 138 FGO nur noch über die Kosten zu entscheiden. War die Klage unzulässig, z. B. weil die Sechs-Monats-Frist nicht gewahrt war und kein Ausnahmefall vorlag, ergibt sich die Kostenfolge aus § 138 Abs. 1 FGO. In diesem Fall hätte der Kläger die Kosten zu tragen. War die Klage hingegen zulässig, so hat nach § 138 Abs. 2 FGO die Finanzbehörde die Kosten zu tragen. Wird die Hauptsache in diesem Fall nicht für erledigt erklärt und hält der Kläger an seinem Sachantrag fest, wird die Klage als unzulässig abgewiesen. dd) Untätigkeitseinspruch

3.505 Eine Untätigkeitsklage i. S. des § 46 FGO ist nur zulässig, wenn über einen Einspruch nicht entschieden worden ist.

3.506 Wird demgegenüber ein beantragter Verwaltungsakt nicht binnen angemessener Frist erlassen, ist die Klage gem. § 46 FGO nicht unmittelbar zulässig. In solchen Fällen muss vielmehr zunächst ein sog. Untätigkeitseinspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 2 AO; s. Rz. 2.24 ff.) eingelegt werden.1 Erst wenn über diesen Einspruch nicht in angemessener Frist entschieden worden ist, wäre eine Untätigkeitsklage zulässig. Eine als Untätigkeitsklage i. S. von § 46 FGO erhobene Klage ist unheilbar unzulässig, wenn es an einem Ablehnungsbescheid überhaupt oder zumindest an einem auf Bescheiderteilung gerichteten Untätigkeitseinspruch gem. § 347 Abs. 1 Satz 2 AO fehlt.2

3.507 Diese Situation führt nicht zu einer unzumutbaren Einschränkung der Möglichkeiten zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes:3 Entscheidet die Finanzbehörde nicht über einen Antrag, kann der Steuerpflichtige mit Hilfe des Untätigkeitseinspruchs nach § 347 Abs. 1 Satz 2 AO und, falls auch hierüber nicht in angemessener Frist entschieden wird, durch Untätigkeitsklage nach § 46 FGO eine behördliche Entscheidung zunächst über den Untätigkeits-

1 Vgl. dazu BFH v. 3.8.2005 – I R 74/02, BFH/NV 2006, 19; v. 28.6.2006 – I R 97/05, BFH/NV 2006, 2207. 2 BFH v. 4.6.2014 – VII B 180/13, BFH/NV 2014, 1723; v. 9.7.2007 – I R 60/04, BFH/NV 2007, 2238; v. 3.8.2005 – I R 74/02, BFH/NV 2006, 19; FG Hamburg v. 4.2.2016 – 3 K 298/15, EFG 2016, 1056. 3 BVerfG v. 16.1.2007 – 1 BvR 2412/05, HFR 2007, 1023.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.516 Kap. 3

einspruch und damit auch über den beantragten Verwaltungsakt grundsätzlich hinreichend zeitnah erzwingen. Etwas anderes gilt nur in Fällen des § 348 Nr. 3 und Nr. 4 AO (z. B. Verwaltungsakte der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, Entscheidungen des Zulassungs- und des Prüfungsausschusses der Oberfinanzdirektionen in Angelegenheiten des Steuerberatungsgesetzes), in denen der Einspruch nicht statthaft ist (s. Rz. 2.30 f.). Hier kann unmittelbar Untätigkeitsklage beim Finanzgericht erhoben werden (§ 46 Abs. 2 FGO).

3.508

3.509–3.513

Einstweilen frei.

VIII. Klagefrist Literatur: Balmes, Klagefrist abhängig von vollständiger Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, BB 2008, 6 und 30; Binnewies/Fraedrich, Typische Fehler bei der Zustellung mit PZU – Eine Chance für den Steuerpflichtigen, DStZ 2003, 692; Böwing/Schmalenbrock, Steuerbescheide wegen unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung erst nach einem Jahr bestandskräftig?, DStR 2012, 444; Fuhrmann, Beginn der Rechtsmittelfrist bei fehlerhafter Zustellung, NWB 2014, 2920; Koch, Anforderungen an die Post Ausgangskontrolle im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Systematische Einordnung und Kritik, NJW 2014, 2391; Lehr, Die neue „Bekanntgabe-Rechtsprechung“ in der Steuer(beratungs-)Praxis, DStR 2003, 2154; Pump, Wie lassen sich Fehler durch falsche Fristberechnung bei Zustellung mit der Postzustellungsurkunde vermeiden? – Praxishilfe zur Vermeidung von Fristenfallen, AO-StB 2011, 339; Rosenke, Nachweis der rechtzeitigen Klagerhebung, EFG 2014, 1976; Rosenke, Rechtsmittelfrist bei kürzerem Monat, EFG 2013, 1466; Rund, Der fristwahrende Klageschriftsatz, AO-StB 2001, 26.

1. Klagefrist a) Überblick Fristgebunden sind lediglich die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die auch grundsätzlich ein Vorverfahren voraussetzen. Die allgemeine Leistungsklage und Feststellungsklage können ohne Vorverfahren und ohne Einhaltung einer Klagefrist jederzeit erhoben werden.

3.514

Die Frist für die Erhebung einer Anfechtungsklage beträgt gem. § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO einen Monat. Dies gilt für die Verpflichtungsklage sinngemäß, wenn der Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes abgelehnt worden ist (§ 47 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Klagefrist des § 47 FGO gilt auch für Anfechtungsklagen, mit denen die Nichtigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts geltend gemacht wird.1 Dies ist wenig überzeugend, da in diesem Fall auch eine Nichtigkeitsfeststellungsklage ohne die Einhaltung einer Klagefrist erhoben werden könnte.2

3.515

Die Klagefrist beginnt mit der wirksamen Bekanntgabe der vollständigen3 Einspruchsentscheidung. In den Fällen der Sprungklage und in den Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf nicht gegeben ist, beginnt sie mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes, in den Fällen des § 45 Abs. 4 FGO mit der Bekanntgabe der Arrestanordnung.

3.516

1 BFH v. 8.7.1998 – I R 17/96, BStBl. II 1999, 48. 2 Ebenso zu Recht kritisch Levedag in Gräber, § 47 FGO Rz. 6 m. w. N. 3 BFH v. 25.7.2007 – III R 15/07, BStBl. II 2008, 94.

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Kap. 3 Rz. 3.517

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

b) Wirksame Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung

3.517 Die förmliche Einspruchsentscheidung, durch die das Einspruchsverfahren beendet wird (vgl. § 367 Abs. 2 Satz 3 AO) ist nach § 366 AO schriftlich abzufassen, zu begründen, mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen und den Beteiligten bekannt zu geben. Eine unzureichend oder nur dürftig – ggf. auch floskelhaft – begründete Einspruchsentscheidung macht diese nicht nichtig.1 Auch die Bekanntgabe einer solchen Einspruchsentscheidung reicht zum Abschluss des Vorverfahrens und für den Beginn der Klagefrist aus.

3.518 Die Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung hat gem. § 366 Satz 2 AO schriftlich oder elektronisch zu erfolgen. Das Finanzamt hat dabei die Wahl, ob es die Einspruchsentscheidung nach § 122 Abs. 2 AO per einfachem Brief per Post oder nach § 122 Abs. 2a AO elektronisch bekanntgeben oder nach § 122 Abs. 5 AO förmlich zustellen will.2 Eine elektronische Einspruchsentscheidung kann aber nur dann ergehen, wenn der Adressat gegenüber der Finanzbehörde einen Datenzugang eröffnet hat (§ 87a AO). Es reicht nicht aus, dass der Adressat einen einfachen E-Mail-Anschluss besitzt, über den er normalerweise erreichbar ist; vielmehr muss nach § 87a Abs. 7, 8 AO ein Übersendungsverfahren gewählt werden, das die Vertraulichkeit und Integrität des behördlichen Datensatzes gewährleistet.3 Die förmliche Zustellung erfolgt auf Anordnung des Finanzamts durch Zustellung nach den Vorschriften des VwZG.4 Der Tag der Bekanntgabe ist5

3.519 bei einfacher Zusendung: – bei Zusendung durch einfachen Brief im Inland der 3. Tag nach Aufgabe zur Post (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO), – bei Zusendung durch einfachen Brief im Ausland ein Monat nach Aufgabe zur Post (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO), – bei Zustellung durch eingeschriebenen Brief der Tag der Quittung auf dem Rückschein (§ 4 Abs. 1 VwZG) bzw. der 3. Tag nach Aufgabe zur Post (§ 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG), – bei elektronischer Übermittlung der 3. Tag nach der Absendung (§ 122 Abs. 2a AO).

3.520 bei förmlicher Zustellung: – bei Zustellung mit Postzustellungsurkunde der Tag der Zustellung (§ 3 VwZG), – bei Zustellung durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis der Tag der Zustellung (§ 5 VwZG), – bei Zustellung mittels elektronischer Zustellung der Tag der Zustellung (§ 5 Abs. 7 Satz 2VwZG) – bei Nutzung eines De-Mail-Dienstes der 3. Tag nach der Absendung (§ 5a Abs. 4 VwZG).

1 BFH v. 9.5.1996 – IV B 58/95, BFH/NV 1996, 871. 2 BFH v. 28.7.2015 – VIII R 50/13, juris. 3 Einzelheiten hierzu s. Seer in Tipke/Kruse, § 366 AO Rz. 4; Brandis in Tipke/Kruse, § 87a AO Rz. 15 ff. 4 BFH v. 13.1.2005 – V R 44/33, BFH/NV 2005, 998. 5 Überblick bei Brandis in Tipke/Kruse, § 108 AO Rz. 11.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.524 Kap. 3

3.521

bei öffentlicher Zustellung: – der Tag, an dem seit der Bekanntmachung der Benachrichtigung zwei Wochen vergangen sind (§ 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG). Bei Zustellung durch einfachen Brief gilt für die Bekanntgabe immer die Dreitagevermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, wonach die Einspruchsentscheidung als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, auch wenn sie früher zugegangen ist, es sei denn der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Fällt aber der dritte Tag des Dreitageszeitraums auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend, so verlängert sich die Frist bis zum nächstfolgenden Werktag.1 Diese Fristverlängerung hinsichtlich der Bekanntgabe, die nur an einem Werktag erfolgen kann, gilt aber nur bei der Bekanntgabefiktion nach § 122 AO und sonst nicht.2 Bei einer elektronisch bekannt gegebenen Einspruchsentscheidung gilt nach § 122 Abs. 2a AO diese am dritten Tag nach Absendung durch die Finanzbehörde als bekanntgegeben.

3.522

Die gesetzlich gebotene Schriftform wird insoweit auch durch Übersendung per Telefax gewahrt.3 Dies gilt auch für die Übersendung im sog. Ferrari-Fax-Verfahren; die auf diesem Weg übersandten Bescheide sind keine elektronischen Dokumente i. S. des § 87a AO und bedürfen deshalb zu ihrer Wirksamkeit keiner elektronischen Signatur.4 Die bloße Speicherung der übertragenen Daten bei dem empfangenden Faxgerät reicht für die „schriftliche Erteilung“ nicht aus, die durch Telefax übermittelte Einspruchsentscheidung muss vielmehr vom empfangenden Telefaxgerät auch noch ausgedruckt worden sein.5 Erst mit dem Ausdruck ist die Einspruchsentscheidung zugegangen und damit bekanntgegeben.6 Die Beweislast dafür, dass der Ausdruck tatsächlich erfolgt ist, liegt beim Finanzamt.7

3.523

Bei der förmlichen Zustellung mit Postzustellungsurkunde gilt der Bescheid bzw. die Einspruchsentscheidung an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die Zustellung nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes als bewirkt gilt und der von dem Zusteller beurkundet wird (z. B. Tag der Übergabe oder der Ersatzzustellung). Dieser Tag hat mit der Dreitagevermutung des § 122 Abs. 2 AO nichts zu tun! Ob die förmliche Zustellung der Einspruchsentscheidung zur wirksamen Bekanntgabe geführt hat, bestimmt sich auch im finanzgerichtlichen Verfahren nach der Beweisregel des § 418 ZPO.8 Gem. § 418 i. V. m. § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO erbringt die über die Zustellung vom Zusteller erstellte Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde den Beweis für die Richtigkeit der darin bezeugten Tatsachen, soweit nicht aufgrund von Beweismitteln der Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO erbracht ist, dass die in der Urkunde bezeugten Tatsachen unrichtig sind.9 Dieser Gegenbeweis ist er-

3.524

1 St. Rspr. seit BFH v. 14.10.2003 – IX 68/98, BStBl. II 2003, 898; v. 11.3.2004 – VII R 13/03, BFH/ NV 2004, 1065; v. 5.5.2014 – III B 85/13, BFH/NV 2014, 1186 m. w. N. 2 Siegers in HHSp, § 355 AO Rz. 60. 3 BFH v. 18.3.2014 – VIII R 9/10, BStBl. II 2014, 748 m. w. N. 4 BFH v. 18.3.2014 – VIII R 9/10, BStBl. II 2014, 748 m. w. N. 5 BFH v. 18.3.2014 – VIII R 9/10, BStBl. II 2014, 748 m. w. N. 6 BFH v. 8.7.1998 – I R 17/96, BStBl. II 1999, 48; FG Düsseldorf v. 24.4.2008 – 12 K 4730/04 E, EFG 2008, 1098. 7 BFH v. 18.3.2014 – VIII R 9/10, BStBl. II 2014, 748 m. w. N. 8 BFH v. 28.7.2015 – VIII R 50/13, juris; v. 2.12.2011 – VII B 98/11, BFH/NV 2012, 744; v. 18.1.2011 – I B 53/09, BFH/NV 2011, 812. 9 BFH v. 28.7.2015 – VIII R 50/13, juris m. w. N.; v. 10.7.2013 – VII B 11/13, BFH/NV 2013, 1787.

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Kap. 3 Rz. 3.525

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

bracht, wenn nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme über die Tatsachenbehauptungen des Zustellungsempfängers, wonach der Zustellungsvorgang falsch beurkundet worden sei, diesen Behauptungen bei der Beweiswürdigung mehr Glauben zu schenken ist als der Zustellungsurkunde.1 c) Zutreffende Rechtsmittelbelehrung

3.525 Ist im Fall einer Anfechtungsklage der Verwaltungsakt bzw. die Einspruchsentscheidung schriftlich oder elektronisch ergangen, so beginnt die Frist für die Klageerhebung nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte zutreffend, vollständig und unmissverständlich über den Rechtsbehelf, die Behörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist (§ 55 Abs. 1 FGO).2 Das Gleiche gilt bei Verpflichtungsklagen. Beispiel: Das Finanzamt X hat den Einspruch des A durch Einspruchsentscheidung zurückgewiesen. In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung wird lediglich darüber belehrt, dass die Klage beim Finanzamt in X angebracht werden kann, nicht aber darüber, dass die Klage auch beim Gericht in K erhoben werden kann. Obwohl die Rechtsmittelbelehrung keine Angaben über das Gericht, bei dem Klage zu erheben ist, und dessen Sitz enthält, beträgt die Klagefrist einen Monat. Die Rechtsbehelfsbelehrung ist nämlich nicht „unrichtig“ i. S. des § 55 Abs. 2 FGO, wenn die Klagemöglichkeit beim Finanzgericht nicht erwähnt worden ist, jedoch über die Möglichkeit des Anbringens der Klage beim Finanzamt belehrt und das hierfür zuständige Finanzamt zutreffend bezeichnet worden ist.3

3.526 Ist die Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Klageerhebung allerdings nicht unbefristet möglich. Die Klage kann in diesen Fällen nur innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bzw. des Verwaltungsaktes i. S. des § 54 FGO erhoben werden, es sei denn, – dass die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Hier gilt aber § 56 Abs. 2 FGO sinngemäß (§ 55 Abs. 2 Satz 2 FGO), weshalb die Klage innerhalb von zwei Wochen, nachdem die höhere Gewalt beseitigt ist, einzulegen ist, – oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, dass eine Klage nicht gegeben sei (§ 55 Abs. 2 Satz 1 FGO).

3.527 Es ist allein auf die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung abzustellen, ohne Rücksicht darauf, ob die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung kausal für das Unterlassen oder für die Verspätung des Rechtsbehelfs war.4 Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist unrichtig, wenn sie in einer der gem. § 55 Abs. 1 FGO wesentlichen Aussagen – das sind der Rechtsbehelf (Klage), die Behörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die Frist – unzutreffend oder derart unvollständig oder missverständlich abgefasst ist, dass hierdurch – bei objektiver Betrachtung – die Möglichkeit zur Fristwahrung als gefährdet erscheint.5 So ist eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht etwa deshalb unrichtig, weil das anzuru-

1 2 3 4 5

BFH v. 28.7.2015 – VIII R 50/13, juris; v. 31.8.2000 – VII B 181/100, BFH/NV 2001, 318. BFH v. 6.7.2016 – XI B 36/16, BFH/NV 2016, 1598 m. w. N. So ausdrücklich BFH v. 17.5.2000 – I R 4/00, BStBl. II 2000, 539. BFH v. 12.3.2015 – III R 14/14, BStBl. II 2015, 850. BFH v. 5.3.2014 – VIII R 51/12, BFH/NV 2014, 1010; v. 9.11.2009 – IV B 54/09, BFH/NV 2010, 448 m. w. N.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.530 Kap. 3

fende Gericht ohne dessen Internetverbindung oder dessen Telefaxnummer angegeben ist1 oder weil sie keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Übermittlung der Klage durch ein elektronisches Dokument enthält.2 Enthält die Rechtsbehelfsbelehrung darüber hinaus noch andere als die notwendigen Angaben, so müssen diese allerdings auch richtig und unmissverständlich sein.3 Dies bestimmt sich danach, wie der Erklärungsempfänger die Rechtsbehelfsbelehrung oder ergänzenden Angaben nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der ihm bekannten Umstände verstehen muss.4 Es hat in der Praxis bei Fristversäumung etliche Verfahren als letzten Ausweg wegen angeblich nicht ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung gegeben; hier hat sich aber gezeigt, dass die Finanzgerichte und die höchstrichterliche Rechtsprechung sehr restriktiv vorgehen.5 Das Gericht wird, um rechtliches Gehör zu gewähren, normalerweise auf die Versäumung der Klagefrist hinweisen, bevor eine Entscheidung ergeht. Wenn dies geschieht und die Abweisung der Klage wegen Fristversäumung als unzulässig droht, so sollte in der Praxis dennoch in jedem Fall mit besonderer Aufmerksamkeit geprüft werden,

3.528

– ob eine wirksame Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erfolgt ist und – ob die Rechtsbehelfsbelehrung ordnungsgemäß erfolgt ist, weil dies die einzige Chance ist, geltend machen zu können, dass der Lauf der Rechtsmittelfrist möglicherweise doch noch nicht begonnen hat und die Klage fristgerecht ist. d) Anbringen der Klage Die Klagefrist ist gewahrt, wenn die Klageschrift am letzten Tag der Frist bis um 24.00 Uhr – und nicht später! – bei dem zuständigen Gericht eingeht. Die Klagefrist ist eine gesetzliche Ausschlussfrist; sie kann deshalb nicht vom Gericht verlängert werden. Dabei ist zu beachten, dass die Fristen für Rechtsbehelfe mit Ablauf des letzten Tages der Frist enden. Das bedeutet: Die Frist endet unabhängig von der Behördendienstzeit erst um 24.00 Uhr. Der Bürger darf die Frist in vollem Umfang ausschöpfen. Deshalb müssen Behörden und Gerichte geeignete Vorkehrungen treffen, um die volle Ausnutzung der Frist zu ermöglichen. Ist kein Nachtbriefkasten vorhanden, so dass vor und nach 24.00 Uhr eingeworfene Schriftstücke nicht getrennt werden können, müssen Eingänge, die bei Leerung des Briefkastens am Morgen entnommen werden, mit dem Eingangsstempel des Vortages versehen werden. Aus dem Fehlen eines Nachtbriefkastens dürfen dem Steuerpflichtigen keine Nachteile entstehen. Unterhält das Gericht ein Postschließfach, so ist die Frist gewahrt, wenn die Klageschrift vor Fristablauf in das Schließfach einsortiert wird. Auf den Zeitpunkt der Abholung oder Empfangnahme kommt es nicht an.

3.529

Wird die Klage per E-Mail mit qualifizierter elektronischer Signatur erhoben (s. Rz. 3.66), so ist die Klagefrist gewahrt, wenn das Dokument vor Fristablauf auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist.

3.530

1 2 3 4

BFH v. 18.1.2017 – VIII B 158/16, BFH/NV 2017, 603. BFH v. 18.6.2015 – IV R 18/13, BFH/NV 2015, 1349. BFH v. 6.7.2016 – XI B 36/16, juris m. w. N. BFH v. 20.11.2013 – X R 2/12, BStBl. II 2014, 236; v. 9.11.2009 – IV B 54/09, BFH/NV 2010, 448 m. w. N. 5 Vgl. z.B. BFH v. 18.1.2017 – VII B 158/16, BFH/NV 2017, 603.

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Kap. 3 Rz. 3.531

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.531 Soll die Klage per Telefax eingereicht werden, so muss der Steuerpflichtige bzw. sein Berater mit der Versendung des Faxes rechtzeitig beginnen, damit die vollständige Klageschrift vor 24.00 Uhr bei dem Gericht eingeht. Das bedeutet, dass über die zu erwartende Übermittlungsdauer hinaus zeitlich ein Sicherheitszuschlag von 20 Minuten einkalkuliert werden muss, da mit Verzögerungen von 20 Minuten aufgrund der Belegung des Empfangsgeräts gerechnet werden muss.1

3.532 In der Praxis kommt es des Öfteren vor, dass am letzten Tag der Frist festgestellt wird, dass die Klagefrist abzulaufen droht. Hat der Berater seine Kanzlei nicht an dem Ort, an dem das Gericht seinen Sitz hat, empfiehlt es sich zur Fristwahrung, die Klage bei dem in aller Regel räumlich näheren Finanzamt anzubringen, das die betreffende Entscheidung getroffen hat. Zur Wahrung der Frist reicht es aus, wenn dem Finanzamt die Klageschrift vor Fristablauf z. B. durch Einwurf in den Nachtbriefkasten oder per Telefax zugeht. Die Frist für die Erhebung der Klage gilt gem. § 47 Abs. 2 FGO nämlich auch dann als gewahrt, wenn die Klage bei der Behörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt oder die angefochtene Entscheidung erlassen oder dem Beteiligten bekannt gegeben hat oder die nachträglich für den Steuerfall zuständig geworden ist, innerhalb der Frist angebracht wird. Für das Anbringen einer Klage beim Finanzamt gem. § 47 Abs. 2 FGO genügt es, wenn die Klage bis zum Ablauf des letzten Tages der Frist in einem verschlossenen und postalisch an das Finanzgericht adressierten Briefumschlag in den Briefkasten des Finanzamts eingeworfen oder beim Finanzamt abgegeben wird. Die Klageschrift muss nicht derart in den Verfügungsbereich des Finanzamts gelangen, dass es von ihrem Inhalt Kenntnis nehmen kann oder Kenntnis nimmt.2 Das Finanzamt ist verpflichtet, den Eingangstag zu dokumentieren. Dies kann dadurch geschehen, dass es auf dem an das Finanzgericht adressierten Briefumschlag einen Eingangsstempel anbringt.

3.533 Innerhalb der Klagefrist muss eine Klageschrift eingehen, die den Formerfordernissen des § 64 Abs. 1 FGO entspricht. Das heißt insbesondere, dass die Klageschrift in deutscher Sprache abgefasst ist und unterzeichnet ist (s. Rz. 3.26). 2. Berechnung der Klagefrist a) Beginn der Frist

3.534 Für die Berechnung der Klagefrist gelten gem. § 54 Abs. 2 FGO i. V. m. § 222 ZPO die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 187 ff. BGB entsprechend.

3.535 Die Frist beginnt mit der wirksamen Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (§ 47 Abs. 1 FGO). Für den Beginn der Klagefrist ist § 187 Abs. 1 BGB zu beachten, was allerdings in der Praxis zur Irritation führt: Danach wird bei der Berechnung der Klagefrist der Tag nicht mitgerechnet, an dem der betreffende Verwaltungsakt bekannt gegeben worden ist. Denn die Bekanntgabe ist nach § 54 Abs. 1 FGO das Ereignis, das für den Anfang der Klagefrist maßgebend ist.

3.536 Bei der Fristenberechnung ist für den Fristenbeginn immer darauf zu achten, welche Form der Bekanntgabe die Finanzbehörde gewählt hat, ob die Zustellung durch einfachen Brief 1 BFH v. 8.10.2015 – VII B 147/14, BFH/NV 2016, 214; vgl. dazu auch Rz. 3.580 ABC der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Stichwort: Telefax. 2 BFH v. 26.11.2008 – IX B 122/08, BFH/NV 2009, 600; v. 14.2.1997 – I B 80/96, BFH/NV 1997, 675; v. 9.2.2006 – VI B 99/05, BFH/NV 2006, 1118.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.539 Kap. 3

erfolgt ist oder mit Postzustellungsurkunde. Bei Zustellung durch einfachen Brief gilt für die Bekanntgabe immer die Dreitagevermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, wonach der Bescheid, zumeist in Form der Einspruchsentscheidung, als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, auch wenn er früher zugegangen ist, es sei denn, der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Wird die Klagefrist vom Berater falsch berechnet und trifft ihn hieran ein Verschulden, so kann dies ggf. zur Haftung führen, sofern die Klage ansonsten vermutlich Erfolg gehabt hätte und insofern ein Schaden eingetreten ist. Fällt der dritte Tag des Dreitageszeitraums auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend, so verlängert sich bei der Bekanntgabefiktion nach § 122 AO die Frist bis zum nächstfolgenden Werktag;1 die Entscheidung gilt also immer an einem Werktag als bekannt gegeben.

3.537

Beispiel: Die Einspruchsentscheidung wird am Mittwoch, 1.2.00, mit einfachem Brief zur Post gegeben (Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 AO). Die Entscheidung gilt trotz der Dreitagevermutung am Montag, den 6.2.00, als bekannt gegeben, da der dritte Tag (4.2.) auf einen Sonnabend fällt.

Bei der förmlichen Zustellung mit Postzustellungsurkunde gilt dagegen die Einspruchsentscheidung an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die Zustellung nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes als bewirkt gilt und der von dem Zusteller beurkundet wird (z. B. Tag der Übergabe oder der Ersatzzustellung). Dieser Tag muss nicht mit der o. g. Dreitagevermutung identisch sein! Beispiel: Die Einspruchsentscheidung wird am Dienstag, 3.1.00, mit einfachem Brief zur Post gegeben (Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 AO) oder am Freitag, 6.1.00, per Zustellungsurkunde förmlich zugestellt. Hier beginnt die Frist jeweils am 7.1.00, da der Tag der Bekanntgabe gem. § 187 Abs. 1 BGB nicht mitgerechnet wird. Dass bei der Fristenberechnung der erste Tag ein Sonnabend ist, ist unerheblich.

b) Ende der Frist Die Klagefrist endet gem. § 54 Abs. 2 FGO i. V. m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des Tages, welcher mit seiner Benennung demjenigen entspricht, in den das Ereignis – hier die Bekanntgabe – gefallen ist.

3.538

Beispiel: Tag der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung – wie im obigen Beispiel – der 6.1.00 (Freitag), Fristbeginn wie oben am 7.1.00, Fristende am 6.2.00 (sofern kein Sonnabend, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag).

Existiert bei einer nach Monaten bemessenen Frist ein der Benennung entsprechender Tag in dem Monat des Fristablaufs nicht, endet die Frist gem. § 188 Abs. 3 BGB mit dem Ablauf des letzten Tages des betreffenden Monats. Beispiel: Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 31.1.00 (Donnerstag); Fristbeginn am 1.2.00; Fristende am 28.2.00 um 24.00 Uhr (sofern ein Wochentag Montag bis Freitag).

1 BFH v. 14.10.2003 – IX 68/98, BStBl. II 2003, 898; v. 11.3.2004 – VII R 13/03, BFH/NV 2004, 1065; v. 5.5.2014 – III B 85/13, BFH/NV 2014, 1186.

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3.539

Kap. 3 Rz. 3.540

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.540 Fällt das Ende der Frist auf einen Sonnabend, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, endet die Frist gem. § 54 Abs. 2 FGO i. V. m. § 222 Abs. 2 ZPO erst mit Ablauf des nächstfolgenden Werktags. Beispiel: Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 15.2.00 (Freitag); Fristbeginn am 16.2.00 (Samstag); Fristende eigentlich am 15.3.00 (Sonntag). Da es sich um einen Sonntag handelt, endet die Frist erst mit Ablauf des 16.3.00 (Montag).

3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Literatur: Balmes/Ambroziak, Widerborstige Wiedereinsetzung, AO-StB 2009, 369; Fuldner, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Steuerrecht, NWB 2009, 2006; Kummer, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, 2. Aufl., Baden-Baden 2010; Lange, Die Neufassung des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO, DB 2004, 2125; Lange, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Verfassungsrecht, DStR 2000, 1145; Pelke, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Ein Standardproblem in der Rechtsprechungspraxis, SteuK 2012, 161; Pump/Heinemann, Aspekte der EDV-gestützten Fristenkontrolle in der Steuerberaterpraxis, StBW 2013, 129; Roth, Wiedereinsetzung nach Fristversäumnis wegen Belegung des Telefaxempfangsgeräts des Gerichts, NJW 2008, 785; Schmid, Versäumung prozessualer Fristen bei Einschaltung von Hilfspersonen, BB 2001, 1198; Stöcker, Wiedereinsetzung gibt’s nicht – Verfassungsrechtliche Bedenken gegen überzogene Anforderungen, AO-StB 2005, 242; Streck/Mack/Schwedhelm, Botenverschulden als Wiedereinsetzungsgrund, Stbg 2000, 416; Tormöhlen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Ausgewählte Probleme in der Beratungspraxis, AO-StB 2012, 56.

a) Überblick

3.541 Ist die Klagefrist versäumt worden, kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gem. § 56 Abs. 1 FGO auf Antrag zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Dabei muss sich der Steuerpflichtige das Verschulden eines Vertreters, z. B. eines Prozessbevollmächtigten, gem. § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.1 Ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist jemand dann, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat.2 Jedes Verschulden, auch leichte bzw. einfache Fahrlässigkeit,3 schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus.

3.542 Die Rechtsprechung legt dabei beim nichtberatenen Steuerpflichtigen einen objektiven Maßstab mit einer subjektiven Komponente zugrunde. Ausgehend von einem subjektiven Verschuldensbegriff ist maßgeblich die vom Kläger persönlich zu fordernde Sorgfalt.4 Damit ist bei der Beurteilung des Verschuldens eines juristisch oder steuerrechtlich gebildeten Steuerpflichtigen ein strengerer Maßstab anzuwenden als bei einem rechtsunkundigen, ungewandten Kläger.5 In jedem Fall muss der Kläger die gleiche Sorgfalt anwenden wie in seinen sonstigen Angelegenheiten. So hat er insbesondere amtliche Schreiben und Rechtsbehelfs1 St. Rspr.; vgl. BFH v. 6.8.2015 – III B 46/15, BFH/NV 2015, 1593; v. 20.12.2006 – III B 181/05, n. v.; v. 5.4.2005 – I B 146/04, BFH/NV 2005, 1352. 2 St. Rspr., vgl. z. B. BFH v. 29.2.2012 – IX R 3/11, BFH/NV 2012, 915; v. 17.3.2010 – X R 57/08, BFH/NV 2010, 1780 m. w. N. 3 BFH v. 7.1.2015 – V B 70/14, BFH/NV 2015, 516; v. 30.11.2010 – IV B 39/10, BFH/NV 2011, 613; v. 18.1.2007 – III R 65/05, BFH/NV 2007, 946. 4 Für den subjektiven Verschuldensbegriff auch Stapperfend in Gräber, § 56 FGO Rz. 7; Brandis in Tipke/Kruse, § 56 FGO Rz. 10. 5 Ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 56 FGO Rz. 10.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.546 Kap. 3

belehrungen zu lesen und zu prüfen, ob eine Rechtsbehelfsfrist in Gang gesetzt wird. Bei Zweifeln über Beginn, Dauer oder Ende der Rechtsbehelfsfrist muss er den ungünstigsten Fall annehmen oder sich durch Rückfrage bei einem rechtskundigen Berater oder der Finanzbehörde Gewissheit verschaffen. Demgegenüber geht sie bei einem Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe von einem objektiven Verschuldensbegriff aus: An die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts oder eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe werden daher besonders hohe Anforderungen gestellt. Erwartet wird eine äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt.1 Von Angehörigen der steuerberatenden Berufe wird von der Rechtsprechung erwartet, dass sie die Voraussetzungen und die Anforderungen für die jeweils einzulegenden Rechtsmittel kennen oder sich zumindest davon Kenntnis verschaffen.2 Deshalb ist gerade für den Rechtsanwalt und Steuerberater in ihrer täglichen Praxis die Fristenkontrolle von nicht zu unterschätzender Bedeutung.3 Denn nur durch eine ordnungsgemäße Fristenkontrolle kann die Versäumung von Fristen, was immer zur Haftung führen kann, insbesondere bei der Versäumung von Rechtsbehelfsfristen, weitestgehend ausgeschlossen werden. (s. auch Rz. 3.556 ff. ABC der Wiedereinsetzung, Stichwörter „Büroorganisation und Büroversehen“ und „Fristenberechnung“).

3.543

Der Steuerpflichtige bzw. sein Berater darf die Rechtsbehelfsfrist als Erklärungs- und Überlegungsfrist in vollem Umfang ausschöpfen.4 Gegen Ablauf der Frist muss er allerdings eine Beförderungsart wählen, die für den rechtzeitigen Zugang der Klageschrift und damit die Einhaltung der Klagefrist Gewähr leistet. Verzögerungen der Briefbeförderung oder Briefzustellung, die der Steuerpflichtige nicht zu vertreten hat, können ihm jedoch nicht zugerechnet werden. Er kann darauf vertrauen, dass für die Briefbeförderung die gewöhnliche Laufzeit gilt.5 (s. auch Rz. 3.576 ff. ABC der Wiedereinsetzung, Stichwort: Postverkehr). Übliche Verlängerungen der normalen Laufzeit muss er in die Fristberechnung einbeziehen. Soll die Klage per Telefax eingereicht werden, so muss der Steuerpflichtige bzw. sein Berater mit der Versendung des Faxes rechtzeitig beginnen, damit die vollständige Klageschrift vor 24.00 Uhr bei dem Gericht eingeht. Dabei muss er über die zu erwartende Übermittlungsdauer hinaus zeitlich einen Sicherheitszuschlag – laut BFH-Rspr. 20 Minuten – einkalkulieren, da mit Verzögerungen aufgrund der Belegung des Empfangsgeräts gerechnet werden muss6 (s. auch Rz. 3.580 ff. ABC der Wiedereinsetzung, Stichwort „Telefax“).

3.544

Maßgebend für die Beurteilung, ob ein Verschulden vorliegt oder zu verneinen ist, ist der Sachverhalt, der – unbeschadet nachträglicher Erläuterungen oder Ergänzungen dieses Sachverhalts – innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 FGO (Rz. 3.587) dargelegt wird.7 Innerhalb dieser Frist muss z. B. substantiiert und schlüssig vorgetragen werden, dass kein Organisationsfehler vorliegt.

3.545

Trifft den Steuerberater an der Versäumung der Klagefrist ein Verschulden, so kann dieser haftpflichtig gemacht werden, wenn die Fristversäumung für den Eintritt eines Schadens

3.546

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. BFH v. 17.3.2010 – X R 57/08, BFH/NV 2010, 1780 m. w. N. BFH v. 3.8.2005 – IX B 26/05, BFH/NV 2006, 307. BFH v. 18.1.2007 – III R 65/05, BFH/NV 2007, 946. BFH v. 25.11.2003 – VII R 9/03, BFH/NV 2004, 519. BFH v. 11.7.2006 – VIII R 10/05, BStBl. II 2007, 96. BFH v. 8.10.2015 – VII B 147/14, BFH/NV 2016, 214. BFH v. 24.9.1985 – III B 3/85, BFH/NV 1986, 190; FG Köln v. 25.2.2011 – 15 K 486/09, EFG 2011, 1281.

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205

Kap. 3 Rz. 3.547

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

kausal ist, d. h., wenn die Klage ansonsten Erfolg gehabt und zu einer Herabsetzung der Steuer geführt hätte. In der Praxis sollte der Berater in diesen Fällen darauf achten, dass er den Fall rechtzeitig seiner Berufshaftpflichtversicherung meldet und ggf. nach Rücksprache mit der Versicherung eine finanzgerichtliche Entscheidung herbeiführt, ob ihn tatsächlich ein Verschulden an der Versäumung der Frist trifft.

3.547 Ferner sollte, wenn die Klagefrist schuldhaft versäumt worden ist, in der Praxis immer zusätzlich überprüft werden, ob die Steuerfestsetzung möglicherweise doch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) steht, und deshalb eine Änderung des Bescheides – unabhängig von der Einhaltung einer Klagefrist – beantragt werden kann. Dies wird häufig nicht hinreichend beachtet. b) ABC der Wiedereinsetzung

3.548 Die Rechtsprechung beschäftigt sich immer wieder mit der Frage, wann eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommen kann und geht dabei sehr restriktiv vor. Obwohl von dieser Rechtsprechung zumeist der Steuerpflichtige und/oder sein Berater betroffen sind, gelten doch bei der Beurteilung, ob sich das Finanzamt die Versäumung einer gesetzlichen Frist als schuldhaft anrechnen lassen muss, die gleichen Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat.1 Dabei muss das Verschulden für die Fristversäumung jeweils kausal sein. Die Ursächlichkeit des Verschuldens wird insbesondere nicht dadurch aufgehoben, dass Dritte (Privatpersonen, Behörden oder das Gericht) die von dem Steuerpflichtigen schuldhaft verursachte Fristversäumnis hätten verhindern können.2 Zwar obliegen dem Gericht gewisse Fürsorgepflichten gegenüber dem Steuerpflichtigen. Weder die zuständige Geschäftsstelle noch der zuständige Richter sind aber verpflichtet, noch am Tag des Eingangs einen Schriftsatz auf Formfehler zu überprüfen und ggf. eine Fehlerinformation an den Kläger herauszugeben.3

3.549 Zu den einzelnen Fallkonstellationen gibt es eine kaum noch überschaubare Rechtsprechung, die sich als häufig sehr streng darstellt und die teilweise an den Steuerpflichtigen bzw. seinen Berater unzumutbare und praktisch nicht erfüllbare Anforderungen stellt. Die folgenden häufig vorkommenden Problembereiche sind für die Praxis besonders bedeutsam:

3.550 Einstweilen frei. Abwesenheit wegen Urlaubs-/Geschäftsreise:

3.551 Muss der Steuerpflichtige während seiner auch vorübergehenden Abwesenheit mit dem Eingang behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen rechnen, die die Einlegung eines Rechtsbehelfs erforderlich machen können, so hat er alle Maßnahmen zu treffen, die nach vernünftigem Ermessen geeignet sind, die Versäumung von Fristen auszuschließen.4 Dazu muss er insbesondere sicherstellen, dass fristauslösende Schriftstücke rechtzeitig zu seiner Kenntnis gelangen.5 Dafür genügt es, für die Zeit der Abwesenheit entweder einen Zustellungsvertreter zu

1 2 3 4 5

BFH v. 16.9.2014 – IIB 46/14, BFH/NV 2015, 49. BFH v. 11.8.2005 – VIII B 291/04, BFH/NV 2006, 80. BFH v. 26.7.2011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925. BFH v. 30.11.2011 – VI B 22/11, BFH/NV 2012, 436 m. w. N. BFH v. 30.11.2011 – VI B 22/11, BFH/NV 2012, 436; v. 9.12.1999 – III R 37/97, BStBl. II 2000, 175.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.555 Kap. 3

benennen oder durch andere Hilfspersonen zu gewährleisten, dass gegen Sendungen mit fristauslösender Wirkung fristwahrende Maßnahmen eingeleitet werden.1 Bei längerer Abwesenheit (sechs Wochen Ausland)2 entspricht es ohnehin dem Gebot prozessualer Sorgfalt, derartige Maßnahmen zu ergreifen.3 Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt dann nicht in Betracht, wenn der Steuerpflichtige bei längerer Abwesenheit keinen Vertreter, Postbevollmächtigten oder aber Empfangsbevollmächtigten bestellt, für den er weiterhin erreichbar bleibt, oder wenn er nicht sonst wie dafür sorgt, dass ihm sämtliche Schriftstücke nachgesandt werden.4

3.552

Ist der Steuerpflichtige von seiner ständigen Wohnung nur vorübergehend (Zeitraum umstritten, vorsichtshalber: maximal vier Wochen)5 während eines Urlaubs abwesend, so braucht er grundsätzlich für die Zeit seiner Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Er kann darauf vertrauen, dass er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhält, sofern ihm während seiner Abwesenheit ein Steuerbescheid oder eine Einspruchsentscheidung zugestellt werden und er – bedingt durch seine Abwesenheit (Kausalität!) – die Frist versäumt. In den meisten Fällen wird diese Kausalität nicht gegeben sein.6

3.553

Die Verpflichtung eines berufsmäßig handelnden Bevollmächtigten zu fristwahrendem Verhalten führt dazu, dass er sich für die Zeit seiner Abwesenheit immer entweder eines Zustellungsvertreters bedienen oder durch die Einschaltung geeigneter Hilfspersonen gewährleisten muss, dass er zeitnah über den Eingang wichtiger Post informiert wird. Für die Auswahl und die Unterweisung solcher Hilfspersonen gelten die Grundsätze zur Einschaltung von Büropersonal. Insbesondere muss hinreichend darüber belehrt werden, wie mit eingehenden behördlichen oder gerichtlichen Postsendungen zu verfahren ist, vor allem bei förmlich zugestellten Sendungen. Angesichts der häufig fristauslösenden Bedeutung solcher Sendungen muss regelmäßig ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass diese unverzüglich entweder an den Adressaten selbst oder an eine andere Person weitergeleitet werden müssen, die an Stelle des Adressaten fristwahrend tätig werden kann.7

3.554

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann ebenfalls nicht gewährt werden, wenn sich der Steuerpflichtige zwar während des Laufs der Klagefrist in Urlaub befand, die Einspruchsentscheidung aber vor Beginn des Urlaubs bekannt gegeben worden ist und die Klagefrist erst nach dem Urlaub – und seien es auch nur wenige Tage nach dem Urlaub – abläuft.8

3.555

1 2 3 4 5 6 7 8

BFH v. 30.11.2011 – VI B 22/11, BFH/NV 2012, 436. BFH v. 30.3.2006 – VII B 197/05, BFH/NV 2006, 1487 m. w. N. BFH v. 28.4.2010 – VIII R 8/08, juris; v. 30.3.2006 – VII 197/05, BFH/NV 2006, 1487. BFH v. 30.3.2006 – VII B 197/05, BFH/NV 2006, 1487 m. w. N.; Stapperfend in Gräber, § 56 FGO Rz. 20 Stichwort „Abwesenheit“ m. w. N. Vgl. Nachweise bei Stapperfend in Gräber, § 56 FGO Rz. 20 Stichwort „Abwesenheit“; BVerfG v. 11.2.1976 – 2 BvR 849/75, NJW 1976, 1537 und v. 20.2.1992 – 2 BvR 1330/91, n. v.: längstens sechs Wochen. Vgl. dazu z. B. FG München v. 8.11.2006 – 10 K 3509/06, n. v. BFH v. 22.8.2006 – I R 24/05, BFH/NV 2007, 63. Vgl. BFH v. 15.12.1977 – VI R 179/75, BStBl. II 1978, 240.

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Kap. 3 Rz. 3.556

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Arbeitsüberlastung:

3.556 Arbeitsüberlastung rechtfertigt auch bei einem Bevollmächtigten in der Regel keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.1 Büroorganisation und Büroversehen:

3.557 Das sog. Büroversehen spielt bei den Wiedereinsetzungsgründen in der Praxis immer wieder eine große Rolle. Ein Büroversehen liegt vor, wenn eine Fristüberschreitung eintritt, obwohl der Berater sein Büro so organisiert hat, dass die Wahrung der gesetzlichen Fristen und der richterlichen Ausschlussfristen sichergestellt ist. In diesem Fall muss sich der Berater das Verschulden seiner Angestellten, die er sorgfältig ausgesucht und überwacht hat, nicht zurechnen lassen.

3.558 Wesentliche Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Büroorganisation ist zunächst, dass der Prozessbevollmächtigte alle Vorkehrungen dafür getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen geeignet sind, Fristversäumnisse auszuschließen. Dazu gehören mehrere Dinge: (1) Der Berater muss das Personal, das mit der Fristwahrung beauftragt ist, sorgfältig auswählen, regelmäßig belehren und überwachen. Stellt er fest, dass eine Bürokraft unzuverlässig ist, darf er dieser die Bearbeitung von Fristsachen nicht allein überlassen, sondern muss vielmehr ihre Arbeit persönlich beaufsichtigen und nachprüfen. Wird ihm ein Versehen einer Bürokraft mitgeteilt, liegt ein eigenes Verschulden vor, wenn er die Sachlage nicht unverzüglich selbst überprüft und die erforderlichen Schritte unternimmt, sondern die Prüfung der Angelegenheit seiner Bürokraft überlässt. Gleiches gilt, wenn das Büropersonal nicht angewiesen worden ist, sobald eine tatsächliche oder vermeintliche Fristversäumnis festgestellt worden ist, die Akten unverzüglich dem Bevollmächtigten oder seinem Vertreter vorzulegen.2 (2) Ferner ist es grundsätzlich unerlässlich, dass ein Fristenkontrollbuch (Fristenkalender oder eine vergleichbare Einrichtung) geführt wird. Es genügt für eine ordnungsmäßige Büroorganisation nicht, wenn statt eines Fristenkontrollbuches Schriftstücke, die zur Wahrung einer Rechtsmittelfrist eine termingebundene Erledigung erfordern, in sog. Terminmappen abgelegt werden.3

3.559 Im Fristenkalender muss der Fristablauf für jede einzelne Sache vermerkt werden. Die Fristenkontrolle sollte damit beginnen, dass das Eingangsdatum auf dem betreffenden Bescheid bzw. der Einspruchsentscheidung notiert wird, und der Briefumschlag, mit dem der Bescheid bzw. die Einspruchsentscheidung übersandt worden sind, zu den Akten genommen wird. Die Frist sollte dann in dem besonderen Fristenkalender festgehalten werden; die Rechtsbehelfsakte mit Terminnotiz reicht nicht aus. Da die Notierung des Fristablaufs im Fristenkalender in der Regel nicht genügt, um die notwendige Handlung rechtzeitig vornehmen zu können, sollte eine Vorfrist vermerkt werden.

3.560 Die Einhaltung der laufenden Fristen muss durch tägliche Einsichtnahme in den Fristenkalender gesichert werden. Dabei ist die für die Kontrolle zuständige Bürokraft anzuweisen, 1 Vgl. BFH v. 9.1.2012 – I B 66/11, BFH/NV 2012, 957; v. 21.9.2009 – I B 48, 49/09, I B 48/09, I B 49/09, BFH/NV 2010, 439; v. 23.8.2005 – VII B 153/05, BFH/NV 2006, 309. 2 Vgl. ausführlich BFH v. 17.11.2015 – V B 56/15, BFH/NV 2016, 222; v. 5.3.2004 – IV R 66/02, n. v.; v. 24.7.2002 – VII B 150/02, BFH/NV 2002, 1489; v. 25.9.1999 – X R 102/98, BFH/NV 1999, 1221; v. 29.9.1976 – II R 154/75, BStBl. II 1977, 35. 3 BFH v. 31.5.2005 – I R 103/04, BStBl. II 2005, 623.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.563 Kap. 3

dass Fristen im Kalender erst zu streichen oder als erledigt zu kennzeichnen sind, nachdem sie sich anhand der Akte selbst vergewissert hat, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist.1 Dazu gehört auch eine Anordnung, durch die gewährleistet wird, dass die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders von einer dazu beauftragten Bürokraft nochmals und abschließend selbständig überprüft wird. Diese Kontrolle muss gewährleisten, dass am Ende eines jeden Arbeitstages von einer dazu beauftragten Bürokraft geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob diese mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen übereinstimmen. Die allabendliche Kontrolle dient nicht allein dazu, zu überprüfen, ob sich aus den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben. Sie soll vielmehr auch feststellen, ob möglicherweise in einer bereits als erledigt vermerkten Frist die fristwahrende Handlung noch aussteht.2 Für den Fall der Verhinderung oder Abwesenheit eines mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiters muss durch organisatorische Maßnahmen die Weiterbearbeitung, zumindest aber die Einhaltung von Fristen sichergestellt werden.3 Verwendet der Prozessbevollmächtigte einen EDV-gestützten Fristenkalender, so müssen die dort vorgenommenen Eintragungen durch Ausgabe der eingegebenen Einzelvorgänge über den Drucker oder durch Ausgabe eines Fehlerprotokolls durch das Programm kontrolliert werden.4 Die Kontrolle ist erforderlich, um nicht nur Datenverarbeitungsfehler des EDV-Programms, sondern auch Eingabefehler oder -versäumnisse mit geringem Aufwand zu erkennen und zu beseitigen.5

3.561

Bei einer Versendung durch die Post gehört zu einem zuverlässigen Kontrollsystem, dass zwischen dem Fristenkalender und dem Postausgangsbuch eine Übereinstimmung in der Weise sichergestellt wird, dass die Fristen im Kalender erst auf der Grundlage der Eintragungen im Postausgangsbuch gelöscht werden.6 Bei Übermittlung eines fristwahrenden Schriftstücks per Telefax darf demgemäß die betreffende Frist erst gelöscht werden, wenn ein von dem Telefaxgerät des Absenders ausgedruckter Einzelnachweis (Sendebericht) vorliegt, der die ordnungsgemäße Übermittlung belegt.7

3.562

Neben der Eintragung der eigentlichen Fristen ins Fristenkontrollbuch ist es in der Praxis zweckmäßig, auch sog. Wiedervorlagefristen festzuhalten, damit gewährleistet ist, dass ihm die Akten von Verfahren, in denen Fristen laufen, rechtzeitig vorgelegt werden, damit zur Vermeidung eines Regresses rechtzeitig vor Ablauf der Frist der betreffende Vorgang bearbeitet werden kann.8 Dies kann durch Verfügung einer „Vorfrist“ oder eines Vorlagetermins geschehen.9 Allerdings reicht die Notierung von Wiedervorlagefristen für sich allein nicht zur ord-

3.563

1 BFH v. 17.11.2015 – V B 56/15, BFH/NV 2016, 222; v. 8.11.2006 – VII R 20/06, BFH/NV 2007, 469. 2 BFH v. 28.7.2015 – II B 150/14, BFH/NV 2015, 1434 unter Berufung auf die Rspr. des BGH. 3 BFH v. 22.9.2009 – IX R 93/07, BStBl. II 2010, 1032 m. w. N. 4 BFH v. 9.1.2014 – X R 14/13, BFH/NV 2014, 567. 5 BFH v. 9.1.2014 – X R 14/13, BFH/NV 2014, 567 m. w. N. 6 BFH v. 17.11.2015 – V B 56/15, BFH/NV 2016, 222 m. w. N. 7 BFH v. 18.3.2014 – VIII R 33/12, BStBl. II 2014, 922. 8 BFH v. 15.5.2015 – II R 28/14, BFH/NV 2015, 1262; BGH v. 26.2.2015 – III ZB 55/14, WM 2015, 782. 9 BFH v. 15.5.2015 – II R 28/14, BFH/NV 2015, 1262.

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Kap. 3 Rz. 3.564

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

nungsmäßigen Fristenkontrolle aus. Denn wenn im Fristenkalender nur Wiedervorlagefristen eingetragen werden, ist hieraus nicht ersichtlich, wann die eigentliche Frist abläuft.1

3.564 Ebenso wie ein Prozessbevollmächtigter ist auch der Vorsteher eines Finanzamts verpflichtet, ein Fristenkontrollbuch oder einen elektronischen Fristenkalender zu führen.2

3.565 Einstweilen frei. Computerabsturz:

3.566 Hier kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich in Betracht. Ein auf einen vorübergehenden „Computer-Defekt“ oder „Computer-Absturz“ gestützter Wiedereinsetzungsantrag bedarf dabei vor allem näherer Darlegungen zur Art des Defekts und zu seiner Behebung.3 So kann eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommen, wenn mit der Telefax-Übermittlung einer fünfseitigen Klageschrift 40 Minuten vor Fristablauf begonnen werden sollte und die rechtzeitige Übermittlung allein an einem bis dahin nicht festgestellten Systemabsturz einer bis dahin fehlerfrei funktionierenden und fachgerecht gewarteten EDV-Anlage scheiterte.4

3.567 Treten EDV-Probleme bei einem Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe auf, erfordert allerdings eine ordnungsgemäße Büroorganisation, dass jedenfalls die Fristenkontrolle in einer Weise sichergestellt wird, dass sich die technischen Probleme hierauf nicht auswirken können.5 Fristenberechnung:

3.568 Zu einer wirksamen Fristenkontrolle gehören alle Vorkehrungen und Anordnungen, die geeignet sind, Fristversäumnisse auszuschließen, ferner die regelmäßige Belehrung und Überwachung der Bürokräfte, dass die Anordnungen eingehalten werden.6 Der Steuerberater darf die Berechnung einfacher und in dem jeweiligen Büro geläufiger Fristen, die Eintragung in das Fristenkontrollbuch und die weitere Kontrolle der Fristen einem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Bediensteten übertragen. Allerdings muss er durch geeignete Anordnungen dafür sorgen, dass er selbst die Fristberechnung in ungewöhnlichen und zweifelhaften Fällen kontrolliert, in denen die Fristen seinem Personal nicht bekannt sind. Zu diesem Zweck hat er durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass ihm die betreffenden Vorgänge zur diesbezüglichen Prüfung vorgelegt werden.7 Bei der Bearbeitung der Sache muss er nochmals eigenständig den Ablauf der Frist zu prüfen. Er darf sich nicht auf den Eingangsstempel seiner Kanzlei verlassen, sondern muss prüfen, ob das Datum des Eingangsstempels mit dem auf dem gelben Umschlag eingetragenen Zustellungsdatum übereinstimmt.8 Ein eigenes Verschulden des Beraters liegt vor, wenn der Bevollmächtigte fehlerhaft die Frist anhand

1 Vgl. BFH v. 31.7.2002 – VI B 17/02, BFH/NV 2002, 1490. 2 BFH v. 16.9.2014 – II B 46/14, BFH/NV 2015, 49. 3 BFH v. 23.12.2005 – VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787; BGH v. 17.5.2004 – II ZB 22/03, NJW 2004, 2525. 4 BFH v. 26.7.1011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925. 5 BFH v. 31.1.2011 – III B 98/09, BFH/NV 2011, 823 m. w. N.; v. 22.9.2009 – IX R 93/07, BStBl. II 2010, 1032. 6 Vgl. ausführlich BFH v. 17.11.2015 – V B 56/15, BFH/NV 2016, 222. 7 BFH v. 13.11.1998 – X R 31/97, BFH/NV 1999, 941. 8 BFH v. 30.11.2010 – IV B 39/10, BFH/NV 2011, 613; v. 16.1.2009 – VII R 31/08, BFH/NV 2009, 951.

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E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.573 Kap. 3

des Eingangsstempels der Kanzlei berechnet hat.1 S. auch Rz. 3.557 ff. Stichwort „Büroorganisation und Büroversehen“. Hilfspersonen: Der Kläger braucht sich das Verschulden eines Angehörigen, Angestellten oder sonstigen Erfüllungsgehilfen, der kein gesetzlicher Vertreter oder Prozessbevollmächtigter ist, nicht zurechnen zu lassen. In Fällen dieser Art ist aber stets zu prüfen, ob die Fristversäumung durch die genannten Personen nicht auf einem eigenen Verschulden des Klägers selbst beruht, sei es, dass die betraute Person zur Erledigung derartiger Aufgaben nicht geeignet ist, sei es, dass der Kläger sie nicht genügend belehrt oder nicht ausreichend beaufsichtigt hat, sei es, dass er die Erstellung oder die Einreichung eines Rechtsbehelfs einer Person überlässt, ohne die Fristenwahrung durch diese zu überwachen.2

3.569

Dies gilt auch für Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe. Auch diese können Hilfspersonen wie Bürokräfte, Poststellenbedienstete beschäftigen. Jedoch ist der beim Prozessbevollmächtigten angestellte, verantwortlich tätige Steuerberater, der nicht nur unselbständige Hilfs- und Bürotätigkeiten ausübt, einem Bevollmächtigten des Klägers i. S. des § 85 Abs. 2 ZPO gleichgestellt,3 was bedeutet, dass sich der Prozessbevollmächtigte und damit auch der Kläger dessen Verschulden zurechnen lassen muss. Das gilt nur dann nicht, wenn ein angestellter Steuerberater lediglich zur büromäßigen Betreuung der in der Kanzlei eingehenden Rechtssachen – insbesondere bei der Fristenberechnung – eingesetzt ist und lediglich unselbständige Bürotätigkeiten ausübt, hier kommt nur ein sog. Überwachungsverschulden in Betracht.4

3.570

Irrtum über materielles Recht und Verfahrensrecht: Hier ist zu unterscheiden zwischen Irrtümern über materielles Recht und über Verfahrensrecht: Irrtümer über materielles Recht begründen grundsätzlich keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.5 Hier wird dem Steuerpflichtigen bzw. seinen steuerlichen Berater zugemutet, sich ausreichend zu informieren.

3.571

Ein unverschuldeter Rechtsirrtum über Verfahrensrecht kann beim nicht vertretenen Steuerpflichtigen nach ständiger Rechtsprechung des BFH aber zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führen, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung bezieht. Irrtümer über das Wesen einer Ausschlussfrist gehören nicht dazu.6

3.572

Bei Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe begründet die mangelnde Kenntnis über Verfahrensrecht und verfahrensrechtliche Fristen grundsätzlich einen Verschuldensvorwurf. Hier kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur ausnahmsweise in

3.573

1 BFH v. 15.7.2009 – II R 9/08, BFH/NV 2009, 1817 m. w. N. 2 Vgl. BFH v. 10.10.2011 – III B 126/10, BFH/NV 2012, 244; v. 16.10.1990 – VII R 64/89, BFH/NV 1991, 567; v. 23.10.2001 – VIII 51/01, BFH/NV 2002, 162. 3 BFH v. 13.9.2012 – XI R 13/12, BFH/NV 2013, 60 m. w. N.; v. 25.9.2008 – VII R 23/07, BFH/NV 2002, 807. 4 BFH v. 13.9.2012 – XI R 13/12, BFH/NV 2013, 60; v. 3.10.1985 – V B 88/84, BFH/NV 1987, 335. 5 BFH v. 8.6.2015 – X B 40/14, BFH/NV 2015, 1392; v. 23.3.2015 – X R 20/14, BStBl. II 2015, 709; v. 19.12.2006 – VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; v. 22.5.2006 – VI R 51/04, BStBl. II 2006, 833. 6 BFH v. 19.12.2006 – VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; v. 22.5.2006 – VI R 51/04, BStBl. II 2006, 833.

Schaumburg

211

Kap. 3 Rz. 3.574

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Betracht, wenn die Rechtslage in hohem Maße unsicher ist, die einzuhaltende Frist versäumt wurde, weil rechtlich vertretbare Überlegungen zu der Fristversäumung geführt haben, und schließlich trotz der Unsicherheit die Zweifel über die bestehende Frist bzw. die Möglichkeit der Fristwahrung auch durch zumutbare Ausschöpfung bestehender Informationsmöglichkeiten nicht ausgeräumt werden konnten.1 Krankheit:

3.574 Bei einer Erkrankung des Steuerpflichtigen ist eine Fristversäumnis entschuldigt, wenn es dem Erkrankten unmöglich oder unzumutbar war, die in einer Fristsache notwendigen Überlegungen anzustellen bzw. eine sachgemäße Beratung durch Dritte in Anspruch zu nehmen oder die fristwahrende Handlung selbst oder durch Dritte vornehmen zu lassen. Dies ist nur der Fall, wenn die Krankheit plötzlich eingetreten und/oder so schwer war, dass der Erkrankte zur Fristwahrung außerstande war.2 Eine dauerhafte Erkrankung entschuldigt eine Fristversäumnis nicht.3

3.575 Ein Angehöriger der rechts- und steuerberatenden Berufe muss sein Büro so organisieren, dass auch bei einer unvorhergesehenen Erkrankung alle dann noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Fristwahrung ergriffen werden. Er muss sicherstellen, dass auch in Fällen einer plötzlichen Erkrankung grundsätzlich Fristen gewahrt werden. So hat er sein Büro allgemein anzuweisen, im Falle seiner plötzlichen Verhinderung durch Krankheit oder sonstige Umstände für eine ausreichende Vertretung zu sorgen. Eine Erkrankung kann nur dann zur Wiedereinsetzung führen, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar auftritt und so schwer ist, dass es für den Prozessbevollmächtigten unzumutbar ist, die Frist einzuhalten oder rechtzeitig einen Vertreter zu bestellen. Der krankheitsbedingte Ausfall des Steuerberaters am letzten Tag der Frist rechtfertigt für sich genommen deshalb eine Wiedereinsetzung noch nicht. Vielmehr fehlt es an einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten nur dann, wenn infolge der Erkrankung weder kurzfristig ein Vertreter eingeschaltet noch ein Fristverlängerungsantrag gestellt oder ähnliche Maßnahmen ergriffen werden konnten.4 Der Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe ist auch in diesem Fall grundsätzlich nicht gehalten, für den Fall einer plötzlichen Erkrankung schon rein vorsorglich einen Vertreter zu bestellen; allerdings muss er konkrete Maßnahmen ergreifen, wenn er einen solchen Ausfall realistischer Weise vorhersehen kann.5

3.576 Ein schlüssiger Wiedereinsetzungsantrag erfordert die Darlegung einer geeigneten Notfallvorsorge, die auch bei einer unvorhersehbaren Verhinderung des Steuerberaters die Funktionsfähigkeit des Büros, insbesondere die Überwachung der Fristsachen, gewährleistet.6 Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ausgeschlossen, wenn das für die Bearbeitung zuständige Mitglied einer Sozietät erkrankt und die übrigen ebenfalls beauftragten Mitglieder der Sozietät es unterlassen, die erforderlichen fristwahrenden Maßnahmen zu ergreifen.7

1 BFH v. 9.12.1999 – III R 4/98, BFH/NV 2000, 987. 2 BFH v. 18.9.2012 – III B 61/12, BFH/NV 2012, 2004; v. 8.3.1990 – V B 159/88, BFH/NV 1991, 245; v. 11.12.1985 – I R 380/83, BFH/NV 1986, 742. 3 BFH v. 18.9.2012 – III B 61/12, BFH/NV 2012, 2004. 4 BFH v. 27.7.2015 – X B 107/14, BFH/NV 2015, 1431. 5 BFH v. 27.7.2015 – X B 107/14, BFH/NV 2015, 1431. 6 BFH v. 13.10.2006 – XI R 4/06, BFH/NV 2007, 253 m. w. N. 7 BFH v. 13.9.2002 – III B 39/02, BFH/NV 2003, 185.

212

Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.580 Kap. 3

Postverkehr: Der Kläger, der sich für die Einlegung seiner Klage der Post bedient, kann darauf vertrauen, dass die Post die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postzeiten auch einhält. Geschieht dies nicht, so darf ihm das, da er darauf keinen Einfluss hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden. Auch nach Erlass der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV)1 dürfen die Beteiligten darauf vertrauen, dass werktags im Bundesgebiet aufgegebene Postsendungen grundsätzlich am folgenden oder übernächsten Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden.2 Die Aushänge an den Briefkästen sind insoweit zu beachten. Wird also die Klagefrist infolge Verzögerung der Postlaufzeiten versäumt, ist nach st. Rechtsprechung grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

3.577

Wer die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des Nichteingangs eines angeblich rechtzeitig abgesandten fristgebundenen Schriftsatzes begehrt, muss genau darlegen, welche Person zu welcher Zeit (Tag, Uhrzeit) in welcher Weise (Einwurf in einen bestimmten Briefkasten oder Abgabe bei einer bestimmten Postfiliale) den Brief, in dem sich das fristgebundene Schreiben befunden haben soll, zur Post gegeben hat, also wer, was wann und wo veranlasst hat.3

3.578

Prozesskostenhilfe: Es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass ein Beteiligter, der wegen Mittellosigkeit nicht in der Lage ist, das gegebene Rechtsmittel rechtzeitig einzulegen, Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat, wenn er innerhalb der Rechtsmittelfrist alles Zumutbare tut, um das in seiner Mittellosigkeit bestehende Hindernis zu beheben. Das bedeutet, dass er bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist alle Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe zur Einlegung des Rechtsmittels schaffen muss. Hierzu gehört, dass innerhalb dieser Frist dem PKH-Antrag die nach § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie entsprechende Belege beigefügt werden.4 Ausnahmen gelten nur, sofern der Antragsteller nicht auch hieran wiederum ohne sein Verschulden gehindert ist. Der mittellose Beteiligte wird, was die beabsichtigte Rechtsverfolgung angeht, grundsätzlich bis zur Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag als ohne sein Verschulden an der wirksamen Einlegung des Rechtsmittels verhindert angesehen.5

3.579

Telefax: Ein fristgebundener Schriftsatz, der dem Gericht per Telefax übermittelt wird, geht nur dann fristgerecht bei Gericht ein, wenn er innerhalb der Frist vollständig, d. h. einschließlich der Seite, welche die Unterschrift trägt, aufgezeichnet worden ist.6 Wer einen fristgebundenen Schriftsatz mittels Telefax einlegt, muss mit der Übermittlung so rechtzeitig beginnen, dass

1 V. 15.12.1999, BGBl. I 1999, 2418. 2 BFH v. 8.5.2006 – VII B 219/05, BFH/NV 2006, 1504 m. w. N. 3 BFH v. 9.6.2015 – X R 38/14, BFH/NV 2015, 1379; v. 15.5.2003 – VII B 246/02, BFH/NV 2003, 1206. 4 BFH v. 29.4.2013 – III S 29/12 (PKH), BFH/NV 2013, 1116; v. 25.7.2012 – X S 14/12, BFH/NV 2012, 1821. 5 Vgl. BFH v. 26.8.1994 – X S 6/94, BFH/NV 95, 540; v. 20.4.1988 – X S 13/87, BFH/NV 1988, 728 m. w. N. 6 BFH v. 20.12.2006 – I B 70/06, BFH/NV 2007, 929.

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213

3.580

Kap. 3 Rz. 3.581

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

diese unter gewöhnlichen Umständen vor Fristablauf abgeschlossen ist.1 Der Absender trägt grundsätzlich das Risiko des rechtzeitigen Zugangs.

3.581 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann in Betracht kommen, wenn der unvollständige Eingang eines Schriftstücks auf eine Betriebsstörung des Telefaxgerätes (beim Empfänger) zurückzuführen ist, die der Absender nicht zu vertreten hat.2 Demgegenüber ist die Belegung eines angewählten Empfangsgerätes eines Gerichts durch andere Teilnehmer in den Abend- und Nachtstunden ein gewöhnliches Ereignis, auf das sich der Rechtsuchende einstellen muss, da diese Zeit wegen günstiger Tarife und wegen drohenden Fristablaufs genutzt wird, um fristwahrende Schriftsätze per Telefax zu übermitteln.3

3.582 Bei einer Fristausnutzung bis zuletzt ist besondere Vorsicht geboten. Scheitert etwa die Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes wenige Minuten vor Ablauf der Frist daran, dass das Empfangsgerät des Gerichts zu dieser Zeit durch eine andere Sendung belegt war, stellt dies ein gewöhnliches und wegen des drohenden Fristablaufs vorhersehbares Ereignis dar, auf das sich der Nutzer einstellen muss und das keine Wiedereinsetzung rechtfertigt.4 Soll die Klage per Telefax eingereicht werden, so muss der Steuerpflichtige bzw. sein Berater mit der Versendung des Faxes rechtzeitig beginnen, damit die vollständige Klageschrift vor 24.00 Uhr bei dem Gericht eingeht. Dabei muss er über die zu erwartende Übermittlungsdauer hinaus zeitlich einen Sicherheitszuschlag – laut BFH-Rechtsprechung 20 Minuten – einkalkulieren, da mit Verzögerungen aufgrund der Belegung des Empfangsgeräts gerechnet werden muss.5 Auch eine nur äußerst geringfügige Überschreitung der Frist zur Übermittlung der Klage (verspäteter Fax-Eingang der letzten Seite mit der Unterschrift des Prozessbevollmächtigten um 00:02 Uhr) ist von Bedeutung, damit Rechtssicherheit herrscht.6 Vertreterverschulden:

3.583 Es ist genau zu unterscheiden, ob den Beteiligten selbst7 oder seinen Vertreter8 ein Verschulden an der Fristversäumung trifft. Dabei muss der Kläger sich das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gem. § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.9 In beiden Fällen kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Trifft den Kläger selbst aber kein Verschulden, sondern nur seinem Berater, so kann er diesen ggf. in Haftung nehmen. Die Sorgfaltsanforderungen an einen berufsmäßigen Berater mindern sich auch dann nicht, wenn der nach wie vor als Steuerberater zugelassene Prozessbevollmächtigte altersbedingt aus einer Steuerberatungsgesellschaft ausgeschieden ist und nur noch nebenbei Mandate betreut.10

1 BFH v. 28.11.2000 – VI B 5/00, BStBl. II 2001, 32. 2 BFH v. 25.11.1996 – III R 8/96, BFH/NV 1997, 366. 3 BFH v. 25.11.2003 – VII R 9/03, BFH/NV 2004, 519 unter Berufung auf BVerfG v. 19.11.1999 – 2 BvR 565/98, NJW 2000, 574. 4 BVerwG v. 1.9.2014 – 2 B 93/13, juris m. w. N. 5 BFH v. 8.10.2015 – VII B 147/14, BFH/NV 2016, 214. 6 BFH v. 2.12.1991 – V B 116/91, BFH/NV 1992, 532. 7 S. dazu die alphabetische Aufstellung bei Söhn in HHSp, § 56 FGO Rz. 76 ff. 8 S. dazu die alphabetische Aufstellung bei Söhn in HHSp, § 56 FGO Rz. 306 ff. 9 Vgl. auch BFH v. 31.7.2007 – IX R 47/06, BFH/NV 2007, 2136. 10 So BFH v. 31.7.2007 – IX R 47/06, BFH/NV 2007, 2136.

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Schaumburg

E. Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage

Rz. 3.588 Kap. 3

4. Verfahren bei der Wiedereinsetzung

3.584

Verfahrensmäßig setzt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand voraus: – den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, – den Vortrag der Wiedereinsetzungsgründe und – die Nachholung der versäumten Rechtshandlung (Klageerhebung)! Der Antrag, der Vortrag der Wiedereinsetzungsgründe und die Klageerhebung müssen innerhalb der in § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO normierten Zweiwochenfrist, beginnend mit dem Wegfall des Hindernisses, erfolgen. Nur die Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe kann im Verfahren über den Antrag nachgeschoben werden.

3.585

Erforderlich ist zunächst ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In dem Antrag muss eindeutig, klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht werden, dass Wiedereinsetzung begehrt wird. Der Antrag ist in der Form vorzunehmen, die für die versäumte Rechtshandlung gilt (§ 155 FGO i. V. m. § 236 Abs. 1 ZPO). Wird die Klagefrist versäumt, so ist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Schriftform erforderlich. Wird ein Antrag auf Wiedereinsetzung beim BFH gestellt, ist der Vertretungszwang zu beachten.

3.586

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist fristgebunden: Er ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Nur bei Versäumung der Begründungsfrist für die Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde sieht § 56 Abs. 2 2. Halbs. FGO eine Frist von einem Monat vor. Innerhalb dieser Frist muss auch die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags erfolgen und der betreffende Rechtsbehelf (z. B. die Klage) nachgeholt werden. Die Frist beginnt zu laufen, sobald das Hindernis, durch das die Fristversäumnis verursacht wurde, wegfällt.

3.587

Das Hindernis für die Einhaltung der Klagefrist fällt weg, sobald der Kläger oder sein Bevollmächtigter erkannt hat oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können und müssen, dass die Frist versäumt ist.1 Diese Verschuldensabhängigkeit des „Wegfalls des Hindernisses“ i. S. des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO gilt unabhängig davon, ob der Kläger vertreten ist oder nicht.2

3.588

Beispiel 1: Ausweislich des Übersendungsprotokolls des Faxgerätes steht fest, dass ein mehrseitiger, fristwahrender Schriftsatz in der Nacht des Fristablaufs erst nach 24:00 Uhr versandt worden ist. Vergewissert der Absender sich bei Gericht nicht durch entsprechende Nachfrage, ist gleichwohl von einem Beginn der Wiedereinsetzungsfrist am Tag nach dem Fristablauf auszugehen, da die Fristversäumung aufgrund des Übertragungsprotokolls bekannt ist und die gebotene Nachfrage bei Gericht die Fristversäumung offenbart hätte.3 Beispiel 2: Erkennt der Prozessbevollmächtigte, dass aufgrund eines Programmabsturzes des zur Fristenüberwachung eingesetzten Computerkalendariums möglicherweise auch der dort eingetragene Termin für die Klageerhebung verloren gegangen war, so ist das Hindernis für die Fristversäumnis (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO) bereits zu diesem Zeitpunkt und nicht erst dann weggefallen, wenn er von der Fristversäumnis tatsächlich Kenntnis erlangt.4 1 2 3 4

BFH v. 26.1.2016 – III S 30/15 (PKH), BFH/NV 2016, 766 m. w. N. BFH v. 26.1.2016 – III S 30/15 (PKH), BFH/NV 2016, 766 m. w. N. BFH v. 28.2.2014 – V B 32/13, BFH/NV 2014, 885. BFH v. 23.12.2005 – VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787.

Schaumburg

215

Kap. 3 Rz. 3.589

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Beispiel 3: A will gegen den Einkommensteuerbescheid vor dem Finanzgericht Köln Klage erheben. Zwei Tage vor Ablauf der Klagefrist wirft A die Klage in einen Postbriefkasten in Köln ein. Die Klage geht beim Finanzgericht erst zwei Tage nach Ablauf der Klagefrist ein. Hier beginnt die Zweiwochenfrist in dem Zeitpunkt, zu dem A von der Fristversäumnis Kenntnis erlangt, etwa wenn A die Eingangsmitteilung des Gerichts erhält, oder spätestens dann, wenn ihm ausdrücklich mitgeteilt worden ist, z. B. durch einen entsprechenden Hinweis des Berichterstatters, dass er die Frist versäumt hat.1

3.589 Die die Wiedereinsetzung begründenden wesentlichen Tatsachen müssen innerhalb der Frist vollständig, substantiiert und schlüssig dargestellt werden. Zum schlüssigen Vortrag derartiger Tatsachen sind die genaue Beschreibung des Hindernisses, das der Fristwahrung entgegenstand, und die vollständige Darlegung der Ereignisse, die das Unverschulden an der Fristversäumnis belegen sollen, erforderlich.2 Beispiel 1: Bei einer Fristversäumnis infolge einer Erkrankung sind z. B. die Tatsachen anzugeben, aus denen sich Art und Schwere der Erkrankung in der Weise ergeben, dass sie die Annahme erlauben, dass es aufgrund der Schwere der Krankheit nicht möglich war, einen fristwahrenden Schriftsatz rechtzeitig einzureichen. Bei Erkrankung des Prozessbevollmächtigten sind darüber hinaus die für diesen Fall getroffenen organisatorischen Maßnahmen, um Fristversäumnisse auszuschließen, darzulegen.3 Beispiel 2: Wird z. B. die fristgerechte Absendung einer beim Gericht nicht eingegangenen Klageschrift behauptet, sind innerhalb der Zweiwochenfrist alle Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die rechtzeitige Absendung bzw. Aufgabe des fristwahrenden Schriftsatzes zur Post ergibt, wobei nicht nur die Versendungsart, sondern auch angegeben werden muss, welche Person den Schriftsatz wann (Tag und Uhrzeit) und auf welche Weise (Abgabe beim Postamt oder Einwurf in einen bestimmten Postbriefkasten) zur Post aufgegeben hat (wer, was, wann und wo).4

3.590 Besondere Anforderungen werden an die schlüssige Darlegung des Wiedereinsetzungsgrundes „Büroversehen“ gestellt. Dabei muss der Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe darlegen, dass kein Organisationsfehler vorliegt, d. h. dass er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat.5 Er muss dabei die Fristenkontrolle sowie die Postausgangskontrolle nach Art und Umfang schildern, die dann während des Verfahrens durch Vorlage des Fristenkontrollbuchs und des Postausgangsbuchs glaubhaft gemacht werden kann. Denn entscheidend sind insoweit insbesondere die Eintragung der Frist in ein Fristenkontrollbuch, das Festhalten der Absendung fristwahrender Schriftstücke in einem Postausgangsbuch und das Löschen einer Frist auf der Grundlage der Ausgangseintragung im Postausgangsbuch.6

3.591 Eine Erläuterung oder Ergänzung des das Versäumnis und die unverschuldete Verhinderung begründenden Sachverhalts ist auch noch nach Ablauf der Zweiwochenfrist möglich, wenn innerhalb der Frist der Kern der Wiedereinsetzungsgründe bereits schlüssig vorgetragen 1 BFH v. 9.8.2004 – VI B 161/02, BFH/NV 2004, 1668; vgl. auch Brandis in Tipke/Kruse, § 56 FGO Rz. 20. 2 BFH v. 18.1.2005 – X B 181/03, n. v. 3 BFH v. 18.1.2005 – X B 181/03, n. v., mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 4 St. Rspr., BFH v. 18.10.2004 – I B 40/04, n. v. 5 BFH v. 18.1.2007 – III R 65/05, BFH/NV 2007, 945; v. 25.6.2003 – XI B 186/02, BFH/NV 2003, 1589. 6 Vgl. hierzu ausführlich BFH v. 17.11.2015 – V B 56/15, BFH/NV 2016, 222 m. w. N.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.593 Kap. 3

worden ist.1 Die Schließung von Lücken eines zuvor noch nicht schlüssigen Vortrags erst nach Ablauf der Antragsfrist wird von der Rechtsprechung aber ebenso wenig berücksichtigt wie das Nachschieben zuvor nicht vorgetragener Wiedereinsetzungsgründe.2 Ausgeschlossen ist es, nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist einen völlig neuen Sachverhalt nachzuschieben. Der Antragsteller soll nicht später neue, möglicherweise wechselnde Gründe vortragen können, für deren Glaubhaftmachung er sich bessere Erfolgsaussichten erhofft.3 Lediglich unklare oder unvollständige Angaben können erläutert oder ergänzt werden.4 Die Tatsachen, die den Wiedereinsetzungsantrag rechtfertigen sollen, sind entweder mit dem Wiedereinsetzungsantrag oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Mittel der Glaubhaftmachung ist jedes in § 81 FGO genannte Beweismittel (Augenscheineinnahme, Zeugen, Sachverständige, Parteivernehmung, Urkunden). Zusätzlich kommt gem. § 155 FGO i. V. m. § 294 Abs. 1 ZPO die eidesstattliche Versicherung in Betracht, und zwar die des Klägers selbst oder aber die eines in Betracht kommenden Zeugen (z. B. eines Bürogehilfen) oder Sachverständigen oder aber auch die des Prozessbevollmächtigten selbst. Dabei sollte in der Praxis mit der eidesstattlichen Versicherung, die bei Unrichtigkeit gem. § 153 StGB mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bedroht ist, äußerst gewissenhaft und nicht leichtfertig umgegangen werden. Es muss immer damit gerechnet werden, dass das Gericht den Betreffenden später als Zeugen vernimmt und sich dabei herausstellen könnte, dass die eidesstattliche Versicherung unrichtig war.

3.592

In der Praxis empfiehlt es sich, den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gleichzeitig mit der Einlegung des Rechtsmittels zu verbinden und sofort zu begründen. Sonst besteht die Gefahr, dass die nachzuholende Rechtshandlung (Klageerhebung) vergessen wird. Auch die Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe sollte möglichst schon innerhalb der Zweiwochenfrist erfolgen, auch wenn es zulässig ist, diese später glaubhaft zu machen.

3.593

3.594–3.603

Einstweilen frei.

F. Die Durchführung des Verfahrens I. Die Spruchkörper und ihre Mitglieder Literatur: Albert, Zur Besetzung des Gerichts bei Wiederaufnahmeklagen gemäß § 134 FGO, §§ 578 ZPO gegen Urteile des Einzelrichters, DStZ 1998, 239; Albert, Zur hinreichenden Bestimmung des gesetzlichen Richters, DStR 2001, 67; Classen, Senat oder Einzelrichter – wer kann einen FG-Rechtsstreit abschließend entscheiden?, GStB 2004, 73; Gilles, Richterliche Unabhängigkeit und parteipolitische Bindung von Richtern, DRiZ 1983, 41; Hartmann, Senat oder Einzelrichter – wer entscheidet und wie kann man Einfluss nehmen?, GStB 2015, 27; Müller, Beweisaufnahme vor dem beauftragten Richter, DRiZ 1977, 305; Nieland, Entscheidung durch den konsentierten Einzelrichter, AO-StB 2012, 119; Pahlke, Vorlagebeschlüsse an das BVerfG durch konsentierten Einzelrichter?, DB 1997, 2454; Rößler, Darf der BFH darüber befinden, ob im zweiten Rechtsgang der Vollsenat oder der Einzelrichter des FG zur Entscheidung berufen ist?, DStZ 1996, 726; Rößler, Der Einzelrichter im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ 1993, 97; Rößler, Der Senatsvorsitzende als Einzelrichter, DStZ 1993, 626; Rößler, Einzelrichter – oder Senatszuständigkeit nach Zurückverweisungen durch den Bundes1 2 3 4

BFH v. 18.3.2014 – VIII R 33/12, BStBl. II 2014, 922 m. w. N. BFH v. 18.3.2014 – VIII R 33/12, BStBl. II 2014, 922. So ausdrücklich BFH v. 6.12.2011 – XI B 3/11, BFH/NV 2012, 707. BFH v. 9.11.1999 – XI R 17/99, BFH/NV 2000, 583.

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Kap. 3 Rz. 3.604

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

finanzhof, StB 1998, 77; Rößler, Konsentierter Einzelrichter, DStZ 2004, 167; Rößler, Selbstbestellung als Einzelrichter, DStZ 1999, 875; Rößler; Der Kompetenzkonflikt zwischen Senat und Einzelrichter im Rahmen des § 79a FGO, DStZ 1995, 404; Schröder, Zur Verfassungsmäßigkeit des „Rotationssystems“ in Geschäftsverteilungsplänen, DRiZ 2006, 291; Trossen, Bestellung von Richtern im Abordnungs- und Erlassweg in der Finanzgerichtsbarkeit – Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit und das Gebot des gesetzlichen Richters?, DStR 2014, 1810; Werner, Ordnungsgemäße Besetzung eines Spruchkörpers bei Vakanz der Vorsitzendenstelle, NJW 2007, 2671.

1. Senate

3.604 Entscheidungen werden beim Finanzgericht grundsätzlich durch Senate getroffen. Die Zuständigkeit des für die Entscheidung zuständigen Senats ergibt sich aus dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts, der vom Präsidium bestimmt wird (§ 4 FGO i. V. m. § 21e Abs. 1 GVG). Darin regelt das Präsidium die personelle Besetzung der Senate und, damit der gesetzliche Richter gewahrt wird (s. Rz. 3.847 ff.), nach abstrakten Merkmalen die Verteilung der Geschäfte auf die Senate (z. B. Verteilung der Zuständigkeit nach Finanzämtern, Sachgebieten oder dergl.).

3.605 Die Senate entscheiden in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern, soweit nicht ein Einzelrichter entscheidet (§ 5 Abs. 3 Satz 1 FGO).

3.606 Zu den Berufsrichtern gehören gem. § 14 Abs. 1 FGO die Richter auf Lebenszeit sowie gem. § 15 FGO die Richter auf Probe oder Richter kraft Auftrags. Als Richter auf Probe (§§ 12, 13 DRiG) kommen Inhaber der Befähigung zum Richteramt in Betracht, die später als Richter auf Lebenszeit verwendet werden sollen und in einer Probezeit ihre Eignung für eine Anstellung auf Lebenszeit nachweisen sollen. Sie führen die Dienstbezeichnung „Richter“ (§ 19a Abs. 3 DRiG). Zum Richter kraft Auftrags kann ein Beamter auf Lebenszeit oder auf Zeit ernannt werden, der später als Richter auf Lebenszeit verwendet werden soll (§ 14 Abs. 1 DRiG). Er behält sein bisheriges Amt sowie seine bisherige Besoldung und Versorgung. Im Übrigen ruhen für die Dauer des Richterverhältnisses kraft Auftrags die Rechte und Pflichten aus dem Beamtenverhältnis.

3.607 Bei einer gerichtlichen Entscheidung darf nicht mehr als ein Richter auf Probe oder ein Richter kraft Auftrags oder ein abgeordneter Richter mitwirken. Er muss als solcher in dem Geschäftsverteilungsplan kenntlich gemacht werden.1 Ebenso setzt Art. 101 Abs. 1 GG einer Überbesetzung der einzelnen Senate Grenzen. Eine Überbesetzung, das bedeutet, eine Besetzung mit mehr als drei Berufsrichtern neben dem Vorsitzenden, ist jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn es die Zahl der Richter eines Senats gestattet, dass sie in zwei personell voneinander verschiedenen Gruppen Recht sprechen, oder wenn der Vorsitzende mehrere Spruchkörper mit jeweils verschiedenen Beisitzern bilden kann.2 Dies ist der Fall, wenn ein Senat mit vier oder mehr beisitzenden Richtern besetzt ist.

3.608 Wie die Berufsrichter sind auch die ehrenamtlichen Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Sie wirken bei der mündlichen Verhandlung und bei der Urteilsfindung mit gleichen Rechten wie die Berufsrichter mit (§ 16 FGO). Obwohl bei ihrer Auswahl Berufsvertretungen mitwirken (§ 25 FGO), sind die ehrenamtlichen Richter nicht Interessenvertreter ihrer Verbände. Sie haben ihre Pflichten getreu dem Gesetz zu erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und 1 § 29 Satz 2 DRiG; vgl. auch BFH v. 18.11.1969 – II R 90/67, BStBl. II 1970, 127. 2 BFH v. 29.1.1992 – VIII K 4/91, BStBl. II 1992, 252.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.612 Kap. 3

Gerechtigkeit zu dienen, wie sich aus ihrem Amtseid ergibt (vgl. § 38 Abs. 1 DRiG). Wegen ihrer den Berufsrichtern gleichen Stellung in der Verhandlung und bei der Entscheidung gilt der Grundsatz des gesetzlichen Richters auch für die ehrenamtlichen Richter. Dies bedeutet: Auch bei der Bestimmung der ehrenamtlichen Richter, die an einer mündlichen Verhandlung mitwirken sollen, ist nach einem vorher festgelegten Geschäftsverteilungsplan zu verfahren. Das Präsidium des Finanzgerichts bestimmt deshalb vor Beginn des Geschäftsjahres durch Aufstellung einer Liste die Reihenfolge, in der die ehrenamtlichen Richter heranzuziehen sind (s. dazu Rz. 3.851), deren Zuordnung zu den einzelnen Sitzungen erfolgt durch den Geschäftsverteilungsplan des jeweiligen Senats (s. hierzu Rz. 3.852). Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit (§ 5 Abs. 3 Satz 2 FGO). Die ehrenamtlichen Richter sind also z. B. bei folgenden Entscheidungen nicht beteiligt, soweit sie außerhalb der mündlichen Verhandlung ergehen:

3.609

– Beiladung Dritter zum Verfahren (§ 60 Abs. 4 FGO), – Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 2, 3 FGO), – Verbindung und Trennung von Verfahren (§ 73 FGO), – Beweisbeschlüsse (§ 82 FGO), – einstweilige Anordnungen (§ 114 FGO), – Gerichtsbescheide des Senats, – Gerichtsbescheide des Berichterstatters. Bei Urteilen ohne mündliche Verhandlung (wegen Verzichts der Beteiligten auf mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 FGO; s. auch Rz. 3.997 ff.) müssen die ehrenamtlichen Richter mitwirken, da es sich hierbei nicht um Gerichtsbescheide oder Beschlüsse, sondern um „normale“ Urteile handelt.

3.610

2. Einzelrichter Literatur: Felix, Der neugeschaffene „Finanz-Einzelrichter“ – Ausbau oder Abbau des Steuer-Rechtsschutzes, DB 1993, 1; Felix, Kurzer Steuer-Prozess vor dem FG-Einzelrichter, KÖSDI 1993, 9253; Gramich, Der Einzelrichter nach dem Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung, DStR 1993, 6; Günther, Rechtsbehelfe gegen Einzelrichterübertragung, NVwZ 1998, 37; Krömker, Die mündliche Verhandlung im Steuerprozess, AO-StB 2014, 306; Loose, Der Einzelrichter im finanzgerichtlichen Verfahren, StuW 2006, 376; Loose, Der Einzelrichter im finanzgerichtlichen Verfahren – wann kann/ muss er worüber entscheiden?, AO-StB 2009, 52; Rößler, Einzelrichtervorlage an das Bundesverfassungsgericht unzulässig, DStZ 1998, 723.

Der Einzelrichter nach § 6 FGO oder der konsentierte Berichterstatter nach § 79a Abs. 3 FGO treten an die Stelle des Senats. Will der Kläger vermeiden, dass der Einzelrichter entscheidet, so sollte er bereits in der Klageschrift der Übertagung auf den Einzelrichter widersprechen.1

3.611

Nach § 6 FGO kann der Senat den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Voraussetzung hierfür ist gem. § 6 Abs. 1 FGO, dass

3.612

1 So auch Krömker, AO-StB 2014, 306.

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219

Kap. 3 Rz. 3.613

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und – die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat.

3.613 Einer Zustimmung oder vorherigen Anhörung der Verfahrensbeteiligten hierzu bedarf es nicht.1 Allerdings wird in der Praxis häufig vor der Einzelrichterübertragung nach § 6 FGO auf die entsprechende Möglichkeit hingewiesen und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Rechtsstreit darf allerdings dem Einzelrichter dann nicht übertragen werden, wenn bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist (§ 6 Abs. 2 FGO).

3.614 Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf den Senat zurück übertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist dann allerdings ausgeschlossen (§ 6 Abs. 3 FGO).

3.615 Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ist ebenso wie die Rückübertragung durch den Einzelrichter auf den Senat unanfechtbar. Außerdem hat der Gesetzgeber die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Einzelrichter und Senat in vollem Umfang irreversibel ausgestaltet: Die unterlassene Übertragung ist der Revision entzogen (§ 6 Abs. 4 Satz 2 FGO) ebenso wie der nicht selbständig anfechtbare Rückübertragungsbeschluss des Einzelrichters (§ 124 Abs. 2 FGO). Die Entscheidung, den Rechtsstreit nach § 6 Abs. 1 FGO auf den Einzelrichter zur Entscheidung zu übertragen, ist nach § 6 Abs. 4 Satz 1 FGO zwar ebenfalls unanfechtbar. Sie kann allerdings ausnahmsweise mit der Verfahrensrevision gerügt werden, wenn die diesbezügliche Entscheidung greifbar gesetzwidrig ist und einen Missbrauch darstellt.2 Dies ist sie aber nur dann, wenn sie mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist, weil sie jeder Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd ist.3 Die gleichen Grundsätze gelten auch für die in § 6 Abs. 3 Satz 1 FGO vorgesehene Möglichkeit der Rückübertragung des Rechtsstreits vom Einzelrichter auf den Senat.4

3.616 Der Einzelrichter entscheidet ohne ehrenamtliche Richter. Allerdings ist in § 5 Abs. 4 FGO den Ländern die Möglichkeit eingeräumt, durch Gesetz die Mitwirkung von zwei ehrenamtlichen Richtern an den Entscheidungen des Einzelrichters vorzusehen. Von dieser Möglichkeit hatte allerdings auch nur bis 2006 lediglich das Land Niedersachsen Gebrauch gemacht.5

3.617 Einzelrichterliche Zuständigkeit hat auch der sog. konsentierte Richter nach § 79a Abs. 3 i. V. m. Abs. 4 FGO. Danach ist eine Entscheidung durch den Vorsitzenden/Berichterstatter als Einzelrichter zulässig, wenn die Beteiligten ihr Einverständnis dazu erklärt haben (konsentierter Einzelrichter).6 Der Widerruf einer Einverständniserklärung zu einer Entscheidung durch den Berichterstatter nach § 79a Abs. 3 und Abs. 4 FGO ist, da es sich hierbei um eine 1 BFH v. 22.1.2009 – VIII B 78/08, BFH/NV 2009, 779; v. 16.11.1999 – XI R 97/97, BFH/NV 2000, 585. 2 Vgl. BFH v. 26.10.2006 – IX B 9/06, BFH/NV 2007, 447 m. w. N.; v. 12.12.2013 – 3 B 55/12, BFH/ NV 2014, 575. 3 BFH v. 26.10.2006 – IX B 9/06, BFH/NV 2007, 447. 4 BFH v. 15.4.2014 – V S 5/14 (PKH), BFH/NV 2014, 1381. 5 Brandis in Tipke/Kruse, § 5 FGO Rz. 4. 6 BFH v. 26.4.2005 – VII B 83/04, BFH/NV 2005, 1592.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.620 Kap. 3

einseitig gestaltende Prozesserklärung handelt,1 grundsätzlich nicht zulässig.2 Jedenfalls ist ein Widerruf dann ausgeschlossen, wenn sich die Prozesslage bei objektiver Betrachtung nachträglich nicht wesentlich geändert hat.3 Dies folgt aus der Funktion des § 79a Abs. 3 und 4 FGO, es den Beteiligten zu ermöglichen, im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung eine Entscheidung durch ein einzelnes Mitglied des an sich zuständigen Senats herbeizuführen. In Übereinstimmung mit diesem Zweck und wegen der Notwendigkeit klarer prozessualer Verhältnisse kommt ein jederzeitiger Widerruf ohne wesentliche Veränderung der Prozesslage nicht in Betracht.4 Auch hier ergeht die Entscheidung ohne ehrenamtliche Richter. Deren Mitwirkung ist wie bei der Entscheidung des Einzelrichters nach § 6 FGO an die besonderen Voraussetzungen des § 5 Abs. 4 FGO gebunden,5 wovon derzeit kein Bundesland Gebrauch gemacht hat.

3.618

3. Vorsitzender Jeder Senat besitzt einen Vorsitzenden. Der Vorsitzende führt den Vorsitz im Senat und soll einen richtungweisenden Einfluss auf die Rechtsprechung des Senats im Allgemeinen ausüben.6 Bei der Rechtsfindung im konkreten Einzelfall sind allerdings die Aufgaben und Verantwortung der Mitglieder des Senats gleich.

3.619

Dem Vorsitzenden sind nach der Finanzgerichtsordnung zahlreiche Aufgaben übertragen:

3.620

– Der Vorsitzende verfügt den Termin zur mündlichen Verhandlung und bestimmt den Entscheidungstermin ohne mündliche Verhandlung (§ 91 FGO; § 155 FGO i. V. m. § 216 ZPO). – Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, dass Formfehler beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Angaben abgegeben werden (§ 76 Abs. 2 FGO). – Der Vorsitzende eröffnet und leitet die mündliche Verhandlung (§ 92 Abs. 1 FGO). Er hat die Streitsache mit den Beteiligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern und die mündliche Verhandlung nach Erörterung der Streitsache für geschlossen zu erklären (§ 93 Abs. 1, 3 FGO). – Dem Vorsitzenden obliegt darüber hinaus die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung (§ 52 FGO i. V. m. § 176 GVG; s. auch Rz. 3.911 ff.). – Der Vorsitzende leitet die Beratung, stellt die Fragen und sammelt die Stimmen (§ 52 FGO i. V. m. § 194 Abs. 1 GVG). – Der Vorsitzende unterzeichnet das Sitzungsprotokoll (§ 94 FGO i. V. m. § 163 Abs. 1 ZPO). 1 Seer in Tipke/Kruse, § 79a FGO Rz. 20. 2 Vgl. etwa Bartone in Kühn/von Wedelstädt, § 79a FGO Rz. 4; Seer in Tipke/Kruse, § 79a FGO Rz. 20; offen gelassen zuletzt in BFH v. 10.1.2016 – X B 79/15, BFH/NV 16, 763 m. w. N. 3 BFH v. 10.1.2016 – X B 79/15, BFH/NV 2016, 763; ebenso Stapperfend in Gräber, § 79a FGO Rz. 26. 4 BFH v. 10.1.2016 – X B 79/15, BFH/NV 2016, 763. 5 BFH v. 15.12.1998 – VIII R 74/97, BStBl. II 1999, 300. 6 BFH v. 8.9.2006 – II B 42/05, BFH/NV 2007, 77.

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Kap. 3 Rz. 3.621

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– Der Vorsitzende kann gem. § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO in dringenden Fällen die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes aussetzen. Außerdem kann er in dringenden Fällen gem. § 114 Abs. 2 Satz 3 FGO eine einstweilige Anordnung erlassen.

3.621 Gem. § 79a Abs. 1 FGO entscheidet der Vorsitzende, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren (also vor der mündlichen Verhandlung) ergeht, – über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens (Nr. 1), – bei Zurücknahme der Klage, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (Nr. 2), – bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (Nr. 3), – über den Streitwert (Nr. 4), – über die Kosten (Nr. 5), – über die Beiladung (Nr. 6).

3.622 Außerdem kann der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid i. S. des § 90a FGO entscheiden (§ 79a Abs. 2 Satz 1 FGO). Gegen diesen Gerichtsbescheid ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids ausschließlich der Antrag auf mündliche Verhandlung gegeben (§ 79a Abs. 2 Satz 2 FGO). Eine Revision oder Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist nicht statthaft.1

3.623 Ferner kann der Vorsitzende mit Einverständnis der Beteiligten auch sonst als konsentierter Einzelrichter an Stelle des Senates entscheiden (vgl. § 79a Abs. 3 FGO; s. Rz. 3.633 f.).

3.624 Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser in den o. g. Fällen des § 79a Abs. 1-3 FGO an Stelle des Vorsitzenden (§ 79a Abs. 4 FGO). 4. Berichterstatter

3.625 Bei der praktischen Bearbeitung der Verfahren kommt dem Berichterstatter eine wichtige Funktion zu. Berichterstatter ist derjenige Berufsrichter, dem im konkreten Einzelfall die Aufgabe übertragen ist, alle Anordnungen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (§ 79 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Berichterstatter ist unabhängiger Richter und unterliegt bei der Durchführung seiner vorbereitenden Maßnahmen nicht den Weisungen des Senatsvorsitzenden.

3.626 Die Bestimmung zum Berichterstatter erfolgt nach Klageeingang durch den Vorsitzenden. In aller Regel ergibt sich der Berichterstatter bereits aus dem Senatsgeschäftsverteilungsplan. Einen solchen Geschäftsverteilungsplan hat gem. § 21g GVG der Senat jeweils vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer zu beschließen (s. Rz. 3.852 ff.). Die Bestimmung des Berichterstatters erfolgt in der Praxis unmittelbar nach Eingang der Klage.

3.627 Im Rahmen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung kann der Berichterstatter gem. § 79 Abs. 1 Satz 2 FGO insbesondere

1 BFH v. 17.3.2009 – X B 18/09, juris; v. 27.1.2006 – II B 1160/04, BFH/NV 2006, 908; v. 3.11.1993 – II R 77/93, BStBl. II 1994, 118.

222

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.630 Kap. 3

– die Beteiligten zur Erörterung des Sach- und Streitstandes und zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreites laden (Nr. 1), – den Beteiligten die Ergänzung oder Erläuterung ihrer vorbereiteten Schriftsätze sowie die Vorlegung von Urkunden, die Übermittlung von elektronischen Dokumenten und die Vorlegung von anderen zur Niederlegung bei Gericht geeigneten Gegenständen aufgeben, insbesondere eine Frist zur Erklärung über bestimmte klärungsbedürftige Punkte setzen (Nr. 2), – Auskünfte einholen (Nr. 3), – die Vorlage von Urkunden oder die Übermittlung von elektronischen Dokumenten anordnen (Nr. 4), – das persönliche Erscheinen der Beteiligten anordnen (Nr. 5; durch die Bezugnahme auf § 80 FGO wird dem Berichterstatter auch die Möglichkeit eröffnet, für den Fall des Ausbleibens ein Ordnungsgeld anzudrohen und bei schuldhaftem Ausbleiben des Beteiligten durch Beschluss das angedrohte Ordnungsgeld festzusetzen), – Zeugen und Sachverständige zur mündlichen Verhandlung laden (Nr. 6). Die Beteiligten sind von jeder Anordnung, die der Berichterstatter trifft, zu benachrichtigen (§ 79 Abs. 2 FGO). Hierdurch soll erreicht werden, dass die Beteiligten über den jeweiligen Verfahrensstand im Bilde sind.

3.628

In § 79 Abs. 3 FGO ist zusätzlich ausdrücklich vorgesehen, dass auch der Berichterstatter einzelne Beweise erheben kann. Nach einhelliger Auffassung in der Literatur1 handelt es sich hierbei um einen Ausnahmetatbestand, der vor allem für die Beweiserhebung durch Augenscheinseinnahme und Urkundenvorlage geeignet ist. Die Vernehmung eines Zeugen kommt nur in Betracht, wenn von vornherein keine Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit bestehen und zu erwarten ist, dass sich der Rechtsstreit vor dem Berichterstatter erledigt. Es ist unzulässig, die Beweiserhebung vollständig in das Verfahren nach § 79 Abs. 3 FGO zu verlagern.2 Die Beweiserhebung durch den Berichterstatter darf deshalb nur insoweit geschehen, als es zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Gericht sachdienlich und, wenn sich der Rechtsstreit nicht schon vor dem Berichterstatter erledigt, von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag. Es gelten die Vorschriften über die Beweisaufnahme (§§ 81 Abs. 1 Satz 2, 82 FGO; s. auch Rz. 3.917 ff.).

3.629

Darüber hinaus entscheidet der Berichterstatter gem. § 79a Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 FGO, sofern die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,

3.630

– über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens (Nr. 1), – bei Zurücknahme der Klage, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (Nr. 2), – bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (Nr. 3), – über den Streitwert (Nr. 4), 1 Thürmer in HHSp, § 79 FGO Rz. 107; Fu in Schwarz/Pahlke, § 79 FGO Rz. 22; Stalbold in Beermann/Gosch, § 79 FGO Rz. 33. 2 BFH v. 4.8.2015 – IX B 95/15, BFH/NV 2015, 1436.

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Kap. 3 Rz. 3.631

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– über die Kosten (Nr. 5), – über die Beiladung. (Nr. 6).

3.631 Unter „vorbereitendem Verfahren“ ist das Verfahren bis zur mündlichen Verhandlung zu verstehen.1 Dies entspricht dem mit § 79a Abs. 1 FGO verfolgten Zweck, die Senate zu entlasten und dem Senat Entscheidungen lediglich dann vorzubehalten, wenn er bereits mit der Angelegenheit befasst war und die Entscheidungen in oder aufgrund einer mündlichen Verhandlung vor dem Senat oder im Zusammenhang mit einem vom Senat erlassenen Gerichtsbescheid ergehen.2 Das vorbereitende Verfahren beginnt erneut, wenn nach dem Ende der mündlichen Verhandlung keine Endentscheidung ergeht (z. B. Vertagung), sondern zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Entscheidung nach § 79a Abs. 1 Nr. 1-5 FGO erforderlich wird.3

3.632 Außerdem kann der Berichterstatter gem. § 79a Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid i. S. des § 90a Abs. 1 FGO entscheiden. Gegen diesen Gerichtsbescheid im vorbereitenden Verfahren ist – im Gegensatz zum Gerichtsbescheid des Senats oder des Einzelrichters – ausschließlich der Antrag auf mündliche Verhandlung gegeben. Eine Revision oder Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist nicht statthaft.4 Auch wenn es im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt ist, folgt aus dem Umstand, dass in § 79a FGO allein die Entscheidungsbefugnisse des Berichterstatters – und nicht die des Einzelrichters – geregelt sind, dass die mündliche Verhandlung vor dem Senat stattfinden muss.5

3.633 Mit Einverständnis der Beteiligten kann der Berichterstatter auch sonst an Stelle des Senats entscheiden (§ 79a Abs. 3, 4 FGO). D. h., der Berichterstatter kann über die Klage auch als konsentierter Einzelrichter (s. Rz. 3.633 f.) durch Urteil allein entscheiden. Voraussetzung ist allerdings das ausdrückliche Einverständnis der Beteiligten. Die Einverständniserklärung ist Prozesshandlung und deshalb grundsätzlich weder anfechtbar noch widerrufbar. Insbesondere kann das Einverständnis nicht mit der Begründung widerrufen werden, man habe sich über die Person des Berichterstatters geirrt.6

3.634 Der Senat ist an die Einverständniserklärung nicht gebunden. Er kann also auch dann – als Senat – über die Klage entscheiden, wenn sich die Beteiligten ausdrücklich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt haben. Solange der konsentierte Einzelrichter noch nicht anstelle des Senats entschieden hat, bleibt hinsichtlich der abschließenden Entscheidung der Senat der gesetzliche Richter.7 In der Praxis ergeben sich hieraus keine Probleme, da normalerweise der Berichterstatter bestimmt, welche Sache aus seinem Dezernat in die Senatssitzung geladen werden soll. 1 BFH v. 20.2.2013 – X E 8/12, BFH/NV 2013, 763. 2 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 79a FGO Rz. 5. 3 BFH v. 20.10.1997 – VI B 244/95, BFH/NV 1998, 495; v. 4.5.1995 – VII B 193/94, BFH/NV 1995, 1021; vgl. auch Stapperfend in Gräber, § 79a FGO Rz. 5. 4 BFH v. 3.11.1993 – II R 77/93, BStBl. II 1994, 118; v. 27.1.2006 – II B 116/04, BFH/NV 2006, 908. Gegen die vom Senat oder Einzelrichter i. S. des § 6 FGO erlassenen Gerichtsbescheide sind als Rechtsbehelfe neben dem Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 FGO) im Falle ihrer Zulassung die Revision (§ 90a Abs. 2 Satz 2 FGO) und andernfalls die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben (s. auch Rz. 3.1077). 5 Im Ergebnis wohl ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 79a FGO Rz. 16. 6 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 79a FGO Rz. 20; Thürmer in HHSp, § 79a FGO Rz. 120. 7 BFH v. 9.7.2003 – IX B 34/03, BStBl. II 2003, 858; Seer in Tipke/Kruse, § 79a FGO Rz. 21.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.636 Kap. 3

II. Amtsermittlungsprinzip/Untersuchungsgrundsatz 1. Aufklärungspflicht des Finanzgerichts Literatur: Bartone, Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Finanzprozess, AO-StB 2011, 179; Bilsdorfer, Ermittlungsrecht und Ermittlungspflicht im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ 1989, 287; Eder, Mitwirkungspflichten und subjektive Beweislast im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ/A 1975, 356; Gersch, Fristen für Prozesshandlungen, AO-StB 2002, 313; Grune, Präklusion im Zwielicht, DStZ 1995, 463; Georg Grube, Zur Bedeutung der Akten im Finanzprozess, DStZ 2014, 380; Hendricks, Ausländisches Recht im Steuerprozess, IStR 2011, 711; Martens, Informationsbeschaffung im Steuerprozeß, in FS Felix, 1989, S. 177 ff.; Klotz, Sachaufklärungspflicht des Gerichts und die richterliche Hinweis- und Fürsorgepflicht, NWB 2011, 3136; Kottke, Die Prozessfürsorgepflicht-Vorschrift – ein Mauerblümchen?, DStR 1996, 1720; Kulosa, Anforderungen an die Tatsachenfeststellung durch das FG; Verhältnis zwischen der Konzentrationsmaxime und den Verfahrensrechten der Beteiligten, HFR 2012, 399; Manssen, Untersuchungsgrundsatz, Aufklärungspflicht und Mitwirkungsobliegenheiten im Verwaltungsprozess, in FS Haak, 1997, S. 63; Martens, Informationsbeschaffung im Steuerprozess, in FS Felix, 1989, S. 177 f.; Martin, Wechselwirkung zwischen Mitwirkungspflichten und Untersuchungspflicht im finanzgerichtlichen Verfahren, BB 1986, 1021; Nieland, Richterliche Hinweis- und Fürsorgepflichten im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2004, 253; Schaumburg/Schaumburg, Grenzüberschreitende Sachverhaltsaufklärung im finanzgerichtlichen Verfahren: Der Zeuge im Ausland, FR 1997, 749; Schmidt-Troje, Das Amtsermittlungsprinzip im finanzgerichtlichen Verfahren, in FS Streck, 2011, S. 385; Schoenfeld, Das finanzgerichtliche Verfahren – Verbesserungs- und Beschleunigungsmöglichkeiten, DB 2004, 2287; Schuhmann, Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungspflichten der Beteiligten, DStZ 1986, 583; Tipke, Die Untersuchungsmaxime im Steuerprozeß und ihre Auswirkungen, DStR 1962/63, 234; Tipke, Zwischen materiellem Steuerrecht und Steuerverfahrensrecht, StuW 2004, 3.

a) Überblick Nach § 76 Abs. 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen (sog. Untersuchungsgrundsatz oder Amtsermittlungsprinzip). Dabei ist es an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Dies bedeutet: Das Finanzgericht ist gehalten, erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbarer Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufzuklären, damit eine Sachentscheidung gefällt werden kann.1 Dies gilt auch dann, wenn der angefochtene Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist; die gerichtliche Prüfungspflicht ist auch in diesem Fall hinsichtlich des Streitgegenstandes nicht auf eine nur summarische oder kursorische Prüfung beschränkt.2 Allerdings besteht in diesen Fällen auch nicht die Pflicht des Gerichts, den ganzen Sachverhalt aufzuklären, so dass eine abschließende Prüfung durch die Finanzbehörde des weiterhin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheids entfallen kann.3 Entsprechendes gilt bei nach § 165 AO vorläufigen Steuerfestsetzungen.4

3.635

Die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts obliegt dem Finanzgericht als Erstinstanz und alleiniger Tatsacheninstanz. Im Revisionsverfahren findet grundsätzlich keine Sachverhalts-

3.636

1 Vgl. BFH v. 24.5.2012 – IV B 58/11, BFH/NV 2012, 1466; v. 3.11.1988 – III R 288-289/84, BFH/NV 1989, 507. 2 BFH v. 20.12.2000 – III R 17/97, BFH/NV 2001, 914; v. 10.5.1994 – IX R 26/89, BStBl. II 1994, 902. 3 Vgl. den Meinungsstand bei Seer in Tipke/Kruse, § 164 AO Rz. 58. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 35 m. w. N.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.637

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ermittlung statt; der BFH ist vielmehr gem. § 118 Abs. 2 FGO an die im finanzgerichtlichen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden (s. Rz. 4.53 ff.).1

3.637 Die Sachverhaltsermittlung durch das Gericht setzt immer eine zulässige Klage voraus. Eine Klage, in der das Klagebegehren trotz Aufforderung nicht hinreichend bezeichnet wird, ist bereits unzulässig (s. Rz. 3.106); eine Sachverhaltsermittlung durch das Gericht findet in diesem Fall nicht statt.2 Der Kläger muss zwar bei Klageerhebung nicht die zur Begründung der Klage dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 65 Abs. 1 Satz 3 FGO). Dennoch obliegt es ihm, im Rahmen seiner prozessualen Mitwirkungspflichten, dieses jedenfalls im Laufe des Verfahrens zu tun. b) Amtsermittlungspflicht

3.638 Das Gericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, ohne einen konkreten Anlass, wenn sich ein solcher also nicht aus den Akten oder dem Vortrag der Beteiligten ergibt, allen möglichen Fragen von sich aus nachzugehen.3 Die Pflicht des Gerichts, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, gilt nämlich nicht unbegrenzt. § 76 Abs. 1 FGO ist nicht dahin zu verstehen, dass das Gericht ohne jeden Hinweis der Beteiligten Ermittlungen anzustellen hat. Inhalt und Umfang der richterlichen Aufklärungspflicht stehen vielmehr grundsätzlich notwendig im Zusammenhang mit dem Vorbringen der Beteiligten. Es ist nicht jeder fernliegenden Erwägung nachzugehen. Die Sachaufklärungspflicht des Finanzgerichts kann allerdings nicht losgelöst von den Mitwirkungspflichten der Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO) gesehen werden. Sie wird nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO durch die Mitwirkungspflichten der Beteiligten begrenzt.4 Diese Grenze wird dort gezogen, wo es sich um Verhältnisse handelt, die ohne Mitwirkung des Steuerpflichtigen nicht oder nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten ermittelt werden können.5 Dabei kommt dem Gedanken der Beweisnähe besondere Bedeutung zu.6

3.639 Das Gericht hat den Verfahrensbeteiligten im Rahmen seiner Prozessfürsorgepflicht, die mit der Amtsermittlungspflicht korrespondiert,7 dabei weitgehend Hilfe zu leisten. Dies dient der Durchführung eines fairen Verfahrens. Die Durchsetzung eines Rechts darf dabei nicht an der prozessualen Unbeholfenheit8 oder Rechtsunkenntnis einer Partei scheitern. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Partei im Verfahren nicht vertreten wird, denn das Gericht soll, wie sich aus § 76 Abs. 2 FGO ergibt, den Beteiligten Schutz und Hilfestellung geben.9 Danach hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt und alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. Eine entsprechende Pflicht obliegt dem Berichterstatter im vorbereitenden Verfahren (§ 79 Abs. 1 FGO). Ist der Kläger jedoch steuerlich beraten und 1 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 22. 2 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 30. 3 BFH v. 24.5.2012 – IV B 58/11, BFH/NV 2012, 1466; v. 4.9.1984 – VIII B 157/83, BStBl. II 1984, 834. 4 St. Rspr. BFH v. 5.11.2014 – VII B 113/14, BFH/NV 2015, 338; v. 7.7.2014 – X B 134/13, BFH/NV 2014, 1772; v. 20.11.2013 – X B 164/13, BFH/NV 2014, 374 m. w. N. 5 BFH v. 12.12.2000 – VIII R 36/99, BFH/NV 2001, 789; v. 11.3.1997 – I B 123/95, BFH/NV 1997, 730. 6 BFH v. 7.7.2014 – X B 134/13, BFH/NV 2014, 1772. 7 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 96. 8 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 85. 9 BFH v. 7.10.2015 – VI B 49/15, BFH/NV 2016, 38 m. w. N.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.642 Kap. 3

im Prozess entsprechend vertreten, so stellt das Fehlen eines solchen Hinweises grundsätzlich keinen Verfahrensfehler dar.1 Unabhängig von den Mitwirkungspflichten der Beteiligten hat das Finanzgericht jedoch dem Amtsermittlungsgrundsatz besondere Bedeutung zuzumessen, wenn es um Feststellungen geht, die unmittelbar entscheidungserhebliche Bedeutung haben. In diesen Fällen hat das Finanzgericht jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachzugehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen müssen.2 Dafür kann auch eine Beweiserhebung durch Zeugeneinvernahme erforderlich sein.3 Dabei muss das Gericht den Beteiligten keinen Glauben schenken und kann auch von sich aus die aus seiner Sicht entscheidungserheblichen Tatsachen ermitteln, die zwischen den Beteiligten nicht streitig sind.4 Allerdings legt der Kläger durch Inhalt und Ziel seiner Klage, über die das Gericht nach § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO nicht hinausgehen darf, den Rahmen fest, in dem die Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht erfolgen darf.5

3.640

c) Verletzung der Aufklärungspflicht Von einer zur Aufhebung des entsprechenden Urteils führenden Verletzung der Aufklärungspflicht kann nur dann ausgegangen werden, wenn das Gericht Tatsachen oder Beweismittel außer Acht lässt, die sich ihm nach Lage der Akten hätten aufdrängen müssen6 und die aus seiner Sicht entscheidungserheblich waren.7 Dies gilt insbesondere dann, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in das Verfahren eingeführt waren.8 Die Prozessbeteiligten, insbesondere der Steuerpflichtige und sein Berater, sollten deshalb den Sachverhalt möglichst umfassend und vollständig vortragen und alle aus ihrer Sicht für eine günstige Entscheidung erheblichen Tatsachen und Beweismittel in das Verfahren einführen. Die Sachaufklärungsrüge kann insbesondere nicht dazu dienen, Beweisanträge oder Fragen zu ersetzen, welche eine fachkundig vertretene Partei selbst in zumutbarer Weise hätte stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat. Ebenso wenig kann die Sachaufklärungsrüge dazu dienen, (nachträglich) Ermittlungen vom Finanzgericht zu verlangen, die sich jedenfalls für einen beratenen Beteiligten in der Weise aufdrängen, dass dieser die fehlenden Angaben aus den ihm vorliegenden oder von ihm beschaffbaren Unterlagen in das Verfahren einbringen muss.9

3.641

Ist das Klagebegehren hinreichend erkennbar und die Klage damit zulässig, fehlt aber trotz entsprechender Aufforderung die Klagebegründung, so verletzt das Finanzgericht seine

3.642

1 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; BFH v. 7.10.2015 – VI B 49/15, BFH/NV 2016, 38 m. w. N. 2 BFH v. 7.7.2014 – X B 134/13, BFH/NV 2014, 1774; v. 30.7.2003 – X R 28/99, BFH/NV 2004, 207; Stalbold in Beermann/Gosch, § 76 FGO Rz. 29 m. w. N.; vgl. auch BFH v. 10.1.2007 – X B 113/06, BFH/NV 2007, 935. 3 Stalbold in Beermann/Gosch, § 76 FGO Rz. 29 m. w. N. 4 Vgl. BFH v. 17.5.1995 – X R 185/93, BFH/NV 1995, 1076; Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 20. 5 Herbert in Gräber, § 76 FGO Rz. 12; vgl. BFH v. 22.8.2006 – I B 21/06, BFH/NV 2007, 10; Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 30. 6 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; v. 23.9.2009 – IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52; Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 41; Herbert in Gräber, § 76 FGO Rz. 14 m. w. N. 7 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; v. 23.9.2009 – IV B 133/08, BFH/NV 20010, 52; Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 41; Herbert in Gräber, § 76 FGO Rz. 14. 8 S. BFH v. 28.11.2003 – III B 7/03, BFH/NV 2004, 645. 9 BFH v. 7.7.2014 – X B 134/13, BFH/NV 2014, 1774.

Schaumburg

227

Kap. 3 Rz. 3.643

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Aufklärungspflicht nicht, wenn es anhand seiner Akten die Entscheidung der Behörde auf Fehler tatsächlicher und rechtlicher Art nachprüft.1 Man wird nicht beanstanden können, wenn sich das Finanzgericht bei fehlender Begründung, zumal dann, wenn der Steuerpflichtige durch einen Steuerberater oder Rechtsanwalt vertreten ist, in der Regel auf die rechtliche Nachprüfung beschränkt, es sei denn, dass das Finanzamt offensichtlich von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist.2 Dies muss sich allerdings den Akten zweifelsfrei entnehmen lassen, so dass sich dem Gericht die Notwendigkeit weiterer Aufklärung aufdrängt.3 Auch wenn das Finanzgericht wegen mangelnder Mitwirkung des Steuerpflichtigen nicht in der Lage ist, den Sachverhalt vollständig aufzuklären, so führt dies nicht zu einer Entscheidung nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast); vielmehr ist das Finanzgericht gehalten, die schon vorliegenden Nachweise und die ihm bekannten Umstände zu würdigen und bei seiner Sachentscheidung zu berücksichtigen.4 d) Einzelfragen

3.643 Das Gericht muss im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht auch Beweisaufnahmen durchführen. Wegen der Einzelheiten s. unter Rz. 3.917 ff. Dabei darf es auf die Erhebung eines von einem Beteiligten angebotenen Beweismittels im Regelfall nur verzichten,5 wenn – das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, – die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten des betreffenden Beteiligten als wahr unterstellt werden kann,6 – das Beweismittel nicht erreichbar, – das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist,7 – wenn es selbst über die notwendige Sachkunde verfügt,8

3.644 Das Gericht darf allerdings den Antrag auf Vernehmung eines Zeugen nicht mit der Begründung ablehnen, das Gegenteil der vom Zeugen zu bekundenden Tatsache sei bereits erwiesen; darin würde eine unzulässige vorweggenommene Würdigung eines nicht erhobenen Beweises und damit eine Verletzung der Aufklärungspflicht liegen.9

3.645 Da die Verpflichtung des Gerichts zur Sachaufklärung zu den Verfahrensvorschriften gehört, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können (§ 155 FGO i. V. m. § 295

1 BFH v. 29.4.1999 – VII B 253/98, BFH/NV 1999, 1481. 2 BFH v. 28.11.2003 – III B 7/03, BFH/NV 2004, 645; v. 7.12.2006 – IX B 50/06, BFH/NV 2007, 1135. 3 BFH v. 26.6.2006 – V B 190/05, BFH/NV 2006, 2098; v. 22.4.2008 – X B 122/07, juris. 4 St. Rspr., vgl. BFH v. 13.6.2013 – X B 132-133/12, BFH/NV 2013, 1596 m. w. N.; vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 79. 5 Vgl. hierzu die st. Rspr., BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 1.2.2007 – VI B 118/04, BStBl. II 2007, 538; v. 16.11.2005 – VI R 71/99, BFH/NV 2006, 753. 6 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934. 7 BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395. 8 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; v. 7.1.2015 – I B 42/13, BFH/NV 2015, 1093. 9 BFH v. 24.9.2013 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164; v. 13.9.2005 – X B 8/05, BFH/NV 2005, 2167; v. 2.6.2003 – II B 49/02, BFH/NV 2003, 1340.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.648 Kap. 3

ZPO), muss die Nichterhebung eines angebotenen Beweises in der mündlichen Verhandlung gerügt werden (s. unter Rz. 3.926).1 Beweisergebnisse anderer Gerichtsverfahren dürfen im Wege des Urkundenbeweises in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführt werden (§§ 81, 82 FGO i. V. m. § 415 ZPO).2 Das Finanzgericht kann sich daher Feststellungen aus einem in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführten Strafurteil zu Eigen machen, es sei denn, dass die Beteiligten gegen die strafgerichtlichen Feststellungen substantiierte Einwendungen vortragen und entsprechende Beweisanträge stellen, die das Finanzgericht nicht nach den allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen unbeachtet lassen kann.3 Das bedeutet für die Praxis, dass das Finanzgericht insbesondere Beweisergebnisse anderer Gerichtsverfahren im Wege des Urkundenbeweises verwerten kann, sofern keiner der Beteiligten hiergegen substantiierte Einwendungen erhebt und eigene Beweisanträge stellt.

3.646

Sofern ein Beteiligter oder sein Bevollmächtigter die in einem vom Finanzgericht beigezogenen Strafurteil enthaltenen Feststellungen nicht für richtig hält, sollte er in der Praxis eindeutig und klar der Verwertung dieser Feststellung widersprechen4 und genau deutlich machen, in welchen Punkten die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils falsch oder unvollständig sind. Hierzu sollte der nach Auffassung des Beteiligten richtige Sachverhalt dargelegt werden, ggf. mit entsprechenden Beweisanträgen. Es reicht jedenfalls nicht aus, die Richtigkeit der Feststellungen lediglich summarisch zu bestreiten. Beruhen die strafgerichtlichen Feststellungen auf Geständnissen eines Mitangeklagten, so bedarf es zur Substantiierung des Vortrags einer annehmbaren Erklärung, warum zu erwarten sei, dass dieser seine Aussagen ändern werde.5 Die von der Rechtsprechung insoweit aufgestellten Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags sind teilweise überspannt, weil dem unmittelbaren Beweis, also der eigenen Vernehmung des Zeugen, im Zweifel der Vorrang zu geben ist.6

3.647

Hier wird deutlich, wie wichtig die Wahrnehmung des Rechts auf Akteneinsicht ist. Denn über den Inhalt der Strafakten bzw. eines Strafurteils kann man sich am besten durch Akteneinsicht unterrichten. Dabei muss das Gericht die Beteiligten über die Beiziehung der Akten rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung informieren (zur Akteneinsicht s. Rz. 3.713 ff.).

3.648

2. Mitwirkungspflichten der Beteiligten Literatur: Georg Grube, Die Bedeutung der Akten im Finanzgerichtsprozess, DStZ 2014, 380; Hagen, Mitwirkungs- und Aufzeichnungspflichten des Steuerpflichtigen bei Sachverhalten mit Auslandsbezug und Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung, StBp 2005, 33; Jarosch, Darlegungspflichten im FG-Verfahren – Umfang der Mitwirkungspflichten des Klägers, AO-StB 2001, 199; Knauer, Mitwirkungspflichten des Klägers im finanzgerichtlichen Verfahren, VerwArch 60 (1969), 148; Mack, Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess, in FS Streck, 2011, S. 337.

1 BFH v. 19.9.2013 – III B 47/13, BFH/NV 2014, 72. 2 BFH v. 24.9.2013 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164; v. 23.1.1985 – I R 30/81, BStBl. II 1985, 305. 3 Vgl. BFH v. 24.9.2013 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164; v. 10.1.1978 – VII R 106/76, BStBl. II 1978, 311. 4 BFH v. 24.9.2013 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164. 5 Vgl. BFH v. 24.9.2013 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164; v. 29.1.2007 – V B 160/6, V B 161/06, BFH/NV 2007, 759. 6 Vgl. dazu auch kritisch Georg Grube, DStZ 2014, 380 ff. (390).

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Kap. 3 Rz. 3.649

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.649 Der Steuerpflichtige darf sich im finanzgerichtlichen Verfahren nicht passiv verhalten. Er muss an der Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts aktiv mitwirken, wie sich aus § 76 Abs. 1 Sätze 2 und 3 FGO ergibt. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Tatsachen handelt, die das Gesetz bewusst in seine Beweislast (Feststellungslast) gestellt hat. Deshalb muss der Steuerpflichtige für die von ihm behaupteten Tatsachen Beweis antreten. Dies gilt in besonderem Maße für einen durch einen Bevollmächtigten vertretenen Kläger, denn das Finanzgericht darf darauf vertrauen, dass der Steuerpflichtige alles tut, um den Sachverhalt durch Tatsachen, Behauptungen und Beweisantritte einer Klärung zuzuführen. Deshalb kann der Kläger z. B. eine Verletzung der Aufklärungspflicht dann nicht geltend machen, wenn er im Verfahren vor dem Finanzgericht nach einer vom Gericht durchgeführten Beweisaufnahme keine weiteren Beweisanträge gestellt hat.1

3.650 Der Mitwirkungspflicht des Klägers kommt insbesondere dann besondere Bedeutung zu, wenn Tatsachen aufzuklären sind, die seiner Sphäre zuzuordnen sind. Deshalb hat die Rechtsprechung bei Auslandsbeziehungen eine erweiterte Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen angenommen. Zeugen aus dem Ausland müssen als präsente Zeugen in der mündlichen Verhandlung gestellt werden.

3.651 Diese Mitwirkungspflichten gelten gleichermaßen auch für die Finanzbehörde. Diese ist zwar als Hoheitsträger nach wie vor gem. § 76 Abs. 4 FGO weiterhin an Recht und Gesetz und an die ihr auch im Verfahren obliegende Amtsermittlungspflicht, die sich zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichten auswirkt, gebunden. Erfahrungsgemäß verhält sie sich aber im finanzgerichtlichen Verfahren häufig wie eine – auch taktierende – Partei.

3.652 Der Steuerpflichtige und die Finanzbehörde, ggf. auch die Beigeladenen, und das Finanzgericht sind für die vollständige Sachaufklärung gemeinsam verantwortlich.2 Sie müssen hierbei faktisch kooperieren.3 Aus dieser gemeinsamen Verantwortung folgt u. a., dass sich dann grundsätzlich die Ermittlungspflicht der Finanzbehörde (§ 88 Abs. 1 AO) oder die des Finanzgerichts (§ 76 Abs. 1 Sätze 1–4 und § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) entsprechend mindert, wenn der Steuerpflichtige die ihm auferlegten Mitwirkungs-, Informations- oder Nachweispflichten verletzt. Kriterien und Ausmaß der Reduzierung der Sachaufklärungspflicht lassen sich dabei nicht generell festlegen, sondern nur nach Lage des Einzelfalls bestimmen.4 Dabei können nach der Rechtsprechung des BFH5 folgende Gesichtspunkte – mit je nach den Umständen des Einzelfalles unterschiedlicher Gewichtung – bedeutsam werden: – der Grad der Pflichtverletzung, – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; in diesem Zusammenhang auch Erwägungen der Prozessökonomie,6 – der Gedanke der Zumutbarkeit der Mitwirkung für den Steuerpflichtigen,7 1 Vgl. BFH v. 19.9.2013 – III B 47/13, BFH/NV 2014, 72; v. 7.8.1974 – II R 177/73, BStBl. II 1975, 119. 2 BFH v. 19.6.2006 – VIII B 235/04, BFH/NV 2006, 2091. 3 Vgl. hierzu vor allem Seer in Tipke/Kruse, § 76 AO Rz. 76 ff., der von einer sog. Kooperationsmaxime im finanzgerichtlichen Verfahren spricht. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 80. 5 BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462 m. w. N. 6 BFH v. 6.5.2005 – XI B 239/03, BFH/NV 2005, 1605; v. 9.9.1986 – VIII R 100/83, BFH/NV 1987, 105. 7 BFH v. 21.1.1976 – I R 234/73, BStBl. II 1976, 513.

230

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.656 Kap. 3

– die gesteigerte Mitverantwortung aus vorangegangenem Tun, z. B. bei außergewöhnlicher Sachverhaltsgestaltung,1 – der Gedanke der Beweisnähe. Die Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Aufklärung des Sachverhalts ist umso größer (die von Finanzbehörden und Finanzgerichten umso geringer), je mehr Tatsachen oder Beweismittel der von ihm beherrschten Informations- und/oder Tätigkeitssphäre angehören.2

3.653

Zunächst muss allerdings das Finanzgericht tätig geworden sein, bevor es das Verhalten eines Beteiligten dahingehend werten kann, dass diesen eine Verletzung von Mitwirkungspflichten trifft;3 nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO sind nämlich die Beteiligten bei der gerichtlichen Sachaufklärung „heranzuziehen“. Das Gesetz weist die Pflicht zur Sachaufklärung damit dem Gericht zu, das den Beteiligten in diesem Rahmen konkrete Aufträge zuteilen darf. Damit übereinstimmend ordnet § 76 Abs. 1 Satz 3 FGO an, dass die Beteiligten sich „auf Anforderung des Gerichts“ zu den von den anderen Beteiligten vorgebrachten Tatsachen zu erklären haben.4

3.654

Die Verletzung der Mitwirkungspflichten kann aber das weitere prozessuale Vorgehen des Gerichts und das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen. Wenn die Verletzung der Mitwirkungspflichten Tatsachen oder Beweismittel aus dem alleinigen Verantwortungsbereich des Steuerpflichtigen betrifft, kann dies sogar dazu führen, dass aus seinem Verhalten für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden.5 Solche Schlussfolgerungen können auch den Sachverhalt und Besteuerungsgrundlagen, die nicht beziffert werden können, betreffen.6

3.655

Beispiel: Bei A werden ungeklärte Einlagen i. H. v. 50.000 Euro auf einem betrieblichen Bankkonto festgestellt. A macht keine Angaben dazu, wo diese Mittel herkommen. Das Finanzamt rechnet den entsprechenden Betrag den Betriebseinnahmen und den Umsätzen hinzu. Der Steuerpflichtige ist bei ungeklärten Bareinzahlungen auf ein betriebliches Bankkonto wegen der von ihm selbst hergestellten Verbindung zwischen Privat- und Betriebsvermögen bei der Prüfung, ob Einlagen gegeben sind bzw. wo die Mittel herkommen, verstärkt zur Mitwirkung verpflichtet. Bei Verletzung dieser Pflicht kann das Finanzgericht von weiterer Sachaufklärung absehen und den Sachverhalt dahin würdigen, dass die unaufgeklärten Kapitalzuführungen auf nicht versteuerten Einnahmen beruhen.7

Auch wenn die Mitwirkungspflichten im finanzgerichtlichen Verfahren nicht erzwingbar sind;8 so hat das Gericht doch diverse Möglichkeiten, die Beteiligten zur Erfüllung der ihnen obliegenden Mitwirkungspflichten anzuhalten. Dazu gehört u. a. auch die Setzung von Ausschlussfristen nach §§ 65 Abs. 2 und 79b FGO (s. Rz. 3.104 ff. und nachfolgend Rz. 3.657 ff.).

1 BFH v. 7.7.1983 – VII R 43/80, BStBl. II 1983, 760. 2 BFH v. 9.5.2006 – XI B 104/05, BFH/NV 2006, 1801; v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462. 3 BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345. 4 So BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345. 5 BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462 m. w. N. 6 BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462 m. w. N. 7 Nach BFH v. 30.3.2006 – III B 56/05, BFH/NV 2006, 1485; ebenso BFH v. 13.6.2013 – X B 132-133/12, BFH/NV 2013, 1593. 8 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 54.

Schaumburg

231

3.656

Kap. 3 Rz. 3.657

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3. Zurückweisung verspäteten Vorbringens Literatur: Binnewies/Zumwinkel, Finanzgerichtliche Fristen nach §§ 65, 79b FGO – Angriffspotenzial ist gegeben!, Stbg 2009, 363; Buciek, Zur Zurückweisung von im FG-Verfahren nachgereichten Steuererklärungen, DStZ 1999, 150; Hollatz, Grenzen der Ausschlussfristsetzung nach § 65 FGO, DStR 1997, 1593; Lange, Zurückweisung einer erst im Klageverfahren eingereichten Steuererklärung durch das Finanzgericht, DStZ 1998, 544; Lange, Zurückweisung verspäteten Vorbringens und gerichtliche Prozessförderungspflicht, DStZ 1999, 176; Müller, Die Präklusionsregelung der §§ 364b AO, 76 Abs. 3 FGO – ein „zahnloser Tiger“?, AO-StB 2005, 176; Rößler, Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens in der neueren Rechtsprechung des BFH, DStZ 2002, 371; Heide Schaumburg, Richterliche Ausschlussfristen für Klagebegehren und Tatsachenvortrag, DStZ 1995, 545; Siegert, Das Arbeiten mit der Präklusion: Wie verfahren im Verfahren, wenn es um Fristen geht?, DStZ 1995, 517; Streck/ Mack/Schwedhelm, Unsinnige Ausschlussfrist nach § 79b FGO zur Benennung der ladungsfähigen Anschrift eines Zeugen, Stbg 1997, 400; Wiese/Leingang-Ludolph, Präklusion und Kosten, BB 2003, 25; Wüllenkemper, Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 FGO zum Nachweis von Sachentscheidungsvoraussetzungen?, DStZ 2000, 483.

a) Beschleunigung des Verfahrens durch Ausschlussfristen

3.657 Im finanzgerichtlichen Verfahren besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem gesetzlichen Leitbild, den Rechtsstreit möglichst in einer (einzigen) mündlichen Verhandlung zu erledigen (§ 79 Abs. 1 Satz 1 FGO), auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem grundlegenden Verfahrensrecht der Beteiligten, Tatsachenvortrag und Beweisanträge bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der einzigen ihnen eröffneten Tatsacheninstanz in das Verfahren einzuführen.1 Letzteres kann dazu führen, dass das Gericht zu weiterer gerichtlicher Sachaufklärung verpflichtet ist und das Verfahren nicht ohne weiteres zügig abschließen kann und die mündliche Verhandlung vertagen muss.2 Deshalb sieht § 79b FGO vor, dass den Verfahrensbeteiligten eine Ausschlussfrist gesetzt werden kann. Es würde einem zügigen Abschluss des Verfahrens entgegenstehen, wenn das Vorbringen der Beteiligten trotz Ablaufs einer ihnen wirksam gesetzten Frist vom Gericht stets zu berücksichtigen ist. Dies würde zu erheblichen Mehrbelastungen und Verzögerungen und zusätzlichen Kosten in der Bearbeitung der Verfahren durch die Finanzgerichte führen. So müssten z. B. mündliche Verhandlungen, an denen ggf. auch auswärtige ehrenamtliche Richter mitwirken, vertagt werden, weil Beteiligte erst im Termin die nur ihnen bekannten entscheidungserheblichen Tatsachen vortragen oder Beweismittel benennen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht kann durch das Setzen einer Ausschussfrist nach § 79b FGO deshalb erheblich eingeschränkt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen hat das Gericht nämlich die Möglichkeit, verspätetes Vorbringen der Beteiligten zurückzuweisen.

3.658 Dies setzt allerdings voraus, dass das Gericht – der Vorsitzende oder Berichterstatter – frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung den Prozessstoff ordnet, um den Beteiligten zielgerichtete Aufklärungsanordnungen zukommen lassen zu können.3 Denn die nach § 79b FGO gesetzte Frist muss, um die in § 79b Abs. 3 FGO vorgesehenen Rechtsfolgen auslösen zu können, angemessen sein.4

1 2 3 4

BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345. BFH v. 15.4.2015 – VIII R 65/13, juris. BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345. BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345.

232

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.664 Kap. 3

3.659

§ 79b FGO ermöglicht es dem Vorsitzenden oder dem Berichterstatter, – dem Kläger eine Frist zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt, zu setzen (§ 79b Abs. 1 Satz 1 FGO), – den Beteiligten unter Fristsetzung aufzugeben, zu bestimmten Vorgängen tatsächliche Angaben zu machen oder Beweismittel zu bezeichnen (§ 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO), – Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen oder elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist (§ 79b Abs. 2 Nr. 2 FGO). Werden Erklärungen und Beweismittel nach Ablauf der gesetzten Frist vorgebracht, können sie vom Gericht unter bestimmten Voraussetzungen zurückgewiesen werden (§ 79b Abs. 3 FGO – s. unter Rz. 3.663 ff.).

3.660

Durch die Möglichkeit der Zurückweisung verspäteten Vorbringens wird der Anspruch auf rechtliches Gehör inhaltlich stark begrenzt. Denn das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) beinhaltet auch die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Das Recht auf rechtliches Gehör gewährt indessen keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen.1 Von Verfassungs wegen sind deshalb im Interesse einer zügigen und ordnungsgemäßen Rechtsschutzgewährung Ausschlussfristen in den Verfahrensordnungen nicht zu beanstanden.2

3.661

Die Fristsetzung nach § 79b FGO als solche kann ebenso wie die Ablehnung der Fristverlängerung als prozessleitende Verfügung nicht mit der Beschwerde angefochten werden.3

3.662

b) Voraussetzungen für die Zurückweisung aa) Wirksame Fristsetzung In formeller Hinsicht erfordert § 79b FGO, dass die Frist durch Verfügung des Vorsitzenden oder Berichterstatters gesetzt wird. Das bedeutet: Die entsprechende Anordnung des Vorsitzenden oder Berichterstatters muss von dem Betreffenden unterzeichnet sein. Außerdem muss eine beglaubigte Abschrift der fristsetzenden Verfügung dem Beteiligten nach § 53 Abs. 1 FGO förmlich zugestellt werden.4 Erfüllt die Anordnung diese Voraussetzungen nicht, ist sie unwirksam. Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens kommt dann nicht in Betracht.

3.663

Die Frist muss angemessen sein: Dies gilt zunächst einmal für die Fristsetzung als solche. Es muss angemessen sein, überhaupt eine Ausschlussfrist zu setzen. Dabei wird, auch wenn § 79b FGO dies nicht ausdrücklich vorsieht, eine auf diese Vorschrift gestützte Fristsetzung im Regelfall voraussetzen, dass zuvor eine nicht präklusionsbewehrte „einfache“ Aufklärungsanordnung nach § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2

3.664

1 BFH v. 14.12.2006 – II B 23/06, BFH/NV 2007, 495; v. 3.6.2004 – VII B 295/03, BFH/NV 2004, 1415. 2 Vgl. BVerfG v. 2.12.1987 – 1 BvR 1291/85, BVerfGE 77, 275, 284 m. w. N. 3 BFH v. 30.4.2009 – VII B 93/09, juris; v. 17.1.2006 – XI B 134/05, BFH/NV 2006, 1109; Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 16. 4 So BFH v. 24.6.1999 – V R 1/99, BFH/NV 1999, 1616.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.665

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

FGO ergangen und erfolglos geblieben ist.1 Denn der ergebnislose Fristablauf kann mit dem Verlust grundlegender prozessualer Rechte verbunden sein.2

3.665 Dies gilt ferner hinsichtlich der Länge der Frist. Auch diese muss angemessen sein. Üblich dürfte eine Frist von einem Monat sein, zwingend ist diese aber nicht; vielmehr kann auch im Einzelfall eine kürzere Frist angemessen oder aber eine längere Frist geboten sein.3 Als richterliche Ausschlussfrist kann sie bei Vorliegen erheblicher Gründe auf fristgerechten und glaubhaft gemachten Antrag verlängert werden (§ 54 Abs. 2 FGO i. V. m. § 224 Abs. 2 ZPO). In der Praxis empfiehlt es sich, einen derartigen Antrag vorsichtshalber so rechtzeitig vor Ablauf der gesetzten Frist zu stellen, dass die Fristverlängerung noch in offener Frist vorgenommen werden kann.4 Allein der Antrag auf Fristverlängerung macht diese Ausschlussfrist jedoch noch nicht hinfällig,5 über den Antrag muss grundsätzlich entschieden werden (§ 54 Abs. 2 FGO i. V. m. § 225 Abs. 1 ZPO). Der Steuerpflichtige bzw. dessen Berater sollten es deshalb für ihr weiteres Agieren genau im Auge behalten, ob dem Antrag vom Gericht tatsächlich stattgegeben oder ob dieser abgelehnt worden ist.

3.666 Ist die Frist nicht angemessen, liegt keine wirksame Fristsetzung nach § 79b FGO vor. Eine solche Fristsetzung ist unwirksam, so dass eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens nicht in Betracht kommt. In der Praxis sollte nicht auf die Unwirksamkeit der Frist zu vertrauen, weil diese nach Prüfung für zu kurz und deshalb nicht für wirksam gehalten wird, vielmehr sollten die Mitwirkungshandlungen und der entsprechende Vortrag innerhalb der gesetzten Frist oder jedenfalls unverzüglich erfolgen. bb) Fristsetzung nach § 79b Abs. 1 FGO

3.667 Die Fristsetzung nach § 79b Abs. 1 FGO kann mit der Fristsetzung nach § 65 Abs. 2 FGO verbunden werden, um eine unnötige Verzögerung des Verfahrens zu vermeiden (§ 79b Abs. 1 Satz 2 FGO). § 79b Abs. 1 FGO hat den Zweck, den äußeren Rahmen des Streitprogramms in tatsächlicher Hinsicht abzustecken; er dient der Substantiierung der Beschwer, nicht aber der Angabe von konkreten Einzeltatsachen schlechthin, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind. Dies folgt aus § 79b Abs. 2 FGO, der eine Fristsetzung zur Angabe von Tatsachen über § 79b Abs. 1 FGO hinaus vorsieht und anderenfalls überflüssig wäre.6

3.668 Nach § 79b Abs. 1 FGO kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. Mit dieser Formulierung des Gesetzes wird klargestellt, dass das Gericht zunächst zum allgemeinen Tatsachenvortrag auffordern kann, ohne schon selbst bestimmte aufklärungsbedürftige Tatsachen zu bezeichnen. Zu einer derartigen Konkretisierung ist das Gericht regelmäßig nicht in der Lage, solange der Kläger noch nicht angegeben hat, wodurch er sich beschwert fühlt.

1 BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345 unter Hinweis auf BFH v. 9.9.1998 – I R 31/98, BStBl. II 1999, 26, und v. 10.6.1999 – IV R 23/98, BStBl. II 1999, 664. 2 BFH v. 19.10.2011 – X R 65/09, BStBl. II 2012, 345. 3 Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 11 m. w. N. 4 Vgl. dazu BFH v. 16.6.2009 – X B 11/09, juris; v. 21.2.1980 – V R 71-73/79, BStBl. II 1980, 457. 5 BFH v. 16.6.2009 – X B 11/09, juris; v. 9.6.1995 – VII B 20/95, BFH/NV 1996, 50. 6 BFH v. 27.7.1999 – VIII R 55/98, BFH/NV 2000, 196.

234

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.673 Kap. 3

Die Aufforderung des Gerichts nach § 79b Abs. 1 FGO muss im Text möglichst den Gesetzestext enthalten. Die allgemeine Aufforderung zum Tatsachenvortrag entspricht dem Wortlaut des § 79b Abs. 1 FGO und ist deshalb zulässig.

3.669

Die Aufforderung ist aber unwirksam, wenn stattdessen im Text vom Gericht aufgefordert wird,

3.670

– die Klage zu begründen,1 – Rechtsausführungen zu machen.2 Der Kläger bzw. sein Berater soll auf die Aufforderung hin den rechtserheblichen Streitstoff darlegen. Für die Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens ist bei einer Anfechtungsklage gegen einen Einkommensteuerbescheid beispielsweise ausreichend, aber auch erforderlich, den Streitpunkt in allgemeiner gehaltener Form – z. B. durch genaue Benennung der nach Ansicht des Klägers zu Unrecht nicht berücksichtigten Abzugsbeträge, etwa bestimmter Betriebsausgaben – so zu umreißen, dass er konkretisiert und von anderen denkbaren Streitpunkten abgrenzbar ist.3 Ob der Kläger aber ausreichende Angaben zur Substantiierung seiner Beschwer i. S. des § 79b Abs. 1 FGO dargetan hat, ist letztlich eine Frage des Einzelfalles. Unter Hinweis auf die Maßgeblichkeit der Umstände des Einzelfalles hat der BFH es beispielsweise als ausreichende Darlegung i. S. des § 79b Abs. 1 FGO angesehen, wenn der Kläger innerhalb der Ausschlussfrist klar zum Ausdruck bringt, dass er sich durch die Abweichung von den eingereichten Steuererklärungen beschwert fühle.4

3.671

Letztlich läuft alles auf eine „Kurzbegründung“ der Klage hinaus. Der Kläger soll dazu angehalten werden, den äußeren Rahmen des Streitprogramms in tatsächlicher Hinsicht abzustecken. Dem wird nach der Rechtsprechung des BFH5 nicht schon durch die pauschale Benennung von Streitkomplexen genügt; vielmehr müssen dem Finanzgericht so viele sachverhaltsmäßige Erläuterungen gegeben werden, dass es die Streitpunkte wenigstens in ihren Grundzügen erkennen kann.6 Der Kläger bzw. sein Berater muss also darlegen, welche Tatsachen das Finanzamt seiner Entscheidung hätte zugrunde legen müssen, um zu einer richtigen Entscheidung zu kommen.7

3.672

Kommt der Kläger der Verpflichtung aus § 79b Abs. 1 FGO zur Bezeichnung von Tatsachen zur Beschwer nicht nach, so muss das Gericht den Sachverhalt nicht weiter aufklären und kann nach Lage der Akten entscheiden.8 Die Klage wird in diesen Fällen nach der Rechtsprechung mangels Beschwer als unzulässig abgewiesen.9

3.673

1 2 3 4 5 6

BFH v. 19.1.2007 – VII B 50/06, BFH/NV 2007, 946. BFH v. 9.1.2014 – I B 5/13, BFH/NV 2014, 700. BFH v. 13.6.1996 – III R 93/95, BStBl. II 1996, 483. BFH v. 21.5.1997 – I R 50/96, BFH/NV 1997, 870. BFH v. 8.3.1995 – X B 243/94, BStBl. II 1995, 417. FG Düsseldorf v. 13.3.2012 – 13 K 4080/11 F, juris; BFH v. 8.3.1995 – X B 243/94, BStBl. II 1995, 417. 7 Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 8. 8 BFH v. 10.12.2012 – VI B 135/12, BFH/NV 2013, 569; v. 9.10.2012 – X R 65/09, BStBl. 2012, 345; v. 3.5.2010 – VIII B 72/09, BFH/NV 2010, 1474. 9 BFH v. 19.1.2000 – II B 112/99, BFH/NV 2000, 1104; v. 30.7.1998 – X B 23/98, BFH/NV 1999, 205; v. 8.3.1995 – X B 243-244/94, BStBl. II 1995, 417; kritisch hierzu Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 14.

Schaumburg

235

Kap. 3 Rz. 3.674

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.674 Bei einer Aufforderung nach § 79b Abs. 1 FGO sollte der Kläger bzw. sein Berater kein Risiko eingehen und jedenfalls darlegen, welche Tatsachen das Finanzamt seiner Entscheidung hätte zu Grunde legen müssen, aber nicht zu Grunde gelegt hat, um zum richtigen rechtlichen Ergebnis zu kommen. cc) Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 FGO

3.675 Die in § 79b Abs. 1 und Abs. 2 FGO aufgeführten möglichen Gegenstände einer Fristsetzung stehen in einem Rangverhältnis.1 Erst wenn die Tatsachen angegeben worden sind, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sich der Kläger beschwert fühlt, kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Fall vorbereitend bearbeiten und einem Beteiligten unter Fristsetzung gem. § 79b Abs. 2 FGO aufgeben, zu bestimmten Vorgängen, die für das Gericht aus den gem. § 79b Abs. 1 FGO geforderten Angaben erkennbar geworden sind, Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen (Nr. 1) sowie Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen oder elektronische Dokumente zu übermitteln (Nr. 2).2

3.676 Dabei kann sich das Gericht nicht nur an die Klägerseite, sondern an jeden Verfahrensbeteiligten, also auch das Finanzamt oder einen Beigeladenen wenden. In der Praxis wird von der Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 FGO gegenüber dem Finanzamt nur zurückhaltend Gebrauch gemacht; sie kommt aber in Einzelfällen durchaus vor.

3.677 Nach § 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO kann das Gericht einem Beteiligten unter Fristsetzung nur aufgeben, zu bestimmten Vorgängen Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen sowie Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen oder elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist. Der Vorsitzende oder Berichterstatter muss die für aufklärungs- oder beweisbedürftig erachteten Punkte so genau bezeichnen, dass es dem Beteiligten möglich ist, die Anordnung ohne weiteres zu befolgen, um so eine Präklusion zu vermeiden.3 Es ist insoweit Aufgabe des Richters, aufgrund des bisherigen Vorbringens der Beteiligten und seiner Einschätzung der Rechtslage die seiner Ansicht nach noch aufklärungs- und/oder beweisbedürften Punkte zu ermitteln und in der Aufklärungsverfügung gem. § 79b Abs. 2 FGO genau und konkret anzugeben.4 Die Aufforderung muss möglichst konkret formuliert sein und hinreichend deutlich machen, zu welchen Punkten der Richter ein weiteres Vorbringen für notwendig hält. Diesem Erfordernis genügt eine richterliche Verfügung nicht – die eine allgemeine Aufforderung zur Ergänzung von Angaben enthält bzw. die Tatsachen und Beweismittel zu bezeichnen, die über die bisher vorgetragenen Umstände hinaus zur Herabsetzung der bisher festgesetzten Steuer führen sollen,5 – die unter Bezugnahme auf einen Schriftsatz des Prozessgegners allgemein zu einer Stellungnahme und pauschal zur Vorlage von zahlreichen vom Prozessgegner für erforderlich gehaltenen Unterlagen auffordert. Eine solche Bezugnahme kann allenfalls dann ausrei-

1 BFH v. 12.9.1995 – IX R 78/94, BStBl. II 1996, 16. 2 BFH v. 12.9.1995 – IX R 78/94, BStBl. II 1996, 16. 3 BFH v. 25.4.1995 – IX R 6/94, BStBl. II 1995, 545 m. w. N.; v. 23.4.3002 – IX R 22/00, BFH/NV 2003, 1198. 4 BFH v. 14.8.2008 – X B 212/07, juris; v. 23.4.2003 – IX R 22/00, BFH/NV 2003, 1198. 5 BFH v. 14.8.2008 – X B 212/07, juris.

236

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.681 Kap. 3

chen, wenn für den Kläger eindeutig erkennbar ist, auf welche der vom Finanzamt angesprochenen Erklärungen sich die gerichtliche Verfügung bezieht.1 – die eine Aufforderung zur Vorlage von Steuererklärungen enthält.2 Eine Steuererklärung ist nämlich mehr als ein bloßer Tatsachenvortrag zu „bestimmten Vorgängen“, sondern eine Wissenserklärung über die in der Steuererklärung aufgeführten Tatsachen, die zugleich rechtliche Schlussfolgerungen des Steuerpflichtigen enthält.3 Nach § 79b Abs. 2 Nr. 2 FGO kann der Vorsitzende oder Berichterstatter den Beteiligten darüber hinaus auch auffordern, Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen oder elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist.4

3.678

dd) Präklusion Das Finanzgericht kann gem. § 79b Abs. 3 FGO Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der wirksam gesetzten Frist im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

3.679

– die Ausschlussfrist wirksam und ermessensfehlerfrei gesetzt worden ist (s. Rz. 3.663 ff.) und – ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde (s. Rz. 3.682 f.) und – der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt (s. Rz. 3.684) und – der Beteiligte über die Folgen der Fristversäumung zutreffend belehrt worden ist (s. Rz. 3.681). Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt dann nicht vor.5 Dies gilt allerdings nicht, wenn der Sachverhalt mit geringem Aufwand vom Finanzgericht selbst bis zur Entscheidungsreife ermittelt werden kann (s. Rz. 3.685 f.).

3.680

Ist nach § 79b Abs. 1 und 2 FGO wirksam eine Frist gesetzt worden, kann eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens bzw. eines verspäteten Beweisantritts trotz Fristablaufs nur dann erfolgen, wenn der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist (§ 79b Abs. 3 Nr. 3 FGO). Das Gericht muss den Kläger also darauf hinweisen, dass es Erklärungen und Beweismittel, die nach Ablauf der gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden kann.6 Die Belehrung muss zusammen mit der Fristsetzung erfolgen. Ist eine Belehrung unterblieben oder genügt diese diesen Anforderungen nicht, kann verspätetes Vorbringen bzw. ein verspäteter Beweisantritt nicht zurückgewiesen werden.

3.681

1 Vgl. BFH v. 25.4.1995 – IX R 6/94, BStBl. II 1995, 545. 2 BFH v. 26.10.2011 – IV B 119/10, BFH/NV 2012, 260; v. 19.11.2003 – I B 25/03, AO-StB 2004, 168; v. 24.5.2000 – VI R 182/99, BFH/NV 2000, 1481. 3 BFH v. 26.10.2011 – IV B 119/10, BFH/NV 2012, 260; v. 19.11.2003 – I B 25/03, AO-StB 2004, 168; v. 24.5.2000 – VI R 182/99, BFH/NV 2000, 1481. 4 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 9. 5 BFH v. 14.12.2006 – II B 23/06, BFH/NV 2007, 495. 6 BFH v. 16.1.2006 – VIII B 35/05, BFH/NV 2006, 957.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.682

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Beispiel: Der Berichterstatter setzt dem Kläger nach § 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO eine Frist von einem Monat zur Bezeichnung von Beweismitteln zu im Einzelnen aufgeführten streitigen Tatsachen. Bezüglich der Folgen einer Fristversäumung wird ganz pauschal auf § 79b Abs. 3 FGO hingewiesen. Benennt der Kläger erst in der mündlichen Verhandlung nach Fristablauf Zeugen für die von ihm behaupteten, streitigen Tatsachen, kommt eine Zurückweisung nicht in Betracht, da der Kläger nicht ordnungsgemäß über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist. Das Gericht muss dann die Sache vertagen.

3.682 Weitere Voraussetzung für die Zurückweisung ist nach § 79b Abs. 3 Nr. 1 FGO, dass ohne die Zurückweisung eine Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits eintreten würde. Eine Verzögerung tritt dann ein, wenn der Rechtsstreit bei Zulassung der verspäteten Erklärungen oder von Beweismitteln länger als bei deren Zurückweisung dauern würde.1 Eine Verzögerung in diesem Sinne liegt nicht vor, wenn die mündliche Verhandlung zur gleichen Zeit oder in gleicher Weise wie bei rechtzeitigem Vorbringen durchgeführt werden kann.2 Beispiel: Dem Kläger ist vom Berichterstatter wirksam nach § 79b FGO eine Frist von vier Wochen zur Angabe der Tatsachen gesetzt worden, die das Gericht nach seiner Auffassung bei der Entscheidung hätte berücksichtigen müssen. Der Anordnung kam der Kläger nicht nach. Daraufhin bestimmte der Vorsitzende Termin zur mündlichen Verhandlung. In der mündlichen Verhandlung trägt der Kläger die klagebegründenden Tatsachen vor. In diesem Fall hat der Vorsitzende zunächst eine Erklärung des Beklagten über die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen herbeizuführen. Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten: Variante 1: Der Beklagte bestreitet den Sachvortrag des Klägers nicht, die Tatsachen sind unstreitig. Hat das Gericht auch keine Veranlassung, an den Angaben des Klägers zu zweifeln, ist der Rechtsstreit entscheidungsreif. Eine Zurückweisung des Vorbringens des Klägers kommt dann nicht in Betracht, da eine Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits in diesem Fall nicht eintritt. Die verspätet vorgetragenen Tatsachen sind bei der Entscheidung noch zu berücksichtigen. Variante 2: Der Beklagte bestreitet den Sachvortrag des Klägers, die Tatsachen sind streitig. Damit würde eine Verzögerung des Rechtsstreits eintreten, wenn noch weitere Aufklärungsmaßnahmen erforderlich sind. In diesem Fall kommt eine Zurückweisung des Vorbringens des Klägers als verspätet in Betracht, da das Verfahren sonst verzögert würde. Variante 3: Dem Beklagten müsste aus Gründen der prozessualen Fairness noch Gelegenheit zur Prüfung und Stellungnahme der verspätet vorgelegten Unterlagen des Klägers gegeben werden. In diesem Fall kommt ebenfalls eine Zurückweisung des Vorbringens des Klägers als verspätet in Betracht, da das Verfahren sonst verzögert würde.3

3.683 Sofern die Einhaltung einer Frist nach § 79b Abs. 1 oder 2 FGO aus irgendeinem Grunde nicht möglich war und ein Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt worden ist, kann der Kläger in der Praxis die Zurückweisung seines Vorbringens immer noch verhindern, wenn er – sämtliche klagebegründenden Tatsachen möglichst sofort, spätestens aber noch in der mündlichen Verhandlung vorträgt und – die notwendigen Beweismittel in der mündlichen Verhandlung präsentieren kann (z. B. Urkunden, präsente Zeugen) für den Fall, dass der Beklagte seinen Sachvortrag bestreitet, und 1 Vgl. BFH v. 14.12.2006 – II B 23/06, BFH/NV 2007, 495. 2 BFH v. 14.12.2006 – II B 23/06, BFH/NV 2007, 495. 3 So FG Berlin-Brandenburg v. 16.5.2013 – 10 K 10073/10, EFG 2014, 367, aufgehoben durch BFH v. 15.4.2015 – VIII R 65/13, juris, da die Fristsetzung nicht wirksam war.

238

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.687 Kap. 3

– sich ggf. darauf einstellt, dass er das Verfahren in der mündlichen Verhandlung möglicherweise durch eine Einigung mit dem Beklagten außergerichtlich zu einem Ende bringt, so dass wenigstens ein Teil der verspätet vorgetragenen Tatsachen noch Berücksichtigung findet. Schließlich ist Voraussetzung für die Zurückweisung, dass der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt (§ 79b Abs. 3 Nr. 2 FGO). Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes genügt zur Zurückweisung das Fehlen einer Entschuldigung. Das bedeutet: Es obliegt dem säumigen Beteiligten, ausreichende Entschuldigungsgründe vorzutragen. Eine Hinweispflicht des Finanzgerichts auf die Fristversäumnis und die Möglichkeit einer Entschuldigung besteht nicht.1 Das Gericht kann sich darauf beschränken, die Glaubhaftmachung der vorgetragenen Entschuldigungsgründe zu fordern. Ob die Verspätung genügend entschuldigt ist, ist danach zu beurteilen, ob die nach den Umständen des Einzelfalls und den persönlichen Kenntnissen und Möglichkeiten erforderliche und zumutbare prozessuale Sorgfalt beachtet wurde. Dabei ist das Verschulden des gesetzlichen Vertreters und des Prozessbevollmächtigten dem säumigen Beteiligten zuzurechnen. Da der Verschuldensmaßstab dem der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entspricht, wird auf die entsprechenden Ausführungen zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwiesen (s. Rz. 3.541 ff.).

3.684

Die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens ist in den Fällen ausgeschlossen, in denen es dem Gericht mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des betreffenden Beteiligten zu ermitteln (§ 79b Abs. 3 Satz 3 FGO). Das Gericht muss also trotz Verletzung einer Mitwirkungspflicht von Amts wegen dann noch ermitteln, wenn andere zur Aufklärung geeignete Erkenntnismittel ohne weiteres greifbar sind.

3.685

Welcher gerichtliche Ermittlungsaufwand noch als gering anzusehen ist, hängt von den noch erforderlichen Ermittlungshandlungen ab. Ein geringer Aufwand dürfte dann zu bejahen sein, wenn die ladungsfähige Anschrift eines Zeugen, von dem eine Aufklärung zu erwarten ist, dem Gericht bekannt ist und dieser geladen werden kann. Umfangreiche und umständliche Beweisaufnahmen, insbesondere Prüfungen durch den gerichtseigenen Prüfer oder Sachverständigengutachten, die der Beteiligte bei sachgemäßer Mitwirkung ohne weiteres vermeiden könnte, braucht das Gericht nicht zu veranlassen. Geringer Ermittlungsaufwand für sich allein schließt allerdings die Zurückweisungsmöglichkeit nicht aus. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Ermittlungen auch ohne weitere Mitwirkung des säumigen Beteiligten möglich sind.2

3.686

Die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens steht im Ermessen („kann“) des Gerichts. Dabei können verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle spielen wie, ob der Beteiligte rechtlich bewandert oder sachkundig vertreten ist, ferner die Dauer des Verfahrens, die Dauer der Fristüberschreitung, der Grad des Verschuldens sowie die Möglichkeit einer außergerichtlichen Erledigung. Immer ist aber Voraussetzung für eine Zurückweisung, dass sich das Gericht selbst ordnungsgemäß verhalten hat. Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens ist deshalb ermessensfehlerhaft, wenn das Finanzgericht bei rechtzeitiger und sachgerechter Vorbereitung der mündlichen Verhandlung in der Lage gewesen wäre, die verspätet geltend gemachten Tatsachen und Beweismittel in der Verhandlung zu berücksichtigen.3 Erkennt das

3.687

1 BFH v. 7.5.2002 – X B 137/01, BFH/NV 2002, 1459; v. 8.3.1995 – X B 243-244/94, BStBl. II 1995, 417. 2 BFH v. 30.3.2005 – VI B 24/04, BFH/NV 2005, 1225. 3 BFH v. 17.2.2000 – I R 52-55/99, BStBl. II 2000, 354.

Schaumburg

239

Kap. 3 Rz. 3.688

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Gericht, dass der verspätet vorgetragene Sachverhalt auch unter Berücksichtigung des Akteninhalts in einem entscheidungserheblichen Punkt unvollständig oder unklar ist, muss es die Maßnahmen ergreifen, die zur Klärung des Sachverhalts innerhalb der Frist bis zur mündlichen Verhandlung geeignet erscheinen.1 Beispiel: Der Kläger wird vom Berichterstatter unter Fristsetzung gem. § 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO aufgefordert, den von ihm erklärten Gewinn innerhalb eines Monats im Einzelnen zu erläutern. Der Kläger hält diese Frist nicht ein, legt aber nach drei Monaten zur Erläuterung den zwischenzeitlich erstellten Jahresabschluss vor. Das Gericht nimmt diesen ohne weitere Überprüfung zu den Akten und beraumt ein halbes Jahr später einen Termin zur mündlichen Verhandlung an. In dem Termin wird festgestellt, dass der nach Ablauf der Ausschlussfrist vorgelegte Jahresabschluss hinsichtlich verschiedener Positionen, insbesondere einer Teilwertabschreibung, weiter aufklärungsbedürftig ist. Hier muss – ggf. auch unter Vertagung der mündlichen Verhandlung – der Fall weiter aufgeklärt werden. Eine Zurückweisung des verspätet vorgelegten Jahresabschlusses wäre ermessensfehlerhaft und kommt deshalb nicht in Betracht. Das Gericht musste den Kläger rechtzeitig auf etwaige Bedenken hinweisen und dem Beklagten rechtzeitig auffordern, in der Sache Stellung zu nehmen. Hierfür stand bis zur mündlichen Verhandlung genügend Zeit zur Verfügung.2

3.688 In der Regel ist es rechtmäßig, wenn das Gericht den säumigen Beteiligten mit den ordnungsmäßig angedrohten Konsequenzen seiner Säumnis belastet und sein Vorbringen als verspätet zurückweist. Insofern ist die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens bei Vorliegen der in § 79b Abs. 2 und 3 FGO genannten Voraussetzungen grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft.3 Die Zurückweisung führt dazu, dass das Gericht nach Lage der Akten entscheidet, ob Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. In der Praxis ist es nicht vorhersehbar, ob das Gericht von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch macht. Die Präklusion von Tatsachen oder Beweismitteln muss in der Entscheidung des Gerichts sorgfältig und umfassend begründet werden und ist damit viel zeitaufwändiger als die Sache zu vertagen.

3.689 Die Beteiligten können natürlich auch nach Fristablauf weiterhin Erklärungen und Beweismittel vorzubringen, auf die sich die Ausschlussverfügung nicht bezogen hat. c) Sonderfall: Fristsetzung im Einspruchsverfahren

3.690 Nach § 76 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Finanzgericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der vom Finanzamt nach § 364b Abs. 1 AO gesetzten Frist – diese betrifft in der Regel Schätzungsfälle4 – im Einspruchsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden. Nach § 76 Abs. 3 Satz 2 FGO findet § 79b Abs. 3 FGO entsprechende Anwendung.

3.691 Dies führt zu einem für das Finanzgericht ausgesprochen umständlichen Verfahren: Hat das Finanzamt über den Einspruch unter Zurückweisung von Vorbringen nach § 364b AO entschieden (s. Rz. 2.189 ff.) und wird dagegen Klage erhoben, hat das Gericht bei Prüfung der Begründetheit dieser Klage zunächst zu untersuchen, ob

1 2 3 4

BFH v. 10.6.1999 – IV R 23/98, BStBl. II 1999, 664. BFH v. 30.11.2004 – IX B 29/04, BFH/NV 2005, 711; v. 9.9.1998 – I R 31/98, BStBl. II 1999, 26. Stapperfend in Gräber, § 79b FGO Rz. 50. Vgl. AEAO Tz. 1 zu § 364b.

240

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.696 Kap. 3

– die Ausschlussfrist vom FA wirksam und ermessensfehlerfrei gesetzt worden ist, – der Beteiligte über die Folgen der Fristversäumung zutreffend belehrt worden ist, – die zurückgewiesenen Erklärungen und Beweismittel nach Ablauf der Frist vorgebracht worden sind, – die Verspätung nicht genügend entschuldigt worden ist und – der Sachverhalt nicht mit geringem Aufwand vom Gericht selbst bis zur Entscheidungsreife ermittelt werden kann. Sind alle diese Fragen zu bejahen, setzt die Zurückweisung der Erklärungen oder Beweismittel weiter voraus,

3.692

– dass die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nach der freien Überzeugung des Gerichts verzögern würde. Erst wenn das Gericht zu dieser Überzeugung kommt, liegt es in seinem pflichtgemäßen Ermessen, die Erklärungen oder Beweismittel zurückzuweisen. Das Gericht hat also eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen, ob trotz rechtmäßiger Fristsetzung nach § 364b AO nachträgliches Vorbringen im Klageverfahren zu berücksichtigen ist oder nicht.

3.693

Damit ist die Fristsetzung nach § 364b AO durch die Finanzbehörde in der Praxis nahezu bedeutungslos, wenn später Klage erhoben wird. Das verspätete Vorbringen wird allein durch die Kostenfolge des § 137 Satz 3 FGO sanktioniert.1

3.694

Hat das Finanzamt im Einspruchsverfahren eine Ausschlussfrist gesetzt und Erklärungen und Beweismittel nach § 364b Abs. 1 AO zurückgewiesen, sollte in der Praxis hiergegen unbedingt Klage erhoben werden, da die Fristsetzung durch die Finanzbehörde in der Praxis in diesen Fällen nahezu bedeutungslos ist, wenn die entsprechenden Erklärungen – vor allem Steuererklärungen in Schätzungsfällen – und Beweismittel im Klageverfahren vorgelegt bzw. benannt werden. Die Finanzbehörde hat in diesem Fällen keine Probleme, trotz der früher gesetzten Ausschlussfrist im Klageverfahren einen Abhilfebescheid zu erlassen.2

3.695

4. Beweislast (Feststellungslast) Literatur: Herter, Beweislast und Beweiswürdigung im Besteuerungsverfahren, DB 1985, 1311; Hintze, Indizien in der Finanzrechtsprechung, Bonn 2008; Jansen, Beweislast bei der verdeckten Gewinnausschüttung, DStR 1994, 314; Loschelder, Die Beweislast im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2003, 23; Seibel, Der Beweisantritt im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2002, 169; Voellmeke, Überlegungen zur tatsächlichen Vermutung und zum Anscheinsbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 1996, 1070.

Lässt sich der Sachverhalt nicht aufklären und ist von einer nicht behebbaren Ungewissheit (sog. „non liquet“) auszugehen, wird nach Beweislastgrundsätzen entschieden. Es ergeht ein sog. Beweislasturteil.

1 BFH v. 30.11.2004 – IX B 29/04, BFH/NV 2005, 711 m. w. N.; vgl. auch Rz. 2.191 (Einspruchsverfahren). 2 So AEAO Tz. 5 zu § 364b AO.

Schaumburg

241

3.696

Kap. 3 Rz. 3.697

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.697 Deshalb kommt es immer wieder darauf an, welchen der Beteiligten die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts trifft.1 Die Verteilung der Feststellungslast beruht auf materiell-rechtlichen Regelungen und ist von Fall zu Fall unter Würdigung der einschlägigen Rechtsnormen und ihrer Zweckbestimmung zu beantworten.2 Gesetzlich festgelegte Regeln gibt es insoweit nicht. Die Beweislastgrundregel für den Steuerprozess lautet: Im Allgemeinen trägt das Finanzamt die objektive Beweislast für die den Steueranspruch begründenden Tatsachen, während den Steuerpflichtigen die objektive Beweislast für diejenigen Tatsachen trifft, die die Steuerbefreiung oder Steuerermäßigung begründen oder die den Steueranspruch aufheben bzw. einschränken.3

3.698 Der Steuerpflichtige trägt beispielsweise die Feststellungslast für eine von ihm behauptete betriebliche Veranlassung getätigter Aufwendungen.4 Anhand von vom Steuerpflichtigen darzulegender objektiver Tatsachen muss feststehen, dass die geltend gemachten Aufwendungen in tatsächlichem oder wirtschaftlichem Zusammenhang mit einer konkreten Gewinnerzielungsabsicht angefallen sind und eine ggf. vorliegende private Mitveranlassung unbedeutend ist. Auf Verlangen sind entsprechende Nachweise bzw. Unterlagen vorzulegen.5

3.699 Es kann auch aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung der Beweis des ersten Anscheins für einen typischen Geschehensablauf sprechen.6 Der Beweis des ersten Anscheins enthält eine Anwendung von Erfahrungsregeln auf einen bestimmten Geschehensablauf in dem Sinne, dass bei einem feststehenden typischen Geschehensablauf und nach den Erfahrungen des Lebens auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Kausalverlauf geschlossen werden kann.7 Der Anscheinsbeweis kann durch einen Gegenbeweis entkräftet oder erschüttert werden. Dazu muss nicht das Gegenteil bewiesen werden; es genügt, dass ein Sachverhalt dargelegt wird, der die ernstliche Möglichkeit eines anderen als den der allgemeinen Erfahrung entsprechenden Geschehensablauf ergibt.8

3.700 Beim Indizienbeweis dient eine unter Beweis gestellt Hilfstatsache für den Nachweis der Haupttatsache.9

3.701 Eine Umkehr der Beweislast kann in Betracht kommen, wenn die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts auf ein vorwerfbares Verhalten des jeweils anderen Prozessbeteiligten zurückzuführen ist.10

1 Vgl. hierzu Schmidt-Troje in Beermann/Gosch, § 96 FGO Rz. 62 ff. 2 BFH v. 20.3.1987 – III R 172/82, BStBl. II 1987, 679. 3 BFH v. 13.7.2010 – V B 121/09, BFH/NV 2010, 2015; v. 1.8.2007 – XI R 18/05, BFH/NV 2007, 2104; v. 2.6.2006 – IV B 3/05, BFH/NV 2006, 1652. 4 BFH v. 24.2.2000 – III R 59/98, BStBl. II 2000, 273. 5 BFH v. 24.2.2000 – III R 59/98, BStBl. II 2000, 273. 6 Vgl. BFH v. 2.6.2006 – IV B 3/05, BFH/NV 2006, 1652; v. 21.9.2015 – I R 72/14, BFH/NV 2016, 28. 7 BFH v. 14.3.1989 – VII R 75/85, BStBl. II 1989, 534. 8 Z. B. BFH v. 27.10.2005 – VI B 43/05, BFH/NV 2006, 292; v. 11.7.2005 – X B 11/05, BFH/NV 2005, 1801; v. 4.6.2004 – VI B 256/01, BFH/NV 2004, 1416 m. w. N. 9 BFH v. 11.4.2016 – X B 77/15, BFH/NV 2016, 1171. 10 Vgl. BFH v. 11.3.2015 – V B 83/14, BFH/NV 2015, 852; v. 5.3.2007 – IX B 29/06, BFH/NV 2007, 1174.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.705 Kap. 3

III. Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Literatur: Bilsdorfer, Der Rechtsanwalt und die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, NJW 2001, 331; Bilsdorfer, Die Vorbereitung des Steuerberaters auf die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, INF 2000, 101, 134; Kapp, Der Erörterungstermin – ein wichtiges Instrument des Steuerprozesses, BB 1983, 830; Liehr, Konsensuale Streitbeilegung im finanzgerichtlichen Verfahren, StBW 2011, 226; Mittelbach, Zur Zulässigkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens vor den Finanzgerichten, DStZ 1977, 468; Schmidt-Schneider/Hoffmann, Klagerücknahme oder Hauptsache für erledigt erklären?, Stbg 2000, 151.

1. Vorbereitende Schriftsätze Wie sich aus § 79 Abs. 1 Satz 1 FGO ergibt, soll das Verfahren vom Vorsitzenden oder – was in der Praxis die Regel ist – vom Berichterstatter so vorbereitet werden, dass der Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen ist. Dabei findet der überwiegende Teil des finanzgerichtlichen Verfahrens schriftlich statt.1 Zur Vorbereitung notwendig und zweckmäßig ist die Einreichung von Schriftsätzen seitens der Beteiligten (§ 77 Abs. 1 FGO). Hierzu können die Beteiligten vom Vorsitzenden oder Berichterstatter unter formloser Fristsetzung angehalten werden.

3.702

Den vorbereitenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden (§ 77 Abs. 1 Satz 3 FGO). Die Schriftsätze sollen unterschrieben sein (§ 155 FGO i. V. m. § 130 Nr. 6 ZPO). Sofern die Schriftsätze Anträge oder Prozesserklärungen der Beteiligten enthalten (sog. bestimmende Schriftsätze), ist die Schriftform zwingend vorgeschrieben (s. Rz. 3.30 ff.). Den Schriftsätzen sind die Urkunden, auf die Bezug genommen wird, in Urschrift oder in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren (§ 77 Abs. 2 FGO). Werden die erforderlichen Abschriften oder Kopien für die übrigen Beteiligten nicht beigefügt, so fertigt das Gericht die Kopien gegen Kostenbelastung.2

3.703

Diese Schriftsätze bzw. Abschriften oder Kopien werden den Beteiligten von Amts wegen übermittelt (§ 77 Abs. 1 Satz 4 FGO). Geschieht dies nicht, so wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Denn die Pflicht des Gerichts, rechtliches Gehör zu gewähren, verlangt es, dass den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich zu rechtserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern und ihre für wesentlich erachteten Rechtsansichten vorzutragen.3 Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird ebenfalls verletzt, wenn das Gericht vor Ablauf einer von ihm selbst gesetzten Äußerungsfrist in der Sache entscheidet, auch wenn es die Sache für entscheidungsreif hält4 oder innerhalb der Frist ein Schriftsatz eingegangen, diese aber noch nicht abgelaufen ist.5

3.704

Nach § 52a Abs. 1 FGO können die vorbereitenden Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Beteiligten auch als elektronisches

3.705

1 Vgl. dazu Heide Schaumburg in FS Harald Schaumburg, S. 111 ff. 2 Brandis in Tipke/Kruse, § 77 FGO Rz. 1; FG Köln v. 4.3.2002 – 10 Ko 6401/01, EFG 2002, 785. 3 BFH v. 6.11.2007 – IX B 64/07, BFH/NV 2008, 242; v. 24.4.2005 – IX B 179/03, BFH/NV 2005, 1128. 4 BVerfG v. 27.8.2003 – 1 BvR 1646/02, juris; BFH v. 3.2.2015 – V B 101/14, BFH/NV 2015, 695; v. 15.5.2009 – III B 99/08, juris. 5 BFH v. 3.2.2015 – V B 101/14, BFH/NV 2015, 695.

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Kap. 3 Rz. 3.706

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Dokument bei Gericht eingereicht werden. Einzelheiten betreffend den elektronischen Rechtsverkehr sind insoweit in einer Rechtsverordnung des Bundes für den BFH1 und in Rechtsverordnungen der einzelnen Bundesländer für die Finanzgerichte geregelt (s. Rz. 3.49). Nahezu alle Finanzgerichte nehmen inzwischen am elektronischen Rechtsverkehr teil.2 Einzelheiten ergeben sich insoweit aus den einzelnen Homepages der jeweiligen Gerichte.

3.706 § 52a Abs. 3 FGO verlangt für Dokumente, für die die Schriftform vorgeschrieben ist, ab dem 1.1.2018 zwingend eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 2 Nr. 3 des Signaturgesetzes bzw. die Einhaltung eines anderen sicheren Verfahrens, das die Authentizität und die Integrität des übermittelten elektronischen Dokuments sicherstellt. Für den Schriftverkehr mit dem BFH ist durch Rechtsverordnung ab dem 1.1.2016 ausdrücklich eine qualifizierte elektronische Signatur vorgesehen.3 Für Verfahren vor den Finanzgerichten ist die Verwendung einer elektronischen Signatur bei Zweifeln über die Rechtslage in den jeweiligen Bundesländern zu empfehlen.4 In § 52a Abs. 5 FGO ist bestimmt, dass ein elektronisches Dokument eingegangen ist, sobald die für den Empfang bestimmte Einrichtung des Gerichts es aufgezeichnet hat.

3.707 Bei § 77 Abs. 1 FGO betreffend die vorbereitenden Schriftsätze handelt es sich um eine SollVorschrift. Die Fristsetzung durch das Gericht erfolgt formlos. Dies bedeutet, dass die Beteiligten nicht allein deshalb von einem weiteren Vortrag in der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen sind, weil sie keine oder nur unzulänglich vorbereitende Schriftsätze ausgetauscht oder diesbezüglich gesetzte Fristen versäumt haben. Ob und in welchem Umfang die Beteiligten vorbereitende Schriftsätze einreichen sollten, richtet sich in der Praxis – unabhängig von einer etwaigen Aufforderung durch das Gericht – danach, ob noch weiteres Vorbringen im Hinblick auf die Sachentscheidung des Gerichts erforderlich und zweckmäßig ist. Die vorbereitenden Schriftsätze sollen in erster Linie dazu dienen, neue tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte in das Verfahren einzuführen und bei der Aufklärung des Sachverhalts durch genaue, konkrete und ausführliche Tatsachenschilderung sowie entsprechende Beweisangebote mitzuhelfen. 2. Aktenvorlage Literatur: Gosch, Vorlage der Betriebsprüferhandakten im finanzgerichtlichen Verfahren, StBp. 1992, 263; Georg Grube, Die Bedeutung der Akten im Finanzgerichtsprozess, DStZ 2014, 380.

3.708 Gem. § 71 Abs. 2 FGO hat das beklagte Finanzamt die den Streitfall betreffenden Akten nach Empfang der Klageschrift an das Gericht zu übersenden. Diese Regelung ist unpraktisch, wenn die Klage noch nicht begründet worden ist, da das Finanzamt die Akten zur Klageerwiderung selbst noch einmal benötigt. Deshalb werden die Akten in der Regel erst mit der ersten Stellungnahme des Finanzamts an das Gericht übersandt.5 Der Kläger darf jedenfalls davon ausgehen, dass dem Gericht die Steuerakten baldmöglichst zur Verfügung stehen, so dass das Gericht bereits bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Kenntnis vom Inhalt der Steuerakten besitzt. Deshalb erübrigt es sich für den Kläger, Ablichtungen von Verwaltungs1 Einzelheiten zu dem beim BFH zu benutzenden Verfahren sind den Internetseiten des BFH unter www.bundesfinanzhof.de, Stichwort „Elektronischer Rechtsverkehr“ zu entnehmen. 2 S. zum aktuellen Stand www.egvp.de/gerichte/index.php. 3 § 2 Abs. 2a der ÄnderungsVO v. 10.12.2015, BGBl. I 2015, 2207 zur VO v. 26.11.2004. 4 Ebenso Brandis in Tipke/Kruse § 52a FGO Rz. 1 m. w. N. 5 Vgl. dazu Georg Grube, DStZ 2014, 380.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.710 Kap. 3

vorgängen (Einspruchsschreiben, Korrespondenz mit dem Finanzamt, Betriebsprüfungsberichte usw.) vorzulegen. Er sollte vielmehr hierauf Bezug nehmen und, falls dem Gericht die betreffenden Unterlagen nicht vorliegen sollten, das Gericht hierdurch zur Beiziehung der betreffenden Unterlagen veranlassen. Allerdings sollen dem Gericht nach § 65 Abs. 1 Satz 4 FGO bereits mit der Klage das Original oder eine Abschrift des angefochtenen Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung vorgelegt werden (s. Rz. 3.29). Das Finanzamt hat gem. § 71 Abs. 2 FGO die den Streitfall betreffenden Akten vorzulegen. Das sind die Akten, deren Inhalt im Hinblick auf den Gegenstand des Rechtsstreits für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage und für die Entscheidung erheblich sein kann.1 Dazu gehören nicht nur die eigentlichen Steuerakten, sondern – soweit vorhanden – auch Bilanzakten, Betriebsprüfungsakten, ggf. auch die Handakten des Betriebsprüfers2 oder Steuerfahndungsakten.3 Das Finanzamt hat die Akten vollständig vorzulegen. Eine dem äußeren Anschein nach ordnungsgemäß geführte Dokumentation hat dabei grundsätzlich die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit für sich.4 Eine durchlaufende Paginierung der Akten ist zwar wünschenswert; sie kann aber durch andere nachvollziehbare Ordnungsprinzipien, wie das Einheften nach der zeitlichen Reihenfolge der Vorgänge, ersetzt werden.5 Wenn die vorgelegten Steuerakten den Eindruck inhaltlicher Geschlossenheit vermitteln und nach dem inhaltlichen Zusammenhang der Vorgänge sich in keiner Weise das Fehlen irgendwelcher Vorgänge aufdrängt, ist davon auszugehen, dass die Akten vollständig sind, sofern die Beteiligten nichts anderes vortragen. Bei elektronischer Aktenführung muss das Finanzamt entweder dem Finanzgericht und den Beteiligten einen elektronischen Zugang entsprechend § 78 Abs. 2 FGO eröffnen oder die Akten – so authentisch wie möglich – ausdrucken.6

3.709

Behörden – und somit auch das Finanzamt – sind nach § 86 Abs. 1 FGO zur Vorlage von Urkunden und Akten sowie zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet, soweit nicht durch das Steuergeheimnis (§ 30 AO) geschützte Verhältnisse Dritter unbefugt offenbart werden. Das bedeutet: Es dürfen keine Akten oder Aktenteile zurückbehalten werden. Dies gilt auch für etwaige interne Unterlagen wie Entwürfe, Gutachten, vorbereitende Arbeiten.7 Befinden sich allerdings in den Steuerakten vertrauliche Mitteilungen von Hinweisgebern (Anzeigenerstatter usw.), so ist das Finanzamt grundsätzlich befugt, diese Aktenteile auszuheften und nicht vorzulegen. Hat das Gericht von einer derartigen vertraulichen Mitteilung Kenntnis erhalten, darf es diese Kenntnis nicht verwerten und nicht in die Entscheidungsfindung einfließen lassen.8 Neben dem Steuergeheimnis Dritter in § 86 Abs. 1 Halbs. 2 sieht § 86 Abs. 2 FGO weitere Gründe vor, die zur Verweigerung der Vorlage- und Übermittlungspflichten führen können. Es geht hier darum, dass das Bekanntwerden von Urkunden, elektronischen Dokumenten oder Akten oder von Auskünften dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge aus anderen Gründen geheim gehalten werden müssen.9

3.710

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 16.1.2013 – III S 38/11, BFH/NV 2013, 701 m. w. N. BFH v. 24.5.2012 – IV B 58/11, BFH/NV 2012, 1466. BFH v. 25.7.1994 – X B 333/93, BStBl. II 1994, 862. BFH v. 18.3.2008 – V B 243/07, BFH/NV 2008, 1134 m. w. N. BFH v. 31.1.2002 – X B 184/01, BFH/NV 2002, 674. Herbert in Klein, § 71 AO Rz. 5. So auch Seer in Tipke/Kruse, § 86 FGO Rz. 4 m. w. N. BFH v. 25.7.1994 – X B 333/93, BStBl. II 1994, 802. Einzelheiten hierzu s. bei Seer in Tipke/Kruse, § 86 FGO Rz. 8 ff.

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Kap. 3 Rz. 3.711

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.711 Hält das Finanzamt Unterlagen zurück, so hat das Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht darüber zu befinden, ob der Inhalt in Anbetracht des Gegenstandes des Rechtsstreits für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage wesentlich und deshalb die Vorlage im Rahmen der Beweiserhebung/Amtsermittlung anzuordnen ist.1 Ggf. sollte der Steuerpflichtige bzw. sein Berater einen entsprechenden Antrag beim Gericht stellen. Dies gehört zu den Obliegenheiten, um ggf. später vor dem BFH die Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das Gericht geltend machen zu können.2 Beispiel: Der Steuerpflichtige stellt bei der Akteneinsicht fest, dass Aktenteile (S. 20 bis 30 d. A.) fehlen und die vom Finanzamt übersandten Akten unvollständig sind. Hier sollte er unter konkreter Benennung der fehlenden Aktenteile den Antrag stellen, diese fehlenden Aktenteile zum Verfahren beizuziehen und erläutern, warum diese Aktenteile entscheidungserheblich sind. Dadurch gibt er dem Finanzgericht die Möglichkeit, sich diese Aktenteile vom Finanzamt im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) vorlegen zu lassen. 1. Alternative: Das Gericht zieht die Akten aufgrund ihrer Entscheidungserheblichkeit bei. In diesem Fall ist es dem steuerpflichtigen Kläger unbenommen, auch in diese Akten Einsicht zu nehmen. 2. Alternative: Das Gericht lehnt den Antrag auf Beiziehung der Akten durch unanfechtbaren Beschluss ab. Dies darf der Kläger nicht auf sich beruhen lassen, er muss die Nichtbeiziehung der Akten vielmehr in seinen weiteren Schriftsätzen oder zu Protokoll rügen.3 Das Gericht verstößt nämlich gegen seine Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts, wenn es die Beiziehung von entscheidungserheblichen Akten unterlässt.4

3.712 Die Beteiligten können das Gericht nicht zwingen, bestimmte Akten zum Verfahren beizuziehen. Die beizuziehenden Akten müssen vielmehr aus der Sicht des Gerichts entscheidungserheblich sein. Das bloße Unterlassen der Anordnung der Aktenvorlage durch das Finanzgericht ist nicht beschwerdefähig, weil die FGO eine Untätigkeitsbeschwerde nicht kennt.5 Die Ablehnung des Antrags auf Beiziehung von Akten durch Beschluss ist nach § 128 Abs. 2 FGO grundsätzlich unanfechtbar. Die Beschwerdemöglichkeit ist nur ausnahmsweise gegeben, wenn durch eine etwaige Verweigerung der Akteneinsicht das rechtliche Gehör derart beeinträchtigt würde, dass der Steuerpflichtige nicht in der Lage ist, ohne Akteneinsicht sein Rechtsschutzbegehren effektiv formulieren zu können.6 Auch hier empfiehlt es sich aber für den Kläger, die Nichtbeiziehung der Akten ausdrücklich in seinem nächsten Schriftsatz oder zu Protokoll zu rügen, da das Gericht gegen seine Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts verstößt, wenn es die Beiziehung von entscheidungserheblichen Akten unterlässt,7 was später ggf. mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann. Weigert sich aber das Finanzamt, Akten oder Aktenteile auf die gerichtliche Anforderung vorzulegen, so wird hierüber nach § 86 Abs. 3 FGO auf Antrag eines Beteiligten ohne mündliche Verhandlung in einem Zwischenverfahren8 – sog. In-camera-Verfahren9 – durch Beschluss entschie-

1 2 3 4 5 6 7 8

BFH v. 26.6.1996 – X R 53/95, BFH/NV 1997, 293. Vgl. dazu BFH v. 12.12.2012 – XI B 70/11, BFH/NV 2013, 705. Vgl. BFH v. 3.4.2013 – X B 8/12, BFH/NV 2013, 1065. Vgl. dazu BFH v. 12.12.2012 – XI B 70/11, BFH/NV 2013, 705. BFH v. 17.9.2007 – I B 93/07, BFH/NV 2008, 387 m. w. N. BFH v. 17.9.2007 – I B 93/07, BFH/NV 2008, 387 m. w. N.; Herbert in Gräber, § 71 FGO Rz. 9. BFH v. 12.12.2012 – XI B 70/11, BFH/NV 2013, 703. BFH v. 3.6.2015 – VII S 11/15, BFH/NV 2015, 1100; v. 25.2.2014 – V B 60/12, BStBl. II 2014, 745. 9 BFH v. 25.2.2014 – V B 60/12, BStBl. II 2014, 745.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.714 Kap. 3

den, ob die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig ist.1 Hierfür ist ausschließlich der BFH zuständig. 3. Akteneinsicht Literatur: Bohl, Der „ewige Kampf“ des Rechtsanwalts um die Akteneinsicht, NVwZ 2005, 133; Dissars, Akteneinsicht im steuerlichen Verwaltungsverfahren, DStR 2005, 137; Felix, Aktenübersendung in das Büro des Prozessbevollmächtigten als Gebot der Waffengleichheit, KÖSDI 1992, 9051; Gehm, Akteneinsichtsrecht im Steuer- und Steuerstrafverfahren nebst Bußgeldverfahren, BuW 2003, 105; Gosch, Vorlage der Betriebsprüferhandakten im finanzgerichtlichen Verfahren, StBp 1992, 263; Gräber, Akteneinsicht durch Beteiligte und ihre Bevollmächtigten im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ 1980, Georg Grube, Die Bedeutung der Akten im Finanzgerichtsprozess, DStZ 2014, 380; Gruber, Das Recht auf Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren, StB 1998, 37; Grundmann, Erweiterter Informationszugang gegenüber den Finanzbehörden durch die Informationsfreiheitsgesetze?, AO-StB 2004, 130; Hendricks, Arbeitsbogen des Außenprüfers – Einsichtsrecht des Steuerpflichtigen und Vorlagepflicht beim Finanzgericht, StBp 1985, 67; Kalmes, Arbeitsbogen des Außenprüfers – Einsichtsrecht des Steuerpflichtigen und Vorlagepflicht beim Finanzgericht, StBp 1986, 40; Paetsch, Persönliche Akteneinsicht durch die Beteiligten im Revisionsverfahren?, DStZ 2007, 79; Rößler, Einsichtnahme in Gerichtsakten, INF 2006, 303; Stöcker, Verfassungswidriges Versagen der Akteneinsicht, AO-StB 2002, 161; Streck/Mack/Schwedhelm, Akteneinsicht auch für Betriebsprüfer-Handakte möglich, Stbg 1995, 135; Streck/Mack/Schwedhelm, Akteneinsichtsrecht im finanzgerichtlichen Verfahren, Stbg 1992, 326; Stuhldreier, Keine Akteneinsicht bei Gesamtschuldnerschaft, AO-StB 2001, 133.

a) Einsichtnahme Gem. § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Dies gilt gleichermaßen für Akten, die wie bisher und wohl auch noch in nächster Zeit in Papierform oder aber zukünftig in elektronischer Form2 geführt werden. Nach § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO können die Beteiligten sich auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Diese Möglichkeit der Akteneinsicht ist Ausfluss des Grundrechtes auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG).3 Mit dem Recht auf Akteneinsicht wird gewährleistet, dass die Beteiligten zu den in den vorgelegten und beigezogenen Akten enthaltenen Tatsachen Stellung nehmen können, bevor das Gericht sie zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Sofern das Gericht die Akteneinsicht zu Unrecht verweigert, gleichwohl aber die Akten auswertet, liegt ein Verfahrensfehler i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3 FGO vor.4

3.713

Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten auf ihr Recht zur Akteneinsicht hinzuweisen. Es hat die Beteiligten lediglich davon in Kenntnis zu setzen, wenn es Akten anderer Behörden oder Gerichte oder andere Akten des beklagten Finanzamts als die den Streitfall unmittelbar betreffenden Steuerakten hinzugezogen hat. Es ist grundsätzlich auch nicht erforderlich, dass das Gericht dem Kläger mitteilt, welche Tatsachen die ihm vorgelegten Steuerakten ent-

3.714

1 Vgl. dazu BFH v. 7.12.2006 – V B 163/05, BStBl. II 2007, 275. 2 Die in § 52b FGO eingeführten Regelungen zur Führung elektronischer Akten, die nach § 52b Abs. 1a FGO ab dem 1.1.2026 geführt werden müssen, richten sich vornehmlich an die Justiz, insbesondere sind keine Vorgaben für die rechts- und steuerberatenden Berufe ersichtlich, wie diese ihre Akten zu führen haben, auch wenn die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr einen individuellen Weg zur digitalen Aktenführung nahelegt, s. hierzu auch Jost/Kempe, NJW 2017, 2705. 3 BFH v. 25.5.2011 – VI B 3/11, BFH/NV 2012, 46; v. 22.5.2002 – VI B 2/02, BFH/NV 2002, 1168. 4 BFH v. 31.8.2015 – VI B 14/15, juris; Thürmer in HHSp, § 78 FGO Rz. 170.

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Kap. 3 Rz. 3.715

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

halten und welche Teile aus diesen Akten es voraussichtlich verwerten wird.1 Der Kläger hat nämlich die Möglichkeit, in Ausübung seines Rechts auf Akteneinsicht von sich aus festzustellen, welche Akten, insbesondere der beklagten Behörde, dem Gericht vorliegen und was diese beinhalten,2 so dass er zu den in vorgelegten und beigezogenen Akten enthaltenen Tatsachen Stellung nahmen kann.3

3.715 Das Recht auf Akteneinsicht steht jedem Beteiligten und dem Bevollmächtigten zu. Auch Beigeladene haben also einen Anspruch auf Akteneinsicht, da sie gem. § 57 Nr. 3 FGO Beteiligte sind. Von der Möglichkeit der Akteneinsicht wird in der Praxis erfahrungsgemäß zu wenig Gebrauch gemacht. Jedem Beteiligten bzw. Berater kann nur empfohlen werden, Einblick insbesondere in die Steuerakten zu nehmen, da gerade die Steuerakten häufig wesentliche Hinweise auf die Meinungsbildung innerhalb des Finanzamtes enthalten. Die Kenntnis dieser Umstände kann für die erfolgreiche Durchführung des Prozesses erhebliche Bedeutung gewinnen. So kann der Steuerpflichtige bzw. sein Berater gerade durch die Einsichtnahme in die Steuerakten für ihn günstige Tatsachen entdecken. Es kann für den Beteiligten prozessuale Nachteile zur Folge haben, wenn er die Akteneinsicht unterlässt. So kann er beispielsweise in einem Revisionsverfahren nicht geltend machen, dass ihm das rechtliche Gehör versagt worden sei, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung aus den Akten ersichtliche, dem Beteiligten aber unbekannt gebliebene Tatsachen verwertet oder aber zu seinen Ungunsten nicht verwertet.4 Beispiel: Im Anschluss an eine Betriebsprüfung hat das Finanzamt einen Änderungsbescheid zuungunsten des Steuerpflichtigen mit der Begründung erlassen, die durch die Betriebsprüfung festgestellten Tatsachen seien nachträglich i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden. Durch Einblick in die Steuerakten stellt der Steuerpflichtige aufgrund eines in den Akten befindlichen Vermerks fest, dass die behaupteten Tatsachen dem Finanzamt bereits bei der ursprünglichen Veranlagung bekannt gewesen waren. Die Einsichtnahme in die Steuerakten wird hier der Klage zum Erfolg verhelfen, weil die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO für eine Änderung des ursprünglichen Steuerbescheides nicht vorlagen; die behauptete Tatsache war dem Finanzamt damit nicht nachträglich bekannt geworden.

3.716 Das Recht auf Akteneinsicht erstreckt sich auf die Gerichtsakten sowie sämtliche dem Gericht vorgelegten Akten in der konkreten Streitsache. Bei letzteren handelt es sich um diejenigen Akten, welche dem Gericht tatsächlich vorliegen.5 Ein Recht auf Einsicht in die dem Gericht nicht vorgelegten Akten besteht demgegenüber nicht.6

3.717 Die Belange Dritter sind nach § 30 AO auch im Rahmen des § 78 FGO geschützt.7 Sollten nach § 30 AO geschützte Verhältnisse Dritter versehentlich an das Finanzgericht gelangen, so hat das Finanzgericht, was in der Praxis auch tatsächlich geschieht, diese Vorgänge vor

1 BFH v. 7.10.2015 – VI B 49/15, BFH/NV 2016, 38; Stapperfend in Gräber, § 78 FGO Rz. 7; s. dazu auch Georg Grube, DStZ 2014, 380. 2 So st. Rspr., z. B. BFH v. 20.12.2005 – V B 222/04, BFH/NV 2006, 774; v. 30.4.1998 – III B 3/98, BFH/NV 1999, 180. 3 BFH v. 7.10.2015 – VI B 49/15, BFH/NV 2016, 38. 4 BFH v. 13.3.2007 – VI S 14/06 (PKH), BFH/NV 2007, 1328. 5 BFH v. 11.9.2013 – I B 179/12, BFH/NV 2014, 48 m. w. N. 6 BFH v. 11.9.2013 – I B 179/12, BFH/NV 2014, 48 m. w. N. 7 Vgl. BFH v. 10.4.2015 – III B 42/14, BFH/NV 2015, 1102 m. w. N.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.721 Kap. 3

der Einsichtnahme der Beteiligten in die Akten an die Behörde zurückzusenden.1 Ein Akteneinsichtsrecht besteht insoweit nicht.2 Regelmäßig wird allerdings der Einblick in die Gerichtsakten für die Beteiligten uninteressant sein. Denn in aller Regel enthalten die Gerichtsakten die dem Beteiligten ohnehin bekannten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie prozessleitende Verfügungen und Beschlüsse des Gerichts. Bei Versäumung einer Ausschlussfrist könnte allerdings die Einsichtnahme in die Postzustellungsurkunde interessant sein.

3.718

Außerdem können bestimmte Teile der Gerichtsakten gem. § 78 Abs. 4 FGO nicht eingesehen werden, nämlich die Entwürfe von Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen, die Arbeiten zu ihrer Vorbereitung, ferner die Dokumente, die Abstimmungen oder Ordnungsstrafen des Gerichts betreffen. Diese Vorschrift dient dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und soll die durch das Beratungsgeheimnis geschützte Unbefangenheit bei der Urteilsfindung gewährleisten.3

3.719

Die Akteneinsicht ist auf Antrag unverzüglich zu gewähren. Zwischen der entsprechenden Mitteilung und der mündlichen Verhandlung muss ein ausreichender Zeitraum für die Vornahme der Akteneinsicht und eine etwaige Stellungnahme gegeben sein. Ist allerdings eine sofortige Stellungnahme ohne Schwierigkeiten machbar, reicht auch die Möglichkeit der Akteneinsicht in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht aus.4 Genügt dies dem Berechtigten nicht, muss er Vertagung beantragen.5

3.720

b) Ort der Einsichtnahme Werden die Prozessakten in Papierform geführt, so wird nach § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO die Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt, d. h. in Räumlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd dem öffentlichen Dienst zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein Träger öffentlicher Gewalt das Hausrecht ausübt.6 Der Begriff „Prozessakte“ ist dabei mit dem Begriff „Gerichtsakte“ in § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO identisch. Durch diese ab dem 1.1.2018 geltende gesetzliche Regelung betreffend den Ort der Akteneinsicht wird es den Beteiligten sowie ihren Prozessbevollmächtigten nach der gesetzlichen Grundentscheidung grundsätzlich zugemutet, sich zur Akteneinsicht in „Diensträume“ zu begeben. Dies kodifiziert die bisherige Praxis: Danach erfolgt die Einsichtnahme in der Regel in den Räumen des Finanzgerichts. Allerdings kann die Akteneinsicht auch bei einem Finanzamt oder einem anderen Gericht vorgenommen werden. Insoweit ist es im Regelfall sachgerecht, die Akten an dasjenige Finanzamt oder Gericht zu versenden, das dem Wohnsitz oder Büro des zur Akteneinsicht Berechtigten am nächsten liegt, wenn dieser Berechtigte seinen Wohnsitz oder sein Büro nicht am Ort des Finanzgerichts hat.7 Erfahrungsgemäß pflegen die Gerichte die Akten dem Finanzamt oder etwa einem auswärtigen Amtsgericht zuzusenden, da1 Vgl. Georg Grube, DStZ 2014, 380. 2 Vgl. BFH v. 10.4.2015 – III B 42/14, BFH/NV 2015, 1102 m. w. N.; Stalbold in Beermann/Gosch, § 78 FGO Rz. 28. 3 BFH v. 13.12.1973 – VII B 71/72, BStBl. II 1973, 253. 4 BFH v. 31.8.2015 – VI B 14/15, juris. 5 BFH v. 31.8.2015 – VI B 14/15, juris; Thürmer in HHSp, § 78 FGO Rz. 72,72. 6 So ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 18/9416 v. 17.8.2016, S. 56. 7 So die st. Rspr., z. B. BFH v. 27.1.2016 – IV B 128/15, BFH/NV 2016, 767; v. 3.12.2012 – X B 222/12, BFH/NV 2013, 571, m. w. N.

Schaumburg

249

3.721

Kap. 3 Rz. 3.722

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

mit ein Beteiligter dort Akteneinsicht nehmen kann, sofern ein entsprechender Antrag gestellt wird.

3.722 Ab dem 1.1.2018 kann bei Papierakten die Akteneinsicht, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden (§ 78 Abs. 3 Satz 2 FGO). In diesen Fällen ist der Ort für die Akteneinsicht grundsätzlich die Wohnung oder das Büro des Klägers oder seines Beraters. Diese Neuregelung ermöglicht es dem Gericht, im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, ob zum Zweck der Akteneinsicht eine elektronische Fassung der Papierakten (z. B. ein PDF-Dokument) hergestellt und zum Abruf bereitgehalten werden soll oder ob die Akteneinsicht wie bisher durch Einsichtnahme in die Originalakte erfolgt.1 Da der Begriff „Abruf“ die Möglichkeit eines Herunterladens des Datenpakets einschließt, setzt ein Abruf der Akten auf Seiten des Antragstellers ein Vorhandensein von entsprechender Hard- und Software voraus.2 Der Begriff der „wichtigen Gründe, die einem elektronischen Abruf entgegenstehen können“, sollte eng ausgelegt werden, da durch die Neuregelung in § 78 Abs. 3 FGO die Durchführung der Akteneinsicht abschließend geregelt wird und damit eine Überlassung der Originalakten in die Wohn- oder Geschäftsräume des Prozessbevollmächtigten3 entfallen dürfte.

1 So ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 18/9416 v. 17.8.2016, S. 57. 2 BT-Drucks. 18/9416 v. 17.8.2016, S. 56. 3 Zu diesem Ausnahmefall gab es in den letzten Jahren eine umfangreiche Rechtsprechung: In aller Regel wurden einem Bevollmächtigten die Akten aber nicht in dessen Wohn- oder Geschäftsräumen überlassen. Bei der Ermessensentscheidung, die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Kanzleiräumen zu überlassen, waren nach ständiger Rechtsprechung des BFH (v. 13.12.2012 – X B 221-222/12, BFH/NV 2013, 571 m. w. N.) die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, also das öffentliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang (Gefahr von Beweismittelverlusten, Erforderlichkeit eines jederzeitigen gerichtlichen Aktenzugriffs zur Vorbereitung der kurz bevorstehenden mündlichen Verhandlung, Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten oder gerichtsbekannte Unzuverlässigkeit des Prozessbevollmächtigten) einerseits mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten bei Gewährung der Akteneinsicht beim Prozessbevollmächtigten andererseits. Die Rechtsprechung ist hier sehr streng und lässt nur ausnahmsweise und in besonderen Fällen die vorübergehende Überlassung der Akten an den Prozessbevollmächtigten zu. Die Rechtsprechung mutet dem Prozessbevollmächtigten vielmehr grundsätzlich zu, sich zur Ausübung seines Rechts auf Akteneinsicht zum Finanzgericht oder ggf. zu einer ortsnäher liegenden Behörde, an die die Akten übersandt werden, zu begeben. Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit der Akteneinsicht außerhalb der Kanzleiräume verbunden sein können (z. B. räumliche Enge bei Gericht oder einer anderen Behörde sowie der Zeitaufwand für die Anreise zum örtlich nächstgelegenen Finanzamts- oder Gerichtsgebäude des Prozessbevollmächtigten), rechtfertigten auch bisher keine Ausnahme von der Regel (BFH v. 27.1.2016 – IV B 128/15, BFH/NV 2016, 767; v. 11.6.2002 – V B 5/02, BFH/NV 2002, 1664). Bisher anerkannte Ausnahmen lagen vor (1.) bei körperlicher Behinderung des Beteiligten oder seines Prozessbevollmächtigten, die eine Akteneinsicht bei Gericht unzumutbar erscheinen lässt (BFH v. 11.10.1985 – III B 57/84, BFH/NV 1986, 227), (2.) wenn die einzusehenden Akten außergewöhnlich umfangreich und unübersichtlich sind und es dem Prozessbevollmächtigten deshalb innerhalb der Dienstzeiten des Gerichts auch bei intensivem Bemühen voraussichtlich nicht möglich sein wird, sich innerhalb eines angemessenen Zeitraums über den Akteninhalt zu informieren (BFH v. 14.1.2015 – V B 146/14, BFH/NV 2015, 517), oder (3.) wenn wegen zu großer Entfernung der Geschäftsräume des Prozessbevollmächtigten von dem Finanzgericht (hier: Entfernung ca. 215 km) eine Einsichtnahme der Akten in den Räumen des Finanzgerichts und auch in den Räumen einer örtlich näher gelegenen Behörde nicht zumutbar erscheint (BFH v. 27.1.2016 – IV B 128/15, BFH/NV 2016, 767).

250

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.725 Kap. 3

In der Praxis empfiehlt es sich, bei beabsichtigter Akteneinsicht einen schriftlichen oder fernmündlichen Antrag bei dem Finanzgericht zu stellen und einen entsprechenden Termin zur Durchführung der Akteneinsicht zu vereinbaren. Andernfalls läuft man Gefahr, dass die bereits bewilligte Akteneinsicht schon deshalb nicht durchgeführt werden kann, weil die Akten sich im Geschäftsgang befinden, oder so schnell keine Entscheidung über die Akteneinsicht herbeigeführt werden kann, sollte diese noch nicht bewilligt worden sein. Ferner empfiehlt es sich, spätestens vor Durchführung der Akteneinsicht eine schriftliche Vollmacht vorzulegen, da dem vollmachtlosen Prozessvertreter keine Akteneinsicht gewährt werden darf. Schließlich sollte der Antrag auf Akteneinsicht rechtzeitig und nicht erst kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellt werden, da die Akten normalerweise kurz vor der mündlichen Verhandlung vom Gericht benötigt werden und nicht mehr versandt werden.

3.723

Bei elektronisch geführten Prozessakten wird die Akteneinsicht nach § 78 Abs. 2 Sätze 1-4 FGO durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt. Dies ist der Regelfall und bedeutet einen elektronischen Zugriff auf den Inhalt der Prozessakten von der Wohnung des Steuerpflichtigen oder vom Büro des Prozessbevollmächtigten aus. Allerdings kann auf besonderen Antrag die Einsichtnahme in die elektronischen Akten in den Diensträumen gewährt werden (§ 78 Abs. 2 Satz 2 FGO). Dies setzt voraus, dass das Gericht oder eine andere Behörde über ein entsprechend ausgestattetes Einsichtsterminal verfügt,1 so dass die elektronische Akte auf einem hierfür geeigneten Gerät wahrnehmbar gemacht wird. § 78 Abs. 3 Satz 3 FGO eröffnet mit der Übermittlung von Ausdrucken oder eines Datenträgers eine weitere Form der Akteneinsicht. Hierbei handelt es sich um die Ausnahme, die nur auf Antrag und bei einem berechtigten Interesse des Antragstellers gewährt wird. Ein berechtigtes Interesse für die Übermittlung von Ausdrucken ist nicht bereits dann gegeben, wenn der Antragsteller das Lesen von Aktenausdrucken subjektiv als angenehmer empfindet als das Lesen an einem Bildschirm. Es kann dann anzunehmen sein, wenn der Antragsteller über keine technischen Möglichkeiten zur Wiedergabe elektronischer Dokumente verfügt und es ihm unzumutbar ist, zur Wiedergabe einen Dienstraum aufzusuchen.2 Stehen der Akteneinsicht durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf wichtige Gründe entgegen – etwa wenn die abstrakte Gefahr besteht, dass der Akteninhalt verändert werden könnte3 –, wird die Akteneinsicht durch die Übermittlung eines Aktenausdrucks oder eines Datenträgers mit dem Inhalt der Akten auch ohne Antrag gewährt (§ 78 Abs. 2 Satz 4 FGO).

3.724

c) Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke, Abschriften Gem. § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO können die Beteiligten sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Hierunter fallen nach einhelliger Auffassung auch Ablichtungen.4 Die Anfertigung der Kopien aus den Akten hat durch den Geschäftsstellenbeamten zu erfolgen. Es ist grundsätzlich Sache der Geschäftsstelle, den Akten die zur Anfertigung der Kopien benötigten Blätter zu entnehmen, diese antragsgemäß zu vervielfältigen und dann wieder einzuheften. Ein Anspruch des Beteiligten darauf, die gesamten Akten unter Benutzung der gerichtseigenen Kopiergeräte oder eines eigenen mitgebrachten Kopiergerätes selbst zu kopieren, besteht demnach nicht.5

1 2 3 4 5

BT-Drucks. 18/9416 v. 17.8.2016, S. 56. BT-Drucks. 18/9416 v. 17.8.2016, S. 57. BT-Drucks. 18/9416 v. 17.8.2016, S. 57. Brandis in Tipke/Kruse, § 78 FGO Rz. 14. BFH v. 18.2.2008 – VII S 1/08 (PKH), BFH/NV 2008, 1169.

Schaumburg

251

3.725

Kap. 3 Rz. 3.726

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.726 Ein Anspruch auf Abschriften/Kopien usw. besteht nur insoweit, als die Erteilung von Abschriften usw. geeignet ist, die Prozessführung zu erleichtern. Denn Zweck der Vorschrift ist es, den Beteiligten die zur ordnungsgemäßen Prozessführung nötigen Unterlagen zu sichern. Umfangreiche Abschriften oder Ablichtungen können deshalb ohne ein begründetes Interesse nicht verlangt werden, wenn ein Beteiligter sein Ziel auch durch Akteneinsicht erreichen kann. Aus § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO lässt sich kein Anspruch auf Überlassung von Fotokopien der gesamten Gerichtsakten und der gesamten dem Gericht vorgelegten Akten ableiten.1 Beispiel: Rechtsanwalt X stellt beim Finanzgericht den Antrag, ihm komplette Ablichtungen der Gerichtsakten sowie der dem Gericht vorgelegten Steuerakten einschließlich der Bilanzakten, Betriebsprüfungsakten und Betriebsprüferhandakten in seine Kanzlei zu übersenden. Ein solcher Antrag könnte als missbräuchlich abgewiesen werden, da nicht erkennbar ist, dass die Erteilung von Kopien der gesamten Akten geeignet und erforderlich ist, die Prozessführung zu erleichtern. X würde besser Akteneinsicht beantragen und könnte versuchen zu erreichen, dass ihm die Akten in sein Büro überlassen werden, da er diese kopieren will. Er könnte versuchen, dies mit dem zuständigen Richter telefonisch zu klären und ihm zusichern, dass er die Akten persönlich abholen und zwei Tage später wieder zurückbringen wird.

3.727 Die Entscheidung über die Erteilung von Ablichtungen usw. trifft der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle. An seiner Stelle kann auch der Vorsitzende, der von ihm bestimmte Berichterstatter oder der Senat entscheiden.2 d) Rechtsbehelfe

3.728 Lehnt der Urkundsbeamte die Erteilung von Abschriften/Kopien ab, so kann nach § 133 Abs. 1 FGO innerhalb von zwei Wochen eine Entscheidung des Gerichts beantragt werden. Lehnt das Gericht die beantragte Akteneinsicht oder die Erteilung von Ausfertigungen u. Ä. förmlich durch Beschluss ab, so ist gegen diese Entscheidung, die der Vorsitzende, der Berichterstatter oder der Senat treffen kann, die Beschwerde (§ 128 Abs. 1 FGO) gegeben.3 Bei Überprüfung der Ermessensausübung durch das Finanzgericht ist der BFH gehalten, eigenes Ermessen auszuüben.4 Die bloße formlose Mitteilung des Vorsitzenden oder des Berichterstatters, dass die Akten, in die Einsicht begehrt wird, dem Gericht noch nicht vorliegen, ist keine beschwerdefähige Entscheidung.5

3.729 Wird die Akteneinsicht oder Abschriftenerteilung zu Unrecht ausdrücklich abgelehnt oder eingeschränkt oder ist die Akte unvollständig und wird der Akteninhalt gleichwohl bei der Sachentscheidung verwertet, so liegt ein Verfahrensmangel i. S. von §§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 119 Nr. 3 FGO (Verletzung des rechtlichen Gehörs) vor. Bleibt der Antragsteller nach einem Verfahrensverstoß untätig, kann er sein Rügerecht verlieren, da es sich um einen verzichtbaren Verfahrensmangel handelt.6 An den Vortrag des Klägers werden insoweit hohe Anforderungen gestellt: Wenn im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden soll, das Fi1 BFH v. 5.2.2003 – V B 239/02, BFH/NV 2003, 800; v. 5.5.2017 – X B 36/17, BFH/NV 2017, 1183; vgl. auch Brandis in Tipke/Kruse, § 78 FGO Rz. 14. 2 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 78 FGO Rz. 26. 3 Vgl. hierzu Brandis in Tipke/Kruse, § 78 FGO Rz. 21 f. 4 BFH v. 31.10.2008 – V B 29/08, BFH/NV 2009, 194; v. 25.9.2006 – VI B 136/05, BFH/NV 2007 86. 5 BFH v. 7.2.2005 – V B 62/04, V B 63/04, BFH/NV 2005, 1319. 6 Vgl. hierzu Brandis in Tipke/Kruse, § 78 FGO Rz. 22 m. w. N.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.735 Kap. 3

nanzgericht habe das rechtliche Gehör dadurch entzogen, dass es die begehrte Akteneinsicht versagt habe, setzt dies u.a. die substantiierte Darlegung voraus, dass dieser Mangel in der (nächsten) mündlichen Verhandlung gerügt worden ist bzw. aus welchen – nicht zu vertretenden – Gründen eine solche Rüge nicht erfolgt ist (vgl. § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO) und was bei rechtzeitiger Gewährung der Akteneinsicht noch vorgetragen worden wäre und dass dies die Entscheidung des Finanzgerichts hätte beeinflussen können.1 § 78 Abs. 1 FGO gewährt den Beteiligten ein Recht auf Akteneinsicht nur im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens.2 Das Akteneinsichtsrecht erlischt, sobald das betreffende Verfahren endgültig abgeschlossen ist.3 Für die Entscheidung über Akteneinsichtsgesuche nach abgeschlossenem Verfahren ist, gem. § 155 FGO i. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO nicht mehr der Richter in Ausübung seiner rechtsprechenden Tätigkeit, sondern die Gerichtsverwaltung zuständig. Der Rechtsschutz richtet sich nach den gegen Maßnahmen der Justizverwaltung vorgesehenen Rechtsbehelfen, d. h., es ist nicht der Rechtsweg zu den Finanzgerichten, sondern der öffentlich-rechtliche Rechtsweg nach § 40 VwGO zu den Verwaltungsgerichten gegeben.4

3.730

3.731–3.733

Einstweilen frei. 4. Erörterungstermin

Zur Erörterung des Sach- und Streitstandes kann der Vorsitzende oder der von ihm bestimmte Berichterstatter die Beteiligten zu einem Erörterungstermin laden (§ 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FGO). Hierbei handelt es sich um eine Besprechung des Streitfalls unter der Leitung des zuständigen Richters, der von den Beteiligten zumeist gerne angenommen wird, weil er nicht so förmlich wie eine offizielle Sitzung ist. Der Erörterungstermin, bei dem alle Verfahrensbeteiligten anwesend sein müssen und der vom Richter nicht nur mit der Kläger- oder Beklagtenseite allein durchgeführt werden darf, findet häufig nicht im Sitzungssaal des Gerichts, sondern in einem kleineren Raum mit mehr persönlicher Atmosphäre statt. Die Durchführung eines Erörterungstermins liegt im Ermessen des Gerichts. Die Beteiligten haben darauf keinen Anspruch. Ein Antrag der Beteiligten stellt lediglich eine Anregung dar.5

3.734

Der Erörterungstermin ist für alle Beteiligten von Nutzen. Er hat den Zweck, mit den Beteiligten den Sach- und Streitstand zu erörtern und möglichst zu einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits zu gelangen (so ausdrücklich § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FGO). Dabei werden in der Praxis die tatsächlich und rechtlich bestehenden Probleme mit den Beteiligten diskutiert und so herausgearbeitet, dass ergänzende Stellungnahmen möglich sind und Lücken im Sachverhalt geschlossen werden können. Der Erörterungstermin hat auch eine Befriedungsfunktion: Vielfach führen gerade die bei einem Erörterungstermin geführten Rechtsgespräche zu einer einvernehmlichen Regelung zwischen den Beteiligten, so dass sich der Rechtsstreit ohne gerichtliche Entscheidung und ohne mündliche Verhandlung erledigt. Ein Erörterungstermin

3.735

1 2 3 4

BFH v. 1.8.2005 – X B 24/05, BFH/NV 2005, 2222. BFH v. 20.10.2005 – VII B 207/05, BStBl. II 2006, 41 m. w. N. BFH v. 1.3.2016 – VI B 89/15, BFH/NV 2016, 936. BFH v. 1.3.2016 – VI B 89/15, BFH/NV 2016, 936; v. 25.10.2000 – VII B 230/00, BFH/NV 2001, 472; Bergkemper in HHSp, § 128 FGO Rz. 28. 5 BFH v. 22.4.2005 – III B 58/04, BFH/NV 2005, 1589; v. 30.10.1997 – X B 12/97, BFH/NV 1998, 599.

Schaumburg

253

Kap. 3 Rz. 3.736

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

kann in der Praxis nur dann gut ablaufen, wenn sich alle Beteiligten einschließlich des Richters möglichst umfassend auf den Termin vorbereitet haben.

3.736 Vorbereitende Erörterungstermine und Beweisaufnahmen sind nicht für jedermann zugänglich; sie sind lediglich parteiöffentlich.1 § 155 FGO i. V. m. § 169 GVG schreibt nur für die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse die Öffentlichkeit des Verfahrens vor. Die Erörterungstermine können im Dienstzimmer des Richters, in einem Besprechungszimmer des Gerichts, im Finanzamt oder auch in einem Zimmer des örtlichen Amtsgerichts stattfinden. Bei großräumigen Finanzgerichtsbezirken kommt es auch vor, dass die Berichterstatter ihre Erörterungstermine in einem Zimmer des beklagten Finanzamts oder des örtlichen Amtsgerichts abhalten. Die Beteiligten können auch per Videokonferenz gem. § 91a Abs. 2 FGO zum Erörterungstermin zugeschaltet werden (s. Rz. 3.974 ff.).

3.737 Der Vorsitzende oder Berichterstatter kann das persönliche Erscheinen der Beteiligten anordnen (§ 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 i. V. m. § 80 FGO). Dies kann sinnvoll sein, damit der Erörterungstermin, der prozessfördernde Wirkung haben soll, effektiv gestaltet werden kann. Beim unentschuldigten Ausbleiben kann ein Erscheinen nicht erzwungen werden; es kann nur nach vorheriger Androhung in der Ladung ein Ordnungsgeld verhängt werden. In der Praxis wird normalerweise kein Ordnungsgeld für den Fall des Nichterscheinens angedroht.

3.738 Der Hinweis in der Ladung „Das persönliche Erscheinen des Klägers wird angeordnet.“

oder „Das persönliche Erscheinen des Klägers ist ratsam.“

sollte vielmehr als eine Gelegenheit für den Kläger angesehen werden, dass er im Erörterungstermin die Sache aus seiner Sicht darstellen und mit dem zuständigen Berichterstatter sprechen kann,

3.739 In vielen Fällen wird der Berichterstatter im Rahmen eines Erörterungstermins einen Vorschlag zur Erledigung des Rechtsstreits unterbreiten. Ein solcher Vorschlag kann darin bestehen, dass – er dem Finanzamt den Erlass eines dem Antrag des Klägers entsprechenden Änderungsbescheides vorschlägt, – er den Kläger bzw. den Prozessbevollmächtigten fragt, ob die Klage nicht zurückgenommen werden soll, – er eine Einigung zwischen den Beteiligten über die streitigen Fragen und den Erlass eines Änderungsbescheides vorschlägt, durch den dem Klagebegehren teilweise entsprochen wird.

3.740 Die Beteiligten sollten den Vorschlag des Berichterstatters eingehend überdenken. Denn der Vorschlag gibt zumindest die vorläufige Auffassung des Berichterstatters, der vielfach auch in internen Gesprächen mit den übrigen Senatsmitgliedern behandelt worden ist, wieder. Ggf. sollte um eine kurze Unterbrechung des Erörterungstermins gebeten werden, um sich über die 1 BFH v. 12.9.2009 – II B 26/09, BFH/NV 2009, 1665; v. 27.10.2008 – II B 15/09, BFH/NV 2009, 189; v. 21.4.1986 – IV R 190/85, BStBl. II 1986, 568.

254

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.744 Kap. 3

Reaktion auf den Vorschlag des Berichterstatters klar zu werden. Sofern der Vorschlag des Berichterstatters nicht angenommen werden sollte, sollte unbedingt der eigene Rechtsstandpunkt noch einmal schriftsätzlich deutlich gemacht werden, wobei auch die Argumente des Berichterstatters berücksichtigt werden sollten. Ein Vergleich – etwa über die Höhe der Steuer – ist im finanzgerichtlichen Verfahren nicht zulässig. Allerdings führt im Erörterungstermin häufig eine tatsächliche Verständigung der Beteiligten über bestimmte Besteuerungsgrundlagen, d. h. über den Sachverhalt, der der Besteuerung zu Grunde zu legen ist, zum Abschluss des Verfahrens. Eine derartige tatsächliche Verständigung dient der Verfahrensbeschleunigung und dem Rechtsfrieden. Sie ist grundsätzlich zulässig und hat den Zweck, dass sich die Beteiligten hinsichtlich bestimmter Sachverhalte, deren Klärung schwierig, aber zur Festsetzung der Steuer notwendig ist, über den möglichst zutreffenden Besteuerungssachverhalt i. S. des § 88 AO einigen. Eine tatsächliche Verständigung über Steueransprüche ist demgegenüber wegen der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht möglich.1 Nicht zulässig ist ferner eine tatsächliche Verständigung über reine Rechtsfragen.2 Es ist aber nicht einmal eine tatsächliche Verständigung im eigentlichen Sinne erforderlich, wenn von dem Institut der beiderseitigen Erledigungserklärungen Gebrauch gemacht wird.3

3.741

Ist das beklagte Finanzamt zum Schluss des Erörterungstermins zum Erlass eines Änderungsbescheids bereit, erklärt dessen Vertreter üblicherweise zu Protokoll des Berichterstatters,

3.742

„dass das Finanzamt verbindlich zusagt, einen entsprechenden Änderungsbescheid mit folgendem Inhalt … erlassen zu wollen“.

Eine solche Verpflichtungserklärung ist für das Finanzamt bindend und eine selbständige Rechtsgrundlage für die Änderung, die ggf. eingeklagt werden könnte. Gleichzeitig wird die Hauptsache vom beklagten Finanzamt für erledigt erklärt. Der Kläger bzw. sein Bevollmächtigter erklärt in einem derartigen Fall in der Praxis ebenfalls bereits im Erörterungstermin zu Protokoll den Rechtsstreit

3.743

„im Hinblick auf die verbindliche Zusage des beklagten Finanzamts“

für erledigt. Durch seine Prozesserklärung, durch die das Verfahren beendet wird, hat der Kläger im Vertrauen auf die Zusage der Finanzbehörde eine Disposition getroffen, so dass das Finanzamt auf jeden Fall nach Treu und Glauben an seine Zusage gebunden ist.4 Wer allerdings Sorge hat, dass das Finanzamt seine verbindliche Zusage nicht richtig oder auch nicht zügig umsetzt – diese Sorge ist in der Praxis normalerweise aber unberechtigt – erklärt den Rechtsstreit im Erörterungstermin noch nicht sofort für erledigt, sondern kündigt an, diesen erst nach Erhalt des Änderungsbescheids und dessen Überprüfung für erledigt erklären zu wollen. Das Verfahren ist dann noch nicht abgeschlossen und kann ggf. fortgesetzt werden, sofern die Zusage nicht zutreffend umgesetzt worden ist. Die Wirkung der beiderseitigen Erledigungserklärungen tritt noch nicht ein, wenn sich einer der Beteiligten einen Widerrufsvorbehalt einräumen lässt. Dieser Widerrufsvorbehalt, der dazu dienen soll, nochmals Rücksprache mit dem Mandanten (Prozessvertreter) oder aber 1 2 3 4

BFH v. 28.6.2001 – IV R 40/00, BStBl. II 2001, 714. BFH v. 31.3.2004 – I R 71/03, BStBl. II 2004, 742. Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 5. Vgl. BFH v. 16.9.2014 – VIII R 1/1, juris; v. 26.3.2003 – V B 116/02, BFH/NV 2003, 883.

Schaumburg

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3.744

Kap. 3 Rz. 3.745

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

mit der Oberfinanzdirektion (Finanzamt) nehmen zu können, wird aus Gründen der Gleichbehandlung beiden Beteiligten eingeräumt. Die Erledigungserklärungen werden dann erst mit Fristablauf wirksam.

3.745 Bei Abgabe der Erledigungserklärungen sollten die Beteiligten auch an die Kosten des Verfahrens denken und dem Gericht ggf. eine entsprechende Anregung geben, wie die Kosten verteilt werden sollen. Zwar ist das Gericht bei seiner Kostenentscheidung nicht an Vorschläge der Beteiligten gebunden, doch kann es die Anregung der Beteiligten nach billigem Ermessen berücksichtigen. Haben die Beteiligten Einvernehmen über die Kostenverteilung erzielt, so ist es in aller Regel billig, der Einigung der Beteiligten zu folgen.1 Dabei kann sogar einer Anregung der Beteiligten gefolgt werden, die Gerichtskosten dem Finanzamt, das nach derzeitiger Gesetzeslage gerichtskostenfrei ist, und die außergerichtlichen Kosten dem Kläger aufzuerlegen.2 In den meisten Fällen wird aber angeregt, die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufzuheben, d. h., dass die Gerichtskosten halbiert werden und jeder der Beteiligten seine eigenen Kosten trägt. Diese Lösung wird in der Praxis immer wieder aus taktischen Gründen angestrebt, damit auf das Finanzamt keine Beraterkosten zukommen.

3.746 Über den Erörterungstermin wird ein Protokoll aufgenommen, in der der wesentliche Inhalt der Erörterung, dessen Ergebnis sowie die ggf. abgegebenen prozessualen Erklärungen festgehalten sind. 5. Änderungsbescheid während des Klageverfahrens Literatur: Drüen, Der Automatismus der Klageänderung nach Änderung des Bescheids – Beratungshinweise zur Neuregelung des § 68 FGO ab 2001, AO-StB 2001, 87; Grossmann, Anwendung von § 68 FGO bei nachträglicher buchmäßiger Erfassung und bei Erstattung von Einfuhrabgaben?, ZfZ 2008, 169; Jesse, Problemfelder des § 68 FGO, DStZ 2005, 139; Leingang-Ludolph/Wiese, Automatische Klageänderung bei Änderungs- oder Ersetzungsbescheiden durch § 68 FGO n.F., DStR 2001, 775; Martin, Auswechslung des Verfahrensgegenstandes bei Ersetzung des Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheids durch Umsatzsteuer-Jahresbescheid, BFH-PR 2004, 112; Nacke, Änderung von Haftungsbescheiden im Klageverfahren, AO-StB 2007, 106; Pump, Aktuelle Praxisfragen zu § 68 FGO, INF 2002, 457.

a) Fortsetzung des Verfahrens

3.747 Das Finanzamt kann den angefochtenen Verwaltungsakt während des Klageverfahrens zugunsten oder zuungunsten des Klägers ändern, wenn es sich auf das Vorliegen der entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift beruft. Der Änderungsbescheid wird dann nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens. Nach seinem Sinn und Zweck will diese Vorschrift verhindern, dass der Kläger durch einen einseitigen Akt des Finanzamts aus dem gerichtlichen Verfahren gedrängt und in das Verwaltungsstreitverfahren zurückversetzt wird.3 Dies soll der Verfahrensvereinfachung, -konzentration und -beschleunigung dienen.4 Allerdings führt dies für den Kläger zum Verlust des kostenfreien Einspruchsverfahrens gegen den Änderungsbescheid.

1 BFH v. 7.12.1999 – VIII R 1/98, BFH/NV 2000, 596. 2 BFH v. 23.6.2005 – V B 67/05, BFH/NV 2005, 1848; v. 23.5.1996 – III B 72/94, BFH/NV 1996, 846. 3 BFH v. 9.12.2014 – I B 43/14, BFH/NV 2015, 345; Schallmoser in HHSp, § 68 FGO Rz. 7; Seer in Tipke/Kruse, § 68 FGO Rz. 1. 4 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 68 FGO Rz. 1.

256

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.752 Kap. 3

Wird der angefochtene Verwaltungsakt während des Klageverfahrens geändert, so wird das Verfahren gegen den Änderungsbescheid fortgesetzt, ohne dass der Kläger irgendwelche Prozesserklärungen abgeben muss. Der Änderungsbescheid wird gem. § 68 Satz 1 FGO automatisch Gegenstand des Verfahrens. Ein Einspruch ist gegen den während des Klageverfahrens ergangenen Änderungsbescheid nicht statthaft und wird deshalb von der Finanzbehörde als unzulässig verworfen (§ 68 Satz 2 FGO). Hierauf wird in der Praxis normalerweise auch in den Erläuterungen oder auch der Rechtsbehelfsbelehrung des Änderungsbescheids hingewiesen. Dies gilt auch, wenn ein Bescheid nach § 129 AO berichtigt wird (§ 68 Satz 4 Nr. 1 FGO) oder ein neuer Bescheid an die Stelle des angefochtenen unwirksamen Bescheids tritt (§ 68 Satz 4 Nr. 2 FGO).

3.748

Nach § 68 Satz 3 FGO hat die Finanzbehörde das Gericht durch Übersendung einer Abschrift des neuen Verwaltungsakts über den Änderungsbescheid zu informieren. Wird nämlich vom Gericht noch über den bisherigen Verwaltungsakt in Unkenntnis des neuen Verwaltungsaktes entschieden, geht das Urteil „ins Leere“, weil seine Rechtskraft nur den ursprünglich angefochtenen Bescheid betrifft.1 Es liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der mit einer auf § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gestützten Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden kann (s. Rz. 3.1122).2 Daneben wird es für möglich gehalten, als einfacheren Weg auch einen (fristgerechten) Antrag auf Ergänzung des Urteils gem. § 109 FGO zu stellen.3 § 109 Abs. 2 FGO sieht insoweit eine Zweiwochenfrist nach Zustellung des Urteils vor.

3.749

Damit das Gericht nicht in Unkenntnis des neuen Verwaltungsakts über die gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt erhobene Klage entscheidet und das Urteil damit „ins Leere“ geht, sollten der Kläger oder sein Bevollmächtigter auf jeden Fall das Gericht ebenfalls über den Änderungsbescheid informieren.4

3.750

b) Erledigung der Hauptsache Entspricht der Änderungsbescheid in vollem Umfang dem Klagebegehren, so ist die Hauptsache materiell erledigt. Der Kläger kann in diesem Fall sein Klagebegehren nicht im Nachhinein erweitern,5 sondern muss vielmehr eine Prozesserklärung abgeben (Erledigungserklärung oder Klagerücknahme), da die Klage sonst wegen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses auf Kosten des Klägers als unzulässig abgewiesen wird. Deshalb empfiehlt es sich für den Kläger zu überprüfen, wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, und dementsprechend entweder die Hauptsache für erledigt erklären oder aber, was ggf. kostengünstiger sein kann, die Klage zurückzunehmen (s. Rz. 3.755 ff.).

3.751

Entspricht der Änderungsbescheid dem Klagebegehren nur teilweise, so ist die Hauptsache an sich nicht erledigt. Es gibt es für den Kläger aber folgende Möglichkeiten:

3.752

1 BFH v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393. 2 Wenn durch den nicht berücksichtigten (übersehenen) Änderungsbescheid keine neuen Streitpunkte in das Verfahren eingeführt worden sind, erfolgt in der Rechtsmittelentscheidung aus prozessökonomischen Gründen eine entsprechende Richtigstellung; BFH v. 19.5.2010 – I R 62/09, BFH/NV 2010, 1919. 3 BFH v. 12.1.2011 – II R 37/96, BFH/NV 2011, 629; vgl. auch Spindler, DB 2001, 62 (65); Herbert in Gräber, § 68 FGO Rz. 93. 4 Ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 68 FGO Rz. 24; BFH v. 12.1.2011 – II R 37/09, BFH/NV 2011, 629. 5 BFH v. 31.10.1990 – II R 45/88, BStBl. II 1991, 102.

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Kap. 3 Rz. 3.753

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– Ist der Kläger mit dem Änderungsbescheid einverstanden, so sollte er – je nach Kostensituation (s. Rz. 3.756) – die Hauptsache für erledigt erklären oder die Klage zurücknehmen. – Ist der Kläger mit dem Änderungsbescheid nicht einverstanden und hält er diesen für rechtswidrig, so wird das Verfahren, ohne dass der Kläger eine Prozesserklärung abgeben muss, automatisch mit dem Änderungsbescheid fortgesetzt (s. Rz. 3.748). Gegen den Änderungsbescheid ist kein Einspruch möglich! Der Kläger muss sein Klagevorbringen und seinen Antrag entsprechend anpassen.

3.753 Die Erledigungserklärung ist von der Klagerücknahme zu unterscheiden. Insoweit sollte der Kläger eine eindeutige Prozesserklärung mit entsprechenden Kostenanträgen abgeben: Beispiel: Nach Ergehen des Änderungsbescheides vom … wird hiermit die Hauptsache für erledigt erklärt. Es wird beantragt, die Kosten dem beklagten Finanzamt aufzuerlegen. Oder: Hiermit wird die Klage zurückgenommen.

3.754 Der Kläger kann seine Erledigungserklärung bis zum Eingang der Erledigungserklärung des Beklagten widerrufen.1 Denn die einseitige Erledigungserklärung nur eines Beteiligten bewirkt – anders als die Klagerücknahme – noch keine Beendigung des Rechtsstreits. c) Klagerücknahme

3.755 Der Kläger kann seine Klage jederzeit bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen (§ 72 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das Verfahren wird dadurch beendet. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung, bei beiderseitigem Verzicht auf mündliche Verhandlung i. S. des § 90 Abs. 2 FGO2 und nach dem Ergehen – d. h. der wirksamen Bekanntgabe (§§ 105, 104 Abs. 3 FGO) – eines Gerichtsbescheids ist die Rücknahme nur mit Einwilligung des beklagten Finanzamtes möglich (§ 72 Abs. 1 Satz 2 FGO). Diese Einwilligung wird in der Praxis aber regelmäßig erteilt. Abgesehen davon wird sie gem. § 72 Abs. 1 Satz 3 FGO fingiert, wenn das beklagte Finanzamt der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des die Rücknahme enthaltenen Schriftsatzes widerspricht und das Gericht auf diese Folge hingewiesen hat. Die Rücknahmeerklärung ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich,3 auch wenn die Einwilligung des Beklagten noch nicht vorliegt.4 Sie kann auch nicht – etwa in entsprechender Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Anfechtung von Willenserklärungen – angefochten werden. § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO sieht aber ausdrücklich den Fall vor, dass in einem Steuerrechtsstreit nachträglich die Unwirksamkeit einer Klagerücknahme geltend gemacht wird. Dies ist nur dann möglich, wenn ein rechtsunkundiger Steuerpflichtiger in unzulässiger Weise – etwa durch Drohung, Druck, Täuschung oder auch unbewusste Irreführung – zur Abgabe einer Rücknahmeerklärung veranlasst worden ist.5 Die Jahresfrist für die Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Klagerücknahme (§ 72 Abs. 2 1 2 3 4

BFH v. 26.10.2006 – V R 40/05, BStBl. II 2007, 271. BFH v. 28.5.1995 – VIII R 35/94, BFH/NV 1996, 165. BFH v. 26.10.2006 – V R 40/05, BStBl. II 2007, 271. Ebenso BFH v. 26.10.2006 – V R 40/05, BStBl. II 2007, 271; Herbert in Gräber, § 72 FGO Rz. 19; a. A. Brandis in Tipke/Kruse, § 72 FGO Rz. 18. 5 BFH v. 26.4.2011 – III S 24/10 (PKH), BFH/NV 2011, 1378; v. 12.8.2009 – X S 47/08 (PKH), BFH/ NV 2009, 1997.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.760 Kap. 3

Satz 3 i. V. m. § 56 Abs. 3 FGO) beginnt mit der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses zu laufen.1 Bei einer Klagerücknahme hat der Kläger kraft Gesetzes immer die Kosten zu tragen (§ 136 Abs. 2 FGO). Dabei kann eine Klagerücknahme kostengünstiger sein als eine Erledigung der Hauptsache, da nur zwei Gerichtsgebühren anfallen. Allerdings empfiehlt sich die Klagerücknahme nur dann, wenn die Kosten des Verfahrens ohnehin dem Kläger ganz oder ggf. auch teilweise auferlegt werden müssten.

3.756

Bevor die Klage zurückgenommen wird, sollten der Kläger bzw. sein Berater deshalb immer sorgfältig prüfen, wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Ist davon auszugehen, dass aufgrund der prozessualen Situation die Kosten der beklagten Finanzbehörde auferlegt werden, sollte besser eine Erledigungserklärung abgegeben werden.

3.757

IV. Stillstand des Verfahrens Literatur: Bergkemper, Keine Verfahrensaussetzung wegen geplanter Gesetzesänderung mit Rückwirkung, FR 2007, 357; Bergkemper, Verfahrensaussetzung wegen Gesetzesänderung, HFR 2007, 249; Dabitz, Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO), StVj 1993, 108; Ehehalt, Die Aussetzung des Verfahrens bei verfrühter Untätigkeitsklage, BFH-PR 2006, 289; Gehm, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO, NZWiSt 2012, 244; Hendricks/Paß, Musterprozessvereinbarungen im Steuerrecht, DStR 2015, 2589; Kähler, Verfahrensaussetzung bei zu erwartender Leitentscheidung?, NJW 2004, 1132; Lück, Verfassungsbeschwerden erfordern Aussetzung des Finanzrechtsstreits, DStZ 1994, 142; Rößler, Aussetzung des Klageverfahrens, DStZ 1993, 735; Rößler, Aussetzung des Verfahrens wegen anhängiger Verfassungsbeschwerden, DStZ 1991, 219; Rößler, Verfahrensaussetzung bei verfassungsrechtlichem Musterprozess vor dem BFH, DStZ 1993, 148; Siegmann, Fallen bei Unterbrechung, Aussetzung und Ruhendes Verfahrens, AnwBl. 2011, 131; Sojka, Tod eines Prozessbeteiligten, MDR 1982, 13.

1. Allgemeines Das Verfahren kann durch gerichtliche Anordnung der Aussetzung oder des Ruhens oder durch Unterbrechung kraft Gesetzes zum Stillstand kommen. Während des Stillstands sind laufen keine prozessualen Fristen, Prozesshandlungen der Beteiligten sind unwirksam, aber auch richterliche Handlungen unwirksam.2

3.758

Das bloße Nichtbetreiben eines Verfahrens ist, wenn keine Anordnung des Gerichts erfolgt ist oder das Verfahren nicht kraft Gesetzes unterbrochen ist, nicht mit derartigen Rechtsfolgen verbunden.

3.759

2. Aussetzung des Verfahrens Nach § 74 FGO kann das Klageverfahren wegen Vorgreiflichkeit eines anderen Verfahrens vom Gericht – grundsätzlich entscheidet hierüber der Vorsitzende oder Berichterstatter, § 79a Abs. 1 Nr. 1 FGO – ausgesetzt werden. Eine Aussetzung setzt danach voraus, dass die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechts1 BFH v. 11.7.2007 – XI R 1/07, BStBl. II 2007, 833. 2 § 155 FGO i. V. m. § 249 ZPO; BFH v. 6.12.2005 – XI B 116/04, BFH/NV 2006, 951; v. 8.1.2013 – V B 23/12, BFH/NV 2013, 748; vgl. dazu auch Herbert in Gräber, Vor § 74 FGO Rz. 4.

Schaumburg

259

3.760

Kap. 3 Rz. 3.761

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

verhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann das Gericht die Verhandlung, das bedeutet das Verfahren, bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde aussetzen. Die Aussetzung eines anhängigen Klageverfahrens kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Klage zulässig ist und eine Sachentscheidung über die vorgreifliche Frage ergehen kann.1

3.761 Bei der Anordnung der Aussetzung des Verfahrens handelt sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts, wobei insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind.2 Die Entscheidung erfolgt von Amts wegen. Zuvor muss den Beteiligten rechtliches Gehör gewährt werden, damit die Interessen der Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt werden können.3 Eine Zustimmung oder ein Antrag der Beteiligten ist nicht erforderlich; allerdings können die Beteiligten eine Aussetzung des Verfahrens anregen. Dies kann auch noch in der mündlichen Verhandlung geschehen. In diesem Fall würde der Senat ggf. durch einen Beschluss, an dem auch die ehrenamtlichen Richter mitwirken, über die Aussetzung des Verfahrens entscheiden.

3.762 Es ist regelmäßig geboten und zweckmäßig, dass das Finanzgericht den Streit um die Rechtmäßigkeit eines Folgebescheids aussetzt, solange noch unklar ist, ob und wie der angegriffene Grundlagenbescheid, der gem. § 182 Abs. 1 AO Bindungswirkung für den Folgebescheid hat, geändert wird.4 Ist ein Grundlagenbescheid noch nicht ergangen, ist ein Klageverfahren gegen den Folgebescheid zwingend auszusetzen; das Ergehen eines Endurteils würde in einem solchen Fall einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens darstellen.5 Ist der Grundlagenbescheid bereits ergangen, aber gleichfalls angefochten, so ist eine Aussetzung des Verfahrens gegen den Folgebescheid zwar nicht zwingend, stellt im Rahmen der erforderlichen Ermessensentscheidung aber den Regelfall dar.6 Beispiel: Der Steuerpflichtige A hat im Streitjahr Einkünfte aus einem in X betriebenen Gewerbebetrieb i. H. v. 30.000 Euro. Das Betriebsstätten-Finanzamt X erkennt die Betriebsausgaben nicht in voller Höhe an und erlässt für das Streitjahr einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des Gewinns aus Gewerbebetrieb, in dem der Gewinn auf 38.000 Euro festgestellt wird. Hiergegen wendet sich A mit dem Einspruch. Das Wohnsitzfinanzamt erlässt daraufhin gegen A einen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, in dem die Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit 38.000 Euro berücksichtigt werden. Hiergegen legt A ebenfalls Einspruch ein, der abschlägig beschieden wird. A erhebt hiergegen Klage, mit der er u. a. begehrt, den Gewinn mit 30.000 Euro zu berücksichtigen. Das Finanzgericht wird, wenn die Klage fristgerecht erhoben und auch sonst zulässig ist, das Verfahren gem. § 74 FGO bis zum endgültigen Abschluss des anhängigen Einspruchs- bzw. Klageverfahrens 1 BFH v. 25.7.2014 – III B 102/13, BFH/NV 2014, 1764; v. 29.8.2011 – III S 11/11, BFH/NV 2011, 2088; v. 29.12.2010 – III R 30/09, BFH/NV 2011, 1158. 2 BFH v. 11.3.2011 – II B 152/10, BFH/NV 2011, 1008; v. 10.11.2010 – VIII B 78/10, BFH/NV 2011, 299. 3 BFH v. 7.5.2014 – I R 59/13, BFH/NV 2014, 1752; ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 74 FGO Rz. 16; Herbert in Gräber, § 74 FGO Rz. 8. 4 St. Rspr., vgl. BFH v. 25.8.2015 – VIII R 53/13, juris; v. 3.8.2000 – III B 179/96, BStBl. II 2001, 33; s. auch Brandis in Tipke/Kruse, § 74 FGO Rz. 12; Herbert in Gräber, § 74 FGO Rz. 12. 5 BFH v. 25.8.2015 – VIII R 53/13, juris; v. 6.3.2013 – X B 14/13, BFH/NV 2013, 956; v. 16.12.2009 – IV R 18/07, BFH/NV 2010, 14 (19); v. 17.5.1995 – X R 64/97, BStBl. II 1995, 640. 6 BFH v. 6.3.2013 – X B 14/13, BFH/NV 2013, 956; v. 29.1.1998 – IX B 118/97, BFH/NV 1998, 869.

260

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.765 Kap. 3

über den Feststellungsbescheid aussetzen: Der Gewinnfeststellungsbescheid hat als Grundlagenbescheid gem. § 182 Abs. 1 AO Bindungswirkung für den Einkommensteuerbescheid als Folgebescheid und ist somit ein vorrangiges Rechtsverhältnis.

Bei einem vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Musterverfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm ist das Verfahren gem. § 74 FGO bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszusetzen, wenn das Musterverfahren eine im Streitfall anzuwendende Norm betrifft und als nicht aussichtslos erscheint, zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes eigenes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung hat.1 Darüber hinaus muss eine die Verfassungswidrigkeit bejahende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entscheidungserhebliche Auswirkungen auf das auszusetzende Verfahren haben.2 Dies ist nicht der Fall, wenn, wenn trotz Verfassungswidrigkeit der Norm allenfalls mit einer Unvereinbarkeitserklärung oder einer Änderungsverpflichtung des Gesetzgebers nur für die Zukunft zu rechnen ist. Eine Aussetzung des Verfahrens kommt in diesen Fällen ferner nicht in Betracht, wenn der angefochtene Steuerbescheid im Hinblick auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Musterverfahren gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärt worden ist und die im Musterverfahren zu klärende Frage streitig ist.3 Entsprechendes gilt für beim Europäischen Gerichtshof anhängige Verfahren.4

3.763

Allerdings kommt die Aussetzung des Klageverfahrens nicht schon allein deshalb in Betracht, weil in derselben Rechtsfrage ein Musterprozess vor dem BFH anhängig ist.5 Die Aussetzung eines Klageverfahrens wegen eines vor dem BFH anhängigen Musterverfahrens ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Musterverfahren und das Klageverfahren hinsichtlich der entscheidungserheblichen Streitfrage im Wesentlichen gleich gelagert sind6 und gewährleistet ist, dass die Beteiligten das Ergebnis des Musterverfahrens auch auf den Streitfall anwenden werden. Diesbezüglich können die Beteiligten eine entsprechende Musterprozessvereinbarung treffen.7 Hierin wird vereinbart, dass das zwischen den Beteiligten vom Musterverfahren abhängige Folgeverfahren bis zum Abschluss des Musterverfahrens ruhen soll und für den Fall dass im Musterstreitverfahren die Finanzverwaltung obsiegt, sich der Steuerpflichtige verpflichtet, die Klage zurückzunehmen und im umgekehrten Fall sich die Finanzbehörde verpflichtet, im Folgeverfahren Abhilfebescheide zu erlassen.8 Derartige Absprachen sind für die Beteiligten bindend; dies wird aus dem Grundsatz von treu und Glauben hergeleitet.9

3.764

Ohne eine derartige Vereinbarung können beim Finanzgericht laufende Parallelverfahren grundsätzlich nur gem. § 155 FGO i. V. m. § 251 ZPO mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zum Ruhen gebracht werden.10

3.765

1 BFH v. 20.2.2012 – III B 207/11, BFH/NV 2012, 968; v. 16.7.2011 – III B 217/10, BFH/NV 2011, 1901; ausführlich BFH v. 28.3.2007 – VIII B 50/06, BFH/NV 2007, 1337 m. w. N. 2 Vgl. dazu Herbert in Gräber, § 74 FGO Rz. 12. 3 So schon BFH v. 7.2.1992 – III R 61/91, BStBl. II 1992, 592; vgl. dazu auch Herbert in Gräber, § 74 FGO Rz. 12. 4 Brandis in Tipke/Kruse, § 74 FGO Rz. 14. 5 BFH v. 24.9.2012 – VI B 79/12, BFH/NV 2013, 70; v. 15.3.2006 – X B 8/06, BFH/NV 2006, 1140. 6 BFH v. 15.3.2006 – X B 8/06, BFH/NV 2006, 1140. 7 Vgl. hierzu vor allem Hendricks/Paß, DStR 2015, 2589. 8 Vgl. dazu ausführlich die Hinweise bei Hendricks/Paß, DStR 2015, 2589. 9 Vgl. dazu ausführlich die Hinweise bei Hendricks/Paß, DStR 2015, 2589 m. w. N. aus der Rspr. 10 BFH v. 24.9.2012 – VI B 79/12, BFH/NV 2013, 70.

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261

Kap. 3 Rz. 3.766

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.766 Ebenso kommt eine Aussetzung des Verfahrens nicht deshalb in Betracht, weil ein Steuerstrafverfahren anhängig ist, da der Ausgang eines anhängigen Strafverfahrens nicht vorgreiflich für ein wegen des gleichen Vorgangs anhängiges finanzgerichtliches Verfahren ist. Das Finanzgericht hat nach § 76 FGO ein selbständiges Ermittlungsrecht und eine selbständige Ermittlungspflicht. Es ist an die Feststellungen des Strafgerichts nicht gebunden.1 Grundsätzlich besteht deshalb keine Pflicht zur Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens wegen eines anhängigen Strafverfahrens.2 Außerdem ist zu beachten, dass ggf. sogar bereits die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren oder das Strafgericht sein Verfahren gem. § 396 AO ausgesetzt hat, bis das Besteuerungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist, und dass keine wechselseitige Aussetzung erfolgt.

3.767 Die Aussetzung des Verfahrens kann befristet – bis zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Ereignis – erfolgen. Sie endet dann automatisch, wenn die Frist abläuft oder das Ereignis eintritt. Ein Beschluss über die Aufhebung der Aussetzung ist dann nicht erforderlich; ergeht er dennoch, hat er lediglich deklaratorische Bedeutung.3 Die Aussetzung des Verfahrens kann aber auch durch Aufhebungsbeschluss beendet werden. Dabei kann das Gericht das Verfahren von Amts wegen aufnehmen, wenn der Grund für die Aussetzung entfallen ist.4 Jedenfalls steht die Fortsetzung des ausgesetzten Verfahrens nicht zur Disposition der Beteiligten.

3.768 Die Aussetzungsentscheidung sowie die Ablehnung einer beantragten Aussetzung oder die Aufhebung der Aussetzungsentscheidung ergehen durch Beschluss (§ 113 FGO). Hiergegen ist die Beschwerde gegeben (§ 128 Abs. 1 FGO).5 Wird die Aussetzung abgelehnt, kann dies auch im Urteil geschehen und begründet werden.

3.769 Will sich der Kläger darauf berufen, dass das Nichtaussetzen des Verfahrens gem. § 74 FGO einen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründet, so muss er substantiiert darlegen, aufgrund welcher konkreten Umstände des Falles das dem Finanzgericht hierbei eingeräumte Ermessen ausnahmsweise „auf Null reduziert“ und die Aussetzung des Verfahrens deshalb aufgrund der besonderen Umstände des Falles die einzig richtige Entscheidung gewesen sein soll.6 3. Ruhen des Verfahrens

3.770 Gem. § 155 FGO i. V. m. § 251 Abs. 1 ZPO hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus anderen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Die Anordnung des Ruhens des Verfahrens setzt einen Antrag beider Beteiligter voraus.7 Die Zustimmung ersetzt den Antrag.8 Auch bei übereinstimmendem Antrag darf das Gericht 1 BFH v. 7.7.1995 – III B 8/95, BFH/NV 1996, 150; v. 12.4.1994 – I B 75, 77, 79/93, BFH/NV 1995, 40. 2 BFH v. 9.12.2004 – III B 83/04, BFH/NV 2005, 503; v. 4.4.2003 – V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081; v. 15.9.2000 – V B 78/00, BFH/NV 2001, 198. 3 BFH v. 26.1.2005 – VII B 290/04, BFH/NV 2005, 904; v. 7.7.1995 – III B 8/95, BFH/NV 1996, 149; v. 10.3.1999 – II B 70/98, BFH/NV 1999, 1225. 4 BFH v. 24.9.2012 – VI B 79/12, BFH/NV 2013, 70. 5 BFH v. 25.7.2014 – III B 102/13, BFH/NV 2014, 1764. 6 BHF v. 12.12.2012 – VI B 50/12, BFH/NV 2013, 1618; v. 5.3.2003 – VII B 381/02, BFH/NV 2003, 931. 7 BFH v. 31.10.2006 – I B 23/06, BFH/NV 2006, 2287. 8 BFH v. 27.10.1993 – X B 136/93, BFH/NV 1994, 389.

262

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.775 Kap. 3

die Verfahrensruhe allerdings nur dann anordnen, wenn diese aus wichtigen Gründen zweckmäßig ist.1 Ist in einem Beschluss über die Anordnung des Ruhens des Verfahrens als Endzeitpunkt des Ruhens ein bestimmtes Ereignis bezeichnet, so endet das Ruhen und der Beschluss verliert seine Wirkung, sobald dieses Ereignis eintritt.2

3.771

Nach Ablauf von drei Monaten seit Wirksamwerden der Anordnung über das Ruhen kann jeder Beteiligte – ohne besonderen Grund – das Verfahren wieder aufnehmen (§ 155 FGO i. V. m. § 251 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Das Gericht muss daraufhin den Ruhensbeschluss aufheben, unabhängig davon, ob der Grund für das Ruhen entfallen ist. Das Gericht kann auch von sich aus das ruhende Verfahren von Amts wegen wieder aufnehmen, wenn keine wichtigen Gründe mehr vorliegen, die ein weiteres Ruhen zweckmäßig erscheinen lassen.3 Die Wiederaufnahme erfolgt in der Praxis häufig durch die Zustellung eines Schriftsatzes.

3.772

4. Unterbrechung des Verfahrens a) Überblick Die Unterbrechung des Verfahrens, die kraft Gesetzes angeordnet wird, ist von Amts wegen zu beachten. Die wichtigsten Fälle, in denen das Verfahren unterbrochen wird, sind die Unterbrechung

3.773

– durch den Tod der Partei (§ 155 FGO i. V. m. § 239 ZPO) bis zur Aufnahme durch den Rechtsnachfolger (s. nachfolgend Rz. 3.775 ff.) – durch Verlust der Prozessfähigkeit oder des gesetzlichen Vertreters, ohne dass die Partei prozessfähig geworden ist (§ 155 FGO i. V. m. § 241 ZPO). Die Unterbrechung des Verfahrens tritt in diesen beiden Fällen allerdings nicht ein, wenn eine Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten stattfindet (§ 246 ZPO). Allerdings kann der Prozessbevollmächtigte einen Antrag stellen, das Verfahren auszusetzen.

3.774

– durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei, sofern das Verfahren die Insolvenzmasse betrifft (§ 155 FGO i. V. m. § 240 ZPO – s. Rz. 9.61 f.), b) Tod der Partei Der wichtigste Fall ist die Unterbrechung des Verfahrens wegen Todes der Partei. Da der Rechtsnachfolger und auch der Prozessgegner vor den Rechtsnachteilen des gesetzlichen Parteiwechsels geschützt werden sollen, sieht § 239 ZPO, der über § 155 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren anwendbar ist, die Unterbrechung des Verfahrens vor4: Verstirbt der Kläger während des Klageverfahrens, wird dieses bis zur wirksamen Aufnahme durch den Rechtsnachfolger, der Gesamtrechtsnachfolger sein muss, unterbrochen. Mit dem Tod einer Person (Erbfall) geht deren Vermögen als Ganzes auf den oder die Erben über (§ 1922 Abs. 1 BGB). Nach ständiger Rechtsprechung tritt der Erbe als Gesamtrechtsnachfolger in einem umfassen1 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 74 FGO Rz. 22. 2 BFH v. 30.7.2013 – VI B 37/13, BFH/NV 2013, 1790; v. 9.8.2007 – III B 187/06, BFH/NV 2007, 2310. 3 BFH v. 30.7.2013 – VI B 37/13, BFH/NV 2013, 1790. 4 BFH v. 27.8.2008 – II R 23/06, BFH/NV 2008, 1038.

Schaumburg

263

3.775

Kap. 3 Rz. 3.776

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

den Sinne sowohl materiell-rechtlich als auch verfahrensrechtlich in die abgabenrechtliche Stellung des Erblassers ein.1 Der Erbe oder die Erbengemeinschaft kann als Gesamtrechtsnachfolger das Klageverfahren somit aufnehmen.

3.776 Demgegenüber ist der Vermächtnisnehmer (§ 1939 BGB) nicht Gesamtrechtsnachfolger. Er hat nur einen schuldrechtlichen Anspruch auf Übertragung einzelner Vermögensgegenstände! Der Vermächtnisnehmer kann das Verfahren deshalb nicht als Rechtsnachfolger aufnehmen.2

3.777 Dem Tod der Partei wird die Vollbeendigung einer Personengesellschaft gleichgestellt. Tritt diese während des Klageverfahrens ein, sind grundsätzlich die durch den angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheid beschwerten Gesellschafter, die in dem streitigen Zeitraum an der Personengesellschaft beteiligt waren, als deren prozessuale Rechtsnachfolger anzusehen.3 Der Eintritt der ehemaligen Gesellschafter ist verfahrensrechtlich wie ein Fall der Gesamtrechtsnachfolge i. S. von § 55 FGO i. V. m. 239 ZPO zu beurteilen.4

3.778 Die in § 239 Abs. 1 ZPO angeordnete Unterbrechungswirkung beim Tod einer Partei hat den Sinn, Rechtsnachteile zu vermeiden, die mit dem gesetzlichen Parteiwechsel (§ 1922 BGB) für den Rechtsnachfolger der Partei bzw. den Prozessgegner eintreten können.5 War der Verstorbene jedoch durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten, so bedarf es nach der Konzeption des Gesetzgebers keiner Unterbrechung von Gesetzes wegen, und es greift insoweit § 246 ZPO ein.6 Danach tritt in den Fällen des § 239 ZPO eine Unterbrechung des Verfahrens nicht ein, wenn ein Prozessbevollmächtigter bestellt ist. Nach § 155 FGO i. V. m. § 86 ZPO wird die Vollmacht durch den Wegfall des Vollmachtgebers nicht aufgehoben. Die Vollmacht behält im Verhältnis zu den Rechtsnachfolgern, die anstelle des Vollmachtgebers Kläger geworden sind, ihre Wirkung.7 Führt der Prozessbevollmächtigte den Prozess fort, müssen die prozessualen Rechtsnachfolger die Prozesshandlungen des Prozessbevollmächtigten bis zur Entziehung des Mandats gegen sich gelten lassen.8

3.779 Will der Prozessbevollmächtigte diese Situation vermeiden und das Verfahren nicht fortführen, so kann er in den Fällen des § 239 ZPO eine Aussetzung des Verfahrens beantragen (§ 155 FGO i. V. m. § 246 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 ZPO). Ein solcher Antrag empfiehlt sich in der Praxis, wenn der Prozessbevollmächtigte gar nicht weiß, wer die Erben überhaupt sind, oder wenn er sich erst einmal vergewissern will, ob die Verfahrensfortführung durch ihn auch im Sinne der Rechtsnachfolger ist.

3.780 Lassen sich die Erben nicht ermitteln und bestehen keine Anhaltspunkte, dass ein Erbe als Gesamtrechtsnachfolger das Verfahren nach § 155 FGO i. V. m. § 239 Abs. 1 ZPO aufneh-

1 2 3 4 5 6 7 8

BFH v. 15.6.2011 – XI R 10/, BFH/NV 2011, 1722; v. 13.1.2010 – V R 24/07, BStBl. II 2011, 241. BFH v. 15.6.2011 – XI R 10/, BFH/NV 2011, 1722. BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170. BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170; grundlegend schon BFH- v. 22.11.1988 – VIII R 90/84, BStBl. II 1989, 326. BFH v. 27.8.2008 – II R 23/06, BFH/NV 2008, 1038. BFH v. 27.8.2008 – II R 23/06, BFH/NV 2008, 1038. BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170 m. w. N. BFH v. 17.10.2013 – IV R 25/10, BFH/NV 2014, 170; v. 25.4.2006 – VIII R 52/04, BStBl. II 2006, 847.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.782 Kap. 3

men wird, wird das unterbrochene Verfahren vom Gericht in den Registern gelöscht.1 Die Gerichtsakten werden in diesen Fällen weiterhin aufbewahrt und dürfen nicht vernichtet werden, damit das Verfahren, sollten die Erben auftauchen, u. U. doch eines Tages fortgeführt werden kann.

V. Beiladung Literatur: Bruschke, Hinzuziehung und Beiladung, DStR 2011, 753; Eberl, Hinzuziehung und Beiladung von Ehegatten bei Zusammenveranlagung, DStR 1983, 418; Gersch, Die Kosten des Beigeladenen, AO-StB 2001, 59; Gruber, Kostenrechtliche Betrachtungen zur Beiladung im finanzgerichtlichen Verfahren, StB 2003, 16; Höreth, Klage gegen Übertragung des Kinderfreibetrags: notwendige Beiladung des anderen Elternteils, DStZ 2005, 506; Kobor, Hinzuziehung zum Einspruchsverfahren und Beiladung zum Klageverfahren, SteuK 2013, 49; Lohmeyer, Beiladung und Hinzuziehung Dritter zum Steuerstreitverfahren, StB 1986, 201; Mack, Kostenrisiko des Beigeladenen im Finanzgerichtsprozess, Stbg. 1998, 466; Milatz, Die Hinzuziehung bzw. Beiladung Dritter zum Rechtsbehelfsverfahren bzw. Klageverfahren einer Kapitalgesellschaft, StWa. 1989, 203; Nieland, Formen der Beiladung, AO-StB 2002, 217; Fischer, Die prozessuale Stellung der ertragsberechtigten Gemeinden nach §§ 40 Abs. 3 und 60 Abs. 2 FGO, StuW 1972, 63; Meyer, Die Hinzuziehung (Beiladung) zusammenveranlagter Ehegatten im Rechtsbehelfsverfahren, DStZ 1993, 401; Rabback, Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung, AO-StB 2001, 257; Rößler, Die notwendige Beiladung bei unzulässigen Klagen, DStZ 1987, 413; Rößler, Die notwendige Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO, INF 1980, 558; Rößler, Nochmals: Notwendige Beiladung bei Personengesellschaften mit Publikumsbeteiligung, DStZ 1986, 435; Völker, Nochmals: Verzicht auf notwendige Beiladung wegen Undurchführbarkeit innerhalb angemessener Zeit, DStZ 1987, 97; Völker, Notwendige Beiladung bei Personengesellschaften mit Publikumsbeteiligung, DStZ 1986, 297; von Wedelstädt, Hinzuziehung und Beiladung. Verfahrensvereinfachung durch Beteiligung an fremden Rechtsbehelfsverfahren, AO-StB 2007, 15; Zehender, Das Kostenrisiko des Beigeladenen im Steuerprozess, BB 1980, 363.

1. Überblick Die Beiladung hat den Zweck, Personen, die weder Kläger noch Beklagte sind, am Prozess zu beteiligen, weil sie entweder an dessen Ausgang ein rechtliches Interesse haben oder die Entscheidung auch ihnen gegenüber wirken soll. Mit anderen Worten: Die Beiladung soll prozessökonomisch wirken und widersprüchliche Entscheidungen vermeiden. Sie soll ein besonderes Verfahren Dritter ersparen und außerdem bewirken, dass der Beigeladene die Entscheidung gegen sich gelten lassen muss, weil sich die Rechtskraft der Entscheidung auch auf ihn erstreckt.

3.781

Durch die Beiladung wird der Beigeladene Verfahrensbeteiligter. Das bedeutet, dass er innerhalb der Anträge des Klägers bzw. Beklagten selbständig Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel geltend machen und alle Verfahrenshandlungen wirksam vornehmen kann (§ 60 Abs. 6 Satz 1 FGO). Im Falle einer notwendigen Beiladung kann er sogar abweichende Sachanträge stellen (§ 60 Abs. 6 Satz 2 FGO). Das ist für den Kläger nicht immer angenehm und bedeutet in der Praxis:

3.782

– dem Beigeladenen sind alle Schriftsätze zuzustellen, – er hat das Recht auf Akteneinsicht,

1 BFH v. 25.4.2006 – VIII R 52/04, BStBl. II 2006, 847; v. 28.3.1985 – VII R 141/84, BFH/NV 1987, 248.

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Kap. 3 Rz. 3.783

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– er ist zu allen Terminen zu laden, – ihm sind Urteile und andere Entscheidungen zuzustellen.

3.783 Der Beigeladene tritt in den Verfahrensstand ein, der zum Zeitpunkt der Beiladung besteht.1 Folglich sind frühere Prozesshandlungen ihm gegenüber nicht zu wiederholen. Erfolgt eine notwendige Beiladung allerdings erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung muss die bereits geschlossene mündliche Verhandlung von Amts wegen wiedereröffnet werden.2 Der Kläger bleibt aber insofern „Herr des Verfahrens“, als er die Klage auch noch nach erfolgter Beiladung ohne Zustimmung oder Genehmigung des Beigeladenen zurücknehmen oder in der Hauptsache für erledigt erklären kann.

3.784 Die Beiladung setzt also ein anhängiges gerichtliches Verfahren voraus. Sie ist deshalb erst zulässig, nachdem Klage erhoben worden ist. Eine Beiladung ist nicht mehr möglich, wenn ein Verfahren bereits beendet ist, sei es durch Klagerücknahme, sei es durch eine Erledigung in der Hauptsache. D. h., der Kläger kann die notwendige Beiladung eines ihm lästigen Dritten nur dadurch vermeiden, dass er die Klage zurücknimmt oder den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Voraussetzung für eine Beiladung ist nicht, dass die Klage zulässig ist. Jedoch kann in den Fällen, in denen eine Klage offensichtlich unzulässig ist, auch auf eine notwendige Beiladung verzichtet werden.3

3.785 Ein rechtskräftiges Urteil bindet auch den Beigeladenen und seinen Rechtsnachfolger. 2. Einfache Beiladung

3.786 Das Gesetz unterscheidet in § 60 FGO zwischen der einfachen (§ 60 Abs. 1 FGO) und der notwendigen Beiladung (§ 60 Abs. 3 FGO). Eine einfache Beiladung ist zulässig bei solchen Personen, deren rechtliche Interessen nach den Steuergesetzen durch die Entscheidung des Gerichts berührt werden. Das sind insbesondere solche Personen, die nach den Steuergesetzen neben den Steuerpflichtigen haften (§ 60 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es reicht nicht aus, dass lediglich wirtschaftliche Interessen des Dritten berührt werden.4

3.787 Bei der einfachen Beiladung handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Bei der Ausübung des Ermessens hat das Gericht stets auch die Interessen des klagenden Steuerpflichtigen zu berücksichtigen, insbesondere den Schutz des Steuergeheimnisses.5 Deshalb ist der Steuerpflichtige vor einer einfachen Beiladung zu hören, sofern er am Verfahren – als Kläger oder als bereits Beigeladener – beteiligt ist (§ 60 Abs. 1 Satz 2 FGO). Widerspricht der Kläger der Beiladung, so ist es in der Regel nicht ermessenswidrig, wenn die einfache Beiladung desjenigen abgelehnt wird, der ein den Belangen des Klägers entgegen gesetztes Interesse am Ausgang des Rechtsstreites hat.6 Will der Kläger deshalb die einfache Beiladung eines Dritten verhindern, so sollte er dieser in der Praxis auf jeden Fall ausdrücklich widersprechen.

1 BFH v. 8.6.2015 – I B 13/14, BFH/NV 2015, 1695. 2 BFH v. 8.6.2015 – I B 13/14, BFH/NV 2015, 1695. 3 BFH v. 23.9.2008 – I R 90/07, BFH/NV 2009, 588; v. 8.12.2006 – VII B 243/05, BFH/NV 2007, 597. 4 BFH v. 28.6.2005 – IV B 174/03, BFH/NV 2005, 2009. 5 BFH v. 19.9.2013 – V B 78/12, BFH/NV 2014, 72. 6 BFH v. 19.9.2013 – V B 78/12, BFH/NV 2014, 72; v. 23.4.2007 – I B 27/07, BFH/NV 2007, 1675; v. 23.1.2004 – VII B 184/03, BFH/NV 2004, 795.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.790 Kap. 3

Das Unterlassen einer einfachen Beiladung (§ 60 Abs. 1 FGO) stellt keinen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar1 und hat lediglich zur Folge, dass die Entscheidung dem nicht Beigeladenen gegenüber keine Bindungswirkung hat.2

3.788

3. Notwendige Beiladung Gem. § 60 Abs. 3 FGO ist derjenige zum Verfahren notwendig beizuladen, der an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt ist, dass die Entscheidung des Gerichts dem Kläger und ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann.3 Das ist dann der Fall, wenn die Entscheidung notwendigerweise und unmittelbar Rechte Dritter gestaltet, verändert oder zum Erlöschen bringt.4 Der Verzicht eines Verfahrensbeteiligten auf die notwendige Beiladung ist unbeachtlich. Da die notwendige Beiladung zur Grundordnung des Verfahrens gehört, steht sie nicht zur Disposition der Beteiligten, die möglicherweise andere Interessen als die Beizuladenden haben.5

3.789

Besondere Bedeutung besitzt die notwendige Beiladung bei einheitlichen Feststellungsbescheiden. Erheben hier nicht alle diejenigen, die nach § 48 FGO klagebefugt sind, gegen den einheitlichen Feststellungsbescheid Klage, so sind die Personen, die keine Klage erhoben haben, notwendig beizuladen. Das bedeutet: Klagebefugnis und notwendige Beiladung sind miteinander verknüpft. Ein Nichtklagebefugter kann auch nicht notwendig beigeladen werden.

3.790

Beispiel 1: An der X-KG sind die Gesellschafter A als Komplementär und B als Kommanditist beteiligt. Nach einer Betriebsprüfung erhöhte das Finanzamt den Gewinn der KG für das Streitjahr von 100.000 Euro auf 200.000 Euro. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen den entsprechenden Feststellungsbescheid erhebt A als vertretungsberechtigter Gesellschafter für die KG Klage. In dem Klageverfahren ist B als Kommanditist nicht nach § 60 Abs. 3 FGO notwendig beizuladen, da er nicht klagebefugt i. S. des § 48 Abs. 1 FGO ist. Hier geht es nur um die Höhe des Gewinns der Gesellschaft, nicht auch um die Höhe der Gewinnbeteiligung des Kommanditisten B oder um ihn persönlich betreffende Fragen. Beispiel 2: Das Finanzamt lehnt es in einem negativen Feststellungsbescheid ab, für die X-KG – bestehend aus den Gesellschaftern A als Komplementär und B und C als Kommanditisten – eine einheitliche Feststellung gewerblicher Einkünfte durchzuführen mit der Begründung, die KG betreibe keinen Gewerbebetrieb, denn es fehle ihr die Gewinnerzielungsabsicht. Es liege vielmehr sog. Liebhaberei vor. Hiergegen erhebt A nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage. Hier geht es um die Frage, ob eine Mitunternehmerschaft besteht und ob A, B und C Mitunternehmer sind. Klagebefugt i. S. des § 48 Abs. 1 FGO sind deshalb in einem solchen Fall neben dem zur Vertretung berufenen Geschäftsführer (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO) alle übrigen Gesellschafter (§ 48

1 BFH v. 6.3.2013 – X B 93/11, BFH/NV 2013, 903; v. 27.12.2012 – V B 31/11, BFH/NV 2013, 944; Levedag in Gräber, § 60 FGO Rz. 153. 2 BFH v. 29.10.2002 – V B 186/01, BFH/NV 2003, 780. 3 BFH v. 6.3.2013 – X B 93/211, BFH/NV 2013, 903; v. 27.12.2012 – V B 31/11, BFH/NV 2013, 944; Levedag in Gräber, § 60 FGO Rz. 153. 4 BFH v. 31.8.2015 – VI B 14/15. BFH/NV 2015, 1672; v. 5.9.2012 – II B 61/12, BFH/NV 2012, 1995. 5 BFH v. 16.5.2013 – IV R 21/10, BFH/NV 2013, 1586; v. 9.2.2011 – IV R 37/08, BFH/NV 2011, 1120; v. 23.4.2009 – IV R 24/08, BFH/NV 2009, 1427; v. 19.6.2006 – VIII R 33/05, BFH/NV 2006, 1693.

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267

Kap. 3 Rz. 3.791

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Abs. 1 Nr. 4 FGO).1 Das bedeutet: Da nur A Klage erhoben hat, ist sowohl die Gesellschaft als auch die Kommanditisten B und C gem. § 60 Abs. 3 FGO notwendig beizuladen.

3.791 Allerdings kann nach ständiger Rechtsprechung des BFH eine – an sich gebotene – Beiladung der übrigen klagebefugten Gesellschafter unterbleiben, wenn die Klage offensichtlich unzulässig ist2 oder wenn die nicht klagenden Gesellschafter unter keinem denkbaren Gesichtspunkt steuerrechtlich betroffen sind.3 Dies ist dann der Fall, wenn die Entscheidung des Finanzgerichts keine Auswirkungen auf die Höhe des Gewinnanteils des nicht klagenden Gesellschafters haben kann.4 Dies gilt z. B., wenn ausschließlich eine Frage des Sonderbetriebsvermögens des klagenden Gesellschafters streitig ist und dies keinen Einfluss auf die Gewinnanteile der anderen Gesellschafter hat.5 Beispiel 1: Streitig ist, ob das in das Privatvermögen überführte Sonderbetriebsvermögen des klagenden Gesellschafters zu einem Aufgabegewinn geführt hat. Hier ist die Gesellschaft als solche notwendig beizuladen. Eine Beiladung der übrigen Mitgesellschafter kommt nicht in Betracht. Beispiel 2: Es ist lediglich die Höhe des Sonderbetriebsgewinns des klagenden Gesellschafters – und damit mittelbar die Höhe des Gesamtgewinns der Gesellschaft –, nicht aber die Verteilung des Gewinns auf die Gesellschafter streitig. In einem derartigen Fall ist die Beiladung der anderen Gesellschafter nicht erforderlich.6 Allerdings ist die Gesellschaft als solche notwendig beizuladen.

3.792 Der ausgeschiedene Gesellschafter ist nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO neben der als klagebefugten Gesellschaft immer selbst zur Erhebung einer Klage gegen den Gewinnfeststellungsbescheid befugt und deshalb nach § 60 Abs. 3 FGO zum Klageverfahren der Gesellschaft notwendig beizuladen. Dies gilt auch dann, wenn der Gesellschafter erst nach Klageerhebung ausgeschieden ist. Auch in diesem Fall ist der ausgeschiedene Gesellschafter notwendig beizuladen.7 Umgekehrt sind zu dem Klageverfahren eines ehemaligen Gesellschafters grundsätzlich die Gesellschaft selbst oder alle gem. § 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO klagebefugten ehemaligen Gesellschafter, die nicht selbst Klage erhoben haben, beizuladen, soweit sie vom Ausgang des Rechtsstreits i. S. des § 40 Abs. 2 FGO selbst betroffen sind.8

3.793 Im Falle der Vollbeendigung einer Personengesellschaft erlischt die Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers, so dass er nicht mehr klagebefugt i. S. des § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO ist. Sowohl die Beteiligtenstellung als auch die Prozessführungsbefugnis und damit auch die Klagebefugnis (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO) gehen von der Personengesellschaft auf die durch den angegriffenen Bescheid beschwerten Gesellschafter über.9 Wenn auch nur ein Gesellschafter Klage erhebt, sind die übrigen Gesellschafter grundsätzlich gem. § 60 Abs. 3 FGO notwendig beizuladen.10 Nicht erforderlich ist allerdings die Beiladung einer aufgelösten und im Handelsregister gelöschten Komplementär-GmbH einer GmbH & Co. KG, der über ihren bishe1 Vgl. BFH v. 6.5.1998 – IV B 141/96, BFH/NV 1999, 45. 2 BFH v. 20.6.2012 – IV B 147/11, BFH/NV 2012, 1614 m. w. N. 3 BFH v. 26.8.2013 – IV B 62/13, juris; v. 9.2.2011 – IV R 37/08, BFH/NV 2011, 1120; v. 8.12.2006 – VII B 243/05, BFH/NV 2007, 597. 4 BFH v. 4.5.1999 – VIII B 94/98, BFH/NV 1999, 1483. 5 BFH v. 22.5.1990 – VIII R 120/86, BStBl. II 1990, 780. 6 BFH v. 26.4.1995 – XI R 80/94, BFH/NV 1996, 37. 7 BFH v. 4.9.2014 – IV R 44/13, BFH/NV 2015, 209; v. 1.10.2010 – IV R 32/07, BFH/NV 2011, 271; v. 19.6.1990 – VIII B 3/89, BStBl. II 1990, 1068. 8 BFH v. 26.8.2013 – IV B 62/13, juris; v. 9.2.2011 – IV R 37/08, BFH/NV 2011, 1120 m. w. N. 9 BFH v. 4.10.2006 – VIII R 7/03, BFH/NV 2007, 145 m. w. N. 10 BFH v. 4.5.1999 – VIII B 94/98, BFH/NV 1999, 1483.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.797 Kap. 3

rigen Ergebnisanteil von 0 Euro hinaus noch Verlustanteile zuzurechnen wären.1 Tritt die Vollbeendigung im Laufe des Klageverfahrens ein, so wird das Verfahren gem. § 155 FGO i. V. m. § 239 ZPO unterbrochen und kann mit den nunmehr klagebefugten Gesellschaftern fortgesetzt werden. Sofern nicht alle klagebefugten Gesellschafter das Verfahren als Kläger fortsetzen wollen, sind die nicht klagenden ehemaligen Gesellschafter beizuladen. Eine Unterbrechung des Verfahrens tritt allerdings dann nicht ein, wenn eine Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten stattgefunden hat (§ 155 FGO i. V. m. § 246 ZPO).2 4. Besondere Beiladung auf Antrag des Finanzamts Die besondere Beiladung nach § 174 Abs. 5 i. V. m. § 174 Abs. 4 AO enthält einen unselbständigen Beiladungsgrund: diese ist unabhängig davon zulässig, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 FGO erfüllt sind.3 Hierfür ist lediglich erforderlich

3.794

– ein Antrag des Finanzamts, – die Möglichkeit, dass ein Steuerbescheid wegen irriger Beurteilung eines Sachverhalts zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern ist und hieraus bei dem Dritten steuerliche Folgerungen zu ziehen sind bzw. dass die Möglichkeit einer Folgeänderung besteht4 Eine Beiladung des Dritten i. S. des § 174 Abs. 5 Satz 2 i. V. m. § 174 Abs. 4 AO kommt nur dann nicht in Betracht, wenn dessen Interessen durch den Ausgang des anhängigen Rechtsstreits eindeutig nicht berührt sein können, wenn also etwaige Folgeänderungen nach § 174 Abs. 5 Satz 2 i. V. m. § 174 Abs. 4 AO gegenüber dem Beigeladenen z. B. wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist eindeutig und zweifelsfrei nicht mehr vorgenommen werden können.5 Wenn dies zweifelhaft ist, ist dies aber nicht bereits im Beiladungsverfahren, sondern erst in dem späteren Verfahren des Dritten zu entscheiden.6

3.795

Der nach diesen Vorschriften Beigeladene erhält die Stellung eines notwendig Beigeladenen.7

3.796

5. Verfahren und Rechtsfolgen Die Beiladung geschieht gem. § 60 Abs. 1 und 3 FGO von Amts wegen oder auf Antrag. Die notwendige Beiladung ist stets von Amts wegen durchzuführen. Ein etwaiger Antrag hätte hier nur die Bedeutung einer Anregung. Vor der Beiladung ist der am Verfahren beteiligte Steuerpflichtige zu hören (§ 60 Abs. 1 Satz 2 FGO).

1 BFH v. 4.5.1999 – VIII B 94/98, BFH/NV 1999, 1483 unter Berufung auf BFH v. 16.12.1981 – I R 93/77, BStBl. II 1982, 474. 2 BFH v. 22.11.1988 – VIII R 90/84, BStBl. II 1989, 326. 3 BFH v. 25.3.2014 – XI B 127/13, BFH/NV 2014, 1012. 4 BFH v. 25.3.2014 – XI B 127/13, BFH/NV 2014, 1012; v. 10.2.2010 – IX B 176/09, BFH/NV 2010, 832; v. 14.12.2004 – I B 137/04, BFH/NV 2005, 835. 5 BFH v. 15.10.2010 – III B 149/09, BFH/NV 2011, 404; v. 10.2.2010 – IX B 176/09, BFH/NV 2010, 832. 6 BFH v. 10.2.2010 – IX B 176/09, BFH/NV 2010, 832; v. 20.4.1989 – V B 153/88, BStBl. II 1989, 539. 7 BFH v. 14.12.2004 – I B 137/04, BFH/NV 2005, 835; v. 8.1.1996 – X B 112/95, BFH/NV 1996, 589; Levedag in Gräber, § 60 FGO Rz. 8.

Schaumburg

269

3.797

Kap. 3 Rz. 3.798

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.798 Die Beiladung erfolgt durch einen mit Gründen versehenen Beschluss, in dem der Stand der Sache und der Grund der Beiladung angegeben werden sollen. Der Beschluss wird in der Regel außerhalb der mündlichen Verhandlung gefasst. Er ist allen Beteiligten zuzustellen. Gegen den Beschluss können die bisherigen Beteiligten sowie der Beigeladene Beschwerde einlegen.

3.799 Die Ablehnung einer von den Verfahrensbeteiligten beantragten Beiladung erfolgt normalerweise im Endurteil. Die Beteiligten können die abgelehnte und unterlassene Beiladung – nach entsprechender Rüge – als Verfahrensfehler gem. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügen; eine Beschwerde der Beteiligten ist insoweit nicht zulässig.1 Hat ein Dritter als am finanzgerichtlichen Verfahren (noch) nicht Beteiligter seine Beiladung beantragt, so erfolgt die Ablehnung durch Beschluss oder im Endurteil. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Dritten ist zulässig.2

3.800 Unterbleibt die Beiladung, so hängt die rechtliche Folge davon ab, ob es sich um eine notwendige oder um eine einfache Beiladung gehandelt hätte. Unterbleibt die notwendige Beiladung, so ist das Urteil gegenüber dem an sich Beizuladenden unwirksam. Die unterlassene notwendige Beiladung stellt, obwohl der BFH im Revisionsverfahren eine notwendige Beiladung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO nachholen kann,3 einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar.4 Auf die Revision hin kann das Urteil des Finanzgerichts allein aus diesem Grunde wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben und die Sache ohne weitere Sachprüfung durch den BFH zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht zurückverwiesen werden.5

3.801 Um unnötige Verfahrensverzögerungen zu vermeiden, kann allerdings eine (sogar) bewusst unterlassene notwendige Hinzuziehung gem. § 360 Abs. 3 Satz 1 AO im Klageverfahren geheilt werden.6 Ferner lässt § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO notwendige Beiladungen durch den BFH zu.7 Damit kann der Verfahrensmangel noch im Revisionsverfahren geheilt werden. Allerdings steht es im Ermessen des BFH, ob er die Sache an das Finanzgericht zur Nachholung der notwendigen Beiladung zurückverweist oder die Beiladung selbst vornimmt.8 Dabei ist es zweckmäßig und ermessensgerecht, die unterbliebene Beiladung nicht nachzuholen und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen, wenn die Sache nicht entscheidungsreif ist und das Verfahren zur Nachholung weiterer Feststellungen ohnehin an das Finanzgericht zurückverwiesen werden muss (vgl. § 126 Abs. 3 Satz 2 FGO; s. Rz. 4.117).9

3.802 Wird die einfache Beiladung unterlassen oder abgelehnt, so hat dies zur Folge, dass der Beigeladene durch die Entscheidung nicht gebunden wird. Er kann also in einem von ihm angestrengten Prozess die entsprechenden Einwendungen, wie sie der Kläger in seinem Verfahren vorgebracht hatte, nochmals – nunmehr aus seiner Sicht – erheben. 1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 21.6.1994 – VIII B 5/93, BStBl. II 1994, 681. BFH v. 21.6.1994 – VIII B 5/93, BStBl. II 1994, 681; Levedag in Gräber, § 60 FGO Rz. 155. BFH v. 21.12.2011 – IV B 101/10, BFH/NV 2012, 598. BFH v. 4.9.2014 – IV R 44/13, BFH/NV 2015, 209; v. 8.5.2008 – IV B 138/07, BFH/NV 2008, 1499 m. w. N.; v. 29.4.2009 – X R 16/06, BStBl. II 2009, 732. BFH v. 4.9.2014 – IV R 44/13, BFH/NV 2015, 209; v. 30.3.1999 – VIII R 15/97, BFH/NV 1999, 1468. BFH v. 28.10.1999 – I R 8/98, BFH/NV 2000, 579. S. BFH v. 28.8.2001 – VIII R 9/01, BFH/NV 2001, 61. BFH v. 4.9.2014 – IV R 44/13, BFH/NV 2015, 209; v. 19.6.2006 – VIII R 33/05, BFH/NV 2006, 1693. BFH v. 4.9.2014 – IV R 44/13, BFH/NV 2015, 209.

270

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.804 Kap. 3

6. Ausnahmefall: Beiladung in Massenverfahren In § 60a FGO ist für Massenverfahren festgelegt, dass das Gericht in Fällen, in denen mehr als 50 Personen notwendig beizuladen sind, durch Beschluss anordnen kann, dass nur solche Personen beigeladen werden, die dies innerhalb einer bestimmten Frist beantragen.1 Hierdurch wird dem Gericht die Möglichkeit verschafft, das Beiladungsverfahren abzukürzen und im Interesse der Beteiligten zu straffen.2 Die Grenze für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung ist bei 50 Beteiligten gezogen. Der diesbezügliche Beschluss des Gerichts muss erkennbar machen, was für ein Verfahren anhängig ist, wie der Sachstand ist und warum die Beiladung notwendig ist. Außerdem ist ausdrücklich im Interesse der Beizuladenden festgelegt, dass der Beschluss des Gerichts im elektronischen Bundesanzeiger bekannt zu machen ist. Er muss darüber hinaus in Tageszeitungen veröffentlicht werden, die in dem Bereich verbreitet sind, in dem sich die Entscheidung voraussichtlich auswirken wird. Dabei bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, durch welche Tageszeitung die Betroffenen am besten erreicht werden können. Hierfür werden meist überregionale Zeitungen in Betracht kommen. Zum Schutz der Betroffenen ist der Tag des Fristablaufs für einen Antrag in den Tageszeitungen mitzuteilen. Das Gericht soll allerdings Personen, die von der Entscheidung erkennbar in besonderem Maße betroffen werden, von Amts wegen beiladen, auch wenn kein Antrag gestellt worden ist (§ 60a Satz 9 FGO).

3.803

Der Beschluss, in dem das Gericht anordnet, dass nur solche Personen beigeladen werden, die dies innerhalb einer bestimmten Frist beantragen, ist unanfechtbar (§ 60a Satz 2 FGO). Die Bindungswirkung des Urteils erstreckt sich auch auf die notwendig Beizuladenden, die keinen entsprechenden Antrag gestellt haben und folglich nicht am Verfahren beteiligt waren.3 Diese Personen, die sich am Verfahren hätten beteiligen können, sich aber nicht beteiligt haben, sind zur Einlegung von Rechtsmitteln nicht berechtigt.4

3.804

VI. Mündliche Verhandlung Literatur: Bartone, Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Finanzprozess, AO-StB 2011, 179; Bilsdorfer, Der Rechtsanwalt und die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, NJW 2001, 331; Bilsdorfer, Die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht: Eine Bewährungssituation für den steuerlichen Berater, StB 2001, 4; Bilsdorfer, Die Vorbereitung des Steuerberaters auf die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, INF 2000, 101, 134; Binnewies/Wollweber, Die mündliche Verhandlung – lästige Pflicht oder lustvolle Kür?, NJW 2016, 283; Carl, Versäumung eines Verhandlungstermins im Finanzgerichtsprozess, BB 1989, 2017; Hoffmann, Die mündliche Verhandlung, StJ Heft 6/2007, 22; Kapp, Das Richtergespräch im Steuerprozess, DStR 1986, 717; Kaulbach, Moderne Medien in der Gerichtsverhandlung, ZRP 2009, 236; Krömker, Die mündliche Verhandlung im Steuerprozess, AO-StB 2014, 306; Lange, Auswärtige Sitzungen der Finanzgerichte und des Bundesfinanzhofs, DStZ 1998, 349; Lemaire, Die drei Phasen der mündlichen Verhandlung, AOStB 2002, 348; Liehr, Konsensuale Streitbeilegung im finanzgerichtlichen Verfahren, StBW 2011, 226; Lindwurm, Das Steuergeheimnis nach der mündlichen Verhandlung vor dem FG und dem Strafgericht, AO-StB 2010, 378; Loschelder, Das vereinfachte FG-Verfahren ohne mündliche Verhandlung, AO-StB 2003, 310; Mack, Der Prozess beim Finanzgericht – Sind Anwälte hier überflüssig?, AnwBl. 2010, 173; Mack, Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess, in FS Streck, 2011, S. 337; Mack, Die mündliche Verhandlung, AO-StB 2004, 443; Redeker, Mündliche Verhandlung – Sinn und Wirklich1 2 3 4

S. dazu BFH v. 22.9.1999 – I B 66/98, BFH/NV 2000, 334. Vgl. dazu Levedag in Gräber, § 60a FGO Rz. 2. BFH v. 23.12.2005 – VIII B 61/05, BFH/NV 2006, 788. BFH v. 23.12.2005 – VIII B 61/05, BFH/NV 2006, 788.

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Kap. 3 Rz. 3.805

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

keit, NJW 2002, 192; Rudloff, Die mündliche Verhandlung im Steuerprozess, DStR 1984, 392; Heide Schaumburg, Die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, in FS Harald Schaumburg, 2009, S. 111; Sendler, Anspruch auf Gehör und Effizienz richterlicher Tätigkeit – Urteilsentwurf vor mündlicher Verhandlung?, in Badura/Scholz (Hrsg.), FS Lerche, 1993, S. 833; Spickhoff, Fremdes Recht vor inländischen Gerichten: Rechts- oder Tatfrage?, ZZP 112 (1999), 265; Stöcker, Absetzung einer mündlichen Verhandlung, AO-StB 2001, 256; Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541.

1. Bedeutung

3.805 Gem. § 90 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung, soweit durch Urteil zu entscheiden ist. Andere Entscheidungen – wie z.B. alle Beschlüsse – können nach § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO ohne mündliche Verhandlung ergehen. Bei ausdrücklichem Verzicht der Beteiligten kann gem. § 90 Abs. 2 FGO auch ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (s. Rz. 3.997 ff.).

3.806 Gem. § 94a FGO kann das Gericht auch ohne einen ausdrücklich erklärten Verzicht von mündlicher Verhandlung absehen, wenn der Streitwert 500 Euro nicht übersteigt und kein Beteiligter die mündliche Verhandlung beantragt (s. Rz. 3.1005 ff.).

3.807 Da der überwiegende Teil des finanzgerichtlichen Verfahrens schriftlich abläuft, sollte die Bedeutung der mündlichen Verhandlung vom Kläger und seinem Berater nicht unterschätzt werden. Hier bietet sich für den Kläger erstmals die Gelegenheit, sein Begehren im Gespräch mit dem beklagten Finanzamt und mit der Richterbank mündlich vorzutragen. Die mündliche Verhandlung ist für ihn die letzte Chance, den Sachverhalt klarzustellen und auch zu ergänzen, neue, bisher nicht berücksichtigte Tatsachen und Beweismittel vorzutragen und Missverständnisse auszuräumen. Sie dient insbesondere dazu, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren. Es kann durchaus sein, dass sich der Sachverhalt nach der mündlichen Verhandlung anders darstellt als aufgrund des bloßen Aktenstudiums.1 2. Terminsbestimmung

3.808 Der Termin zur mündlichen Verhandlung wird vom Vorsitzenden bzw. dem Einzelrichter bestimmt (§ 155 FGO i. V. m. § 216 ZPO), und zwar sobald zu erwarten ist, dass der Rechtsstreit in einer mündlichen Verhandlung erledigt werden kann, also entscheidungsreif ist (§ 79 Abs. 1 Satz 1 FGO). Eine bestimmte Reihenfolge für die Festlegung der Termine ist nicht gesetzlich vorgeschrieben und in der Gerichtspraxis auch nicht zu beobachten. Bei besonders eilbedürftigen Streitsachen solle in der Klageschrift bereits darauf hingewiesen und um eine zeitnahe Terminierung des Falles gebeten werden.2 Ggf. bietet sich insoweit auch ein Telefonat mit dem Berichterstatter an.

3.809 Die in § 216 Abs. 2 ZPO festgelegte Verpflichtung, Termine unverzüglich zu bestimmen, gilt nicht für das finanzgerichtliche Verfahren. Dies würde der Bestimmung in § 79 Abs. 1 Satz 1 FGO zuwiderlaufen, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Daraus folgt, dass die Sache so weit aufbereitet sein muss, dass sie – bevor sie terminiert werden kann – voraussichtlich in einem Verhandlungstermin abgeschlossen werden kann.

1 Vgl. Heide Schaumburg in FS Harald Schaumburg, S. 112. 2 So auch Krömker, AO-StB 2014, 306.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.815 Kap. 3

Die Wahl des Terminstages und der Sitzungszeit fällt in das Ermessen des Vorsitzenden oder Einzelrichters Dabei hat das Gericht im Rahmen seines Ermessens soweit wie möglich Terminwünsche der Beteiligten zu berücksichtigen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung gebührt aber der Terminplanung des Gerichts in der Regel Vorrang.1

3.810

Grundsätzlich findet die mündliche Verhandlung in den Räumen des Gerichts statt. In Ausnahmefällen kann die Sitzung aber auch außerhalb des Gerichtssitzes abgehalten werden (§ 91 Abs. 3 FGO), wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist. Dies hat der Vorsitzende nach seinem Ermessen zu entscheiden.2 Auswärtige Sitzungen sollten jedenfalls nicht in den Räumen des auswärtigen Finanzamts – also nicht bei einem der Beteiligten – stattfinden.3

3.811

3. Ladung Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden bestimmt ist (Terminbestimmung), wird die Ladung von Amts wegen durch die Geschäftsstelle bzw. Serviceeinheit durchgeführt. Gem. § 53 Abs. 2 FGO ist die Ladung den Beteiligten nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung zuzustellen. Die Ladung muss einen bestimmten Inhalt haben: Sie muss neben der Angabe der ladenden Stelle, der Bezeichnung des Adressaten, des Gerichts, des Terminorts, des Sitzungssaales, des Terminzwecks und Terminzeitpunkts die Aufforderung enthalten, den Termin wahrzunehmen.4 Außerdem ist gem. § 91 Abs. 2 FGO der Hinweis notwendig, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

3.812

Die Ladungsfrist zum Termin beträgt mindestens zwei Wochen – beim BFH mindestens vier Wochen (§ 91 Abs. 1 FGO). Im finanzgerichtlichen Verfahren wird das Recht auf Gehör u. a. durch die Notwendigkeit einer ordnungsgemäßen Ladung der Verfahrensbeteiligten zur mündlichen Verhandlung gewährleistet. Die Ladungsfrist soll u. a. sicherstellen, dass die Beteiligten im Regelfall eine Zeitspanne von mindestens zwei Wochen zwischen dem Tag der Zustellung der Ladung und dem Termin zur mündlichen Verhandlung für die Vorbereitung auf den Termin zur Verfügung haben, damit sie imstande sind, sich in der mündlichen Verhandlung zur Wahrung ihrer Rechte angemessen zu äußern.5

3.813

Steht einem Verfahrensbeteiligten diese Zeitspanne nicht zur Verfügung, weil die Ladung ihn nicht oder zu spät erreicht hat, so gibt ihm der Anspruch auf rechtliches Gehör ein Recht auf Aufhebung des Termins bzw. auf Vertagung der mündlichen Verhandlung. Dies gilt auch dann, wenn die Ladung nicht ordnungsgemäß ist und die betreffenden Beteiligten nicht erschienen sind oder der Mangel gerügt wird. Dann muss das Gericht den Termin aufheben oder vertagen.6

3.814

Um die Rechte der Beteiligten nicht zu beeinträchtigen und um Verfahrensfehler zu vermeiden, wird In der Praxis bei Nichterscheinen eines Beteiligten vorsichtshalber vor Durchführung der mündlichen Verhandlung immer noch einmal vom Vorsitzenden die Ladung in

3.815

1 BFH v. 7.10.2010 – II S 26/10 (PKH, BFH/NV 2011, 59; v. 29.7.2003 – V B 11/02, BFH/NV 2004, 59. 2 Lange, DStZ 1998, 349. 3 Ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 91 FGO Rz. 18 m. w. N. 4 Vgl. Herbert in Gräber, § 91 FGO Rz. 10; BFH v. 31.3.2000 – VII B 87/99, BFH/NV 2000, 1224. 5 BFH v. 29.9.2011 – IV B 122/09, BFH/NV 2012, 419; v. 8.6.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005, 1620 m. w. N.; Herbert in Gräber, § 91 FGO Rz. 11. 6 BFH v. 8.6.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005, 1620.

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Kap. 3 Rz. 3.816

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

den Akten und die Postzustellungsurkunde bzw. das Empfangsbekenntnis überprüft und zu Protokoll festgestellt, dass der nichterschienene Beteiligte ordnungsgemäß – und auch innerhalb der Ladungsfrist – geladen worden ist.

3.816 Die Nichteinhaltung der Ladungsfrist und damit eine Verletzung des § 91 FGO kann gem. § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO geheilt werden. Voraussetzung für eine Heilung ist, dass der Beteiligte auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichtet oder er in der mündlichen Verhandlung deren Nichteinhaltung nicht als Mangel gerügt hat, obwohl er erschienen ist und ihm der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste.1

3.817 Ansonsten stellt die Nichteinhaltung der Ladungsfrist regelmäßig eine Versagung des rechtlichen Gehörs und damit einen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 119 Nr. 3 FGO gegenüber dem Beteiligten dar.

3.818 Gem. § 91 Abs. 1 Satz 2 FGO kann der Vorsitzende in dringenden Fällen die Ladungsfrist abkürzen. Dabei muss die abgekürzte Frist allerdings so bemessen sein, dass die Beteiligten den Termin wahrnehmen können. Eine Beschwerde ist gegen die Abkürzung der Ladungsfrist nicht zulässig, da es sich um eine Fristbestimmung i. S. des § 128 Abs. 2 FGO handelt.2 Die Abkürzung der Ladungsfrist kann aber das Recht des Beteiligten auf Gehör berühren und unter diesem Gesichtspunkt zum Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde gemacht werden: Ein Beteiligter, der wegen der Kürze der Ladungsfrist nicht erscheinen und auch keine Terminverlegung beantragen konnte, kann die in der Sache ergangene Entscheidung mit der Begründung anfechten, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt, weil die Voraussetzungen für eine Verkürzung der Ladungsfrist nicht vorgelegen hätten.3

3.819 Die Abkürzung der Ladungsfrist ist im finanzgerichtlichen Verfahren nur von geringer Bedeutung. Denn in den meisten Fällen wird erstmals frühestens nach einigen Monaten ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Hier sind kaum Fälle denkbar, in denen die Anberaumung des Termins nunmehr so dringend ist, dass die Ladungsfrist, die ohnehin nur zwei Wochen beträgt, abgekürzt werden muss. 4. Terminsänderung Literatur: Binnewies/Wollweber, Die mündliche Verhandlung – lästige Pflicht oder lustvolle Kür?, NJW 2016, 283; Lange, Aufhebung oder Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht sowie Vertagung der Verhandlung, DStZ 1996, 577; Loschelder, Aufhebung, Verlegung und Vertagung von Gerichtsterminen, AO-StB 2004, 259; Nieland, Kurzfristiger Antrag auf Terminsverlegung, AO-StB 2004, 385.

3.820 Gem. § 155 FGO i. V. m. § 227 ZPO kann das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen sowie – nach Beginn der mündlichen Verhandlung – eine Verhandlung vertagen. Unter Termin ist dabei nur der Terminstag, nicht jedoch die Terminsstunde zu verstehen. Sinn und Zweck der Ladungsfrist ist es, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich auf die Verhandlung vorzubereiten. Dies gebietet keine erweiterte Auslegung der Vorschrift des § 91 Abs. 1 Satz 1 FGO auf die Terminsstunde. Gegen etwaige Unzumutbarkeiten, die aus einer kurzfristigen Neubestimmung der Termins-

1 BFH v. 13.6.2005 – I B 155/03, n. v.; v. 21.1.1981 – II R 81/79, BStBl. II 1981, 401. 2 BFH v. 30.7.2001 – VII B 78/01, BStBl. II 2001, 681. 3 BFH v. 13.12.2007 – XI B 160/06 m. w. N., juris.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.824 Kap. 3

stunde resultieren können, sind die Beteiligten dadurch geschützt, dass sie ggf. einen Anspruch auf die Verlegung des Termins haben.1 Dabei ist unter Aufhebung die Beseitigung bzw. Absetzung eines Termins vor seinem Beginn durch den Vorsitzenden zu verstehen, ohne dass ein neuer Termin anberaumt wird. Verlegung eines Termins ist die Bestimmung eines anderen Termins vor Beginn des anberaumten Termins durch den Vorsitzenden; sie schließt eine Terminsaufhebung ein. Unter Vertagung ist die Bestimmung eines weiteren Termins nach Beginn, aber vor Beendigung des anberaumten Verhandlungstermins und vor Entscheidungsreife der Sache zu verstehen.2

3.821

Sofern der Beteiligte eine Terminsaufhebung wünscht, ist ein entsprechender Antrag unmissverständlich unter Darlegung der erheblichen Gründe und ggf. deren sofortiger Glaubhaftmachung zu stellen: Eine Terminsänderung (Aufhebung oder Verlegung) kann nur aus erheblichem Grund erfolgen. Welche Gründe als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.3 Der Prozessstoff und die persönlichen Verhältnisse des betroffenen Beteiligten und ggf. seines Prozessbevollmächtigten sind bei der Prüfung ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass das Finanzgericht die einzige Tatsacheninstanz ist und die Beteiligten ein Recht darauf haben, ihre Sache in einer mündlichen Verhandlung vorzutragen.4 Liegen erhebliche Gründe i. S. des § 227 ZPO vor, verdichtet sich das in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen zu einer Rechtspflicht, d. h. der Termin muss in diesen Fällen zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird.5 Ausnahmsweise kann es auch beim Vorliegen erheblicher Gründe ermessensgerecht sein, eine Terminsänderung abzulehnen, wenn beispielsweise offenkundig Prozessverschleppungsabsicht vorliegt oder wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten in anderer Weise erheblich verletzt hat.6

3.822

Die Begründung des Antrags auf Terminsänderung muss den erheblichen Grund für eine Terminsaufhebung schlüssig ergeben. Deshalb reicht es bei einem Aufhebungsantrag z. B. wegen Erkrankung nicht aus, wenn lediglich mitgeteilt wird, der Termin könne wegen einer Erkrankung nicht wahrgenommen werden. Erforderlich sind genaue Angaben zur Art der Erkrankung, damit das Gericht prüfen kann, ob der Termin tatsächlich nicht wahrgenommen werden kann und somit ein erheblicher Grund vorliegt.7

3.823

Die erheblichen Gründe, die für eine Terminsänderung geltend gemacht werden, sind ferner auf Verlangen des Vorsitzenden bzw. auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen (§ 155 FGO i. V. m. § 227 Abs. 3 ZPO).8 Wird ein Antrag auf Terminsverlegung „in letzter Minute“ gestellt, muss der Beteiligte von sich aus, ohne dass er hierzu vom Gericht aufgefordert wird, den Verlegungsgrund glaubhaft machen.9

3.824

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 31.3.2006 – IV B 138/04, BFH/NV 2006, 1490. Vgl. zu den Begrifflichkeiten auch Levedag, AO-StB 2004, 250. Vgl. dazu die Aufzählung bei Schallmoser in HHSp, § 91 FGO Rz. 90 ff. BFH v. 19.10.2012 – VII B 79/12, BFH/NV 2013, 225; v. 10.4.2007 – XI B 58/06, n. v.; v. 4.5.1994 – IV R 104/92, BFH/NV 1995, 46. BFH v. 19.10.2012 – VII B 79/12, BFH/NV 2013, 225. BFH v. 21.8.2014 – IX B 39/14, BFH/NV 2014, 1896; v. 3.11.2003 – III B 55/03, BFH/NV 2004, 506; v. 17.5.2000 – IV B 86/99, BFH/NV 2000, 1353. BFH v. 10.4.2007 – XI B 58/06, n. v. BFH v. 4.5.1994 – X R 104/92, BFH/NV 1995, 46. BFH v. 14.1.2016 – III B 73/15, BFH/NV 2016, 584 m. w. N.

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Kap. 3 Rz. 3.825

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.825 Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass erhebliche Gründe für die Änderung des Termins vorliegen.1 Verbleibende Zweifel gehen zu Lasten desjenigen, der die Änderung des Termins begehrt. Eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist allerdings nicht erforderlich. Zur Glaubhaftmachung (§ 155 FGO i. V. m. § 294 ZPO) kann sich der Beteiligte aller Beweismittel bedienen, auch einer Versicherung an Eides statt, wobei die eidesstattliche Versicherung nur subsidiäres Mittel zur Glaubhaftmachung ist.2 Es dürfen allerdings nur sog. präsente Beweismittel angeboten werden, aufgrund deren der Beweis sofort und unmittelbar erbracht werden kann (§ 294 Abs. 2 ZPO).

3.826 Im Gesetz ist nur geregelt, was insbesondere keine erheblichen Gründe für eine Terminsänderung sind: – das Ausbleiben eines Beteiligten oder die bloße Ankündigung, im Termin nicht zu erscheinen, sofern das Gericht nicht der Auffassung ist, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist (vgl. § 227 Abs. 1 ZPO); – die mangelnde Vorbereitung eines Beteiligten, wenn der Beteiligte dies nicht genügend entschuldigt (vgl. § 227 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO);3 – das Einvernehmen der Beteiligten über eine Terminsänderung (vgl. § 227 Abs. 1 Nr. 3 ZPO).

3.827 Als erhebliche Gründe für eine Terminsänderung sind in der Rechtsprechung immer wieder erörtert worden: – Verhinderung des Prozessvertreters Diese ist grundsätzlich nicht als erheblicher Grund i. S. des § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO anzusehen, wenn die Prozessvollmacht einer Sozietät erteilt worden ist und der betreffende Termin durch ein anderes Mitglied der Sozietät sachgerecht wahrgenommen werden kann.4 Regelmäßig kann davon ausgegangen werden, dass (zumindest) alle Sozietätsmitglieder gleichermaßen in der Lage sind, das Anliegen des Mandanten der Sozietät in der mündlichen Verhandlung zu vertreten.5 Anderes gilt, wenn die Wahrnehmung des Termins durch eine andere Person als den eigentlichen Sachbearbeiter nicht zumutbar ist. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn der als Vertreter in Betracht kommenden Person keine hinreichende Einarbeitungszeit zur Verfügung steht oder wenn wegen der besonderen Komplexität oder wegen bestimmter Eigentümlichkeiten des Verfahrens anzunehmen ist, dass nur der mit dem Fall vertraute Sachbearbeiter die Belange des Mandanten angemessen vertreten kann.6 Solche Besonderheiten müssen indessen, sofern sie nicht offenkundig sind, im Einzelnen substantiiert vorgetragen werden.7 Dazu ist nicht ausreichend, pauschal auf die „besondere Komplexität“ oder „be1 S. z. B. BFH v. 27.9.2001 – X R 66/99, BFH/NV 2002, 358; v. 3.7.2000 – VI B 223/99, BFH/NV 2000, 1491; v. 23.11.1994 – X B 23/94, BFH/NV 1995, 625; Stapperfend in Gräber, § 56 FGO Rz. 45. 2 BFH v. 13.10.2005 – IV B 21/05, BFH/NV 2006, 328. 3 BFH v. 8.10.2003 – VII B 89/03, BFH/NV 2004, 217. 4 BFH v. 17.7.2014 – XI B 87/13, BFH/NV 2014, 1891 m. w. N. 5 BFH v. 17.7.2014 – XI B 87/13, BFH/NV 2014, 1891 m. w. N.; v. 26.10.1998 – I B 3/98, BFH/NV 1999, 626; kritisch hierzu Binnewies/Wollweber, NJW 2016, 283, die diese Praxis für den Berater für unzumutbar halten. 6 BFH v. 17.7.2014 – XI B 87/13, BFH/NV 2014, 1891 m. w. N. 7 BFH v. 17.7.2014 – XI B 87/13, BFH/NV 2014, 1891 m. w. N.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.830 Kap. 3

stimmte Eigentümlichkeiten“ des Verfahrens zu verweisen,1 vor allem wenn die Einarbeitung durch ein anderes Mitglied der Sozietät zeitlich noch möglich und der Prozessstoff vom Umfang her überschaubar ist.2 – Verhinderung des Klägers wegen eines gleichzeitig stattfindenden Gerichtstermins Dieser muss früher anberaumt worden sein.3 Eine nicht zu beseitigende Terminsüberlagerung mit einem anderen Gerichtstermin stellt einen erheblichen Grund dar, wenn die andere Sache vorrangig ist.4 Der Beteiligte muss dem Gericht mitteilen und substantiiert darlegen, wann genau der andere Termin stattfinden soll und aus welchen Gründen die Terminskollision nicht zu beseitigen (z. B. Verschiebung oder Wahrnehmung des anderen Termins durch einen anderen Prozessvertreter) und warum dem anderen Termin der Vorrang einzuräumen ist (z. B. frühere Ladung).

3.828

– Urlaub Zwar kann ein geplanter Urlaub ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung sein. Er muss aber so ausgestaltet sein, dass die Wahrnehmung des gerichtlichen Termins während dieser Zeit nicht zumutbar ist. Ein erheblicher Grund ist deshalb nur dann ausreichend dargelegt, wenn nicht nur vorgetragen wird, dass es sich um einen Urlaub handelt, der im Zeitpunkt der Zustellung der Ladung bereits verbindlich geplant war, sondern auch das Urlaubsziel so präzise genannt wird, dass das Gericht beurteilen kann, ob eine Wahrnehmung des Termins trotz des Urlaubs unzumutbar ist.5 Ein pauschaler Hinweis auf den Urlaub reicht hierfür nicht aus.6

3.829

– Krankheit Eine Erkrankung rechtfertigt eine Terminsverlegung, wenn sie so schwer ist, dass sie zur Verhandlungsunfähigkeit des nicht vertretenen Beteiligten oder des Prozessbevollmächtigten führt, so dass die Wahrnehmung des Termins nicht erwartet werden kann.7 Die umfangreiche Rechtsprechung stellt hier sehr hohe Anforderungen und verlangt einen erheblichen Grund, wenn der anberaumte Termin aufgehoben werden soll. Ein solcher liegt nur bei einer plötzlichen und nicht vorhersehbaren Erkrankung vor, die den Beteiligten oder auch seinen Prozessbevollmächtigten an der Wahrnehmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung hindert. Wird vom Arzt allerdings die Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, sind weitere Ausführungen nicht erforderlich.8 Ansonsten müssen Angaben zur Art und Schwere der Krankheit gemacht werden, damit das Gericht selbst beurteilen kann, ob der Termin tatsächlich nicht wahrgenommen werden kann, weil der Beteiligte verhandlungsunfähig ist. Ggf. muss sogar die Diagnose in einer ärztlichen Bescheinigung unverschlüsselt ausgewiesen werden.9 Eine

3.830

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 7.4.2004 – I B 111/03, BFH/NV 2004, 1282. BFH v. 17.3.1988 – VII R 124/87, BFH/NV 1988, 719. BFH v. 12.1.2004 – VII B 122/03, BFH/NV 2004, 654. BFH v. 14.1.2016 – III B 73/15, BFH/NV 2016, 584; v. 18.4.2011 – VIII B 140/10, BFH/NV 2011, 1183. St. Rspr. vgl. nur BFH v. 14.3.2012 – V B 89/11, BFH/NV 2012, 1157; v. 21.2.2011 – V B 85/10, BFH/NV 2011, 1365. BFH v. 27.4.2005 – X B 130/04, BFH/NV 2005, 2596. BFH v. 4.3.2014 – VII B 189/13, BFH/NV 2014, 1057. St. Rspr., z. B. BFH v. 1.8.2014 – V S 16/14 (PKH), BFH/NV 2014, 1768; v. 16.10.2006 – I B 46/06, BFH/NV 2007, 254. BFH v. 1.8.2014 – V S 16/14 (PKH), BFH/NV 2014, 1768.

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Kap. 3 Rz. 3.831

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

bloße Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reicht nicht aus.1 Ebenso reicht eine fachärztliche Bescheinigung, die außer der Bescheinigung eines „sehr schlechten Allgemeinzustands“ keine Gründe erkennen lässt, weshalb der Kläger gesundheitlich nicht in der Lage ist, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, nicht aus.2 Die Erkrankung eines vertretenen Klägers, dessen persönliches Erscheinen nicht angeordnet worden ist, stellt nur dann einen erheblichen Grund für eine Terminsänderung dar, wenn substantiiert Gründe vorgetragen werden, die eine persönliche Anwesenheit des Klägers neben seinem Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung erfordern.3 Bei einer längerfristigen Erkrankung obliegt es dem Beteiligten oder auch dem Prozessbevollmächtigten sich rechtzeitig um eine Vertretung zu kümmern.

3.831 – Mandatsniederlegung Eine Mandatsniederlegung hat auf die Wirksamkeit der vorherigen Ladung keinen Einfluss.4 Das Finanzgericht kann bei kurzfristigen Mandatsniederlegungen durch den Prozessbevollmächtigten vor einer mündlichen Verhandlung gehalten sein, den Termin zu verlegen, wenn hierfür ein erheblicher Grund vorliegt, weil dem Kläger ansonsten das rechtliche Gehör nicht hinreichend gewährt würde. Dies kann der Fall sein, wenn kurz vor der mündlichen Verhandlung in einer Sache, die in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht nicht einfach ist, der bisherige Prozessbevollmächtigte sein Mandat niederlegt, ohne dass den Kläger daran ein Verschulden trifft,5 oder wenn die Terminsverlegung jedenfalls aus schutzwürdigen Gründen erforderlich ist.6 Eine Terminsverlegung kommt nicht in Betracht, wenn den Kläger ein Verschulden an der Mandatsniederlegung trifft,7 weil der Kläger dem Bevollmächtigten kurzfristig das Mandat entzieht, obwohl die Gründe dafür schon viel früher vorlagen und der Kläger früher für die Bestellung eines neuen Prozessbevollmächtigten hätte sorgen können.8 In dem Verlegungsantrag ist eindeutig darzulegen, wann die Mandatsniederlegung erfolgt ist. Ferner muss sich aus dem Antrag auch aufgrund tatsächlicher, nachvollziehbarer Angaben ergeben, warum der Wechsel stattgefunden hat, damit das Finanzgericht in der Lage ist zu beurteilen, dass der Wechsel nicht durch den Kläger verschuldet war.

3.832 – Fehlerhafte Ladung Steht einem Verfahrensbeteiligten die gesetzlich vorgesehene Zeitspanne zur Vorbereitung des Termins nicht zur Verfügung, weil die Ladung ihn nicht oder zu spät erreicht hat, so liegt ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung vor, weil sonst der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt werden könnte. Dies gilt auch dann, wenn die Ladung nicht ordnungsgemäß ist und die betreffenden Beteiligten nicht erschienen sind oder wenn trotz Erscheinens der Mangel gerügt wird. Dann muss das Gericht den Termin aufheben oder vertagen (s. Rz. 3.820 ff.).9

1 So die st. Rspr., BFH v. 8.9.2015 – XI B 33/15, BFH/NV 2015, 1690 m. w. N. 2 BFH v. 27.1.2004 – VII B 66/03, BFH/NV 2004, 796 m. w. N. 3 BFH v. 24.6.2014 – III B 12/13, BFH/NV 2014, 1581; v. 4.4.2006 – VII B 196/05, BFH/NV 2006, 1494; v. 27.1.2004 – VII B 66/03, BFH/NV 2004, 796. 4 BFH v. 13.8.2007 – III B 159/06, BFH/NV 2007, 2284; v. 15.4.2003 – X B 20/03, BFH/NV 2003, 1085. 5 BFH v. 18.8.2003 – X S 5/03 (PKH), BFH/NV 2004, 66. 6 BFH v. 22.4.2005 – III B 121/04, BFH/NV 2005, 1373. 7 BFH v. 21.7.2011 – IV B 99/10, BFH/NV 2011, 1904. 8 BFH v. 21.7.2011 – IV B 99/10, BFH/NV 2011, 1904. 9 BFH v. 8.6.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005, 1620.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.837 Kap. 3

Über einen Antrag auf Aufhebung sowie Verlegung eines Termins entscheidet grundsätzlich der Vorsitzende – und zwar ohne mündliche Verhandlung (§ 155 FGO i. V. m. § 227 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Die Entscheidung ist kurz zu begründen (§ 155 FGO i. V. m. § 227 Abs. 4 Satz 2 ZPO) und wird formlos mitgeteilt (§ 155 FGO i. V. m. § 329 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

3.833

Über einen Vertagungsantrag nach Beginn der mündlichen Verhandlung entscheidet demgegenüber das Gericht (der gesamte Senat einschließlich der ehrenamtlichen Richter); diese Entscheidung wird, sofern ein selbständiger Beschluss ergeht, in der mündlichen Verhandlung verkündet oder aber zugestellt. Bei einer Vertagung wird die mündliche Verhandlung geschlossen und an einem neu zu bestimmenden Termin – mit der dann geschäftsplanmäßig bestimmten Richterbank (also auch anderen ehrenamtlichen Richtern) – wieder neu eröffnet. Über die Ablehnung der Vertagung kann das Gericht auch in den Urteilsgründen befinden.

3.834

Die Entscheidungen sind nicht selbständig anfechtbar (§ 128 Abs. 2 FGO, § 227 Abs. 2 Satz 3 ZPO). Die rechtswidrige Ablehnung eines Terminsänderungsantrags ist jedoch ein wesentlicher Verfahrensfehler i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 und § 119 Nr. 3 FGO (Verletzung des rechtlichen Gehörs).

3.835

Es kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass einem Terminsaufhebungsantrag entsprochen wird. Bei einem Terminsverlegungsantrag müssen der Kläger bzw. sein Berater, solange ihnen vom Finanzgericht eine Terminsaufhebung oder -änderung nicht mitgeteilt worden sind, vielmehr davon ausgehen, dass die mündliche Verhandlung am vorgesehenen Tag stattfinden wird. Deshalb besteht hier ggf. Anlass, von sich aus telefonischen Kontakt mit dem Gericht aufzunehmen und sich durch eine Rückfrage über die Entscheidung über den Terminsänderungsantrag zu informieren.1

3.836

5. Öffentlichkeit des Verfahrens Literatur: Huff, Saalöffentlichkeit auch in Zukunft ausreichend – Keine Änderung des § 169 S. 2 FGO, NJW 2001, 1622; Humberg, Problembereiche der Öffentlichkeit der Verhandlung nach § 169 FGO, JR 2006, 391; Hütt, Ausschluss der Öffentlichkeit im Steuerprozess, AO-StB 2008, 271; Jesse, Der Grundsatz der Öffentlichkeit und deren Ausschluss im Steuerprozess, DB 2008, 1994; Kretzschmar, Die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens, DStZ 1992, 625; MüllerHorn, Umgang mit öffentlichkeitswirksamen Verfahren, DRiZ 2012, 81; Rahm, Zur Unterbrechung und Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung, DStZ 1977, 416; Schnorr, Steuergeheimnis, presserechtlicher Informationsanspruch und Öffentlichkeitsprinzip im Finanzgerichtsverfahren, StuW 2008, 303; Strauss, Der Grundsatz der Öffentlichkeit im Finanzprozess, DStR 1996, 908.

Gem. § 52 Abs. 1 FGO gelten die §§ 169, 171b-175 GVG über die Öffentlichkeit des Verfahrens für das finanzgerichtliche Verfahren sinngemäß. Das bedeutet: Die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Senat des Finanzgerichts oder dem Einzelrichter einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse muss grundsätzlich öffentlich sein (§ 169 GVG). Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und des Demokratieprinzips2 und soll gewährleisten, dass sich die Rechtsprechung der Gerichte grundsätzlich in aller Öffentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen abspielt. Er dient der Kontrolle der Gerichte.3 Der Grundsatz der Öffentlichkeit gilt nur für die

1 BFH v. 5.7.2004 – VII B 7/04, BFH/NV 2005, 64 m. w. N. 2 BVerfG v. 24.1.2001 – 1 BvR 2623/95, 1 BvR 622/99, BVerfGE 103, 44. 3 BFH v. 15.3.1977 – VII R 122/73, BStBl. II 1977, 431.

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3.837

Kap. 3 Rz. 3.838

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

mündliche Verhandlung und den Verkündungstermin, nicht aber für den Erörterungstermin.1

3.838 Geschützt ist nur die Saalöffentlichkeit. Die sog. Medienöffentlichkeit ist demgegenüber ein Aliud.2 Der Ausschluss von Ton-, Fernseh- und Rundfunkaufnahmen in Gerichtsverhandlungen durch § 169 Satz 2 GVG ist verfassungsgemäß.3 Die Öffentlichkeit ist gewahrt, wenn ein unbestimmter – allenfalls nach Maßgabe der vorhandenen Plätze begrenzter – Personenkreis die Möglichkeit hat, die Verhandlung an Ort und Stelle zu verfolgen.4 Es genügt, dass der Raum, in dem die Verhandlung stattfindet, grundsätzlich für jedermann zugänglich ist; eine allgemeine Bekanntgabe des Verhandlungsortes ist nicht erforderlich.5 Erforderlich ist weiter, dass für jeden Interessenten die Möglichkeit besteht, sich ohne Schwierigkeiten über die anstehende Gerichtsverhandlung, deren Ort und Zeit, rechtzeitig zu informieren.6 Eine an jedermann gerichtete Kundmachung über Ort und Zeit einer Gerichtsverhandlung ist zwar nach den gesetzlichen Regelungen nicht erforderlich,7 wird aber über die Homepages der Finanzgerichte und des BFH immer mehr praktiziert.

3.839 Eine Beeinträchtigung der Öffentlichkeit des Verfahrens ist nur dann ein Verfahrensmangel i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 und § 119 Nr. 5 FGO (s. Rz. 4.81), wenn die Beschränkung der Öffentlichkeit auf den Willen des Gerichts zurückzuführen ist, sei es, dass das Gericht durch eigene Anordnung die Beschränkung veranlasst hat, sei es, dass es unterlassen hat, eine bestehende und ihm bekannt gewordene Beschränkung durch rechtzeitiges Eingreifen zu beseitigen. Deshalb verletzt z. B. das versehentliche Verschließen der Eingangstür zum Gerichtsgebäude und die dadurch verursachte Behinderung des Zugangs zur mündlichen Verhandlung den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens nur dann, wenn das Gericht dies bemerkt hat oder dies bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte bemerken können.8 Dies gilt gleichermaßen für die Einblendung der Anzeige „nicht öffentliche Sitzung“ auf der vor dem Sitzungssaal befindlichen elektronischen Anzeigetafel, durch die das interessierte Publikum von einem Betreten des Sitzungssaales abgehalten wird. Eine Verletzung des § 169 GVG setzt voraus, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit in Kenntnis oder in verschuldeter Unkenntnis des Gerichts geschieht, wenn also die Anzeige z. B. versehentlich durch einen Gerichtswachtmeister falsch eingestellt worden ist, ohne dass dies für die Mitglieder des Spruchkörpers erkennbar gewesen wäre.9

3.840 Für den Ausschluss der Öffentlichkeit folgt aus § 52 Abs. 2 FGO speziell für das finanzgerichtliche Verfahren, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen muss, wenn der Kläger oder der Beigeladene, den Ausschluss beantragt. Diese Regelung dient vor allem dem Schutz des Steuergeheimnisses (§ 30 AO). Die Finanzbehörde ist nicht antragsberechtigt, da die Öf-

1 BFH v. 7.11.2012 – V S 26/11 (PKH), BFH/NV 2013, 581; v. 21.4.1988 – IV R 190/85, BStBl. II 1986, 568. 2 BVerfG v. 24.1.2001 – 1 BvR 2623/95, 1 BvR 622/99, BVerfGE 103, 44. 3 BVerfG v. 24.1.2001 – 1 BvR 2623/95, 1 BvR 622/99, BVerfGE 103, 44. 4 BFH v. 11.9.1997 – IV R 53/96, BFH/NV 1998, 340. 5 BFH v. 15.3.1977 – VII R 122/73, BStBl. II 1977, 431. 6 BFH v. 30.9.1992 – IV R 52/92, BFH/NV 1993, 543. 7 BFH v. 30.9.1992 – IV R 52/92, BFH/NV 1993, 543; vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 52 FGO Rz. 4. 8 BFH v. 21.3.1985 – IV S 21/84, BStBl. II 1985, 551. 9 BFH v. 30.11.2009 – I B 111/09, BFH/NV 2010, 1102 m. w. N.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.844 Kap. 3

fentlichkeit des Verfahrens auch dazu dient, den Entscheidungsprozess und das Verhalten der Finanzbehörde transparent zu machen.1 Der Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit, der nicht begründet werden muss, kann zu jeder Zeit auch während der mündlichen Verhandlung gestellt werden, wenn Kläger oder Beigeladene dies für erforderlich halten. Dabei kann auch beantragt werden, nur Teile der Öffentlichkeit oder bestimmte Personen auszuschließen.2 Über den Antrag findet keine Verhandlung statt. Das Gericht muss vielmehr die Öffentlichkeit ausschließen, wenn ein solcher Antrag gestellt wird. Das Gericht entscheidet dabei durch Beschluss. Hierfür zieht sich das Gericht in der Praxis zumeist nicht zurück; es fasst den Beschluss, dessen Ergebnis gesetzlich vorgegeben ist, offen durch Kopfnicken auf der Richterbank. Der Beschluss, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, wird dann öffentlich verkündet und protokolliert. Nach der Verkündung des Beschlusses haben anwesende Zuschauer den Sitzungssaal zu verlassen. Dazu gehören auch Finanzbeamte, die nicht zur Vertretung der Finanzbehörde befugt sind; hierbei kann es sich auch um Personen handeln, die der Vertreter des Finanzamts vorsorglich zur Unterstützung mitgebracht hat, wie etwa den Steuerfahndungsbeamten oder den Außenprüfer. Ferner wird das Verfahren im Aushang unkenntlich gemacht und außerhalb des Gerichtssaals für fremde Dritte angezeigt, dass nunmehr die Sitzung nichtöffentlich ist.

3.841

Die Verkündung des Urteils erfolgt gem. § 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 173 GVG aber in jedem Fall öffentlich. War vorher die Öffentlichkeit nach § 52 Abs. 2 FGO ausgeschlossen, bietet es sich für das Gericht an, das Urteil nicht zu verkünden, sondern den Beteiligten nach § 104 Abs. 2 FGO zuzustellen.3

3.842

Will der Kläger oder ein Beigeladener in der Praxis erreichen, dass von dem Verfahren so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit dringt, so sollten er bzw. sein Bevollmächtigter spätestens nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung den Antrag stellen, die Öffentlichkeit auszuschließen. Die öffentliche Verkündung des Urteils kann der Kläger damit aber nicht verhindern. Es empfiehlt sich in diesem Fall, das Gericht zu bitten, von einer Verkündung des Urteils abzusehen, und einen Antrag auf Zustellung des Urteils zu stellen. Schließlich könnte bei der Gerichtsverwaltung später noch beantragt werden, von einer Veröffentlichung des – anonymisierten – Urteils abzusehen.

3.843

Darüber hinaus kann das Gericht gem. § 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 172 GVG für die Verhandlung ganz oder teilweise – nicht aber für die Verkündung des Urteils – die Öffentlichkeit ausschließen, wenn

3.844

– eine Gefährdung der Staatssicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der Sittlichkeit zu besorgen ist (Nr. 1); – eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist (Nr. 1a); – ein wichtiges Geschäfts-, Betriebs-, Erfindungs- oder Steuergeheimnis zur Sprache kommt, durch dessen öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen verletzt würden (Nr. 2);

1 So auch Binnewies/Wollweber, NJW 2016, 283. 2 Vgl. Krömker, AO-StB 2014, 306. 3 Ebenso Binnewies/Wollweber, NJW 2016, 283.

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Kap. 3 Rz. 3.845

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– ein privates Geheimnis erörtert wird, dessen unbefugte Offenbarung durch den Zeugen oder Sachverständigen mit Strafe bedroht ist (Nr. 3); – eine Person unter 16 Jahren vernommen wird (Nr. 4).

3.845 Über die Ausschließung der Öffentlichkeit ist in nicht öffentlicher Sitzung zu verhandeln, wenn ein Beteiligter es beantragt oder das Gericht es für angemessen erachtet (§ 174 GVG). Der Beschluss, der die Öffentlichkeit ausschließt, muss öffentlich verkündet werden; er kann in nichtöffentlicher Sitzung verkündet werden, wenn zu befürchten ist, dass eine öffentliche Verkündung eine erhebliche Störung der Ordnung der Sitzung zur Folge haben würde. Bei der Verkündung ist der Grund dafür anzugeben, weshalb die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist. Die Begründung ist in das Protokoll aufzunehmen, ein entsprechender Verstoß des Gerichts müsste aber sofort gerügt werden.1

3.846 Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO i. V. m. § 119 Nr. 5 FGO ist die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens ein absoluter Revisionsgrund. Dabei geht es um Urteile, die auf eine mündliche Verhandlung ergangen sind, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind. Die Vorschrift stellt somit nur auf die mündliche Verhandlung ab, auf die hin das Urteil ergangen ist, befasst sich aber nicht mit der Verkündung oder sonstigen Bekanntgabe des Urteils.2 Die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei der Urteilsverkündung kann sich nämlich nicht auf die Entscheidungsfindung auswirken.3 Die Prozessbeteiligten können im Finanzgerichtsprozess auf die Beachtung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens und die entsprechende Rüge verzichten.4 6. Gesetzlicher Richter a) Bestimmung des Richters durch Geschäftsverteilungspläne

3.847 An der mündlichen Verhandlung und Entscheidung darf nur der sog. gesetzliche Richter mitwirken. Ein Verstoß hiergegen kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde als Verfahrensfehler gerügt werden (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

3.848 Gesetzlicher Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 GG sind das Gericht als organisatorische Einheit, der jeweilige Senat als Spruchkörper sowie jeder einzelne Richter, der im Senat mit der Sache befasst wird.5 Durch diese Regelung soll vermieden werden, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird und durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung – gleichgültig von welcher Seite – beeinflusst werden kann.6 Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden.

1 BFH v. 10.11.2005 – VIII B 166/04, BFH/NV 2006, 752; v. 17.1.1995 – V R 28/94, BFH/NV 1995, 983. 2 BFH v. 15.7.2015 – II R 31/14, BFH/NV 2015, 1697; ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 75. 3 BFH v. 15.7.2015 – II R 31/14, BFH/NV 2015, 1697; v. 13.5.2013 – I R 39/11, BFH/NV 2013, 1284. 4 BFH v. 30.11.2009 – I B 111/09, BFH/NV 2010, 1102. 5 Vgl. BFH v. 29.1.1992 – VIII K 4/91, BStBl. II 1992, 252 unter Hinweis auf die Rspr. des BVerfG. 6 BVerfG v. 16.2.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.853 Kap. 3

Wer als Richter an der Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits mitwirken soll, muss sich möglichst eindeutig generell-abstrakt aus allgemeinen Vorschriften ableiten lassen.

3.849

Zu diesen allgemeinen Regelungen zählen in erster Linie die jährlich aufzustellenden Geschäftsverteilungspläne der Gerichte, die die Zuständigkeit der jeweiligen Spruchkörper festlegen und diesen die erforderlichen Richter zuweisen. Sie müssen im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird.1 Durch die Geschäftsverteilungspläne der jeweiligen Senate wird dann ebenfalls nach abstrakten Merkmalen festgelegt, welcher Richter innerhalb des Senats für welchen Fall zuständig ist.

3.850

Der Geschäftsverteilungsplan des Präsidiums regelt somit die funktionelle Zuständigkeit der einzelnen Senate und die Vertretungsregegelungen innerhalb des Gerichts (§ 21e GVG). Das Präsidium des Finanzgerichts bestimmt vor Beginn des Geschäftsjahres aber auch durch Aufstellung einer Liste die Reihenfolge, in der die ehrenamtlichen Richter heranzuziehen sind. Für jeden Senat ist eine Liste aufzustellen, die mindestens zwölf Namen enthalten muss (§ 27 Abs. 1 FGO). Für die Heranziehung von Vertretern bei unvorhergesehener Verhinderung kann eine Hilfsliste ehrenamtlicher Richter aufgestellt werden, die am Gerichtssitz oder in seiner Nähe wohnen (§ 27 Abs. 2 FGO). Bei der Bestimmung, in welcher Reihenfolge die ehrenamtlichen Richter heranzuziehen sind, handelt das Präsidium nach seinem Ermessen. Es kann bestimmen, dass die Heranziehung nach dem Alphabet der Namen der ehrenamtlichen Richter oder nach den fortlaufenden Nummern der Liste erfolgt, und dabei auf die Abfolge der Sitzungstage oder – nach der wohl überwiegenden Übung – auf die zeitliche Reihenfolge der Ladungen abstellen.2 Eine mit dem Anspruch der Beteiligten auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) unvereinbare Manipulationsmöglichkeit der Richterbank ist darin nicht zu sehen.3

3.851

Die Geschäftsverteilung innerhalb des Senats wird durch Mehrheitsbeschluss aller dem Senat angehörenden Berufsrichter bestimmt (§ 4 FGO i. V. m. § 21g GVG). Dabei ist, um den gesetzlichen Richter zu wahren, vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer festzulegen, nach welchen Grundsätzen die Mitglieder des Senats an den Verfahren mitwirken. Dieser Beschluss kann nur geändert werden, wenn dies wegen Überlastung, ungenügender Auslastung, Wechsels oder dauerhafter Verhinderung einzelner Mitglieder des Spruchkörpers nötig wird. Nach § 21g Abs. 3 GVG ist in dem Senatsgeschäftsverteilungsplan auch zu bestimmen, wer als Einzelrichter für welches Verfahren zuständig ist.

3.852

Die Verteilung der Geschäfte im Senatsgeschäftsverteilungsplan ist eine Maßnahme, die weder von der Justizverwaltung noch vom Gerichtspräsidenten oder vom Präsidium des Gerichts beeinflusst werden darf. Lediglich bei Stimmengleichheit der Berufsrichter des Senats bei der Beschlussfassung entscheidet das Präsidium (§ 4 FGO i. V. m. § 21g Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Verteilung der Geschäfte ist nicht anfechtbar. Eine Kontrolle der Auslegung des Geschäftsverteilungsplans durch das Finanzgericht findet nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür statt.

3.853

1 BVerfG v. 16.2.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689. 2 BFH v. 13.1.2016 – IX B 94/15, BFH/NV 2016, 581. 3 BFH v. 13.1.2016 – IX B 94/15, BFH/NV 2016, 581.

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Kap. 3 Rz. 3.854

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.854 Die Geschäftsverteilung muss so klar sein, dass für jeden Rechtsstreit die Besetzung des Senats von vornherein bestimmbar ist, gleichgültig ob es sich um Urteils- oder Beschlusssachen handelt. Über den Inhalt des Geschäftsverteilungsplanes kann jeder Beteiligte Auskunft verlangen bzw. Einsicht in den Geschäftsverteilungsplan nehmen. Die Geschäftsverteilungspläne der meisten Finanzgerichte sind im Internet über die Homepage der einzelnen Gerichte abrufbar. b) Gesetzlicher Ausschluss von der Ausübung des Richteramts

3.855 Gem. § 51 Abs. 1 FGO gelten für die Ausschließung der Gerichtspersonen die Vorschriften der Zivilprozessordnung sinngemäß. Gem. § 41 ZPO ist ein Richter (Berufsrichter oder ehrenamtlicher Richter) kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen: – in Sachen, in denen er selbst Partei ist oder bei denen er zu einer Partei in dem Verhältnis eines Mitberechtigten, Mitverpflichteten oder Regresspflichtigen steht (Nr. 1); – in Sachen seines Ehegatten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht (Nr. 2); – in Sachen seines Lebenspartners, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht (Nr. 2a); – in Sachen einer Person, mit der er in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war (Nr. 3); – in Sachen, in denen er als Prozessbevollmächtigter oder Beistand einer Partei bestellt oder als gesetzlicher Vertreter einer Partei aufzutreten berechtigt ist oder gewesen ist (Nr. 4); – in Sachen, in denen er als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist (Nr. 5); – in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt (Nr. 6); – in Sachen wegen überlanger Gerichtsverfahren, wenn er in dem beanstandeten Verfahren in einem Rechtszug mitgewirkt hat, auf dessen Dauer der Entschädigungsanspruch gestützt wird; – in Sachen, in denen er an einem Mediationsverfahren oder einem anderen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung mitgewirkt hat.

3.856 Außerdem ist gem. § 51 Abs. 2 FGO von der Ausübung des Amtes als Richter oder ehrenamtlicher Richter auch ausgeschlossen, – wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat. Hierunter ist nicht nur das außergerichtliche Verwaltungsverfahren (Einspruchsverfahren) zu verstehen, sondern das gesamte Verfahren, das zu einer Entscheidung geführt hat; eine Mitwirkung am Erlass des angefochtenen Bescheids selbst ist nicht erforderlich; eine bloß beratende Tätigkeit reicht schon aus.1 Der Begriff der „Mitwirkung“ ist nach dem Sinn der Regelung, das Vertrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu schützen, weit auszulegen. 1 BFH v. 25.4.1978 – VII R 7/78, BStBl. II 1978, 401; s. auch BFH v. 15.7.1987 – X R 15/81, BFH/NV 1988, 446.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.859 Kap. 3

Eine Tätigkeit in anderen Verwaltungsangelegenheiten der beklagten Behörde führt ebenso wenig zum Ausschluss wie das Tätigwerden bei der Festsetzung einer anderen Steuerart, selbst wenn ein identischer Lebenssachverhalt parallel zu werten gewesen sein sollte.1 Liegt einer der genannten Ausschließungsgründe vor, ist der betreffende Richter kraft Gesetzes an jeder richterlichen Tätigkeit in dem betreffenden Verfahren gehindert. Die Ausschließung ist unverzichtbar und in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen. An die Stelle des ausgeschlossenen Richters tritt dessen geschäftsplanmäßiger Vertreter. Handlungen des ausgeschlossenen Richters können bis zum Abschluss der Instanz durch den Vertreter wiederholt werden. Geschieht dies nicht oder kann dies nicht mehr geschehen, liegt bei Urteilen ein sog. absoluter Revisionsgrund vor (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO i. V. m. § 119 Nr. 2 FGO; s. Rz. 4.147 ff.).

3.857

c) Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit Literatur: Bartone, Die Richterablehnung im verfassungsprozessualen Kontext, AO-StB 2012, 18; Kapp, Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit im Steuerprozess, DStR 1986, 320; Kapp, Vorzeitige Festlegung und Befangenheit des Berichterstatters im Steuerprozess; DStZ 1988, 461; Lorenz, Richterliche Unabhängigkeit und frühere Tätigkeit in der Finanzverwaltung, StuW 1980, 325; Loschelder, Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters, AO-StB 2004, 102; Michl, Richterablehnung aufgrund von Rechtsverstößen des Gerichts, DStZ 1994, 641; Nieland, Ausschließung und Ablehnung eines Richters im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2003, 8; Rathemacher, Zeugnisverweigerungsrecht des Steuerberaters, NWB Fach 30, 1811; E. Schneider, Die dienstliche Äußerung im Ablehnungsverfahren, NJW 2008, 491; E. Schneider, Selbstentscheidung über Ablehnungsgesuche, NJW 2008, 2759; E. Schneider, Das Vorgehen bei der Richterablehnung, MDR 2005, 671; Vossler, Der Verlust des Richterablehnungsrechts, MDR 2007, 9929.

d) Ablehnungsgründe Gem. § 51 Abs. 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Der Grund, der das Misstrauen rechtfertigen soll, muss vom Standpunkt des Beteiligten aus objektiv und vernünftig betrachtet vorliegen. D. h. mit anderen Worten: Der Beteiligte muss bei objektiver und vernünftiger Betrachtung davon ausgehen, dass der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Entscheidung wirklich von Voreingenommenheit beeinflusst ausfiele. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob der Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei Anlegung eines objektiven Maßstabs Anlass hat, Voreingenommenheit zu befürchten.2

3.858

Ablehnungsgründe können sich zum Beispiel ergeben

3.859

– aus besonders engen persönlichen Beziehungen des Richters zu einem Beteiligten, wie Liebesbeziehung, Verlöbnis, Schwägerschaft, enge Freundschaft oder Feindschaft,3 nicht aber bereits bei bloßer Bekanntschaft; 1 BFH v. 12.6.2012 – I B 148/11, BFH/NV 2012, 1802; v. 24.7.2000 – VIII B 44/00, BFH/NV 2001, 176 m. w. N. 2 BFH v. 29.12.2015 – IV B 68/14, BFH/NV 2016, 575; v. 18.8.2000 – V B 32/00, BFH/NV 2001, 316. 3 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 51 FGO Rz. 49 m. w. N.

Schaumburg

285

Kap. 3 Rz. 3.860

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– bei der Äußerung von Rechtsansichten allerdings nur, wenn der Richter seine Ansicht in einer Weise geäußert hat, die dem Beteiligten Grund für die Befürchtung gibt, der Richter werde Gegengründen nicht mehr aufgeschlossen gegenüberstehen,1 oder – wenn Gründe dargetan werden, die dafür sprechen, dass die mögliche Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber der abgelehnten Partei oder auf Willkür beruht; dabei muss die Fehlerhaftigkeit ohne weiteres feststellbar und gravierend sein sowie auf unsachliche Erwägungen schließen lassen,2 – aus einem gespannten Verhältnis zwischen dem Richter und dem Prozessbevollmächtigten eines Beteiligten, wenn die Besorgnis begründet ist, dass es sich im konkreten Fall zuungunsten des Beteiligten ausgewirkt haben könnte,3 – wenn der Richter evident unsachliche, unangemessene sowie herablassende und beleidigende Äußerungen macht, die den nötigen Abstand zwischen Person und Sache vermissen lassen.4

3.860 Kein Ablehnungsgrund, d. h. kein Grund, der Unparteilichkeit des Richters zu misstrauen, liegt nach der Rechtsprechung des BFH vor, wenn – der Richter früher in der Finanzverwaltung tätig war,5 – der Richter bereits an einer zuungunsten des Beteiligten ausgefallenen Entscheidung mitgewirkt hat, auch wenn es sich um einen ähnlich gelagerten Fall gehandelt,6 – der Richter an einem Gerichtsbescheid in derselben Sache mitgewirkt hat;7 – der Berichterstatter in einem „Schätzungsfall“ von den gerichtsverfahrensrechtlichen Möglichkeiten einer Verfahrensbeschleunigung Gebrauch macht,8 – der Richter eine besonders freimütige oder saloppe Ausdrucksweise hat,9 etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Richter dabei evident unsachliche, unangemessene sowie herablassende und beleidigende Äußerungen macht, die den nötigen Abstand zwischen Person und Sache vermissen lassen.10 – wenn der Richter sich zu einer für einen Rechtsstreit bedeutsamen Frage wissenschaftlich geäußert und z. B. in einem Kommentar, Aufsatz oder Vortrag Stellung genommen hat,11 1 BFH v. 14.4.2000 – II B 167/99, BFH/NV 2000, 1229. 2 BFH v. 3.5.2000 – IV B 46/99, BStBl. II 2000, 376. 3 BFH v. 22.2.2001 – VIII B 103/00, BFH/NV 2001, 1126; v. 29.11.2000 – I B 9/00, BFH/NV 2001, 625 m. w. N. 4 BFH v. 10.3.2015 – V B 108/14, BFH/NV 2015, 849 m. w. N.; v. 19.5.2006 – II B 78/05, BFH/NV 2006, 1620 m. w. N. 5 BFH v. 23.6.2014 – X R 13/14, BFH/NV 2014, 1758 m. w. N.; vgl. mit ausführlicher Begründung BFH v. 7.5.1974 – IV S 5-6/74, BStBl. II 1974, 385; ferner v. 14.4.1986 – III B 47/84, BFH/NV 1986, 547. 6 BFH v. 24.11.2000 – II B 44/00, BFH/NV 2001, 621. 7 BFH v. 14.10.1999 – IV B 72/99, BFH/NV 2000, 459. 8 BFH v. 15.2.2000 – X B 91/99, BFH/NV 2000, 1472. 9 BFH v. 10.3.2015 – V B 108/14, BFH/NV 2015, 849; v. 29.8.2001 – IX B 117/00, BFH/NV 2002, 63; v. 16.11.1999 – IV B 63/99, BFH/NV 2000, 724. 10 BFH v. 10.3.2015 – V B 108/14, BFH/NV 2015, 849 m. w. N.; v. 19.5.2006 – II B 78/05, BFH/NV 2006, 1620 m. w. N. 11 BFH v. 21.12.2009 – V R 10/, HFR 2010, 959.

286

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.863 Kap. 3

es sei denn die Äußerung seiner Rechtsauffassung außerhalb des Verfahrens lässt im Hinblick auf ihre Diktion oder das Umfeld, in dem sie gemacht wurde, bei objektiver Betrachtungsweise Zweifel an der Offenheit des Richters für Gegenargumente entstehen.1

3.861

Weitere Gründe für eine Ablehnung: – Gem. § 51 Abs. 1 Satz 2 FGO können im finanzgerichtlichen Verfahren Gerichtspersonen darüber hinaus auch abgelehnt werden, wenn von ihrer Mitwirkung die Verletzung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses oder Schaden für die geschäftliche Tätigkeit eines Beteiligten zu besorgen ist. Hiervon wird man dann ausgehen können, wenn der Richter oder auch der ehrenamtliche Richter beispielsweise ein gleiches oder ähnliches Geschäft betreibt wie der Steuerpflichtige oder an einer Gesellschaft beteiligt ist, die ein gleiches oder ähnliches Geschäft betreibt.2 – Abgesehen davon ist gem. § 51 Abs. 3 FGO eine Besorgnis der Befangenheit stets dann begründet, wenn der Richter der Vertretung einer Körperschaft angehört oder angehört hat, deren Interessen durch das Verfahren berührt werden. Gedacht ist hier an solche Richter, die als Minister den Bund oder ein Land vertreten, eine entsprechende Funktion in einer Gemeinde ausgeübt haben oder als gesetzlicher Vertreter einer an dem Rechtsstreit interessierten Kapitalgesellschaft tätig waren; eine frühere Funktion in der Finanzverwaltung reicht hierfür nicht aus.3 e) Ablehnungsantrag und weiteres Verfahren Befangenheitsanträge führen erfahrungsgemäß dazu, dass das Prozessklima erheblich belastet wird.4 Die Interessenlage sollte deshalb zuvor sorgfältig abgewogen werden. Aus taktischen Gründen, etwa um den Richter zu verunsichern oder einzuschüchtern, sollten jedenfalls keine derartigen Anträge gestellt werden. Auch nicht jede berechtigte Verärgerung über eine rechtlich zweifelhafte oder auch sonst ungeschickte Äußerung eines Richters sollte zum Anlass genommen werden, einen Befangenheitsantrag zu stellen.5

3.862

Ein Ablehnungsantrag ist nur dann zulässig, wenn

3.863

– er sich auf einen bestimmten Richter bezieht (Individualablehnung bzw. Unzulässigkeit der Pauschalablehnung)6 und – er ein noch nicht abgeschlossenes Verfahren betrifft7 und – er nicht rechtsmissbräuchlich (s. nachfolgend Rz. 3.864 f.) ist.

1 2 3 4 5 6

BFH v. 21.12.2009 – V R 10/, HFR 2010, 959. Vgl. Stapperfend in Gräber, § 51 FGO Rz. 63. BFH v. 26.7.2006 – V B 130/04, V S 15/06 (PKH), BFH/NV 2007, 52. Ebenso Krömker, AO-StB 2014, 306. Ebenso Krömker, AO-StB 2014, 306. BFH v. 4.3.2014 – VII B 131/13, BFH/NV 2014, 1055; v. 29.1.1993 – IX B 75/92, IX B 80/92, BFH/ NV 1993, 612; Brandis in Tipke/Kruse, § 51 FGO Rz. 36. 7 Vgl. BFH v. 21.10.2015 – V B 36/15, BFH/NV 2016, 223; v. 10.12.2014 – V B 145/14, BFH/NV 2015, 344; v. 10.11.2011 – IV B 60, BFH/NV 2012, 426; v. 1.10.1990 – X B 119/90, BFH/NV 1991, 331.

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287

Kap. 3 Rz. 3.864

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.864 Ein rechtsmissbräuchliches Befangenheitsgesuch liegt z. B. vor, wenn – alle Richter eines Gerichts oder ein ganzer Spruchkörpers abgelehnt werden und keine konkreten Anhaltspunkte vorgebracht werden, die bei vernünftiger objektiver Betrachtung auf eine Befangenheit jedes einzelnen Mitglieds des Spruchkörpers hindeuten können,1 – der Ablehnungsantrag einen ausschließlich beleidigenden bzw. verunglimpfenden Inhalt hat,2 etwas anderes muss allerdings dann gelten, wenn das Ablehnungsgesuch neben den verunglimpfenden Äußerungen noch einen sachlichen Kern enthält,3 – ausschließlich verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden, wenn er beispielsweise nur der Prozessverschleppung dienen soll.4

3.865 Ist in Ausnahmefällen das Ablehnungsgesuch wegen Rechtsmissbrauchs oder aus anderen Gründen offensichtlich unzulässig, so kann der Senat über den Antrag in der nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Besetzung, also unter Mitwirkung des abgelehnten Richters entscheiden.5 In diesem Fall ist es auch nicht notwendig, über den Antrag in einem besonderen Beschluss zu entscheiden, sondern es kann im Urteil über den Ablehnungsantrag mitentschieden werden.6

3.866 In der Praxis wird häufig nicht hinreichend beachtet, dass Ablehnungsgründe sofort geltend gemacht werden müssen, um das Ablehnungsrecht nicht zu verlieren: Ablehnungsgründe, die während einer mündlichen Verhandlung oder während eines Erörterungstermins entstehen, müssen bis zum Schluss der Verhandlung geltend gemacht werden; darüber hinaus muss sich die Partei weigern, den Termin weiter wahrzunehmen, wenn sie ihr Ablehnungsrecht nicht verlieren will.7 Ein Beteiligter kann einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit nämlich nicht mehr ablehnen, wenn er sich bei ihm, ohne den ihm bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat (§ 51 FGO i. V. m. § 43 ZPO). Die Begriffe „in eine Verhandlung eingelassen“ und „Anträge gestellt“ werden weit ausgelegt.8 „Anträge“ sind auch schriftliche Sachanträge im sachlichen Zusammenhang mit der angeforderten Klagebegründung sowie grundsätzlich auch Prozessanträge wie der Antrag auf mündliche Verhandlung nach Ergehen eines Gerichtsbescheids9 oder die Erweiterung eines Klageantrags.10 So führt auch die rügelose Einlassung zur Sache in einem Schriftsatz zum Verlust des Ablehnungsrechts.11 Später geltend gemachte Gründe können nicht mehr berücksichtigt werden.12

1 BFH v. 29.12.2015 – IV B 68/14, BFH/NV 2016, 575; v. 4.3.2014 – VII B 131/13, BFH/NV 2014, 1056; v. 24.2.2000 – IV S 15/99, BFH/NV 2000, 981 m. w. N. 2 BFH v. 17.4.1996 – I B 134/95, BFH/NV 1996, 826. 3 Vgl. BFH v. 9.9.1998 – I B 47/98, BFH/NV 1999, 786. 4 BFH v. 10.3.2015 – V B 108/14, BFH/NV 2015, 848 m. w. N.; v. 12.11.2009 – IV B 66/08, BFH/ NV 2010, 671; v. 27.10.2006 – VI B 118/05, BFH/NV 2007, 97 m. w. N. 5 BFH v. 29.12.2015 – IV B 68/14, BFH/NV 2016, 575 m. w. N.; v. 27.10.2006 – VI B 118/05, BFH/ NV 2007, 97. 6 BFH v. 29.12.2015 – IV B 68/14, BFH/NV 2016, 575 m. w. N. 7 BFH v. 6.7.2005 – II R 28/02, BFH/NV 2005, 2027; v. 6.8.1999 – X B 18/99, BFH/NV 2000, 73. 8 BFH v. 27.9.1999 – IX B 16/97, BFH/NV 2000, 453. 9 BFH v. 23.5.2000 – VIII R 20/99, BFH/NV 2000, 1359. 10 BFH v. 27.9.1999 – IX B 16/97, BFH/NV 2000, 453. 11 BFH v. 29.3.2000 – I B 90/99, BFH/NV 2000, 1220. 12 BFH v. 10.3.2015 – V B 108/14, BFH/NV 2015, 849.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.873 Kap. 3

Das Ablehnungsgesuch ist eine Prozesshandlung, aus der sich die klar und eindeutig ergeben muss, dass ein bestimmter Richter aus bestimmten Gründen abgelehnt werden soll. Ein abgelehnter Richter darf bis zur Erledigung des Ablehnungsgesuches nur noch unaufschiebbare Amtshandlungen vornehmen (vgl. § 47 ZPO i. V. m. § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die vorsorgliche Geltendmachung der Besorgnis der Befangenheit für die gegebenenfalls noch zu benennenden Mitglieder des Senats erfüllt diese Voraussetzungen nicht.1

3.867

Grundsätzlich ist über das Ablehnungsgesuch nach vorheriger dienstlicher Äußerung des abgelehnten Richters ohne dessen Mitwirkung (§ 51 Abs. 1 FGO i. V. m. § 44 Abs. 3 ZPO) zu entscheiden. Dabei entscheidet das Gericht über einen entsprechenden Antrag normalerweise durch Beschluss, der aber unanfechtbar ist (§ 128 Abs. 2 FGO).

3.868

Die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters bedeutet, dass er zu den für das Ablehnungsgesuch entscheidungserheblichen Tatsachen Stellung nimmt, soweit ihm das notwendig und zweckmäßig erscheint.2 Inhalt und Umfang der dienstlichen Äußerung richten sich nach dem jeweils geltend gemachten Ablehnungsgrund.3 Die dienstliche Äußerung ist den Beteiligten grundsätzlich bekanntzugeben,4 damit jedenfalls der ablehnende Beteiligte zu der dienstlichen Äußerung Stellung nehmen kann.5 Enthält die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters allerdings nur die Wertung, dass er sich nicht für befangen halte, so braucht diese Wertung dem Kläger nicht mitgeteilt zu werden.6

3.869

Wirkt ein mit Erfolg wegen Befangenheit abgelehnter Richter an der Entscheidung mit, so liegt ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter i. S. von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und damit ein absoluter Revisionsgrund (§ 119 Nr. 2 FGO; s. Rz. 4.67 ff.) vor, der mit der Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gerügt werden kann.

3.870

7. Ablauf der mündlichen Verhandlung a) Allgemeiner Verhandlungsablauf aa) Eröffnung und Feststellung der erschienenen Personen Das Gericht entscheidet gem. § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Wie diese mündliche Verhandlung im Einzelnen abläuft, ist in den §§ 92–94 FGO geregelt.

3.871

Der Vorsitzende eröffnet und leitet die mündliche Verhandlung (§ 92 Abs. 1 FGO). Er ruft zunächst die Sache auf, eröffnet dann die mündliche Verhandlung und stellt fest, wer für die Beteiligten erschienen ist.

3.872

Der „Aufruf der Sache“ hat den Sinn, die geladenen und erschienenen Beteiligten davon in Kenntnis zu setzen, dass nunmehr ihre Sache verhandelt wird, um ihnen Gelegenheit zu ge-

3.873

1 BFH v. 14.11.2012 – V B 41/11, BFH/NV 2013, 239. 2 BFH v. 13.6.2012 – V B 36/12, BFH/NV 2012, 1611; v. 10.1.2007 – X B 77/06, BFH/NV 2007, 753. 3 BFH v. 10.1.2007 – X B 77/06, BFH/NV 2007, 753; v. 7.4.1988 – X B 4/88, BFH/NV 1989, 587. 4 BFH v. 13.6.2012 – V B 36/12, BFH/NV 2012, 1611; vgl. dazu auch BFH v. 24.7.2000 – VIII B 44/00, BFH/NV 2001, 176. 5 BFH v. 13.6.2012 – V B 36/12, BFH/NV 2012, 1611 m. w. N. 6 BFH v. 13.6.2012 – V B 36/12, BFH/NV 2012, 1611; v. 26.6.1995 – XI B 11/95, BFH/NV 1995, 1083; v. 29.3.1995 – II B 36/94, BFH/NV 1996, 45.

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289

Kap. 3 Rz. 3.874

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ben, ihren Anspruch auf rechtliches Gehör auch effektiv wahrnehmen zu können. Die Art und Weise des Aufrufs hängt von den Umständen des Einzelfalls ab,1 ob beispielsweise die Beteiligten schon im Sitzungssaal anwesend sind.2 Ein unzureichender oder unterbliebener Aufruf führt nicht zu einem Verfahrensfehler gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit, sondern allenfalls zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs.3

3.874 Voraussetzung für die Durchführung der mündlichen Verhandlung ist nicht, dass alle Beteiligten bzw. deren Prozessbevollmächtigte daran teilnehmen. Die mündliche Verhandlung kann, sofern die Beteiligten ordnungsgemäß geladen worden sind, selbst dann durchgeführt werden, wenn niemand erschienen ist. Auch in diesem Fall findet das normale Verfahren statt, da die Finanzgerichtsordnung kein Versäumnisverfahren kennt. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung wird aber festgestellt, wer auf der Kläger- und Beklagtenseite anwesend ist und, wenn für einen Beteiligten niemand erschienen ist, ob die Ladung des nicht erschienenen Beteiligten ordnungsgemäß war (s. Rz. 3.812 ff.).

3.875 In der Verhandlung können die Beteiligten mit Beiständen erscheinen (§ 62 Abs. 7 Satz 1 FGO). Beistand kann nur eine Person sein, die nach § 62 Abs. 2 FGO vertretungsbefugt ist oder die vom Gericht als Beistand in dem Verfahren zugelassen worden ist, weil dies sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Treten andere Personen als Beistand auf, die auch nicht vom Gericht besonders zugelassen worden sind, werden diese vom Gericht durch unanfechtbaren Beschluss zurückgewiesen (§ 62 Abs. 7 Satz 4 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 FGO). Nach § 62 Abs. 7 Satz 5 FGO gilt das von einem Beistand Vorgetragene als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit es nicht von diesem sofort widerrufen oder berichtigt wird.

3.876 Ist der Kläger nicht anwesend und hat das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, ob und wann der Kläger zum Termin erscheinen wird, liegt es im Ermessen des Vorsitzenden, ob er noch eine gewisse Zeit abwartet oder im Hinblick auf die Terminlage in der Sitzung die Verhandlung sofort eröffnet.4 Hat ein unpünktlicher Beteiligter jedoch sein Erscheinen ausdrücklich angekündigt und vor der Verhandlung telefonisch auf eine unverschuldete geringe Verspätung hingewiesen, folgt aus der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts, dass es zur Gewährung des rechtlichen Gehörs eine angemessene Zeit wartet.5 Insbesondere kann von einem Prozessbeteiligten nicht verlangt werden, dass er – um jedes Risiko eines Scheiterns seiner Anreise zum Terminort auszuschließen – bei der zeitlichen Planung seiner Fahrt Vorsorge gegen einen unfallbedingten Stau trifft. Allerdings muss das Gericht noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung über die Verhinderung telefonisch informiert werden.6 Beispiel: Der Prozessbevollmächtigte des Klägers teilt dem Gericht telefonisch mit, dass er auf dem Weg zum Gericht in einen unvorhergesehenen Stau geraten ist, der aufgrund eines Unfalls entstanden ist. Er wolle aber unbedingt an dem Termin teilnehmen und werde erst später erscheinen. Das

1 S. dazu BVerfG v. 5.10.1976 – 2 BvR 558/75, BVerfGE 42, 364; BFH v. 25.7.1994 – X R 72/93, BFH/ NV 1995, 234. 2 BFH v. 19.5.1995 – III B 102/94, juris; v. 13.7.1995 – III R 187/94, BFH/NV 1996, 151. 3 BFH v. 19.5.1995 – III B 102/94, juris; v. 13.7.1995 – III R 187/94, BFH/NV 1996, 151. 4 BFH v. 14.10.2015 – V B 49/15, BFH/NV 2016, 215; v. 25.9.1990 – IX R 207/87, BFH/NV 1991, 397. 5 BFH v. 14.10.2015 – V B 49/15, BFH/NV 2016, 215; v. 21.12.2005 – II B 305, BFH/NV 2006, 605. 6 BFH v. 29.8.2008 – X S 27/08 (PKH), juris.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.879 Kap. 3

Gericht eröffnet dennoch nach nur 10 Minuten Wartezeit die mündliche Verhandlung und verkündet das Urteil nach 5 Minuten, ohne dass der Kläger oder sein Prozessbevollmächtigter anwesend ist. Hier liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, die als Verfahrensfehler mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.

bb) Sachvortrag des Berichterstatters Nach Feststellung der erschienenen Personen und entsprechender Protokollierung ist es wünschenswert, dass der Vorsitzende den Berichterstatter und die übrige Besetzung der Richterbank namentlich vorstellt. Die Verfahrenspraktiken sind insoweit bei den einzelnen Gerichten und innerhalb der Gerichte bei den einzelnen Senaten unterschiedlich. Anschließend trägt der Vorsitzende oder – was in der Praxis die Regel ist – der Berichterstatter den wesentlichen Inhalt der Akten vor. Der Aktenvortrag bzw. Sachbericht dient zum einen der Unterrichtung der Beteiligten und soll diesen die Gelegenheit geben, Ergänzungen und Korrekturen anzubringen.1 Zum anderen soll er auch die übrigen Mitglieder des Gerichts, vor allem der ehrenamtlichen Richter, über den Sachstand informieren Dieser Vortrag soll klarstellen, von welchem Sachverhalt das Gericht ausgeht, und zugleich den wesentlichen Inhalt der Akten zum Gegenstand des Verfahrens machen. Da der Vortrag, der zumeist in einem Ablesen besteht, der aber auch frei gehalten werden kann, auf den entscheidungserheblichen Sachverhalt konzentriert ist, kann ihm vielfach schon die Richtung entnommen werden, in die eine Entscheidung des Gerichts gehen wird. Auch hier sind die Verfahrenspraktiken bei den einzelnen Senaten sehr unterschiedlich. Es gibt Senate, bei denen der ausformulierte Tatbestand den Beteiligten schon vorher zugeschickt wird, vor allem dann, wenn dieser sehr umfangreich ist, oder ihnen jedenfalls in der mündlichen Verhandlung zum Mitlesen überlassen wird. Dieser Service führt zu einer Verbesserung des Rechtsschutzes, weil die Beteiligten in Ruhe abgleichen können, ob sich das aus ihrer Sicht Wesentliche in der Sachverhaltsdarstellung wiederfindet.2

3.877

Es ist nicht zu beanstanden, wenn der Berichterstatter ein bereits vor der mündlichen Verhandlung in Urteilsform gehaltenes schriftliches Votum mit dem Vorschlag der Entscheidung gefertigt hat und den sich hieraus ergebenden Tatbestand in der mündlichen Verhandlung vorträgt oder, was zumeist der Fall ist, auch vorliest, solange der einzelne Richter oder der Senat in der Sache noch nicht endgültig festgelegt ist und bereit ist, die ggf. vom Kläger in der mündlichen Verhandlung neu vorgetragenen Gesichtspunkte zu berücksichtigen.3 Bei der Fertigung eines Urteilsentwurfs handelt es um ein allgemein übliches Verfahren der Terminvorbereitung und Urteilsfindung. Für die Meinungsbildung in einem Spruchkörper ist es nämlich unerlässlich, dass, bevor sich die zuständigen Richter zur Entscheidung zusammenfinden, ein Bericht vorliegt, der den gesamten Sach- und Streitstand wiedergibt und, der soweit möglich auch einen Entscheidungsvorschlag enthält. Ohne eine derart umfassende schriftliche Vorbereitung könnte der Konzentrationsmaxime, also dem gesetzlichen Gebot, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (§ 79 Abs. 1 Satz 1 FGO), im Steuerprozess nicht entsprochen werden.

3.878

Ein solches in Urteilsform gehaltenes Votum bzw. ein solcher Urteilsentwurf ist nur vorläufiger Natur und kann sich infolge anderer oder besserer späterer Erkenntnisse bei der end-

3.879

1 BFH v. 31.10.2003 – IX B 97/03, BFH/NV 2004, 196. 2 Vgl. auch Bilsdorfer, INF 2008, 134. 3 BFH v. 20.8.2014 – VII B 32/14, BFH/NV 2014, 1894; v. 18.7.2006 – X B 206/05, BFH/NV 2006, 1877 m. w. N.

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291

Kap. 3 Rz. 3.880

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

gültigen Überzeugungsbildung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) als korrekturbedürftig erweisen.1 Diese Vorgehensweise führt nicht zu einer Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör.2

3.880 Ist einer der Beteiligten der Auffassung, der gem. § 92 Abs. 2 FGO vorgetragene Sachbericht sei unvollständig oder nicht zutreffend, so muss er dies, nachdem ihm das Wort erteilt worden ist, sofort zu Protokoll rügen und den Sachverhalt sofort berichtigen. Unterlässt er dies und lässt er sich ohne Rüge auf die weitere Verhandlung ein, schließt dies die Rüge dieses Verfahrensfehlers und aller möglicherweise daraus folgenden weiteren Verfahrensfehler (mangelnde Sachaufklärung, Verstoß gegen das Gebot der Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens) im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren aus.3 cc) Plädoyer der Beteiligten

3.881 Im Anschluss an den Sachvortrag erhalten die Beteiligten das Wort, um ihre Anträge zu stellen und zu begründen (§ 92 Abs. 3 FGO), wobei in der Praxis die Anträge erst am Schluss der mündlichen Verhandlung und nicht bereits vorher gestellt werden. Bei der Worterteilung wird eine bestimmte Reihenfolge beachtet: zunächst erhält der Kläger das Wort, anschließend der Beklagte.

3.882 Dabei sollten die Beteiligten die wichtigen Punkte ansprechen und ihre eigene Auffassung dazu begründen. Die Schriftsätze sollten nicht noch einmal wörtlich verlesen werden, da diese dem Gericht bekannt sind. Auch sollte sich der Parteivortrag in zeitlich angemessenem Rahmen halten.4

3.883 Neues Vorbringen in der mündlichen Verhandlung – auch wenn dies nicht die Regel ist – sollte zusätzlich in einen Schriftsatz, der dem Gericht auch noch in der mündlichen Verhandlung als Anlage zum Protokoll überreicht werden kann, ausformuliert sein. Davon ist das Gericht, das die Sache in einer mündlichen Verhandlung zu Ende führen will, im Regelfall nicht besonders angetan,5 weil dies ggf. zu einer Vertagung führen kann. Das sollte die Beteiligten aber nicht davon abhalten, von ihren Rechten bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung Gebrauch zu machen und bei streitig bleibendem Vortrag ggf. auch noch Beweisanträge erst in der mündlichen Verhandlung zu stellen. In der Praxis empfiehlt es sich, derartige Schriftsätze dem Gericht noch vor der mündlichen Verhandlung z. B. per Telefax zukommen zu lassen, damit das Gericht entscheiden kann, ob der Termin überhaupt durchgeführt werden soll. dd) Erörterung der Streitsache

3.884 Wie die mündliche Verhandlung dann im Einzelnen abläuft, ist bei den einzelnen Senaten der Finanzgerichte unterschiedlich und richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die in § 93 Abs. 1 FGO vorgesehene sachliche und rechtliche Erörterung der Streitsache mit den Beteiligten ist ein Ausfluss des rechtlichen Gehörs. Auf jeden Fall muss das Gericht Überraschungsentscheidungen (s. Rz. 3.904 f.) vermeiden und muss ggf. Hinweise und die Möglichkeit zur Stellungnahme hierzu geben. Im Übrigen hängt es von der Person des Vorsitzen1 Vgl. BFH v. 17.5.1995 – X R 55/94, BStBl. II 1995, 604; i. Ü. auch BVerfG v. 17.3.1959 – 1 BvR 53/56, BVerfGE 9, 213 (215). 2 BFH v. 20.8.2014 – VII B 32/14, BFH/NV 2014, 1894. 3 BFH v. 26.5.2010 – V B 70/09, BFH/NV 2010, 1837. 4 Vgl. dazu Heide Schaumburg in FS Harald Schaumburg, S. 115. 5 Vgl. Krömker, AO-StB 2014, 306; Binnewies/Wollweber, NJW 2016, 283.

292

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.889 Kap. 3

den ab, wie die Sache in der mündlichen Verhandlung erörtert wird. Manche Vorsitzende geben den Beteiligten klar zu erkennen, welche Rechtsauffassung sie selber vertreten, und ob die Klage ihrer Meinung nach – immer vorbehaltlich der Entscheidung des Senats, an der auch die ehrenamtlichen Richter mitwirken – Aussicht auf Erfolg hat oder nicht. Dies kann ggf. auch – wie in einem Erörterungstermin – zu einem Abschluss des Verfahrens führen (s. Rz. 3.741 ff.). ee) Anträge der Beteiligten Erledigt sich die Sache nicht, wirkt das Gericht darauf hin, dass sachdienliche Anträge gestellt oder unklare Anträge erläutert werden. Der Vorsitzende hat insoweit ggf. Formulierungshilfe zu leisten (§ 76 Abs. 2 FGO). Es sind Situationen denkbar, in denen der vom Gericht vorgeschlagene Antrag nicht das gesamte Klagebegehren abdeckt. Hier sollte der Beteiligte bzw. sein Bevollmächtigter seine Bedenken äußern und in eine Diskussion mit dem Gericht eintreten, an deren Ende nicht das Gericht, sondern der Beteiligte die Entscheidung darüber trifft, welcher Antrag letztlich gestellt und zu Protokoll genommen werden soll.1 Maßgebend für das weitere Verfahren ist allein der letzte Antrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung (vgl. § 92 Abs. 3 FGO). Dies ist wichtig, denn das Finanzgericht darf über das zuletzt in der mündlichen Verhandlung eingegrenzte Klagebegehren nicht hinausgehen (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).2 Häufig werden in der Praxis die in einem Schriftsatz zuvor gestellten Anträge verlesen und dann in das Protokoll übernommen. Dazu ist das Gericht auch bei Anwesenheit der Beteiligten befugt, wenn den Beteiligten hinreichend Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde. Zu einem Verfahrensmangel führt dies nicht, wenn die Anträge zuvor schriftsätzlich gestellt worden waren.3 In das Sitzungsprotokoll wird dann aufgenommen:

3.885

Antrag wie Bl. … d. A.

Ist ein Beteiligter nicht erschienen, gelten seine aus den vorbereitenden Schriftsätzen erkennbaren Anträge als gestellt, werden aber natürlich nicht als Anträge in das Protokoll aufgenommen.

3.886

Die protokollierten Anträge werden verlesen und genehmigt (§ 82 FGO i. V. m. § 162 ZPO). Gleiches gilt für etwaige Beweisanträge (s. Rz. 3.927).

3.887

ff) Schließung der mündlichen Verhandlung Die Schließung der mündlichen Verhandlung ist erst dann zulässig, wenn der Rechtsstreit hinreichend erörtert ist, den Mitgliedern des Gerichts – auch den ehrenamtlichen Richtern – Gelegenheit gegeben worden ist, Fragen an die Beteiligten zu stellen und diese keine weiteren Fragen mehr haben und die Beteiligten zu allen entscheidungserheblichen Punkten gehört wurden und weder weitere Anträge stellen noch weiter zur Sache vortragen wollen.

3.888

Der Vorsitzende erklärt dann die mündliche Verhandlung für geschlossen (§ 93 Abs. 3 Satz 1 FGO). Normalerweise verkündet er gleichzeitig– ohne dass sich der Senat zurückzieht – einen kurzfristig auf der Richterbank getroffenen Beschluss über das weitere Vorgehen:

3.889

1 S. Bilsdorfer, INF 2000, 134. 2 BFH v. 9.4.2013 – IX B 16/13, BFH/NV 2013, 1114. 3 BFH v. 29.3.2006 – I B 53/05, NV 2006, 1484 m. w. N.

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Kap. 3 Rz. 3.890

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– Eine Entscheidung wird heute nach Beratung nicht vor … Uhr verkündet werden (s. Rz. 3.992 ff.). – Oder: Eine Entscheidung wird den Beteiligten zugestellt (s. Rz. 3.996). b) Beratung und Entscheidung

3.890 Mit der Schließung der regelmäßig öffentlichen mündlichen Verhandlung (§ 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 169 GVG) wird nicht zwangsläufig gleichzeitig auch die Sitzung des Gerichts beendet. Beratung, Abstimmung und Urteilsfällung erfolgen in der Regel im Anschluss an die öffentliche Sitzung in nicht öffentlicher Sitzung (§ 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 193–197 GVG). Die genaue Uhrzeit der Beratung, die Entscheidungsfindung als solche und die Mitwirkung der an der mündlichen Verhandlung beteiligten Richter an der Urteilsfindung müssen nicht in der Sitzungsniederschrift (nachträglich) oder sonst wo protokolliert werden. Kann die Beratung mit der vollständigen Richterbank an demselben Tage nicht mehr oder nicht abschließend stattfinden und wird das Urteil deshalb an einem anderen Tage, an dem eine Nachberatung mit derselben Richterbank stattfindet, gesprochen, muss im Rubrum ein anderer Sitzungstag angeben werden (etwa nach mündlicher Verhandlung am 1.2.00 in der Sitzung vom 2.2.00).1

3.891 Bis zur Wirksamkeit des Urteils – durch Verkündung oder Zustellung des Urteils oder durch Übermittlung der unterschriebenen Urteilsformel an die Geschäftsstelle innerhalb von zwei Wochen oder durch formlose Bekanntgabe der Urteilsformel auf Anfrage der Beteiligten2 – ist das Gericht an seine Entscheidung noch nicht gebunden. Das Gericht kann nach nochmaliger Beratung mit derselben Richterbank die zunächst getroffene Entscheidung, solange diese noch nicht wirksam ist, aufheben oder ändern.3 c) Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung Literatur: Dostmann, Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, DStR 1986, 705; Sangmeister, Anspruch auf rechtliches Gehör auch nach Schluss der mündlichen Verhandlung?, BB 1992, 1535; Sangmeister, Die abgelehnte Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, NVwZ 1997, 249; Sangmeister, Die Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und ihre Prüfung durch das Rechtsmittelgericht, DStZ 1989, 25; Sangmeister, Fürsorgepflichten und Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, DStZ 1988, 320.

3.892 Nach Wirksamwerden des Urteils, durch Verkündung oder durch Zustellung statt der Verkündung, kommt eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 93 Abs. 3 Satz 2 FGO) nicht mehr in Betracht.4

3.893 Ein nach Schluss der mündlichen Verhandlung – aber vor Ergehen des Urteils5 – eingereichter Schriftsatz, der neue Angriffs- oder Verteidigungsmittel enthält, kann nur noch über den Weg der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Die mündliche Verhandlung muss allerdings nicht wiedereröffnet werden, wenn ein Beteiligter nachträglich Tatsachen vorträgt, die er bereits in der mündlichen Verhandlung hätte 1 2 3 4

Vgl. dazu BFH v. 30.4.2001 – VII B 28/01, BFH/NV 2001, 1287. BFH v. 18.9.2014 – IX B 9, 19/14, IX B 9/14, IX B 19/14, BFH/NV 2015, 213. BFH v. 6.6.2001 – X B 169/00, BFH/NV 2001, 1143. BFH v. 8.3.2011 – IV S 14/10, BFH/NV 2011, 1161 m. w. N.; v. 25.10.2000 – VII B 198/00, BFH/ NV 2001, 471. 5 BFH v. 9.6.2011 – XI B 67/10, BFH/NV 2011, 1714 m. w. N.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.897 Kap. 3

vorbringen können, oder die bereits Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.1 Nach Schluss der mündlichen Verhandlung können Angriffs- und Verteidigungsmittel grundsätzlich nicht mehr vorgebracht werden.2 Nachgereichte Schriftsätze sind deshalb grundsätzlich unbeachtlich. Nach § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO kann das Gericht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen. Die Wiedereröffnung steht danach grundsätzlich im Ermessen des Gerichts.3 Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist nach Ergehen des Urteils nicht mehr möglich.4 Eine Wiedereröffnung ist allerdings geboten, wenn nach Schluss der mündlichen Verhandlung bis zur Verkündung oder Zustellung des Urteils Gründe bekannt werden, die zur Aufhebung des Urteils führen könnten, weil wesentliche Prozessgrundsätze, z. B. der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt würde oder die Sachaufklärung nicht ausreicht. In diesem Fall schafft die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit, reparable Fehler sofort zu beheben.5 Eine Wiedereröffnung kann deshalb geboten sein, wenn ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung mit Hinweisen oder Fragen des Gerichts überrascht wurde, zu denen er nicht sofort Stellung nehmen konnte, und ihm das Gericht keine Möglichkeit mehr zur Stellungnahme gegeben hat.6

3.894

Wenn also ein Beteiligter sich in der mündlichen Verhandlung auf überraschende Fragen oder Ausführungen nicht sofort erklären kann, sollte er deshalb in der Praxis die Einräumung einer Frist beantragen, um die Erklärung durch einen Schriftsatz nachzuholen (§ 155 FGO i. V. m. § 283 ZPO). Allerdings dient ein in der mündlichen Verhandlung beantragter Schriftsatznachlass nicht dazu, auch schon vor der mündlichen Verhandlung möglichen Tatsachenvortrag vorzubringen und zu belegen.7 Die Nichtgewährung des Schriftsatznachlasses verletzt in diesen Fällen nicht das rechtliche Gehör.8

3.895

Wird ein Schriftsatz nach Schluss der mündlichen Verhandlung nachgereicht, muss das Gericht jedenfalls darüber beschließen, ob es aufgrund des eingereichten Schriftsatzes die mündliche Verhandlung wiedereröffnet oder die Wiedereröffnung nicht für geboten erachtet.9 Es muss insbesondere zum Ausdruck bringen, dass es entsprechende Erwägungen angestellt hat.10

3.896

Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung oder deren Ablehnung erfolgt gem. § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO durch besonderen Beschluss, der begründet werden muss, denn die Prozessbeteiligten haben einen Anspruch darauf, dass das Gericht Ausführungen dazu macht, dass es sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.11

3.897

1 BFH v. 8.10.2003 – VII B 321/02, BFH/NV 2004, 499. 2 BFH v. 10.3.2011 – VIII S 23/10 (PKH), BFH/NV 2011, 1368; v. 15.10.2008 – X B 106/08, BFH/ NV 2009, 40; v. 12.11,1993 – VIII R 17/93, BFH/NV 1994, 492. 3 BFH v. 15.10.2008 – X B 106/08, BFH/NV 2009, 40 m. w. N. 4 BFH v. 18.9.2014 – IX B 9, 19/14, IX B 9/14, IX B 19/14, BFH/NV 2015, 213; v. 11.1.2007 – VI S 10/06 (PKH), BFH/NV 2007, 936 m. w. N. 5 BFH v. 2.12.1998 – X R 9/96, BFH/NV 1999, 1213. 6 BFH v. 15.10.2008 – X B 106/08, BFH/NV 2009, 40 m. w. N. 7 BFH v. 27.1.2016 – IX B 111/15, BFH/NV 2016, 660. 8 BFH v. 27.1.2016 – IX B 111/15, BFH/NV 2016, 660. 9 BFH v. 5.9.2005 – IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98. 10 BFH v. 5.9.2005 – IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98. 11 BFH v. 5.9.2005 – IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98.

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Kap. 3 Rz. 3.898

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.898 Da es sich um einen selbständigen Beschluss handelt, wirken die ehrenamtlichen Richter nach der bisherigen BFH-Rechtsprechung gem. § 5 Abs. 3 Satz 2 FGO hieran an sich nicht mit.1 Jedoch spricht viel dafür, dass die Kenntnisnahme und Berücksichtigung auch nachgereichter Schriftsätze von allen Richtern, die an der Entscheidung mitwirken – einschließlich der ehrenamtlichen Richter – und nicht nur von den Berufsrichtern verlangt wird.2 Ist nämlich eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bzw. eine erneute Beratung der Hauptsache verfahrensrechtlich noch möglich, weil das gefällte Urteil für das Gericht noch nicht bindend geworden ist, hängt von der Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bzw. über eine erneute Beratung unter Umständen der Bestand des bereits gefällten Urteils ab. Ob und inwieweit das gefällte Urteil trotz der ggf. neu zu würdigenden Umstände aufrechterhalten werden soll oder eine neue Entscheidung notwendig ist, betrifft aber den Urteilsausspruch als solchen und kann deshalb gem. § 103 FGO nur von denjenigen Richtern einschließlich der ehrenamtlichen Richter getroffen werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung teilgenommen haben.3 Es reicht aus, wenn das Finanzgericht seine Entscheidung, die mündliche Verhandlung nicht wieder zu eröffnen, im Urteil selbst begründet.4

3.899 Bei einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verlangt die BFH-Rechtsprechung für die nachfolgende Entscheidung eine identische Richterbank von den an der mündlichen Verhandlung ursprünglich beteiligten Richtern – einschließlich der ehrenamtlichen Richter.5 Denn bei einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bleibt die bereits durchgeführte mündliche Verhandlung – anders als bei einer Vertagung – zumindest auch Grundlage der später zu treffenden Entscheidung.6

3.900 Wird die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu Unrecht abgelehnt, so liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. des § 119 Nr. 3 FGO vor. d) Rechtliches Gehör

3.901 Die mündliche Verhandlung dient insbesondere dazu, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, auf das die Beteiligten gem. § 103 Abs. 1 GG einen Anspruch haben. Der Zweck der mündlichen Verhandlung besteht außerdem darin, dass das Gericht und die Beteiligten gemeinsam das Gesamtergebnis des Verfahrens i. S. von § 96 FGO erarbeiten und den Prozessstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vervollständigen, ordnen, gewichten und dadurch für das Gericht als Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 FGO) eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage schaffen.7 Dies ist gerade bei nur einer Tatsacheninstanz in der Finanzgerichtsbarkeit besonders wichtig.

1 BFH v. 5.9.2005 – IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98; v. 23.10.2003 – V R 24/00, BStBl. II 2004, 89. 2 So auch BVerwG v. 15.7.2008 – 8 B 24/08, HFR 2009, 1041; FG Münster v. 29.9.2012 – 9 K 2546/11 G,F, EFG 2013, 64 m. w. N; ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 93 FGO Rz. 11; a. A. Herbert in Gräber, § 93 FGO Rz. 12 unter Hinweis darauf, dass es sich um eine selbständige Nebenentscheidung handelt. 3 Vgl. dazu FG Münster v. 29.9.2012 – 9 K 2546/11 G,F, EFG 2013, 64. 4 BFH v. 5.9.2005 – IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98 m. w. N. 5 BFH v. 15.7.2005 – I B 19/05, BFH/NV 2006, 68. 6 BFH v. 15.7.2005 – I B 19/05, BFH/NV 2006, 68; kritisch zu Recht Brandis in Tipke/Kruse, § 93 FGO Rz. 12. 7 Grundlegend insbesondere BFH v. 3.9.2011 – GrS 3/98, BStBl. II 2001, 802.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.906 Kap. 3

Deshalb muss der Vorsitzende die Streitsache mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erörtern (§ 93 Abs. 1 FGO). Hierdurch soll der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt festgestellt und geklärt sowie das rechtliche Gehör der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung gewahrt werden. Es soll sichergestellt werden, dass keine wesentlichen Tatsachen und rechtlichen Gesichtspunkte übersehen werden. Außerdem sollen die Beteiligten Gelegenheit erhalten, sich auf die für die Entscheidung wesentlichen Fragen einzustellen und ggf. ihren Vortrag darauf einzurichten. Die Beteiligten sollen zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten bis zum Ende der mündlichen Verhandlung Stellung nehmen können.

3.902

Darüber hinaus verpflichtet der Grundsatz des rechtlichen Gehörs das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu beachten.1 Dies geht jedoch nicht so weit, dass sich das Gericht mit jedem Vorbringen der Beteiligten auseinandersetzen muss, insbesondere dann nicht, wenn dies aus seiner Sicht unerheblich oder nicht hinreichend substantiiert ist.2 Es soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrages der Parteien haben.

3.903

Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Das Recht auf rechtliches Gehör schützt die Beteiligten aber auch davor, dass das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen nicht vorhersehbaren rechtlichen Gesichtspunkt abstellt. Deshalb ist das rechtliche Gehör verletzt, wenn die Beteiligten von einer Entscheidung überrascht werden (sog. Überraschungsentscheidung), weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten bisher nicht geäußert hatten und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens zu einer Äußerung auch keine Veranlassung bestanden hat und auch ein kundiger Prozessbeteiligter unter Berücksichtigung vertretbarer Rechtsauffassungen damit nicht rechnen musste.3 Eine Überraschungsentscheidung liegt aber nicht bereits dann vor, wenn das Gericht in seiner Entscheidung Gesichtspunkte als maßgeblich herausstellt, die bisher nicht im Vordergrund gestanden haben; denn die – fachkundig vertretenen – Prozessparteien müssen grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einrichten.4

3.904

Um die Beteiligten vor Überraschungsentscheidungen zu schützen, hat das Gericht einen rechtlichen Hinweis zu erteilen, wenn es seine Entscheidung auf neue tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte stützen will. Das Gericht muss allerdings nicht seine spätere rechtliche Beurteilung und die für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte bereits in der mündlichen Verhandlung andeuten.5

3.905

Hat das Gericht einen rechtlichen Hinweis erteilt, so sollte der Kläger bzw. sein Prozessvertreter in der Praxis sorgfältig prüfen, ob die Durchsetzung seines Klagebegehrens unter Berücksichtigung des rechtlichen Hinweises noch Aussicht auf Erfolg verspricht. Der Kläger muss nämlich damit rechnen, dass das Gericht auf der Grundlage des rechtlichen Hinweises

3.906

1 St. Rspr., BFH v. 25.2.2016 – VII S 26/15, BFH/NV 2016, 775. 2 BFH v. 7.11.2012 – I B 172/11, BFH/NV 2013, 561. 3 Vgl. BFH v. 10.3.2016 – X B 198/15, BFH/NV 2016, 1042; v. 14.12.2006 – VIII B 108/05, BFH/NV 2007, 741. 4 BFH v. 14.12.2006 – VIII B 108/05, BFH/NV 2007, 741. 5 BFH v. 10.3.2016 – X B 198/15, BFH/NV 2016, 1042; v. 14.12.2006 – VIII B 108/05, BFH/NV 2007, 741.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.907

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

entscheiden wird. Ergibt eine Überprüfung des eigenen Standpunktes, dass die Klage trotz des Hinweises Erfolg versprechend sein müsste (z. B. weil das Gericht von falschen Voraussetzungen ausgeht oder einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung übersehen hat), sollte das Verfahren fortgeführt und eingehend zu dem rechtlichen Hinweis Stellung genommen werden. Kommt der Kläger allerdings nach dem rechtlichen Hinweis zu der Erkenntnis, dass seine Klage wenig aussichtsreich sein wird, sollte er überlegen, ob die Klage nicht besser aus Kostengründen zurückgenommen werden sollte.

3.907 Das rechtliche Gehör ist erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls deutlich ergibt, dass das Gericht ein tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat.1 Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist ein Verfahrensmangel i. S. des § 119 Abs. 2 Nr. 3 FGO, der in der mündlichen Verhandlung sofort gerügt werden muss. Dabei muss der Kläger darlegen, was er bei (ausreichender) Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte. Außerdem muss er schlüssig vortragen, dass dieser Vortrag zu einer für ihn günstigeren Entscheidung des Finanzgerichts hätte führen können.2 Substantiierte Ausführungen dazu gehören allgemein zu einer ordnungsgemäßen Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör.3 e) Fragerecht

3.908 Gem. § 93 Abs. 2 FGO hat jedes Mitglied des Gerichts in der mündlichen Verhandlung das Recht, Fragen zu stellen. Dieses Fragerecht steht nicht nur den – hauptamtlichen – Berufsrichtern, sondern auch den ehrenamtlichen Richtern zu. Der Vorsitzende muss dem Verlangen, Fragen zu stellen, entsprechen. Dabei dürfen die Fragen unmittelbar gestellt werden, nicht etwa nur über den Vorsitzenden. Im Rahmen einer Beweisaufnahme sind die Mitglieder des Gerichts nach § 82 FGO i. V. m. § 396 Abs. 2 und 3 ZPO berechtigt, Fragen an den Zeugen zu stellen. Das schließt auch ein, dem Zeugen Vorhalte aus eigenen Aussagen oder den Akten zu machen, wenn dadurch eine erhöhte Anspannung des Gedächtnisses erreicht werden soll oder Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen ermöglicht werden.4

3.909 Die Beteiligten, der Zeuge, der Sachverständige oder das Gericht bzw. der einzelne Richter hat das Recht, eine Frage zu beanstanden.5 Wird eine Frage beanstandet – z. B. als nicht sachdienlich und deshalb unzulässig –, so entscheidet hierüber gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 FGO der gesamte Spruchkörper, nicht etwa allein der Vorsitzende. Die Entscheidung des Gerichts ist gem. § 128 Abs. 2 FGO unanfechtbar.6

3.910 Gem. § 83 Satz 2 FGO steht auch den Beteiligten bei Beweisaufnahmen das Recht zu, sachdienliche Fragen an Zeugen und Sachverständige zu stellen. Sachdienlich sind die Fragen nur, wenn sie beweiserheblich sind. Sie müssen geeignet sein, die Sachverhaltsaufklärung unmittelbar oder mittelbar zu fördern. Wird eine Frage beanstandet, so entscheidet auch hier das Gericht (§ 83 Satz 3 FGO). Weist das Gericht eine Frage zu Unrecht zurück, liegt darin ein Ver1 BFH v. 7.11.2012 – I B 172/11, BFH/NV 2013, 561 m. w. N. 2 BFH v. 9.3.2012 – III B 237/11, BFH/NV 2012, 976; v. 12.10.2010 – 1 B 190/09, BFH/NV 2011, 291 m. w. N. 3 BFH v. 9.3.2012 – III B 237/11, BFH/NV 2012, 976. 4 BFH v. 10.11.1999 – IV B 139/98, BFH/NV 2000, 719. 5 Herbert in Gräber, § 83 FGO Rz. 4. 6 Brandis in Tipke/Kruse, § 93 FGO Rz. 5; Herbert in Gräber, § 93 FGO Rz. 5.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.916 Kap. 3

fahrensmangel i. S. des § 119 Nr. 3 FGO (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör), der sofort gerügt werden muss und später mit der Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet werden kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).1 Verzichtet ein Beteiligter (ausdrücklich oder stillschweigend) auf sein Fragerecht, führt dies grundsätzlich zum Verlust des Rügerechts (vgl. § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO).2 f) Aufrechterhaltung der Ordnung der Sitzung Auf die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung finden gem. § 52 Abs. 1 FGO die Vorschriften der §§ 176–183 GVG entsprechende Anwendung. Gem. § 176 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung der Sitzung (sog. Sitzungspolizei) dem Vorsitzenden.

3.911

Beteiligte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteilige Personen, die den zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen nicht Folge leisten, können aus dem Sitzungszimmer entfernt sowie zur Ordnungshaft abgeführt und während einer zu bestimmenden Zeit, die 24 Stunden nicht übersteigen darf, festgehalten werden. Über diese Maßnahmen entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in den übrigen Fällen das Gericht (§ 177 GVG).

3.912

Gegen Beteiligte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen, die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen, kann vorbehaltlich der strafgerichtlichen Verfolgung ein Ordnungsgeld bis zu 1000 Euro oder Ordnungshaft bis zu einer Woche festgesetzt und sofort vollstreckt werden. Bei der Festsetzung von Ordnungsgeld ist zugleich für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, zu bestimmen, in welchem Maße Ordnungshaft an seine Stelle tritt (§ 178 Abs. 1 GVG). Über die Festsetzung von Ordnungsmitteln entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in den übrigen Fällen das Gericht (§ 178 Abs. 2 GVG). Die Vollstreckung der Ordnungsmittel hat der Vorsitzende unmittelbar zu veranlassen (§ 179 GVG).

3.913

Unter einer Ungebühr ist jede vorsätzliche, zurechenbare, grobe Verletzung der Ordnung der Gerichtsverhandlung zu verstehen, insbesondere eine Missachtung des Gerichts z. B. durch Trunkenheit, grobe Beleidigungen – auch des Prozessgegners – und Tätlichkeiten.3

3.914

Ist ein Ordnungsmittel wegen Ungebühr festgesetzt oder eine Person zur Ordnungshaft abgeführt oder eine bei der Verhandlung beteiligte Person entfernt worden, so ist der Beschluss des Gerichts und dessen Veranlassung in das Protokoll aufzunehmen (§ 182 GVG). Das bedeutet, dass auch der Vorfall selbst in das Protokoll aufzunehmen ist.

3.915

Gegen den Beschluss, mit dem sitzungspolizeiliche Maßnahmen festgesetzt worden sind, ist die Beschwerde zum BFH gegeben (§ 128 Abs. 1 FGO).4 Sie ist binnen einer Frist von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder beim BFH einzulegen (§ 129 FGO).

3.916

1 BFH v. 29.1.2014 – III B 106/13, BFH/NV 2014, 705. 2 BFH v. 29.1.2014 – III B 106/13, BFH/NV 2014, 705; v. 28.1.1993 – X B 80/92, BFH/NV 1994, 108; Herbert in Gräber, § 83 FGO Rz. 6. 3 Brandis in Tipke/Kruse, § 52 FGO Rz. 21. 4 Brandis in Tipke/Kruse, § 52 FGO Rz. 23; Stapperfend in Gräber, § 52 FGO Rz. 28.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.917

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

8. Beweisaufnahme Literatur: Fiedler/Riegel, Finanzgerichtsprozesse erfolgreich führen – die Krux mit dem Beweis bei Auslandssachverhalten, BB 2014, 3100; Gersch, Der Beweisantrag im Finanzgerichtsprozess, AO-StB 2007, 273; Georg Grube, Zum übergangenen Beweisantrag und zur gerichtlichen Hinweispflicht im Steuerprozess, DStZ 2013, 591; Heuermann, Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts des Steuerberaters und die Auswirkung auf die Beweislastregeln, HFR 2002, 876; Kanzler, „Vermeidung von Beweisaufnahmen?“, NWB 2013, 409; Martens, Die eigenartige Beweislast im Steuerrecht, StuW 1981, 322; Pinne, Steuerrechtliches Verwertungsverbot für Aussagen eines Angehörigen aus einem (Steuer-)Strafverfahren, ZfZ 1987, 126; Rößler, Beiziehung der Scheidungsakten und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, DStZ 1992, 157; Rößler, Externer Fremdvergleich und Beiziehung fremder Steuerakten zum finanzgerichtlichen Verfahren, StBp 2004, 336; Rößler, Sachverhaltsermittlung und Zeugenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 1985, 373; Rößler, Unmittelbarkeit der Beweiserhebung, DStZ 1994, 505; Rüsken, Beweis durch beigezogene Akten, BB 1994, 761; Schall, Das selbständige Beweisverfahren im Steuerprozess, StB 1993, 366; Heide Schaumburg, Die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, in FS H. Schaumburg, 2009, S. 111; Schaumburg/Schaumburg, Grenzüberschreitende Sachverhaltsaufklärung im finanzgerichtlichen Verfahren: Der Zeuge im Ausland, FR 1997, 749; Seibel, Der Beweisantritt im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2002, 169; Stackmann, Terra incognita – was ist gerichtsbekannt?, NJW 2010, 1409; Streck/Mack/Schwedhelm, Keine generelle Hinnahme der Beweisaufnahme durch den beauftragten Richter, Stbg 1991, 82; Woring, Der Zeugenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren, in FS Streck, 2011, S. 461.

a) Allgemeines

3.917 Auf die Beweisaufnahme sind im Wesentlichen die Vorschriften der Zivilprozessordnung anzuwenden, wie sich aus § 82 FGO ergibt. Dabei scheiden die Vorschriften aus, die mit dem Amtsermittlungsprinzip des § 76 FGO nicht in Einklang stehen. Aus § 82 FGO i. V. m. § 358 ZPO folgt, dass in den Fällen, in denen die Beweisaufnahme ein besonderes Verfahren erfordert, dieses Verfahren, nämlich die Beweisaufnahme, durch Beweisbeschluss besonders anzuordnen ist.

3.918 Die Beweisaufnahme erfolgt grundsätzlich durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung (§ 81 Abs. 1 FGO). Es kann insbesondere Augenschein einnehmen, Zeugen, Sachverständige und Beteiligte vernehmen und Urkunden heranziehen. Das Gericht kann jedoch gem. § 81 Abs. 2 FGO in geeigneten Fällen schon vor der mündlichen Verhandlung eines seiner Mitglieder als beauftragten Richter oder unter Bezeichnung der einzelnen Beweisfragen ein anderes Gericht (ersuchter Richter) um die Beweisaufnahme ersuchen. In diesen Fällen wird die Beweisaufnahme außerhalb der mündlichen Verhandlung durchgeführt. Es ist dann aber ein Beweisbeschluss des Gerichts erforderlich, der gem. § 82 FGO i. V. m. § 358a ZPO bereits vor der mündlichen Verhandlung erlassen werden kann.

3.919 Ferner können gem. § 79 Abs. 3 FGO auch der Vorsitzende oder – was in der Praxis häufiger anzutreffen ist – der Berichterstatter einzelne Beweise erheben, ohne dass es dazu eines Beweisbeschlusses des Senats bedarf. Dies darf aber nur insoweit geschehen, als es zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Gericht sachdienlich und von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag. Auch bei der Beweiserhebung nach § 79 Abs. 3 FGO gelten die §§ 81 Abs. 1 Satz 2, 82 FGO. Insbesondere ist ein Beweisbeschluss des Vorsitzenden bzw. Berichterstatters erforderlich.1

1 Ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 16.

300

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.923 Kap. 3

b) Beweisbeschluss Der Beweisbeschluss muss notwendigerweise die Bezeichnung der streitigen Tatsachen, über die Beweis zu erheben ist, und die Bezeichnung der Beweismittel unter Benennung der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen oder der zu vernehmenden Partei enthalten.1 Die genaue Bezeichnung des Beweisthemas ist notwendig, damit erkennbar wird, welche Aufklärung die Durchführung der Beweisaufnahme bringen soll. Die Angabe des Beweisthemas bezweckt auch, die Beteiligten, Zeugen und Sachverständigen darüber zu informieren, über welche vom Gericht für entscheidungserheblich gehaltenen Tatsachen Beweis erhoben werden soll.2 Eine inhaltliche Beschränkung auf bestimmte Fragen ergibt sich daraus jedoch nicht: Der Beweisbeschluss ist für das Gericht u. a. deswegen nicht bindend, weil im finanzgerichtlichen Verfahren das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen ermittelt (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO); im Beweistermin kann die Beweiserhebung auch ohne ausdrückliche Änderung des Beweisbeschlusses und ohne Zustimmung der Beteiligten über das beschlossene Beweisthema hinaus geändert oder ergänzt werden, wenn dies also sachdienlich erscheint.3

3.920

Nach Ergehen eines förmlichen Beweisbeschlusses können die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweis vollständig erhoben worden ist.4 Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es aber von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es vor Erlass des Urteils unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es den Beweis als nicht mehr nötig erachtet und somit den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet.5 Andernfalls liegt eine Überraschungsentscheidung, die einen Verfahrensmangel gem. § 119 Nr. 3 FGO darstellt, vor.6

3.921

Der Beweisbeschluss ist unanfechtbar (§ 128 Abs. 2 FGO).

3.922

c) Berücksichtigung von Beweisanträgen Die Finanzgerichtsordnung überlässt es im Interesse einer möglichst umfassenden, den Erfordernissen des konkreten Falles angepassten Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich dem Ermessen des Gerichts, welche Mittel es zur Erforschung des Sachverhalts anwendet. Dies folgt aus § 76 Abs. 1 FGO, der dem Gericht aufgibt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Das Gericht ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in dem Sinne, dass das Finanzgericht von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten sind.7 Von den Verfah-

1 Vgl. dazu § 82 FGO i. V. m. § 359 ZPO. 2 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934. 3 BFH v. 1.3.2016 – V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; v. 22.6.2006 – V B 155/05, BFH/NV 2006, 2093 m. w. N. 4 BFH v. 29.10.2015 – X B 55/15, BFH/NV 2016, 218; v. 27.8.2010 – III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292. 5 BFH v. 29.10.2015 – X B 55/15, BFH/NV 2016, 218; v. 10.1.2012 – X B 4/10, BFH/NV 2012, 958 m. w. N. 6 BFH v. 29.10.2015 – X B 55/15, BFH/NV 2016, 218; v. 19.9.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214. 7 S. dazu BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 1.2.2007 – VI B 118/04, BStBl. II 2007, 538; v. 27.5.2005 – VII B 38/04, BFH/NV 2005, 1496.

Schaumburg

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3.923

Kap. 3 Rz. 3.924

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

rensbeteiligten angebotene Beweise muss das Finanzgericht grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will.1

3.924 Die Gründe, aus denen ein Beweisantrag abgelehnt werden kann, sind dieselben, die auch das Gericht von einer Beweiserhebung von Amts wegen entbinden. Auf die beantragte Beweiserhebung kann im Regelfall nur verzichtet werden, – wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist;2 – wenn das Gericht die behauptete Tatsache als wahr unterstellt; in diesem Fall muss das Gericht die behauptete Tatsache tatsächlich als bewiesen behandeln und darf sich in seiner Entscheidung mit dieser Tatsache nicht in Widerspruch setzen;3 – wenn das Beweismittel unerreichbar ist.4 Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Gericht nicht in der Lage ist, das Beweismittel herbeizuschaffen. So ist beispielsweise ein Zeuge dann unerreichbar, wenn Ermittlungen nach seinem Aufenthalt ergebnislos bleiben oder es an jeglichen Anhaltspunkten für seinen Aufenthaltsort fehlt. Ein Zeuge ist nicht allein deshalb unerreichbar, weil er zur mündlichen Verhandlung ein Attest vorlegt, wonach er derzeit nicht reise- und aussagefähig ist.5 Oder: Wird ein ausländischer Zeuge nicht in der mündlichen Verhandlung gestellt und kann eine Aussage wegen einer entsprechenden Weigerung des Zeugen auch nicht im Wege der Rechtshilfe erzwungen werden, kann das Beweismittel als unerreichbar entsprechend § 244 Abs. 3 StPO behandelt werden (s. Rz. 3.928);6 – wenn das angegebene Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist.7 Davon ist auszugehen, wenn es dem Gericht nicht zuzumuten ist, einen Beweis zu erheben, von dessen völliger Nutzlosigkeit es überzeugt ist, weil er nicht der Sachaufklärung dienen kann. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass über den Wert eines angebotenen Beweismittels in der Regel erst nach der Beweiserhebung entschieden werden kann. Anders ist es nur, wenn bestimmte Umstände schon vorher eine sichere Feststellung der Ungeeignetheit des Beweismittels ermöglichen (z. B. der angebotene Zeuge kann zu der Behauptung keine Aussage machen, weil er sich zum fraglichen Zeitpunkt an einem anderen Ort aufgehalten hat);

1 S. dazu BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 1.2.2007 – VI B 118/04, BStBl. II 2007, 538; v. 21.12.2005 – I B 249/04, BFH/NV 2006, 780. 2 Vgl. BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 22.9.2000 – XI B 197/99, BFH/NV 2001, 312; v. 21.2.2000 – XI B 132/98, BFH/NV 2000, 882. 3 Vgl. BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 27.7.2000 – V R 38/99, BFH/NV 2001, 181. 4 BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 27.7.2000 – V R 38/99, BFH/NV 2001, 181. 5 BFH v. 27.7.2000 – V R 38/99, BFH/NV 2001, 181. 6 BFH v. 8.8.2006 – X B 161/04, BFH/NV 2006, 2119; v. 21.5.1992 – VIII B 76/91, BFH/NV 1993, 32. 7 St. Rspr.; z. B. BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 16.11.2005 – VI R 71/99, BFH/ NV 2006, 753; v. 27.7.2000 – V R 38/99, BFH/NV 2001, 181; v. 30.12.2002 – XI B 58/02, BFH/NV 2003, 787.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.928 Kap. 3

– wenn der Beweisantrag unsubstantiiert ist1 oder „ins Blaue hinein“ gestellt wird.2 Allerdings ist bei ungenügender Konkretisierung des Beweisantrages das Gericht nach § 76 Abs. 2 FGO gehalten, auf eine Erläuterung und Klarstellung des Beweisthemas und des Beweisangebotes hinzuwirken.3 „Ins Blaue hinein“ gestellte und deshalb als unsubstantiiert anzusehende Beweisanträge sind anzunehmen, wenn sie offenkundig Behauptungen betreffen, die ohne jede tatsächliche Grundlage aufgestellt werden; – wenn eine Parteivernehmung beantragt wird und nichts an Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Verbringens besteht.4 Die Zurückweisung des Beweisantrags muss nicht durch besonderen Beschluss – dieser wäre nach § 128 Abs. 2 FGO ohnehin unanfechtbar – erfolgen. Es reicht aus, wenn sich die Gründe für die Ablehnung aus dem Urteil ergeben.5

3.925

Das Übergehen eines – auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts entscheidungserheblichen – Beweisantrages kann eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht bedeuten und einen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO darstellen. Hierauf kann eine Nichtzulassungsbeschwerde gestützt werden. Dabei muss der Verfahrensmangel bezeichnet und gleichzeitig vorgetragen werden, dass die Nichterhebung des angebotenen Beweises in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb diese Rüge nicht möglich war.6 Das Übergehen eines Beweisantrages gehört nämlich zu den verzichtbaren Verfahrensmängeln. Dabei geht das Rügerecht auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren. Verhandelt der Kläger bzw. sein Bevollmächtigter zur Sache, ohne den Verfahrensmangel zu rügen, obwohl er den Mangel kannte oder kennen musste, verliert er das Rügerecht.7

3.926

Hält der Kläger eine Beweisaufnahme (z. B. die Vernehmung eines Zeugen) unbedingt für erforderlich, um den Prozess gewinnen zu können, so muss er in der Praxis den schriftsätzlich vorgetragenen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung wiederholen und ausdrücklich zu Protokoll geben, dass der Beweisantrag aufrechterhalten wird und dass die Nichterhebung des beantragten Beweises gerügt wird.8 Vorsorglich könnte auch schon ein entsprechender Schriftsatz vorbereitet und dem Gericht als Anlage zum Protokoll übergeben werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Übergabe des Schriftsatzes mit der Rüge zu Protokoll genommen wird.

3.927

Beantragt ein Kläger, einen im Ausland ansässigen Zeugen zu einem Auslandssachverhalt zu vernehmen, so muss er mit Rücksicht auf § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i. V. m. § 90 Abs. 2 AO

3.928

1 Z. B. BFH v. 1.12.2015 – X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; v. 2.8.2006 – IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117; v. 2.3.2006 – XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132; v. 10.3.2005 – X B 66/04, BFH/NV 2005, 1339; Stapperfend in Gräber, § 76 FGO Rz. 29. 2 BFH v. 21.12.2001 – VII B 132/00, BFH/NV 2002, 661 m. w. N.; v. 19.8.2003 – IX B 36/03, DStRE 2004, 540. 3 BFH v. 6.5.1999 – VII R 59/98, BFH/NV 2000, 49; v. 30.12.2002 – XI B 58/02, BFH/NV 2003, 787. 4 BFH v. 3.3.2006 – IV B 127/04, BFH/NV 2006, 1133. 5 BFH v. 4.10.1991 – VII B 98/91, BFH/NV 1992, 603. 6 BFH v. 14.8.2000 – VII B 87/00, BFH/NV 2001, 147; v. 24.8.2005 – IV B 61/04, BFH/NV 2006, 85. 7 BFH v. 14.1.2000 – VIII B 72/99, n. v. 8 BFH v. 3.5.2013 – IX B 153/12, BFH/NV 2013, 1426; kritisch hierzu Binnewies/Wollweber, NJW 2016, 283.

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303

Kap. 3 Rz. 3.929

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

gegenüber dem Gericht seine Bereitschaft erklären, den Zeugen zur Vernehmung als präsenten Zeugen zu stellen und für dessen Erscheinen zu einem rechtzeitig anzuberaumenden Termin Sorge zu tragen.1 Ggf. muss das Gericht den Kläger auf diese Beweismittelbeschaffungspflicht hinweisen und darauf, dass er den im Ausland wohnhaften Zeugen selbst zur mündlichen Verhandlung stellen müsse.2 Erklärt der Kläger dann, den Zeugen nicht stellen zu können, so darf das Gericht entsprechend § 244 Abs. 3 StPO den benannten Zeugen im Ausland als unerreichbares Beweismittel bewerten.3 Das Gericht darf dann ohne eine Berücksichtigung des Zeugen den ihm vorliegenden Sachverhalt nach freier Überzeugung (§ 96 Abs. 1 FGO) würdigen. Ein Verfahrensfehler in Gestalt der Übergehung eines Beweisantrags liegt dann nicht vor.

3.929 Die Vernehmung eines Zeugen im Ausland (§ 155 FGO i. V. m. §§ 363, 364 ZPO) ist zwar prozessrechtlich zulässig; sie muss aber nicht zwingend erfolgen, wenn der Zeuge im Inland nicht verfügbar ist. Das Finanzgericht muss vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen prüfen, ob es von dieser Möglichkeit einer konsularischen Vernehmung Gebrauch machen oder hiervon Abstand nehmen will.4 Dabei ist es durchaus ermessensgerecht, wenn das Gericht den Zeugen in der mündlichen Verhandlung selbst vernehmen will, weil es entscheidend auf den persönlichen Eindruck und die Glaubwürdigkeit des Zeugen ankommt.5 Eine Zuschaltung des Zeugen per Videokonferenz aus dem Ausland ist nicht zulässig (s. Rz. 3.981). d) Beweisbedürftige Tatsachen

3.930 Eine Beweisaufnahme ist in der Regel nur dann erforderlich, wenn der entscheidungserhebliche Sachverhalt nicht bereits aufgrund der Mitwirkung der Beteiligten so geklärt ist, dass das Gericht ihn seiner Entscheidung zu Grunde legen kann. Eine Beweisaufnahme hat insbesondere dann stattzufinden, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen zwischen den Beteiligten streitig sind. § 138 Abs. 3 ZPO, wonach Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, als zugestanden anzusehen sind, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu wollen, aus den übrigen Erklärungen der Parteien hervorgeht, findet keine Anwendung, da im finanzgerichtlichen Verfahren das Amtsermittlungsprinzip gilt.

3.931 Beweisbedürftig können nur Tatsachen oder tatsächliche Verhältnisse sein. Tatsachen sind alle sinnlich wahrnehmbaren äußeren und inneren Vorgänge und Verhältnisse.6 Wertungen und rechtliche Schlussfolgerungen aus Tatsachen sind keine Tatsachen. Zu den tatsächlichen Verhältnissen gehören aber auch die sog. Erfahrungssätze, wozu auch die Verkehrsauffassung zählt.7 Hier wird allerdings ggf. die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich sein.8 Damit ist jede Beweiserhebung über Rechtsfragen eigentlich ausgeschlossen, so dass ein Beweisantrag in Bezug auf den Inhalt inländischer Rechtsnormen unbeacht1 BFH v. 11.8.2011 – V R 50/09, BStBl. II 2012, 151; v. 30.5.2011 – XI B 90/10, BFH/NV 2011, 1479; v. 18.12.2010 – V B 78/09, BFH/NV 2011, 622; v. 8.8.2006 – X B 161/04, BFH/NV 2006, 2119; v. 21.5.1992 – VIII B 76/91, BFH/NV 1993, 32. 2 BFH v. 30.5.2011 – XI B 90/10, BFH/NV 2011, 1479; v. 25.11.2002 – I B 32/02, BFH/NV 2003, 627; v. 27.9.1999 – I B 49/98, BFH/NV 2000, 452. 3 BFH v. 8.8.2006 – X B 161/04, BFH/NV 2006, 2119. 4 BFH v. 11.8.2011 – V R 50/09, BStBl. II 2012, 151. 5 BFH v. 11.8.2011 – V R 50/09, BStBl. II 2012, 151; v. 8.8.2006 – X B 161/04, BFH/NV 2006, 2119. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 5. 7 Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 6 und § 96 FGO Rz. 19 ff. 8 Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 6; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 302.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.936 Kap. 3

lich ist,1 da davon auszugehen ist, dass das Gericht das inländische Recht kennt. Die Feststellung ausländischen Rechts ist demgegenüber gem. § 155 FGO i. V. m. § 293 ZPO von Amts wegen vorzunehmen. Insoweit gehört die Feststellung ausländischen Rechts zu den Tatsachenfeststellungen, wobei das Gericht nach seinem Ermessen die erforderlichen Erkenntnisquellen benutzen und hierüber auch Beweis – etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – erheben kann.2 Eine Tatsache ist dann nicht beweisbedürftig, wenn sie offenkundig oder auch gerichtsbekannt ist.3

3.932

– Offenkundig ist eine Tatsache, wenn sie einem größeren Kreis von Personen allgemein bekannt ist oder ohne weiteres zuverlässig wahrnehmbar ist oder allgemein verbreitet worden ist,4 so z. B. historische Ereignisse, Entfernungen, Börsenkurse, und der Richter die Überzeugung von der Wahrheit aus der Allgemeinkunde schöpft.5

3.933

– Gerichtskundig ist eine Tatsache, wenn zumindest die Mehrheit des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers sie aus der gegenwärtigen oder auch aus der früheren Tätigkeit sicher kennt und sich nicht erst durch Beiziehen von Akten oder die Einholung von Auskünften u.a. kundig machen muss.6 Privates Wissen der Richter (und noch weniger das eines einzelnen Richters im Kollegialgericht) ist nicht gerichtsbekannt.7

3.934

Tatsachen, die das Gericht als offenkundig behandeln will, müssen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden.8 Das bedeutet: Sie müssen den Beteiligten bekannt gegeben werden, damit diese dazu Stellung nehmen und ggf. Beweis für ihre gegenteilige Behauptung anbieten können.

3.935

Eine Tatsache ist auch dann nicht beweisbedürftig, wenn sie zugunsten der beweispflichtigen Partei als wahr unterstellt werden kann.9 Das Gericht darf nur hinsichtlich der Tatsachen Beweis erheben, die entscheidungserheblich sind. Das sind Tatsachen, auf die es für die Entscheidung des Gerichts ankommt. Die Durchführung einer Beweisaufnahme ist deshalb nur dann zulässig, wenn die vom Gericht bereits festgestellten Tatsachen nicht ausreichen, um über das Klagebegehren entscheiden zu können. Ob Beweis erhoben werden muss, hängt im finanzgerichtlichen Verfahren nicht zwingend davon ab, ob eine Tatsache zwischen den Beteiligten unstreitig oder streitig ist. Hat das Gericht z. B. aufgrund des Akteninhalts Zweifel, ob eine zwischen den Beteiligten unstreitige Tatsache, die entscheidungserheblich ist, tatsächlich vorliegt, so muss es im Hinblick auf den Amtsermittlungsgrundsatz hierüber Beweis erheben.

3.936

1 BFH v. 31.1.2008 – VII B 88/07, BFH/NV 2008, 991. 2 BFH v. 13.6.2013 – III R 10/11, BStBl. II 2014, 710; v. 19.12.2007 – I R 46/07, BFH/NV 2008, 930; vgl. dazu auch Hendricks, IStR 2011, 711. 3 Vgl. § 155 FGO i. V. m. § 291 ZPO; BFH v. 4.11.2009 – IX B 166/09, BFH/NV 2010, 234; v. 3.8.1993 – VII B 29/93, BFH/NV 1994, 326. 4 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 8. 5 BFH v. 6.4.1995 – VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 136; v. 24.8.1990 – VI R 178/85, BFH/NV 1991, 140. 6 BFH v. 6.4.1995 – VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 136 m. w. N. 7 Ratschow in Gräber, § 96 FGO Rz. 41. 8 Ratschow in Gräber, § 96 FGO Rz. 41. 9 BFH v. 5.11.2013 – VI B 86/13, BFH/NV 2014, 360.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.937

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

e) Beweismittel aa) Überblick

3.937 Als Beweismittel im finanzgerichtlichen Verfahren erwähnt § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO – die Einnahme des Augenscheins, – die Vernehmung von Zeugen, – die Begutachtung durch Sachverständige und deren Vernehmung, – die Vernehmung von Beteiligten, – die Heranziehung von Urkunden.

3.938 Diese Aufzählung ist nicht abschließend, wie das Wort „insbesondere“ in § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO zeigt. Als Beweismittel kommen deshalb alle Erkenntnismittel in Betracht, die geeignet sind oder geeignet sein können, die Überzeugung des Gerichts vom Vorhandensein entscheidungserheblicher Tatsachen zu begründen. Deshalb können beispielsweise auch amtliche Auskünfte und schriftliche Erklärungen sowie Presseberichte oder – was im finanzgerichtlichen Verfahren erhebliche Bedeutung hat – der gerichtseigene Prüfungsbeamte (s. Rz. 3.950) als Beweismittel in Betracht kommen. bb) Augenschein

3.939 Unter einer Augenscheineinnahme ist die sinnliche Wahrnehmung durch das Gericht über Eigenschaften oder Zustände von Sachen und Personen im Rahmen des Prozesses zu verstehen.1 Augenscheinobjekte können auch Gerüche, Geräusche und Tonaufnahmen sein sowie andere, mit den Sinnen wahrnehmbare Tatsachen und Vorgänge. Die Einnahme des Augenscheins wird häufig mit einem Sachverständigenbeweis verbunden.

3.940 Die Einnahme des Augenscheins kann vorgenommen werden durch – den Spruchkörper, also den vollbesetzten Senat (drei Berufsrichter einschließlich des Vorsitzenden und den beiden ehrenamtlichen Richtern), bzw. den Einzelrichter, – einen vom Senat beauftragten oder ersuchten Richter (§ 81 Abs. 2 FGO), sofern ein geeigneter Fall für eine entsprechende Beweisaufnahme vorliegt, – den Vorsitzenden oder Berichterstatter vor der mündlichen Verhandlung im vorbereitenden Verfahren (§ 79 Abs. 3 i. V. m. § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO), – einen beauftragten Sachverständigen, – den gerichtseigenen Prüfungsbeamten als Augenscheinsgehilfen des Gerichts.2

3.941 Die Beteiligten sind verpflichtet, die Augenscheinseinnahme zu dulden. Diese Verpflichtung kann allerdings nicht erzwungen werden. Weigert sich der Beteiligte, so kann das Gericht hieraus für den betreffenden Beteiligten ungünstige Schlüsse ziehen.3

1 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 13. 2 Vgl. Seer, Der Einsatz von Prüfungsbeamten durch das Finanzgericht, S. 267 f. 3 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 19.

306

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.946 Kap. 3

cc) Zeugen Zeuge ist eine Person, die aufgrund ihrer Wahrnehmungen etwas über Tatsachen und Zustände bekunden kann. Zeugen können nur am Prozess nicht beteiligte Dritte sein. Ein Beteiligter kann nicht als Zeuge aussagen. Der gesetzliche Vertreter des Klägers kann deshalb nicht als Zeuge, sondern lediglich als Partei vernommen werden (z. B. Geschäftsführer einer GmbH, s. Rz. 3.951 ff.).

3.942

dd) Sachverständige Sachverständige sind Personen, die dem Richter auf seine Anordnung hin die ihm fehlende Kenntnis von Erfahrungssätzen übermitteln, aus einem feststehenden Sachverhalt Schlussfolgerungen ziehen oder aufgrund ihrer besonderen Sach- und Fachkunde Tatsachen feststellen. Die Zuziehung von Sachverständigen ermöglicht es dem Gericht, sich auf die besondere Sachkunde anderer Personen zu stützen. Diese Sachkunde kann in der Beherrschung bestimmter Wissenschaften liegen oder in Erfahrungen und Kenntnissen auf bestimmten Gebieten.

3.943

Wie aus der Einordnung des Sachverständigen als Beweismittel hervorgeht, hat er den Richter bei der Feststellung von Tatsachen zu unterstützen. Das Gutachten des Sachverständigen hat sich deshalb in jedem Fall auf Tatsachen zu beschränken; die rechtliche Würdigung ist einzig und allein Aufgabe des Gerichts.

3.944

Der Sachverständige kann gem. § 82 FGO i. V. m. § 406 Abs. 1 ZPO aus Gründen, die zur Ausschließung eines Richters führen (§ 41 ZPO – s. Rz. 3.855) oder wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 42 ZPO – s. Rz. 3.858 ff.) abgelehnt werden, und zwar dann, wenn ein Anlass vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Gründe für ein derartiges Misstrauen sind vorhanden, wenn ein Beteiligter von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger, objektiver Betrachtung davon ausgehen kann, der Sachverständige werde sein Gutachten nicht unvoreingenommen abgeben. Fehlende Sachkompetenz begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit.1 Im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung ist die Ablehnung gem. § 82 FGO i. V. m. § 406 Abs. 2 1 ZPO innerhalb einer Zweiwochenfrist nach Verkündung oder Zustellung des Ernennungsbeschlusses zu beantragen; und zwar auch, wenn schriftliche Begutachtung angeordnet worden ist.2 Nach Ablauf der Zweiwochenfrist gilt der Antrag nur dann als rechtzeitig gestellt, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, die Frist unverschuldet versäumt zu haben. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Gründe für ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen erst aus dem Inhalt des Gutachtens abgeleitet oder dem Antragsteller aus anderen Gründen erst später bekannt werden oder gar erst später entstanden sind.3 Der Antrag ist in diesem Fall analog § 121 BGB unverzüglich nach Wegfall des Hinderungsgrundes zu stellen.4

3.945

Nach § 88 FGO kann ein Sachverständiger auch dann abgelehnt werden, wenn dessen Heranziehung eine Verletzung des Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses oder Schaden für die geschäftliche Tätigkeit eines Beteiligten befürchten lässt.

3.946

1 BFH v. 20.8.2008 – II B 4/07, juris. 2 Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 68; Stiepel in Beermann/Gosch, § 82 FGO Rz. 156. 3 Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 68; BFH v. 29.3.1999 – V B 140/98, BFH/NV 1999, 1241 m. w. N. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 68.

Schaumburg

307

Kap. 3 Rz. 3.947

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ee) Urkunden

3.947 Unter Urkunden sind schriftliche Gedankenäußerungen zu verstehen. Öffentliche Urkunden sind Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person – z. B. einem Notar – innerhalb ihres Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen worden sind (§ 415 Abs. 1 ZPO). Letzteren kommt ein hoher Beweiswert zu: Nach allgemeinen Erfahrungssätzen erbringen sie im Regelfall vollen Beweis für die in ihr beurkundeten Tatsachen.

3.948 So erbringt gem. § 418 Abs. 1 ZPO der Eingangsstempel einer Behörde oder eines Gerichts grundsätzlich den vollen Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreibens.1 Der nach § 418 Abs. 2 ZPO zu erbringende Gegenbeweis der Unrichtigkeit einer öffentlichen Urkunde erfordert den vollen Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Bloße Zweifel an der Richtigkeit der urkundlichen Feststellungen genügen nicht, vielmehr muss zur Überzeugung des Gerichts jegliche Möglichkeit ihrer Richtigkeit ausgeschlossen sein. Der Inhalt der Richtigkeit des Eingangsstempels kann also u. U. widerlegt werden.2

3.949 Auch die Postzustellungsurkunde ist eine öffentliche Urkunde i. S. von § 418 Abs. 1 ZPO, die den vollen Beweis für die darin bezeugten Tatsachen erbringt.3 Auch hier kann der Gegenbeweis i. S. von § 418 Abs. 2 ZPO grundsätzlich nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden kann. Dafür reicht in der Praxis die bloße Behauptung, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, nicht aus, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufes, der ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Erforderlich ist der volle Gegenbeweis in der Weise, dass die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde vollständig entkräftet und jede Möglichkeit der Richtigkeit der in ihr bezeugten Tatsachen ausgeschlossen wird.4 ff) Gerichtseigene Prüfungsbeamte

3.950 Es handelt sich bei diesen Prüfungsbeamten um Bedienstete des Finanzgerichts, die meist mit der Überprüfung nicht beweiskräftiger Buchführungen betraut werden, die die Finanzämter zu Zuschätzungen oder Vollschätzungen veranlasst haben. In derartigen Fällen wird der Prüfungsbeamte zumeist von dem Senat durch Beweisbeschluss eingesetzt, das Zahlenwerk der Buchführung auf formelle oder materielle Mängel zu überprüfen, zu den von den Finanzämtern vorgenommenen Teil- und Vollschätzungen Stellung zu nehmen und ggf. aufgrund neuer Erkenntnisse aus einem inneren Betriebsvergleich, Geldverkehrsrechnungen oder Vermögenszuwachsrechnungen eigene Schätzungsvorschläge zu erarbeiten. Der aufgrund förmlichen Beweisbeschlusses eingesetzte Prüfungsbeamte beim Finanzgericht ist Sachverständiger.5 Das hat zur Folge, dass er von den Beteiligten als befangen abgelehnt wer1 BFH v. 9.8.2004 – VI B 79/02, BFH/NV 2004, 1548. 2 BFH v. 29.3.2005 – IX B 236/02, n. v. 3 BFH v. 12.12.2013 – X B 205/12, BFH/NV 2014, 490; v. 24.4.2007 – VIII B 249/05, BFH/NV 2007, 1465. 4 BFH v. 24.4.2007 – VIII B 249/05, BFH/NV 2007, 1465 m. w. N. 5 BFH v. 6.5.2011 – V B 8/11, BFH/NV 2011, 1522; v. 2.8.2005 – IV B 185/03, BFH/NV 2005, 2224 m. w. N.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.955 Kap. 3

den kann, wenn die Voraussetzungen des § 82 FGO i. V. m. §§ 406 Abs. 1, 42 ZPO erfüllt sind.1 gg) Beteiligtenvernehmung Das Gericht hört den Kläger oder dessen gesetzlichen Vertreter als Partei regelmäßig ohne förmliche Beweisaufnahme nur informatorisch an. Es handelt sich um die Anhörung des Klägers und die Gewährung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist nicht Partei. Er wird, sofern erforderlich, als Zeuge vernommen.

3.951

Die förmliche Vernehmung des Klägers als Partei, d. h. die Beteiligtenvernehmung (§§ 81 Abs. 1, 82 FGO i. V. m. §§ 450 ff. ZPO), ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH2 nur ein letztes Hilfsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts, wenn trotz Ausschöpfung aller anderen Beweismittel noch Zweifel bestehen. Sie dient nicht dazu, dem Beteiligten Gelegenheit zu geben, seine eigenen Behauptungen zu bestätigen und ggf. zu beeiden, sondern sie soll die letzten Zweifel des Gerichts beseitigen. Die Gerichte sind in der Praxis bekanntermaßen mit der Parteivernehmung, insbesondere wenn sie unter Eid erfolgen soll, sehr zurückhaltend. Sie kann unterbleiben, wenn sich das Gericht mit Hilfe anderer Beweismittel eine Überzeugung bilden kann oder wenn keine Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Vorbringens spricht.3 Die Parteivernehmung des Klägers kommt also nur dann in Betracht, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit von dessen Behauptungen besteht. Auf die Beteiligtenvernehmung kann das Gericht also verzichten, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann.4

3.952

Sofern eine unterlassene Parteivernehmung als Verfahrensmangel gerügt werden soll, muss dieser Mangel zu Protokoll gerügt und dargelegt werden, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich durch eine Parteivernehmung voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern diese gegebenenfalls zu einer anderen Entscheidung des Finanzgerichts hätten führen können.5

3.953

f) Durchführung der Beweisaufnahme Gem. § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO erhebt das Gericht grundsätzlich Beweis in der mündlichen Verhandlung. Hierfür ist kein vorheriger Beweisbeschluss erforderlich;6 allerdings wird ein solcher in der Regel ergehen.

3.954

Für die Praxis besonders wichtig ist die Beweisaufnahme durch die Vernehmung von Zeugen. Hier gelten gem. § 82 FGO die Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend. Die Beteiligten werden von allen Beweisterminen benachrichtigt (§ 83 Satz 1 FGO). Die Zeugen werden zum Beweistermin normalerweise unter Bezugnahme auf den Beweisbeschluss und unter dessen Beifügung geladen. Dabei muss die Ladung die Bezeichnung der Parteien, den Gegenstand der Vernehmung sowie die Aufforderung enthalten, zur Ablegung des Zeugnisses bei Vermeidung der durch das Gesetz angedrohten Ordnungsmittel zu dem genau bezeichneten Termin zu erscheinen (vgl. § 377 ZPO). Diese Aufforderung ist wichtig, weil einem

3.955

1 2 3 4 5 6

BFH v. 29.3.1999 – V B 140/98, BFH/NV 1999, 1241. BFH v. 19.7.2010 – X B 21/10, BFH/NV 2010, 2093. St. Rspr., BFH v. 3.3.2006 – IV B 127/04, BFH/NV 2006, 1133. BFH v. 19.7.2010 – X B 21/10, BFH/NV 2010, 2093. BFH v. 28.11.2008 – VIII B 228/07, ZSteu 2009, R240. BFH v. 11.9.2013 – XI B 111/12, BFH/NV 2013, 1944.

Schaumburg

309

Kap. 3 Rz. 3.956

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ordnungsgemäß geladenen Zeugen, der nicht erscheint, die durch das Ausbleiben verursachten Kosten auferlegt werden können, ohne dass ein entsprechender Antrag erforderlich ist (§ 380 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Ferner kann gegen ihn dann Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft festgesetzt werden (§ 380 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Das Ordnungsgeld ist auch dann festzusetzen, wenn, die Zeugenaussage z. B. aufgrund der Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache nicht mehr nötig ist.1 Die Festsetzung des Ordnungsmittels unterbleibt, wenn der Zeuge sein Ausbleiben genügend entschuldigt; erfolgt die genügende Entschuldigung nachträglich, so wird das gegen den Zeugen festgesetzten Kosten und das Ordnungsgeld wieder aufgehoben (§ 381 Abs. 1 ZPO).2

3.956 Die Versäumung eines Termins durch einen ordnungsgemäß geladenen Zeugen ist nach ständiger Rechtsprechung nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe genügend entschuldigt.3 Als derartige Entschuldigungsgründe werden nur äußere Ereignisse anerkannt, die den Zeugen ohne sein Zutun von der Wahrnehmung des Termins abgehalten haben, wie z. B. eine Betriebsstörung von Verkehrsmitteln, eine eigene Erkrankung oder eine schwere Erkrankung eines seiner nächsten Angehörigen. Der allein durch ein privatärztliches Attest belegte Umstand, der Zeuge sei am Verhandlungstag arbeitsunfähig gewesen, genügt dafür nicht, denn ein arbeitsunfähiger Zeuge kann gleichwohl verhandlungs- und reisefähig sein.4 Selbst die Dauererkrankung eines Zeugen vermag sein Ausbleiben nur dann genügend zu entschuldigen, wenn ihm dadurch ein Erscheinen vor Gericht unzumutbar wird.5

3.957 Wenn das Gericht es im Hinblick auf den Inhalt der Beweisfrage und die Person des Zeugen für ausreichend erachtet, kann das Gericht eine schriftliche Beantwortung der Beweisfrage anordnen, allerdings unter Hinweis darauf, dass der Zeuge zur Vernehmung geladen werden kann (§ 377 Abs. 3 ZPO). Eine schriftliche Zeugenaussage kann eine mündliche Zeugenaussage vor dem Prozessgericht ersetzen.6 Ein geeigneter Fall liegt vor, wenn der Zeuge die beweiserhebliche Auskunft voraussichtlich anhand seiner Bücher oder anderer Aufzeichnungen geben kann.7

3.958 Vor seiner Vernehmung wird der Zeuge belehrt, d. h., er wird zur Wahrheit ermahnt und darauf hingewiesen, dass er in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen u. U. seine Aussage zu beeidigen hat (§ 395 Abs. 1 ZPO). Die Vernehmung beginnt mit Fragen zur Person, der Zeuge wird über Vornamen und Zunamen, Alter, Stand oder Gewerbe und Wohnort befragt. Erforderlichenfalls sind ihm auch Fragen über solche Umstände, die seine Glaubwürdigkeit in der Streitsache betreffen, insbesondere über seine Beziehungen zu den Parteien, zu stellen (§ 395 Abs. 2 ZPO). Alsdann wird der Zeuge zur Sache vernommen. Er wird veranlasst, zu dem Gegenstand seiner Vernehmung im Zusammenhang auszusagen. Zur Aufklärung und zur Vervollständigung seiner Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem die Wahrnehmung des Zeugen beruht, sind ggf. weitere Fragen zu stellen (§ 396 ZPO). 1 BFH v. 11.9.2013 – XI B 111/12, BFH/NV 2013, 1944; v. 17.3.2011 – III B 46/11, BFH/NV 1004. 2 BFH v. 17.3.2011 – III B 46/11, BFH/NV 2011, 1004; v. 7.3.2007 – X B 76/06, BStBl. II 463. 3 BFH v. 11.9.2013 – XI B 111/12, BFH/NV 2013, 1944; v. 17.3.2011 – III B 46/11, BFH/NV 1004 m. w. N. 4 BFH v. 17.3.2011 – III B 46/11, BFH/NV 2011, 1004. 5 BFH v. 17.3.2011 – III B 46/11, BFH/NV 2011, 1004; v. 14.1.1998 – II B 34/97, BFH/NV 864. 6 BFH v. 11.12.1997 – VIII B 21/97, BFH/NV 1998, 975. 7 Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 36.

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Schaumburg

2011, 2007, 2011, 1998,

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.963 Kap. 3

Nach Vernehmung des Zeugen durch das Gericht haben auch die Beteiligten ein unmittelbares Fragerecht (§ 83 Satz 2 FGO). Der Kläger bzw. sein Bevollmächtigter sollten bei einer Beweisaufnahme durch das Gericht in der Praxis unbedingt dabei sein. Sie sollten sich nicht scheuen, an den Zeugen sachdienliche Fragen zu richten. Die Fragen müssen allerdings beweiserheblich sein. Sie müssen also geeignet sein, die Sachaufklärung unmittelbar oder mittelbar zu fördern. Weist das Gericht eine solche Frage zu Unrecht zurück, kann darin ein Verfahrensmangel i. S. des § 119 Nr. 3 FGO (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör) liegen, der nach entsprechender Rüge zu Protokoll mit der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).1

3.959

Eine schlüssige Verfahrensrüge setzt voraus, dass der Beschwerdeführer darlegt, weshalb er selbst nicht in der Lage war, auf entsprechende Fragen hinzuwirken, und/oder weshalb sich dem Finanzgericht die Notwendigkeit weiterer Befragung angesichts des bisherigen Sachstandes hätte aufdrängen müssen.2 Diese ausdrückliche Rüge ist in der Praxis erforderlich, weil ein Beteiligter (ausdrücklich oder stillschweigend) auf sein Fragerecht verzichten kann, was grundsätzlich zum Verlust des Rügerechts führt (vgl. § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO).3

3.960

§ 160 Abs. 4 ZPO gibt den Beteiligten das Recht, dass bestimmte Vorgänge oder Äußerungen in das Protokoll aufgenommen werden. Bei der Protokollierung von Zeugenaussagen ist in der Praxis deshalb besondere Aufmerksamkeit geboten, da die Aussage vom Richter nicht wörtlich, sondern teilweise zusammenfassend sinngemäß protokolliert wird. Kommt es nach Auffassung eines Beteiligten auf ganz bestimmte Formulierungen des Zeugen an, so muss dies sofort geltend gemacht und die nicht zutreffende Protokollierung ggf. sofort gerügt werden, so dass dieser Vorgang auf diese Weise – mittelbar – im Protokoll erscheint.

3.961

Nach der Beweisaufnahme ist das Gericht verpflichtet, über deren Ergebnis zu verhandeln und erneut den Sach- und Streitstand zu erörtern (§ 155 Satz 1 FGO i. V. m. §§ 285 Abs. 1, 279 Abs. 3 ZPO). Wird den Beteiligten diese Möglichkeit zur abschließenden Stellungnahme durch das Gericht versagt, so liegt regelmäßig ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör vor.4

3.962

g) Zeugnisverweigerungsrecht Literatur: Becherer, Der Schutz des Berufsgeheimnisses bei Steuerberatern in Deutschland, IStR 2010, 555; Christ, Zeugnisverweigerungsrechte und Schweigepflicht der steuerberatenden Berufe, INF 2003, 36; Frommel/Füger, Das Auskunftsverweigerungsrecht im Steuerverfahren und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, StuW 1995, 58; Günther, Richterablehnung wegen „Häufung von Verfahrensfehlern“, DRiZ 1994, 374; Lohmeyer, Das Auskunftsverweigerungsrecht des Steuerberaters, StB 1989, 289; Lohmeyer, Das Auskunftsverweigerungsrecht zum Schutz bestimmter Berufsgeheimnisse, Stbg 1983, 316.

Zeugen sind unter Umständen berechtigt, ihr Zeugnis zu verweigern. Für das Recht zur Verweigerung des Zeugnisses und die Pflicht zur Belehrung über die Zeugnisverweigerung gelten nach § 84 Abs. 1 FGO nicht die Vorschriften der ZPO, sondern die §§ 101-103 AO sinngemäß. Danach sind Angehörige i. S. des § 15 AO eines Beteiligten berechtigt, die Aussage

1 BFH v. 29.1.2014 – III B 106/13, BFH/NV 2014, 705. 2 BFH v. 29.1.2014 – III B 106/13, BFH/NV 2014, 705; v. 28.1.1993 – X B 80/92, BFH/NV 1994, 108. 3 BFH v. 29.1.2014 – III B 106/13, BFH/NV 2014, 705. 4 BFH v. 18.8.2015 – III B 112/14, BFH/NV 2015, 1595 m. w. N.

Schaumburg

311

3.963

Kap. 3 Rz. 3.964

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

zu verweigern, soweit sie nicht selbst als Beteiligte über ihre eigenen steuerlichen Verhältnisse auskunftspflichtig sind oder die Auskunftspflicht für einen Beteiligten zu erfüllen haben.

3.964 Angehörige i. S. des § 15 AO1 sind – der Verlobte, auch i. S. des Lebenspartnerschaftsgesetzes, – der Ehegatte oder Lebenspartner, – Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, – Geschwister, – Kinder der Geschwister, – Ehegatten oder Lebenspartner der Geschwister und Geschwister der Ehegatten oder Lebenspartner, – Geschwister der Eltern, – Personen, die durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Eltern und Kind miteinander verbunden sind (Pflegeeltern und Pflegekinder).

3.965 Diese Personen sind über ihr Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren (§ 84 Abs. 1 FGO i. V. m. § 101 Abs. 1 Satz 2 AO). Eine ohne Belehrung erteilte Auskunft eines Angehörigen darf vom Gericht nicht verwertet werden.2 Ein Verstoß gegen das Beweisverwertungsverbot kann als Verfahrensmangel gerügt werden. Allerdings können die Beteiligten hierauf verzichten (§ 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO).3 In der Praxis ist deshalb zu beachten, dass bereits die rügelose Verhandlung zur Sache und damit das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge einen Rügeverzicht bedeutet.4

3.966 Außerdem können gem. § 84 Abs. 1 FGO i. V. m. § 102 AO die Auskunft zum Schutz bestimmter Berufsgeheimnisse verweigern: – Geistliche über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekannt geworden ist, – Mitglieder des Bundestages, des Landtages oder einer zweiten Kammer, d. h. des Bundesrates,5 über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Organe oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst, – Verteidiger, Rechtsanwälte,6 Patentanwälte, Notare, Steuerberater,7 Wirtschaftsprüfer, Steuerbevollmächtigte, vereidigte Buchprüfer, Ärzte, Zahnärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Apotheker und Hebammen

1 I. d. F. des Änderungsgesetzes v. 18.7.2014. 2 BFH v. 9.2.2010 – VIII B 32/09, BFH/NV 2010, 929 m. w. N. 3 BFH v. 9.2.2010 – VIII B 32/09, BFH/NV 2010, 929; v. 27.9.2007 – IX B 19/07, BFH/NV 2008, 27. 4 BFH v. 9.2.2010 – VIII B 32/09, BFH/NV 2010, 929 m. w. N. 5 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 102 AO Rz. 7. 6 Vgl. dazu BFH v. 28.10.2009 – VIII R 78/05, BStBl. II 2010, 455. 7 Vgl. dazu BFH v. 14.5.2002 – IX R 31/00, BStBl. II 2002, 712.

312

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.969 Kap. 3

über das, was ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist sowie – Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von periodischen Druckwerken oder Rundfunksendungen berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben über die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns von Beiträgen und Unterlagen sowie über die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachten Mitteilungen, soweit es sich um Beiträge, Unterlagen und Mitteilungen für den redaktionellen Teil handelt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die in § 102 AO genannten Personen ihr Auskunftsverweigerungsrecht als Geheimnisträger kennen. Eine ausdrückliche Belehrungspflicht durch das Gericht hinsichtlich dieses sog. partiellen Zeugnisverweigerungsrechts ist weder in der FGO noch in der AO vorgesehen. In der Praxis wird es aber teilweise angesprochen. Allerdings kann nicht vertraut werden, dass dies geschieht. Denn die fehlende richterliche Belehrung begründet keinen Verfahrensverstoß. Das Recht die Auskunft zu verweigern, ist ein höchstpersönliches Recht des Berufsträgers, über dessen Ausübung er eigenverantwortlich entscheiden muss. Der Kläger hat keinen verfahrensrechtlichen Anspruch darauf, dass der als Zeuge geladene Geheimnisträger auch von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch macht und schweigt – und zwar selbst dann nicht, wenn er sich durch eine Aussage möglicherweise nach § 203 StGB (Verletzung von Privatgeheimnissen) strafbar macht oder seine berufsrechtliche Verschwiegenheitspflicht nach § 57 StBerG verletzt.1 Auskünfte, die ein Berufsträger freiwillig macht, obwohl er nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht entbunden und nach § 102 AO 1977 zu einer Auskunftsverweigerung berechtigt ist, sind grundsätzlich auch verwertbar.2

3.967

Darüber hinaus haben, was besonders wichtig ist, gem. § 84 Abs. 1 FGO i. V. m. § 103 AO Personen,

3.968

– die nicht Beteiligte – und nicht für einen Beteiligten auskunftspflichtig sind, ein Auskunftsverweigerungsrecht auf solche Fragen, deren Beantwortung sie selbst oder einen ihrer Angehörigen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens wegen einer Ordnungswidrigkeit aussetzen würde. Über dieses Recht ist dieser Personenkreis gem. § 103 Satz 2 AO zu belehren. Dies gilt nur für eine strafrechtliche oder bußgeldrechtliche Verfolgung, nicht aber für den Fall, dass die Auskunft lediglich zu einer höheren Besteuerung führt, da insoweit ohnehin eine Mitwirkungspflicht besteht.3 Nach dieser Regelung steht dem Auskunftsverpflichteten zur Vermeidung einer Selbstbelastung kein umfassendes, sondern nur ein gegenständlich beschränktes Auskunftsverweigerungsrecht zu. Zur Verweigerung einer insgesamt verlangten Auskunft berechtigt § 103 AO jedoch dann, wenn die geforderte Auskunft nicht in einzelne Fragen aufgeteilt werden kann oder wenn die geforderte Auskunft in einem so engen Zusammenhang mit einem möglicherweise strafbaren oder ordnungswidrigen Verhalten steht, dass nichts übrig bleibt, was beantwortet werden könnte, ohne dass die Auskunftsperson sich oder einen Angehörigen belasten

1 BFH v. 1.2.2001 – XI B 11/00, BFH/NV 2001, 811 m. w. N. aus Rspr. und Literatur. 2 BFH v. 1.2.2001 – XI B 11/00, BFH/NV 2001, 811 m. w. N.; kritisch hierzu zu Recht Seer in Tipke/ Kruse, § 102 AO Rz. 28. 3 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 103 AO Rz. 4.

Schaumburg

313

3.969

Kap. 3 Rz. 3.970

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

würde.1 In diesen Fällen führt das Recht, die Beantwortung einzelner Fragen zu verweigern, im Ergebnis ausnahmsweise zu einer berechtigten Verweigerung der verlangten Auskunft in vollem Umfang.2 In der Praxis sollte in diesen Fällen die Aussage nicht nur auf einzelne Fragen, sondern möglichst umfassend zu dem Beweisthema verweigert werden, damit keine weiteren Rückschlüsse gezogen werden können. Denn eine Gefahr droht bereits, wenn nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung besteht. Dies ist auch dann der Fall, wenn aufgrund der Aussage in Verbindung mit anderen Umständen ein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet werden könnte.3

3.970 Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Tatsachen, auf die der Zeuge sein Zeugnisverweigerungsrecht stützen will, weder angegeben noch glaubhaft gemacht werden, wenn schon der Inhalt der Beweisfrage den Weigerungsgrund glaubhaft macht. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass bereits bei einem prozessual ausreichenden Anfangsverdacht die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung droht und damit das Zeugnisverweigerungsrecht ausgelöst wird.4

3.971 Über die Rechtmäßigkeit der Zeugnisverweigerung ist, sofern dies durch einen der Beteiligten beantragt wird oder das Gericht selbst die Aussage anordnen will, durch Zwischenurteil zu entscheiden (§ 82 FGO i. V. m. § 387 Abs. 3 ZPO).5 Das Zwischenurteil ergeht gegenüber den Parteien des (Haupt-)Prozesses sowie gegenüber dem die Aussage verweigernden Zeugen, der insoweit für das Zwischenverfahren Nebenbeteiligter ist.6 Gegen das Zwischenurteil findet entsprechend § 387 Abs. 3 ZPO die Beschwerde statt, der das Finanzgericht nicht abhelfen kann.7

3.972 Die als Zeuge vernommene Person muss damit rechnen, dass sie auf ihre Aussage den Eid leisten und an Eides Statt erklären muss, dass sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.

3.973 Die eidliche Falschaussage ist ebenso wie die uneidliche falsche Aussage mit Strafe bedroht (§§ 154 und 153 StGB). 9. Videokonferenz Literatur: Burkhard, § 91a FGO: Mündliche Verhandlung per Videokonferenz, DStZ 2003, 639; Heide Schaumburg, Mündliche Verhandlung per Videokonferenz, ZRP 2002, 313; Seibel, Die Videokonferenz im FG-Verfahren, AO-StB 2001, 147; Seibel, Videokonferenz und Datenschutz, AO-StB 2001, 184; Sensburg, Videokonferenztechnik: Einsatz verbessert und beschleunigt Verfahren, DRiZ 2013, 125.

3.974 Nach § 91a Abs. 1 FGO kann das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten oder Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Dies bedeutet, dass mündliche Verhandlungen auch in der Weise durchgeführt werden können, 1 BFH v. 7.5.2007 – X B 167/06, BFH/NV 2007, 1524 unter Hinweis auf BFH v. 13.4.1988 – V B 158/87, BFH/NV 1989, 82. 2 BFH v. 7.5.2007 – X B 167/06, BFH/NV 2007, 1524. 3 Seer in Tipke/Kruse, § 103 AO Rz. 10. 4 BFH v. 7.5.2007 – X B 167/06, BFH/NV 2007, 1524 m. w. N. 5 Vgl. ausführlich Stiepel in HHSp, § 103 AO Rz. 20 ff. 6 BFH v. 17.3.1997 – VIII B 41/96, BFH/NV 1997, 736. 7 BFH v. 7.5.2007 – X B 167/06, BFH/NV 2007, 1524 m. w. N.

314

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.977 Kap. 3

dass Beteiligte und/oder deren Vertreter zur mündlichen Verhandlung per Videokonferenz zugeschaltet werden. § 91a Abs. 1 Satz 2 FGO geht vom Bild einer virtuellen mündlichen Verhandlung aus. Die Beteiligten können, sofern das Gericht die Zuschaltung gestattet, auch in diesem Fall wirksame Verfahrenshandlungen vornehmen, also z. B. Prozesserklärungen abgeben oder Anträge stellen, ohne dass sie persönlich im Gerichtssaal erscheinen müssen. Diese Vorschrift, die die Benutzung moderner Technologien im Gerichtssaal möglich machen soll, gibt den Beteiligten keinen Anspruch darauf, dass diese mit Blick auf § 30 AO sichere Technik vom Gericht vorgehalten wird.1 Eine Zuschaltung über das Internet ist nicht möglich, da die Videokonferenzanlagen der Gerichte aus Sicherheitsgründen nur über die Landesdatennetze betrieben werden.2 Eine Zuschaltung Dritter – als Öffentlichkeit – kommt nicht in Betracht. Die Öffentlichkeit kann die Verhandlung vom Sitzungsraum aus verfolgen. Das Gericht kann den Beteiligten auf Antrag gestatten, sich per Videokonferenz an der mündlichen Verhandlung zu beteiligen. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung, die durch Beschluss des Gerichts (Senats, Einzelrichters) erfolgt. Bei der Ermessensentscheidung sind zu berücksichtigen das Interesse des Antragstellers einerseits, sich zur mündlichen Verhandlung von einem dritten Ort aus zuschalten zu lassen (z. B. Gesundheitszustand, Zeit- und Kostenersparnis u. ä.) und das Interesse an einem ordnungsgemäßen Ablauf der mündlichen Verhandlung unter Beachtung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit andererseits.3 Der Beschluss, die beantragte Videoschaltung zuzulassen oder abzulehnen, ist nicht anfechtbar (§ 91a Abs. 3 Satz 2 FGO).4 Allerdings kann die Entscheidung, sofern sie fehlerhaft ist und zu einem Verfahrensfehler führt, incidenter im Rahmen der Revision überprüfbar sein (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).5

3.975

Lässt das Gericht es zu, dass die Beteiligten an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz teilnehmen, muss das Gericht aber nicht auch für die Möglichkeit einer Zuschaltung durch eine geeignete Videokonferenzanlage sorgen; hierum müssen sich vielmehr die Beteiligten selbst kümmern, wenn sie davon Gebrauch machen wollen.6

3.976

Lässt sich die gestattete Videoschaltung nicht durchführen – die Schaltung kommt z. B. wegen Überlastung der Leitungen nicht zustande oder es liegt ein technischer Defekt vor –, so liegt regelmäßig ein erheblicher Grund für eine Vertagung vor, da der nicht persönlich anwesende Beteiligte bzw. dessen Vertreter auf die Zuschaltung vertraut hat.7 Andernfalls könnte die Durchführung der mündlichen Verhandlung ohne den zugeschalteten Beteiligten eine Versagung des rechtlichen Gehörs bedeuten und damit zu einem absoluten Revisionsgrund (§ 119 Abs. 2 Nr. 3 FGO) führen.

3.977

1 2 3 4

BFH v. 18.7.2016 – VI B 128/15, juris; ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 2. S. www.fg-duesseldorf.nrw.de/aufgaben/videokonferenz. Ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 6. BFH v. 27.3.2003 – VI B 77/02, BFH/NV 2003, 818; Brandt in Beermann/Gosch, § 128 FGO Rz. 94; Seer in Tipke/Kruse, § 128 FGO Rz. 25. 5 Vgl. dazu BFH v. 19.1.2006 – VII B 300/05, BFH/NV 2006, 960; Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 11 m. w. N. 6 BFH v. 18.7.2016 – VI B 128/15, juris. 7 Ebenso Schallmoser in HHSp, § 91a FGO Rz. 42; Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 10 m. w. N.; differenzierend Schmieszek in Beermann/Gosch, § 91 FGO Rz. 44, der darauf abstellt, in wessen Sphäre der technische Fehler liegt.

Schaumburg

315

Kap. 3 Rz. 3.978

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.978 Nach § 91a Abs. 3 FGO findet eine Aufzeichnung der Videokonferenz nicht statt. Hierbei handelt es sich um eine eindeutige gesetzliche Anordnung, die nicht disponibel ist.1 Ein Verstoß hiergegen führt zu einem Verwertungsverbot.2

3.979 Bei Erörterungsterminen nach § 79b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FGO (s. Rz. 3.734 ff.) ist die Zuschaltung per Videokonferenz unter den gleichen Voraussetzungen möglich (§ 91a Abs. 4 FGO).

3.980 § 91a Abs. 2 FGO sieht die Möglichkeit vor, Zeugen, Sachverständige und Beteiligte im Wege der Videokonferenz zu vernehmen (Videovernehmung). Die Entscheidung des Gerichts ist auch hier eine Ermessensentscheidung, die durch unanfechtbaren Beschluss erfolgt (§ 91a Abs. 3 FGO). Gesichtspunkte, die hierbei zu berücksichtigen sind, sind neben dem ordnungsgemäßen Ablauf der mündlichen Verhandlung und der Sicherheit der Datenübertragung auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der Umstand, dass der persönliche Eindruck durch die Zwischenschaltung eines technischen Mediums beeinträchtigt oder auch verfälscht werden kann. Die Aussagen sind wie bei einer normalen Zeugenvernehmung im Gerichtssaal zu protokollieren und dürfen nicht aufgezeichnet werden (§ 91 Abs. 3 Satz 1 FGO).

3.981 Eine Zuschaltung aus dem Ausland setzt den Abschluss entsprechender Rechtshilfeabkommen mit den ausländischen Staaten für das finanzgerichtliche Verfahren voraus.3 Solche wären sinnvoll, liegen bisher aber noch nicht vor.

3.982 Fragt das Gericht an, ob die Beteiligten einen Antrag auf eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz stellen wollen, so sollte in der Praxis Folgendes überlegt werden: Natürlich dient eine Verhandlung per Videokonferenz der Zeit- und Kosteneinsparung. Grundsätzlich empfiehlt es sich für den Kläger bzw. seinen Berater dennoch, im Gerichtssaal bei der mündlichen Verhandlung persönlich anwesend zu sein. Dies gilt vor allem, wenn es auf den persönlichen Eindruck ankommt. Ein Antrag oder das Einverständnis zu einer Videokonferenz sollte deshalb nur dann erklärt werden, wenn der Sachverhalt unstreitig ist und es lediglich um Rechtsfragen geht. Werden in der mündlichen Verhandlung Zeugen vernommen, sollte auf eine persönliche Anwesenheit nicht verzichtet werden, damit auch persönlich – „Auge in Auge“ – Fragen unmittelbar gestellt werden können. 10. Verhandlungsprotokoll Literatur: Krömker/Beckmann, Das Sitzungsprotokoll im FG-Prozess, AO-StB 2005, 81; Rößler, Zuständigkeit für die Berichtigung des Protokolls der mündlichen Verhandlung, DStZ 1994, 255; Sangmeister, Aufnahme und Inhalt des gerichtlichen Protokolls unter Mitberücksichtigung des Finanzgerichtsprozesses, StJ 1994, 43; Wüllenkemper, Zuständigkeit bei nach Schluss der mündlichen Verhandlung gestelltem Antrag auf Protokollberichtigung, DStZ 2004, 488.

3.983 Über die mündliche Verhandlung und jede Beweisaufnahme ist ein Protokoll anzufertigen (§ 94 FGO i. V. m. § 159 Abs. 1 ZPO). Das Protokoll enthält

1 Ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 9; Schallmoser in HHSp, § 91a FGO Rz. 40; a. A. Schmieszek in Beermann/Gosch, § 91a FGO Rz. 41. 2 Ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 9. 3 Heide Schaumburg, ZRP 2002, 313 (315); Seibel, AO-StB 2001, 147 (150); Brandis in Tipke/Kruse, § 91a FGO Rz. 2 m. w. N.

316

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.986 Kap. 3

– den Ort und den Tag der Verhandlung, – die Namen der Richter, des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und eines etwa zugezogenen Dolmetschers, – die Bezeichnung des Rechtsstreits, – die Namen der erschienenen Beteiligten, Bevollmächtigten, Zeugen und Sachverständigen, – die Angabe, dass öffentlich verhandelt oder die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist. Außerdem sind in das Protokoll die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufzunehmen. Dies sind insbesondere

3.984

– die Anträge, – die Aussagen der Zeugen, Sachverständigen und vernommenen Beteiligten, – die Entscheidungen (Urteile, Beschlüsse und Verfügungen) des Gerichts, – die Verkündung der Entscheidungen, – die Erledigungserklärungen, – die Zurücknahme der Klage oder eines Rechtsmittels – der Verzicht auf Rechtsmittel. Das Protokoll hat gem. § 94 FGO i. V. m. § 165 ZPO eine erhöhte Beweiskraft für die Wahrung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen prozessualen Förmlichkeiten.1 Dies wird von den Beteiligten häufig unterschätzt.2 Diese Beweiskraft kann nur durch den Nachweis der Fälschung widerlegt werden (§ 94 FGO i. V. m. § 165 Satz 2 ZPO). Sind in dem Protokoll bestimmte Vorgänge nicht erwähnt (z. B. Antrag des Klägers auf Vertagung), so liefert das Protokoll den Beweis dafür, dass solche Vorgänge nicht stattgefunden haben.3 Deshalb sollte der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter darauf achten, dass alle Anträge und bspw. Rügen vollständig in das Protokoll aufgenommen werden.

3.985

Im Hinblick auf die Beweiskraft des Protokolls kann es wichtig sein, dass bestimmte Vorgänge im Protokoll erscheinen. Die Beteiligten können deshalb beantragen, dass bestimmte Vorgänge oder Äußerungen in das Protokoll aufgenommen werden (§ 94 FGO i. V. m. § 160 Abs. 4 Satz 1 ZPO), z. B. das ausdrückliche Bestreiten eines behaupteten Sachverhaltes oder das Aufrechterhalten eines Beweisantritts und die Rüge der unterlassenen Beweisaufnahme oder die Rüge eines sonstigen Verfahrensmangels. Der Beschluss, durch den die beantragte Aufnahme bestimmter Vorgänge in das Protokoll abgelehnt wird, ist unanfechtbar (§ 94 FGO i. V. m. § 160 Abs. 4 Satz 3).4 Er muss aber in das Protokoll aufgenommen werden, so dass auf diese Weise erreicht werden kann, dass der Vorgang oder die Äußerung jedenfalls auf diese Weise – mittelbar – im Protokoll erscheint.

3.986

1 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 2 und 14; Schallmoser in HHSp, § 94 FGO Rz. 7. 2 Mack, AO-StB 2004, 443. 3 BFH v. 30.6.2005 – X B 173/04, BFH/NV 2005, 1850; s. dazu auch Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 2; Schallmoser in HHSp, § 94 FGO Rz. 7. 4 Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 2 und 8.

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Kap. 3 Rz. 3.987

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.987 Das Protokoll ist von dem Vorsitzenden und von dem Protokollführer zu unterschreiben (§ 94 FGO i. V. m. § 163 ZPO).

3.988 Nach § 94 FGO i. V. m. § 164 ZPO können Unrichtigkeiten des Protokolls jederzeit berichtigt werden. Unrichtigkeit ist jeder Fahler, insbesondere jedwede Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Vorgängen und Äußerungen und dem in dem Protokoll festgehaltenen Inhalt.1 Die Ablehnung einer beantragten Protokollberichtigung, die auch schon während der mündlichen Verhandlung erfolgen kann, ergeht durch Beschluss des Vorsitzenden bzw. des Einzelrichters und ist nicht anfechtbar (§ 94 FGO i. V. m. § 160 Abs. 4 Satz 3 FGO).2

3.989 Wird der Antrag auf Protokollberichtigung nicht gestellt, so kann dies zu einem Rechtsverlust führen: Auf nicht protokollierte Verfahrensverstöße kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden.3 Wenn im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde die Richtigkeit der Sitzungsniederschrift in Zweifel gezogen wird, muss dargelegt werden, weshalb von der Möglichkeit eines Antrages auf Protokollberichtigung kein Gebrauch gemacht worden ist.4 Das lässt sich insofern schwierig begründen, als der abgelehnte Antrag an sich auch in das Protokoll aufgenommen werden müsste. Dies zeigt, wir wichtig es in der Praxis ist, darauf zu bestehen, dass bestimmte Vorgänge, auch wenn das Gericht dies nicht für erforderlich erachtet, in das Protokoll aufgenommen werden. 11. Ende der mündlichen Verhandlung und Entscheidung

3.990 Der Kläger hat es jederzeit in der Hand, das Verfahren und auch die mündliche Verhandlung durch eine Klagerücknahme zu beenden. In der mündlichen Verhandlung kann die Klagerücknahme zu Protokoll erklärt werden. Der Vorsitzende verkündet dann routinemäßig den Beschluss: Das Verfahren wird eingestellt. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Die mündliche Verhandlung ist damit beendet. Die Beteiligten erhalten später noch den Einstellungs- und Kostenbeschluss in Schriftform.

3.991 Entsprechendes gilt, wenn die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend zu Protokoll die Hauptsache für erledigt erklären. In diesem Fall wird das Verfahren automatisch beendet und den Beteiligten formlos mitgeteilt, dass das Verfahren und damit auch die mündliche Verhandlung nunmehr beendet ist und sie noch einen Kostenbeschluss erhalten werden. Diese Situation ist gegeben, wenn die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung eine Lösung für den Streitfall finden und sich – auch im Wege einer tatsächlichen Verständigung – hierüber einigen (s. Rz. 3.741 ff.).

3.992 Hat sich das Verfahren und damit auch die mündliche Verhandlung nicht durch Klagerücknahme oder übereinstimmende Erledigungserklärungen schon vorher erledigt, so wird die mündliche Verhandlung bis zum Ende durchgeführt. Am Ende der mündlichen Verhandlung schließt der Vorsitzende die mündliche Verhandlung und teilt den Beteiligten mit, wie das Verfahren weitergehen wird. Hierbei wird nach zumeist offener Abstimmung der Richter 1 2 3 4

Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 13; Schallmoser in HHSp, § 94 FGO Rz. 71. Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 13; Schallmoser in HHSp, § 94 FGO Rz. 71. Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 13. BFH v. 23.10.2013 – IX B 68/13, BFH/NV 2014, 174; v. 12.10.2012 – III B 212, BFH/NV 2013, 78.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.996 Kap. 3

auf der Richterbank, die hier gewöhnlich dem Vorschlag des Vorsitzenden folgen, ein Beschluss verkündet, in dem es heißt: Eine Entscheidung wird heute nach Beratung nicht vor … Uhr verkündet.

Oder: Eine Entscheidung wird den Beteiligten zugestellt werden.

In besonderen Fällen kann das Urteil auch in einem sofort anzuberaumenden Termin, der nicht über zwei Wochen hinaus angesetzt werden soll, verkündet werden (§ 104 Abs. 1 Satz 1 FGO), was in der Praxis der Finanzgerichte so gut wie nicht vorkommt, da die Möglichkeit der Zustellung besteht. Der Beschluss würde dann wie folgt lauten:

3.993

Die Entscheidung wird in der mündlichen Verhandlung vom … um … Uhr verkündet werden.

Bei der dann ergehenden Entscheidung muss es sich nicht zwingend um ein Urteil handeln. Sollte das Gericht in der Beratung zu dem Ergebnis kommen, dass der Streitfall noch nicht entscheidungsreif ist und der Sachverhalt weiter aufgeklärt werden muss, kann auch eine Vertagung und ein Beweisbeschluss oder ein Auflagenbeschluss die Entscheidung sein. Der Normalfall ist aber ein Urteil, das in nichtöffentlicher Beratung des Gerichts gefällt wird, wenn der Streitfall entscheidungsreif ist.

3.994

Das Urteil wird in der Regel in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wurde, in öffentlicher Sitzung nach nochmaligem Aufruf der Sache unter Anwesenheit des gesamten Spruchkörpers verkündet. und wird gem. § 104 Abs. 1 FGO mit seiner fehlerfreien Verkündung wirksam.1 Die Verkündung erfolgt durch Verlesung der Urteilsformel. Die Bindung des Gerichts tritt mit der Verkündung des Urteils ein, auch wenn die Urteilsgründe noch nicht abgesetzt sind. Etwaige Verkündungsmängel werden durch eine nachfolgende fehlerfreie Zustellung des angefochtenen Urteils geheilt.2 Haben die Beteiligten auf die Verkündung gewartet und sind sie noch anwesend, teilt ihnen der Vorsitzenden normalerweise die wesentlichen Gründe für die Entscheidung mündlich mit (§ 155 FGO i. V. m. § 311 Abs. 3 ZPO). Dies beruht auf der prozessualen Fürsorgepflicht; eine erneute Diskussion des Streitfalles findet jedoch nicht statt. Das vollständige Urteil muss den Beteiligten dann aber noch zugestellt werden (§ 104 Abs. 1 Satz 2 letzter Halbs. FGO).

3.995

Statt der Verkündung kann das Urteil auch insgesamt zugestellt werden. In diesem Fall wird den Beteiligten am Ende der mündlichen Verhandlung – jedenfalls auf Anfrage – mitgeteilt, ab wann sie das Ergebnis in der Geschäftsstelle telefonisch abrufen können. Die gesetzliche Vorgabe ist hierfür eine Frist von zwei Wochen. Die nach § 104 Abs. 2 FGO der Geschäftsstelle binnen zwei Wochen übergebene Urteilsformel ist den Beteiligten auf Anfrage bekannt zu geben.3 Hierauf haben die Beteiligten einen Rechtsanspruch.4 Mit der formlosen Bekanntgabe der Urteilsformel an einen Beteiligten gilt die Entscheidung als verkündet. Das Gericht ist ab diesem Zeitpunkt – und nicht erst mit der Zustellung des vollständigen Ur-

3.996

1 BFH v. 8.3.2011 – IV S 14/90, BFH/NV 2011, 1661. 2 BFH v. 29.12.2008 – X B 123/08, BFH/NV 2009, 752; v. 13.12.2000 – X R 67/99, BFH/NV 2001, 635. 3 BFH v. 7.10.1998 – II B 93/98, BFH/NV 1999, 935; v. 28.4.1999 – V B 90/98, BFH/NV 1999, 1362. 4 BFH v. 30.4.2001 – VII B 28/01, BFH/NV 2001, 1287.

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Kap. 3 Rz. 3.997

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

teils – an seine Entscheidung gebunden.1 Wegen der weiteren Einzelheiten wird insoweit auf nachfolgende Rz. 3.1013 ff. verwiesen.

VII. Verzicht auf mündliche Verhandlung Literatur: Brandt, Zu den Voraussetzungen für die Wirksamkeit eines Verzichtes auf mündliche Verhandlung, StBp 2011, 61; Helmer, Verzicht auf mündliche Verhandlung und Grundsatzrevision, DB 1985, 2126; Helmer, Verzicht auf mündliche Verhandlung und Grundsatzrevision, DB 1986, 148, 2126; Loschelder, Das vereinfachte FG-Verfahren ohne mündliche Verhandlung, AO-StB 2003, 310; Rößler, „Unwirksamkeit“ des Verzichts auf mündliche Verhandlung bei Übergang der Senatszuständigkeit auf den Einzelrichter, DStZ 1996, 190; Rößler, Erstreckung des gegenüber dem Senat erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung auf den Einzelrichter, DStZ 1997, 420; Heide Schaumburg, Die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, in FS H. Schaumburg, 2009, S. 111; Stöcker, Verzicht auf mündliche Verhandlung, AO-StB 2002, 384; Strauß, Widerruf der Verzichtserklärung auf mündliche Verhandlung, HFR 1996, 82; Tismer/Feuersänger, Verzicht auf mündliche Verhandlung und Grundsatzrevision, DB 1986, 147.

3.997 Gem. § 90 Abs. 2 FGO kann das Gericht (Senat bzw. Einzelrichter) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, wenn die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind und wirksame Verzichtserklärungen vorliegen. Erforderlich ist, dass alle Verfahrensbeteiligten, also auch die Beigeladenen, ihr Einverständnis erklären. Ein Urteil, das ohne mündliche Verhandlung ergeht, obgleich das erforderliche wirksame Einverständnis auch nur eines der Beteiligten nicht (mehr) vorliegt, enthält einen absoluten Revisionsgrund, der auf die Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 115 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 119 Nr. 4 FGO (der Kläger war nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.2

3.998 Die Verzichtserklärung ist an keine Frist gebunden; sie kann jederzeit bis zum Abschluss des Verfahrens, auch noch nach Zugang einer Ladung zur mündlichen Verhandlung abgegeben werden.3

3.999 Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist eine Prozesshandlung mit weitreichenden Folgen.4 Als Prozesshandlung muss der Verzicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden. Das bedeutet: Der Erklärung muss eindeutig und klar zu entnehmen sein, dass der betreffende Beteiligte auf mündliche Verhandlung verzichten will. Der Verzicht ist grundsätzlich unwiderruflich; die Erklärung kann auch nicht an eine Bedingung geknüpft oder wegen Irrtums angefochten werden.5 Nur ausnahmsweise kann die Verzichtserklärung widerrufen werden, wenn sich die Prozesslage nach Abgabe der Erklärung wesentlich geändert hat.6 Der bloße Wechsel des Prozessbevollmächtigten ist aber kein solcher Grund.7 Der Widerruf muss dann aber ebenso wie der Verzicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden.

1 BFH v. 8.3.2011 – IV S 14/10, BFH/NV 2011, 1161 m. w. N. 2 BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556; v. 29.4.1999 – V R 102/98, BFH/NV 1999, 1480. 3 Vgl. BFH v. 6.4.1990 – III R 62/89, BStBl. II 1990, 744. 4 BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556. 5 BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556; v. 8.6.2004 – IV B 180/02, BFH/NV 2004, 1634; v. 9.8.1996 – VI R 37/96, BStBl. II 1997, 77. 6 BFH v. 6.4.1990 – III R 62/89, BStBl. II 1990, 744; v. 22.10.2003 – I B 39/03, BFH/NV 2004, 350. 7 BFH v. 19.4.2016 – IX B 110/15, BFH/NV 2016, 1060.

320

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1002 Kap. 3

Die Verzichtserklärung wird wirkungslos, wenn das Gericht selbst den Beteiligten gegenüber zum Ausdruck bringt, dass es eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung allein durch den früher erklärten Verzicht nicht mehr für hinreichend legitimiert ansieht. Der einmal erklärte Verzicht erledigt sich durch eine erneute Anfrage des Gerichts und deren Ablehnung durch die Beteiligten1 oder durch einen späteren Auflagebeschluss2 oder aber durch die Anberaumung eines Erörterungstermins unter Anordnung des persönlichen Erscheinens der Beteiligten.3 Insofern ist die Verzichtserklärung in ihrer Wirkung bis zur nächsten eine Sachentscheidung vorbereitenden Entscheidung des Finanzgerichts beschränkt.4 Hat ein Beteiligter vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, so bezieht sich das Einverständnis nur auf die Entscheidung durch den Senat, es sei denn, es ist ausdrücklich auch für den Fall einer Entscheidung durch den Einzelrichter erklärt worden.5

3.1000

In der Praxis sollte sehr genau überlegt werden, ob überhaupt auf mündliche Verhandlung verzichtet wird. Dies hat Vor- und Nachteile:

3.1001

– Die Sache wird möglicherweise schneller vom Gericht terminiert und damit schneller einer Entscheidung zugeführt. – Die Sache wird auch – wie die Entscheidungen aufgrund mündlicher Verhandlung an diesem Termin – durch dieselben Richter und ehrenamtlichen Richter, die an diesem Tag den Termin wahrnehmen, gefällt. – Der ausdrückliche Verzicht bedeutet grundsätzlich zugleich einen Verzicht auf das Rügerecht bei verzichtbaren Verfahrensfehlern, z. B. bei einem übergangenen Beweisantritt.6 Dies gilt nur dann nicht, wenn der Beweisantrag nach dem Verzicht auf mündliche Verhandlung wiederholt wird.7 – Eine Tatbestandsberichtigung kommt bei Urteilen, die ohne mündliche Verhandlung ergangen sind, nicht in Betracht.8 Die unzutreffende Darstellung des Sach- und Streitstands im Tatbestand eines ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteils kann nur als Verfahrensrüge im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde oder bei zugelassener Revision im Revisionsverfahren geltend gemacht werden. Insgesamt spricht vieles dafür, den Termin zur mündlichen Verhandlung, der ein Angebot an die Beteiligten zur Überprüfung des vom Gericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts und zur Wahrung des rechtlichen Gehörs ist, wahrzunehmen und hierauf nicht zu verzichten, vor allem, wenn man bedenkt,9 – dass das Finanzgericht die einzige Tatsacheninstanz ist; – dass die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nochmals überprüfen können, ob ihr Begehren richtig ausgelegt worden ist; 1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556; v. 5.3.1986 – I R 28/81, BFH/NV 1987, 651. BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556; v. 5.3.1986 – I R 28/81, BFH/NV 1987, 651. BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556. BFH v. 10.3.2011 – VI B 147/10, BStBl. II 2011, 556 m. w. N. BFH v. 9.8.1996 – VI R 37/96, BStBl. II 1997, 77. BFH v. 29.8.2011 – III B 110/10, BFH/NV 2011, 126; v. 5.10.2000 – V B 74/00, BFH/NV 2001, 330. BFH v. 18.3.2013 – III B 149/12, BFH/NV 2013, 963. BFH v. 29.8.2003 – III B 205/03, BFH/NV 2004, 158 m. w. N.; Lange in HHSp, § 108 FGO Rz. 5. Vgl. dazu Stöcker, AO-StB 2002, 384.

Schaumburg

321

3.1002

Kap. 3 Rz. 3.1003

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– dass die Gelegenheit besteht, durch Tatsachen- und Rechtsvortrag die wichtigen Gesichtspunkte nochmals zu betonen; – dass sich die Beteiligten unmittelbar an die Richter und auch an die ehrenamtlichen Richter wenden können; – dass es ggf. zu einer gütlichen Einigung kommen kann; – dass auch der persönliche Eindruck (vor allem bei inneren Tatsachen wie Absicht, Motiven) von entscheidender Bedeutung sein kann.

3.1003 Das Gericht ist an den Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht gebunden. Zur Gewährung rechtlichen Gehörs kann eine mündliche Verhandlung sogar geboten sein. Das bedeutet: Auch wenn alle Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet haben, kann das Gericht mit mündlicher Verhandlung entscheiden. Dies kann z. B. zweckmäßig sein, wenn in der mündlichen Verhandlung noch Sachverhaltsfragen mit den Beteiligten erörtert werden sollen.

3.1004 Wenn das FG entgegen einem beiderseitigen Verzicht auf mündliche Verhandlung gleichwohl eine mündliche Verhandlung ansetzt, können der Kläger bzw. sein Berater in der Praxis nicht davon ausgehen, dass der Sach- und Rechtsstand im schriftlichen Verfahren ausreichend und abschließend dargelegt und erörtert worden ist, und deswegen der mündlichen Verhandlung fernbleiben.1 Vielmehr sollten der Kläger oder sein Berater in diesem Fall unbedingt zur mündlichen Verhandlung erscheinen.

VIII. Verfahren nach billigem Ermessen Literatur: von Bornhaupt, Die schlüssige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs bei unterlassenem Hinweis auf § 94a Satz 2 FGO, DStZ 1999, 792; Loschelder, Das vereinfachte FG-Verfahren ohne mündliche Verhandlung – Vorsicht bei Streitwerten bis 500 Euro!, AO-StB 2003, 310; Loschelder, Kein Urteil im vereinfachten Verfahren nach § 94a FGO ohne vorherigen gerichtlichen Hinweis!, AOStB 2009, 272; Scharpenberg, Typische Fehler in finanzgerichtlichen Verfahren vermeiden, Stbg 2008, 277; Schoenfeld, Das finanzgerichtliche Verfahren – Verbesserungs- und Beschleunigungsmöglichkeiten, DB 2004, 2287.

3.1005 Nach § 94a FGO kann das Gericht (Senat bzw. Einzelrichter) sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert bei einer Klage, die eine Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 500 Euro nicht übersteigt. Das bedeutet: Das Gericht kann hier auch ohne einen ausdrücklich erklärten Verzicht von mündlicher Verhandlung absehen.

3.1006 Dabei ist das Gericht verpflichtet, die Beteiligten vorher auf diese Möglichkeit hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf mündliche Verhandlung zu stellen.2 Diese Hinweispflicht folgt in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts3 unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG wonach jeder Verfahrensbeteiligte sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt äußern und An1 BFH v. 22.12.2005 – II B 12/05, BFH/NV 2006, 782. 2 BFH v. 6.6.2016 – III B 92/15, BFH/NV 2016, 1390 unter zutreffender Aufgabe seiner bisherigen st. Rspr., z. B. in BFH v. 3.11.2004 – X B 121/03, BFH/NV 2005, 360 m. w. N. Diese bisherige Rspr. ist durch die Entscheidung des BVerfG v. 18.11.2008 – 2 BvR 290/08, NJW-RR 2009, 562 überholt; ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 94a FGO Rz. 2. 3 BVerfG v. 18.11.2008 – 2 BvR 290/08, NJW-RR 2009, 562.

322

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1010 Kap. 3

träge stellen kann Um dieses Antragsrecht nicht einzuschränken, muss das Gericht, wenn es sich für ein schriftliches Verfahren entscheidet, den Parteien seine Absicht und den Zeitpunkt mitteilen, bis zu dem die Parteien ihr Vorbringen in den Prozess einführen können.1 Der bloße Hinweis „alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gem. § 94a FGO fällen“ zu wollen, reicht nicht aus. Er macht nicht mit hinreichender Deutlichkeit die Absicht des Gerichts erkennbar, im schriftlichen Verfahren entscheiden zu wollen.2 Wenn das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ohne auf die Möglichkeit eines Antrags auf mündliche Verhandlung hinzuweisen und ist deshalb ein solcher Antrag nicht gestellt worden, liegt ein Verfahrensfehler vor (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 119 Nr. 3 FGO),3 der mit der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden und zur Aufhebung des Urteils führen kann. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hat ein Beteiligter die Erhebung eines Zeugenbeweises beantragt, so ist der Beweisantrag zugleich als ein konkludenter Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung anzusehen.4

3.1007

Das Gericht entscheidet in der Regel in diesen Fällen über die Klage durch abgekürztes Urteil (s. Rz. 3.1052 ff.), hat allerdings den Untersuchungsgrundsatz zu beachten. Außerdem bleiben die Vorschriften über den Gerichtsbescheid unberührt; d. h., das Gericht kann anstatt durch Urteil auch durch Gerichtsbescheid entscheiden.

3.1008

Auch in den Fällen, in denen das Verfahren nach billigem Ermessen bestimmt werden kann, hat das Gericht die zur Sachverhaltsaufklärung erforderlichen Beweise zu erheben. Entsprechenden Beweisanträgen muss es nachgehen; insoweit gelten die allgemeinen Grundsätze (s. Rz. 3.924). Die Einholung von Sachverständigengutachten liegt zwar im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Es darf aber einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht mit der Begründung ablehnen, die Kosten stünden in keinem angemessenen Verhältnis zum Streitwert.5

3.1009

Um eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu vermeiden, sollte in der Praxis bei niedrigen Streitwerten schon in der Klageschrift ausdrücklich ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt werden. Wenn das Gericht dann dennoch ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist ein Beteiligter im Verfahren nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 119 Nr. 4 FGO),6 was bei einer Nichtzulassungsbeschwerde zur Aufhebung des Urteils wegen eines Verfahrensfehlers führt.

3.1010

IX. Entscheidung des Gerichts Literatur: Albert, Der Zeitpunkt der Wirksamkeit einer finanzgerichtlichen Entscheidung, DStZ 2001, 418; Albert, Rechtsschutzbedürfnis und vorläufige Vollstreckbarkeit von Anträgen und Urteilen nach § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO und § 100 Abs. 4 FGO, DStZ 1998, 503; Brandt, Begründungsmängel finanzgerichtlicher Urteile, AO-StB 2001, 270; Eisenberg, Nochmals: Aufhebung des Steuerbescheids 1 BVerfG v. 18.11.2008 – 2 BvR 290/08, NJW-RR 2009, 562. 2 BFH v. 8.6.2016 – III B 92/15, BFH/NV 2016, 1390. 3 Vgl. dazu auch BFH v. 18.1.2011 – VI B 136/10, BFH/NV 2011, 813; v. 6.9.2000 – VI R 16/98, BFH/NV 2001, 325. 4 BFH v. 14.4.2015 – VI B 15/15, BFH/NV 2015, 1004; v. 12.1.2011 – VIII B 15/10, BFH/NV 2011, 630 m. w. N. 5 BFH v. 12.4.1994 – IX R 101/90, BStBl. II 1994, 660. 6 BFH v. 6.9.2000 – VI R 16/98, BFH/NV 2001, 325.

Schaumburg

323

Kap. 3 Rz. 3.1011

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

oder Festsetzung der Steuer durch die Finanzgerichte?, FR 1970, 67; Felix, Aufschriften und Unterschriften mit Vornamen der erkennenden Urteils-Richter und einschlägige Lehren aus dem Bundesgesetzblatt, NJW 1996, 1723; Felix, Konventionskonforme Bekanntgabe steuergerichtlicher Urteile, BB 1996, 1741; Fischer, Unterschriften der Richter nach Verkündung des Urteils im Zivilprozeß, DRiZ 1994, 95; Gräber, Zeitpunkt der Abfassung und Bekanntgabe nicht im Anschluss an die mündliche Verhandlung verkündeter Urteile, DStZ/A 1972, 217; Kanzler, Beiläufiges über Beiläufiges – Das obiter dictum in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, DStR 2013, 1505; Kapp, Der Tatbestand im Steuerprozeß-Urteil, DStZ 1987, 271; Lange, Die richterliche Überzeugung und ihre Begründung, DStZ 1997, 174; Rößler, Das Zwischenfeststellungsurteil nach § 99 Abs. 2 FGO, StB 1994, 181; Rößler, Die nachträgliche Berücksichtigung von Schriftsätzen im finanzgerichtlichen Klageverfahren, DStZ 1986, 345; Rößler, Einzelrichterurteile, DStZ 1997, 421; Rößler, Teilurteile und Zwischenurteile im finanzgerichtlichen Verfahren, BB 1984, 204; Schneider, Probleme aus der Prozesspraxis – Revision bei verzögerter Urteilsabsetzung, MDR 1988, 646; Völker, Kein Anerkenntnisurteil im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ 1992, 20; Wendebourg, Kassation oder Festsetzung der Steuer durch die Finanzgerichte, DB 1968, 1831.

1. Urteil a) Allgemeines

3.1011 Gem. § 95 FGO entscheidet das Gericht über eine Klage grundsätzlich durch Urteil, und zwar in der Regel aufgrund mündlicher Verhandlung (vgl. § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO). Gem. § 90 Abs. 2 FGO kann das Gericht allerdings ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Voraussetzung hierfür ist aber, dass alle Beteiligten, also Kläger, Beklagter, Beigeladene und Beigetretene ausdrücklich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben (vgl. Rz. 3.997).

3.1012 Das Urteil ergeht gem. § 105 Abs. 1 Satz 1 FGO im Namen des Volkes. Es wird, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, in der Regel in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, verkündet, und zwar durch Verlesen der Urteilsformel (des Tenors). Das vollständige Urteil muss den Beteiligten später noch in vollständiger Form zugestellt werden (§ 104 Abs. 1 FGO). Die Bindung des Gerichts tritt mit der Verkündung des Urteils ein, auch wenn die Urteilsgründe noch nicht abgesetzt sind. Etwaige Verkündungsmängel werden durch eine nachfolgende fehlerfreie Zustellung des angefochtenen Urteils geheilt.1

3.1013 Statt der Verkündung ist auch die Zustellung des Urteils zulässig (§ 104 Abs. 2 FGO). Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Der entsprechende Beschluss ist am Schluss der mündlichen Verhandlung zu verkünden.2 In diesem Fall ist das Urteil innerhalb von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übergeben. Hierfür reicht es aus, wenn die unterschriebene Urteilsformel innerhalb dieser Frist auf der Geschäftsstelle niedergelegt wird.3 Die vollständige Abfassung des Urteils kann dann später erfolgen.4

3.1014 Wird bei Zustellung des Urteils gem. § 104 Abs. 2 i. V. m. § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO die Urteilsformel nicht binnen zweier Wochen nach der mündlichen Verhandlung bei der Geschäftsstel1 BFH v. 29.12.2008 – X B 123/08, BFH/NV 2009, 752; v. 13.12.2000 – X R 67/99, BFH/NV 2001, 635. 2 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 104 FGO Rz. 4 und 13. 3 BFH v. 7.10.1998 – II B 43/98, BFH/NV 1999, 935; Stapperfend in Gräber, § 104 FGO Rz. 15. 4 Vgl. hierzu Rz. 3.1020.

324

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1018 Kap. 3

le niedergelegt, stellt dies zwar einen Verfahrensmangel dar; der Mangel kann aber weder eine Revision noch deren Zulassung begründen, solange nicht dargetan oder sonst erkennbar ist, dass die Urteilsformel bei fristgemäßer Niederlegung anders als im zugestellten Urteil gelautet hätte.1 Mit der formlosen Bekanntgabe der Urteilsformel an einen der Beteiligten gilt die Entscheidung als verkündet. Das Gericht ist ab diesem Zeitpunkt – und nicht erst mit der Zustellung des vollständigen Urteils – an seine Entscheidung gebunden.2

3.1015

b) Schriftliche Abfassung aa) Absetzen des Urteils Das Urteil ist schriftlich abzufassen und nur von den Berufsrichtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgrund vom Vorsitzenden oder, wenn dieser verhindert ist, vom dienstältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht (§ 105 Abs. 1 Satz 4 FGO).

3.1016

Der Inhalt eines Urteils ist in § 105 Abs. 2 FGO gesetzlich festgelegt. Danach enthält das Urteil

3.1017

– die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Beruf, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren, – die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, – die Urteilsformel, – den Tatbestand, – die Entscheidungsgründe sowie – die Rechtsmittelbelehrung. bb) Fristen bei verkündeten Urteilen Ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefasst war – das ist der Regelfall –, ist vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle zu übergeben (§ 105 Abs. 4 Satz 1 FGO). Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle (Serviceeinheit) zu übergeben (§ 105 Abs. 4 Satz 2 FGO). Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln (§ 105 Abs. 4 Satz 3 FGO). Eine lediglich verspätete Niederlegung der Urteilsformel in der Geschäftsstelle und eine Verletzung der diesbezüglichen Ordnungsvorschrift (§ 104 Abs. 2 i. V. m. 105 Abs. 4 Satz 2 FGO) kann

1 BFH v. 23.8.2002 – IV B 89/01, BFH/NV 2001, 177 und v. 7.10.1998 – II B 43/98, BFH/NV 1999, 935; Brandis in Tipke/Kruse, § 104 FGO Rz. 7. 2 BFH v. 8.3.2011 – IV S 14/10, BFH/NV 2011, 1161 m. w. N.

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3.1018

Kap. 3 Rz. 3.1019

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

aber nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden und führt nicht zur Zulassung der Revision.1

3.1019 Wird ein Urteil erst mehr als fünf Monate nach seiner Verkündung vollständig abgefasst der Geschäftsstelle (Serviceeinheit) übergeben, so führt dies zu einem absoluten Revisionsgrund: Das Urteil ist in einem solchen Fall nicht mit Gründen versehen (vgl. § 119 Nr. 6 FGO), weil zwischen seiner Beratung und Verkündung sowie der schriftlichen Abfassung ein so langer Zeitraum liegt, dass die zutreffende Wiedergabe des Beratungsergebnisses nicht mehr gewährleistet ist.2 cc) Fristen bei zugestellten Urteilen

3.1020 Wird ein Urteil nicht verkündet, sondern gem. § 104 Abs. 2 FGO zugestellt, so ist das Urteil ebenfalls binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle (Serviceeinheit) zu übergeben. Die Übergabe der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel reicht insoweit aber zunächst aus.3 Zweck der Regelung ist es, den Beteiligten alsbald Gewissheit über die getroffene Entscheidung zu verschaffen und den notwendigen Zusammenhang zwischen mündlicher Verhandlung und Urteil zu wahren und sicherzustellen, dass der Inhalt des Urteils dem Gesamtergebnis des Verfahrens einschließlich der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung der beteiligten Richter entspricht. Dieser zeitliche Zusammenhang ist in der Regel nicht gewahrt, wenn das Urteil erst nach Ablauf von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung gefällt wird.4

3.1021 Das Urteil muss somit vor Ablauf der in § 104 Abs. 2 FGO bestimmten Frist von zwei Wochen beschlossen worden sein. Bei Senatsurteilen ist dies unproblematisch, weil die Entscheidungsformel nach Beratung aller mitwirkenden Richter einschließlich der ehrenamtlichen Richter (§ 5 Abs. 3 Satz 1 FGO) üblicherweise in der Beratung an dem Tag der mündlichen Verhandlung beschlossen wird. Aufgrund der Abstimmung steht der Zeitpunkt fest, zu dem das Urteil gefällt wurde.

3.1022 Schwieriger ist dies dagegen bei Einzelrichterentscheidungen: Hier gibt es einen konkreten Zeitpunkt, in dem das Urteil gefällt worden ist, erst, wenn der Einzelrichter jedenfalls die von ihm unterschriebene Urteilsformel an die Geschäftsstelle (Serviceeinheit) übermittelt.5 Geschieht dies nicht und wird das vollständige Urteil mit dem Tenor erst wesentlich später der Geschäftsstelle (Serviceeinheit) übergeben, so liegt bei Einzelrichterurteilen ein Verfahrensfehler vor, der mit der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden kann und ggf. zur Aufhebung des Urteils führt.6

3.1023 Binnen einer Frist von längstens fünf Monaten ist vollständige Urteil mit Tatbestand, Entscheidungsgründen und Rechtsmittelbelehrung, das von den Richtern unterschrieben worden 1 BFH v. 5.6.2014 – VII B 49/13, BFH/NV 2014, 1756; v. 5.12.2003 – XI B 69/03, BFH/NV 2004, 527. 2 BFH v. 12.3.2004 – VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114 und v. 7.7.1999 – VIII R 81/98, BFH/NV 1999, 1626; Gem. Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 27.4.1993 – GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603. 3 BFH v. 3.2.2016 – II B 67/15, BFH/NV 2016, 773. 4 BFH v. 3.2.2016 – II B 67/15, BFH/NV 2016, 773; v. 19.9.2012 – IV R 45/09, BStBl. II 2013, 123 m. w. N. 5 BFH v. 3.2.2016 – II B 67/15, BFH/NV 2016, 773. 6 BFH v. 3.2.2016 – II B 67/15, BFH/NV 2016, 773.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1026 Kap. 3

ist der Geschäftsstelle zu übergeben.1 Diese Frist darf bis zum letzten Tag ausgenutzt, aber nicht überschritten werden. Die Fünfmonatsfrist beginnt mit dem Ablauf des Tages, an dem die von den Richtern unterschriebene Urteilsformel entsprechend § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO der Geschäftsstelle (Serviceeinheit) übergeben worden ist, spätestens jedoch mit dem Ablauf desjenigen Tages, an dem der Urteilsspruch der Geschäftsstelle nach dieser Vorschrift bzw. nach § 104 Abs. 2 FGO hätte übergeben werden müssen.2 Wird die Fünfmonatsfrist nicht eingehalten, führt dies zu einem absoluten Revisionsgrund: Das Urteil ist in einem solchen Fall nicht mit Gründen versehen (vgl. § 119 Nr. 6 FGO), weil zwischen seiner Beratung und der schriftlichen Abfassung ein so langer Zeitraum liegt, dass die zutreffende Wiedergabe des Beratungsergebnisses nicht mehr gewährleistet ist.3 c) Entscheidungsgrundlagen Gem. § 96 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dabei dürfen nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse berücksichtigt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Insoweit wird das Gesamtergebnis des Verfahrens durch den in § 96 Abs. 2 FGO verankerten Grundsatz des rechtlichen Gehörs begrenzt. Eine weitere Einschränkung enthält § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO: Danach darf das Gericht nicht über das Klagebegehren hinausgehen (s. nachfolgend Rz. 3.1031).

3.1024

Bei seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung hat das Gericht den gesamten konkretisierten Prozessstoff zugrunde zu legen. Insbesondere muss das Gericht den Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Beteiligten (quantitativ) vollständig und (qualitativ) einwandfrei berücksichtigen.4

3.1025

Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehören also

3.1026

– die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten, wozu der komplette Akteninhalt gehört;5 – die Berücksichtigung von Behauptungen, Einlassungen und Stellungnahmen der Beteiligten evtl. auch der persönliche Eindruck, den ein Steuerpflichtiger in der mündlichen Verhandlung hinterlässt;6 – die Erkenntnisse aus einer Beweisaufnahme; – der Inhalt von beigezogenen Akten, soweit sie zum Verfahrensgegenstand gemacht worden sind, die Beteiligten rechtzeitig auf die Beiziehung der Akten hingewiesen worden sind und das Gericht ihnen damit hinreichend Gelegenheit gegeben hat, zum Beweiswert dieser Akten Stellung zu nehmen:7 1 Gem. Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 27.4.1993 – GmS-OGB 1/92, HFR 1993, 674. 2 BFH v. 12.3.2004 – VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114. 3 BFH v. 12.3.2004 – VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114 und v. 7.7.1999 – VIII R 81/98, BFH/NV 1999, 1626; Gem. Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 27.4.1993 – GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603. 4 BFH v. 22.3.2011 – X B 7/11, BFH/NV 2011, 1006; v. 14.12.2006 – VIII B 108/05, BFH/NV 2007, 741. 5 BFH v. 20.5.2016 – III B 62/15, BFH/NV 2016, 1293; Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 9. 6 BFH v. 19.3.1982 – VI R 25/80, BStBl. II 1982, 442; vgl. auch BFH v. 27.11.2003 – II B 138/02, BFH/NV 2004, 364; v. 19.3.1982 – VI R 25/80, BStBl. II 1982, 442. 7 Vgl. BFH v. 31.8.2005 – IX B 71/05, BFH/NV 2006, 310.

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327

Kap. 3 Rz. 3.1027

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– allgemeinkundige oder gerichtsbekannte Tatsachen, die in das Verfahren eingeführt worden sind, so dass die Beteiligten hierzu Stellung nehmen konnten.

3.1027 Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, der zu einem Verfahrensfehler i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO führt, liegt nur dann vor, – wenn eine nach Aktenlage klar feststehende Tatsache unberücksichtigt bleibt1 – wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt2 – wenn es seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlich festgehaltenen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht.3

3.1028 Das Gericht wird bei seiner Entscheidungsfindung keine Tatsachen oder Beweismittel berücksichtigen, die nach § 79 b FGO präkludiert sind (s. dazu Rz. 3.660 ff.) oder die es infolge eines prozessualen Beweisverwertungsverbotes nicht zur Kenntnis nehmen durfte.4 Tatsachen, die dem Gericht außerhalb des Verfahrens bekannt werden – sei es aus privatem Anlass oder infolge unzulässiger Information –, sind nicht verwertbar und dürfen auch nicht mittelbar in die Urteilsbildung einfließen.5 d) Richterliche Überzeugungsbildung

3.1029 Für die Überzeugungsbildung i. S. von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist erforderlich, dass der Richter ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem persönlichen Gewissen unterworfen Gewissheit in einem Maße erlangt, dass er an sich mögliche Zweifel überwindet und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann.6 Dabei hat der Richter auch alle Indizien, die für oder gegen das Vorliegen einer Tatsache sprechen, zu berücksichtigen und in seine Gesamtwürdigung einzubeziehen;7 auf bloße Unterstellungen darf er seine Überzeugungsbildung aber grundsätzlich nicht stützen.8 Letztlich muss der Richter nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung anstreben;9 eine absolute Gewissheit ist insoweit nicht erforderlich.10 Vielmehr ist eine subjektive Gewissheit (Überzeugung) des Richters vom Vorliegen eines entscheidungserheblichen Geschehensablaufs bzw. Sachverhalts ausreichend und gem. § 118 Abs. 2 FGO für den BFH bindend, wenn sie auf einer logischen, verstandesmäßig einsichtigen Beweiswürdigung beruht, deren nachvollziehbare Folgerungen den Denkgesetzen entsprechen und von den festgestellten Tatsachen getragen

1 BFH v. 22.3.2011 – X B 7/11, BFH/NV 2011, 1006; v. 21.2.2006 – II B 106/05, BFH/NV 2006, 975; v. 7.4.2005 – IX B 194/03, BFH/NV 2005, 1354. 2 BFH v. 20.5.2016 – III B 62/15, BFH/NV 2016, 1293. 3 BFH v. 20.5.2016 – III B 62/15, BFH/NV 2016, 1293; v. 22.4.2013 – III B 115/12, BFH/NV 2013, 1114; v. 22.3.2011 – X B 7/11, BFH/NV 2011, 1006. 4 Vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 10. 5 BFH v. 27.3.2014 – II B 68/13, BFH/NV 2014, 1072; v. 25.7.1994 – X B 333/93, BStBl. II 1994, 802. 6 BFH v. 11.7.2007 – IV B 121/06, BFH/NV 2007, 2241; v. 20.6.2007 – II R 66/06, BFH/NV 2007, 2057. 7 BFH v. 11.7.2007 – IV B 121/06, BFH/NV 2007, 2241. 8 BFH v. 11.7.2007 – IV B 121/06, BFH/NV 2007, 2241. 9 BFH v. 11.7.2007 – IV B 121/06, BFH/NV 2007, 2241. 10 BFH v. 8.9.2010 – X B 213/09, BFH/NV 2011, 269.

328

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1033 Kap. 3

werden.1 Fehlt es hieran, so liegt ein Verstoß gegen die Denkgesetze vor, der als Fehler in der Rechtsanwendung auch ohne besondere Rüge beanstandet werden kann.2 Das Gericht ist bei der Feststellung und Gewichtung der entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnisse keinen starren Regeln unterworfen; es darf aber nicht willkürlich verfahren. Es muss insbesondere die gewonnene subjektive Überzeugung objektivieren; diese muss also verstandesmäßig einsichtig und logisch nachvollziehbar sein und sich auf festgestellte Tatsachen stützen. Das Finanzgericht hat in seinem Urteil im Einzelnen darzulegen, wie und dass es seine Überzeugung in rechtlich zulässiger und einwandfreier Weise gewonnen hat.3 Insofern ist die tatrichterliche Überzeugungsbildung revisionsrechtlich jedenfalls eingeschränkt überprüfbar.

3.1030

e) Bindung an das Klagebegehren Zur Grundordnung des Verfahrens gehört auch der Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren, der für das finanzgerichtliche Verfahren in der Vorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO zum Ausdruck kommt. Danach darf das Gericht nicht über das Klagebegehren, das durch einen bestimmten Klageantrag präzisiert wird,4 hinausgehen („ne ultra petita“). Es darf dem Kläger nicht etwas zusprechen, das dieser nicht beantragt hat, und darüber hinaus auch nicht über etwas anderes („aliud“) entscheiden, als der Kläger durch seinen Antrag (einschließlich seiner eigenen Interpretation dieses Antrags) begehrt und zur Entscheidung gestellt hat.5 Insofern gibt der Kläger dem Gericht als Ausfluss der Dispositionsmaxime bindend das Streitprogramm vor.6 Maßgeblich ist in der Regel allein der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag7 oder bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung der sich aus den Akten ergebende Antrag, der ggf. durch Auslegung zu ermitteln ist.8

3.1031

Dem Antrag kann stattgegeben oder teilweise stattgeben werden: Schlimmstenfalls kann der Antrag abgewiesen werden. Eine Verböserung ist im finanzgerichtlichen Verfahren – anders als im Einspruchsverfahren9 – nicht zulässig.10 Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot verwehrt es dem Finanzgericht, den Kläger bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung schlechter zu stellen.11 Kein Kläger geht also aus dem Klageverfahren schlechter hinaus, als er hineingegangen ist.

3.1032

Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren und damit gegen die Grundordnung des Verfahrens stellt einen Verfahrensfehler gem. § 119 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar

3.1033

1 BFH v. 3.5.2016 – VIII R 4/13, BFH/NV 2016, 1275. 2 BFH v. 12.12.2013 – X R 33/11, BFH/NV 2014, 693 unter Berufung auf BFH v. 20.6.2012 – X R 20/11, BFH/NV 2012, 1778. 3 BFH v. 20.6.2012 – X R 20/11, BFH/NV 2012, 1778. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 95. 5 BFH v. 25.10.2011 – IV B 59/10, BFH/NV 2012, 251; v. 13.7.2009 – IX B 33/09, BFH/NV 2009, 1521 m. w. N. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 95. 7 BFH v. 25.10.2011 – IV B 59/10, BFH/NV 2012, 251; v. 9.2.2006 – X B 140/05, BFH/NV 2006, 973. 8 Vgl. dazu BFH v. 2.7.2012 – III B 101/11, BFH/NV 2012, 1628. 9 S. unter Rz. 2.160 ff. 10 BFH v. 18.2.2016 – V R 53/14, BFH/NV 2016, 869. 11 BFH v. 18.2.2016 – V R 53/14, BFH/NV 2016, 869; v. 13.6.2012 – VI R 92/10, BStBl. II 2013, 139.

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329

Kap. 3 Rz. 3.1034

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

und ist auch ohne ausdrückliche Rüge zu beachten und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.1 Beispiele: (1) Das Gericht darf z. B. keinen Steuerbescheid aufheben, dessen Aufhebung der Kläger nicht beantragt hat.2 Ausnahme: Die Klage ist auf Abänderung des Bescheids gerichtet ist, das Gericht stellt aber fest, dass der Verwaltungsakt unwirksam ist.3 (2) Das Gericht darf auch nicht von einem dem Wortlaut nach klaren Antrag des Klägers, der im Übrigen noch durch dessen Ausführungen gestützt wird, abweichen.4 (3) Ebenso darf es nicht über einen Zeitraum mit entscheiden, der vom Klagebegehren nicht umfasst ist.5 Hier ist jedoch zu beachten, dass ggf. faktisch durch ein sog. obiter dictum auch über andere Zeiträume mit entschieden wird, weil die Finanzverwaltung, auch wenn sie hieran nicht gebunden ist, hieraus die entsprechenden Konsequenzen zieht.

3.1034 Das Gericht darf innerhalb des Klagebegehrens aber auch prüfen, ob der angefochtene Bescheid Fehler zugunsten des Klägers enthält und kann Fehler ggf. soweit saldieren, dass die Klage trotz erfolgreichem Klageantrag abzuweisen ist. Das Verbot der Verböserung hindert das Gericht nämlich nicht daran, einzelne Besteuerungsgrundlagen des angefochtenen Bescheids in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht für den Steuerpflichtigen ungünstiger zu beurteilen, als dies in dem angefochtenen Steuerbescheid geschehen ist6 (zur Saldierung auch Rz. 3.93 f.). Das Gericht darf aber nicht mit den Folgen von Fehlern in anderen nicht angefochtenen Bescheiden kompensieren.7

3.1035 Das Gericht darf umgekehrt das Klagebegehren auch nicht unterschreiten. Das ist der Fall, wenn über das Klagebegehren nur zum Teil entschieden worden ist.8 f) Urteilsausspruch aa) Überblick

3.1036 Hat die Klage keinen Erfolg, so wird sie, sofern sie unzulässig ist, durch Prozessurteil, sonst durch Sachurteil abgewiesen. Hierfür bedarf es keiner besonderen gesetzlichen Regelung. Der Urteilsspruch lautet in diesen Fällen: Die Klage wird abgewiesen.

3.1037 Ist die Klage nur teilweise erfolgreich, ergeht der stattgebende Urteilsspruch und anschließend hinsichtlich des nicht erfolgreichen Teils der Ausspruch: Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

1 BFH v. 10.6.2014 – IX B 157/13, BFH/NV 2014, 1559; v. 25.10.2011 – IV B 59/10, BFH/NV 2012, 251 m. w. N. 2 Vgl. BFH v. 25.1.2005 – I B 83/04, BFH/NV 2005, 1314. 3 BFH v. 27.8.2003 – II R 35/01, BFH/NV 2004, 467 m. w. N.; Ratschow in Gräber, § 96 FGO Rz. 49; Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 100. 4 Vgl. BFH v. 20.11.2003 – X B 65/03, BFH/NV 2004, 362. 5 Vgl. BFH v. 25.9.2014 – III R 36/12, BStBl. II 2015, 286. 6 BFH v. 19.3.2013 – XI B 9/13, BFH/NV 2014, 373; v. 23.4.2008 – V B 159/07, BFH/NV 2008, 1347. 7 Vgl. BFH v. 26.2.2002 – IX R 20/98, BStBl. II 2002, 796. 8 BFH v. 18.8.2005 – II R 68/03, BFH/NV 2006, 360.

330

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1042 Kap. 3

Die Regelungen der §§ 100 – 102 FGO betreffen den Urteilsausspruch in den Fällen der erfolgreichen Klage. Am wichtigsten ist hier § 100 FGO, der die Fälle der sog. Anfechtungsklage betrifft.

3.1038

Für Verpflichtungsklagen gilt § 101 FGO, woraus sich ergibt, dass das Gericht den beantragten Verwaltungsakt/Steuerbescheid nicht selbst erlassen kann, sondern die Verpflichtung der Finanzbehörde ausspricht, den Bescheid zu erlassen.

3.1039

Besonderheiten gelten schließlich für die Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen der Finanzverwaltung. Das Gericht darf Ermessensentscheidungen des Finanzamts gem. § 102 FGO nur eingeschränkt dahingehend überprüfen, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat (Ermessensunterschreitung) oder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten (Ermessensmissbrauch) oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Ermessensfehlgebrauch).1 Das Finanzgericht muss also z. B. einen Haftungsbescheid, wenn es eine fehlende oder fehlerhafte Ermessensausübung feststellt, nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufheben; es darf insbesondere nicht sein Ermessen an die Stelle des Finanzamts treten lassen.

3.1040

bb) Aufhebung der Verwaltungsakts Es gilt der folgende Grundsatz: Gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, hebt es gem. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (Einspruchsentscheidung) auf. Das beklagte Finanzamt ist an die rechtliche Beurteilung durch das Gericht gebunden, die der Aufhebung zu Grunde liegt; an die tatsächliche Beurteilung allerdings nur insoweit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 FGO).

3.1041

cc) Regelfall: Herabsetzung der Steuer Von dem vorgenannten Grundsatz gibt es eine wichtige Ausnahme, die in der Praxis allerdings zur Regel geworden ist: Begehrt nämlich der Kläger die Änderung eines Verwaltungsaktes, der einen Geldbetrag festsetzt – dies ist regelmäßig bei Steuerbescheiden der Fall – oder der eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe selbst festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen (§ 100 Abs. 2 Satz 1 FGO). Das bedeutet im Regelfall: Das Gericht setzt, sofern ein Steuerbescheid angefochten wird, in seinem Urteil die Steuer neu fest und beschränkt sich nicht lediglich auf die Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Beispiel: A hat in seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 00 Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung i. H. v. 5.000 Euro geltend gemacht, die vom Finanzamt im Einkommensteuerbescheid 00 und in der abschlägigen Einspruchsentscheidung nicht anerkannt worden sind. Mit seiner Klage vor dem FG, mit der A die Anerkennung der Werbungskosten i. H. v. 5.000 Euro und die Herabsetzung der Einkommensteuer um 2.000 Euro begehrt, hat A in vollem Umfang Erfolg: In seinem Urteil setzt das FG die Einkommensteuer 00 neu fest, und zwar um 2.000 Euro niedriger als im dem angefochtenen Steuerbescheid.

1 BFH v. 18.2.2016 – V R 62/14, BFH/NV 2016, 988; v. 23.9.2004 – V R 58/03, BFH/NV 2005, 825.

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3.1042

Kap. 3 Rz. 3.1043

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1043 Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrages einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Steuerbescheides durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass das Finanzamt den Betrag aufgrund der Entscheidung errechnen kann (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO). Dies setzt immer voraus, dass das Gericht über die entscheidungserheblichen Fragen so entschieden hat, dass sie in Rechtskraft erwachsen können,1 und lediglich die rechnerische Ermittlung des Betrags noch offen ist.2 Dabei kann das Gericht dem Finanzamt auch aufgeben, die Gewerbesteuerrückstellung zu berechnen, die auf die genau bezifferten zusätzlich zu berücksichtigenden Betriebsausgaben anteilig entfällt.3 In der Praxis wird von dieser Möglichkeit häufig Gebrauch gemacht. Dies kann unabhängig davon geschehen, ob die Beteiligten das für gut halten oder nicht oder dem sogar widersprechen.4

3.1044 In solchen Fällen hat die Finanzbehörde den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung gem. § 100 Abs. 2 Satz 3 FGO unverzüglich zunächst formlos mitzuteilen. Diese Mitteilung entfaltet keine Regelungswirkung und ist somit kein Verwaltungsakt, sondern bereitet lediglich den späteren Erlass des Änderungsbescheids vor, der gem. § 100 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 FGO erst nach Rechtskraft der Entscheidung bekannt gegeben werden soll. Die Mitteilung trägt lediglich dem Bedürfnis der Beteiligten Rechnung, von dem Ergebnis der Neuberechnung möglichst bald zu erfahren.5 Erst der nach Rechtskraft der Entscheidung bekannt gegebene Steuerbescheid ist Verwaltungsakt i. S. des § 118 Satz 1 AO. Dies gilt auch dann, wenn das Finanzamt keine formlose Mitteilung vornimmt, sondern sogleich – verfrüht – einen solchen Änderungsbescheid erlässt.6 Dieser Änderungsbescheid kann mit dem Einspruch und ggf. mit einer nachfolgenden Klage angefochten werden.7 Dabei kann er im Rechtsbehelfsverfahren nur insoweit überprüft werden, als die Rechtskraft des vorangegangenen Urteils einer solchen Prüfung nicht entgegensteht.8 Grundsätzlich wird deshalb nur überprüft, ob das Finanzamt die in dem Urteil enthaltenen Vorgaben rechnerisch zutreffend umgesetzt hat, ob dabei sämtliche Vorgaben des Gerichts berücksichtigt und keine Rechenfehler enthalten sind. Das Finanzamt darf aber bei Erlass des Bescheids Umstände, die seit Ergehen des Urteils eingetreten sind, die nach den insoweit einschlägigen Vorschriften eine Änderung des Verwaltungsakts rechtfertigen, berücksichtigen.9 dd) Aufhebung und Zurückverweisung

3.1045 Gem. § 100 Abs. 3 FGO kann das Gericht in den Fällen, in denen es eine weitere Sachverhaltsaufklärung für notwendig erachtet, den Verwaltungsakt und die Einspruchsentscheidung aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Voraussetzung ist allerdings, dass 1 BFH v. 3.9.2015 – III B 39/15, BFH/NV 2015, 1689; v. 4.5.2011 – I R 67/10, BFH/NV 2012, 6 m. w. N.; v. 18.11.2004 – V R 37/03, BStBl. II 2005, 219. 2 Vgl. BFH v. 14.8.1996 – V B 107/95, BFH/NV 1997, 205. 3 Vgl. BFH v. 23.2.1994 – IV R 12/93, BFH/NV 1995, 56. 4 Brandis in Tipke/Kruse, § 100 FGO Rz. 29. 5 BFH v. 18.11.2004 – V R 37/03, BStBl. II 2005, 217; Schmidt-Troje in Beermann/Gosch, § 100 FGO Rz. 77. 6 BFH v. 20.11.2003 – IV R 31/02, BFH/NV 2004, 567. 7 BFH v. 4.5.2011 – I R 67/10, BFH/NV 2012, 6 m. w. N.; v. 18.11.2004 – V R 37/03, BStBl. II 2005, 219. 8 BFH v. 4.5.2011 – I R 67/10, BFH/NV 2012, 6 m. w. N. 9 BFH v. 3.9.2015 – III B 39/15, BFH/NV 2015, 1689; v. 4.5.2011 – I R 67/10, BFH/NV 2012, 6 m. w. N.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1049 Kap. 3

dies wegen der Art oder des Umfangs der erforderlichen Ermittlungen auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Eine solche Entscheidung stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen muss.1 Sie tangiert das Interesse beider Beteiligter an dem baldigen Erhalt einer rechtskräftigen Entscheidung der Streitsache:2 Das Finanzamt muss erneut tätig werden. Wenn die erforderlichen Ermittlungen abgeschlossen sind, muss es einen neuen Bescheid erlassen, wobei es allerdings an die in dem Urteil nach § 100 Abs. 3 Satz 2 FGO vertretene Rechtsauffassung des Gerichts gebunden ist. Dieser neue Bescheid kann nunmehr nach allgemeinen Grundsätzen mit Einspruch und Klage erneut angefochten werden. All dies braucht Zeit und führt zu einer Verlängerung des Verfahrens und dient nicht unbedingt dem Interesse der Beteiligten an einer schnellen und endgültigen Entscheidung. Deshalb ist die Möglichkeit, nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO zu verfahren, auch von vorneherein ausgeschlossen, wenn sechs Monate seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht verstrichen sind. Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens muss das Gericht die notwendigen Ermittlungen dann selbst durchführen (§ 100 Abs. 3 Satz 5 FGO).

3.1046

Von der Möglichkeit des § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO wird nur wenig Gebrauch gemacht. Abgesehen von der tatsächlichen Frage, ob die Akten von den Gerichten bereits innerhalb von sechs Monaten nach Eingang überprüft werden können,3 ist der Anwendungsbereich dieser Vorschrift auch stark eingeschränkt, da eine Verfahrensverzögerung vermieden werden soll. Deshalb ist die Aufhebung des angefochtenen Bescheides und der Einspruchsentscheidung ohne Sachentscheidung durch das Finanzgericht gem. § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO grundsätzlich nicht sachdienlich, wenn nicht sicher ist, dass sich dadurch das Verfahren vor dem Finanzamt endgültig erledigt, ohne dass ein erneutes Verfahren vor dem Finanzgericht erforderlich wird. Die gilt insbesondere dann, wenn es sich bei der für erforderlich gehaltenen weiteren Sachverhaltsermittlung um eine umfangreiche Zeugenvernehmung oder um die Einholung eines Sachverständigengutachtens handelt.4

3.1047

Will das Gericht nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO entscheiden und Verwaltungsakt und Einspruchsentscheidung aufheben, so muss es den Beteiligten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Davon kann nur abgesehen werden, wenn einer der Beteiligten zuvor eine derartige Entscheidung beantragt hat.5

3.1048

Die Entscheidung des Finanzgerichts, nach § 100 Abs. 3 FGO zu verfahren, ist mit der Nichtzulassungsbeschwerde und ggf. der Revision als möglicher Verfahrensmangel überprüfbar. Wenn ein Beteiligter mit einer solchen Entscheidung nicht einverstanden ist, kann er gegen die Entscheidung des Finanzgerichts also Nichtzulassungsbeschwerde und ggf. Revision einlegen und darlegen, dass diese Verfahrensweise nicht sachdienlich war. Zur Verfahrensbeschleunigung kann der BFH bereits im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde das Urteil nach § 116 Abs. 6 FGO aufheben und die Sache an das Finanzgericht zurückverweisen.6

3.1049

1 2 3 4

BFH v. 30.7.2004 – IV B 134 – 144/02, BFH/NV 2005, 359. Ebenso BFH v. 30.7.2004 – IV B 134 – 144/02, BFH/NV 2005, 359. Vgl. hierzu Brandis in Tipke/Kruse, § 100 FGO Rz. 41. BFH v. 25.7.2000 – VIII R 32/99, BFH/NV 2001, 178; so auch BFH v. 30.7.2004 – V B 143 – 144/02, BFH/NV 2005, 359; Brandis in Tipke/Kruse, § 100 FGO Rz. 43. 5 BFH v. 30.7.2004 – IV B 134 – 144/02, BFH/NV 2005, 359. 6 Vgl. BFH v. 30.7.2004 – IV B 134 – 144/02, BFH/NV 2005, 359.

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Kap. 3 Rz. 3.1050

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1050 In sog. Schätzungsfällen ist eine Zurückverweisung ausgeschlossen, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind (§ 100 Abs. 3 Satz 2 FGO). Das Gericht ist dann gehalten, von seiner eigenen Schätzungsbefugnis nach § 96 Abs. 1 Halbs. 2 FGO i. V. m. § 162 AO Gebrauch zu machen.1

3.1051 Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsaktes eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der entsprechende Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden (§ 100 Abs. 3 Sätze 3 und 4 FGO). g) Entscheidungsgründe

3.1052 Besondere Bedeutung haben die Entscheidungsgründe (§ 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO). Nach dem Sinn des sich aus § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO ergebenden Begründungszwangs sollen die Prozessbeteiligten darüber Kenntnis erhalten, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht.2 Insbesondere der unterliegende Beteiligte soll wissen, warum er im Prozess unterlegen ist, um seine Rechte sachgemäß wahrnehmen zu können.3

3.1053 Diesem Zweck genügt eine Begründung nur dann nicht und es liegt deshalb ein Verfahrensmangel i. S. des § 119 Nr. 6 FGO vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, weil die Begründung des Urteilsspruchs überhaupt oder im Hinblick auf einen selbständigen prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel fehlt oder weil die Entscheidungsgründe nur aus inhaltsleeren Floskeln bestehen oder missverständlich und verworren sind.4

3.1054 In den Entscheidungsgründen wird auch die Zulassung oder Nichtzulassung der Revision begründet.

3.1055 § 105 Abs. 5 FGO ermöglicht es dem Gericht, von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abzusehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsaktes oder der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt. Dies dient der Entlastung der Gerichte, wenn den Beteiligten auch die Kenntnis, auf welchen Feststellungen, Verhältnissen oder rechtlichen Erwägungen die Entscheidung beruht, ohne Nachteil für den Rechtsschutz auch durch Bezugnahme auf bereits vorliegende Verwaltungsentscheidungen vermittelt werden kann.5

3.1056 Dies setzt allerdings voraus, – dass das Gericht zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO auf wesentliches neues Vorbringen des Klägers im Klageverfahren eingeht 1 2 3 4

BFH v. 18.5.1999 – I R 102/98, BFH/NV 1999, 1492. BFH v. 1.2.2012 – VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767; Brandis in Tipke/Kruse, § 105 FGO Rz. 1. Brandis in Tipke/Kruse, § 105 FGO Rz. 1. BFH v. 1.2.2012 – VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767; v. 15.12.2005 – IX B 98/05, BFH/NV 2006, 768 m. w. N. 5 BFH v. 21.10.2015 – X B 116/15, BFH/NV 2016, 216; v. 10.11.2006 – XI B 147/05, BFH/NV 2007, 267 m. w. N.

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F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1061 Kap. 3

– und die Einspruchsentscheidung selbst eine aussagekräftige Begründung zu den wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren, enthält.1 Die Begründungserleichterung des § 105 Abs. 5 FGO darf nicht dazu führen, dass geringere Anforderungen an die Auseinandersetzung des Gerichts mit entscheidungserheblichem Vorbringen des Rechtsschutzsuchenden, d. h. mit den von ihm vorgetragenen selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln, gestellt werden. Ansonsten liegt ein Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung des Urteils als nicht mit Gründen versehen führen kann.

3.1057

2. Zwischenurteil Sind bei einer Leistungs- oder einer Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt Grund und Höhe des Anspruchs streitig, so kann das Gericht gem. § 99 Abs. 1 FGO durch Zwischenurteil vorab über den Grund des Anspruchs entscheiden. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass ein Grundurteil dann gem. § 99 Abs. 1 FGO erlassen werden darf, wenn sich im konkreten Einzelfall der Streit über den Grund eines Anspruchs von demjenigen über die Höhe des Anspruchs trennen lässt.2 Voraussetzung für den Erlass eines Grundurteils ist ferner die Feststellung, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Klageanspruch in irgendeiner Höhe besteht.3 Der Erlass eines Zwischenurteils entspricht der Prozessökonomie und ist eine Ermessensentscheidung des Gerichts;4 die Beteiligten müssen hiermit nicht einverstanden sein.

3.1058

Ergeht ein Zwischenurteil über den Grund, müssen sämtliche den Anspruchsgrund betreffenden Streitpunkte erledigt werden,5 so dass nach Ergehen des Zwischenurteils nur noch über die Höhe der streitigen Steuer zu entscheiden ist. Die Frage der Höhe des Anspruchs bleibt dann einer weiteren Entscheidung vorbehalten.6 Möglicherweise können sich die Beteiligten auch über die dann noch streitige Höhe des Anspruchs einigen, wenn der Anspruch schon einmal feststeht.

3.1059

Ist der Anspruch bereits dem Grunde nach nicht gegeben, so darf kein Zwischenurteil über den Grund eines Steueranspruchs ergehen, vielmehr ergeht dann sogleich ein Endurteil,7 durch das die Klage abgewiesen wird. Auf die ebenfalls streitige Höhe des Anspruchs kommt es dann nicht mehr an.

3.1060

Nach ständiger Rechtsprechung sind Grundurteile nach § 99 Abs. 1 FGO in Streitsachen wegen einheitlicher und gesonderter Gewinnfeststellung – ebenso wie bei Gewerbesteuermessbescheiden und Bescheiden über die Feststellung des Einheitswertes des Betriebsvermögens – nicht zulässig.8 Die hierfür gegebene Begründung, dass Streitsachen wegen einheitlicher und gesonderter Feststellung nicht auf Erfüllung des Steueranspruchs gerichtet sind, sondern nur

3.1061

1 BFH v. 21.10.2015 – X B 116/15, BFH/NV 2016, 216; v. 10.11.2006 – XI B 147/05, BFH/NV 2007, 267 m. w. N. 2 BFH v. 6.6.2013 – I B 53/12, BFH/NV 2013, 1561 m. w. N.; v. 27.7.2010 – I B 61/10, BFH/NV 2010, 2119. 3 BFH v. 6.6.2013 – I B 53/12, BFH/NV 2013, 1561 m. w. N.; v. 27.7.2010 – I B 61/10, BFH/NV 2010, 2119. 4 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 99 FGO Rz. 1. 5 BFH v. 14.2.2001 – X R 82/97, BFH/NV 2001, 952. 6 BFH v. 11.2.1998 – I R 67/97, BFH/NV 1998, 1197. 7 BFH v. 11.2.1998 – I R 67/97, BFH/NV 1998, 1197. 8 BFH v. 17.12.2008 – III R 22/08, BFH/NV 2009, 1087 m. w. N.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.1062

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ein Element dieses Anspruchs betreffen, vermag allerdings nicht zu überzeugen.1 Vielmehr muss auch bei diesen Bescheiden ein Grundurteil nach § 99 Abs. 1 FGO möglich sein, wenn auch hier über die Feststellung als solche einerseits und die Höhe des festgestellten Betrages andererseits gestritten wird, also zwischen Grund und Höhe unterschieden wird.

3.1062 Gem. § 99 Abs. 2 FGO kann das Gericht durch Zwischenurteil über eine oder mehrere2 entscheidungserhebliche Sach- oder Rechtsfragen vorab entscheiden, wenn dies sachdienlich ist und weder der Kläger noch der Beklagte widerspricht. Diese Vorschrift gibt dem Gericht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung die Möglichkeit, über einzelne entscheidungserhebliche Sach- oder Rechtsfragen vorab zu entscheiden, ohne dass diese den Grund des Anspruchs betreffen.

3.1063 Entscheidungserheblich sind solche Vorfragen, ohne deren Beantwortung ein Urteil über die geltend gemachte Rechtsbeeinträchtigung nicht möglich ist. Ein Zwischenurteil kommt deshalb nur zu solchen Vorfragen in Betracht, über die mit Sicherheit auch in einem Endurteil zu entscheiden wäre.3 Da den Beteiligten ein Widerspruchsrecht zusteht, muss das Gericht die widerspruchsberechtigten Beteiligten über seine Absicht, ein Zwischenurteil zu erlassen, in Kenntnis setzen und einen entsprechenden Hinweis erteilen.4

3.1064 Nach § 97 FGO kann das Gericht auch über die Zulässigkeit der Klage vorab durch Zwischenurteil entscheiden. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung,5 wobei sich das Gericht entsprechend dem Zweck der Vorschrift von verfahrensökonomischen Erwägungen wird leiten lassen. Auch hier kommt es – im Gegensatz zum Zwischenurteil nach § 99 Abs. 2 FGO – nicht darauf an, ob die Beteiligten damit einverstanden sind.

3.1065 Soll zunächst nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden werden, so reicht es aus, wenn sich die mündliche Verhandlung auch nur hierauf erstreckt.6 Zumeist wird schon in der Ladung darauf hingewiesen, dass vorab nur über die Zulässigkeit der Klage verhandelt werden soll. In diesen Fällen müssen sich die Beteiligten bei der Vorbereitung des Termins noch nicht mit den materiellen Rechtsfragen befassen.

3.1066 Kommt das Gericht dann zu der Auffassung, dass die Klage zulässig ist, so ergeht aufgrund der mündlichen Verhandlung ein Zwischen(feststellungs)urteil mit dem Tenor: Die Klage ist zulässig oder z. B. Die Klage ist fristgerecht erhoben (wenn diese Frage streitig war und noch nicht feststeht, ob die Klage insgesamt zulässig ist.)

3.1067 Ist das Gericht dagegen der Auffassung, dass die Klage unzulässig ist, dann ergeht ein abweisendes Endurteil mit dem Tenor: Die Klage wird abgewiesen.

1 Ebenso Brandis in Tipke/Kruse, § 99 FGO Rz. 5. 2 BFH v. 18.4.1994 – VIII R 48/93, BFH/NV 1995, 84. 3 BFH v. 2.6.2016 – IV R 23/13, BFH/NV 2016, 1433; v. 4.2.1999 – IV R 54/97, BStBl. II 2000, 139. 4 BFH v. 20.11.2013 – II R 64/11, BFH/NV 2014, 716; v. 20.11.2008 – IV B 7/08, juris. 5 BFH v. 31.10.1996 – VIII B 58/96, BFH/NV 1997, 417. 6 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 97 FGO Rz. 5.

336

Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1072 Kap. 3

3. Teilurteil § 98 FGO ermöglicht dem Gericht, über einen einzelnen selbständigen Teil des Streitgegenstandes zu entscheiden, sofern insoweit Entscheidungsreife besteht. Hierdurch soll der Rechtsstreit entlastet und durch eine Teilentscheidung zugunsten der Beteiligten auch beschleunigt werden.

3.1068

Ein Teilurteil kommt nach § 98 FGO nur in Betracht bei einer Teilbarkeit des Streitgegenstandes oder wenn eine Klage mehrere Streitgegenstände beinhaltet. Teilbarkeit des Streitgegenstandes bedeutet, dass der Streitgegenstand des betreffenden Verfahrens aus mehreren selbständigen – abtrennbaren – Teilen besteht.1 Dies ist der Fall, wenn der abtrennbare Teil einer gesonderten tatsächlichen und rechtlichen Würdigung zugänglich ist.2 Diese Voraussetzung ist z. B. erfüllt bei der Klageverbindung i. S. des § 43 FGO (objektive Klagehäufung), oder auch bei einer eventuellen Klagehäufung (Haupt- und Hilfsantrag), wenn der Hilfsantrag auf einem anderen Sachverhalt beruht, so dass Hauptantrag und Hilfsantrag einander ausschließen.3

3.1069

Richtet sich die Klage gegen mehrere Steuerbescheide, so kann grundsätzlich für jeden Bescheid ein Teilurteil ergehen. Streitgegenstand ist dann jeweils der einzelne Steuerbescheid. Werden dagegen in einem Steuerbescheid mehrere Besteuerungsgrundlagen angegriffen sind (z. B. Gewinn aus Gewerbebetrieb, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastung), kann kein Teilurteil ergehen, auch wenn die Beurteilung einzelner Besteuerungsgrundlagen entscheidungsreif ist. Unselbständige Besteuerungsgrundlagen i. S. des § 157 Abs. 2 AO sind einer gesonderten tatsächlichen und rechtlichen Würdigung – ohne dabei auf den ganzen Bescheid abzustellen – nicht zugänglich und damit kein selbständiger Teil des Streitgegenstandes;4 über unselbständige Besteuerungsgrundlagen kann nicht durch Teilurteil entschieden werden.5

3.1070

Wird nur ein einziger Steuerbescheid angefochten, so kann in der Regel kein Teilurteil ergehen. Anders ist dies bei Feststellungsbescheiden: In diesen Bescheiden werden mehrere selbständig anfechtbare Entscheidungen getroffen, so dass über jede einzelne Feststellung ein Teilurteil ergehen kann. So wird z. B. im einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellungsbescheid i. S. der §§ 179, 180 AO u. a. über die Qualifikation der Einkünfte, deren Höhe, die Verteilung der Einkünfte auf die Beteiligten und über die Sondervergütungen gesondert entschieden. Wird hier der Bescheid bezüglich mehrerer selbständiger Streitpunkte angegriffen, so kann das Gericht durch Teilurteil entscheiden, sofern die übrigen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind. Damit wird das Verfahren entlastet.

3.1071

§ 98 FGO stellt es in das Ermessen des Gerichts, ob es bei einer Entscheidungsreife nur eines Teils des Streitgegenstandes ein Teilurteil erlassen will. Entsprechend dem Ziel des § 98 FGO, den Beteiligten rascher zu einer Entscheidung über einen Teil des Streitgegenstandes zu verhelfen und das Verfahren zu entlasten, kommt ein Teilurteil nur dann in Betracht, wenn der betreffende Teil von dem weiteren Ausgang des Verfahrens unberührt bleiben wird. Deshalb

3.1072

1 BFH v. 25.2.2010 – IV R 24/07, BFH/NV 2010, 1491; v. 17.11.1992 – VIII R 35/91, BStBl. II 1994, 403. 2 BFH v. 25.2.2010 – IV R 24/07, BFH/NV 2010, 1491. 3 BFH v. 20.11.2008 – IV B 7/08, juris; v. 22.11.1968 – III R 37/68, BStBl. II 1969, 260; Brandis in Tipke/Kruse, § 98 FGO Rz. 2. 4 BFH v. 9.12.2003 – VI R 148/01, BFH/NV 2004, 527; Brandis in Tipke/Kruse, § 98 FGO Rz. 2. 5 BFH v. 25.2.2010 – IV R 24/07, BFH/NV 2010, 1491 m. w. N.; Brandis in Tipke/Kruse, § 98 FGO Rz. 2; Stapperfend in Gräber, § 98 FGO Rz. 2.

Schaumburg

337

Kap. 3 Rz. 3.1073

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

kommt ein Teilurteil nicht in Betracht, wenn die Möglichkeit widersprüchlicher Entscheidungen nicht ausgeschlossen werden kann.1

3.1073 Das Teilurteil ergeht zu einem abgeschlossenen Teil des Streitgegenstands; dieser wird mit der Entscheidung durch das Gericht endgültig erledigt.2 Insoweit ist das Teilurteil ein Endurteil. Es ist deshalb selbständig anfechtbar und wird selbständig in dem entschiedenen Umfang rechtskraftfähig und entfaltet Bindungswirkung für die Beteiligten und auch das Gericht. 4. Gerichtsbescheid Literatur: Binnewies, Keine Angst vor dem Gerichtsbescheid, Stbg 2012, 360; Kretzschmar, Der Gerichtsbescheid – Das Chamäleon der Finanzgerichtsordnung, DStZ 1993, 265; Nieland, Rechtsbehelf gegen Gerichtsbescheid bei unzutreffender Rechtsbehelfsbelehrung, AO-StB 2005, 38; Rößler, Der Gerichtsbescheid im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ 1994, 84; Schneider, Entscheidung durch Gerichtsbescheid im Verfahren vor dem BFH, NJW-Spezial 2010, 91; Schoenfeld, Neufassung des § 90a Abs. 2 FGO – Nichtzulassungsbeschwerde gegen einen Gerichtsbescheid?, DStZ 2002, 142; Selder, Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide des Einzelrichters, DStZ 1994, 549.

3.1074 Nach § 90a Abs. 1 FGO kann das Gericht in geeigneten Fällen – unabhängig von der Zustimmung der Beteiligten3 – ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) wird auch dann nicht verletzt, wenn das Gericht die Beteiligten hierauf nicht zuvor hinweist, denn die Beteiligten haben durch die Möglichkeit, mündliche Verhandlung zu beantragen, hinreichend Gelegenheit, rechtlich gehört zu werden.4 Gem. § 90a Abs. 3 FGO gilt der Gerichtsbescheid als nicht ergangen, wenn rechtzeitig ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wird.

3.1075 Das Gericht entscheidet von Amts wegen darüber, ob es durch Urteil oder Gerichtsbescheid entscheiden will. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung, bei der neben dem Zweck der Regelung – das finanzgerichtliche Verfahren zu beschleunigen und zu straffen5 – auch das Rechtsschutzinteresse der Beteiligten zu berücksichtigen ist. Deshalb dürfte der Erlass eines Gerichtsbescheides in Verfahren, die besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen oder die grundsätzliche Bedeutung haben, nur selten in Betracht kommen.6

3.1076 Der Gerichtsbescheid ergeht als Beschluss. Die ehrenamtlichen Richter wirken hieran – im Gegensatz zur ihrer Mitwirkung an Senatsentscheidungen ohne mündliche Verhandlung – nicht mit (§ 5 Abs. 3 FGO). Der Gerichtsbescheid kann aber auch durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter allein ergehen (§ 79a Abs. 2 und 4 FGO). Hinsichtlich Form und Inhalt verweist § 106 FGO für Gerichtsbescheide auf die für Urteile geltende Vorschrift des § 105 FGO. Deshalb wird auf die entsprechenden Ausführungen zu Form und Inhalt eines Urteils verwiesen (vgl. Rz. 3.1024 ff.). Der Gerichtsbescheid ist mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen (§ 55 FGO) und den Beteiligten zuzustellen (§ 106 i. V. m. § 104 Abs. 3 FGO).

1 BFH v. 30.11.1993 – IX R 92/91, BStBl. II 1994, 403; Stapperfend in Gräber, § 98 FGO Rz. 3; Brandis in Tipke/Kruse, § 98 FGO Rz. 1. 2 BFH v. 9.12.2003 – VI R 148/01, BFH/NV 2004, 527. 3 Herbert in Gräber, § 90a FGO Rz. 2 und 9. 4 BFH v. 2.4.2014 – V R 62/10, BFH/NV 2014, 1210 m. w. N. 5 Herbert in Gräber, § 90a FGO Rz. 1. 6 Herbert in Gräber, § 90a FGO Rz. 5.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1081 Kap. 3

Gegen den Gerichtsbescheid des Senats oder des Einzelrichters stehen den Beteiligten gem. § 90a Abs. 2 FGO folgende Rechtsschutzmöglichkeiten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids zur Verfügung:

3.1077

– Es kann immer mündliche Verhandlung beantragt werden. – Ist die Revision zugelassen, kann auch Revision eingelegt werden. – Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt. Bei Gerichtsbescheiden des Vorsitzenden oder Berichterstatters nach § 79a Abs. 2 FGO ist dagegen nur ein Antrag auf mündliche Verhandlung möglich (s. Rz. 3.622)

3.1078

Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil. Wird allerdings rechtzeitig innerhalb eines Monats nach dessen Zustellung mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen (§ 90a Abs. 3 FGO). Das Verfahren wird in den Stand vor Erlass des Gerichtsbescheides zurückversetzt.

3.1079

Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides zu stellen, und zwar schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle.1 Der Antrag braucht nicht begründet zu werden. Er ist allerdings nur zulässig, wenn der Beteiligte durch den Gerichtsbescheid beschwert ist und ein Rechtsschutzinteresse besteht. An der Beschwer fehlt es z. B., wenn dem Klagebegehren des Klägers in vollem Umfang entsprochen worden ist.2 Der Antrag auf mündliche Verhandlung kann auch wieder zurückgenommen werden, und zwar noch in der mündlichen Verhandlung.3 Der Gerichtsbescheid lebt dann wieder auf und wirkt als Urteil (§ 90a Abs. 3 FGO).

3.1080

Ein Antrag auf mündliche Verhandlung, der dazu führt, dass der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, kann aus prozesstaktischen Überlegungen heraus auch dann gestellt werden, wenn sich der Beteiligte nicht gegen die sachliche Richtigkeit des Gerichtsbescheids wehren will, sondern die Entscheidung an sich akzeptiert.4 Ein solcher Antrag ist nicht rechtsmissbräuchlich: Deshalb kann ein Kläger nach Ergehen eines Gerichtsbescheids mündliche Verhandlung beantragen und die Klage zurücknehmen.5 Ebenso darf das Finanzamt einen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen, um der Klage abzuhelfen, so dass anschließend die Hauptsache nur noch für erledigt erklärt werden muss.6 Die Finanzverwaltung macht von dieser Möglichkeit zuweilen Gebrauch, um eine rechtskräftige Entscheidung, bei der sie unterliegt und die dann möglicherweise veröffentlicht wird, zu vermeiden. Ob die Rücknahme durch den Kläger oder auch die Abhilfe durch das beklagte Finanzamt erst im weiteren Verlauf des Verfahrens oder gleichzeitig mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung erfolgt, spielt keine Rolle.

3.1081

1 Vgl. Herbert in Gräber, § 90a FGO Rz. 19; zur Schriftform vgl. auch Rz. 3.30 ff. 2 Vgl. BFH v. 16.12.2015 – IV R 15/14, BStBl. II 2016, 284; v. 27.3.2013 – IV R 51/10, BFH/NV 2013, 1110. 3 BFH v. 9.5.1990 – II B 85/86, BStBl. II 1990, 548. 4 BFH v. 30.3.2006 – V R 12/04, BStBl. II 2006, 542 m. w. N.; v. 25.1.2005 – IV R 14/04, BFH/NV 2006, 874 m. w. N. 5 BFH v. 30.3.2006 – V R 12/04, BStBl. II 2006, 542 m. w. N.; v. 6.10.2005 – V R 64/00, BStBl. II 2006, 212; v. 25.9.1991 – I R 134/90, BFH/NV 1992, 564. 6 BFH v. 30.3.2006 – V R 12/04, BStBl. II 2006, 542 m. w. N.

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Kap. 3 Rz. 3.1082

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1082 Ebenso kann es durchaus sinnvoll sein, den Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO mit dem Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO zu verbinden. Dies bietet sich an, wenn es den Beteiligten lediglich darauf ankommt, noch Neues in den Prozess einzuführen und dies auch schriftlich geschehen kann, ohne dass eine mündliche Verhandlung erforderlich ist.1

3.1083 Wird gegen den Gerichtsbescheid mündliche Verhandlung beantragt, kann das Gericht, wenn sich das Verfahren nicht vorher durch Klagerücknahme oder Erledigung der Hauptsache erledigt, in dem Urteil von einer weiteren Darstellung des Tatbestands und der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Gerichtsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt (§ 90a Abs. 4 FGO).

3.1084 Wird anstelle des Antrags auf mündliche Verhandlung die im Gerichtsbescheid zugelassene Revision eingelegt, um das Verfahren ohne zeitliche Verzögerung zum BFH zu bringen, ist dies gleichzeitig als Verzicht auf die Rüge anzusehen, das Finanzgericht hätte den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufklären müssen (§ 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO).2

X. Exkurs: Selbständiges Beweisverfahren Literatur: Bohnen, Drittbeteiligung am selbständigen Beweisverfahren, BB 1995, 2333; Olgemöller, Zuständigkeit bei der Begleitung von FG-Prozessen – Informationsfluss und Beweissicherungsverfahren, AG 2006, 720; Schall, Das selbständige Beweisverfahren im Steuerprozess, StB 1993, 366; Schilken, Grundlagen des Beweissicherungsverfahrens, ZZP 92 (1979), 238; Schreiber, Das selbständige Beweisverfahren, NJW 1991, 2600; Woring, Die Zivilprozessordnung im FG-Verfahren, AO-StB 2002, 381.

3.1085 Im anhängigen Verfahren erfolgt die Beweisaufnahme grundsätzlich aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes; für ein selbständiges Beweisverfahren wird kaum ein Rechtsschutzinteresse dargelegt werden können.3

3.1086 Nach § 82 FGO i. V. m. § 485 Abs. 1 ZPO kann aber auf Antrag eines Beteiligten auch außerhalb eines Streitverfahrens die Einnahme des Augenscheins, die Vernehmung von Zeugen oder die Begutachtung durch einen Sachverständigen angeordnet werden, – wenn der andere Beteiligte, d. h. die Finanzbehörde, zustimmt – oder wenn zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird.

3.1087 Diese Vorschrift verlangt, dass aus im Einzelfall vorliegenden Gründen eine Erschwerung der Beweisführung konkret zu befürchten ist.4

1 2 3 4

BFH v. 6.12.1978 – VII R 98/77, BStBl. II 1979, 170. BFH v. 15.7.2014 – III S 19/12 (PKH), BFH/NV 2014, 1578. S. dazu BFH v. 14.5.2007 – I B 135/06, BFH/NV 2007, 1900. BFH v. 18.10.2007 – I B 56/07, BFH/NV 2008, 575; v. 14.5.2007 – I B 135/05, BFH/NV 2007, 1900 m. w. N.

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Schaumburg

F. Die Durchführung des Verfahrens

Rz. 3.1093 Kap. 3

Ein so beschriebener „drohender Beweisnachteil“ ist z. B. anzunehmen bei einer schweren und lebensgefährlichen Erkrankung oder einer längeren Auslandsreise eines Zeugen oder der drohenden Veränderung bzw. des Untergangs einer Sache.1 Hohes Alter der zu vernehmenden Person kann die Zulässigkeit des Antrags auf Beweissicherung begründen, weil dann, wenn diese Person nicht mehr besonders rüstig ist, die Gefahr des Beweismittelverlustes besteht.2 Der Aufenthalt eines Zeugen im nahen Ausland ist für sich allein kein Anlass zur Besorgnis, der Zeuge werde zu gegebener Zeit nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen zu einer Aussage zur Verfügung stehen.3 Auch die allgemeine Erwägung, mit fortschreitendem Zeitablauf wachse die Gefahr, dass Auskunftspersonen nicht mehr erreichbar seien oder ihre Erinnerung verblasse, ist nicht geeignet, die Voraussetzungen des § 485 Abs. 1 ZPO zu begründen.4

3.1088

Nach § 82 FGO i. V. m. § 485 Abs. 2 ZPO kann ein Beteiligter auch dann, wenn ein Rechtsstreit noch nicht anhängig ist, die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, wenn er ein rechtliches Interesse daran hat, dass u. a. der Zustand einer Person oder der Zustand oder Wert einer Sache festgestellt wird. Ein rechtliches Interesse ist dabei anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann.

3.1089

Der Antrag ist bei dem Finanzgericht zu stellen, das für das Verfahren zuständig wäre (§ 486 Abs. 2 ZPO). In Fällen dingender Gefahr kann der Antrag bei dem Gericht gestellt werden, in dessen Bezirk die zu vernehmende Person sich aufhält (§ 82 FGO i. V. m. § 486 Abs. 3 ZPO). Darzulegen und glaubhaft zu machen ist in diesem Fall ein Grund, der es untunlich erscheinen lässt, die Beweissicherung durch das – sachnähere – Prozessgericht vornehmen zu lassen.5

3.1090

Über den Antrag entscheidet das Finanzgericht durch Beschluss. Wird dem Antrag stattgegeben, ergeht ein normaler Beweisbeschluss unter Angabe des Beweisthemas und der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 82 FGO i. V. m. § 490 Abs. 2 ZPO). Der abweisende Beschluss ist mit der Beschwerde gem. § 128 Abs. 1 FGO anfechtbar.6

3.1091

Die Beweisaufnahme findet wie im anhängigen Gerichtsverfahren statt (s. Rz. 3.917 ff.). Nach § 82 FGO i. V. m. § 492 Abs. 3 ZPO kann das Gericht die Beteiligten zur mündlichen Erörterung laden, wenn eine Einigung aufgrund der Beweisaufnahme zu erwarten ist. Eine entsprechende Einigung ist zu Protokoll zu nehmen.

3.1092

Beruft sich einer der Beteiligten im Prozess auf Tatsachen, über die selbständig Beweis außerhalb des Verfahrens erhoben worden ist, so steht die selbständige Beweisaufnahme einer Beweisaufnahme des Finanzgerichts im anhängigen Verfahren gleich (§ 82 FGO i. V. m. § 493 Abs. 1 ZPO). Damit ist die protokollierte Aussage eines Zeugen Zeugenbeweis und nicht nur Urkundenbeweis.7

3.1093

1 2 3 4 5 6 7

BFH v. 19.10.2007 – V B 93-94/07, V B 93/07, V B 94/07, juris, m. w. N. BFH v. 4.11.1986 – VII B 120/86, BFH/NV 1987, 379. BFH v. 14.5.2007 – I B 135/06, BFH/NV 2007, 1900. BFH v. 18.10.2007 – I B 56/07, BFH/NV 2008, 575. BFH v. 4.11.1986 – VII B 120/86, BFH/NV 1987, 379. Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 100; BFH v. 11.10.2007 – V B 68/07, BFH/NV 2008, 343. Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 103.

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Kap. 3 Rz. 3.1094

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

XI. Exkurs: Eidliche Vernehmung Literatur: Kanzler, Die eidliche Vernehmung nach § 94 AO 1977, DStZ/A 1977, 326.

3.1094 Hält die Finanzbehörde mit Rücksicht auf die Bedeutung der Auskunft oder zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Auskunft die Beeidigung einer anderen Person als eines Beteiligten für geboten, so kann sie das für den Wohnsitz oder den Aufenthaltsort der zu beeidigenden Person zuständige Finanzgericht um die eidliche Vernehmung ersuchen (§ 94 Abs. 1 Satz 1 AO i. V. m. § 158 FGO). Die eidliche Vernehmung findet vor dem im Geschäftsverteilungsplan dafür bestimmten Richter statt (§ 158 Abs. 1 FGO). Gegenüber dem Ersuchen der Finanzbehörde gem. § 94 Abs. 1 AO steht dem Finanzgericht nur ein beschränktes Prüfungsrecht zu.1 Es prüft die Ordnungsmäßigkeit des Vernehmungsersuchens (§ 94 Abs. 2 Satz 1 AO), ferner, ob die zu vernehmende Person „Subjekt“ einer eidlichen Vernehmung sein kann, also Dritter und nicht etwa Beteiligter ist.2 Im Übrigen ist das Gericht grundsätzlich an das Ersuchen gebunden.3 In der Praxis kommt das Ersuchen des Finanzamtes auf eidliche Vernehmung nicht häufig vor.

3.1095 Gegen die Entscheidung des Gerichts, die eidliche Vernehmung durchzuführen, kann als Rechtsbehelf Beschwerde gem. § 128 Abs. 1 FGO eingelegt werden. Berechtigt hierzu ist nur derjenige, der durch die Anordnung in seinen Rechten verletzt, d. h. beschwert wird. Zu dem Kreis der Beschwerdeberechtigten gehört demnach zunächst derjenige, der vernommen werden soll. Umstritten ist, ob auch der Steuerpflichtige, dessen Verwaltungsverfahren die Vernehmung betrifft, in seinen Rechten verletzt sein kann.4 Dies hängt von den Umständen des Einzelfalls und dem Sachvortrag des Steuerpflichtigen bezüglich einer etwaigen Rechtsverletzung ab. Es reicht jedenfalls nicht aus, wenn der Steuerpflichtige vorträgt, das Ersuchen sei unzulässig, weil das Finanzamt nicht selbst zuvor versucht habe, eine uneidliche Vernehmung des Dritten durchzuführen,5 oder sein Recht auf Gehör sei verletzt, weil er vorher nicht gehört worden sei.6

XII. Exkurs: Streitbeilegung im Güteverfahren Literatur: Haunhorst, Gerichtsnahe Mediation im finanzgerichtlichen Verfahren – Chance oder Schnickschnack?, DStZ 2004, 868; Kratzsch/Nolte, Praktikabilität und Grenzen der Mediation im steuerrechtlichen Verfahren, INF 2007, 235; Paul, Mediation – Ein Thema für Finanzgerichte?, DStR 2008, 1.

3.1096 Nach dem Mediationsgesetz vom 26.7.2012 kann der für das Verfahren zuständige Richter den Rechtsstreit gem. § 155 FGO i. V. m. § 278 Abs. 5 ZPO an den Güterichter verweisen, wenn die Beteiligten einverstanden sind.7 Die Einschaltung eines Güterichters ist erst nach Klageerhebung möglich. Das Mediationsgesetz weist ausdrücklich darauf hin, dass der Güterichter alle Methoden der Konfliktbereinigung einschließlich der Mediation einsetzen kann. Anders als der (außergerichtliche) Mediator kann der Güterichter eine rechtliche Bewertung 1 2 3 4 5 6 7

BFH v. 26.9.1995 – VII B 148/95, BFH/NV 1996, 200. BFH v. 28.3.1979 – I B 79/78, BStBl. II 1979, 538. BFH v. 13.1.1992 – III B 33/91, BFH/NV 1992, 783. Vgl. hierzu BFH v. 3.10.1979 – IV B 63/79, BStBl. II 1980, 2. So BFH v. 3.10.1979 – IV B 63/79, BStBl. II 1980, 2. So BFH v. 3.10.1979 – IV B 63/79, BStBl. II 1980, 2. S. dazu beispielsweise Homepage des FG Köln www.fg-koeln.nrw.de/aufgaben.

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Schaumburg

G. Urteilsberichtigung

Rz. 3.1101 Kap. 3

vornehmen und den Parteien eine konkrete Lösung ihres Konflikts vorschlagen, die sich nicht auf den anhängigen Streitgegenstand beschränken muss. Er kann auch Einsicht in die Gerichtsakten und Steuerakten nehmen, ist aber nicht entscheidungsbefugt und wirkt auch bei einem etwaigen Scheitern der Güteverhandlung nicht an einer streitigen Entscheidung mit. Ein Protokoll über die Verhandlung wird nur aufgenommen, wenn die Parteien dies übereinstimmend beantragen. Die Güteverhandlung ist ein Angebot für konfliktbeladene Fälle, die über das eigentliche Rechtsproblem hinausgehen und in denen neben der steuerlichen Fachkompetenz auch der Einsatz besonderer Konfliktlösungsmethoden sinnvoll ist.1

3.1097

Ist das Güterichterverfahren erfolgreich, endet es mit einer für die Beteiligten verbindlichen Vereinbarung. Aufgrund dieser Vereinbarung kann das Klageverfahren dann in der Hauptsache für erledigt erklärt oder die Klage zurückgenommen werden.

3.1098

Falls die Güteverhandlung nicht zum Erfolg führt, gibt der Güterichter die Sache an das entscheidungsbefugte Gericht zurück.

3.1099

In der Praxis haben die Verfahren vor dem Güterichter in der deutschen Finanzgerichtsbarkeit bisher keine nennenswerte Relevanz. Im Jahre 2014 war insgesamt nur in 25 Verfahren von knapp 40.000 erledigten Verfahren (= 0,06 v.H.) eine Verweisung an den Güterichter erfolgt. In dem Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2013 bis 20152 wird als Begründung zu Recht ausgeführt: „Das dürfte allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass mit den Erörterungsterminen ebenfalls eine auf aktiver Mitwirkung beruhende, aber auf Konsens abzielende Möglichkeit bei der Verfahrensförderung besteht, von der in der gerichtlichen Praxis vielfach Gebrauch gemacht wird.“

3.1100

G. Urteilsberichtigung Literatur: Brandt, Antrag auf Tatbestandsberichtigung und Wechsel eines Richters in einen anderen Senat des Gerichts, INF 2003, 767; Brandt, Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten in FG-Entscheidungen, AO-StB 2003, 352; Hirte, „Richterwechsel“ nach Urteilsverkündung, JR 1985, 138; Mittelbach, Die Bedeutung der Urteilsergänzung, DB 1967, 1428; Rößler, Zur Änderung eines Urteilstenors, DStZ 1996, 191; Schneider, Der Beginn der Rechtsmittelfrist bei Urteilsberichtigung, MDR 1986, 377; Vollkommer, Unzulässige „Berichtigung“ des Rubrums, MDR 1992, 642.

I. Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit Gem. § 107 Abs. 1 FGO können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten im Urteil jederzeit von dem Gericht, das das Urteil erlassen hat,3 berichtigt werden. Berichtigt werden können gem. § 107 FGO alle Bestandteile des Urteils, also Rubrum, Tenor, Tatbestand und Entscheidungsgründe.4 Sofern bereits Revision eingelegt wor-

1 S. dazu beispielsweise Homepage des FG Düsseldorf www.fg-duesseldorf.nrw.de/aufgaben; gleichlautend Homepage des FG Münster www.fg-muenster.nrw.de/aufgaben. 2 EFG 2016, 957. 3 BFH v. 22.3.2016 – VIII B 130/14, 17/15, BFH/NV 2016, 1052. 4 BFH v. 7.12.2000 – IX B 53/00, BFH/NV 2001, 631; Brandis in Tipke/Kruse, § 107 FGO Rz. 4.

Schaumburg

343

3.1101

Kap. 3 Rz. 3.1102

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

den ist, muss der BFH eine solche offenbare Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils berichtigen.1

3.1102 Der Begriff der „offenbaren Unrichtigkeit“ umfasst nach st. Rechtsprechung des BFH, ähnlich wie derjenige in § 129 AO, alle bei der Abfassung des Urteils unterlaufenen „mechanischen“ Fehler. Ein solcher Fehler liegt vor, wenn eine in dem Urteil enthaltene Aussage die vom Finanzgericht getroffenen Feststellungen oder die von ihm angestellten Überlegungen nicht zutreffend zum Ausdruck bringt und dies aus dem Urteil selbst heraus erkennbar wird.2 Bereits die Möglichkeit eines Rechtsirrtums, Denkfehlers oder unvollständiger Sachverhaltsermittlung schließt die Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit aus.3 Solche Unrichtigkeiten eines finanzgerichtlichen Urteils können nur durch eine Nichtzulassungsbeschwerde bzw. Revision gegen das Urteil geltend gemacht werden.4

3.1103 Der Fehler muss schließlich aus dem Urteil selbst erkennbar sein; anderenfalls ist er nicht „offenbar“ i. S. des § 107 Abs. 1 FGO.5

3.1104 Dabei ist ein Fehler nur dann offenbar, wenn er auf der Hand liegt, wenn er durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist.6 Hierzu rechnen auch Unrichtigkeiten, die in einer offenbaren Auslassung bestehen, z. B. sind im Rubrum versehentlich nicht alle Richter aufgeführt, die an der Entscheidung mitgewirkt haben7 oder es fehlen im Tatbestand die protokollierten Anträge.8

3.1105 Die Berichtigung kann nur dazu führen, dass die Übereinstimmung des erkennbar gewordenen zutreffenden Inhalts des Urteils mit dem erklärten Text des Urteils hergestellt wird.9 Ziel der Berichtigung nach § 107 FGO kann deshalb nur sein, den erklärten mit dem gewollten Inhalt der Entscheidung in Einklang zu bringen.

3.1106 Die Berichtigung des Urteils wegen offenbarer Unrichtigkeit ist nicht antragsgebunden, auch nicht fristgebunden. Sie kann deshalb auch noch nach Einlegung der Revision und nach Rechtskraft vorgenommen werden. Die Berichtigung erfolgt von Amts wegen durch Beschluss. Deshalb kann die Berichtigung auch noch nach Einlegung der Revision oder nach Rechtskraft erfolgen. Der Berichtigungsbeschluss wirkt auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens des berichtigten Urteils (Verkündung, Zustellung) zurück.10

3.1107 Sowohl gegen den Berichtigungsbeschluss als auch gegen den die Berichtigung ablehnenden Beschluss ist die Beschwerde gegeben. Sie ist nur mit dem Vortrag zulässig, die Vorausset1 Vgl. BFH v. 17.9.2014 – IX B 13/14, BFH/NV 2015, 225; v. 30.9.2013 – XI B 57/13, BFH/NV 2014, 61; v. 12.9.2000 – III R 56/99, BFH/NV 2001, 197. 2 S. zu dieser st. Rspr. BFH v. 22.3.2016 – VIII B 130/14/, VIII B 17/15, BFH/NV 2016, 1052; v. 25.10.2011 – IV B 59/10, BFH/NV 2012, 251; v. 29.7.2010 – I B 121/10, BFH/NV 2010, 2098. 3 BFH v. 19.8.2015 – V B 26/15, BFH/NV 2015, 1599; v. 14.3.2011 – I B 65/10, BFH/NV 2010, 1000; v. 21.8.2003 – XI B 239/02, BFH/NV 2004, 67, und v. 25.11.1993 – IV B 80/93, BFH/NV 1994, 723. 4 BFH v. 19.8.2015 – V B 26/15, BFH/NV 2015, 1599; v. 10.2.2004 – X B 75/03, BFH/NV 2004, 663. 5 BFH v. 14.3.2011 – I B 65/10, BFH/NV 2010, 1000 m. w. N. 6 BFH v. 17.3.2000 – IX B 111/99, BFH/NV 2000, 1127; vgl. dazu Brandt, AO-StB 2003, 352. 7 BFH v. 7.12.2000 – IX B 53/00, BFH/NV 2001, 631. 8 BFH v. 24.8.2011 – IX B 49/11, BFH/NV 2012, 54. 9 BFH v. 15.5.2006 – VII B 70/06, BFH/NV 2006, 1678; vgl. dazu auch Brandt, AO-StB 2003, 352. 10 BFH v. 19.12.2000 – IX R 29/00, BFH/NV 2001, 638.

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Schaumburg

G. Urteilsberichtigung

Rz. 3.1111 Kap. 3

zungen für eine erfolgte Berichtigung hätten nicht vorgelegen oder es sei fehlerhaft berichtigt worden. Ist dagegen eine Berichtigung abgelehnt worden, muss mit der Beschwerde schlüssig dargelegt werden, dass die Voraussetzungen für eine Berichtigung vorliegen.1 Gem. § 113 Abs. 1 i. V. m. § 107 Abs. 1 FGO gelten die Grundsätze über die Urteilsberichtigung sinngemäß auch für die Berichtigung von Beschlüssen.2 Der Berichtigungsbeschluss wird vom Urkundsbeamten auf dem Urteil und den Ausfertigungen vermerkt (§ 107 Abs. 2 Satz 2 FGO).

3.1108

Das Berichtigungsverfahren vor dem Finanzgericht ist als nicht selbständiges Nebenverfahren nicht kostenpflichtig, Für das Beschwerdeverfahren fallen aber bei Abweisung der Beschwerde gem. § 135 Abs. 2 FGO Kosten an.3

3.1109

Davon zu unterscheiden sind Fehler, die die den Beteiligten zugestellte Ausfertigung eines Urteils aufgrund eines Kanzleiversehens enthält. Diese können jederzeit vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle richtig gestellt werden. Die Berichtigung ist allerdings auch dann wirksam, wenn sie stattdessen von der Gerichtskanzlei durchgeführt wird. Das Urteil ist in dem einen wie in dem anderen Fall allein in der berichtigten Fassung maßgebend.4

3.1110

II. Tatbestandsberichtigung Literatur: Kapp, Die Tatbestandsberichtigung nach § 108 der FGO - eine rechtsstaatlich vertretbare Gesetzesbestimmung, BB 1983, 190; Rößler, Der Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach Maßgabe des BFH, NJW 2004, 266; Schmidt, Der Richterwegfall im Tatbestandsberichtigungsverfahren, JR 1993, 457.

Enthält der Tatbestand des finanzgerichtlichen Urteils andere Unrichtigkeiten oder Unklarheiten, die nicht als offenbare Unrichtigkeit i. S. des § 107 Abs. 1 FGO anzusehen sind, so kann gem. § 108 Abs. 1 FGO die Berichtigung binnen zwei Wochen nach Zustellung des Urteils beantragt werden. Die Tatbestandsberichtigung ist vom Gesetzgeber mit Rücksicht auf die urkundliche Beweiskraft, die dem Tatbestand nach § 155 FGO i. V. m. § 314 ZPO zukommt, zugelassen worden. Es soll verhindert werden, dass infolge dieser Beweiskraft ein unrichtig beurkundeter Prozessstoff Grundlage für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts wird.5 Das Revisionsgericht trifft nämlich keine eigenen Feststellungen, sondern ist an die in der angegriffenen Entscheidung enthaltenen Feststellungen gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Sofern diese nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind, bilden diese allein die Grundlage des Revisionsurteils.6

1 Vgl. dazu Brandt, AO-StB 2003, 352 unter Hinweis auf BFH v. 18.6.1986 – V S 5/86, BFH/NV 1986, 621. 2 BFH v. 10.2.2004 – X B 75/03, BFH/NV 2004, 663. 3 BFH v. 19.8.2015 – V B 26/15, BFH/NV 2015, 1599; v. 11.5.2010 – IX B 209/09, BFH/NV 2010, 1478; vgl. Brandt, AO-StB 2003, 352. 4 BFH v. 30.11.1998 – I R 42/98, BFH/NV 1999, 792. 5 BFH v. 9.10.2008 – V R 45/06, BFH/NV 2009, 39 m. w. N.; v. 23.10.2000 – V R 105/98, BFH/NV 2001, 467; s. dazu auch zur vergleichbaren Vorschrift des § 119 VwGO BVerwG v. 31.5.2013 – 2 C 6/11, HFR 2013, 1161. 6 Vgl dazu zur vergleichbaren Vorschrift in § 119 VwGO BVerwG v. 31.5.2013 – 2 C 6/11, HFR 2013, 1161.

Schaumburg

345

3.1111

Kap. 3 Rz. 3.1112

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1112 Ein Antrag auf Tatbestandsberichtigung eines Revisionsurteils1 ist regelmäßig unzulässig.2 Da gegen Revisionsurteile kein Rechtsmittel eingelegt werden kann, besteht für einen solchen Antrag kein Rechtsschutzbedürfnis.3 Die Möglichkeit des Klägers, gegen ein Revisionsurteil Verfassungsbeschwerde einzulegen, ändert daran nichts, da es sich hierbei nicht um ein Rechtsmittel im herkömmlichen Sinne handelt4 und das BVerfG an die Wiedergabe der Tatsachenfeststellungen im Revisionsurteil nicht über eine § 118 Abs. 2 FGO vergleichbare Norm gebunden ist.5

3.1113 Das in § 108 FGO geregelte Verfahren betrifft nur Unrichtigkeiten im Tatbestand, nicht auch Unrichtigkeiten im Rubrum oder in den Entscheidungsgründen. Deshalb kann das Verfahren nach § 108 FGO nicht zu einer Korrektur des Urteilstenors führen.

3.1114 Die Berichtigung ist nur auf Antrag zulässig. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Zustellung des vollständigen Urteils zu stellen. Hierbei handelt es sich um eine gesetzliche Frist, die nicht verlängerbar ist; allerdings ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich.6 Über den Antrag entscheidet das Gericht ohne Beweisaufnahme durch Beschluss (§ 108 Abs. 2 Satz 1 FGO). Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 108 Abs. 2 Satz 2 FGO).7 Bei der Entscheidung wirken nur die Berufsrichter mit, die bei dem Urteil tatsächlich mitgewirkt haben. Die ehrenamtlichen Richter wirken bei dem Beschluss nicht mit. Eine Vertretung findet nicht statt.8 Ist ein Richter verhindert, gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag (§ 108 Abs. 2 Satz 4 FGO). Der Berichtigungsbeschluss wird auf dem Urteil und den Ausfertigungen vermerkt (§ 108 Abs. 2 Sätze 5 und 6 FGO). Der Beschluss ergeht gerichtskostenfrei, da er zum Hauptsacheverfahren gehört.9

3.1115 Da es für die Begründetheit einer Nichtzulassungsbeschwerde oder einer Revision auf die Richtigkeit des Tatbestandes ankommen kann und der BFH gem. § 118 Abs. 2 FGO an die Feststellungen im Tatbestand des finanzgerichtlichen Urteils gebunden ist, muss in der Praxis ggf. beim Finanzgericht ein Antrag auf Tatbestandsberichtigung gestellt werden. Unrichtigkeiten im Tatbestand eines Urteils können nämlich, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH, sondern grundsätzlich nur mit dem Antrag auf Tatbestandsberichtigung geltend gemacht werden.10 Der Kläger bzw. sein Berater sollten allerdings genau überlegen, ob es sinnvoll ist, einen Antrag auf Tatbestandsberichtigung, der sehr genau begründet werden muss und mit viel Zeitaufwand verbunden ist, zu stellen. Für den Antrag auf Tatbestandsberichtigung fehlt es nämlich beispielsweise am Rechtsschutzinteresse, wenn gegen die gerichtliche Entscheidung, deren

1 § 121 Satz 1 i. V. m. § 108 Abs. 1 FGO. 2 BFH v. 23.10.2000 – V R 105/98, BFH/NV 2001, 467. 3 BFH v. 4.8.2014 – VII R 28/13, BFH/NV 2014, 1771; v. 9.10.2008 – V R 45/06, BFH/NV 2009, 39 m. w. N.; v. 15.5.2007 – II R 2/05, BFH/NV 2007, 1530 m. w. N.; s. dazu auch zur vergleichbaren Vorschrift des § 119 VwGO BVerwG v. 31.5.2013 – 2 C 6/11, HFR 2013, 1161. 4 BFH v. 9.10.2008 – V R 45/06, BFH/NV 2009, 39 m. w. N. 5 Vgl. BVerwG v. 31.5.2013 – 2 C 6/11, HFR 2013, 1161. 6 Brandis in Tipke/Kruse, § 108 FGO Rz. 6. 7 Zu Ausnahmen bei unanfechtbaren FG-Beschlüssen s. Brandis in Tipke/Kruse, § 108 FGO Rz. 8. 8 Vgl. dazu Brandis in Tipke/Kruse, § 108 FGO Rz. 7 und die dort angeführte Rspr. 9 BFH v. 23.2.2016 – XI B 113/14, BFH/NV 2016, 934. 10 BFH v. 23.10.2013 – IX B 68/13, BFH/NV 2014, 124; v. 17.3.2000 – VII B 1/00, BFH/NV 2000, 1125.

346

Schaumburg

G. Urteilsberichtigung

Rz. 3.1120 Kap. 3

Tatbestand berichtigt werden soll, kein Rechtsmittel gegeben ist, wie z. B. gegen Beschlüsse über Anträge auf Prozesskostenhilfe.1 Eine Tatbestandsberichtigung kommt nicht in Betracht bei Urteilen, die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangen sind; denn die Tatbestandsberichtigung ist auf Tatbestandsteile beschränkt, die für das Verfahren urkundliche Beweiskraft haben können. Im schriftlichen Verfahren gilt der urkundlich belegte Vortrag. Hierdurch ergibt sich allerdings keine Rechtsbeeinträchtigung, da der Kläger gegen eine seiner Ansicht nach unzutreffende Darstellung des Sach- und Streitstandes in diesem Fall seine Rechte durch eine schlüssige Verfahrensrüge wegen Verletzung der §§ 76, 96 FGO mit einer Nichtzulassungsbeschwerde oder im Revisionsverfahren wahrnehmen kann.2

3.1116

III. Urteilsergänzung Wenn ein nach dem Tatbestand von einem Beteiligten gestellter Antrag oder die Kostenfolge bei der Entscheidung ganz oder zum Teil übergangen ist, ist auf Antrag das Urteil durch nachträgliche Entscheidung gem. § 109 Abs. 1 FGO zu ergänzen. § 109 FGO betrifft die Situation, dass eine Entscheidungslücke besteht und ermöglicht die Nachholung der beabsichtigten, aber versehentlich unterbliebenen vollständigen Erledigung des Rechtsstreits in der jeweiligen Instanz. § 109 FGO bezieht sich nicht auf das Übergehen einzelner Angriffs- oder Verteidigungsmittel und/oder einzelner Elemente der Antragsbegründung. Sie dient vielmehr der Ergänzung des lückenhaften Urteils, nicht aber der Richtigstellung einer von einem Beteiligten für falsch gehaltenen Entscheidung.3 Dies gilt nach § 113 Abs. 1 FGO für Beschlüsse entsprechend.

3.1117

Der Antrag muss nach dem Tatbestand des Urteils gestellt sein. Ist er im Tatbestand des Urteils nicht erwähnt, so findet § 109 FGO keine Anwendung, solange der Tatbestand nicht nach § 108 FGO berichtigt worden ist.4

3.1118

Die Ergänzung geschieht nur auf Antrag. Der Antrag muss binnen zwei Wochen nach Zustellung des Urteils gestellt werden. Die Ergänzung erfolgt nach mündlicher Verhandlung durch Urteil. Folglich müssen auch ehrenamtliche Richter mitwirken. Die Besetzung des Gerichts, das über die Ergänzung zu entscheiden hat, muss nicht mit der ursprünglichen Besetzung übereinstimmen.5 Die mündliche Verhandlung hat nur den nicht erledigten Teil des Rechtsstreits zum Gegenstand (§ 109 Abs. 2 Satz 2 FGO). Auf mündliche Verhandlung kann auch verzichtet werden (§ 90 Abs. 2 FGO; vgl. Rz. 3.997 ff.). Auch kann das Gericht durch Gerichtsbescheid entscheiden, dann aber ohne ehrenamtliche Richter.6

3.1119

§ 109 FGO betrifft auch den Fall, dass das Gericht versehentlich ganz oder teilweise über die Kostenfolge nicht entschieden hat. Unterlässt es das Gericht, das über die Kosten i. S. des

3.1120

1 BFH v. 2.10.2000 – III S 8/00, BFH/NV 2001, 328. 2 BFH v. 29.8.2003 – III B 105/02, BFH/NV 2004, 178 und v. 17.12.1999 – V B 116/99, BFH/NV 2000, 852. 3 Steinhauff, jurisPR-SteuerR 16/2011 Anm. 4. 4 BFH v. 30.6.2006 – II B 193/04, BFH/NV 2006, 2101; zur Tatbestandsberichtigung vgl. Rz. 3.1111 ff. 5 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 109 FGO Rz. 4; Brandis in Tipke/Kruse, § 109 FGO Rz. 5. 6 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 109 FGO Rz. 4; Brandis in Tipke/Kruse, § 109 FGO Rz. 5; zum Gerichtsbescheid vgl. Rz. 3.1074 ff.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.1121

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

§ 139 Abs. 4 FGO von Amts wegen zu entscheiden hat, z. B. den Ausspruch über die Erstattungsfähigkeit der außergerichtlichen Kosten von Beigeladenen als Teil der gerichtlichen Kostenentscheidung, so ist das Urteil bzw. der betreffende Beschluss auf Antrag nach §§ 109, 113 FGO zu ergänzen.1

3.1121 Es ist darauf zu achten, dass der Antrag auf Urteilsergänzung fristgerecht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gestellt wird. Wird der Antrag auf Urteilsergänzung nämlich erst nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist und damit verspätet gestellt, entfällt die Rechtshängigkeit des nicht entschiedenen Streitteils und eine Urteilsergänzung kommt grundsätzlich nicht mehr in Betracht bzw. nur dann, wenn wegen Versäumung der Zwei-Wochen-Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann.2

3.1122 § 109 FGO ist entsprechend anzuwenden, wenn das Finanzgericht in Unkenntnis eines Änderungsbescheids über den geänderten Bescheid entscheidet: Damit soll es dem Finanzgericht – ohne Umweg über ein Rechtsmittel – ermöglicht werden, den Mangel des Urteils durch ein Ergänzungsurteil selbst zu korrigieren.3 Dies ist sinnvoll, wenn das Klagebegehren auch nach dem Änderungsbescheid inhaltlich dem bisherigen entspricht, die Änderung also hingenommen und das bisherige Klageziel weiter verfolgt worden ist. Wird hier die Zwei-Wochen-Frist versäumt, so kann der Verfahrensmangel – Entscheidung über den falschen – ursprünglichen – Bescheid mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden, da das finanzgerichtliche Urteil ins Leere geht (s. Rz. 3.749).

3.1123–3.1127

Einstweilen frei.

H. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren Literatur: Kulosa, Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer in der Finanzgerichtsbarkeit, JM 2014, 292; Müller, Die Verfahrensverzögerung im Steuerprozess – ein ungelöstes Problem, AO-StB 2010, 21; Nöcker, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, AO-StB 2015, 272; Roller, Rechtsschutz bei überlangen Verfahren – eine Zwischenbilanz, DRiZ 2015, 66; Schenke, Die Klage auf Feststellung der unangemessenen Dauer eines gerichtlichen Verfahrens, NJW 2015, 433; Steinbeiß/ Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013.

3.1128 Nach § 155 Satz 1 FGO i. V. m. §§ 198 ff. GVG besteht die Möglichkeit, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, also auch bei Finanzgerichtsverfahren, und Verfahren vor dem BFH, zu erhalten. Nach § 155 Satz 2 FGO ist für diese Verfahren der BFH – als einzige Instanz – zuständig. Dabei sind für die Entschädigungsverfahren die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug, also die Vorschriften zum finanzgerichtlichen Klageverfahren, entsprechend anzuwenden. Gem. § 66 Satz 2 FGO4 wird bei Entschädigungsklagen die Streitsache erst mit der Zustellung der Klage rechtshängig. Dies bewirkt, dass auch der Lauf der Prozess-

1 BFH v. 27.12.2006 – IX B 199/05, BFH/NV 2007, 1140. 2 BFH v. 5.6.1997 – IV B 161/96, BFH/NV 1998, 37. 3 BFH v. 12.1.2011 – II R 37/09, BFH/NV 2011, 629 mit Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 16/2011 Anm. 4; Schallmoser in HHSp, § 68 FGO Rz. 99; Seer in Tipke/Kruse, § 68 FGO Rz. 24, je m. w. N. 4 I. d. F. des Gesetzes v. 11.10.2016 (BGBl. I 2016, 2222); vgl. dazu BFH v. 25.10.2016 – X K 3/15, HFR 2017, 151.

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Schaumburg

H. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren

Rz. 3.1130 Kap. 3

zinsen erst mit der Zustellung der Klage beim Beklagten und nicht wie bisher mit dem Eingang der Klage beim BFH beginnt.1 § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG sieht eine angemessene Entschädigung für denjenigen vor, der infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erlitten hat. Diese Entschädigung soll die materiellen wie immateriellen Nachteile aus dem überlangen Verfahren ausgleichen. Grundsätzlich sind dabei nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG die Umstände des Einzelfalls entscheidend. Zur Ermittlung des materiellen Nachteils muss geprüft werden, wie das Verfahren ohne die Verzögerung verlaufen wäre; das Ergebnis ist dann dem tatsächlichen Geschehensablauf gegenüberzustellen.2 Ein immaterieller Nachteil wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Die Geldentschädigung hierfür beträgt 1200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG). Diese kann in eine monatsweise Entschädigung umgerechnet werden.3

3.1129

Ob ein Ausgangsverfahren zeitlich angemessen ist oder nicht, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.4 § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nennt insoweit insbesondere die Schwierigkeit und die Bedeutung des Verfahrens und das Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten. Die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens darf nach der Rechtsprechung des BFH5 nicht zu eng gezogen werden. Der BFH räumt dem Finanzgericht einen erheblichen Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens – auch in zeitlicher Hinsicht – ein: Für den ganz überwiegenden Teil der finanzgerichtlichen Klageverfahren seien die jeweiligen Verfahrenssituationen und Streitgegenstände im Kern miteinander vergleichbar,6 da es in den meisten Fällen darum gehe, dass der Bürger sich gegen einen Steuerbescheid wendet oder – in Gestalt einer Steuervergütung – seinerseits einen Geldanspruch von der Finanzverwaltung begehrt. Der Ablauf der weitaus meisten finanzgerichtlichen Klageverfahren lasse sich deshalb im Wesentlichen in drei Phasen einteilen7:

3.1130

– Die erste Phase besteht in der Einreichung und im Austausch vorbereitender Schriftsätze (§ 77 Abs. 1 Satz 1 FGO) durch die Beteiligten. Das Gericht wird in dieser Phase zumeist nur insoweit tätig, als es eingehende Schriftsätze an den jeweils anderen Beteiligten weiterleitet. – An diesen Schriftsatzaustausch schließt sich in der Regel eine Phase an, in der das Verfahren – gerichtsorganisatorisch durch die Gesamtanzahl der dem Spruchkörper oder Rich1 § 66 Satz 2 FGO ist nur auf Entschädigungsklagen anzuwenden, die ab dem 15.10.2016 beim BFH eingegangen sind. Unklar ist, ob die Gesetzesänderung auch Auswirkungen auf die Wahrung der für Entschädigungsklagen geltenden sechsmonatigen Klagefrist hat. Man könnte die Auffassung vertreten, dass auch hierfür (erst) die Rechtshängigkeit maßgebend ist. Dann wäre in Zukunft – insbesondere bei verzögerter Zahlung des Gerichtskostenvorschusses – vermehrt mit Fristversäumnissen zu rechnen. Der BFH deutet in Rz. 48 des Urteils v. 25.10.2016 – X K 3/15, HFR 2017, 151 allerdings an, dass er zu der Auffassung neigt, es sei hierfür auch weiterhin der Zeitpunkt des Eingangs der Klage maßgebend (§ 64 Abs. 1 FGO). Dies würde jedenfalls der Rechtssicherheit dienen, da der Kläger den Zeitpunkt, zu dem seine Klage dem Beklagten zugestellt wird, nicht kennen kann; so auch Kulosa, Anmerkung zu BFH v. 25.10.2016 – X K 3/15, HFR 2017, 151. 2 BFH v. 6.4.2016 – X K 1/15, BStBl. II 2016, 694 m. w. N. 3 BFH v. 20.8.2014 – X K 9/13, BStBl. II 2015, 33. 4 Hierzu gibt es inzwischen eine umfangreiche Kasuistik. Vgl. Nachweise bei Brandis in Tipke/Kruse, § 155 FGO Rz. 13 ff. 5 BFH v. 6.4.2016 – X K 1/15, BStBl. II 2016, 694. 6 BFH v. 7.11.2013 – X K 13/12, BStBl. II 2014, 179. 7 Vgl. hierzu ausführlich BFH v. 7.11.2013 – X K 13/12, BStBl. II 2014, 179.

Schaumburg

349

Kap. 3 Rz. 3.1131

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

ter zugewiesenen Verfahren bedingt– wegen der Arbeit an anderen Verfahren nicht bearbeitet werden kann. – Der Beginn der dritten Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gericht Maßnahmen trifft, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen Diese dritte Phase ist in besonderem Maße vom Schwierigkeitsgrad des Verfahrens, dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter – insbesondere von deren Reaktionsgeschwindigkeit auf gerichtliche Anfragen und Ermittlungshandlungen – und der Intensität der Bearbeitung durch den hierfür berufenen Richter abhängig.

3.1131 Dabei ist die Dauer des Verfahrens nach der BFH-Rechtsprechung grundsätzlich angemessen, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene („dritte“) Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt.1 Diese Vermutung gilt indes nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt. Soweit Kläger von der besonderen Bedeutung des Verfahrens ausgehen und deshalb eine besondere Förderung des Verfahrens für angemessen halten, haben sie gem. § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG hierauf hinzuweisen. Ansonsten unterbleibt nach § 198 Abs. 3 Satz 4 GVG die Berücksichtigung dieser Umstände bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer.2

3.1132 Soweit eine Geldentschädigung verlangt wird, bedarf es der Erhebung einer Verzögerungsrüge im Ausgangverfahren (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG). Um die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit im Bereich der Entschädigungsklagen zu verbessern, ist die Verzögerungsrüge in finanzgerichtlichen Verfahren zeitlich nicht uneingeschränkt möglich.3 Sie wirkt nach der BFH-Rechtsprechung lediglich für einen Zeitraum von sechs Monaten zurück.4

3.1133 Dabei darf die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Ausgangsverfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden kann. Nach der Erhebung der Verzögerungsrüge kann die Klage beim BFH frühestens sechs Monate später erhoben werden. Eine solche Entschädigungsklage kann der Kläger nicht allein führen, vielmehr muss er nach § 62 Abs. 4 FGO einen Bevollmächtigten beauftragen, da beim BFH Vertretungszwang besteht. Der Kläger selbst kann ohne Hilfe eines Bevollmächtigten lediglich vorab einen isolierten Prozesskostenhilfeantrag beim BFH stellen. In diesem Fall ist von ihm zumindest in laienhafter Form darzustellen, inwiefern das betroffene finanzgerichtliche Verfahren verzögert worden ist.5

3.1134 In der Praxis sollte bei Verzögerung des finanzgerichtlichen Verfahrens möglichst bald die entsprechende Verzögerungsrüge erhoben werden, da eine Rückwirkung und damit ein ent1 2 3 4

BFH v. 6.4.2016 – X K 1/15, BStBl. II 2016, 694; v. 7.11.2013 – X K 13/12, BStBl. II 2014, 179. BFH v. 6.4.2016 – X K 1/15, BStBl. II 2016, 694. BFH v. 6.4.2016 – X K 1/15, BStBl. II 2016, 694. BFH v. 6.4.2016 – X K 1/15, BStBl. II 2016, 694; a. A. BVerwG v. 29.2.2016 – 5 C 31.15 D, HFR 2017, 176, wonach zweifelsfrei auch der Zeitraum vor Erhebung der Verzögerungsrüge in die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einzubeziehen ist und hierfür eine Entschädigung in Geld gewährt werden kann. Vgl. dazu Kulosa, Anmerkung zu BFH v. 25.10.2016 – X K 3/15, HFR 2017, 151. 5 Vgl. BFH v. 23.1.2014 – X S 40/13, BFH/NV 2014, 569, und v. 3.7.2014 – X S 9/14 (PKH), BFH/ NV 2014, 1890.

350

Schaumburg

J. Wiederaufnahme des Verfahrens

Rz. 3.1140 Kap. 3

sprechender Entschädigungsanspruch nur für sechs Monate möglich ist. Bei einer Verzögerung kann nicht nur der hierdurch verursachte materielle Schaden (z. B. Avalprovision, Kreditzinsen) geltend gemacht werden, sondern auch ein immaterieller Schaden, dessen pauschalierte Jahreshöhe sich aus § 193 Abs. 2 Satz 3 GVG ergibt und auf die Verzögerungsmonate (100 Euro pro Monat) umzurechnen ist.

3.1135–3.1136

Einstweilen frei.

J. Wiederaufnahme des Verfahrens Literatur: Albert, Zur Besetzung des Gerichts bei Wiederaufnahmeklagen gemäß § 134 FGO, §§ 578 ff. ZPO gegen Urteile des Einzelrichters, DStZ 1998, 239; Braun, Restitutionsklage wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, NJW 2007, 1620; Sangmeister, Revision und Nichtigkeitsklage bei unrichtiger Anwendung oder Gesetzeswidrigkeit des Geschäftsverteilungsplans, DStZ 1988, 31; Seibel, Das Wiederaufnahmeverfahren, AO-StB 2002, 318; Woring, Die finanzgerichtliche Restitution nach Auffinden einer Urkunde, DStR 1978, 611.

Nach § 134 FGO i. V. m. §§ 578 ff. ZPO kann die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens durch Nichtigkeitsklage oder durch Restitutionsklage (§ 134 FGO i. V. m. § 580 ZPO) erfolgen. Es handelt sich um außerordentliche Rechtsbehelfe mit dem Zweck, in Ausnahmefällen eine Korrektur rechtskräftig abgeschlossener Verfahren zu erreichen. Deshalb kommt eine Wiederaufnahme nur bei besonders gravierenden Prozessverstößen (sog. Nichtigkeitsklage) oder schwerwiegenden inhaltlichen Mängeln (sog. Restitutionsklage) in Betracht. Die praktische Bedeutung von Nichtigkeits- und Restitutionsklage im finanzgerichtlichen Verfahren ist sehr gering.1

3.1137

Die Nichtigkeitsklage betrifft besonders schwer wiegende Prozessverstöße, die in § 579 Abs. 1 ZPO abschließend aufgezählt sind. Sie findet statt, wenn

3.1138

– das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (vgl. Rz. 3.604 ff.); – wenn ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis durch Ablehnungsgesuch oder Rechtsmittel ohne Erfolg geltend gemacht worden ist (vgl. Rz. 3.858 ff.); – wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der mit Erfolg wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden ist (vgl. Rz. 3.867); – wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach den Vorschriften der Gesetze vertreten war, sofern sie die Prozessführung nicht ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat. In den Fällen, in denen das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sein soll oder ein abgelehnter Richter mitgewirkt hat, kommt eine Nichtigkeitsklage nicht in Betracht, wenn die Nichtigkeit vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens durch Rechtsmittel hätte geltend gemacht werden können (§ 134 FGO i. V. m. § 579 Abs. 2 ZPO).

3.1139

Die Restitutionsklage kommt bei schwer wiegenden inhaltlichen Mängeln, die in § 580 ZPO aufgezählt sind, in Betracht, und zwar vor allem, wenn sich die Grundlage einer rechtskräftigen Entscheidung als gefälscht erweist. Dies ist z. B. der Fall, wenn

3.1140

1 Vgl. Ratschow in Gräber, § 134 FGO Rz. 1.

Schaumburg

351

Kap. 3 Rz. 3.1141

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– der Gegner durch Beeidigung einer entscheidungserheblichen Aussage sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat, – eine entscheidungserhebliche Urkunde fälschlich angefertigt oder verfälscht war, – sich bei einer entscheidungserheblichen Zeugenaussage oder einem Gutachten herausstellt, dass der Zeuge oder Sachverständige in strafbarer Weise seine Wahrheitspflicht verletzt hat, – die Partei eine andere Urkunde auffindet oder benutzen kann, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde.

3.1141 Eine Restitutionsklage ist nur dann zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden gehindert war, den Restitutionsgrund in dem früheren Verfahren geltend zu machen (§ 582 ZPO). Der Restitutionskläger muss daher dartun, dass er ohne Verschulden außerstande war, den Restitutionsgrund früher geltend zu machen. Es kommt nicht nur auf die Ausschöpfung der prozessualen Möglichkeiten (Rechtsmittel, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand usw.), sondern auch auf die Ausschöpfung der außerprozessualen Möglichkeiten an. Das Verschulden des Klägers, seines Vertreters und seines Prozessbevollmächtigten ist mit strengem Maßstab zu prüfen.1

3.1142 Die Zulässigkeit einer Wiederaufnahmeklage (§ 134 FGO i. V. m. § 578 ZPO), also einer Nichtigkeitsklage (§ 134 FGO i. V. m. § 579 ZPO) oder einer Restitutionsklage (§ 134 FGO i. V. m. § 580 ZPO), gem. § 134 FGO i. V. m. § 589 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfordert die (schlüssige) Darlegung eines Nichtigkeits- oder eines Restitutionsgrundes. Die Zulässigkeit eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens erfordert nicht nur Angaben darüber, welches der vom Gesetz vorgesehenen Verfahren der Wiederaufnahme gewollt ist (§ 587 ZPO), sondern auch die schlüssige Behauptung eines der im Gesetz aufgeführten Nichtigkeits- oder Restitutionsgründe. Die schlüssige Behauptung eines nach § 134 FGO i. V. m. §§ 579, 580 ZPO erheblichen Wiederaufnahmegrundes gehört nach allgemeiner Meinung zur Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage.2

3.1143 Wird mit der Wiederaufnahmeklage in Form der Nichtigkeitsklage der Entzug des gesetzlichen Richters gerügt, so wird ein Wiederaufnahmegrund nur dann schlüssig vorgetragen, wenn nicht nur Verfahrensfehler bei der Besetzung, sondern auch ein willkürliches Verhalten des Gerichts substantiiert dargelegt werden.3 Ein Verfahrensverstoß muss nämlich, um beachtlich zu sein, auf einer klar zutage tretenden Gesetzesverletzung beruhen, er muss schwer oder „qualifiziert“ sein, „also auf einer nicht mehr hinnehmbaren Rechtsansicht und damit letztlich auf objektiver Willkür“ beruhen.4

3.1144 Stützt sich die Wiederaufnahmeklage in Form der Restitutionsklage auf das Auffinden einer Urkunde (§ 134 FGO i. V. m. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO), so muss der Restitutionskläger detailliert darlegen, dass ihm Existenz oder Verbleib der Urkunde in dem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren unverschuldet unbekannt war. Um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu rechtfertigen, muss die aufgefundene Urkunde für die Herbeiführung einer dem Kläger günstigeren Entscheidung kausal sein. Die neuen entscheidungserheblichen Tatsachen müssen zudem allein durch die Urkunde in Verbindung mit dem bisherigen Prozessstoff bewiesen werden. War die Tatsache, die durch die Urkunde bewiesen werden soll, nicht 1 2 3 4

BFH v. 27.10.2015 – I B 27/14, BFH/NV 2016, 749. BFH v. 8.7.2015 – VI B 5/15, BFH/NV 2015, 1426 m. w. N. BFH v. 29.1.2015 – I K 1/14, BFH/NV 2015, 996. So ausdrücklich BFH v. 29.1.2015 – I K 1/14, BFH/NV 2015, 996 m. w. N.

352

Schaumburg

K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1151 Kap. 3

entscheidungserheblich, hätte auch die Urkunde eine der Partei günstigere Entscheidung nicht herbeigeführt.1 Zuständig für eine Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist nach § 134 FGO i. V. m. § 584 ZPO das Gericht, das die entsprechende Entscheidung erlassen hat. Wird die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftige Entscheidung des Finanzgerichts abgeschlossenen Verfahrens begehrt, so ist hiernach das Finanzgericht zuständig. Der BFH als Revisionsgericht ist für eine Klage auf Wiederaufnahme zuständig, wenn ein in der Revisionsinstanz erlassenes Urteil aufgrund der § 134 FGO i. V. m. §§ 579, 580 Nrn. 4, 5 ZPO angefochten wird.2 Wird mit einer Restitutionsklage ein unzuständiges Gericht angerufen, ist die Entscheidung über die Verweisung an das zuständige Gericht nicht durch formlose Abgabe, sondern durch bindenden Beschluss zu treffen; deshalb wahrt die Klageerhebung beim unzuständigen Gericht die in § 586 Abs. 1 ZPO für Wiederaufnahmeklagen vorgesehene Frist von einem Monat seit Erlangung der Kenntnis vom Anfechtungsgrund.3

3.1145

Die Klagefrist für ein Wiederaufnahmeverfahren beträgt einen Monat, beginnend mit dem Tag, an dem die Partei von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hat (§ 134 FGO i. V. m. § 586 Abs. 1 und 2 Satz 1 ZPO). Nach § 134 FGO i. V. m. § 586 Abs. 2 ZPO sind die Nichtigkeitsklage und die Restitutionsklage nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tag der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, unstatthaft, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen des § 586 Abs. 3 ZPO (Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung) vor. Eine Verlängerung dieser Frist ist unzulässig. Sie beginnt grundsätzlich mit dem Eintritt der Rechtskraft, und zwar unabhängig davon, ob dem Kläger ein Anfechtungsgrund bekannt ist. Auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand findet insoweit nicht statt.4

3.1146

3.1147–3.1149

Einstweilen frei.

K. Vorläufiger Rechtsschutz I. Allgemeines Vorläufiger Rechtsschutz wird im finanzgerichtlichen Verfahren durch Aussetzung der Vollziehung5 und einstweilige Anordnung6 gewährt. Zwischen beiden bestehen folgende Unterschiede: Das Aussetzungsverfahren bezieht sich stets auf einen bestimmten, mit der Anfechtungsklage anfechtbaren Verwaltungsakt. Demgegenüber ist Gegenstand des Verfahrens bei einer einstweiligen Anordnung nicht ein Verwaltungsakt, sondern ein Recht bzw. ein Rechtsverhältnis des Antragstellers.

3.1150

Der vorläufige Rechtsschutz nach der FGO hängt also eng mit der Klageart in einem Verfahren zur Hauptsache zusammen. Die Aussetzung der Vollziehung hat immer einen mit einer Anfechtungsklage anfechtbaren Verwaltungsakt zur Voraussetzung. Kann im Hauptsacheverfahren dagegen keine Anfechtungsklage, sondern nur eine Verpflichtungsklage, allgemeine

3.1151

1 2 3 4 5 6

BFH v. 8.7.2015 – VI B 5/15, BFH/NV 2015, 1426 m. w. N. BFH v. 25.11.1999 – I K 1/98, BFH/NV 2000, 730. BFH v. 16.12.2014 – X R 5/14, BFH/NV 2015, 515 m. w. N. BFH v. 17.9.2015 – X S 22/15/PKH), juris. S. Muster M 15, Rz. 11.15. S. Muster M 16, Rz. 11.16.

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Kap. 3 Rz. 3.1152

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Leistungsklage oder eine Feststellungsklage erhoben werden, kommt vorläufiger Rechtsschutz nur in Form einer einstweiligen Anordnung in Betracht.1 Beispiel 1: S hat gegen den Einkommensteuerbescheid 00, der zu einer Nachforderung i. H. v. … Euro führt, nach erfolglosem Einspruchsverfahren Anfechtungsklage erhoben, damit zusätzliche Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt werden. Wenn S die nachgeforderte Einkommensteuer 00 nicht sofort bezahlen will, kann er einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellen. Beispiel 2: Gegen den S ist ein Einkommensteuerbescheid ergangen, der unanfechtbar geworden ist. S begehrt die Änderung des Bescheids zu seinen Gunsten nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen neuer Tatsachen. Gegen die ablehnende Verfügung des Finanzamts Erhebt S nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage. Da das Finanzamt aus dem Bescheid vollstrecken will, begehrt S vorläufigen Rechtsschutz. Hier kommt keine Aussetzung der Vollziehung in Betracht, da der ablehnende Bescheid kein vollziehbarer Verwaltungsakt ist. Vielmehr handelt es sich bei der Klage um eine Verpflichtungsklage. Dabei kommt vorläufiger Rechtsschutz nur in Form einer einstweiligen Anordnung in Betracht.

II. Aussetzung der Vollziehung Literatur: Balmes/Heinicke, Aussetzung der Vollziehung – Rechtsschutz gegen die Verbindung mit einer Sicherheitsleistung, AO-StB 2013, 283; Kraus, Die Aussetzung der Vollziehung im finanzgerichtlichen Verfahren, NJW 2009, 853; Loschelder, Sicherheitsleistung im AdV-Verfahren, AO-StB 2002, 284; Mack, Aussetzung der Vollziehung, AO-StB 2001, 85; Matuszewski, Aufsetzung/Aufhebung der Vollziehung, AO-StB 2009, 216; Prätzler/Stuber, Verfahrensrechtliche Fallstricke bei der Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung von Umsatzsteuerbeträgen, BB 2013, 18,25; Schallmoser, Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer entscheidungserheblichen Rechtsnorm, DStR 2010, 297; Seer, Aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung, Ubg 2008, 249; Seer, Vorläufiger Rechtsschutz bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes, DStR 2012, 323; Specker, AdV-Antrag bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Steuergesetzes, DStZ 2010, 800; Tormöhlen, Aussetzung der Vollziehung – steuerverfahrensrechtliche Problemfelder, AO-StB 2011, 219; Tormöhlen, Einstweilige Anordnung, AO-StB 2013, 381; Wagner, Über effektiven vorläufigen Rechtsschutz im finanzgerichtlichen Verfahren, in FS Kruse, 2001, S. 735.

1. Bedeutung

3.1152 Legt ein Steuerpflichtiger gegen einen Steuerbescheid Einspruch ein oder erhebt er hiergegen eine Anfechtungsklage, wird dadurch die Vollziehung des Bescheides nicht gehemmt (§ 69 Abs. 1 FGO, § 361 Abs. 1 AO); der Steuerpflichtige muss die nachgeforderte Steuer dennoch bezahlen, um Vollstreckungsmaßnahmen der Finanzverwaltung zu vermeiden. Einspruch und Anfechtungsklage haben also keinen Suspensiveffekt.2 Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber verhindern, dass jeder, sei es auch noch so aussichtslose Rechtsbehelf, einstweilen von der Verpflichtung zur Zahlung der festgesetzten Steuern entbindet. Insbesondere soll sich der Steuerpflichtige durch das Einlegen mutwilliger Rechtsbehelfe der Verpflichtung zur Zahlung der Steuern nicht entziehen können.3 1 BFH v. 23.4.2012 – III B 187/11, BFH/NV 2012, 1328; v. 28.10.1997 – VII B 40/97, BFH/NV 1998, 424; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 3 und 25 f.; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 17. 2 BFH v. 23.1.2004 – VII B 131/03, BFH/NV 2004, 794. 3 Vgl. BFH v. 12.5.2000 – VI B 266/98, BStBl. II 2000, 536.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1158 Kap. 3

Beispiel: Der Steuerpflichtige legt gegen den Einkommensteuerbescheid 00, der eine Einkommensteuernachforderung von … Euro ausweist, Einspruch ein. Die Einlegung des Einspruchs hat nicht zur Folge, dass S die … Euro solange nicht zahlen muss, bis über den Einspruch entschieden ist. Vielmehr wird durch den Einspruch die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides nicht gehemmt. Dies hat zur Folge, dass S zunächst einmal die Einkommensteuerschuld begleichen muss. Hat sein Einspruch ganz oder teilweise Erfolg, muss das Finanzamt ihm den entsprechenden Steuerbetrag zurückzahlen. Gleiches gilt für den Fall einer Klageerhebung.

Es sind aber auch die Interessen derjenigen zu berücksichtigen, die einen Rechtsbehelf mit Erfolgsaussichten einlegen. Sie können durch das Fehlen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs im Einzelfall erheblich belastet werden. Sie müssten eine Leistung erbringen aufgrund eines Bescheides, über dessen Rechtmäßigkeit noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Dabei vermag die mögliche spätere Rückgewähr der Leistung im Falle des Obsiegens nicht immer die durch die zunächst erfolgte Zahlung entstandenen Nachteile zu beheben.

3.1153

Um insoweit einen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, lassen § 361 AO und § 69 FGO die Aussetzung oder die Aufhebung der Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheides als vorläufige Maßnahme zu. Dabei kann gem. § 69 Abs. 2 FGO eine Aussetzung der Vollziehung nur dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Durch die Aussetzung der Vollziehung wird der Betroffene im Wege vorläufigen Rechtsschutzes im Ergebnis so gestellt, als hätte sein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung.

3.1154

Die Aussetzung der Vollziehung kann im finanzgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nur durch eine Entscheidung des Finanzamts (§ 69 Abs. 2 FGO) oder durch einen Beschluss des Gerichts (§ 69 Abs. 3 FGO) herbeigeführt werden. Beide Möglichkeiten stehen grundsätzlich gleichwertig nebeneinander;1 allerdings ist zu beachten, dass der Steuerpflichtige nach § 69 Abs. 4 FGO das Finanzgericht in Aussetzungssachen nur unter eingeschränkten Voraussetzungen unmittelbar anrufen kann (s. dazu Rz. 3.1180 ff.).

3.1155

Die Aussetzung der Vollziehung kann zwar durch das Finanzamt auch von Amts wegen erfolgen; sie wird aber regelmäßig nur auf Antrag gewährt (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO); die Aussetzung durch das Gericht setzt immer einen Antrag voraus (§ 69 Abs. 3 FGO).

3.1156

Bei der Frage, ob ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sinnvoll ist, sollte immer die Verzinsung des Betrages in die Überlegungen mit einbezogen werden: Der ausgesetzte Betrag ist gem. § 237 AO zu verzinsen, soweit sich bei Überprüfung des Hauptsacheverfahrens herausstellt, dass die Klage endgültig keinen Erfolg hat. Der Zinssatz beträgt 0,5 % pro angefangenen Monat (= 6 % pro Jahr).2 Selbst wenn die Aussetzungsentscheidung fehlerhaft gewesen sein sollte, fallen die Zinsen an.3 Auch eine überlange Verfahrensdauer und damit eine überlange Aussetzung berührt den Zinsanspruch grundsätzlich nicht.4

3.1157

Unter Berücksichtigung des Kapitalmarktzinsniveaus sollte deshalb in der Praxis immer abgewogen werden, ob liquide Mittel zur Begleichung der Steuerschuld vorhanden sind oder die offenen Beträge vorübergehend zu einem besseren Zinssatz refinanziert werden können,

3.1158

1 2 3 4

Vgl. dazu Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 11 m. w. N. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes s. Rz. 2.285. BFH v. 18.7.1994 – X R 33/91, BStBl. II 1995, 4. BFH v. 27.4.2016 – X R 1/15, BFH/NV 2016, 1325.

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Kap. 3 Rz. 3.1159

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

bevor ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt wird. Wird nämlich die Steuerschuld sofort bezahlt, so fallen für einen bei erfolgreicher Klage zu erstattenden Betrag vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag Zinsen i. H. v. ebenfalls 6 v. H. jährlich an, sofern nicht dem Kläger die Kosten des Verfahrens nach § 137 Satz 1 FGO wegen verspäteten Vorbringens auferlegt werden (§ 236 Abs. 3 AO).

3.1159 Unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen kann es aus rein prozesstaktischen Gründen in der Praxis empfehlenswert sein, ein gerichtliches Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung zu führen. Ein bei Gericht beantragtes Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung kann schon während des Einspruchsverfahrens dazu dienen, dass die Beteiligten sehr schnell bei unklarer Rechtslage vorab in dem Eilverfahren die vorläufige Rechtsauffassung des zuständigen Senats zu der streitigen Frage in recht kurzer Zeit erhalten.1 Der Steuerpflichtige erhält so die Gelegenheit, sich mit dieser vor Entscheidung des Hauptsacheverfahrens auseinanderzusetzen, Schwachstellen im bisherigen Vortrag zu erkennen und zu beseitigen. Lässt das Finanzgericht sogar bei grundsätzlichen Fragen die Beschwerde zum BFH zu – dies kann vom Antragsteller angeregt werden –, weil es sich bereits mit der streitigen Rechtsfrage summarisch auseinandergesetzt hat, so hat eine höchstrichterliche Entscheidung, die frühzeitig ergeht und mit relativ niedrigen Kosten verbunden ist, ggf. schon präjudizierende Wirkung für das weitere Verfahren.

3.1160 Um diese präjudizierende Wirkung zu vermeiden oder aber um die über dem Kapitalmarktniveau liegenden Aussetzungszinsen dem Fiskus zukommen zu lassen, gewähren die Finanzämter in den letzten Jahren zunehmend ohne Antrag von Amts wegen selbst die Aussetzung der Vollziehung, damit der Staat in den Genuss der Aussetzungszinsen, die über dem Kapitalmarktzinsniveau liegen, kommt. Zu einer derart aufgedrängten Aussetzung der Vollziehung und dem Rechtsschutz des Steuerpflichtigen hiergegen s. 3.1223. 2. Antrag

3.1161 Für die Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörde ist kein Antrag erforderlich. Die Finanzbehörde soll zwar nach dem AEAO2 die Aussetzung der Vollziehung von Amts wegen gewähren, wenn der Rechtsbehelf offensichtlich begründet ist und der Änderungsbescheid nicht mehr vor Eintritt der Fälligkeit ergehen kann; dennoch empfiehlt es sich in der Praxis auch bei der Finanzbehörde einen Antrag zu stellen.

3.1162 Das Finanzgericht wird dagegen gem. § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO nur auf Antrag tätig. Der Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO muss beim Gericht der Hauptsache, also beim örtlich und sachlich zuständigen Gericht, gestellt werden. Dies ist das Finanzgericht, bei dem Klage erhoben worden ist oder bei dem diese nach erfolglosem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren zu erheben wäre. Nach Ergehen eines finanzgerichtlichen Urteils ist dies nach Einlegung der Revision oder der Nichtzulassungsbeschwerde der BFH als Gericht der Hauptsache.

3.1163 Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist grundsätzlich zunächst an die Behörde zu richten, die den Verwaltungsakt erlassen hat (vgl. § 69 Abs. 4 FGO). Erst wenn die Behörde den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung oder Aufhebung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat oder einer der Ausnahmefälle des § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 und 2 FGO vorliegt (vgl. nachfolgend Rz. 3.1192 ff.), kann ein Antrag an das Gericht gestellt werden. 1 Vgl. auch Tormöhlen, AO-StB 2009, 219. 2 Zu § 361 Nr. 2.1 Satz 3.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1170 Kap. 3

Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist bei Gericht in entsprechender Anwendung des § 64 FGO schriftlich zu stellen. Er kann bis zum Abschluss des Verfahrens gestellt werden und ist an keine Frist gebunden. Allerdings kann er frühestens mit Einlegung des Einspruchs, bei Klageerhebung aber schon vor Erhebung der Klage gestellt werden (§ 69 Abs. 3 Satz 2 FGO). Als Prozesserklärung ist er bedingungsfeindlich

3.1164

Der Antrag sollte in der Praxis immer mit einer Begründung versehen werden. Fehlt diese, besteht die Gefahr, dass das Finanzamt den Antrag umgehend formularmäßig ablehnt bzw. dass das Finanzgericht die Aussetzung der Vollziehung zeitnah ablehnt.

3.1165

Der Antrag sollte folgende Angaben enthalten1:

3.1166

– genaue Bezeichnung des Antragstellers und des Antragsgegners, – die genaue Bezeichnung des Verwaltungsaktes, dessen Vollziehung ausgesetzt bzw. aufgehoben werden soll, – in welchem Umfang und ab welchem Zeitpunkt – aus welchem Grund die Aussetzung der Vollziehung begehrt wird.

3.1167

Außerdem sollte angegeben werden, – aufgrund welcher Tatsachen und rechtlicher Erwägungen die Vollziehung ausgesetzt bzw. aufgehoben werden soll. Ferner sind die entscheidungserheblichen Tatsachen, aus denen die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung hergeleitet werden (ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit, unbillige Härte), wegen des summarischen Charakters des Aussetzungsverfahrens substantiiert vorzutragen und glaubhaft zu machen, z. B. durch Vorlage von Urkunden oder durch eidesstattliche Versicherungen. Wegen der Eilbedürftigkeit wird im Aussetzungsverfahren nur der Sachverhalt berücksichtigt, der sich aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere den Akten der Finanzbehörde und auf präsente Beweismittel (z. B. im Verfahren vorgelegte Urkunden) ergibt.2 Dabei sind alle Arten von Beweismitteln zulässig, darüber hinaus allerdings auch die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers oder von Dritten (§ 155 FGO i. V. m. § 194 Abs. 1 ZPO).3 Eine bloße Verweisung auf das Vorbringen in einem anderen Verfahren, dessen Akten dem zuständigen Spruchkörper nicht vorliegen, reicht nicht aus.4

3.1168

Für die Praxis gilt: Sind die betreffenden Tatsachen streitig und fehlt es an einer Glaubhaftmachung, muss der Antragsteller allein aus diesem Grunde damit rechnen, dass sein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgewiesen wird.

3.1169

Das Schweigen des Finanzamts auf einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung und das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen können nicht dahin verstanden werden, dass die Aussetzung der Vollziehung des betreffenden Verwaltungsakts gewährt worden ist.5 Die Aus-

3.1170

1 S. Muster M 15, Rz. 11.15. 2 Vgl. BFH v. 6.11.2012 – VIII R 40/10, BFH/NV 2013, 397; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 122. 3 Vgl. BFH v. 6.11.2012 – VIII R 40/10, BFH/NV 2013, 397. 4 BFH v. 14.6.1988 – IX B 157/87, BFH/NV 1990, 97. 5 BFH v. 16.6.2005 – VII B 273/04, BFH/NV 2005, 1747.

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Kap. 3 Rz. 3.1171

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

setzung der Vollziehung muss vielmehr ausdrücklich als begünstigender Verwaltungsakt nach § 119 Abs. 2 AO schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Einen stillschweigend erlassenen Verwaltungsakt kennt das Gesetz nicht. 3. Allgemeine Voraussetzungen a) Vollziehbarer Verwaltungsakt

3.1171 Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist nur dann zulässig, wenn ein Verwaltungsakt vorliegt, der vollzogen werden kann. Vollziehbar sind nur solche Verwaltungsakte, durch die dem Steuerpflichtigen eine Leistungspflicht auferlegt wird oder die Grundlage für eine Leistungspflicht sind. Nicht erforderlich ist allerdings, dass aus dem Verwaltungsakt eine Vollstreckung erfolgen muss. Die Vollziehung kann auch in anderer Weise geschehen. Deshalb sind auch Grundlagenbescheide als vollziehbar anzusehen (s. Rz. 3.1228 ff.). Vollziehbar und damit einer Aussetzung der Vollziehung zugänglich sind nur solche Verwaltungsakte, deren Wirkung sich nicht auf eine Negation beschränkt, sondern die entweder selbst eine positive Regelung enthalten oder die eine in einem Bescheid enthaltene positive Regelung aufheben.1 Besteht der Regelungsinhalt des Bescheides nur in der Ablehnung einer Leistung durch das Finanzamt oder eines begehrten Verhaltens, ist eine Vollziehung schon begrifflich nicht denkbar.2 Beispiel 1: U ist durch bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheid zur Umsatzsteuer 00 i. H. v. … Euro veranlagt worden. Er beantragt beim Finanzamt, diesen Umsatzsteuerbescheid wegen neuer Tatsachen zu seinen Gunsten nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern und die Umsatzsteuer auf … Euro herabzusetzen. Das Finanzamt lehnt den Antrag auf Änderung des Bescheids ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Gleichzeitig mit seiner gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung erhobenen Klage hat U beim Finanzgericht die Aussetzung der Vollziehung des die Änderung ablehnenden Bescheides beantragt. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist unzulässig, da die Entscheidung des Finanzamts, mit der die Änderung des Steuerbescheides abgelehnt worden ist, nicht vollziehbar ist.3 Beispiel 2: Dem Steuerpflichtigen A war die Einkommensteuer-Vorauszahlung für das IV. Quartal des Streitjahres i. H. v. … Euro gestundet worden. Später widerrief das Finanzamt die Stundungsverfügung. Hiergegen legte A Einspruch ein und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist zulässig; denn der Widerruf einer Stundung ist ein vollziehbarer Verwaltungsakt. Dies ergibt sich daraus, dass die Stundung ein begünstigender Verwaltungsakt ist, durch den die Fälligkeit einer Steuerzahlung ganz oder teilweise hinausgeschoben wird. Diese Rechtsposition wird durch einen Widerruf der Stundung beeinträchtigt. Eine Aussetzung der Vollziehung der Widerrufverfügung würde deshalb die den Steuerpflichtigen beeinträchtigende Wirkung einstweilen beseitigen.4 In der Hauptsache ist eine Anfechtungsklage auf Aufhebung der Widerrufsverfügung die richtige Klageart.

3.1172 In der Rechtsprechung sind u. a. neben den gängigen Fällen5 wie beispielsweise Steuer- und Feststellungsbescheiden als vollziehbare Verwaltungsakte angesehen worden: 1 BFH v. 20.7.2009 – VII S 22/09, BFH/NV 2009, 1599. 2 BFH v. 30.9.2015 – I B 86/15, BFH/NV 2016, 569; v. 24.9.1999 – XI S 15/98, BFH/NV 2000, 451. 3 BFH v. 30.9.2015 – I B 86/15, BFH/NV 2016, 569; v. 16.12.1997 – XI S 41/97, BFH/NV 1998, 615. 4 Vgl. BFH v. 8.6.1882 – VIII B 29/82, BStBl. II 1982, 608. 5 Vgl. dazu das ABC bei Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 42 – 125 und bei Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 24 – 36.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1173 Kap. 3

– Abrechnungsbescheide, je nach Inhalt;1 vollziehbar, wenn er das Bestehen eines nach Aufrechnung durch das Finanzamt geminderten Erstattungsanspruchs des Steuerpflichtigen feststellt;2 – anfechtbare Vollstreckungsmaßnahmen;3 – Änderung der Lohnsteuerklasse;4 – Antrag auf Anordnung der Zwangsversteigerung;5 – Lohnsteuernachforderungsbescheid;6 – Pfändung einer Forderung (Kontenpfändung);7 – Anordnung einer Außenprüfung oder auch zeitliche Festlegung des Beginns oder des Ortes;8 – Widerruf oder der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts (z. B. Widerruf einer Stundung);9 – Zurückweisung eines Bevollmächtigten nach § 80 Abs. 5 AO.10 Demgegenüber sind folgende Maßnahmen nicht als vollziehbare Verwaltungsakte angesehen worden: – Aufrechnungserklärungen des Finanzamts;11 – Ablehnung eines Stundungsantrages;12 – Ablehnung der Herabsetzung von Vorauszahlungen;13 – Abrechnungsbescheid, der eine festgesetzte Steuer als nicht durch Tilgung erloschen ansieht,14 – Insolvenzantrag des Finanzamts,15

1 BFH v. 20.7.2009 – VII S 22/09, BFH/NV 2009, 1599. 2 BFH v. 9.2.1988 – VII B 187/87, BStBl. II 1988, 43. 3 BFH v. 21.8.1990 – VII B 71/90, BFH/NV 1991, 396; s. dazu auch Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 116; vgl. auch Rz. 9.27 ff. 4 BFH v. 21.12.2012 – III B 41/12, BFH/NV 2013, 549; v. 11.12.2012 – III B 89/12, BFH/NV 2013, 582. 5 BFH v. 21.8.2008 – VII B 243/07, BFH/NV 2008, 1990. 6 BFH v. 24.10.2012 – I B 47/12, BFH/NV 2013, 196. 7 BFH v. 4.2.1992 – VII B 119/91, BFH/NV 1992, 789. 8 BFH v. 17.12.2002 – X S 10/02, BFH/NV 2003, 296; v. 5.10.1994 – I S 10/94, BFH/NV 1995, 469. 9 BFH v. 8.6.1882 – VIII B 29/82, BStBl. II 1982, 608. 10 BFH v. 19.4.2012 – II B 113/14, BFH/NV 2015, 473. 11 BFH v. 10.11.1987 – VII B 137/87, BStBl. II 1988, 43. 12 BFH v. 8.6.1982 – VIII B 89/82, BStBl. II 1982, 608. 13 BFH v. 24.9.1999 – XI S 17/98, juris; v. 27.3.1991 – I B 187/90, BStBl. II 1991, 643 und v. 10.4.1975 I B 7/75, BStBl. II 1975, 778. 14 BFH v. 20.7.2009 – VII S 22/09, BFH/NV 2009, 1599. 15 Ausführlich FG des Landes Sachsen-Anhalt v. 24.9.2015 – 3 V 916, 15, EFG 2015, 2194 unter Berufung auf BFH v. 31.8.2011 – VII B 59/11, BFH/NV 2011, 2105.

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3.1173

Kap. 3 Rz. 3.1175

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– Säumniszuschläge,1 – Widerruf einer Lohnsteueranrufungsauskunft nach § 42e EStG.2

3.1174 Einstweilen frei. b) Angefochtener Verwaltungsakt

3.1175 Da durch die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung ein vorläufiger Rechtsschutz während eines anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens gewährt werden soll, ist ein entsprechender Antrag nur zulässig, wenn der betreffende Verwaltungsakt angefochten worden, also ein Einspruch eingelegt oder eine Klage erhoben worden ist. Vor der Einlegung eines Einspruchs kann die Aussetzung der Vollziehung noch nicht beantragt werden. Allerdings kann die Aussetzung der Vollziehung schon vor Klageerhebung beantragt werden (§ 69 Abs. 3 Satz 2 FGO). Es empfiehlt sich, spätestens mit der Stellung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung gegen den Verwaltungsakt auch Einspruch einzulegen, damit der Antrag zulässig ist. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung kann gleichzeitig mit der Einlegung des Rechtsbehelfs oder aber auch später gestellt werden. Beispiel: S will die Frage, ob er gegen den Einkommensteuerbescheid 00 Einspruch und ggf. Klage einlegen soll, noch mit seinem Steuerberater besprechen, der derzeit nicht erreichbar ist. Um gleichwohl die Abschlusszahlung nicht zahlen zu müssen, beantragt S Aussetzung der Vollziehung. Der Antrag ist unzulässig, da der Einkommensteuerbescheid 00 noch nicht angefochten worden ist. S hätte also, damit sein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zulässig ist, gleichzeitig mit diesem Antrag zur Fristwahrung Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid einlegen müssen.

3.1176 Die Aussetzung der Vollziehung eines nicht angefochtenen Verwaltungsakts kann nicht begehrt werden. Die Aussetzung eines bereits bestandskräftigen Verwaltungsaktes ist ebenfalls ausgeschlossen.3 Beispiel: Beantragen beide Ehegatten die Aussetzung der Vollziehung eines Einkommensteuer-Zusammenveranlagungsbescheides, hat aber nur einer von ihnen den Bescheid angefochten, so ist der Antrag des anderen auf Aussetzung der Vollziehung grundsätzlich unzulässig.

3.1177 Allerdings kann auch ein nichtiger Verwaltungsakt, sofern dieser rechtzeitig mit dem Einspruch und ggf. der Anfechtungsklage angefochten worden ist, von der Vollziehung ausgesetzt werden, da er den Rechtsschein eines vollziehbaren Verwaltungsakts hervorruft.4 c) Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

3.1178 Wie für eine Klage ist auch für einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Es muss ein berechtigtes Interesse gerade an einem vorläufigen Rechtsschutz bestehen. Die Regelungen in § 69 Abs. 2 und 3 FGO sollen bis zur Entscheidung über die Hauptsache der Gefährdung rechtlich schutzwürdiger Interessen Rechnung tragen und vermeiden, dass durch die Vollziehung nicht mehr behebbare Nachteile entstehen und

1 BFH v. 30.9.2015 – I B 86/85, BFH/NV 2916, 567. 2 BFH v. 15.1.2015 – VI B 103/04, BStBl. II 2015, 447. 3 BFH v. 18.7.2013 – X S 2/13, BFH/NV 2013, 1612; v. 22.1.2013 – IX S 16/12, BFH/NV 2013, 757; v. 30.7.2003 – I S 4/03, BFH/NV 2003, 1445. 4 BFH v. 19.4.1998 – VII B 167/87, BFH/NV 1989, 36; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 21.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1182 Kap. 3

der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren damit zu spät kommt.1 Ein Rechtsschutzinteresse liegt deshalb nur dann vor, wenn die Aussetzung der Vollziehung tatsächlich eine steuerliche Auswirkung hat.2 Dies ist nur bei vollziehbaren Verwaltungsakten der Fall, von deren Inhalt in irgendeiner Weise Gebrauch gemacht werden kann.3 Muss der Antragsteller, z. B. bei der Anfechtung einer Vollstreckungsmaßnahme, aufgrund einer entsprechenden Zusicherung des Finanzamts nicht mit einer weiteren Vollstreckung rechnen, so soll nach der Rechtsprechung für einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der betreffenden Vollstreckungsmaßnahme kein berechtigtes Interesse an einem vorläufigen Rechtsschutz bestehen.4

3.1179

4. Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen a) Überblick Gem. § 69 Abs. 4 FGO ist ein Antrag an das Gericht auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO nur dann zulässig, wenn die Finanzbehörde einen entsprechenden Antrag zuvor ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Dies gilt gem. § 69 Abs. 3 Satz 2 FGO ausnahmsweise dann nicht, wenn

3.1180

– die Finanzbehörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat (Nr. 1), oder wenn – eine Vollstreckung droht (Nr. 2). Das Vorliegen dieser Tatbestandsmerkmale ist eine Voraussetzung für den Zugang zum Finanzgericht. Das bedeutet: Die genannten Voraussetzungen müssen im Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht vorliegen; andernfalls ist der Antrag unheilbar unzulässig.5 Eine nachträgliche Heilung z. B. dadurch, dass die Finanzbehörde nach Anrufung des Gerichts den zuvor bei ihr gestellten Antrag abweist6 oder sich in der Antragserwiderung ablehnend mit der Sache auseinandersetzt,7 ist nicht möglich.8

3.1181

Beispiel: S beantragt unmittelbar beim Finanzgericht die Aussetzung der Vollziehung des von ihm mit Einspruch angefochtenen Einkommensteuerbescheids 00. Einen entsprechenden Antrag hat er zuvor beim Finanzamt nicht gestellt. Das Finanzamt beantragt im Aussetzungsverfahren, den Antrag als unbegründet zurückzuweisen.

Der bei Gericht gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist unzulässig, weil S nicht zuvor einen entsprechenden Antrag beim Finanzamt gestellt hat: Dass das Finanzamt im ge1 Vgl. BFH v. 22.8.1995 – VII B 153, 154, 167, 172/95, BStBl. II 1995, 645. 2 BFH v. 9.6.1972 – II B 47/71, BStBl. II 1972, 710; FG Köln v. 23.6.2016 – 13 V 436/16, juris; FG Düsseldorf v. 7.12.2015 – 13 V 2026/15 A (F), EFG 2016, 578. 3 FG Köln v. 23.6.2016 – 13 V 436/16, juris. 4 BFH v. 16.11.1977 – VII S 1/77, BStBl. II 1978, 69; kritisch zu Recht Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 62. 5 BFH v. 6.2.2012 – IX S 29/11, BFH/NV 2012, 769; v. 16.12.2003 – IX B 203/02, BFH/NV 2004, 650; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 68; a. A. FG München v. 11.12.2012 – 2 V 3070/12, EFG 2013, 465. 6 BFH v. 6.2.2012 – IX S 29/11, BFH/NV 2012, 769. 7 BFH v. 6.2.2012 – IX S 29/11, BFH/NV 2012, 769. 8 BFH v. 6.3.2013 – X S 28/12, BFH/NV 2013, 958; v. 6.2.2012 – IX S 29/11, BFH/NV 2012, 769; v. 16.12.2003 – IX B 203/02, BFH/NV 2004, 650.

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3.1182

Kap. 3 Rz. 3.1183

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

richtlichen Aussetzungsverfahren Abweisung des Antrags beantragt hat, ändert die Beurteilung nicht. Denn die Tatbestandsmerkmale des § 69 Abs. 4 FGO müssen vorliegen, bevor der Antrag bei Gericht gestellt wird.

3.1183 Der Antragsteller hat die objektive Beweislast für das Vorliegen der Zugangsvoraussetzungen. Gelingt ihm der Beweis nicht, wird der Antrag als unzulässig abgewiesen. b) Ganze oder teilweise Ablehnung eines Antrags durch die Finanzbehörde

3.1184 Ein Antrag an das Gericht auf Aussetzung der Vollziehung ist nur zulässig, wenn die Finanzbehörde den Antrag zuvor ganz oder teilweise abgelehnt hat (§ 69 Abs. 4 Satz 1 FGO).

3.1185 Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Finanzamt einen entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen ausdrücklich beschieden hat. In der Regel wird die Entscheidung des Finanzamts schriftlich ergehen. Zwingend ist dies jedoch nicht. Für den Zugang zum Gericht reicht es aus, wenn die Ablehnung durch den entscheidungsbefugten Beamten oder Angestellten mündlich erfolgt ist.1 In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass der Steuerpflichtige die objektive Beweislast für das Vorliegen der Zugangsvoraussetzungen hat. Gelingt ihm der Beweis nicht, dass das Finanzamt einen Aussetzungsantrag zuvor mündlich ausdrücklich ganz oder teilweise abgelehnt hat, z. B. weil das Finanzamt die Ablehnung bestreitet, wird der Aussetzungsantrag vom Gericht als unzulässig abgewiesen.

3.1186 Die Zugangsvoraussetzung für einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht (§ 69 Abs. 4 Satz 1 FGO) ist auch dann erfüllt, wenn das Finanzamt den bei ihm gestellten Antrag mangels Begründung durch den Antragsteller ohne weitere Sachprüfung abgelehnt hat.2 Aus dem Normzweck dieser Vorschrift folgt aber, dass eine gewisse Identität mit dem beim Finanzamt gestellten und von diesem abgelehnten Antrag vorhanden sein muss. Dies ist nicht der Fall, wenn dem Gericht ein völlig neuer Problembereich unterbreitet wird, der zuvor noch nicht Gegenstand der Prüfung durch die Finanzbehörde gewesen ist.3

3.1187 Deshalb ist die Zugangsvoraussetzung gem. § 69 Abs. 4 FGO auch dann erfüllt, wenn das Finanzamt bei einer Aussetzung der Vollziehung eines Umsatzsteuerbescheids in einem früheren Verfahrensabschnitt die Aussetzung der Vollziehung der entsprechenden Vorauszahlungsbescheide abgelehnt hatte und Gegenstand des Rechtsstreits dieselben Rechtsfragen sind. In diesem Fall kann im Hinblick auf den Jahresbescheid direkt ein Aussetzungsantrag an das Gericht gestellt werden, wenn das Finanzamt weiterhin nicht aussetzen will.4

3.1188 Der bloße Ablauf der Befristung einer Vollziehungsaussetzung für die Dauer des Einspruchsverfahrens bzw. bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder bis einen Monat nach Bekanntgabe des finanzgerichtlichen Urteils ist keine Ablehnung des Aussetzungsantrags.5 Auch die Mitteilung über den Ablauf der Vollziehungsaussetzung nach

1 BFH v. 11.10.2002 – VIII B 172/61, BFH/NV 2003, 306; v. 20.1.1998 – I S 7/97, BFH/NV 1998, 866. 2 BFH v. 20.6.2007 – VIII B 50/07, BStBl. II 2007, 798; vgl. dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 74 mit Hinweisen auf anderslautende Rspr. von Finanzgerichten. 3 BFH v. 20.6.2007 – VIII B 50/07, BStBl. II 2007, 798; v. 1.2.2006 – X B 166/05, BStBl. II 2006, 420; v. 13.12.1999 – III B 15/99, BFH/NV 2000, 827. 4 BFH v. 30.1.2001 – V S 24/00, BFH/NV 2001, 658. 5 BFH v. 6.2.2012 – IX S 29/11, BFH/NV 2012, 769; v. 6.5.2004 – IX S 2/04, BFH/NV 2004, 1413.

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Schaumburg

K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1192 Kap. 3

Abschluss des Einspruchsverfahrens stehen einer Ablehnung des Aussetzungsantrags i. S. des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO nicht gleich.1 Auch wenn die Finanzbehörde den bei ihr gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nur zum Teil abgelehnt hat, ist ein Aussetzungsantrag an das Gericht zulässig. Eine teilweise Ablehnung in diesem Sinne liegt auch vor, wenn der Steuerpflichtige einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung gestellt und das Finanzamt dem Antrag nur gegen Sicherheitsleistung entsprochen hatte.2 Hat der Steuerpflichtige jedoch bereits beim Finanzamt beantragt, die Vollziehung gegen Sicherheitsleistung auszusetzen und ist diesem Antrag entsprochen worden, wäre ein unmittelbarer Antrag an das Gericht auf Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung unzulässig, da die Finanzbehörde einen Antrag des Steuerpflichtigen auch nicht teilweise abgelehnt hatte; es hatte vielmehr in diesem Fall dem Antrag im vollen Umfang entsprochen.3

3.1189

Das Gleiche gilt für den Fall, dass der Steuerpflichtige beim Finanzamt einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides in bestimmter Höhe gestellt und das Finanzamt diesem Antrag entsprochen hat. Will der Steuerpflichtige dann durch einen Antrag bei Gericht eine weiter gehende Aussetzung der Vollziehung erreichen, wäre sein Antrag unzulässig. Auch in diesem Fall hat das Finanzamt einen entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen nicht abgelehnt, sondern ihm in vollem Umfang entsprochen. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des § 69 Abs. 4 FGO. Er setzt voraus, dass die Finanzbehörde mit den für die Gewährung bzw. Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung wesentlichen Gründen befasst worden ist und eine Aussetzung danach ganz oder teilweise abgelehnt hat.4

3.1190

Wird die Aussetzung der Vollziehung zwar in vollem Umfang, aber lediglich unter Widerrufsvorbehalt gewährt, liegt hierin keine teilweise Ablehnung des Antrags i. S. des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO. Diese ist erst dann gegeben, wenn das Finanzamt von seinem vorbehaltenen Widerrufsrecht Gebrauch macht. Das heißt: Der Steuerpflichtige kann nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an das Gericht richten, sobald das Finanzamt von dem in der Aussetzungsverfügung vorbehaltenen Widerrufsrecht Gebrauch gemacht hat.5 Ebenso liegt bei einer mit einer Befristung versehenen Aussetzung der Vollziehung keine teilweise Ablehnung i. S. des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO vor.6 In diesem Fall muss nach Fristablauf ein erneuter Antrag gestellt werden.7

3.1191

c) Keine zeitnahe Entscheidung der Finanzbehörde Die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung kann auch dann bei Gericht beantragt werden, wenn die Finanzbehörde über den bei ihr gestellten Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat (§ 69 Abs. 4 1 BFH v. 15.6.2005 – IV S 3/05, BFH/NV 2005, 2014; v. 12.5.2000 – VI B 266/98, BStBl. II 2000, 536. 2 BFH v. 12.5.2000 – VI B 266/98, BStBl. II 2000, 536. 3 Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 148. 4 BFH v. 20.6.2007 – VIII B 50/07, BStBl. II 2007, 789; v. 13.12.1999 – III B 15/99, BFH/NV 2000, 827. 5 BFH v. 12.5.2000 – VI B 266/98, BStBl. II 2000, 536. 6 BFH v. 6.2.2012 – IX S 29/11, BFH/NV 2012, 789; v. 6.5.2004 – IX S 2/04, BFH/NV 2004, 1413; v. 12.5.2000 – VI B 266/98, BStBl. II 2000, 536; vgl dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 72. 7 Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 278.

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363

3.1192

Kap. 3 Rz. 3.1193

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Satz 2 Nr. 1 FGO). Dieser Ausnahmetatbestand ist nur dann erfüllt, wenn der Steuerpflichtige einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zuvor beim Finanzamt gestellt hat und über diesen Antrag noch nicht entschieden worden ist.

3.1193 Was als angemessene Frist für eine Entscheidung über den Aussetzungsantrag anzusehen ist, kann nur nach Lage des Einzelfalles entschieden werden.1 Im Allgemeinen ist als angemessen eine Frist anzusehen, innerhalb der unter Berücksichtigung der Arbeitsbelastung der Finanzämter eine Entscheidung eines eilbedürftigen Falles erwartet werden kann. Der Finanzbehörde muss in jedem Fall die Zeit verbleiben, die für die entscheidungserheblichen tatsächlichen Ermittlungen, für die rechtliche Würdigung sowie die Abfassung und Bekanntgabe der Aussetzungsentscheidung erforderlich ist. Auch Schwierigkeit und Umfang des einzelnen Aussetzungsfalles sind ebenso wie die Mitwirkung des Steuerpflichtigen an der Sachverhaltsaufklärung in diesem Zusammenhang von Bedeutung.2 In aller Regel wird man einen Zeitraum von einem Monat als angemessene Frist ansehen können, in der die Finanzbehörde tätig werden muss. Denn vom Steuerpflichtigen werden gleichermaßen etwa bei den Rechtsbehelfsfristen vom Gesetzgeber Entscheidungen innerhalb dieser Frist verlangt. Denn es ist nicht einzusehen, warum der Finanzverwaltung eine längere Überlegungs- und Bearbeitungsfrist als dem Steuerpflichtigen zugebilligt werden soll, zumal es sich bei Aussetzungssachen um Eilsachen handelt und der Steuerpflichtige möglichst schnell Klarheit haben muss.

3.1194 Ein zureichender Grund für die Überschreitung der angemessenen Frist ist anzunehmen, wenn der Antragsteller seinen Antrag nicht begründet, seine Mitwirkungspflichten verletzt oder sein Vorbringen im Aussetzungsverfahren nicht glaubhaft macht.3 Eine besondere Mitteilung ist in diesen Fällen entbehrlich, da der Antragsteller diese Umstände kennt.4 d) Drohende Vollstreckung

3.1195 Gem. § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO ist ein Antrag auf Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung an das Gericht ohne vorherigen Antrag bei der Finanzbehörde und auch vor einer Entscheidung über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörde dann zulässig, wenn die Vollstreckung droht. Hierfür reicht nicht aus, dass die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (Fälligkeit, Leistungsgebot, Zeitablauf) vorliegen. Die Vollstreckung droht vielmehr erst dann, wenn diese aus der Sicht eines objektiven Betrachters unmittelbar bevorsteht5 und es für den Antragsteller nicht mehr zumutbar ist, sich mit seinem Aussetzungsantrag zunächst an die Finanzbehörde zu wenden.6 Dies gilt natürlich erst recht, wenn das Finanzamt mit der Vollstreckung begonnen hat.7 Allerdings kann auch eine bloße Vollstreckungsankündigung des Finanzamts nach der maßgeblichen Sicht des Steuerpflichtigen als Androhung der Vollstreckung i. S. v. § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO und nicht nur als eine bloße Mitteilung über den Fristablauf für eine gewährte Vollziehungsaussetzung verstanden

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. auch Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 152 unter Hinweis auf die FG-Rspr. Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 76; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 152. Vgl. Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 153; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 77. Vgl. Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 153; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 77. BFH v. 6.3.2013 – X S 28/12, BFH/NV 2013, 958; v. 11.8.2000 – I S 5/00, BFH/NV 2001, 314. BFH v. 6.3.2013 – X S 28/12, BFH/NV 2013, 958. BFH v. 19.3.2014 – III S 22/13, BFH/NV 2014, 856.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1198 Kap. 3

werden.1 Hieraus folgt: Hat die Finanzverwaltung Vollstreckungsaufschub nach § 258 AO gewährt, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Vollstreckung droht.2 5. Materiell-rechtliche Voraussetzungen a) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit Gem. § 69 Abs. 2 FGO kann eine Aussetzung der Vollziehung vor allem dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel i. S. v. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken.3 Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund der präsenten Beweismittel, des unstreitigen Sachverhalts und der gerichtsbekannten Tatsachen, wie sie sich aus dem Vortrag der Beteiligten und aufgrund der Aktenlage ergeben.4 Zur Gewährung der Aussetzung der Vollziehung ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen.5 Allerdings reicht es nicht aus, dass in einem summarischen Verfahren Bedenken an der Rechtmäßigkeit nicht ausgeschlossen werden können. Es muss ein nicht nur geringer Grad von Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Rechtsbehelf infolge dessen Erfolg haben wird.6

3.1196

Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes können sich daraus ergeben, dass die Finanzbehörde von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Dabei reicht die bloße Behauptung von Tatsachen regelmäßig nicht aus, um Zweifel an der Rechtmäßigkeit zu begründen. Die Tatsachen müssen vielmehr glaubhaft gemacht werden. Dazu gehört eine vollständige, substantiierte und in sich schlüssige Darlegung der Tatsachen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts begründen. Glaubhaft in diesem Sinne ist der Sachvortrag dann, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Vorgang sich so, wie der Antragsteller ihn vorträgt, abgespielt hat.7

3.1197

Der Antragsteller sollte in der Praxis sein Vorbringen auf die im Aussetzungsverfahren stattfindende summarische Prüfung durch das Gericht in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht einstellen: Will der Antragsteller eine Aussetzung der Vollziehung mit der Begründung erreichen, das Finanzamt sei von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen, empfiehlt es sich bereits im Aussetzungsverfahren den aus seiner Sicht richtigen Sachverhalt vollständig darzulegen und durch entsprechende Urkunden und/oder eidesstattliche Versicherungen etwaiger Zeugen oder einer eigenen eidesstattlichen Versicherung glaubhaft zu machen. Dabei sollte auch die Feststellungslast im Hauptsacheverfahren berücksichtigt werden (s. dazu Rz. 3.696 ff.).

3.1198

1 BFH v. 22.11.2000 – V S 15/00, BFH/NV 2001, 620. 2 Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 80. 3 BFH v. 31.3.2016 – XI B 13/16, BFH/NV 2016, 1187; v. 20.1.2015 – XI B 112/14, BFH/NV 2015, 537; v. 26.9.2014 – XI S 14/14, BFH/NV 2015, 158, jeweils m. w. N. 4 BFH v. 31.3.2016 – XI B 13/16, BFH/NV 2016, 1187 m. w. N. 5 So die st. Rspr., vgl. BFH v. 31.3.2016 – XI B 13/16, BFH/NV 2016, 1187 m. w. N. 6 BFH v. 26.6.2003 – X S 4/03, BFH/NV 2003, 1217. 7 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 75.

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Kap. 3 Rz. 3.1199

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1199 Eine Aussetzung der Vollziehung kann auch darauf gestützt werden, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes deshalb bestehen, weil das Finanzamt in dem angefochtenen Bescheid das Recht unrichtig angewendet hat.

3.1200 Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes sind in der Regel dann anzunehmen, – wenn die streitige Rechtsfrage vom BFH noch nicht entschieden worden ist und die Finanzgerichte unterschiedliche Auffassungen vertreten,1 – wenn eine Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat und damit klärungsbedürftig ist,2 – wenn die Rechtslage ungeklärt ist,3 – wenn Zweifel an der Auslegung einer entscheidungserheblichen Norm des Unionsrechts dargelegt werden,4 – wenn die Behörde bei Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes von einer Entscheidung des BFH abgewichen ist,5 – solange dem Antragsteller die Begründung für den Verwaltungsakt nicht oder unzureichend mitgeteilt worden ist.6

3.1201 Für die Praxis interessant ist der letzte Fall, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts solange bestehen, wie dieser nicht ordnungsgemäß begründet worden ist. Wird die Begründung später nachgeschoben, so wird dieser Mangel des Bescheids nach § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO geheilt. Bis zur Nachholung der Begründung ist der Bescheid aber rechtswidrig, so dass eine Aussetzung der Vollziehung jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt erfolgen kann.

3.1202 Keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen, – wenn der Bescheid der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der im Schrifttum herrschenden Meinung entspricht,7 – die zwischen den Beteiligten streitige Rechtsfrage höchstrichterlich entschieden worden ist, – wenn Einspruch und/oder Klage gegen den angefochtenen Bescheid unzulässig sind und der Bescheid damit bestandskräftig geworden ist.8

3.1203 Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes können auch mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine dem Bescheid zugrunde liegende Norm begründet werden. Es gilt zwar der Grundsatz: Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Das dem BVerfG 1 2 3 4 5

BFH v. 25.9.2008 – XI S 4/08, BFH/NV 2009, 232; v. 10.5.1999 – V B 6/99, BFH/NV 1999, 1526. BFH v. 25.9.2008 – XI S 4/08, BFH/NV 2009, 232. BFH v. 26.9.2014 – XI S 14/15, BFH/NV 2015, 158. BFH v. 25.9.2008 – XI S 4/08, BFH/NV 2009, 232. Vgl. BFH v. 13.12.1999 – II B 15/99, BFH/NV 2000, 827 betr. sog. Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung. 6 Vgl. dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 95. 7 Vgl. BFH v. 23.7.1999 – VI B 116/99, BStBl. II 1999, 684. 8 BFH v. 13.7.2000 – XI S 9/00, BFH/NV 2000, 1493.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1203 Kap. 3

vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zur Folge, dass das Finanzgericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf. Die Finanzgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz im Einzelfall zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Entscheidung in der Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird.1 Allerdings steht die Kompetenz, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nach § 32 Abs. 1 BVerfGG allein dem BVerfG zu, das von dieser Möglichkeit nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Gründe Gebrauch machen darf.2 Allerdings ist bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes, dessen Geltungswirkung zunächst einmal vorrangig ist, immer ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung erforderlich,3 indem das Interesse des Steuerpflichtigen und öffentliche Belange (öffentliches Interesse an einer geordneten Haushaltsführung) gegeneinander abgewogen werden.4 Wann der Individualanspruch auf vorläufigen Rechtsschutz Vorrang vor dem allgemeinen Normenvollzug hat, um erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Grundrechtsverletzungen zu vermeiden, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden können,5 hat der BFH6 in folgendem Katalog herausgestellt: Der Individualrechtsschutz hat danach Vorrang, wenn – das zuständige Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer streitentscheidenden Norm überzeugt ist und diese deshalb gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat, – ein beim BFH anhängiges Verfahren, das für die Beantwortung von Rechtsfragen vorgreiflich ist, im Hinblick auf mehrere beim BVerfG anhängige Verfahren der konkreten Normenkontrolle ruht, – wenn dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen, – wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt, – wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte, – wenn der BFH die vom Kläger als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte.

1 St. Rspr., vgl. zuletzt BFH v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367; BVerfG v. 24.6.1992 – 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382. 2 BVerfG v. 22.5.2001 – 2 BvQ 48/00, BVerfGE 104, 23, 27 f.; BFH v. 15.6.2016 – II B 91/15, BStBl. II 2016, 846. 3 So ausdrücklich BFH v. 21.7.2016 – V B 37/16, BFH/NV 2016, 1487 unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass trotz diesbezüglicher Kritik an der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung festgehalten werde; v. 15.6.2016 – II B 91/15, BStBl. II 2016, 846. 4 BFH v. 15.6.2016 – II B 91/15, BStBl. II 2016, 846; v. 21.11.2013 – II B 46/13, BStBl. II 2014, 263, v. 25.11.2014 – VII B 65/14, BStBl. II 2015, 207. 5 Vgl. dazu BVerfG v. 15.8.2002 – 1 BvR 1790/00, NJW 2002, 3691 m. w. N.; BFH v. 21.7.2016 – V B 37/, BFH/NV 2016, 1487. 6 BFH v. 21.7.2016 – V B 37/, BFH/NV 2016, 1487 jeweils mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung.

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Kap. 3 Rz. 3.1204

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1204 Werden also Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine dem Bescheid zugrunde liegende Norm begründet, so ist in der Praxis der o. g. – restriktive – Katalog zu beachten. Ob an der Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Vorschrift tatsächlich erhebliche Zweifel bestehen, ist dabei nicht von ausschlaggebender Bedeutung.1 Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wird kaum erfolgreich sein, wenn lediglich in der Literatur verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Norm bestehen oder wenn eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wegen derselben Frage erhoben worden ist oder auch, wenn ein anderes Finanzgericht oder ein anderer Senat des angerufenen Finanzgerichts ein Normenkontrollverfahren eingeleitet hat. Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit sind nur dann durchschlagend, wenn ein oberstes Bundesgericht verfassungsrechtliche Bedenken erhoben oder der angerufene Senat des Finanzgerichts ein Normenkontrollverfahren angestrengt hat.

3.1205 Außerdem kommt nach der Rechtsprechung des BFH eine Aussetzung der Vollziehung nur in Betracht, wenn erwartet werden kann, dass das BVerfG eine gesetzliche Vorschrift rückwirkend für nichtig erklären wird (vgl. § 78 Satz 1, § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG). Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wird keinen Erfolg haben, wenn davon auszugehen ist, dass das BVerfG die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm für eine am rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot orientierten Übergangsfrist anordnen wird.2 So wird beispielsweise bei einer Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nach der ständigen Spruchpraxis des BVerfG die regelmäßige Folge die Unvereinbarkeitserklärung sein, wobei dann eine befristete Fortgeltungsanordnung einer als verfassungswidrig erkannten Bestimmung insbesondere im Hinblick auf eine geordnete Finanz- und Haushaltsplanung in Betracht kommt.3

3.1206 Ernstliche Zweifel können sich schließlich auch daraus ergeben, dass die anzuwendende Rechtsnorm des nationalen Steuerrechts mit EU-Recht nicht im Einklang steht, d. h., dass die angewandte nationale Norm gegen die Grundfreiheiten des AEUV verstößt. Wenn es um die Vereinbarkeit einzelner Steuerrechtsnormen mit Unionsrecht geht, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich.4 Dieser Wertungswiderspruch lässt sich nicht nachvollziehen. Eine Verpflichtung zu einem sog. Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art. 267 AEUV besteht wegen der Eilbedürftigkeit von AdV-Sachen nicht.5 b) Unbillige Härte

3.1207 Eine Aussetzung der Vollziehung kommt auch dann in Betracht, wenn die Vollziehung des angefochtenen Bescheides für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. FGO). Die sog. unbillige Härte ist danach neben den ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit ein selbständiger Aussetzungsgrund. Eine unbillige Härte liegt vor, wenn einem Steuerpflichtigen durch die Zahlung Nachteile drohen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und 1 Kritisch hierzu z. B. Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 96. 2 BFH v. 5.4.2011 – II B 153/10, BStBl. II 2011, 942; v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367. 3 BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07, 1 BvR 2464/07, HFR 2010, 1225. 4 BFH v. 31.3.2016 – XI B 13/16, BFH/NV 2016, 1187 m. w. N.; v. 25.11.2014 – VII B 65/14, BStBl. II 2015, 207; a. A. BFH v. 25.11.2014 – VII B 65/14, BStBl. II 2015, 207. 5 BFH v. 25.11.2014 – VII B 65/14, BStBl. II 2015, 207; v. 7.9.2007 – V B 97/07, BFH/NV 2008, 120.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1212 Kap. 3

nicht oder schwer wieder gut zu machen wären, oder wenn die wirtschaftliche Existenz gefährdet würde.1 Entscheidend ist also, ob dem Steuerpflichtigen bei sofortiger Vollziehung unzumutbare, kaum zu behebende Nachteile drohen. Auch bei einer Aussetzung wegen unbilliger Härte sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs von Bedeutung. Das heißt: Die Aussetzung wegen unbilliger Härte setzt voraus, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts nicht ausgeschlossen werden können.2 Die AdV darf also nicht ohne Rücksicht auf die Erfolgschancen des Rechtsbehelfs gewährt werden. Kann der Rechtsbehelf offensichtlich keinen Erfolg haben, sind Zweifel also fast oder ganz ausgeschlossen, kommt eine Aussetzung der Vollziehung auch wegen unbilliger Härte nicht in Betracht.3 Zudem setzt die AdV wegen unbilliger Härte voraus, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts nicht ausgeschlossen werden können.

3.1208

Um die Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte zu erreichen, ist es in der Praxis notwendig, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Einzelfalles darzustellen und eine Existenzbedrohung glaubhaft zu machen.4 Da im Verfahren über die Aussetzung nur eine summarische Prüfung erfolgt, können auch die für eine unbillige Härte sprechenden Umstände nur insoweit berücksichtigt werden, als sie bis zur Entscheidung substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht worden sind.5 Allgemeine Hinweise z. B. auf die schlechte Lage eines Wirtschaftszweiges reichen nicht aus.

3.1209

c) Ermessen Liegen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes vor oder hätte die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge, soll auf Antrag die Vollziehung ausgesetzt werden. Durch diese SollVorschrift ist der Ermessensspielraum erheblich eingeengt: Liegen die Voraussetzungen für die Aussetzung einer Vollziehung vor, hat das Gericht in der Regel dem Antrag stattzugeben. Lediglich in Sonderfällen besteht ein Ermessensspielraum.6

3.1210

Bei der Ausübung des Ermessens sind die Interessen des Steuerpflichtigen an der Aussetzung der Vollziehung und das Interesse der Verwaltung an der Verwirklichung und Durchsetzung des Verwaltungsaktes gegeneinander abzuwägen. Dabei gewinnen die Interessen der Allgemeinheit an der Vollziehung des Verwaltungsaktes insbesondere dann an Bedeutung, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm zweifelhaft ist (s. Rz. 3.1203)

3.1211

6. Sicherheitsleistung Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 FGO und § 361 Abs. 2 Satz 5 AO kann die Aussetzung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden. Dabei ist eine 1 Vgl. BFH vom 03.6.2009 – IV B 48/09, BFH/NV 2009, 1641; v. 3.12.1998 – III S 11/98, BFH/NV 1999, 826. 2 BFH v. 2.11.2015 – VII B 68/15, BFH/NV 2016, 76; v. 27.2.2009 – VII B 186/08, BFH/NV 2009, 942 m. w. N. 3 Vgl. BFH v. 12.9.1999 – III B 16/99, BFH/NV 2000, 885. 4 BFH v. 2.11.2015 – VII B 68/15, BFH/NV 2016, 76. 5 Vgl. dazu auch Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 105. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 83.

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3.1212

Kap. 3 Rz. 3.1213

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Sicherheitsleistung anzuordnen, wenn die Voraussetzungen für eine Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung vorliegen, die spätere Vollstreckung der Steuerforderung infolge der Aussetzung der Vollziehung insbesondere wegen der wirtschaftlichen Lage des Steuerschuldners gefährdet oder erschwert erscheint. Die Sicherheitsleistung dient der Vermeidung von Steuerausfällen bei einem für den Steuerpflichtigen ungünstigen Verfahrensausgang.1 Ist allerdings die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts ernstlich zweifelhaft und bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass bei einem Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren die Durchsetzung des Steueranspruchs gefährdet wäre, so ist die Vollziehung des Verwaltungsakts regelmäßig ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.2

3.1213 Auch andere Gründe können die Anordnung einer Sicherheitsleistung angebracht erscheinen lassen wie z. B. die Tatsache, dass zur Beitreibung der Steuerschuld im Ausland vollstreckt werden müsste. Besteht allerdings mit dem betreffenden ausländischen Staat ein Abkommen zur Vereinfachung des Rechtsverkehrs in Abgabesachen, welches eine Vollstreckung unter gleichen Bedingungen wie im Inland gewährleistet, kann die Sicherheitsleistung aus diesem Grund nicht angeordnet werden.3

3.1214 Grundsätzlich ist die Anordnung einer Sicherheitsleistung von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs unabhängig. Allerdings kann der Grad der Erfolgsaussichten das öffentliche Bedürfnis nach Sicherheitsleistung beeinflussen: Dieses entfällt, wenn mit Gewissheit bzw. großer Wahrscheinlichkeit ein für den Steuerpflichtigen günstiger Prozessausgang zu erwarten ist.4 Im umgekehrten Fall steigt das Bedürfnis nach einer Sicherheitsleistung jedoch nicht automatisch. Das Finanzamt hat vielmehr die konkreten Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Steueranspruchs darzulegen.5 Pauschale Verweisungen auf eine vermeintlich schlechte wirtschaftliche Situation genügen nicht.

3.1215 Die Anforderung einer Sicherheitsleistung darf aber nicht erfolgen, wenn sie mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen eine unbillige Härte für ihn bedeuten würde, etwa weil der Steuerpflichtige im Rahmen zumutbarer Anstrengungen nicht in der Lage ist, die Sicherheit zu leisten.6 In diesen Fällen wäre es unverhältnismäßig, die Aussetzung der Vollziehung zu versagen, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse die Leistung einer Sicherheit nicht zulassen.7 In der Praxis ist es Sache des Steuerpflichtigen bzw. seines Beraters, die Umstände substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen, die dem Sicherungsbedürfnis der Finanzbehörde genügen oder die Anordnung einer Sicherheitsleistung als unangemessen oder unangemessen erscheinen lassen.8 Dies führt dazu, dass der Antragsteller insbesondere seine Vermögens- und Liquiditätslage darlegen und glaubhaft machen muss.9

1 BFH v. 15.9.2015 – I B 57/15, BFH/NV 2016, 212; 24.10.2000 – V B 144/00, BFH/NV 2001, 493; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 108. 2 BFH v. 3.2.2005 – I B 208/04, BFH/NV 2005, 625. 3 BFH v. 15.9.2015 – I B 57/15, BFH/NV 2016, 212; v. 3.2.1977 – V B 6/76, BStBl. II 1977, 351. 4 BFH v. 25.11.2014 – V B 62/14, BFH/NV 2015, 342; v. 17.5.2005 – I B 109/04, BFH/NV 2005, 1782; v. 13.12.1999 – III B 15/99, BFH/NV 2000, 827. 5 BFH v. 3.2.2005 – I B 208/04, BStBl. II 2005, 351. 6 BFH v. 25.11.2014 – V B 62/14, BFH/NV 2015, 342; v. 10.12.1997 – I B 107/97, BFH/NV 1998, 716; v. 28.6.1994 – V B 18/94, BFH/NV 1995, 515. 7 BVerfG v. 22.9.2009 – 1 BvR 1350/09, HFR 2010, 70. 8 BFH v. 17.1.1996 – V B 100/95, BFH/NV 1996, 491. 9 BFH v. 25.11.2014 – V B 62/14, BFH/NV 2015, 342.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1219 Kap. 3

Der Steuerpflichtige ist beschwert, wenn die Aussetzung der Vollziehung nur gegen eine Sicherheitsleistung gewährt wird.1 Die Anordnung der Sicherheitsleistung ist eine unselbständige Nebenbestimmung und kann nicht insoliert, sondern nur zusammen mit der Aussetzung der Vollziehung angefochten werden.2

3.1216

Der Antrag lautet in diesem Fall,

3.1217

„die Vollziehung ohne Sicherheitsleistung auszusetzen“.

7. Rechtsfolgen der Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung a) Keine Zahlungspflicht Wird die Vollziehung eines angefochtenen Bescheides ausgesetzt, hat dies zur Folge, dass der angefochtene Bescheid zwar wirksam bleibt, praktisch vom Zeitpunkt der Aussetzung an aber so behandelt wird, als sei er nicht existent. Das bedeutet: Die in dem Verwaltungsakt getroffene Regelung kann vorläufig nicht verwirklicht werden. Der festgesetzte und noch nicht geleistete Steuerbetrag muss erst einmal nicht bezahlt werden. Dabei ist der Begriff der Vollziehung nicht auf Fälle der erzwungenen Leistung beschränkt; vielmehr umfasst er die gesamte Durchführung des Bescheides, d. h. die gesamte Erhebung einer Abgabe.3 Dies hat zur Folge, dass im Fall einer Aussetzung der Vollziehung keine Fälligkeit einer in dem Steuerbescheid festgesetzten Geldleistung entsteht – sofern die Vollziehung vom Fälligkeitszeitpunkt an ausgesetzt wird. In diesem Fall werden auch keine Säumniszuschläge verwirkt.4 Allerdings wirkt die Aussetzung der Vollziehung ex nunc, d. h. in die Zukunft. In der Vergangenheit kraft Gesetzes entstandene Säumniszuschläge bleiben folglich unberührt.5 Diese Säumnisfolgen können für die Vergangenheit nur durch Aufhebung der Vollziehung des Steuerbescheids beseitigt werden;6 maßgebend für die Bestimmung des Zeitpunkts, ab welchem die Vollziehung eines Steuerbescheids aufzuheben ist, ist im Wesentlichen, ab wann ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides erkennbar vorliegen.7 Durch die Aussetzung der Vollziehung ist das Finanzamt außerdem gehindert, irgendwelche Vollstreckungsmaßnahmen aufgrund des Bescheides zu ergreifen.8

3.1218

Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits vollzogen, d. h., ist von seinem Regelungsgehalt bereits Gebrauch gemacht worden, so kann statt der Aussetzung der Vollziehung die Aufhebung der Vollziehung angeordnet werden (§ 69 Abs. 3 Satz 3 FGO, § 361 Abs. 2 Satz 3 AO). Hierdurch wird die Finanzbehörde grundsätzlich verpflichtet, den Zustand wiederherzustellen, der vor der Vollziehung bestand. So ist insbesondere die aufgrund des angefochtenen Bescheides gezahlte Steuer zu erstatten, ohne dass dies im Tenor besonders angeordnet werden müsste.

3.1219

1 2 3 4 5

BFH v. 15.9.2015 –I B 57/15, BFH/NV 2016, 212. Seer in Tipke/Kruse, § 361 AO Rz. 14. BFH v. 22.7.1977 – III B 34/74, BStBl. II 1977, 838. BFH v. 10.10.2002 – VII S 28/01, BFH/NV 2003, 12; Loose in Tipke/Kruse, § 240 AO Rz. 24. BFH v. 30.9.2015 – I B 86/15, BFH/NV 2016, 569; Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 65; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 105. 6 BFH v. 2.7.2014 – XI S 8/14, BFH/NV 2014, 1601; v. 10.5.2002 – VII B 244/01, BFH/NV 2002, 1125. 7 Vgl. BFH v. 10.5.2002 – VII B 244/01, BFH/NV 2002, 1125. 8 Vgl. BFH v. 1.2.2000 – IV B 138/98, BFH/NV 2000, 713.

Schaumburg

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Kap. 3 Rz. 3.1220

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1220 Der einstweilige Rechtsschutz ist allerdings nicht unerheblich eingeschränkt: Gem. § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO, der gem. § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO auch für die „finanzgerichtliche Aussetzung der Vollziehung“ gilt, sind bei Steuerbescheiden die Aussetzung und die Aufhebung der Vollziehung auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die festgesetzten – nicht die gezahlten!! – Vorauszahlungen, beschränkt Dies bedeutet: Mit der Aufhebung der Vollziehung kann, obwohl das Gericht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des betreffenden Steuerbescheides hat, nicht mehr die vorläufige Erstattung von Vorauszahlungen, einbehaltenen Steuerabzugsbeträgen und anrechenbarer Körperschaftsteuer erreicht werden. Damit kann die Aussetzung der Vollziehung eines Vorauszahlungsbescheids durch den Erlass eines Jahressteuerbescheides gegenstandslos werden (§ 69 Abs. 2 Satz 8 FGO).1 Ausnahmsweise soll eine vorläufige Erstattung dann gewährt werden können, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 69 Abs. 2 Satz 8 2. Halbs. FGO). Der Begriff der wesentlichen Nachteile i. S. des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ist im Sinne der Rechtsprechung zu § 114 FGO zu verstehen.2 Wesentliche Nachteile i. S. von § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbs. 2 FGO sind dann gegeben, wenn durch die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen unmittelbar und ausschließlich bedroht sein würde.3 Allein die Tatsache, dass der Steuerpflichtige einstweilen nicht über die ggf. zu erstattenden Mittel verfügen kann, ist kein wesentlicher Nachteil i. S. des § 69 Abs. 2 Satz 8 2. Halbs. FGO; und zwar auch dann, wenn fällig werdende andere Zahlungen im Wege der Kreditaufnahme finanziert werden müssen.4 Wer also eine vorläufige Erstattung von Vorauszahlungs- und Abzugsbeträgen mit einem Antrag auf Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung erstrebt, muss „wesentliche Nachteile“ im Einzelnen darlegen und glaubhaft machen. Um sicher zu gehen, sollten Umstände dargelegt werden, die eine Existenzbedrohung darstellen.

3.1221 Darüber hinaus gewährleistet § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO, dass wegen wesentlicher Nachteile zugunsten des Bürgers von den allgemeinen Grundsätzen abgewichen werden kann, wenn ein unabweisbares Interesse dies gebietet, um eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Grundrechten zu vermeiden, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann.5

3.1222 Die Regelung in § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO, § 361 Abs. 3 Satz 4 AO führt u. U. zu einem mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbaren Gesetzesüberhang, wenn die Vollziehung des Vorauszahlungsbescheids ausgesetzt war und später ein Jahresbescheid ergangen ist. In diesem Fall muss der Steuerpflichtige so gestellt werden, als hätte er eine Aussetzung der Vollziehung nicht nur der Vorauszahlungen, sondern auch der Jahressteuerschuld in derselben Höhe erlangt.6 Es empfiehlt sich in diesem Fall in der Praxis wegen der entstandenen Säumniszuschläge einen Antrag auf Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen zu stellen. Diesem Antrag ist nach der Rechtsprechung stattzugeben und die aufgrund eines Gesetzesüberhangs entstandenen Säumniszuschläge sind zu erlassen.7

1 2 3 4 5

Vgl. BFH v. 24.1.2000 – X B 99/99, BFH/NV 2000, 559. BFH v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367. BFH v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367 m. w. N. BFH v. 2.11.1999 – I B 49/99, BStBl. II 2000, 57. BFH v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367 m. w. N.; s. hierzu auch zur AdV bei Verfassungswidrigkeit einer Norm Rz. 3.1203. 6 BFH v. 20.5.2010 – V R 42/08, BStBl. II 2010, 955 m. w. N. 7 BFH v. 20.5.2010 – V R 42/08, BStBl. II 2010, 955.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1227 Kap. 3

Wird eine Aussetzung der Vollziehung gewährt, so kann auch hiergegen in besonderen Fällen bei einer Beschwer des Einspruchsführers Einspruch eingelegt werden oder ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht gestellt werden. Gegen die sog. „aufgedrängte Aussetzung“, d. h., wenn dem Steuerpflichtigen eine Aussetzung der Vollziehung gegen seinen Willen gewährt wird, ist hiergegen die Anfechtungsklage gegeben und zulässig.1 Die Beschwer ist darin zu sehen, dass der Einspruchsführer bei einem Unterliegen mit Aussetzungszinsen belastet wird, die über dem Kapitalmarktniveau liegen.

3.1223

b) Aussetzungszinsen Soweit Einspruch oder Klage gegen einen Steuerbescheid (§ 155 Abs. 1 AO) oder eine Steueranmeldung (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO) oder gegen einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, endgültig keinen Erfolg haben, fallen gem. § 237 Abs. 1 Satz 1 AO Aussetzungszinsen an. Dies gilt auch, wenn aufgrund der Aussetzung der Vollziehung eines Grundlagenbescheids der Folgebescheid ausgesetzt wird (§ 237 Abs. 1 Satz 2 AO). Haftungsansprüche fallen nicht unter diese Vorschrift und werden ebenfalls wie steuerliche Nebenleistungen nicht verzinst.2

3.1224

Der ausgesetzte Betrag wird mit 0,5 v. H. pro angefangenen Monat (= 6 v. H. Jahreszinssatz) verzinst (§ 238 AO). Die Entstehung des Zinsanspruchs setzt allein die endgültige Erfolglosigkeit eines förmlichen Rechtsbehelfs bei gewährter Aussetzung der Vollziehung voraus. Die Fehlerhaftigkeit der bestandskräftigen Aussetzungsentscheidung3 oder ein Überschreiten der angemessenen Verfahrensdauer ohne Hinzutun des Steuerpflichtigen4 berühren den Zinsanspruch grundsätzlich nicht.

3.1225

Der Zinssatz von 6 v. H. pro Jahr wird wegen der derzeit herrschenden Niedrigzinsphase, deren Ende nicht absehbar ist, teilweise für nicht mehr zeitgerecht oder gar verfassungswidrig gehalten.5 Bis Ende 2011 bestehen nach der Rechtsprechung jedenfalls keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen.6 Der zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirkende Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO von 0,5 % für jeden Monat hält sich im Zinszeitraum 2004 bis 2011 beim Vergleich mit den Marktzinsen noch in einem der wirtschaftlichen Realität entsprechenden angemessenen Rahmen. Überdies sei die Abkopplung des gesetzlichen Zinssatzes von dem individuellen Zinsvorteil oder -nachteil ein grundlegendes Prinzip, das auch bei unbesicherten Kreditformen nicht gänzlich marktund realitätsfremd erscheine.7

3.1226

In der Praxis sollte immer unter Berücksichtigung des Kapitalmarktzinsniveaus überlegt werden, ob eine Aussetzung der Vollziehung überhaupt in Anspruch genommen werden soll, wenn liquide Mittel zur Begleichung der Steuerschuld vorhanden sind oder die offenen Beträge vorübergehend refinanziert werden können.

3.1227

1 Ausführlich FG Köln v. 8.9.2010 – 13 K 960/08, EFG 2011, 105 mit Anm. Neu; bestätigt durch BFH v. 9.5.2012 – I R 91/10, BFH/NV 2012, 2004. 2 BFH v. 25.7.1989 – VII R 39/86, BStBl. II 1989, 821; Nds. FG v. 30.9.2010 – 11 K 279/09, EFG 2011, 504. 3 BFH v. 18.7.1994 – X R 33/91, BStBl. II 1995, 4. 4 BFH v. 21.2.1991 – V R 105/84, BStBl. II 1991, 498. 5 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 238 AO Rz. 2 m. w. N. 6 BFH 1.7.2014 – IX R 31/13, BStBl. II 2014, 925; v. 21.10.2015 – V B 36/15, BFH/NV 2016, 223. 7 So bis 2013 BFH v. 19.2.2016 – X S 38/15(PKH), juris.

Schaumburg

373

Kap. 3 Rz. 3.1228

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

8. Sonderfälle der Vollziehungsaussetzung a) Grundlagenbescheid/Folgebescheid

3.1228 Ist die Vollziehung des Grundlagenbescheides ausgesetzt, so bestimmen § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO, § 361 Abs. 3 Satz 1 AO, dass auch die Vollziehung eines – gleichwohl erlassenen – Folgebescheides auszusetzen ist. Dabei ergeben sich Umfang und Höhe der Aussetzung des Folgebescheides aus Umfang und Höhe der Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheides. Dies ergibt sich aus der Bindungswirkung zwischen Grundlagenbescheid und Folgebescheid (§ 182 AO).

3.1229 Die Aussetzung des Folgebescheides ist zwingend vorgeschrieben, falls der Grundlagenbescheid ausgesetzt ist. Ein Ermessensspielraum der Finanzbehörde besteht hier lediglich hinsichtlich der Sicherheitsleistung und etwaiger Nebenbestimmungen. Für die Praxis ist wichtig, dass der Folgebescheid auch dann auszusetzen ist, wenn ein entsprechender Antrag des Steuerpflichtigen nicht vorliegt. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist die Folgeaussetzung zwingend vorgeschrieben und deshalb vom Finanzamt von Amts wegen durchzuführen. Die Verpflichtung, den Folgebescheid von der Vollziehung auszusetzen, besteht auch dann, wenn der Folgebescheid selbst nicht angefochten ist.1

3.1230 Liegt ein Grundlagenbescheid vor, ist aber die Vollziehung des Grundlagenbescheides nicht ausgesetzt worden, hat dies zur Folge, dass auch der Folgebescheid wegen der im Grundlagenbescheid getroffenen Feststellungen nicht ausgesetzt werden kann. Dies ergibt sich aus der Bindungswirkung zwischen Grundlagen- und Folgebescheid. Hier kann vorläufiger Rechtsschutz für den Folgebescheid nur dadurch erlangt werden, dass ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheides gestellt wird. Es reicht nicht aus, wenn der Grundlagenbescheid lediglich angefochten ist.2 Beispiel: A ist geschäftsführender Gesellschafter der X-OHG. Der Gewinn der Gesellschaft ist durch Feststellungsbescheid einheitlich und gesondert festgestellt worden. A ist der Auffassung, dass der vom Finanzamt festgestellte Gewinn überhöht ist, da ein Teil der geltend gemachten Betriebsausgaben nicht anerkannt worden ist. In dem Einkommensteuerbescheid des A ist der Gewinnanteil an der Gesellschaft in der im Feststellungsbescheid festgelegten Höhe zugrunde gelegt worden. Will A einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der nach seiner Auffassung im Einkommensteuerbescheid zu hoch angesetzten Gewinnbeteiligung an der Gesellschaft erreichen, muss er einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Feststellungsbescheides stellen: Hat der Antrag Erfolg, ist das Finanzamt von Amts wegen verpflichtet, den Folgebescheid (Einkommensteuerbescheid des A) in entsprechender Höhe von der Vollziehung auszusetzen.

3.1231 Grundsätzlich ist der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheids unzulässig, wenn es um Einwendungen geht, die den Grundlagenbescheid betreffen.3 Dies wird in der Praxis immer wieder einmal übersehen. Ein isolierter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheids kommt allerdings in Betracht, – wenn sich das Finanzamt weigert, den Folgebescheid auszusetzen, obwohl der Grundlagenbescheid ausgesetzt worden ist.4 1 BFH v. 23.6.1998 – VII R 119/97, BFH/NV 1998, 1322; Seer in Tipke/Kruse, § 361 FGO Rz. 11; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 74. 2 BFH v. 6.12.2000 – X B 89/00, BFH/NV 2001, 630 und v. 29.10.1987 – VIII R 413/83, BStBl. II 1988, 240. 3 Vgl. Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 74 m. w. N. 4 Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 74 m. w. N.

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Schaumburg

K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1234 Kap. 3

– wenn im Folgebescheid (z.B. Einkommensteuerbescheid) einheitlich und gesondert festzustellende Besteuerungsgrundlagen enthalten sind, die noch nicht in einem Feststellungsbescheid erfasst worden sind.1 Hier hat der Steuerpflichtige ein rechtlich anzuerkennendes Interesse daran, den Einkommensteuerbescheid anzufechten und demgemäß auch Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides zu beantragen, da er sich gegen einen Feststellungsbescheid noch nicht – auch nicht mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung – wenden kann. – wenn im Verfahren gegen den Folgebescheid die Unwirksamkeit des Grundlagenbescheids geltend gemacht wird. Hinsichtlich der Wirksamkeit des Grundlagenbescheids besteht nämlich keine Bindungswirkung für den Folgebescheid.2 In diesem Fall kann auch der Folgebescheid selbständig angefochten werden. – wenn im Verfahren gegen den Folgebescheid Einwendungen gegen Besteuerungsgrundlagen erhoben werden, die nicht mit bindender Wirkung in dem Grundlagenbescheid festgestellt sind. Wird die Aussetzung der Vollziehung für einen Grundlagenbescheid beantragt, empfiehlt es sich in der Praxis, das für den Folgebescheid zuständige Finanzamt bzw. in Fällen der Gewerbesteuermessbescheide die Gemeinde durch Übersendung von Abschriften des Antrags darüber zu informieren, um so Verzögerungen zwischen den Behörden zu vermeiden und Vollstreckungsmaßnahmen vorzubeugen.

3.1232

b) Verlustfeststellungsbescheid Ist in der Feststellungserklärung ein Verlust erklärt worden und folgt das Finanzamt dieser Erklärung nicht, sondern setzt einen niedrigeren oder gar keinen Verlust fest, so wird vorläufiger Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung des Feststellungsbescheides gewährt, nicht etwa durch eine einstweilige Anordnung. Dies ergibt sich daraus, dass auch für Feststellungsbescheide, bei denen ein Verlust an Stelle eines festgestellten Gewinnes bzw. ein höherer Verlust als festgestellt begehrt wird, die Anfechtungsklage die richtige Klageart ist. Mit der Anfechtungsklage korrespondiert als Mittel vorläufigen Rechtsschutzes die Aussetzung der Vollziehung. Denn gleichgültig, ob die Beteiligten darüber streiten, dass statt eines positiven Betrages in dem Feststellungsbescheid ein geringerer positiver Betrag oder gar ein negativer Betrag als Besteuerungsgrundlage anzusetzen ist oder ob sich der Streit ausschließlich im Bereich negativer Beträge abspielt, stets wird ein Bescheid des Finanzamts mit dem Ziel angefochten, ihn betraglich zu ändern. Für das Begehren der betraglichen Änderung eines Bescheides ist aber die richtige Klageart die Anfechtungsklage.3

3.1233

In einem solchen Fall lautet der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Feststellungsbescheides dahin,

3.1234

dass vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage statt von einem Verlust von … Euro von einem Verlust i. H. v. … Euro auszugehen ist, der sich auf die Beteiligten wie folgt verteilen soll … Wird dem Antrag stattgegeben, wird das Gericht in einem Beschluss entsprechend tenorieren.

1 BFH v. 1.2.2000 – IV B 138/98, BFH/NV 2000, 713. 2 BFH v. 25.3.1986 – III B 6/85, BStBl. II 1986, 477. 3 BFH v. 14.4.1987 – GrS 2/85, BStBl. II 1987, 637; Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 51.

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Kap. 3 Rz. 3.1235

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

c) Negativer Feststellungsbescheid

3.1235 Lehnt das Finanzamt es ab, Gewinne oder Verluste einheitlich festzustellen, so ergeht ein sog. negativer Feststellungsbescheid. Ein derartiger negativer Gewinnfeststellungsbescheid ist einer Aussetzung der Vollziehung fähig; denn die gegen einen solchen Bescheid erhobene Klage enthält zumindest Elemente einer Anfechtungsklage.1

3.1236 Vorläufiger Rechtsschutz gegenüber einem negativen Feststellungsbescheid wird im Wege der Aussetzung der Vollziehung gewährt. Der Antrag lautet dahin,2 die Vollziehung des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe auszusetzen, dass vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren von einem Verlust i. H. v. … Euro auszugehen ist, der sich auf die Beteiligten wie folgt verteilt …

3.1237 Einstweilen frei. 9. Verfahren

3.1238 Die Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung kann von Amts wegen ausgesprochen werden. In der Praxis ist aber die Regel, dass ein entsprechender Antrag gestellt wird.

3.1239 Die Aussetzung der Vollziehung muss als begünstigender Verwaltungsakt nach § 119 Abs. 2 AO ausdrücklich schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Das Schweigen des Finanzamts auf einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung und das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen können nicht dahin verstanden werden, dass die Aussetzung der Vollziehung des betreffenden Verwaltungsakts gewährt worden ist.3

3.1240 Das Gericht entscheidet im Aussetzungsverfahren aufgrund summarischer Prüfung. Deshalb sind die entscheidungserheblichen Tatsachen, aus denen die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung hergeleitet werden (ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit, unbillige Härte), wegen des summarischen Charakters des Aussetzungsverfahrens substantiiert vorzutragen und glaubhaft zu machen, z. B. durch Vorlage von Urkunden oder durch eidesstattliche Versicherungen. Wegen der Eilbedürftigkeit wird im Aussetzungsverfahren nur der Sachverhalt berücksichtigt, der sich aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere den Akten der Finanzbehörde und auf präsente Beweismittel (z. B. im Verfahren vorgelegte Urkunden) ergibt.4 Dabei sind alle Arten von Beweismitteln zulässig, darüber hinaus allerdings auch die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers oder von Dritten (§ 155 FGO i. V. m. § 194 Abs. 1 ZPO).5

3.1241 Dabei ist es ist nicht die Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt weiter zu ermitteln. Förmliche Beweiserhebungen durch Zeugeneinvernahme oder Einholung eines Sachverständigengutachtens seitens des Gerichts finden im Aussetzungsverfahren regelmäßig nicht statt, ob-

1 Vgl. BFH v. 14.4.1987 – GrS 2/85, BStBl. II 1987, 637; Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 52. 2 Vgl. Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 52. 3 BFH v. 16.6.2005 – VII B 273/04, BFH/NV 2005, 1747. 4 Vgl. BFH v. 6.11.2012 – VIII R 40/10, BFH/NV 2013, 397; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 122. 5 Vgl. BFH v. 6.11.2012 – VIII R 40/10, BFH/NV 2013, 397.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1247 Kap. 3

wohl das Gericht die rechtliche Möglichkeit hierzu hätte.1 Das Gericht könnte über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung auch aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden; dies ist aber regelmäßig nicht üblich.2 Die Grundsätze über die Feststellungslast (vgl. Rz. 3.696 ff.) gelten auch im Aussetzungsverfahren: Beruft sich ein Steuerpflichtiger zur Begründung von ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides auf einen die Steuer mindernden Sachverhalt und lässt sich nicht klären, ob dieser vorliegt, so gereicht dies dem Steuerpflichtigen zum Nachteil, weil er insoweit die Feststellungslast trägt.

3.1242

Beispiel: Begehrt ein Unternehmer den Vorsteuerabzug und macht damit einen Anspruch auf Minderung seiner Umsatzsteuer-Zahllast geltend, so trägt er hierfür die objektive Beweislast/Feststellungslast. Das bedeutet: Er muss auch im Aussetzungsverfahren die den Vorsteuerabzug begründenden Tatsachen schlüssig darlegen und glaubhaft machen, soweit seine Mitwirkungspflicht reicht.3

Grundsätzlich entscheidet das Gericht über den Antrag durch Beschluss. Gem. § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO kann in dringenden Fällen der Vorsitzende allein entscheiden. Hierbei ist zu beachten, dass gegen die Entscheidung des Vorsitzenden im Interesse der Verfahrensbeschleunigung nur die – allerdings zulassungsbedürftige – Beschwerde gegeben ist (§ 128 Abs. 3 FGO).

3.1243

Eine Klage auf Aussetzung der Vollziehung ist nicht zulässig. § 69 Abs. 7 FGO bestimmt nämlich, dass im Falle der Ablehnung eines Antrages auf Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung durch die Behörde die Anrufung des Gerichts nur nach Abs. 3 und Abs. 5 Satz 3 in Betracht kommt.

3.1244

10. Rechtsbehelf Gegen den Beschluss des Gerichts, mit dem über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung entschieden worden ist, ist gem. § 128 Abs. 3 FGO die Beschwerde an den BFH nur dann gegeben, wenn das Finanzgericht diese entweder in der Entscheidung selbst oder in einem späteren Beschluss ausdrücklich zugelassen hat.4 Eine Zulassung durch den BFH ist nicht möglich.5

3.1245

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist im Gesetz nicht vorgesehen und damit nicht statthaft.6

3.1246

Nach § 128 Abs. 3 Satz 2 FGO findet für die Zulassung der Beschwerde § 115 Abs. 2 FGO, der für die Zulassung der Revision gilt, Anwendung. Dies bedeutet, dass die Beschwerde zuzulassen ist, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn der Beschluss von einer Entscheidung des BFH abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Dabei ist die Zulassung der Beschwerde nicht darauf beschränkt, dass die streitige Rechtsfrage die Auslegung des § 69 FGO betrifft. Eine grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1

3.1247

1 Vgl. BFH v. 4.5.1977 – I R 162-163/76, BStBl. II 1977, 765; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 197; Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 174. 2 BFH v. 9.10.2000 – IV B 48/00, BFH/NV 2001, 202; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 197. 3 Vgl. BFH v. 17.3.1994 – XI B 81/93, BFH/NV 1995, 171. 4 BFH v. 19.2.2016 – IX B 26/16, BFH/NV 2016, 775: v. 27.1.2016 – IX B 7/16, BFH/NV 2016, 770; v. 6.6.2005 – VIII B 78/05, BFH/NV 1837. 5 BFH v. 19.2.2016 – IX B 26/16, BFH/NV 2016, 775. 6 BFH v. 29.8.2003 – III B 109/03, BFH/NV 2004, 71.

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Kap. 3 Rz. 3.1248

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

FGO kann sich auch auf die materielle Rechtsfrage des angefochtenen Steuerbescheides beziehen.1

3.1248 Im Beschwerdeverfahren überprüft der BFH die Entscheidung des Finanzgerichts in vollem Umfang, also in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht. Allerdings gilt wie im Hauptsacheverfahren das Verbot der Schlechterstellung: Hat der Steuerpflichtige gegen einen Beschluss des Finanzgerichts, durch den die Vollziehung des angefochtenen Bescheides nur teilweise ausgesetzt worden war, Beschwerde eingelegt, so kann der BFH auf die Beschwerde des Steuerpflichtigen hin nicht die Aussetzung der Vollziehung des Bescheides insgesamt ablehnen. 11. Änderung des Beschlusses

3.1249 Während die Finanzbehörde eine einmal gewährte Aussetzung der Vollziehung, bei der es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt handelt, nur unter den Voraussetzungen der §§ 130, 131 AO zurücknehmen bzw. widerrufen kann, können gerichtliche Beschlüsse über Anträge auf Aussetzung der Vollziehung – auch abweisende – vom Gericht der Hauptsache von Amts wegen ohne Antrag eines Beteiligten nach § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO jederzeit geändert oder aufgehoben werden.2 Dies gilt auch dann, wenn eine Klage noch nicht erhoben ist.3

3.1250 Eine Änderung bzw. Aufhebung des gerichtlichen Beschlusses kann nicht nach Belieben erfolgen.4 Sie kommt in Betracht, wenn das Gericht bei neuerlicher Prüfung der Sach- und Rechtslage zu dem Ergebnis kommt, dass es einen entsprechenden Beschluss mit demselben Inhalt nicht mehr erlassen würde. Voraussetzung ist nicht, dass sich die Entscheidungsgrundlagen des Gerichtsbeschlusses nachträglich geändert haben. Eine Änderung oder Aufhebung kommt insbesondere in Betracht, wenn – sich die Sachlage nach Ergehen des Beschlusses geändert hat, – einem Beteiligten entscheidungserhebliche Tatsachen oder Beweismittel erst nach Ergehen des Beschlusses bekannt geworden sind, – dem Gericht von Amts wegen neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer anderen Entscheidung führen, – neue Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, deren Tragweite im summarischen Verfahren bisher nicht ausreichend gewürdigt wurde.

3.1251 Das Verfahren betreffend die Änderung bzw. Aufhebung des ursprünglichen Beschlusses ist keine Fortsetzung des ursprünglichen Aussetzungsverfahrens, sondern ein selbständiges Verfahren zur Überprüfung der Frage, ob die Aufrechterhaltung der ursprünglichen Aussetzungsentscheidung noch gerechtfertigt ist.

3.1252 Für die Beteiligten wird der Antrag auf Änderung bzw. Aufhebung eines Aussetzungsbeschlusses durch § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO erheblich erschwert. Danach kann ein Beteiligter die Änderung oder Aufhebung des Beschlusses über einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO nur wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend ge1 BFH v. 9.1.1990 – VII B 187/89, BFH/NV 1990, 473; v. 28.11.1977 – GrS 4/77, BStBl. II 1978, 229; vgl. auch Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz. 308. 2 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 69 Rz. 162. 3 Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 275. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 69 Rz. 162.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1256 Kap. 3

machter Umstände beantragen. Dies gilt nicht nur dann, wenn das Finanzgericht erneut angerufen wird, sondern auch dann, wenn das Finanzgericht bereits die ursprüngliche Entscheidung erlassen hat, inzwischen aber der BFH Gericht der Hauptsache geworden ist.1 Dadurch soll verhindert werden, dass sich das Gericht wiederholt mit demselben Antragsbegehren befassen muss oder dass die Einschränkung der Beschwerdemöglichkeit umgangen wird.2 Als Änderung der Umstände i. S. dieser Bestimmung ist nicht nur eine Änderung der Sachoder Rechtslage anzusehen. „Umstände“ in diesem Sinne können Tatsachen und Beweismittel sein, die nach Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung entstanden oder bekannt geworden sind.3 Insoweit reicht jede Änderung der für die Beurteilung der Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung maßgeblichen Gesichtspunkte aus, so z. B. auch eine Veränderung der Prozesslage, weil zwischenzeitlich eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage inzwischen höchstrichterlich (anders) entschieden worden oder inzwischen ein die entscheidungserhebliche Rechtsfrage betreffender Vorlagebeschluss ergangen ist.4

3.1253

Das Antragsrecht besteht ferner, wenn im ursprünglichen Verfahren bestimmte Umstände ohne Verschulden nicht geltend gemacht worden sind. Bei dieser Alternative lagen also bei Ergehen des ursprünglichen Beschlusses die betreffenden Umstände vor, sie sind aber in diesem Verfahren nicht vorgetragen worden. Hier ist das Antragsrecht daran geknüpft, dass der Beteiligte ohne sein Verschulden gehindert war, die objektiv bereits bestehenden Umstände vorzutragen. Damit ähnelt dieser Tatbestand dem der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 56 Abs. 1 FGO. Zur Frage des Verschuldens wird deshalb auf die Darstellung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwiesen (vgl. Rz. 3.541 ff.).

3.1254

III. Einstweilige Anordnung Literatur: App, Einstweilige Anordnung des Insolvenzschuldners gegen die Anmeldung von Abgabeforderungen zur Insolvenztabelle, ZKF 2013, 11; Carlé, Schutz vor Zwangs- und Vollstreckungsmaßnahmen, AO-StB 2010, 345; Steinhauff, Vorläufiger Rechtsschutz und Vollstreckung im Steuerrecht, AO-StB 2012, 332; Tormöhlen, Einstweilige Anordnung, AO-StB 2013, 381.

1. Bedeutung Die einstweilige Anordnung des finanzgerichtlichen Verfahrens entspricht der einstweiligen Verfügung des Zivilprozesses. Sie ergänzt den durch § 69 FGO in Form der Aussetzung der Vollziehung gewährten vorläufigen Rechtsschutz für die Fälle, in denen ein anfechtbarer Verwaltungsakt nicht vorliegt.5

3.1255

Durch § 114 Abs. 5 FGO ist ausdrücklich festgelegt, dass die einstweilige Anordnung ausscheidet, wenn ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zulässig ist.

3.1256

1 BFH v. 13.5.2015 – X S 9/15, BFH/NV 15,1099; v. 21.20.2013 – V B 68/13, BFH/NV 2014, 173; v. 8.3.2013 – III S 2/12, BFH/NV 2013, 960. 2 BFH v. 13.5.2015 – X S 9/15, BFH/NV 15, 1099 m. w. N.; vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 166. 3 BFH v. 21.10.2013 – V B 68/13, BFH/NV 2014, 173 m. w. N. 4 BFH v. 21.10.2013 – V B 68/13, BFH/NV 2014, 173 m. w. N. 5 S. Muster M 16, Rz. 11.16.

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Kap. 3 Rz. 3.1257

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1257 Da es sich bei den meisten Streitigkeiten im finanzgerichtlichen Verfahren um Anfechtungssachen handelt, kommt der einstweiligen Anordnung in der Praxis – verglichen mit der Aussetzung der Vollziehung – keine wesentliche Bedeutung zu. Beispiel: Das Finanzamt hat abweichend von der Umsatzsteuererklärung keine negative Steuerschuld (Erstattung), sondern eine Umsatzsteuer von 0 Euro festgesetzt, weil geltend gemachte Vorsteuerbeträge nicht berücksichtigt wurden. Hier kann der Steuerpflichtige nicht mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung einstweiligen Rechtsschutz erreichen. Denn im Wege der Aussetzung der Vollziehung können nicht vorläufig negative Steuerschulden festgesetzt werden. Hier kommt nur Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Betracht mit dem Ziel, Vorsteuerbeträge in bestimmter Höhe unter dem Vorbehalt der Rückforderung ausgezahlt zu erhalten.1

3.1258 Die einstweilige Anordnung ist insbesondere dann der richtige Rechtsbehelf, wenn der Antragsteller die einstweilige Einstellung von Vollstreckungsmaßnahmen (Gewährung von Vollstreckungsaufschub gem. § 258 AO oder die zeitweilige Aussetzung der Verwertung gem. § 297 AO) durch das Finanzamt begehrt bzw. erreichen will, dass die Vollstreckung bis zur endgültigen Klärung des Rechtstreits ausgesetzt werden soll.2

3.1259 Allerdings sind Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit von Vollstreckungsmaßnahmen in aller Regel im einstweiligen Rechtsschutz mit dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung geltend zu machen.3 2. Voraussetzungen a) Allgemeines

3.1260 Nach § 114 Abs. 1 FGO kann eine einstweilige Anordnung durch das Gericht nur auf Antrag erlassen werden. Der Antrag ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim zuständigen Gericht zu stellen (§ 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 920 Abs. 3 ZPO). Er ist an keine Frist gebunden und kann bereits vor Erhebung der Klage in der Hauptsache gestellt werden. Der Antrag muss enthalten – die Bezeichnung des Antragstellers, – die Angabe des Antragsgegners, – die Bezeichnung des Anordnungsanspruchs, d. h. des Rechts, für das vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden soll, – die Bezeichnung des Anordnungsgrundes.

3.1261 Dem Antrag muss außerdem zu entnehmen sein, dass vorläufiger Rechtsschutz durch eine einstweilige Anordnung begehrt wird.

3.1262 Zum notwendigen Inhalt des Antrags gehört nicht, dass ein genau bestimmter Antrag gestellt wird.4 Das bedeutet: Der Antragsteller braucht die Maßnahme, die das Gericht im We-

1 2 3 4

Vgl. Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 109 Stichwort „Umsatzsteuerbescheide“. BFH v. 23.11.1999 – VII B 310/98, BFH/NV 2000, 588. Vgl. Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 116 Stichwort „Vollstreckungsmaßnahmen“. Stapperfend in Gräber, § 114 FGO Rz. 25.

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K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1267 Kap. 3

ge der einstweiligen Anordnung anordnen soll, nicht genau zu bezeichnen; er muss aber das von ihm angestrebte Rechtsschutzziel hinreichend konkretisieren.1 Der Antrag ist nur zulässig, wenn die allgemeinen Prozessvoraussetzungen erfüllt sind, insbesondere der Finanzrechtsweg gegeben ist. Die Prozessvoraussetzungen sind dieselben wie für die Erhebung der Klage (vgl. Rz. 3.304 ff.).

3.1263

Es gibt zwei Formen der einstweiligen Anordnung, nämlich die Sicherungsanordnung und die sog. Regelungsanordnung. Die Sicherungsanordnung ist darauf gerichtet, den bestehenden Zustand zu erhalten (§ 114 Abs. 1 Satz 1 FGO). Demgegenüber zielt die Regelungsanordnung darauf ab, einen bestehenden Zustand vorläufig neu zu regeln, also die bisherige Rechtsposition des Antragstellers zu verbessern (§ 114 Abs. 1 Satz 2 FGO). Beide Formen der einstweiligen Anordnung werden in der Praxis nicht streng getrennt.2 Dies hat allerdings für den Antragsteller keine Nachteile, da die Rechtsfolgen im Wesentlichen dieselben sind. Insbesondere stimmen beide Grundlagen insoweit überein, als für die einstweilige Anordnung aufgrund der Verweisung in § 114 Abs. 3 FGO auf Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) der Antragsteller den Anspruch und den Grund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung glaubhaft zu machen hat (vgl. §§ 920 Abs. 2 und 294 ZPO).3

3.1264

b) Anordnungsanspruch Im Falle der Sicherungsanordnung ist Anordnungsanspruch ein subjektiv-öffentliches Recht des Antragstellers, dessen Verwirklichung durch die Veränderung des bestehenden Zustandes vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Es handelt sich also um den Anspruch, der in der Hauptsache bei einer allgemeinen Leistungsklage oder einer Unterlassungsklage Gegenstand des Klagebegehrens ist oder sein soll.4

3.1265

Im Falle der Regelungsanordnung ist Anordnungsanspruch der Anspruch des Antragstellers auf Vornahme einer bestimmten Handlung oder Herstellung eines bestimmten Zustandes. Der Anspruch muss aus dem zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner bestehenden streitigen Rechtsverhältnis, das bis zur Entscheidung des Streits im Hauptsacheverfahren vorläufig geregelt werden soll, herzuleiten sein.5 Er muss sich aus dem zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsverhältnis ergeben.

3.1266

Eine einstweilige Anordnung kommt in Betracht, wenn beispielsweise

3.1267

– Vollstreckungsmaßnahmen z. B. durch eine vorläufige Einstellung der Vollstreckung nach § 258 AO abgewendet werden sollen, weil etwa der Steuerpflichtige Stundung des Steueranspruchs beantragt hat.6

1 2 3 4

Vgl. dazu Stapperfend in Gräber, § 114 FGO Rz. 25. Vgl. dazu Stapperfend in Gräber, § 114 FGO Rz. 32; Tormöhlen, AO-StB 2013, 381. BFH v. 17.8.2012 – III B 26/12, BFH/NV 2012, 1963. BFH v. 14.7.1971 – II B 2/71, BStBl. II 1971, 633; Loose in Tipke/Kruse, § 114 FGO Rz. 15; Stapperfend in Gräber, § 114 FGO Rz. 32. 5 Loose in Tipke/Kruse, § 114 FGO Rz. 23; Stapperfend in Gräber, § 114 FGO Rz. 44. 6 Vgl. dazu BFH v. 12.2.1991 – VII B 170/90, BFH/NV 1992, 42.

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Kap. 3 Rz. 3.1268

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

– ein sich aus § 30a Abs. 3 FGO ergebender Anspruch auf Unterlassung besteht, bei einer rechtswidrigen Rasterfahndung unzulässiger Weise gefertigte Aufzeichnungen aus Geschäftsunterlagen zu verwerten bzw. weiterzuleiten.1 – eine vorläufige Anerkennung der Gemeinnützigkeit begehrt wird, weil Spendenbescheinigungen ausgestellt werden sollen,2 – der Steuerpflichtige unter Berufung auf § 30 AO verhindern will, dass unbefugt Auskünfte an andere Personen erteilt werden,3 – wenn der Steuerpflichtige vorläufigen Rechtsschutz gegen einen Insolvenzantrag des Finanzamts erstrebt.4

3.1268 Der Antragsteller muss den geltend gemachten Anspruch (sog. Anordnungsanspruch) in der Praxis schlüssig darlegen und dessen tatsächliche Voraussetzungen glaubhaft machen.5 Zur Glaubhaftmachung kann sich der Antragsteller aller Beweismittel bedienen. Außer den üblichen Beweismitteln ist hier jedoch auch eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers oder eines Dritten zulässig. Die Glaubhaftmachung ist nicht an bestimmte Formen gebunden – so ist z. B. auch eine schriftliche Zeugenbekundung möglich -; sie muss aber spätestens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag vorliegen. c) Anordnungsgrund

3.1269 Bei der Sicherungsanordnung ist Anordnungsgrund die Gefährdung des Anordnungsanspruchs, die darin besteht, dass die Verwirklichung dieses Anspruchs durch Veränderung des bestehenden Zustandes vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (vgl. § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Antragsteller muss substantiiert darlegen, dass eine ihm unmittelbar zukommende Rechtsposition durch das Verhalten der Finanzverwaltung gefährdet erscheint und hierzu Tatsachen vortragen, aus denen sich – bei Unterstellung ihrer Richtigkeit – die Rechtsverletzung bzw. Rechtsgefährdung ergibt.6

3.1270 Bei der Regelungsanordnung muss die einstweilige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen objektiv notwendig erscheinen. Ein solcher Anordnungsgrund liegt nur vor, wenn ohne eine vorläufige Regelung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Antragstellers bedroht wäre.7 Geringe Beeinträchtigungen bei Fortbestehen des bisherigen Zustandes reichen grundsätzlich nicht aus.8 Notwendig ist eine Regelung nur dann, wenn sie bei Abwägung der Belange der Öffentlichkeit und der privaten Interessen des Antragstellers unumgänglich ist, um letzteren gegen wesentliche Nachteile zu schützen. Die für eine einstweilige Anordnung sprechenden Gründe müssen so schwerwiegend sein, dass sie eine einstweilige Anordnung unabweisbar machen.9 1 BFH v. 25.7.2000 – VII B 28/99, BStBl. II 2000, 643; vgl. auch BFH v. 29.10.1997 – VII B 40/97, BFH/NV 1998. 424 zur Unterlassung der Verwertung von Aufzeichnungen. 2 BFH v. 24.5.2016 – V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253. 3 BFH v. 16.10.1986 – V B 3/86, BStBl. II 1987, 30. 4 BFH v. 27.1.2016 – VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586. 5 BFH v. 25.7.2000 – VII B 28/99, BStBl. II 2000, 643. 6 BFH v. 25.7.2000 – VII B 28/99, BStBl. II 2000, 643. 7 BFH v. 27.1.2016 – VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586. 8 BFH v. 23.9.1998 – I B 82/98, BStBl. II 2000, 320. 9 BFH v. 12.4.1984 – VIII B 115/82, BStBl. II 1984, 492.

382

Schaumburg

K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1275 Kap. 3

Folgende in der Praxis immer wieder vorgetragenen Umstände reichen, für sich allein gesehen, als Anordnungsgründe nicht aus:

3.1271

– die Bezahlung von Steuern, auch wenn sie möglicherweise nach einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren zu erstatten wären, – eine zur Bezahlung von Steuern notwendige Kreditaufnahme, – eine zur Bezahlung von Steuern erforderliche Veräußerung von Vermögenswerten, – ein Zurückstellen betrieblicher Investitionen, um Steuern bezahlen zu können, – eine Einschränkung des gewohnten Lebensstandards, um die Steuer begleichen zu können, – etwaige steuerliche Nachteile im Hinblick auf beabsichtigte geschäftliche Dispositionen.1 Der Antragsteller muss den Anordnungsgrund schlüssig darlegen und dessen tatsächlichen Voraussetzungen glaubhaft machen. Da ein Anordnungsgrund in der Regel nur gegeben ist, wenn die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Betroffenen durch die Ablehnung der beantragten Maßnahme unmittelbar und ausschließlich bedroht ist,2 muss der Antragsteller seine gesamten persönlichen Verhältnisse (Einkommen, Vermögen, Verbindlichkeiten) darlegen und glaubhaft machen.

3.1272

Ein Anordnungsgrund liegt nicht vor, wenn der Antragsteller sein Begehren in einem anderen Verfahren geltend machen kann. Deshalb kann z. B. eine einstweilige Anordnung nicht gegen die Verwertung von Auskünften im Rahmen einer Betriebsprüfung erlassen werden. Hier kann sich der Antragsteller gegen den auf den Prüfungsfeststellungen beruhenden Änderungsbescheid mit dem Einspruch wenden und vorläufigen Rechtsschutz durch die Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheides begehren.3

3.1273

3. Verfahren Nach § 114 Abs. 2 Satz 2 FGO ist zuständig für den Erlass einstweiliger Anordnungen das Gericht der Hauptsache. Dies ist das Gericht des ersten Rechtszuges, also das Finanzgericht. Der BFH darf über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entscheiden; er ist instanziell nicht zuständig, auch wenn bereits ein Revisionsverfahren anhängig ist. Denn gem. § 114 Abs. 2 Satz 2 FGO ist stets das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig.4 In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden; gegen dessen Entscheidung kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe das Gericht (der Senat) angerufen werden. Der Vorsitzende darf allerdings nur dann entscheiden, wenn der vorgetragene Sachverhalt den sofortigen Erlass einer einstweiligen Regelung erfordert und deswegen die Zeit bis zum Zusammentreten des Senats zur Vermeidung irreparabler Rechtsverluste nicht mehr abgewartet werden kann.5

3.1274

Das Gericht prüft nur summarisch, ob ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gegeben sind. Das heißt. Es findet keine abschließende, umfassende und endgültige Prüfung

3.1275

1 2 3 4 5

Vgl. BFH v. 15.4.1988 – I B 21/88, BStBl. II 1988, 585. BFH v. 27.1.2016 – VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586. BFH v. 30.9.1986 – VIII B 62/84, BFH/NV 1987, 23. BFH v. 4.6.2012 – III S 1/12, BFH/NV 2012, 1475; v. 6.5.1999 – VII S 3/99, BFH/NV 1999, 1368. BFH v. 14.4.2000 – V B 39/00, BFH/NV 2000, 1230.

Schaumburg

383

Kap. 3 Rz. 3.1276

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

statt. Dabei werden im Hinblick auf den Eilcharakter des Verfahrens nur präsente Beweismittel wie beispielsweise vorgelegte Urkunden oder Schriftstücke berücksichtigt.

3.1276 Gem. § 114 Abs. 4 FGO entscheidet das Gericht über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausschließlich durch Beschluss. Es ist aber zulässig, über den Antrag auch mündlich zu verhandeln oder einen Erörterungstermin vor dem Berichterstatter oder Vorsitzenden durchzuführen.1 4. Inhalt der einstweiligen Anordnung

3.1277 Gem. § 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 938 ZPO bestimmt das Gericht den Inhalt einer einstweiligen Anordnung nach seinem freien Ermessen. Dabei muss sich die einstweilige Anordnung allerdings im Rahmen des gestellten Antrags halten und zur Erreichung des Zwecks erforderlich sein.

3.1278 Mit einer einstweiligen Anordnung kann nur eine einstweilige Regelung erreicht werden. Das heißt: Das Ergebnis des Hauptprozesses darf nicht vorweggenommen oder dem Hauptprozess endgültig vorgegriffen werden. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist deshalb dann ausgeschlossen, wenn durch diese Anordnung endgültige und irreparable Zustände geschaffen werden.2

3.1279 Dies ist dann nicht der Fall, wenn dem Antragsteller die beantragte Rechtsposition vorläufig eingeräumt wird, sofern diese Rechtsposition bei Verlust des Hauptprozesses wieder rückgängig gemacht werden kann. Beispiel: Das Finanzamt darf z. B. verpflichtet werden, eine Bescheinigung über die vorläufige Anerkennung des Antragstellers als eine gemeinnützigen Zwecken dienende Körperschaft zu erteilen, sofern der Antragsteller zur Erfüllung seiner satzungsmäßigen und ihrer Art nach gemeinnützigen Zwecke auf den Erhalt steuerbegünstigter Spenden angewiesen und seine wirtschaftliche Existenz ohne eine derartige Regelungsanordnung bedroht ist.3

3.1280 Ausnahmsweise darf auch im Wege einer einstweiligen Anordnung dem Ergebnis des Hauptverfahrens vorgegriffen werden, wenn die Anordnung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) unumgänglich wäre, d. h. anders ein wirksamer Rechtsschutz nicht erreichbar wäre und die Ablehnung der Maßnahme für den Antragsteller zu unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.4 Ein solcher Ausnahmefall ist z. B. anzunehmen, wenn die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Antragstellers unmittelbar bedroht ist.5

3.1281 Ist die Hauptsache bei Gericht nicht anhängig, so hat das Finanzgericht auf Antrag ohne mündliche Verhandlung anzuordnen, dass der Antragsteller, der die einstweilige Anordnung erwirkt hat, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben hat (§ 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 926 Abs. 1 ZPO). Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, so ist die einstwei1 Tormöhlen, AO-StB 2013, 381. 2 BFH v. 27.1.2016 – VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586; v. 21.2.1984 – VII B 78/83, BStBl. II 1984, 449. 3 BFH v. 23.9.1998 – I B 82/98, BStBl. II 2000, 320. 4 BFH v. 27.1.2016 – VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586 unter Berufung auf BVerfG v. 19.10.1977 – 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166 und v. 25.10.1988 – 2 BvR 745/88, BVerfGE 79, 69. 5 BFH v. 21.1.1999 – VII B 214/98, BStBl. II 1999, 141.

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Schaumburg

K. Vorläufiger Rechtsschutz

Rz. 3.1286 Kap. 3

lige Anordnung auf Antrag nach mündlicher Verhandlung aufzuheben (§ 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 926 Abs. 2 ZPO). Die Aufhebung erfolgt gem. § 114 Abs. 4 FGO durch Beschluss. 5. Rechtsbehelf Gem. § 128 Abs. 3 FGO steht den Beteiligten die Beschwerde gegen eine Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur dann zu, wenn das Finanzgericht sie in seinem Beschluss ausdrücklich zugelassen hat. Die Zulassung kann nur aus den Gründen erfolgen, die auch zur Zulassung einer Revision führen. Dies ergibt sich aus dem Hinweis auf § 115 Abs. 2 FGO.

3.1282

Ist die Beschwerde vom Finanzgericht nicht zugelassen worden, so ist diese nicht statthaft. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist im Gesetz nicht vorgesehen. Eine Zulassung der Beschwerde durch den BFH findet in einem solchen Fall demzufolge nicht statt.1

3.1283

Die Zulassung der Beschwerde muss nicht ausdrücklich in die Beschlussformel aufgenommen werden, auch wenn dies aus Gründen der Rechtsklarheit sinnvoll erscheint. Es genügt vielmehr, wenn die Zulassung etwa durch Hinweis auf den Zulassungsgrund oder die gesetzliche Bestimmung erkennbar aus den Gründen hervorgeht. Es reicht allerdings nicht aus, wenn lediglich die Rechtsmittelbelehrung allgemein von der Zulässigkeit der Beschwerde gegen den Beschluss ausgeht und nicht zu erkennen ist, ob das Gericht im konkreten Fall die Beschwerde zulassen wollte.2

3.1284

6. Sonderfälle a) Gesonderte Feststellung von Verlusten Stellt das Finanzamt einen niedrigeren Verlust, als in der Feststellungserklärung beantragt ist, fest (Verlustfeststellungsbescheid), so ist hiergegen in der Hauptsache die Anfechtungsklage gegeben. Daraus folgt: Vorläufiger Rechtsschutz kann nur in Form der Aussetzung der Vollziehung in Betracht kommen, nicht aber in Form der einstweiligen Anordnung nach § 114 FGO. Ein solcher Antrag wäre nach § 114 Abs. 5 FGO unzulässig.3

3.1285

b) Negative Feststellungsbescheide Vorläufiger Rechtsschutz gegenüber einem negativen Gewinnfeststellungsbescheid wird im Wege der Aussetzung der Vollziehung gewährt. In der Entscheidungsformel ist in einem solchen Falle auszusprechen, die Vollziehung des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe ausgesetzt, dass vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptverfahren von einem Verlust von … Euro auszugehen ist, der sich auf die Beteiligten wie folgt verteilt: (Angabe der jeweiligen Daten).4

1 St. Rspr., vgl. BFH v. 19.12.2000 – VII B 301/00, BFH/NV 2001, 425. 2 BFH v. 18.9.1997 – VII B 161/97, BFH/NV 1998, 484. 3 Vgl. BFH v. 10.7.1979 – VIII B 84/78, BStBl. II 1979, 567; zu den Einzelheiten vgl. oben Rz. 3.1233 f. 4 BFH v. 14.4.1987 – GrS 2/85, BStBl. II 1987, 637; wegen Einzelheiten vgl. Rz. 3.1235 f.

Schaumburg

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3.1286

Kap. 3 Rz. 3.1287

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

c) Negative Umsatzsteuerfestsetzung (Erstattung)

3.1287 Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ablehnung des Finanzamts, eine negative Umsatzsteuer (Umsatzsteuererstattung) festzusetzen, kann nur durch eine einstweilige Anordnung, nicht durch Aussetzung der Vollziehung gewährt werden. Der Anwendungsbereich der Aussetzung der Vollziehung ist auf Fallgestaltungen begrenzt, in denen in dem angefochtenen Steuerbescheid eine Umsatzsteuerschuld festgestellt worden ist und dem Steuerschuldner insoweit die Vollziehung droht.1

3.1288–3.1289

Einstweilen frei.

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren Literatur: Bartone, Rechtsschutz gegen Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Finanzprozess, AO-StB 2011, 213; Bley, Verfahrensmängel im Sozialprozeß, Baden Baden 1988; Brandt, Begründungsmängel finanzgerichtlicher Urteile, AO-StB 2001, 270; Gräber, Der Verfahrensmangel im finanzgerichtlichen Revisionsverfahren, DStR 1968, 238; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl. 2010; List, Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs, DStR 2002, 1381; Rüsken/Bleschick, Revisionszulassung und Revision – eine Handreichung zu deren Begründung, DStR Beihefter 2015 zu Nr 35, 45; Sangmeister, Die Rüge wesentlicher Mängel des Verfahrens (§ 116 Abs. 1 FGO), DStZ 1991, 358; Harald Schaumburg, Reform des finanzgerichtlichen Revisionsrechts, StuW 1999, 68; Seer, Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193.

I. Überblick 3.1290 Zwar ist ein finanzgerichtliches Urteil bereits dann aufzuheben, wenn die Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruht; trotzdem werden entsprechende Verfahrensmängel von den Prozessbevollmächtigten sehr häufig übersehen. Der Verletzung von Verfahrensfehlern kommt in der Praxis des Steuerrechtsschutzes gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Der BFH veröffentlicht jährlich eine große Anzahl von Entscheidungen, in denen ein erstinstanzliches Urteil wegen der Verletzung verfahrensrechtlicher Bestimmungen aufgehoben und die Sache mit Rücksicht auf diese Verletzung an das Finanzgericht zurückverwiesen wird. So sind alleine in den letzten zehn Jahren knapp 400 BFH-Entscheidungen veröffentlicht worden, in denen ein Verfahrensfehler zur Zurückverweisung geführt hat.2

3.1291 Verfahrensfehlern kommt sowohl im Rahmen von Revisionsverfahren als auch im Rahmen von Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren eine große Bedeutung zu. Wurde die Revision zugelassen, kann sie darauf gestützt werden, dass das angefochtene erstinstanzliche Urteil verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist (§ 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO, vgl. hierzu Rz. 4.59 ff.). Aber auch, wenn die Revision nicht zugelassen wurde, kann die Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, vgl. Rz. 4.147 ff.).

1 BFH v. 30.7.1986 – V B 31/86, BFH/NV 1987, 42; vgl. Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 109 Stichwort „Umsatzsteuerbescheide“. 2 Die nachfolgende Darstellung basiert auf einer vom Verfasser angelegten Entscheidungssammlung, in die ausschließlich Entscheidungen des BFH, des BVerwG sowie des BVerfG aufgenommen wurden, in denen das erstinstanzliche Urteil mit Rücksicht auf einen Verfahrensfehler aufgehoben wurde.

386

Hendricks

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1294 Kap. 3

Verfahrensfehler in diesem Sinne sind Verstöße gegen die das finanzgerichtliche Verfahren betreffenden Vorschriften, also Verstöße gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts.1 Hierzu zählen z. B. Verstöße gegen Bestimmungen der FGO und des GVG, aber auch der ZPO, soweit die FGO auf diese Bestimmungen verweist. Fehler im behördlichen Verwaltungsverfahren bzw. außergerichtlichen Vorverfahren sind hingegen nicht als Verstöße gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts zu qualifizieren und begründen daher keinen Verfahrensmangel i. S. v. § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO bzw. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.2

3.1292

Im Grundsatz berücksichtigt der BFH einen Verfahrensfehler nur auf eine entsprechende Rüge hin. Der Verfahrensfehler ist in der Regel nur dann beachtlich, wenn er im Revisionsbegründungsschriftsatz bzw. im Schriftsatz zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde sauber dargelegt wurde (vgl. Rz. 4.59 ff. bzw. Rz. 4.176 ff.). Lediglich wenn es sich um einen Verfahrensmangel handelt, der als Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens zu qualifizieren ist, wird der Verfahrensfehler von Amts wegen – d. h. auch ohne entsprechende Rüge – berücksichtigt. Ein solcher Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens liegt beispielsweise vor, wenn im Prozess eine notwendige Beiladung unterblieben ist,3 das Finanzgericht eine nach § 74 FGO gebotene Aussetzung des Verfahrens unterlassen hat4 oder das Finanzgericht unter Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO die Bindung an das Klagebegehren missachtet hat.5 Gleiches gilt, wenn das Finanzgericht einen Verwaltungsakt zum Gegenstand seiner Entscheidung macht, obwohl ein späterer Bescheid nach § 68 FGO zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist6 oder wenn das Finanzgericht fehlerhaft durch Teilurteil entschieden hat.7 Der BFH nimmt einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens auch an, wenn der Tenor eines Urteils unklar (d. h. unbestimmt) ist und auch unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe inhaltlich nicht bestimmt werden kann.8 In einzelnen Fällen hat der BFH einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens bereits darin gesehen, dass das Finanzgericht Akten entgegen der richterlichen Sachaufklärungspflicht nicht beigezogen hatte.9

3.1293

In diesem Abschnitt werden Verfahrensfehler systematisiert und erläutert, die der BFH in den letzten Jahren zum Anlass genommen hat, erstinstanzliche Urteile aufzuheben und die Sache an das Finanzgericht zurückzuverweisen.10 Dabei orientiert sich die Darstellung am Ablauf eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens. Ziel der Darstellung ist es, dem Leser einen Eindruck von der verfahrensmangelbezogenen Rechtsprechung zu vermitteln. Kommt im konkreten Praxisfall die Bejahung eines Verfahrensmangels in Betracht, kann anhand der zitierten BFHRechtsprechung nachvollzogen werden, unter welchen Voraussetzungen der BFH einen entsprechenden Verfahrensmangel bejaht. Nachfolgend werden ausschließlich Entscheidungen zitiert, in denen der BFH (in eigenen Fällen das BVerwG bzw. das BVerfG) den jeweiligen

3.1294

1 BFH v. 11.8.2010 – VI B 143/09, BFH/NV 2010, 2230. 2 Vgl. nur BFH v. 9.12.2003 – III B 135/03, BFH/NV 2004, 339; v. 29.11.2001 – IV B 67/01, BFH/ NV 2002, 525. 3 Exemplarisch BFH v. 21.2.2017 – VIII R 24/16, BFH/NV 2017, 899. 4 So z. B. BFH v. 2.3.2017 – II B 33/16, BStBl. II 2017, 646. 5 BFH v. 19.5.2011 – III R 61/09, BFH/NV 2011, 1526. 6 BFH v. 9.12.2014 – I B 43/14, BFH/NV 2015, 345. 7 BFH v. 25.2.2010 – IV R 24/07, BFH/NV 2010, 1491. 8 BFH v. 19.2.1991 – VIII R 8/86, BFH/NV 1992, 175; v. 26.2.2014 – I R 47/13, BFH/NV 2014, 1395. 9 Vgl. nur BFH v. 25.10.2012 – X B 22/12, BFH/NV 2013, 226. 10 In einzelnen Fällen werden auch Urteile des BVerfG in Steuersachen berücksichtigt.

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Kap. 3 Rz. 3.1295

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Verfahrensmangel bejaht hat. Auf die Bezugnahme von Entscheidungen, in denen der jeweilige Verfahrensmangel zwar erörtert, im Ergebnis aber verneint wird, wird bewusst verzichtet.

3.1295 Die Darstellung kann in der Praxis als eine Art von Checkliste verwendet werden, mit deren Hilfe überprüft werden kann, welche Fragen bei der Untersuchung von Verfahrensmängeln insbesondere zu prüfen sind. Zu beachten ist allerdings, dass der BFH die Voraussetzungen bestimmter Verfahrensmängel häufig kasuistisch definiert. Eine Grenzziehung, unter welchen Voraussetzungen ein bestimmter Verfahrensfehler zu bejahen ist, ist nicht immer trennscharf möglich. Auch ist die dogmatische Einordnung des Verfahrensmangels im Einzelfall schwierig. Einzelne Fehler können häufig sowohl der einen wie der anderen Art von Verfahrensfehlern zugeordnet werden (dies gilt insbesondere für die fließende Grenze zwischen Sachaufklärungsmängeln und Mängeln bei der Überzeugungsbildung).

II. Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter 1. Allgemeines

3.1296 Gleich zu Beginn des Klageverfahrens stellt sich die Frage, welcher Spruchkörper des zuständigen Gerichts über den Rechtsstreit zu entscheiden hat und in welcher Besetzung zu entscheiden ist. Dabei kommt dem in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geregelten Anspruch auf den gesetzlichen Richter besondere Bedeutung zu. Hiernach darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter betrifft zunächst das Gericht als organisatorische Einheit, darüber hinaus den jeweiligen Spruchkörper und schließlich auch die für den Spruchkörper an der Entscheidung mitwirkenden Richter.1 Welcher Richter des sachlich, örtlich und funktionell zuständigen Gerichts der „gesetzliche Richter“ im Sinne der Verfassung ist, ist durch einen Geschäftsverteilungsplan generell-abstrakt im Voraus, aber zugleich hinreichend bestimmt zu regeln, so dass Manipulationen und damit verbunden sachfremde Einflüsse auf die Rechtsprechung ausgeschlossen sind.2 Es soll verhindert werden, dass durch die gezielte Auswahl von Richtern das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst wird.3 2. Unzuständiges Gericht

3.1297 In der Praxis kommt es äußert selten vor, dass die Klage bei einem unzuständigen Gericht erhoben wurde und das angerufene Gericht gleichwohl in der Sache entscheidet. Fällt etwa das angerufene Finanzgericht ein Urteil, obwohl der Finanzrechtsweg nicht eröffnet war, leidet das Urteil an einem Verfahrensmangel und ist aufzuheben.4 3. Unzuständiger Spruchkörper

3.1298 Deutlich häufiger kommt es in der Praxis vor, dass das erstinstanzliche Urteil durch einen unzuständigen Spruchkörper gesprochen wird. Welcher Spruchkörper entscheidungszuständig ist, bestimmt das Präsidium des jeweiligen Gerichts im Voraus im Rahmen eines Geschäftsverteilungsplans (§ 21e GVG). Dieser Geschäftsverteilungsplan ist maßgebend für die

1 2 3 4

Vgl. nur Maunz in Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rz. 11. BFH v. 12.3.2014 – X B 126/13, BFH/NV 2014, 1060. Ratschow in Gräber, § 119 FGO Rz. 6 m. w. N. Exemplarisch BFH v. 18.8.1983 – V R 23/78, UR 1983, 210.

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1302 Kap. 3

Ordnungsmäßigkeit der Besetzung des Spruchkörpers; er regelt konstitutiv auch die Zuständigkeit des Spruchkörpers für bereits anhängige Rechtssachen.1 Ein Geschäftsverteilungsplan entfaltet seine Bindungswirkung lediglich für die Dauer eines Geschäftsjahres (Jährlichkeitsprinzip) und tritt an dessen Ende ohne weiteres Zutun außer Kraft. Zwar ist es zulässig, durch den jährlichen Geschäftsverteilungsplan bereits anhängige Sachen einem anderen Spruchkörper zuzuweisen als dem, bei dem sie im Zeitpunkt ihres Eingangs anhängig geworden sind. Der jeweilige Geschäftsverteilungsplan muss die Aufgaben nach allgemeinen, abstrakten und objektiven Merkmalen (d. h. nicht speziell, sondern generell) verteilen. Dies schließt zwar nicht aus, bereits anhängige, neu zu verteilende Sachen – soweit notwendig – in gewissem Umfang zu konkretisieren. Werden jedoch im Rahmen des neuen oder geänderten Geschäftsverteilungsplans ausgesuchte Sachen einem anderen Spruchkörper zugewiesen, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt und eine Besetzungsrüge (d. h. eine Rüge der Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter) hat Erfolg.2

3.1299

Eine Besetzungsrüge kann auch darauf gestützt werden, dass das Urteil durch einen Senat gesprochen wurde, der nach den Bestimmungen des Geschäftsverteilungsplans eigentlich nicht zuständig war. Eine solche Rüge hat Erfolg, wenn der Senat gemessen an den Bestimmungen des Geschäftsverteilungsplans unter keinem denkbaren Gesichtspunkt für die Entscheidung über den Rechtsstreit zuständig war.3

3.1300

4. Fehlerhafte Besetzung des Spruchkörpers Auch innerhalb eines Senats muss die konkrete Besetzung des Spruchkörpers im Voraus feststehen. Innerhalb des mit mehreren Richtern besetzten Spruchkörpers werden die Geschäfte durch Beschluss aller dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter auf die Mitglieder verteilt (§ 21g Abs. 1 GVG). Der aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitete Grundsatz, dass die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter ihrer Person nach auf Grund allgemeiner Regeln im Voraus so eindeutig wie möglich feststehen müssen, gilt auch für die ehrenamtlichen Richter.4 Fehlte es an einer entsprechenden Regelung, ist das Urteil wegen der fehlerhaften Besetzung des Spruchkörpers aufzuheben.5

3.1301

Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht überdies nur dann, wenn jeder der an der Verhandlung und Entscheidung beteiligten Richter in der Lage war, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen.6 Nur wenn jeder Richter die wesentlichen Vorgänge in sich aufgenommen hat, ist er in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Diese Möglichkeit ist nicht gegeben, wenn ein Richter einem Teil der mündlichen Verhandlung nicht beiwohnt und deshalb wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrnehmen kann. Das Gericht ist in einem solchen Fall nicht mehr i. S. von § 119 Nr. 1 FGO vorschriftsmäßig besetzt,7 z. B. wie einer ehrenamtlichen Richter ausweislich des Sitzungs-

3.1302

1 BFH v. 23.11.2011 – IV B 30/10, BFH/NV 2012, 431; v. 11.7.2006 – IX B 179/05, BFH/NV 2006, 1873. 2 BFH v. 23.11.2011 – IV B 30/10, BFH/NV 2012, 431; v. 11.7.2006 – IX B 179/05, BFH/NV 2006, 1873. 3 BFH v. 1.10.1992 – V R 18/92, BFH/NV 1993, 544. 4 BFH v. 23.8.1966 – I 94/65, BStBl. III 1966, 655. 5 BFH v. 23.8.1966 – I 94/65, BStBl. III 1966, 655. 6 BFH v. 30.1.2004 – II B 111/02, BFH/NV 2004, 661. 7 BFH v. 30.1.2004 – II B 111/02, BFH/NV 2004, 661.

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Kap. 3 Rz. 3.1303

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

protokolls erst ca. 10 Minuten nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen ist und deshalb dem nach § 92 Abs. 2 FGO erforderlichen Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten nicht oder nur teilweise beigewohnt hat.1

3.1303 Ein Gericht ist auch dann nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn ein (ehrenamtlicher) Richter während der mündlichen Verhandlung schläft und deshalb wesentlichen Vorgängen nicht folgt. Alle mitwirkenden Richter müssen sich ihr Urteil in der Streitsache auf Grund der mündlichen Verhandlung bilden (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Ist ein Richter infolge von Übermüdung oder aus anderen Gründen nicht in der Lage, wesentliche Vorgänge in der mündlichen Verhandlung in sich aufzunehmen und geistig zu verarbeiten, so ist das Urteil, das unter seiner Mitwirkung ergangen ist, so schwer fehlerhaft, dass es auf entsprechende Rüge aufzuheben ist.2 5. Unzulässige Entscheidung durch den Einzelrichter

3.1304 Nach § 6 FGO kann der Senat den Rechtsstreit unter bestimmten Voraussetzungen einem seiner Mitglieder als Einzelrichter übertragen. Welches Senatsmitglied den jeweiligen Streitfall als Einzelrichter übernimmt, steht nicht Ermessen im des Senats; mit Rücksicht auf den Anspruch auf den gesetzlichen Richter muss der jeweilige Einzelrichter auf Grund einer abstraktgenerellen Regelung im Geschäftsverteilungsplan im Vorhinein bestimmbar festgelegt sein. Ist dies nicht der Fall, liegt ein Verfahrensmangel vor.3

3.1305 Ein rügefähiger Verfahrensmangel kann sich aber auch daraus ergeben, dass der Rechtsstreit auf einen Einzelrichter übertragen wurde, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorlagen. Die Entscheidung kann frühestens getroffen werden, nachdem dem Gericht die Klagebegründung, die Klageerwiderung und die Steuerakten vorliegen. Erfolgt die Übertragung bereits vor Eingang der Klagebegründung, leidet das Urteil an einem Besetzungsmangel und ist aufzuheben.4

3.1306 Aber auch wenn der Rechtsstreit durch einen einzelnen Richter entschieden wird, ohne dass überhaupt ein Übertragungsbeschluss nach § 6 FGO gefasst worden ist, liegt ein rügefähiger Besetzungsmangel vor.5 6. Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder abgelehnten Richters

3.1307 Der verfassungsrechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter wird auch dann verletzt, wenn an dem Urteil ein Richter mitwirkt, der wegen Befangenheit oder aus einem anderen gesetzlich geregelten Grund von der Mitwirkung als Richter ausgeschlossen war. Denn nur ein unparteiischer und auch nicht parteilich erscheinender Richter ist der gesetzliche Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.6 Nach § 119 Nr. 2 FGO ist ein solches Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen. 1 BFH v. 30.1.2004 – II B 111/02, BFH/NV 2004, 661. 2 Bejaht z. B. durch BVerwG v. 19.7.2007 – 5 B 84/06, HFR 2008, 1291; kritisch zu den hohen Anforderungen der Rechtsprechung an die Darlegung dieses Verfahrensmangels: Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 33, sowie Lange in HHSp, § 119 FGO Rz. 102 ff. 3 BFH v. 23.11.2011 – IV B 7/10, BFH/NV 2012, 429. 4 BFH v. 21.7.2016 – V B 66/15, BFH/NV 2016, 1575. 5 BFH v. 30.1.2009 – IV B 39/08, juris. 6 BVerfG v. 8.2.1967 – 2 BvR 235/64, BVerfGE 21, 139; BFH v. 5.11.1974 – VII R 69/72, BStBl. II 1975, 153.

390

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1312 Kap. 3

Für die Ausschließung und Ablehnung von Richtern gelten im Finanzgerichtsprozess die §§ 41 bis 49 ZPO sinngemäß (§ 51 Abs. 1 Satz 1 FGO). Von der Ausübung des Amtes als Richter oder als ehrenamtlicher Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat (§ 51 Abs. 2 FGO). Hatte einer der am Urteil mitwirkenden Richter zu einer Zeit, in der der betroffenen Rechtsstreit noch als Vorverfahren anhängig war, für eine gewisse Zeit die Rechtsbehelfsstelle des beklagten Finanzamts geleitet und war in dieser Funktion in das Vorverfahren involviert, war er im Klageverfahren von der Ausübung des Amtes als Richter gem. § 51 Abs. 2 FGO ausgeschlossen; wirkte er trotzdem an der Entscheidungsfindung mit, ist das betreffende Urteil wegen dieses Verfahrensmangels aufzuheben.1 Dies gilt selbst dann, wenn der Richter lediglich beratend und nicht als Entscheidungsträger mit dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren beschäftigt war.2

3.1308

Entsprechendes gilt, wenn an dem Urteil ein Richter mitwirkt, der auf einen entsprechenden Antrag hin wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt worden ist.3 Wurde der Richter von seinen Kollegen im Rahmen einer Entscheidung nach § 45 ZPO als befangen qualifiziert, ist ihm eine weitere Mitwirkung im Verfahren untersagt.4

3.1309

Aber auch wenn ein Befangenheitsantrag gestellt wurde, über den das zuständige Gericht noch nicht entschieden hat, darf der „abgelehnte Richter“ bis zur Entscheidung über den Befangenheitsantrag nicht an der Urteilsfindung mitwirken (vgl. nur § 119 Nr. 2 FGO). Wirkt der abgelehnte Richter vor der Entscheidung über den Befangenheitsantrag mit, leidet das Urteil an einem rügefähigen Verfahrensmangel.5 Entsprechendes gilt, wenn das Gericht zwar abschlägig über das Ablehnungsgesuch entschieden hat, dieser Beschluss den Antragsteller aber nicht mehr vor Erlass des Urteils erreicht hat.6

3.1310

III. Beteiligungsmängel (Verletzung der Pflicht zur notwendigen Beiladung) Sind an dem im Klageverfahren streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann, so sind sie gem. § 60 Abs. 3 FGO notwendig beizuladen (notwendige Beiladung). Wird diese Pflicht verletzt, handelt es sich um einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, mit der Folge, dass der BFH diesen Fehler auch ohne entsprechende Rüge – von Amts wegen – berücksichtigt.7 Der BFH kann den Fehler im Revisionsverfahren durch Nachholung der Beiladung heilen (§ 123 Abs. 1 Satz 2 FGO).8 Dies scheidet aber beispielsweise aus, wenn das Finanzgericht die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen hat und daher keine Feststellungen in der Sache getroffen wurden.9

3.1311

Hauptanwendungsfall der notwendigen Beiladung sind Konstellationen, in denen sich eine Klage gegen die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen wendet. Soweit die Klage Feststellungen betrifft, die auch im Verhältnis zu nicht klagenden

3.1312

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 5.5.2011 – X B 191/10, BFH/NV 2011, 1385. BFH v. 5.5.2011 – X B 191/10, BFH/NV 2011, 1385. BFH v. 11.11.1993 – XI R 75/92, BFH/NV 1994, 723. BFH v. 11.11.1993 – XI R 75/92, BFH/NV 1994, 723. BFH v. 5.11.1974 – VII R 69/72, BStBl. II 1975, 153. BFH v. 12.12.2005 – XI B 4/05, BFH/NV 2006, 1301. Vgl. nur BFH v. 21.2.2017 – VIII R 24/16, BFH/NV 2017, 899. Vgl. hierzu etwa BFH v. 9.2.2011 – IV R 37/08, BFH/NV 2011, 1120. BFH v. 29.4.2009 – X R 16/06, BStBl. II 2009, 732.

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391

Kap. 3 Rz. 3.1313

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Feststellungsbeteiligten „nur einheitlich“ ergehen kann, sind diese Feststellungsbeteiligten notwendig beizuladen.1

3.1313 Zu dem Verfahren eines aufgrund eigener Klagebefugnis klagenden Gesellschafters ist stets die Gesellschaft notwendig beizuladen, und zwar auch, wenn sie vom Ausgang des Verfahrens unter keinem denkbaren Gesichtspunkt betroffen sein kann.2

3.1314 Zur notwendigen Beiladung aktueller und ausgeschiedener Gesellschafter existiert umfangreiche Rechtsprechung, in denen der BFH sehr häufig das erstinstanzliche Urteil mit Rücksicht auf eine unterlassene Beiladung aufgehoben hat.3 Es gelten die nachfolgend dargestellten Grundsätze.

3.1315 Aktuelle (also im Beurteilungszeitpunkt nicht ausgeschiedene) Gesellschafter sind dann notwendig beizuladen, wenn sie wegen eigener persönlicher Betroffenheit gem. § 48 FGO klagebefugt sind, nämlich – bei Streit über die Beteiligung als Mitunternehmer oder über ihre Beteiligungsquote (§ 48 Abs. 1 Nr. 4 FGO);4 – bei Streit über Fragen, die sie persönlich angehen, z. B. wenn ihr Sonderbetriebsergebnis, der Ansatz in einer Ergänzungsbilanz oder die Tarifbegünstigung eines Veräußerungsgewinns streitig ist (§ 48 Abs. 1 Nr. 5 FGO).5

3.1316 Im Beurteilungszeitpunkt ausgeschiedene Gesellschafter sind zur Wahrung ihrer Rechte nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO uneingeschränkt klagebefugt und daher im Verfahren über die gesonderte und einheitliche Feststellung, z. B. des Gewinns, grundsätzlich notwendig beizuladen.6

3.1317 Außerhalb von Klagen gegen die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen ist das Finanzgericht nur selten zur Beiladung gezwungen. Gleichwohl hat der BFH bereits in verschiedenen Konstellationen erstinstanzliche Urteile mit Rücksicht auf eine unterlassene Beiladung aufgehoben; so etwa, wenn der Arbeitnehmer (zulässigerweise) gegen einen an seinen Arbeitgeber gerichteten Haftungsbescheid klagt. In diesen Fällen ist der Arbeitgeber notwendig zum Klageverfahren beizuladen.7

3.1318 Entsprechendes gilt für das von einem Ehegatten betriebene finanzgerichtliche Verfahren gegen einen Aufteilungsbescheid; zu diesem Klageverfahren ist der andere Ehegatte notwendig beizuladen, weil es sich bei dem Aufteilungsbescheid um einen einheitlichen Bescheid mit Wirkung gegenüber allen Gesamtschuldnern handelt.8

3.1319 Schließlich können Erben das einkommensteuerliche Wahlrecht nach § 26 EStG (Zusammenveranlagung) für den verstorbenen Ehegatten nur einheitlich ausüben. Sind sie über die Ausübung des Wahlrechts uneinig, so sind sie an dem Verfahren betreffend die Festsetzung der Einkommensteuer für den Verstorbenen derart beteiligt, dass die Entscheidung ihnen 1 2 3 4 5 6 7 8

Zu Einzelheiten Leipold in HHSp, § 60 FGO Rz. 60 m. w. N. So bereits BFH v. 15.11.1967 – IV R 281/66, BStBl. II 1968, 122. Vgl. die Nachweise bei Leipold in HHSp, § 60 FGO Rz. 60 m. w. N. So bereits BFH v. 28.11.1974 – I R 62/74, BStBl. II 1975, 209. Exemplarisch BFH v. 15.3.2000 – VIII R 8/99, BFH/NV 2000, 1214. Vgl. etwa BFH v. 17.10.1985 – IV R 34/84, BFH/NV 1987, 374. BFH v. 29.6.1973 – VI R 311/69, BStBl. II 1973, 780. BFH v. 8.10.2002 – III B 74/02, BFH/NV 2003, 195.

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1324 Kap. 3

gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Sie sind notwendig beizuladen. Unterlässt das Finanzgericht die Beiladung, leidet das Urteil an einem Verfahrensfehler.1 Ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens liegt aber auch dann vor, wenn das Finanzgericht zwar die Notwendigkeit der Beiladung erkennt, die Beiladung aber an die falsche Person richtet.2

3.1320

IV. Mängel in der Sachaufklärungsphase (Sachaufklärungsmängel) 1. Allgemeines Der in quantitativer Hinsicht wohl bedeutendste (d. h. am häufigsten bejahte) Mangel ist der Sachaufklärungsmangel. Er liegt vor, wenn das Gericht seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts nicht, nur unzureichend oder entgegen der Vorgaben ausdrücklicher Sachaufklärungsbestimmungen nachkommt (§§ 76 ff. FGO).

3.1321

Das Finanzgericht ist verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dabei ist das Gericht – anders als in Verfahren, in denen der Beibringungsgrundsatz gilt – gerade nicht darauf beschränkt, seine Überzeugung ausschließlich auf das Vorbringen der Prozessbeteiligten sowie der von dem Prozessbeteiligten in das Verfahren eingeführten Beweismittel zu stützen (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Vielmehr soll das Gericht – in ausdrücklicher Abweichung von zivilprozessualen Grundsätzen – auch solche Beweismittel erheben und verwerten, die gerade nicht von den Beteiligten angeboten worden sind.3 Im Rahmen der Amtsermittlung hat das Gericht den Sachverhalt daher unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich aufzuklären. Dies gilt insoweit, als Aufklärungsmaßnahmen durch den Inhalt der Akten, das Beteiligtenvorbringen oder sonstige Umstände veranlasst sind. Dabei steht die Art und Weise der Beweiserhebung und die Auswahl der Beweismittel grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.4

3.1322

Allerdings ist zu beachten, dass die Verletzung der Sachaufklärungspflicht nicht mit der Verletzung materiellen Rechts vermischt werden darf. Ein Verfahrensmangel liegt nur dann vor, wenn die Pflicht zur (weiteren) Sachaufklärung auf Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des Finanzgerichts zu bejahen ist. Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht ist also nur dann zu bejahen, wenn den nicht oder fehlerhaft ermittelten Umständen auf Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des Finanzgerichts entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt.5

3.1323

2. Pflichtwidriges Übergehen eines Beweisantrages Häufig ist ein Sachaufklärungsmangel darin zu sehen, dass das Gericht einen entscheidungserheblichen Beweisantrag übergeht. Zwar ist das Gericht - wie dargestellt - im Rahmen der Amtsermittlung nicht darauf beschränkt, seine Überzeugungsbildung auf das Vorbringen der Beteiligten und deren Beweise zu stützen (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO); das gilt aber nur in dem 1 2 3 4 5

BFH v. 8.10.1997 – XI R 20/97, BFH/NV 1998, 563. BFH v. 6.8.1996 – VII R 28/96, BFH/NV 1997, 186. So ausdrücklich BFH v. 16.12.2016 – X B 41/16, BFH/NV 2017, 310. BFH v. 12.1.2011 – VI B 97/10, BFH/NV 2011, 640. BFH v. 28.2.2012 – III B 54/10, BFH/NV 2012, 1151.

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3.1324

Kap. 3 Rz. 3.1325

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Sinne, dass das Gericht von Amts wegen auch Beweise erheben kann, die von den Prozessbeteiligten nicht angeboten worden sind. Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das Gericht – zumindest im Grundsatz – würdigen, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zutreffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist. Ferner ist das Finanzgericht nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen.1

3.1325 Nach diesen Grundsätzen kann das Übergehen eines Beweisantrags als Verfahrensmangel zu qualifizieren sein. Sehr häufig qualifiziert der BFH das Übergehen eines Antrags auf Vernehmung eines Zeugen als Verfahrensfehler.2 Aber auch das Übergehen eines Antrags auf Sachverständigenbeweis kann im Einzelfall einen Verfahrensfehler begründen.3 Dabei kann sich der Fehler bereits aus den Erwägungen ergeben, die das Finanzgericht veranlasst haben, dem angebotenen Beweismittel nicht nachzugehen. So liegt eine die Sachaufklärungspflicht verletzende vorweggenommene Beweiswürdigung vor, wenn die Beweiserhebung mit der Begründung unterlassen oder abgelehnt wird, dass das zu erwartende Beweisergebnis an der Überzeugung des Gerichts nichts ändern könne.4

3.1326 Das Übergehen eines Beweisantrages ist schließlich auch dann als verfahrensfehlerhaft zu qualifizieren, wenn der Beweisantrag zu Unrecht als Ausdruck einer Prozessverschleppungstaktik gewertet wird.5 So stelle es keinen Verstoß gegen die prozessuale Mitverantwortung dar, wenn ein Kläger erst im Rahmen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung 14 Tage nach Erhalt der Ladungsverfügung und 10 Tage vor der mündlichen Verhandlung dem Gericht zusätzliche Bedenken in Bezug auf einen weiteren Gesichtspunkt mitteilt, wenn im bisherigen Verfahren andere Aspekte im Vordergrund standen.6 3. Unterlassen gebotener Beweiserhebung in sonstigen Fällen

3.1327 Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht gem. § 76 Abs. 1 FGO liegt nicht nur vor, wenn das Finanzgericht einen Beweisantrag zu Unrecht übergeht. Sie kann vielmehr auch dann gegeben sein, wenn zwar kein Beweisantrag gestellt wurde, dem Finanzgericht unter Zugrundelegung seiner eigenen Rechtsauffassung sich die weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen.7 Dabei kann sich eine weitere Ermittlung aufdrängen, weil der bislang unterstellte Geschehensablauf unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung als ungewöhnlich erscheint, sodass Anlass zu der Annahme besteht, dass sich der Sachverhalt so nicht abgespielt hat.8 Die weitere Erforschung des Sachverhalts kann sich auch dadurch aufdrängen, dass 1 Vgl. zum Ganzen z. B. BFH v. 22.6.2016 – III B 134/15, BFH/NV 2016, 1571 m. w. N. 2 BFH v. 13.12.2016 – X B 23/16, BFH/NV 2017, 564; v. 22.6.2016 – III B 134/15, BFH/NV 2016, 1571; v. 6.8.2014 – VI B 38/14, BFH/NV 2014, 1904. 3 BFH v. 7.1.2014 – I B 42/13, BFH/NV 2015, 1093; v. 5.11.2013 – VI B 86/13, BFH/NV 2014, 360. 4 BFH v. 16.12.2016 – X B 41/16, BFH/NV 2017, 310; v. 8.1.2014 – X B 68/13, BFH/NV 2014, 566. 5 BFH v. 29.9.2008 – X B 203/07, BFH/NV 2008, 2049. 6 Vgl. im Einzelnen BFH v. 29.9.2008 – X B 203/07, BFH/NV 2008, 2049. 7 Vgl. nur BFH v. 13.8.2013 – X B 140/12, BFH/NV 2013, 1793 m. w. N.; vgl. auch Seer in Tipke/ Kruse, § 115 FGO Rz. 91. 8 BFH v. 13.8.2013 – X B 140/12, BFH/NV 2013, 1793.

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1330 Kap. 3

sich der Sachvortrag der Beteiligten als widersprüchlich darstellt.1 Dabei ist die gebotene Sachverhaltsermittlung nicht auf bestimmte Beweismittel beschränkt. Je nach Einzelfall kann die Vernehmung von Zeugen,2 die Aktenbeziehung3 oder beispielsweise die Einholung eines Sachverständigengutachtens4 geboten sein. 4. Fehler bei der Beweiserhebung Aber auch wenn sich das Finanzgericht für eine Beweiserhebung entscheidet, kann ein Sachaufklärungsmangel zu bejahen sein. So liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO) und damit ein Sachaufklärungsmangel vor, wenn das Gericht nicht den Zeugen vernimmt, sondern stattdessen das Protokoll einer Vernehmung aus einem früheren Verfahren auswertet.5 Auch kann es vorkommen, dass im Rahmen der Beweisaufnahme die für das Beweismittel geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen missachtet werden. So liegt ein Sachaufklärungsmangel vor, wenn das Gericht sein Urteil auf ein Sachverständigengutachten stützt, welches fehlerhaft zustande gekommen ist, weil das Gericht dem Sachverständigen unter Verstoß gegen § 82 FGO i. V. m. § 404a Abs. 3 ZPO die dem Gutachten zugrunde zu legenden Anknüpfungstatsachen nicht vorgegeben hat.6

3.1328

Schließlich kann ein Sachaufklärungsmangel auch darin zu sehen sein, dass das Gericht sich keine hinreichende Überzeugung zu entscheidungserheblichem ausländischem Recht gebildet hat. Nach § 155 FGO i. V. m. § 293 ZPO ist das Gericht verpflichtet, ausländisches Recht unabhängig vom Vorbringen der Beteiligten von Amts wegen zu ermitteln, ggf. sogar darüber Beweis zu erheben.7 Verschafft sich das Gericht jedoch nur einen kursorischen (unzulänglichen) Überblick über das maßgebliche ausländische Recht, ohne dessen Inhalt abschließend zu ermitteln, ist hierin ein Verfahrensmangel zu sehen.8

3.1329

5. Fehler bei der Beweiswürdigung Fehler im Rahmen der Beweiswürdigung sind im Grundsatz nicht als Verfahrensmangel, sondern als materiell-rechtlicher Fehler zu qualifizieren.9 Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Tatgericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese tatrichterliche Überzeugungsbildung ist durch den BFH nur sehr eingeschränkt überprüfbar. Der BFH kann eine fehlerhafte Beweiswürdigung nicht durch eine eigene, von der Beurteilung der Vorinstanz abweichende Beweiswürdigung ersetzen.10 Vielmehr ist es allein Aufgabe des Finanzgerichts, die im Einzelfall entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnisse festzustellen und zu gewichten. Dabei unterliegt das Ge1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. nur BFH v. 22.3.2012 – XI B 1/12, BFH/NV 2012, 1170. BFH v. 20.11.2013 – X B 164/13, BFH/NV 2014, 374. BFH v. 21.6.2016 – III B 29/16, BFH/NV 2016, 1483. BFH v. 21.12.2011 – VIII B 88/11, BFH/NV 2012, 600. BFH v. 16.12.2014 – X B 114/14, BFH/NV 2015, 511; v. 26.7.2010 – VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096. So BFH v. 26.5.2010 – VIII B 224/09, BFH/NV 2010, 1650. Ausführlich hierzu Hendricks, IStR 2011, 711 ff. Exemplarisch BFH v. 18.12.2014 – III R 4/13, BFH/NV 2015, 845; ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 91 m. w. N. Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 63 sowie § 118 FGO Rz. 10. BFH v. 19.8.2015 – X R 30/12, BFH/NV 2016, 203.

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3.1330

Kap. 3 Rz. 3.1331

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

richt keinen starren Regeln. Die von ihm aus den festgestellten Tatsachen gezogenen Schlüsse müssen nicht zwingend, sondern nur möglich sein.1

3.1331 Lediglich dann, wenn im Rahmen der Beweiswürdigung eigenständige prozessuale Vorgaben missachtet wurden, begründet eine fehlerhafte Beweiswürdigung einen Verfahrensmangel. In diesem Sinne liegt ein rügefähiger Verfahrensmangel vor, wenn das Finanzgericht verkennt, dass sich das Beweismaß – abweichend vom Regelbeweismaß – durch eine überlange Verfahrensdauer reduziert hat.2 In diesen Fällen reicht der Überzeugungsgrad der „größtmöglichen Wahrscheinlichkeit“ aus, um einen Umstand als bewiesen zu qualifizieren.3 Legt das Finanzgericht gleichwohl das Regelbeweismaß zugrunde, leidet das Urteil an einem Verfahrensmangel.4

3.1332 In krassen Ausnahmefällen kann eine Beweiswürdigung jedoch wegen einer Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO als verfahrensfehlerhaft zu qualifizieren sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung grob lückenhaft oder widersprüchlich ist.5 Lediglich in derartigen Fällen qualifiziert der BFH Fehler im Rahmen der Beweiswürdigung als Verfahrensmangel und nicht (nur) als materiell-rechtlichen Fehler.6

V. Mängel in Bezug auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung 3.1333 Zu einem rügefähigen Verfahrensmangel kann es auch in Bezug auf die mündliche Verhandlung kommen. Ein finanzgerichtliches Urteil kann schon deshalb als verfahrensfehlerhaft zu beurteilen sein, weil das Finanzgericht zu Unrecht ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. Aber selbst wenn eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, können eine nicht ordnungsgemäße Ladung, eine fehlende Protokollierung oder andere Fehler einen rügefähigen Verfahrensmangel begründen.7 1. Verletzung der Pflicht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung

3.1334 Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Finanzgericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Der Grundsatz der mündlichen Verhandlung gilt uneingeschränkt für Entscheidungen des Gerichts, die in Urteilsform ergehen. Das bedeutet, dass im Urteilsverfahren stets nur aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden werden darf. Eines expliziten Antrags des Klägers oder des Beklagten auf Durchführung der mündlichen Verhandlung bedarf es insoweit nicht.8

3.1335 Das Gericht darf nur dann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, wenn einer der gesetzlich geregelten Ausnahmefälle vorliegt. Unterbleibt die mündliche Verhandlung zu Unrecht, leidet das Urteil an einem Verfahrensmangel, der nach der Rechtspre-

1 2 3 4 5 6 7

BFH v. 19.8.2015 – X R 30/12, BFH/NV 2016, 203. BFH v. 23.2.1999 – IX R 19/98, BStBl. II 1999, 407. Vgl. BFH v. 23.3.2011 – X R 44/09, BStBl. II 2011, 884. BFH v. 23.2.1999 – IX R 19/98, BStBl. II 1999, 407. BFH v. 19.8.2015 – X R 30/12, BFH/NV 2016, 203. Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 63 sowie § 118 FGO Rz. 10 m. N. Bley spricht insoweit von „Verhandlungsmängeln“, vgl. Bey, Verfahrensmängel im Sozialprozeß. Baden-Baden 1988, S. 37 f. 8 Schallmoser in HHSp, § 90 FGO Rz. 19.

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1339 Kap. 3

chung als Mangel i. S. von § 119 Nr. 3 FGO (Versagung rechtlichen Gehörs) qualifiziert wird1 und daher stets eine Aufhebung des Urteils rechtfertigt.2 Eine Verletzung der Pflicht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung kann z. B. darauf beruhen, dass das Gericht zu Unrecht einen Verzicht der Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung unterstellt.3 So besteht eine Pflicht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung trotz Verzichtserklärung beispielsweise dann, wenn der Verzicht nicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt wurde. Wird die Verzichtserklärung diesen Anforderungen nicht gerecht, darf das Finanzgericht nicht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.4 So ist eine Verzichtserklärung widersprüchlich und damit unbeachtlich, wenn der Beteiligte im selben Schriftsatz deutlich macht, dass er an einem bereits gestellten Beweisantrag ausdrücklich festhält.5 Der Widerspruch resultiert daraus, dass die Beweiserhebung von Gesetzes wegen im Rahmen der mündlichen Verhandlung erfolgt (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO).

3.1336

Entsprechendes gilt auch dann, wenn das Finanzgericht irrtümlich unterstellt, dass ein im ersten Rechtszug erklärter Verzicht auf mündliche Verhandlung auch im zweiten Rechtszug noch Bindungswirkung entfaltet. Tatsächlich entfaltet aber der im ersten Rechtszug erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung im zweiten Rechtszug keine Bindung, mit der Folge, dass der Erlass eines Urteils ohne mündliche Verhandlung einen Verfahrensmangel begründet.6

3.1337

Auch wenn eine mündliche Verhandlung begonnen wurde, wird ein zuvor erklärter Verzicht auf mündliche Verhandlung gegenstandslos. Hat das Finanzgericht trotz Verzichts auf mündliche Verhandlung eine solche durchgeführt und ihre Vertagung beschlossen, wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn das Finanzgericht anschließend ohne mündliche Verhandlung entscheidet und neuerliche Verzichtserklärungen der Beteiligten nicht vorliegen.7 Gleiches gilt, wenn die Beteiligten in einem Termin zur mündlichen Verhandlung auf eine weitere mündliche Verhandlung verzichten und das Finanzgericht später einen Beweisbeschluss fasst; da eine Beweiserhebung lediglich im Rahmen der mündlichen Verhandlung stattfinden kann (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO), wird ein Verzicht mit dem Beweisbeschluss gegenstandslos, mit der Folge, dass ein Urteil nicht mehr ohne eine weitere mündliche Verhandlung ergehen kann.8

3.1338

Zu beachten ist, dass sämtliche Beteiligten wirksam auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichten müssen.9 Haben nur Kläger und Beklagter, nicht aber auch der Beigeladene auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, verletzt das Finanzgericht dessen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet.10

3.1339

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

BFH v. 19.8.2010 – VIII B 131/09, BFH/NV 2010, 2110. BFH v. 19.8.2010 – VIII B 131/09, BFH/NV 2010, 2110. So z.B. BFH v. 19.8.2010 – VIII B 131/09, BFH/NV 2010, 2110. BFH v. 23.6.2014 – X B 167/13, BFH/NV 2014, 1566. BFH v. 12.6.2013 – X B 37/12, BFH/NV 2013, 1592. BFH v. 27.10.2003 – III B 19/03, BFH/NV 2004, 504. BFH v. 10.3.2005 – X B 182/03, BFH/NV 2005, 1068. BFH v. 3.8.2015 – III B 154/14, BFH/NV 2015, 1593. BFH v. 12.1.2007 – II B 41/06, BFH/NV 2007, 755. BFH v. 5.8.2011 – III B 82/11, BFH/NV 2011, 1911.

Hendricks

397

Kap. 3 Rz. 3.1340

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

2. Keine ordnungsgemäße Ladung zur mündlichen Verhandlung

3.1340 Sowohl aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG als auch aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) folgt, dass der Bürger einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle hat. Das daraus abgeleitete Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes gilt für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht und ebenso für das Recht, im Verfahren gehört zu werden.1 Im finanzgerichtlichen Verfahren wird das Recht auf Gehör u. a. durch die Notwendigkeit einer ordnungsgemäßen Ladung der Verfahrensbeteiligten zur mündlichen Verhandlung gewährleistet. Sie soll u. a. sicherstellen, dass die Beteiligten im Regelfall eine Zeitspanne von mindestens zwei Wochen zwischen dem Tag der Zustellung der Ladung und dem Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht für die Vorbereitung auf den Termin zur Verfügung haben, damit sie imstande sind, sich in der mündlichen Verhandlung zur Wahrung ihrer Rechte angemessen zu äußern (§ 91 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 155 FGO i. V. m. § 217 ZPO).2 Steht einem Verfahrensbeteiligten diese Zeitspanne nicht zur Verfügung, weil die Ladung ihn nicht oder zu spät erreicht hat, so gibt ihm der Anspruch auf rechtliches Gehör ein Recht auf Verlegung der mündlichen Verhandlung.3 Insoweit handelt es sich um einen „absoluten“ Verfahrensmangel i. S. von § 119 Nr. 5 FGO.4

3.1341 Nach diesen Grundsätzen liegt ein beachtlicher Verfahrensmangel bereits dann vor, wenn ein Beteiligter zu einer vom Gericht angesetzten mündlichen Verhandlung auf Grund eines Zustellungsmangels nicht ordnungsgemäß geladen worden ist.5

3.1342 Hat das Finanzgericht die Ladungsfrist von zwei Wochen nicht eingehalten und weist es die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung in Abwesenheit der Kläger ab, dann beruht das Urteil auf einem Verfahrensmangel, ohne dass die Kläger die Gründe für ihr Fernbleiben darlegen oder angeben müssen, weshalb sie keinen Antrag auf Terminsverlegung gestellt haben.6

3.1343 Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch verletzt, wenn ein Beteiligter zu der vom Finanzgericht angesetzten mündlichen Verhandlung irrtümlich abgeladen worden ist und der mündlichen Verhandlung deshalb fernbleibt.7 3. Versagte Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung

3.1344 Aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und dem Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes folgt, dass den Beteiligten in bestimmten Konstellationen ein Anspruch auf Aufhebung oder Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zusteht.8 Nach § 155 FGO i. V. m. § 227 Abs. 1 ZPO kann das Gericht „aus erheblichen Gründen“ auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen. Liegen erhebliche Gründe für eine Terminsänderung vor, so verdichtet sich das in dieser Vorschrift grundsätzlich ein1 2 3 4 5 6 7 8

BFH v. 8.6.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005 1620. BFH v. 8.6.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005 1620. BFH v. 8.6.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005 1620. BFH v. 17.9.2014 – IX B 37/14, BFH/NV 2015, 52; v. 6.12.2011 – VIII B 50/11, BFH/NV 2012, 585; Lange in HHSp, § 119 FGO Rz. 202 f. Exemplarisch BFH v. 28.12.2007 – V B 166/06, BFH/NV 2008, 806; v. 1.4.2009 – IX B 174/07, juris. BFH v. 17.9.2014 – IX B 37/14, BFH/NV 2015, 52; v. 6.12.2011 – VIII B 50/11, BFH/NV 2012, 585. BFH v. 3.8.2017 – IX B 63/17, juris. BFH v. 28.11.2016 – VIII B 47/16, BFH/NV 2017, 468; Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 65.

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Hendricks

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1349 Kap. 3

geräumte Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht. Der Termin zur mündlichen Verhandlung muss dann zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits durch die Verlegung verzögert würde.1 Einem Verfahrensbeteiligten wird rechtliches Gehör versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl ein begründeter Antrag auf Terminsverlegung vorlag. Ein erheblicher Grund für eine Terminsänderung kann sich auch aus Todesfällen und Fällen schwerer Erkrankungen naher Familienangehöriger des Klägers oder eines Prozessbevollmächtigten ergeben.2 Bescheinigt ein vom Kläger vorgelegtes ärztliches Attest, dass dieser nicht in der Lage ist, einen Gerichtstermin an einem bestimmten Tag wahrzunehmen, so begründet dies in hinreichender Weise den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung.3 Aber auch eine längerfristige Verhinderung kann einen Anspruch auf Verlegung begründen; wird attestiert, dass der Kläger – u. a. wegen einer schweren depressiven Störung und chronischer Suizidalität – auf unbestimmte Zeit nicht in der Lage ist, einer Gerichtsverhandlung zu folgen, so begründet dies in hinreichender Weise den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung.4

3.1345

Bei einer plötzlich auftretenden Krankheit muss Gelegenheit gegeben und ausreichend Zeit eingeräumt werden, einen Arzt aufzusuchen. Auch in derartigen Fällen ist eine Verlegung des Termins geboten.5

3.1346

Ein Verfahrensmangel liegt auch dann vor, wenn das Finanzgericht in der Sache entscheidet, obwohl der Prozessbevollmächtigte vor dem Sitzungstag wegen einer kurzfristigen Erkrankung um Terminsverlegung gebeten und fernmündlich die Erheblichkeit der Erkrankung dargestellt hat. Dies gilt auch dann, wenn die fehlende Weitergabe dieser Information durch die Geschäftsstelle nicht von dem entscheidenden Richter zu vertreten ist, sondern auf einem Versehen oder der Überlastung der Poststelle oder Geschäftsstelle des Gerichts beruht.6

3.1347

Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird schließlich auch verletzt, wenn trotz einer gerichtlich verfügten Vertagung der Sache ein Urteil ohne weitere mündliche Verhandlung ergeht.7

3.1348

4. Verletzung der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung Nach § 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 169 Satz 1 GVG hat die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich zu erfolgen. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist ein „Konstitutivum des demokratischen Rechtsstaats“, durch das gewährleistet werden soll, dass sich die Rechtsprechung im Grundsatz nicht hinter verschlossenen Türen abspielt.8 Der Öffentlichkeitsgrundsatz soll zum einen das Vertrau1 2 3 4 5 6 7 8

BFH v. 21.10.2008 – VI B 111/07, juris. BFH v. 21.10.2008 – VI B 111/07, juris. BFH v. 10.8.2011 – IX B 175/10, BFH/NV 2011, 1912. BFH v. 17.9.2014 – IX B 44/14, BFH/NV 2015, 52; ähnlich v. 7.12.2012 – IX B 121/12, BFH/NV 2013, 568. BFH v. 10.4.2007 – XI B 58/06, BFH/NV 2007, 1672. BFH v. 10.3.2005 – IX B 171/03, BFH/NV 2005, 1578. BFH v. 29.1.2008 – III B 116/06, juris. Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 72.

Hendricks

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3.1349

Kap. 3 Rz. 3.1350

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

en in die Rechtspflege stärken, zum anderen die Kontrolle des gerichtlichen Verfahrens sichern.1

3.1350 Öffentlichkeit einer Verhandlung bedeutet, dass ein unbestimmter Personenkreis die Möglichkeit haben muss, die Verhandlung an Ort und Stelle zu verfolgen. Der Raum, in dem der Rechtsstreit verhandelt wird, muss für jedermann zugänglich sein. Die Öffentlichkeit ist demgegenüber verletzt, wenn die für das Publikum bestimmte Eingangstür zum Sitzungssaal während der Verhandlung verschlossen ist.2 Ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. von § 119 Nr. 5 FGO liegt darin jedoch nur, wenn die Beeinträchtigung der Öffentlichkeit auf den Willen des Gerichts zurückzuführen ist. Dabei muss sich ein Spruchkörper jedenfalls das Verhalten (Tun oder Unterlassen) der ihm angehörenden Berufsrichter zurechnen lassen. Ihnen ist nicht nur die Sachentscheidung, sondern auch die Wahrung verfahrensrechtlicher Grundsätze zu jeweils eigener Verantwortung anvertraut. Sie haben demgemäß auch, jeder für sich, für die Einhaltung verfahrensrechtlicher Grundsätze einzustehen. Ein Verfahrensmangel ist dann zu bejahen, wenn die verschlossene Zugangstür zum Sitzungssaal auf mangelnde Sorgfalt des Gerichts zurückzuführen ist.3

3.1351 In bestimmten, gesetzlich geregelten Fällen hat das Gericht die Öffentlichkeit auszuschließen. So ist die Öffentlichkeit nach § 52 Abs. 2 FGO auszuschließen, wenn ein Beteiligter, der nicht Finanzbehörde ist, dies beantragt. Bleibt die Öffentlichkeit zugelassen, obwohl gestützt auf § 52 Abs. 2 FGO ein wirksamer Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit gestellt wurde, liegt zwar in Grundsatz ein Verfahrensmangel vor; da es sich bei § 52 Abs. 2 FGO jedoch nicht um die Verletzung einer Vorschrift handelt, welche die Öffentlichkeit sicherstellen soll, handelt es sich insoweit nicht um einen „absoluten“ Verfahrensfehler i. S. von § 119 Nr. 5 FGO.4 5. Mängel bei der Protokollierung der mündlichen Verhandlung

3.1352 Nach § 94 FGO i. V. m. § 159 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist über die Verhandlung und jede Beweisaufnahme ein Protokoll (auch „Niederschrift“) aufzunehmen (sog. Protokollzwang). Der Zweck des Protokolls besteht darin, den vom Finanzgericht ermittelten Tatsachenstoff sowie den Gang des Verfahrens zu sichern und dadurch die Überprüfung des darauf beruhenden Urteils durch das Rechtsmittelgericht zu ermöglichen.5

3.1353 Nach § 94 FGO i. V. m. § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO sind auch die Aussagen eines Zeugen im Protokoll festzustellen. Dazu darf das Gericht gem. § 160a Abs. 1 ZPO sich zwecks vorläufiger Aufzeichnung auch eines Tonaufnahmegerätes bedienen. Wurden infolge eines Defektes oder eines Bedienungsfehlers wesentliche Teile der Aussage des Zeugen nicht vorläufig aufgezeichnet, fehlt es i. S. des Gesetzes an einer Aufzeichnung überhaupt, wenn nicht gem. § 160a Abs. 2 Satz 4 ZPO zugleich das wesentliche Ergebnis der Aussage anderweitig, z. B. in einem gesonderten Berichterstattervermerk, aufgezeichnet worden ist. Eine in wesentlichen Teilen unvollständige Protokollierung steht einer fehlenden Niederschrift gleich.

1 2 3 4 5

Lange in HHSp, § 119 FGO Rz. 333; Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 72. BFH v. 27.11.1991 – X R 98-100/90, BStBl. II 1992, 411. BFH v. 27.11.1991 – X R 98-100/90, BStBl. II 1992, 411. Stapperfend in Gräber, § 52 FGO Rz. 10 m. w. N. BFH v. 20.12.2000 – III R 63/98, BFH/NV 2001, 1028; Brandis in Tipke/Kruse, § 94 FGO Rz. 1 f.; Herbert in Gräber, § 94 FGO Rz. 4.

400

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1358 Kap. 3

Sie bietet ebenfalls keine geeignete Grundlage für eine Nachprüfung des Urteils. Das Urteil ist mit Rücksicht auf diesen Verfahrensmangel aufzuheben.1 6. Versagte Vertagung einer begonnenen mündlichen Verhandlung Nach § 155 FGO i. V. m. § 227 ZPO kann der Vorsitzende bzw. das Finanzgericht aus erheblichen Gründen eine bereits begonnene mündliche Verhandlung vertagen. Wenn erhebliche Gründe i. S. des § 227 ZPO vorliegen, verdichtet sich die an und für sich bestehende Ermessensfreiheit zu einer Rechtspflicht. In diesen Fällen muss zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs ein Termin zur mündlichen Verhandlung auch dann vertagt werden, wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und wenn die Erledigung des Rechtsstreits durch die Vertagung verzögert wird.2 Welche Gründe erheblich sind, richtet sich nach der Lage des Einzelfalles, nach dem Prozessstoff und den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten bzw. seines Prozessbevollmächtigten.3 Im Einzelfall kann die versagte Vertagung schon mit Rücksicht auf die Begründung des Finanzgerichts als verfahrensfehlerhaft zu qualifizieren sein.4 Wird die Vertagung zu Unrecht versagt, liegt ein „absoluter“ Verfahrensmangel i. S. von § 119 Nr. 3 FGO vor.5

3.1354

So darf das Finanzgericht einen Antrag auf Vertagung wegen Verhinderung eines im Ausland lebenden Zeugen nicht mit der unzutreffenden Begründung ablehnen, der Kläger habe keine Angaben dazu gemacht, wann konkret damit zu rechnen ist, dass der Zeuge für eine Aussage zur Verfügung steht.6

3.1355

Lehnt das Finanzgericht nach einem Wechsel des Prozessbevollmächtigten den Antrag des Klägers ab, den Termin zur mündlichen Verhandlung zu vertagen, so kann dies einen Verfahrensmangel begründen, wenn dem neuen Prozessbevollmächtigten zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung – bei einem weit überdurchschnittlichen umfangreichen und schwierigen Streitfall – nur sieben Tage zur Verfügung stehen und der Wechsel des Prozessbevollmächtigten weder willkürlich noch schuldhaft herbeigeführt wurde.7 Auch im Falle einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung des Prozessbevollmächtigten darf ein Vertagungsantrag im Regelfall nicht abgelehnt werden.8

3.1356

Der Vertagungsgrund kann sich aber auch durch Entwicklungen im Rahmen der mündlichen Verhandlung ergeben. Weist das Gericht erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung darauf hin, dass es seine bisherige Auffassung geändert habe und hatten die Beteiligten bislang nicht die Möglichkeit, zu den auf Basis der neuen Rechtsauffassung maßgeblichen Umständen Stellung zu nehmen, ist die Ablehnung eines Vertagungsantrages als rechtswidrig und daher verfahrensfehlerhaft zu qualifizieren.9

3.1357

Das Finanzgericht ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn es sein Urteil nur auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte

3.1358

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 20.12.2000 – III R 63/98, BFH/NV 2001, 1028. BFH v. 6.2.1992 – V R 38/85, BFH/NV 1993, 102. BFH v. 6.2.1992 – V R 38/85, BFH/NV 1993, 102. BFH v. 10.4.2014 – XI B 138/13, BFH/NV 2014, 1079. Vgl. nur Werth in Beermann/Gosch, § 119 FGO Rz. 149. BFH v. 10.4.2014 – XI B 138/13, BFH/NV 2014, 1079. BFH v. 6.2.1992 – V R 38/85, BFH/NV 1993, 102. BFH v. 7.2.1995 – VIII R 48/92, BFH/NV 1996, 43. Vgl. BFH v. 21.12.1994 – I R 65/94, DB 1995, 1174.

Hendricks

401

Kap. 3 Rz. 3.1359

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

stützen würde, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war.1 Dies ist zu bejahen, wenn entscheidungserheblicher Sachverhalt erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt wird.2

3.1359 Entsprechendes gilt, wenn das Finanzgericht erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung darauf hinweist, dass es eine bestimmte Schätzungsmethode für sachgerecht erachtet, zu der die Beteiligten bislang nicht Stellung nehmen konnten.3

3.1360 Schließlich ist das Urteil verfahrensfehlerhaft, wenn das Gericht trotz gerichtlich verfügter Vertagung der Sache ohne weitere mündliche Verhandlung ein Urteil erlässt.4 7. Versagte Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

3.1361 Nach § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO kann das Finanzgericht eine bereits geschlossene mündliche Verhandlung wiedereröffnen. Die Entscheidung über die Wiedereröffnung steht im Grundsatz im Ermessen des Gerichts. In bestimmten Konstellationen kann das Ermessen des Gerichts auf null reduziert sein, mit der Folge, dass eine Pflicht zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung besteht.5 Verletzt das Gericht diese Pflicht, liegt hierin ein relevanter Verfahrensmangel.6

3.1362 So verletzt das Gericht den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es die mündliche Verhandlung nicht wiedereröffnet, obwohl einem Beteiligten während einer nur vorübergehenden Abwesenheit eine Ladung durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt wird und er deshalb aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die mündliche Verhandlung versäumt bzw. keinen Antrag auf Terminsverlegung stellen kann.7

3.1363 Die mündliche Verhandlung ist auch wiederzueröffnen, wenn ein Beteiligter zu einem Hinweis des Gerichts in der (letzten) mündlichen Verhandlung Stellung nimmt bzw. Beweisanträge stellt, sofern es sich um einen erstmaligen und überraschenden Hinweis gehandelt hat, zu dem insbesondere wegen der geraume Zeit zurückliegenden Vorgänge kein sofortiger detaillierter Sachvortrag und Beweisantritt in der mündlichen Verhandlung zu erwarten war.8

3.1364 Erfolgt nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eine notwendige Beiladung und verzichtet der Beigeladene nicht auf mündliche Verhandlung, dann ist er im Verfahren nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten; die bereits geschlossene mündliche Verhandlung hätte dann von Amts wegen wiedereröffnet werden müssen.9

1 2 3 4 5 6

BFH v. 18.7.2003 – XI B 47/01, BFH/NV 2004, 51. Vgl. BFH v. 18.7.2003 – XI B 47/01, BFH/NV 2004, 51. BFH v. 2.8.2016 – X B 10/16, BFH/NV 2017, 43. BFH v. 10.3.2005 – X B 182/03, BFH/NV 2005, 1068; v. 29.1.2008 – III B 116/06, juris. Brandis in Tipke/Kruse, § 93 FGO Rz. 9; Wendl in Beermann/Gosch, § 93 FGO Rz. 83 m. w. N. BFH v. 8.6.2015 – I B 13/14, BFH/NV 2015, 1695; v. 18.2.2003 – X B 111/02, BFH/NV 2003, 808; v. 29.4.2004 – III B 73/03, juris. 7 BFH v. 18.2.2003 – X B 111/02, BFH/NV 2003, 808. 8 BFH v. 4.4.2001 – XI R 60/00, BStBl. II 2001, 726. 9 BFH v. 8.6.2015 – I B 13/14, BFH/NV 2015, 1695.

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1369 Kap. 3

Fällt das Gericht ein Urteil, ohne ausdrücklich oder zumindest konkludent die von einem Beteiligten beantragte Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung geprüft zu haben, liegt hierin eine Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO).1

3.1365

VI. Mängel bei der Überzeugungsbildung 1. Missachtung des gesetzlichen Entscheidungsprogramms Ein Mangel bei der Überzeugungsbildung liegt vor, wenn das Gericht das gesetzlich vorgegebene Entscheidungsprogramm missachtet. Das gerichtliche Entscheidungsprogramm wird – als Ausfluss der Dispositionsmaxime – gem. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO durch das Begehren des Klägers bestimmt.2 Die Bindung an diese Vorgaben gehört zur Grundordnung des Verfahrens. Das Gericht darf weder über das Klagebegehren hinausgehen („ne ultra petita“) noch darf das Gericht über etwas anderes („aliud“) entscheiden, als der Kläger ausweislich seines Antrags (einschließlich seiner eigenen Interpretation dieses Antrags) begehrt und zur Entscheidung gestellt hat.3

3.1366

Nach diesen Grundsätzen liegt eine verfahrensfehlerhafte Missachtung des gesetzlichen Entscheidungsprogramms vor, wenn das Gericht die im Klageverfahren streitigen Einkünfte weiter herabsetzt, als dies vom Kläger beantragt wurde.4 In diesen Fällen kann die unterlegene Finanzbehörde mit Erfolg einen Verfahrensmangel rügen.5 Ein Verstoß gegen die Bindung an das Klagebegehren liegt aber auch dann vor, wenn das Gericht die streitigen Einkünfte auf die Klage des Steuerpflichtigen hin erhöht.6 Insoweit lässt sich unmittelbar aus der Bindung an das Klagebegehren auch ein Verböserungsverbot ableiten.7

3.1367

Eine Missachtung des gesetzlich vorgegebenen Entscheidungsprogramms liegt aber auch vor, wenn eine Entscheidung über einen entscheidungsreifen Antrag vollständig unterbleibt. Ein solcher Verfahrensmangel ist anzunehmen, wenn das Gericht einen Antrag vollständig unbeschieden lässt, etwa weil der Antrag vom Gericht zu Unrecht als echter Hilfsantrag verstanden wird.8 Aber auch wenn das Gericht über den ursprünglichen Klageantrag entscheidet, obwohl der Kläger von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären,9 liegt ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens vor.

3.1368

Eine Missachtung des gesetzlichen Entscheidungsprogramms ist auch zu bejahen, wenn das Gericht nur über einen Teil des Rechtsstreits entscheidet, obwohl eine Entscheidung über den gesamten Rechtsstreit geboten gewesen wäre.10 Ein solcher Fall liegt beispielsweise vor, wenn das Gericht bei einer Klage von Eheleuten lediglich über die Klage der Ehefrau entschei-

3.1369

1 BFH v. 29.4.2004 – III B 73/03, juris. 2 Seer spricht auch treffend vom gerichtlichen „Streitprogramm“, vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 95 f. 3 BFH v. 22.9.1999 – VII B 120/99, BFH/NV 2000, 166. 4 BFH v. 13.7.2009 – IX B 33/09, BFH/NV 2009, 1821. 5 Vgl. BFH v. 13.7.2009 – IX B 33/09, BFH/NV 2009, 1821. 6 BFH v. 18.12.1970 – VI R 313/68, BStBl. II 1971, 591. 7 BFH v. 18.12.1970 – VI R 313/68, BStBl. II 1971, 591 unter gleichzeitigem Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG. 8 BFH v. 24.8.1972 – VIII R 21/69, BStBl. II 1973, 55. 9 BFH v. 19.5.2011 – III R 61/09, BFH/NV 2011, 1526. 10 BFH v. 15.7.2010 – VIII B 39/09, BFH/NV 2010, 2089.

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Kap. 3 Rz. 3.1370

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

det, ohne dass das Klageverfahren des Ehemanns zuvor nach § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO abgetrennt wurde und auch die Voraussetzungen für ein Teilurteil (§ 98 FGO) nicht gegeben sind.1 2. Verkennen von Sachentscheidungsvoraussetzungen a) Unzulässiges Sachurteil

3.1370 Ein Mangel bei der Überzeugungsbildung liegt vor, wenn das Gericht durch Sachurteil entscheidet, obwohl es wegen einer negativen Sachurteilsvoraussetzung in der Sache nicht hätte entscheiden dürfen.2 Eine solche negative Sachurteilsvoraussetzung ist beispielsweise die anderweitige Rechtshängigkeit der Sache. Ist ein bestimmter Rechtsstreit bereits rechtshängig, d. h. in dieser Sache wurde bereits eine Klage erhoben, kann von keinem Beteiligten eine Sachentscheidung in einem anderen Prozess beansprucht werden (Sperrwirkung einer anderweitigen Rechtshängigkeit gem. § 66 und § 155 FGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG).3 Entscheidet das Gericht gleichwohl in der Sache, liegt ein Verfahrensmangel vor.4

3.1371 Aber auch in Fällen, in denen das Finanzgericht zu Unrecht in der Sache entscheidet, anstatt die Klage durch Prozessurteil abzuweisen, liegt ein Verfahrensmangel vor. Dies gilt z. B., wenn das Gericht die Klage eigentlich hätte abweisen müssen, weil bei der Klageerhebung Pflichtangaben (z. B. eine ladungsfähige Anschrift des Klägers) unterblieben sind.5 b) Unzulässiges Prozessurteil

3.1372 Erlässt das Finanzgericht zu Unrecht ein Prozessurteil anstatt zur Sache zu entscheiden, liegt darin nach ständiger Rechtsprechung ebenfalls ein Verfahrensmangel.6 Ein solcher Mangel ist beispielsweise zu bejahen, – wenn sich das Gericht durch die fehlerhafte Annahme entgegenstehender Bestandskraft an einer Sachentscheidung gehindert sieht,7 – wenn das Gericht nicht erkennt, dass die Klage wirksam durch den gesetzlichen Vertreter erhoben wurde,8 – wenn das Gericht nicht erkennt, dass die Klägerseite fristgerecht alle nach § 65 Abs. 2 FGO geforderten Angaben ergänzt hat.9

3.1373 Ein unzulässiges Prozessurteil liegt auch dann vor, wenn das Gericht eine Klage unter Verweis auf ein fehlendes Einspruchsverfahren gem. § 44 Abs. 1 FGO als unzulässig abweist, weil es ein Schreiben der späteren Klägerin zu Unrecht nicht als Einspruch gewertet hat.10

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

BFH v. 15.7.2010 – VIII B 39/09, BFH/NV 2010, 2089. BFH v. 8.11.2005 – VIII B 3/96, BFH/NV 2006, 570. Vgl. hierzu im Einzelnen Paetsch in Beermann/Gosch, § 66 FGO Rz. 15 ff. BFH v. 8.11.2005 – VIII B 3/96, BFH/NV 2006, 570. BFH v. 17.6.2010 – III R 53/07, BFH/NV 2011, 264. BFH v. 22.6.2010 – VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846. BFH v. 22.6.2010 – VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846. BFH v. 23.11.2010 – V B 133/09, BFH/NV 2011, 612. BFH v. 31.5.2010 – V B 49/08, BFH/NV 2010, 1978. BFH v. 3.11.2010 – II B 55/10, BFH/NV 2011, 295.

404

Hendricks

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1381 Kap. 3

3. Urteil trotz Unterbrechung des Verfahrens oder Pflicht zur Aussetzung Ein Mangel bei der Überzeugungsbildung liegt auch dann vor, wenn das Finanzgericht durch Urteil oder Gerichtsbescheid entscheidet, obwohl das Verfahren unterbrochen war oder hätte unterbrochen (z. B. ausgesetzt) werden müssen.

3.1374

a) Urteil oder Gerichtsbescheid trotz Verfahrensunterbrechung In verschiedenen Fallkonstellationen wird das Klageverfahren automatisch (also unabhängig von einer entsprechenden gerichtlichen Verfügung) unterbrochen. Fällt das Finanzgericht – in Unkenntnis der Verfahrensunterbrechung – gleichwohl ein Urteil oder einen Gerichtsbescheid, so sind diese verfahrensfehlerhaft und unwirksam.1

3.1375

Zu einer solchen „Verfahrensunterbrechung ex lege“ kommt es beispielsweise, wenn über das Vermögen eines Beteiligten das Insolvenzverfahren eröffnet wird (§ 155 FGO i. V. m. § 240 Satz 1 ZPO).2

3.1376

Gleiches gilt, wenn die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf einen vorläufigen Insolvenzverwalter übergeht.3

3.1377

Zu einer solchen „Verfahrensunterbrechung ex lege“ kommt es auch, wenn der Kläger verstirbt. War der verstorbene nicht durch einen Prozessbevollmächtigen vertreten (vgl. § 155 FGO i. V. m. § 246 Abs. 1 ZPO), bleibt das Klageverfahren unterbrochen, bis sein Rechtsnachfolger den Prozess wieder in Gang setzt (§ 155 FGO i. V. m. § 239 Abs. 1 ZPO). Ein trotz der Verfahrensunterbrechung ergangenes Urteil ist verfahrensfehlerhaft und unwirksam.4

3.1378

b) Unterlassene Aussetzung des Verfahrens Von den Fällen, in denen das Klageverfahren automatisch (d. h. ex lege) unterbrochen ist, sind die Fälle zu unterscheiden, in denen das Gericht verpflichtet ist, dass Klageverfahren auszusetzen. Nach § 74 FGO kann das Gericht die Entscheidung des Rechtsstreits aussetzen, wenn die Entscheidung ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits oder eines Verwaltungsverfahrens bildet (Ermessen). Fällt das Gericht ein Urteil, obwohl das Klageverfahren nach § 74 FGO auf Grund einer Ermessensreduzierung hätte ausgesetzt werden müssen, liegt ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens vor.5

3.1379

Eine Pflicht besteht regelmäßig dann, wenn gegen einen Folgebescheid geklagt wird und der Ausgang des Rechtsstreits vom Inhalt des noch ausstehenden oder noch nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheids abhängt.6

3.1380

Hat das Finanzamt vor Ergehen eines Grundlagenbescheids einen Folgebescheid nach §§ 155 Abs. 2, 162 Abs. 3 AO erlassen und sind Fragen zu Besteuerungsgrundlagen streitig,

3.1381

1 Exemplarisch zuletzt etwa BFH v. 24.5.2016 – IX B 36/16, BFH/NV 2016, 1304. 2 BFH v. 24.5.2016 – IX B 36/16, BFH/NV 2016, 1304; v. 15.3.2007 – III B 178/05, BFH/NV 2007, 1178. 3 Vgl. BFH v. 15.3.2007 – III B 178/05, BFH/NV 2007, 1178. 4 BFH v. 15.6.2011 – XI R 10/11, BFH/NV 2011, 1722. 5 BFH v. 2.9.2010 – IV B 120/10, BFH/NV 2011, 257. 6 BFH v. 7.11.1996 – IV R 72/95, BFH/NV 1997, 574.

Hendricks

405

Kap. 3 Rz. 3.1382

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

die den Grundlagenbescheid betreffen, so ist das Klageverfahren gegen den Folgebescheid nach § 74 FGO auszusetzen, bis über den zu erlassenden Grundlagenbescheid entschieden ist. Das Unterlassen einer Aussetzung stellt in diesen Fällen einen Verfahrensmangel dar.1

3.1382 So besteht eine Pflicht zur Aussetzung dann, wenn im Klageverfahren Besteuerungsgrundlagen streitig sind, über deren Höhe in einem vorgreiflichen Feststellungsverfahren zu entscheiden ist.2

3.1383 Eine Aussetzungspflicht besteht aber nicht nur dann, wenn feststeht, dass ein Feststellungsverfahren durchgeführt werden muss; ein Verfahren zur einheitlichen und gesonderten Feststellung muss bereits dann durchgeführt werden, wenn ernstlich zweifelhaft ist, ob überhaupt einkommensteuerpflichtige Einkünfte erzielt werden und/oder ob diese mehreren Personen zuzurechnen sind. Grund dafür ist, dass über diese (Vor-)Fragen – entsprechend dem materiell-rechtlichen Zweck des Verfahrens, eine inhaltlich identische Sachbehandlung gegenüber allen potentiell betroffenen Steuerpflichtigen sicherzustellen – nur einheitlich gegenüber allen (potentiell) an den Einkünften Beteiligten entschieden werden kann. Unterlässt das Finanzgericht in diesen Fällen die Aussetzung, handelt es verfahrensfehlerhaft.3 4. Fehlende Überzeugungsbildung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens

3.1384 Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH hat das Finanzgericht nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO seine Überzeugung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden, es hat also den gesamten konkretisierten Prozessstoff zu Grunde zu legen. Es muss insbesondere den Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Beteiligten (quantitativ) vollständig und (qualitativ) einwandfrei berücksichtigen. Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, der einen Verfahrensfehler begründet, liegt dann vor, wenn das Finanzgericht seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht.4 Gleiches gilt, wenn das Finanzgericht bei seiner Entscheidung einen Sachverhalt unterstellt, der dem klaren Inhalt der Akten widerspricht.5 Diese Art von Fehlern weist eine große Nähe zur oben dargestellten lückenhaften Beweiswürdigung auf (vgl. Rz. 3.1332). Der Unterschied liegt darin, dass bei einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten ein Sachverhaltselement ohne nähere Begründung schlichtweg unterstellt wird, während sich das Gericht im Rahmen der lückenhaften Beweiswürdigung ganz bewusst mit der Würdigung des Sachverhalts auseinandersetzt. 5. Überzeugungsbildung unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

3.1385 Das gerichtliche Entscheidungsprogramm wird auch maßgeblich durch den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) bestimmt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Beteiligten über den Verfahrensstoff zu informieren, ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, ihre Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern ihres 1 BFH v. 7.11.1996 – IV R 72/95, BFH/NV 1997, 574. 2 BFH v. 16.12.2009 – IV R 18/07, BFH/NV 2010, 1419; ebenso BFH v. 20.8.2015 – IV R 41/12, BFH/ NV 2016, 227 zu einem vorgreiflichen Verlustfeststellungsverfahren. 3 BFH v. 31.5.2010 – X B 162/09, BFH/NV 2010, 2011. 4 So BFH v. 9.6.2011 – VI B 146/10, BFH/NV 2011, 1530. 5 Exemplarisch BFH v. 8.5.2017 – X B 78/16, BFH/NV 2017, 1061; v. 29.1.2016 – X B 93/15, BFH/ NV 2016, 776; v. 11.3.2015 – I R 16/13, BFH/NV 2015, 1273.

406

Hendricks

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1389 Kap. 3

Vorbringens auseinanderzusetzen (vgl. ausführlich Rz. 5.4 ff.). Im Rahmen der gerichtlichen Überzeugungsbildung kann der Anspruch auf rechtliches Gehör durch Missachtung des Äußerungsrechts eines Beteiligten, durch die Missachtung der gerichtlichen Informations- und Unterrichtungspflicht sowie durch die Verletzung der gerichtlichen Beachtungspflicht verletzt werden. Es handelt sich um einen „absoluten“ Verfahrensfehler, bei dem das Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist (§ 119 Nr. 3 FGO).1 a) Missachtung des Äußerungsrechts eines Beteiligten Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist immer dann verletzt, wenn das Äußerungsrecht eines Beteiligten missachtet wurde. Das Gericht darf seine Entscheidung nur auf Tatsachen stützen, zu denen sich die Beteiligten zuvor äußern konnten (so ausdrücklich § 96 Abs. 2 FGO). Dieses Äußerungsrecht wird verletzt, wenn den Beteiligten die Möglichkeit abgeschnitten wird, sich überhaupt zu entscheidungsrelevanten Umständen zu äußern. Das Äußerungsrecht wird beispielsweise verletzt, wenn eine Entscheidung gefällt wird, bevor der Beteiligte innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist seine Stellungnahme eingereicht hat.2 Setzt das Gericht beispielsweise eine Stellungnahmefrist von sechs Wochen, entscheidet aber bereits vor Ablauf dieser Frist, liegt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor.3

3.1386

b) Missachtung der gerichtlichen Informations- und Unterrichtungspflicht Das Recht auf Äußerung der Beteiligten ist eng verknüpft mit ihrem Anspruch auf Information.4 Zwar müssen die Beteiligten den Prozess mit der gebotenen Sorgfalt führen und grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen. Allerdings würde das Recht auf Äußerung ohne eine korrespondierende Pflicht des Gerichts zur Unterrichtung der Beteiligten vielfach leer laufen.5 Das Gericht ist daher verpflichtet, die Beteiligten über den Verfahrensstoff zu informieren, damit diese die Gelegenheit haben, sich hierzu zu äußern.6

3.1387

Diese gerichtliche Informations- und Unterrichtungspflicht wird beispielsweise verletzt, wenn das Gericht die Beteiligten über die Beiziehung von Akten nicht ordnungsgemäß informiert, seine Entscheidung aber auch auf Erkenntnisse aus den beigezogenen Akten stützt.7 Gleiches gilt, wenn das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ohne dem anderen Verfahrensbeteiligten einen Schriftsatz mit einer Antragsänderung zur Kenntnis gebracht zu haben.8

3.1388

Eine Missachtung der gesetzlichen Hinweispflicht liegt aber auch dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf eine bisher nicht erörterte Schätzungsmethode stützt, ohne die

3.1389

1 BFH v. 29.7.2010 – VI R 39/09, BFH/NV 2010, 2296. 2 BFH v. 3.2.2015 – V B 101/14, BFH/NV 2015, 696; v. 24.1.2005 – VIII B 116/03, BFH/NV 2005, 1108; v. 19.3.2002 – IX R 100/00, BFH/NV 2002, 945. 3 BFH v. 23.5.2011 – III B 178/10, BFH/NV 2011, 1389; im Ergebnis ebenso z. B. BFH v. 15.5.2009 – III B 99/08, juris. 4 BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28 (35). 5 Instruktiv Drüen, AO-StB 2002, 196 (197). 6 Vgl. nur BFH v. 26.7.2012 – IX B 164/11, BFH/NV 2012, 1643; v. 10.9.2013 – XI B 114/12, BFH/ NV 2013, 1947; Bartone, AO-StB 2011, 179 (180). 7 So ausdrücklich BFH v. 26.7.2012 – IX B 164/11, BFH/NV 2012, 1643. 8 Exemplarisch BFH v. 8.5.2017 – X B 150/16, BFH/NV 2017, 1185; v. 6.11.2007 – IX B 64/07, BFH/ NV 2008, 242.

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407

Kap. 3 Rz. 3.1390

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

Beteiligten über die mögliche Nutzung dieser Schätzungsmethode zu informieren.1 Entsprechendes gilt, wenn das Gericht in Fällen, in denen ein Zeuge zur mündlichen Verhandlung geladen ist, die mündliche Verhandlung schließt und ein Urteil fällt, ohne die Beteiligten zuvor unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass von der Vernehmung des Zeugen abgesehen werden soll.2

3.1390 Schließlich liegt eine Missachtung der gesetzlichen Hinweispflicht auch dann vor, wenn sich das Finanzgericht in der Besetzung, die später in der Sache entscheidet, gegenüber den Beteiligten zu einer für den Rechtsstreit maßgeblichen Tat- oder Rechtsfrage geäußert hat, dann ohne vorherigen Hinweis abweichend der zuvor geäußerten Ansicht entscheidet (Überraschungsentscheidung).3 Erklärt etwa der Berichterstatter im Rahmen mehrerer eingehend begründeter Berichterstatterschreiben ausdrücklich auch im Namen seiner Senatskollegen, die Klage werde Erfolg haben, so stellt es eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, wenn das Finanzgericht die Klage nach einem Wechsel des Berichterstatters ohne einen entsprechenden Hinweis an den Kläger abweist.4 c) Verletzung der gerichtlichen Beachtungspflicht

3.1391 Das Äußerungsrecht der Beteiligten macht nur dann Sinn, wenn die jeweilige Äußerung vom Gericht auch zur Kenntnis genommen und mit in die Entscheidungserwägungen einbezogen wird. Mit dem Äußerungsrecht der Beteiligten korrespondiert daher eine entsprechende gerichtliche Beachtungspflicht.5 Zunächst einmal muss das Gericht die Äußerungen der Beteiligten überhaupt zur Kenntnis nehmen.6 Über die bloße Kenntnisnahme hinaus ist aber erforderlich, dass sich das Gericht mit den Äußerungen im Rahmen seiner Entscheidungsfindung auch auseinandersetzt.7 Das Gericht muss Ausführungen der Prozessbeteiligten, auf die es ankommen kann, zumindest „in Erwägung ziehen“.8

3.1392 Die gerichtliche Beachtungspflicht ist beispielsweise verletzt wenn das Gericht entscheidet, ohne die Äußerungen der Beteiligten überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben, wenn das Gericht Sachverhalt und Sachvortrag, auf den es ankommen kann, nicht nur nicht ausdrücklich bescheidet, sondern überhaupt nicht berücksichtigt.9 Ergeht beispielsweise ein Urteil ohne mündliche Verhandlung, bei dem ein rechtzeitig eingereichter Schriftsatz mit einem möglicherweise entscheidungserheblichen neuen Gesichtspunkt nicht berücksichtigt wurde, ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, ohne dass die Verschuldensfrage zu prüfen wäre.10

1 So BFH v. 10.9.2013 – XI B 114/12, BFH/NV 2013, 1947. 2 BFH v. 19.9.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214; ein entsprechender mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen, vgl. BFH a.a.O. 3 BFH v. 19.1.2012 – X B 4/10, BFH/NV 2012, 958. 4 BFH v. 11.11.2008 – IX R 14/07, BStBl. II 2009, 309. 5 Vgl. nur BFH v. 13.3.2015 – X B 138/14, BFH/NV 2015, 982. 6 BFH v. 17.3.2010 – X B 62/09, BFH/NV 2010, 1825. 7 So der treffende Begriff von Lange in HHSp, § 96 FGO Rz. 217. 8 Vgl. nur BFH v. 17.3.2010 – X B 62/09, BFH/NV 2010, 1825. 9 BFH v. 24.1.2013 – III B 113/11, BFH/NV 2013, 726; v. 17.3.2010 – X B 62/09, BFH/NV 2010, 1825. 10 BFH v. 6.6.2007 – VIII B 154/06, BFH/NV 2007, 1910.

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Hendricks

L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1397 Kap. 3

Gleiches gilt, wenn das Gericht die beantragte Würdigung einer vorgelegten fremdsprachigen Urkunde allein mit der Begründung ablehnt, es fehle eine Übersetzung in die deutsche Sprache.1

3.1393

Schließlich ist die gerichtliche Beachtungspflicht auch verletzt, wenn das Finanzgericht in einem Verfahren, in dem ohne mündliche Verhandlung entschieden wurde, einen vor Absendung der Urteilsausfertigung übermittelten Schriftsatz eines Beteiligten nicht mehr berücksichtigt.2

3.1394

6. Missachtung der Bindungswirkung einer rückverweisenden BFH-Entscheidung Im Rahmen der Überzeugungsbildung hat das Finanzgericht auch zu reflektieren, ob und inwieweit bestimmte Fragen bereits durch bindende Vorgaben eines vorausgegangenen BFH-Verfahrens (Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren) geklärt sind. In diesem Zusammenhang hat das Finanzgericht vor allem § 126 Abs. 5 FGO im Auge zu behalten. Die Vorschrift regelt die Bindung rückverweisender BFH-Entscheidungen. Hiernach hat das Finanzgericht, an welches die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wurde, bei seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des BFH zugrunde zu legen. Bindungswirkung kommt insoweit allen Rechtsausführungen des BFH zu, die im zurückverweisenden Urteil bzw. Beschluss abschließend entschieden worden sind.3

3.1395

Missachtet das Finanzgericht im nachgehenden Rechtszug bindende Rechtsausführungen des BFH, liegt hierin ein Verfahrensmangel, der – auf entsprechende Rüge hin – zur erneuten Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils führt.4 Die Bindung tritt nicht nur hinsichtlich der Gründe ein, die zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils geführt haben, sondern auch hinsichtlich der Gründe, auf denen die Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht basiert.5 Damit können auch materiell-rechtliche Vorgaben für den nachgehenden Rechtszug prozessual relevant werden.6 Hat der BFH die Sache an das Finanzgericht zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zurückverwiesen, so kann das Finanzgericht diese Aufgabe nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO nicht dem Finanzamt übertragen.7

3.1396

Dadurch, dass § 126 Abs. 5 FGO das Entscheidungsprogramm des erstinstanzlichen Gerichts im Wege einer Verfahrensvorschrift determiniert, wird die Verletzung der bindenden Vorgaben des BFH gleichzeitig zu einem Verfahrensfehler. Bei der Bindungsregelung handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz des deutschen Verfahrensrechts.8

3.1397

1 2 3 4 5 6 7 8

BVerwG v. 8.2.1996 – 9 B 418/95, NJW 1996, 1553. BFH v. 16.6.2016 – X B 110/15, BFH/NV 2016, 1481. Seer in Tipke/Kruse, § 126 FGO Rz. 69 f.; Bergkemper in HHSp, § 126 FGO Rz. 76. So z. B. BFH v. 10.2.2011 – XI B 98/10, BFH/NV 2011, 864; v. 17.5.2006 – VIII R 21/04, BFH/NV 2006, 1839. BFH v. 17.5.2006 – VIII R 21/04, BFH/NV 2006, 1839. BFH v. 17.5.2006 – VIII R 21/04, BFH/NV 2006, 1839. BFH v. 14.6.1967 – VI R 215/66, BStBl. III 1967, 610. BFH v. 11.6.1987 – VIII B 16/87, BFH/NV 1987, 803.

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409

Kap. 3 Rz. 3.1398

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

VII. Mängel in der Urteilserlassphase 1. Mängel bei Übermittlung des Tenors

3.1398 Nach § 104 Abs. 2 FGO ist statt der Verkündung die Zustellung des Urteils zulässig. Wird der Weg der Zustellung gewählt, ist der Tenor der Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung an die Geschäftsstelle des Senats zu übermitteln. Zweck der Regelung ist es nicht nur, den Beteiligten alsbald Gewissheit über die getroffene Entscheidung zu verschaffen; sie dient vielmehr vornehmlich dazu, den notwendigen Zusammenhang zwischen mündlicher Verhandlung und Urteil zu wahren und sicherzustellen, dass der Inhalt des Urteils dem Gesamtergebnis des Verfahrens (einschließlich der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung) entspricht. Dieser zeitliche Zusammenhang ist in der Regel nicht gewahrt, wenn das Urteil erst nach Ablauf von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung gefällt wird.1 Wird die Zwei-Wochen-Frist nicht dokumentierbar gewahrt, leidet das Urteil an einem Verfahrensmangel und ist – auf eine entsprechende Rüge hin – aufzuheben.2 2. Mängel bei der Abfassung des Tenors

3.1399 Wesentlicher Bestandteil eines jeden Urteils ist der Tenor („die Urteilsformel“, § 105 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Aus der Urteilsformel muss sich – notfalls unter Heranziehung des übrigen Urteilsinhalts – entnehmen lassen, wie über die Anträge der Beteiligten entschieden worden ist.3 Ein Urteil leidet an einem schweren Verfahrensmangel und ist unwirksam, wenn der Tenor unklar ist und auch unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe nicht in einem bestimmten Sinne zweifelsfrei ausgelegt werden kann.4 Einen solchen Mangel hat das Revisionsgericht auch ohne Rüge von Amts wegen zu beachten, da es sich um einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens handelt.5 Einen Mangel bei der Abfassung des Tenors bejaht der BFH jedoch nur selten. 3. Mängel bei der Abfassung von Tatbestand und Entscheidungsgründen (Begründungsmängel)

3.1400 Immer wieder qualifiziert der BFH ein erstinstanzliches Urteil als verfahrensfehlerhaft, weil dem Urteil die gesetzlich vorgeschriebene Begründung fehlt. Nach § 105 Abs. 2 Nr. 4 und Nr. 5 FGO muss das Urteil insbesondere einen Tatbestand und Entscheidungsgründe enthalten. Aus diesen beiden Elementen setzt sich die gesetzlich vorgeschriebene Begründung zusammen.6 Nach § 119 Nr. 6 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Das ist dann der Fall, wenn die Urteilsgründe ganz oder zum Teil fehlen.7

1 2 3 4 5

Vgl. nur BFH v. 3.2.2016 – II B 67/15, BFH/NV 2016, 773. BFH v. 3.2.2016 – II B 67/15, BFH/NV 2016, 773. BFH v. 26.2.2014 – I R 47/13, BFH/NV 2014, 1395. BFH v. 27.7.1993 – VIII R 67/91, BStBl. II 1994, 469. BFH v. 19.2.1991 – VIII R 8/86, BFH/NV 1992, 175; v. 26.2.2014 – I R 47/13, BFH/NV 2014, 1395. 6 Ratschow in Gräber, § 119 FGO Rz. 35. 7 BFH v. 30.1.2017 – X B 83/16, BFH/NV 2017, 607.

410

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L. Praxisrelevante Mängel in finanzgerichtlichen Verfahren

Rz. 3.1403 Kap. 3

Fehlen die Entscheidungsgründe vollständig, ist das Urteil zwar wirksam, leidet wegen der fehlenden Entscheidungsgründe aber an einem Verfahrensmangel.1 Ein solcher Mangel ist in der Praxis freilich die absolute Ausnahme.

3.1401

Häufiger kommt es vor, dass die Urteilsgründe ganz oder zum Teil fehlen. Ein teilweises Fehlen kommt in Betracht bei Begründungsmängeln, die sich auf einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel beziehen.2 Dabei handelt es sich um die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden.3 Nach diesen Grundsätzen liegt ein Begründungsmangel dann vor, wenn das Urteil hinsichtlich eines solchen wesentlichen Streitpunkts nicht mit Gründen versehen ist.4 Entsprechendes gilt, wenn die Urteilsgründe den Prozessbeteiligten keine Kenntnis darüber vermitteln, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht.5 Dies erfordert nicht, dass jedes Vorbringen der Beteiligten im Einzelnen erörtert werden müsste; vielmehr liegt dieser Verfahrensmangel erst dann vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.6 Dementsprechend bejaht der BFH einen Begründungsmangel, wenn zwar eine Beweisaufnahme durchgeführt wurde, in den Entscheidungsgründen eine Beweiswürdigung aber gänzlich fehlt.7 Gleiches gilt, wenn sich die Beweiswürdigung auf die Abwägung von Indizien beschränkt und die Wertung einer durchgeführten Zeugenvernehmung gänzlich unterbleibt.8

3.1402

Einzelne Vorschriften sollen dem Gericht die Abfassung des Urteils erleichtern. So kann im Tatbestand wegen der Einzelheiten auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden (§ 105 Abs. 3 Satz 2 FGO). In Bezug auf die Entscheidungsgründe kann von einer weiteren Darstellung abgesehen werden, soweit das Gericht der Begründung des Verwaltungsakts oder der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt (§ 105 Abs. 5 FGO). Die in diesem Zusammenhang üblichen Verweisungen können jedoch im Einzelfall einen Verfahrensmangel konstituieren. So ist nach der Rechtsprechung ein Urteil i. S. des § 119 Nr. 6 FGO nicht mit Gründen versehen, wenn in seinen Entscheidungsgründen auf ein zwischen den Beteiligten ergangenes Urteil in einer Parallelsache Bezug genommen wird, jenes Urteil den Beteiligten aber nicht spätestens gleichzeitig zugestellt worden ist.9 Macht das Finanzgericht von den Begründungserleichterungen aus § 90a Abs. 4 bzw. § 105 Abs. 5 FGO Gebrauch und gibt es für die in Bezug genommene Einspruchsentscheidung ein unzutreffendes Datum an, so fehlen Entscheidungsgründe i. S. des § 119 Nr. 6 FGO jedenfalls dann, wenn ernsthaft die Möglichkeit in Betracht kommt, dass das Finanzgericht die in Bezug genommene Einspruchsentscheidung mit einer anderweitigen Einspruchsentscheidung verwechselt hat.10

3.1403

1 BFH v. 18.9.2014 – IX B 9, 19/14, BFH/NV 2015, 213. 2 BFH v. 22.1.2014 – V B 63/13, BFH/NV 2014, 702. 3 BFH v. 30.1.2017 – X B 83/16, BFH/NV 2017, 607; v. 22.1.2014 – V B 63/13, BFH/NV 2014, 702. 4 BFH v. 30.1.2017 – X B 83/16, BFH/NV 2017, 607. 5 BFH v. 9.2.2017 – X B 49/16, BFH/NV 2017, 721; v. 7.9.2011 – V B 54/11, BFH/NV 2011, 2091. 6 BFH v. 9.2.2017 – X B 49/16, BFH/NV 2017, 721. 7 BFH v. 28.8.2014 – X B 182/13, BFH/NV 2014, 1899; v. 4.7.2006 – X B 135/05, BFH/NV 2006, 179. 8 BFH v. 20.4.2004 – IV B 113/02, BFH/NV 2004, 1411. 9 BFH v. 12.5.2005 – IV B 146/04, BFH/NV 2005, 1825. 10 BFH v. 18.10.2006 – II B 91/05, BFH/NV 2007, 256.

Hendricks

411

Kap. 3 Rz. 3.1404

Rechtsschutz vor dem Finanzgericht

3.1404 Ein Mangel bei der Abfassung des Urteils liegt auch vor, wenn das Urteil zu spät abgefasst wurde. Das ist auch dann der Fall, wenn ein im Anschluss an die mündliche Verhandlung verkündetes Urteil nicht alsbald nach seiner Verkündung mit Tatbestand und Entscheidungsgründen schriftlich niedergelegt und der Geschäftsstelle unterschrieben von den Richtern übergeben worden ist (§ 105 Abs. 4 Satz 3 FGO). Ein Urteil ist nicht ordnungsgemäß mit Gründen versehen, wenn es nicht innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst der Geschäftsstelle übergeben worden ist.1

1 BFH v. 7.11.2002 – VII R 38/02, BFH/NV 2003, 626; v. 9.9.1997 – VII R 83/97, BFH/NV 1998, 200; v. 18.4.1996 – V R 25/95, BStBl. II 1996, 578.

412

Hendricks

Kapitel 4 Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

I. Bedeutung des Bundesfinanzhofs . .

4.1

4. Beendigung des Revisionsverfahrens auf andere Weise . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . .

4.4

C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

A. Vorbemerkung

B. Revisionsverfahren I. Ziel und praktische Bedeutung . . . .

4.9

II. Gegenstand einer Revision . . . . . . . .

4.12

III. Zulassungserfordernis . . . . . . . . . . .

4.15

IV. Einlegung der Revision 1. Notwendigkeit der Einlegung . . . . . 2. Adressat der Revision und Einlegungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . V. Begründung der Revision 1. Begründungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt der Revisionsbegründung . . . a) Revisionsantrag . . . . . . . . . . . . . . b) Revisionsgründe. . . . . . . . . . . . . . c) Mindestanforderungen . . . . . . . . 3. Revisionsgründe im Einzelnen a) Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . b) Bindung an die tatsächlichen Feststellungen. . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsverletzung in Form eines Verfahrensfehlers . . . . . . . . . . . . . d) Absolute Revisionsgründe . . . . . . aa) Keine vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts . . . . . bb) Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder mit Erfolg abgelehnten Richters . . . . . . . cc) Verletzung des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Mangelhafte Vertretung . . . . ee) Verletzung der Öffentlichkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . ff) Fehlen der Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.16 4.17 4.19 4.27 4.31 4.32 4.41 4.44 4.48 4.53 4.59 4.67 4.68 4.71 4.72 4.78 4.81 4.84

VI. Revisionserwiderung 1. „Einfache“ Revisionserwiderung . . . 2. Anschlussrevision . . . . . . . . . . . . . . .

4.89 4.92

VII. Weiteres Verfahren 1. Verfahrensgang und anwendbare Vorschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mündliche Verhandlung . . . . . . . . . 3. Entscheidung über die Revision. . . .

4.103 4.106 4.115

4.120

I. Ziel und praktische Bedeutung . . . .

4.124

II. Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.126

III. Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde 1. Form und Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt der Beschwerdebegründung a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Überblick über die Zulassungsgründe aa) Grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) . . . bb) Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO). . . . cc) Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO). . . . dd) Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) . . . . . . . . . c) Darlegung der Zulassungsgründe aa) Grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) . . . bb) Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO). . . . cc) Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO) . . . . . . . . . dd) Greifbare Gesetzeswidrigkeit (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) . . . IV. Weiteres Verfahren 1. Verfahrensgang und anwendbare Vorschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde. . . . . . . . . . . . 3. Beendigung des Beschwerdeverfahrens auf andere Weise . . . . . . . . .

4.130 4.134

4.136 4.139 4.142 4.147 4.155 4.160 4.165 4.166 4.172 4.176

4.182 4.186 4.190

D. Beschwerdeverfahren I. Statthaftigkeit und praktische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.195

II. Einlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.207

III. Weiteres Verfahren . . . . . . . . . . . . . .

4.214

Hendricks

413

Kap. 4 Rz. 4.1

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

A. Vorbemerkung Literatur: Beermann, Neugestaltung der Revisionszulassung nach der FGO, DStZ 2001, 155; Herrmann, Die Zulassung der Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde im Steuerprozess, 1986; Klein/Ruban, Der Zugang zum Bundesfinanzhof – Nichtzulassungsbeschwerde/Revision, Heidelberg 1986; Lange, Neuregelung des Zugangs zum BFH – Das 2. FGO-Änderungsgesetz, NJW 2001, 1098; Lange, Die Nichtanwendung vonUrteilen des BFH durch die Finanzverwaltung – Nichtanwendungserlass und Nichtveröffentlichung, NJW 2002, 3657; Lange, Ist die Reform der Revisionszulassungsgründe gescheitert?, StuW 2006, 366; Nacke, Verfahren vor dem BFH – Anforderungen und Fallstricke, NWB 2016, 2054 und NWB 2016, 2131; Ruban, Der Rechtsweg zum Bundesfinanzhof, StVj 1991, 142; Rüsken, Rechtsbehelfe gegen willkürliche Gerichtsentscheidungen – Mindeststandards der Überprüfbarkeit gerichtlicher Entscheidungen, DStZ 2000, 815; Rüsken, Bedarf das Revisionszulassungsrecht einer weiteren Novellierung?, DStZ 2004, 334; Rüsken/Bleschick, Revisionszulassung und Revision – eine Handreichung zu deren Begründung, DStR Beihefter 2015 zu Nr 35, 45; Harald Schaumburg, Reform des finanzgerichtlichen Revisionsrechts, StuW 1999, 68; Seer, Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193; Suhrbier-Hahn, Die Reform der Finanzgerichtsordnung zum 1.1.2001, DStR 2001, 467; von Wedelstädt, Der Weg zum Bundesfinanzhof, AO-StB 2005, 87, 110, 143.

I. Bedeutung des Bundesfinanzhofs 4.1 Über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Finanzgerichte entscheidet ausschließlich der BFH (§ 36 FGO). Er ist die höchste Instanz der Finanzgerichtsbarkeit. Der BFH gehört zu den obersten Gerichtshöfen des Bundes (Art. 95 Abs. 1 GG) und hat seinen Sitz in München (§ 2 FGO). Seine Zuständigkeit erstreckt sich primär1 auf die Steuer- und Zollsachen, nicht aber auf Steuerstrafverfahren. Der BFH entscheidet – ebenso wie die Finanzgerichte – durch Senate (§ 5 Abs. 2 Satz 1 FGO). Ein Geschäftsverteilungsplan regelt die Verteilung der Geschäfte auf die einzelnen Senate.2 Aktuell wird durch elf BFH-Senate Recht gesprochen.3

4.2 Der BFH hat in erster Linie die Aufgabe, im Rahmen der Zuständigkeit der Finanzgerichtsbarkeit die Rechtseinheit zu wahren und die Fortbildung des Rechts zu sichern (vgl. § 115 Abs. 2 FGO). Mit der Überprüfung der Einzelfallentscheidungen ist naturgemäß auch die Gewährung von Individualrechtsschutz verbunden, der jedoch nach Auffassung des historischen Gesetzgebers nicht zu den primären Aufgaben des BFH zählt.4

4.3 Die Senate entscheiden im Wesentlichen über Revisionen (Rz. 4.9 ff.), über Nichtzulassungsbeschwerden (Rz. 4.124 ff.) sowie über Beschwerden nach § 128 FGO (Rz. 4.195 ff.).5 Hinsichtlich der Fallzahlen wird die Praxis der BFH-Richter seit einigen Jahren nicht von Revisionsverfahren, sondern von Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren geprägt.6 Der BFH hat sich vom Revisionsgericht zum Beschwerdegericht entwickelt.7

1 Darüber hinaus entscheidet der BFH über Kindergeld, Investitionszulage und bestimmte berufsrechtliche Angelegenheiten der Steuerberater. 2 Brandis in Tipke/Kruse, § 10 FGO Rz. 2; Müller-Horn in Beermann/Gosch, § 10 FGO Rz. 3 m. w. N. 3 Der jeweils aktuelle Geschäftsverteilungsplan ist abrufbar unter www.bundesfinanzhof.de. 4 Vgl. BR-Drucks. 440/00, S. 11 f.; vgl. BFH (Hrsg.), 60 Jahre Bundesfinanzhof, 2010, S. 47 f. 5 Daneben entscheidet der BFH vor allem über Entschädigungsklagen und Anhörungsrügen. 6 So standen im Jahr 2016 1.325 Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden insgesamt 487 Entscheidungen über Revisionen gegenüber, vgl. den Jahresbericht des BFH für das Jahr 2016. 7 Kritisch Seer, StuW 2003, 193 (200 f.).

414

Hendricks

A. Vorbemerkung

Rz. 4.8 Kap. 4

II. Vertretungszwang Literatur: Loose, Die Vertretung im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2008, 252; Mack, Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess, in FS Streck, 2011, S. 337; Spindler, Die Neuregelung des Vertretungsrechts im finanzgerichtlichen Verfahren, DB 2008, 1283.

Gem. § 62 Abs. 4 FGO1 muss sich jeder Beteiligte vor dem BFH durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind nur Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer (§ 62 Abs. 4 i. V. m. § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO) zugelassen. Außerdem sind gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 3 Nr. 2 und 3 StBerG zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen befugte Steuerberatungs-, Rechtsanwalts-, Wirtschaftsprüfungs-, Buchprüfungs- und Partnerschaftsgesellschaften zur Vertretung vor dem BFH berechtigt, sofern sie durch einen o.g. Berufsangehörigen vertreten werden

4.4

Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden wie die Finanzämter können sich durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt (d. h. durch Volljuristen) vertreten lassen (§ 62 Abs. 4 Satz 4 FGO). Die Vertretungsberechtigung kann mithin nicht im Wege der Auslegung auf Spitzenbeamte des gehobenen Dienstes ausgedehnt werden.2

4.5

Der Vertretungszwang vor dem BFH bedeutet, dass nicht ordnungsgemäß vertretene Beteiligte nicht postulationsfähig sind. Ihnen fehlt damit die Fähigkeit, vor dem BFH rechtswirksam prozessual handeln und verhandeln zu können, mit der Folge, dass ihre Prozesserklärungen unbeachtlich sind.3

4.6

Der dargestellte Vertretungszwang gilt nicht nur für die Einlegung und Begründung der Revision, sondern für alle Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem BFH eingeleitet wird,4 also auch für die Einlegung einer Beschwerde einschließlich der Nichtzulassungsbeschwerde, darüber hinaus für den Antrag auf Verlängerung der Revisionsfrist,5 für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand6 und den Antrag auf mündliche Verhandlung nach Gerichtsbescheid.7 Auch die Anhörungsrüge i. S. des § 133a FGO unterliegt dem Vertretungszwang, wenn für die beanstandete Entscheidung – z. B. ein Beschluss des BFH – ihrerseits Vertretungszwang galt.8

4.7

Für Beigeladene besteht zwar grundsätzlich auch Vertretungszwang, da sie Beteiligte i. S. des § 57 FGO sind. Dies kann aber nur gelten, wenn sie Anträge stellen und Ausführungen ma-

4.8

1 Bis zum 30.6.2008: § 62a FGO. 2 BFH v. 10.5.1977 – VII R 86/76, BStBl. II 1977, 593; Brandt in Beermann/Gosch, § 62 FGO Rz. 177. 3 BFH v. 3.2.2014 – I S 3/14, BFH/NV 2014, 872; Stapperfend in Gräber, § 62 FGO Rz. 73 f. 4 So ausdrücklich BFH v. 6.4.2011 – IX S 15/10, BFH/NV 2011, 1177; ebenso z. B. Brandt in Beermann/Gosch, § 62 FGO Rz. 126. 5 BFH v. 20.10.1982 – I R 61/82, BStBl. II 1983, 134; v. 24.6.2015 – I R 13/13, BStBl. II 2016, 971. 6 BFH v. 19.10.1998 – X S 10/98, BFH/NV 1999, 503. 7 BFH v. 6.2.2003 – VIII R 80/01, BFH/NV 2003, 505. 8 BFH v. 29.6.2005 – VII S 26/05, BFH/NV 2005, 1848; v. 25.5.2009 – V B 135/08, BFH/NV 2009, 1450.

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Kap. 4 Rz. 4.9

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

chen wollen.1 Kein Vertretungszwang besteht ferner für Anträge auf Prozesskostenhilfe zur Durchführung eines Nichtzulassungsbeschwerde- oder Revisionsverfahrens.2

B. Revisionsverfahren I. Ziel und praktische Bedeutung 4.9 Im Rahmen eines Revisionsverfahrens entscheidet der BFH über die richtige Anwendung von Bundesrecht durch die Finanzgerichte. Er hat dabei primär dafür zu sorgen, im Rahmen der Rechtsprechung der Finanzgerichtsbarkeit die Rechtseinheit zu wahren und die Fortbildung des Rechts zu sichern. Innerhalb dieser Aufgaben gewährt er bei der Überprüfung der Einzelfallentscheidung naturgemäß auch Individualrechtsschutz. Er ist insofern reine Rechtsinstanz.

4.10 Mit der Revision kann nur erreicht werden, dass das Urteil des Finanzgerichts auf die Verletzung von Bundesrecht oder unter bestimmten, im finanzgerichtlichen Verfahren in der Regel nicht vorhandenen Voraussetzungen auf die Verletzung von Landesrecht hin nachgeprüft wird. Die Revision kann also nur auf Rechtsfehler oder Verfahrensmängel gestützt werden. Neue Tatsachen und Beweismittel können im Revisionsverfahren nicht vorgebracht werden. Das Revisionsgericht ist grundsätzlich an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, wie sich aus § 118 Abs. 2 FGO ergibt. Es hat allerdings – auf entsprechende Rüge – zu prüfen, ob die Entscheidungsgrundlagen des Finanzgerichts verfahrensrechtlich korrekt zustande gekommen sind.3

4.11 Beim BFH werden jährlich im Schnitt ca. 600 Revisionen eingelegt.4 Statistisch gesehen sind die Erfolgsaussichten einer Revision als relevant zu bezeichnen. So waren nach den Geschäftsberichten des BFH in den letzten Jahren im Schnitt etwa 32 % bis 42 % aller Revisionen von Erfolg gekrönt.5

II. Gegenstand einer Revision 4.12 Gem. § 115 Abs. 1 FGO kann eine Revision grundsätzlich nur gegen Urteile der Finanzgerichte eingelegt werden. Gegen Beschlüsse kommt als Rechtsmittel eine Beschwerde zum BFH in Betracht (vgl. § 128 FGO und Rz. 4.195 ff.).

4.13 Zu den Urteilen gehören nicht nur die Endurteile (§ 95 FGO), sondern auch die Grundurteile (§ 99 Abs. 1 FGO), Teilurteile (§ 98 FGO), Zwischenurteile (§ 99 Abs. 2 FGO) und

1 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 62 FGO Rz. 42; Stapperfend in Gräber, § 62 FGO Rz. 66; a. A. Brandt in Beermann/Gosch, § 62 FGO Rz. 120. 2 BFH v. 27.1.2003 – II S 2/01, BFH/NV 2003, 793; v. 3.1.2014 – VII B 193/13, BFH/NV 2014, 700. 3 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 19. 4 In 2014: 667, in 2015: 610, in 2016: 551, vgl. jeweils den Jahresbericht des BFH (veröffentlicht unter www.bundesfinanzhof.de). 5 In 2014: 42 %, in 2015: 41 %, in 2016: 32 %, vgl. jeweils den Jahresbericht des BFH (veröffentlicht unter www.bundesfinanzhof.de).

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B. Revisionsverfahren

Rz. 4.15 Kap. 4

Ergänzungsurteile (§ 109 FGO).1 Darüber hinaus sind als Urteile i. S. des § 115 Abs. 1 FGO auch Gerichtsbescheide anzusehen, die gem. § 90 Abs. 3 FGO als Urteil wirken; außerdem Gerichtsbescheide, in denen gem. § 90a Abs. 2 Satz 2 FGO die Revision zugelassen worden ist.2 Wird allerdings nach dem Erlass eines Gerichtsbescheides neben der Einlegung der Revision mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht beantragt, so wird die Revision gegenstandslos, es findet vielmehr gem. § 90a Abs. 2 Satz 3 FGO eine mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht statt. Gegen Gerichtsbescheide des Vorsitzenden oder des Berichterstatters (§§ 79a Abs. 2, 4, 90a FGO) ist – abweichend von § 90a Abs. 2 FGO – nur der Antrag auf mündliche Verhandlung statthaft.3

4.14

III. Zulassungserfordernis Literatur: Beermann, Neugestaltung der Revisionszulassungsgründe und „Einzelfallgerechtigkeit“ durch „Beseitigung von Fehlurteilen“, DStR 2005, 450; Beermann, Offensichtliche Rechtsfehler und Revisionszulassung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, DStZ 2006, 71; Kempermann, Fehler von erheblichem Gewicht als Grund für die Zulassung der Revision, DStZ 2005, 772; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl. 2010; Lange, Die Neufassung des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO – Zur Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelbegründungspflicht nach Gewährung von Prozesskostenhilfe, DB 2004, 2125; Lange, Die Rechtsstellung des Beigeladenen im nachfolgenden NZB-Verfahren DStZ 2007, 355; List, Die Nichtzulassungsbeschwerde – Hat sich die Neuregelung bewährt?, DB 2002, 1069; List, Probleme der Nichtzulassungsbeschwerde, DB 2003, 572; Roth, Die Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof, DZWIR 2010, 61; Roth, Die Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof, NBW 2010, 276; Roßnagel, Das elektronische Verwaltungsverfahren – Das dritte Verwaltungsverfahrensänderungsgesetz, NJW 2003, 469; Ruban, Der qualifizierte Rechtsfehler als Revisionszulassungsgrund – unterschiedliche Tendenzen in der Rechtsprechung des BFH und des BGH, DStR 2005, 2033; Nöcker, Die Nichtzulassungsbeschwerde zum BFH, AO-StB 2014, 310; Schmid, Die Nichtzulassungsbeschwerde – häufige Fehler und ihre Vermeidung, DStR 1993, 1284; Seer, Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193; Seiler, Nachträglicher Wegfall von Revisionszulassungsgründen, NJW 2003, 2290; von Wedelstädt, Die Tücken der Nichtzulassungsbeschwerde, DB 1991, 1899; von Wedelstädt, Der Weg zum Bundesfinanzhof (I) – Zulassung durch das Finanzgericht: Zulassungsgründe, Verfahren, AO-StB 2005, 87; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1991.

Die Durchführung eines Revisionsverfahrens setzt voraus, dass zuvor der Weg für ein solches Verfahren durch Zulassung der Revision eröffnet worden ist. Sehr häufig erfolgt die Revisionszulassung durch das Finanzgericht selbst. Hat das Finanzgericht die Revision nicht ausdrücklich zugelassen (z. B. weil das finanzgerichtliche Urteil keine Entscheidung über die Revisionszulassung enthält), kann die unterlegene Seite versuchen, eine Revisionszulassung im Rahmen eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens durchzusetzen (§ 116 FGO, hierzu ausführlich Rz. 4.124 ff.). In der Praxis basieren rund drei Viertel der beim FH anhängigen Revisionsverfahren auf einer Revisionszulassung durch das Finanzgericht, in ca. einem Viertel der Revisionsverfahren wurde die Revision zuvor auf eine Nichtzulassungsbeschwerde hin vom BFH selbst zugelassen.4 1 Vgl. Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 4 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 21 m. w. N. 2 Vgl. Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 5. 3 BFH v. 3.11.1993 – II R 77/93, BStBl. II 1994, 118; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 22. 4 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.5. Rechtspflege Finanzgerichte 2016, S. 33.

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417

4.15

Kap. 4 Rz. 4.16

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

IV. Einlegung der Revision Literatur: Binnewies, Rechtbehelfe nach beiderseitigem Teilunterliegen im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 2001, 342; Brandt, Anforderungen an die Schriftform der Vollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren nach dem Beschluß des GmSOGB v. 5.4.00, DStZ 2000, 893; Brandt, Elektronisch übermittelte Schriftsätze im FG-Verfahren, AO-StB 2001, 197; Gilles, Rechtsmitteleinlegung, Rechtsmittelbegründung und nachträgliche Parteidispositionen über das Rechtsmittel, AcP 177 (1978), 189; Gräber, Statthaftigkeit, Einlegung und Begründung der Revision (§§ 115–120 FGO), DStR 1971, 21; Henseler, Fristgerechte Revisionseinlegung, DStR 2007, 1612; Jäger, Computerfax und die Tradition der eigenhändigen Unterschrift – Zwei Welten stoßen aufeinander, DStZ 2004, 408; Kornblum, Für die Zulässigkeit bedingter Rechtsmitteleinlegungen und -begründungen, NJW 2006, 2888; Kornblum, Sind Rechtsmittel wirklich schlechthin bedingungsfeindlich?, NJW 1997, 922; Lange, Bezugnahme im Schriftsatz, NJW 1989, 438; Nieland, Fristen im Revisionsrecht, AO-StB 2001, 103; Nöcker, Die E-Mail im Einspruchs- und Klageverfahren, AO-StB 2007, 267.

1. Notwendigkeit der Einlegung

4.16 Eine Revision muss nur in den Fällen, in denen das Finanzgericht die Revision zugelassen hat, eingelegt werden. Hat nämlich das Finanzgericht die Revision nicht zugelassen, ist sie aber vom BFH auf Nichtzulassungsbeschwerde hin zugelassen worden, wird das Beschwerdeverfahren gem. § 116 Abs. 7 FGO grundsätzlich automatisch als Revisionsverfahren weitergeführt. Einer Revisionseinlegung durch den – mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreichen – Beschwerdeführer bedarf es nicht.1 2. Adressat der Revision und Einlegungsfrist

4.17 Die Revision ist gem. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO beim BFH, nicht beim Finanzgericht einzulegen. Durch die Revisionseinlegung beim Finanzgericht wird also die Revisionsfrist nicht gewahrt. Wird die Revision zwar innerhalb der Frist an das Finanzgericht gerichtet und geht der weitergeleitete Schriftsatz nach Fristablauf beim BFH ein, dann ist die Revision verspätet eingelegt und wird vom BFH als unzulässig zu verwerfen sein.2 In diesem Fall kommt zwar eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht (§ 56 FGO). Sie kann aber nicht darauf gestützt werden, dass der Revisionskläger nicht gewusst habe, dass die Revision beim BFH einzulegen ist. Eine solche Rechtsunkenntnis schließt ein Verschulden i. S. des § 56 FGO nicht aus, zumal die Revision wirksam nur von einem Rechtskundigen eingelegt werden kann.3

4.18 Die Revision ist gem. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen. Die Frist beginnt mit der ordnungsgemäßen Zustellung des vollständigen Urteils. Zu einem vollständigen Urteil gehören neben Rubrum, Urteilsformel und Kostenentscheidung Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung. Inhaltliche Mängel in Tatbestand und/oder Entscheidungsgründen, die den absoluten Revisionsgrund des § 119 Nr. 6 FGO („die Entscheidung ist nicht mit Gründen versehen“, vgl. Rz. 4.84 ff.) begründen, machen das Urteil zwar „unvollständig,“ aber nicht nichtig; d. h. trotz solcher Begründungsmängel wird die Revisionsfrist mit der Zustellung dieses Urteils in Lauf gesetzt.4 Das gilt selbst dann, wenn in dem Urteil in unzulässiger Weise auf ein anderes Urteil 1 Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 8.1. 2 Vgl. BFH v. 2.12.1988 – X R 92/88, BStBl. II 1989, 147; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 46, 51 ff. 3 Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 3; vgl. Rz. 4.4 ff. 4 Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 72.

418

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.22 Kap. 4

Bezug genommen worden ist.1 Auch die Berichtigung eines Urteils hat grundsätzlich keinen Einfluss auf den Lauf der Revisionsfrist, es sei denn, Tenor und Entscheidungsgründe widersprechen sich hinsichtlich der Zulassung der Revision.2 3. Form und Inhalt Gem. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Revision schriftlich einzulegen. Dies erfordert grundsätzlich die eigenhändige (handschriftliche) Unterschrift des Prozessbevollmächtigten. Denn das Schriftformerfordernis soll gewährleisten, dass aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können; außerdem muss feststehen, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Wollen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist.3 Das Erfordernis der Schriftlichkeit ist grundsätzlich nur dann gewahrt, wenn der Schriftsatz unterschrieben, d. h. handschriftlich unterzeichnet ist.4 Das Fehlen der Unterschrift kann ausnahmsweise unschädlich sein, wenn sich aus anderen Umständen zweifelsfrei ergibt, dass die Revision mit Wissen und Wollen des (angegebenen) Absenders gefertigt und abgesendet worden ist.5

4.19

Aber auch die Einlegung per Telefax oder Computerfax genügt nach der Rechtsprechung dem Schriftformerfordernis, wenn das fragliche Dokument mit einer Unterschrift versehen übermittelt wurde.6 Enthält ein Computerfax den Zusatz, dass der benannte Urheber wegen der gewählten Übertragungsform nicht unterzeichnen kann, dann kann dies nach einer Entscheidung des BFH den Anforderungen an die Erfüllung der Schriftform genügen.7

4.20

Es sollte darauf geachtet werden, dass die Revisionsschrift ordnungsgemäß und vorsorglich auch lesbar unterschrieben ist. Wegen des gem. § 62 Abs. 4 FGO vor dem BFH geltenden Vertretungszwangs kann die Revision nur von einer vor dem BFH vertretungsberechtigten Person wirksam eingelegt werden (vgl. Rz. 4.4 ff.). Diese Person muss die Revisionsschrift deshalb auch unterzeichnen.

4.21

Aus § 52a FGO folgt die Möglichkeit, eine Revision elektronisch (d. h. per E-Mail) einzulegen. Dabei ist zu beachten, dass das elektronische Dokument einem von Gesetzes wegen „schriftlich“ (d. h. eigenhändig) zu unterzeichnenden Schriftstück nur dann gleichsteht, wenn es mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach § 2 Nr. 3 des Signaturgesetzes (SigG) versehen ist.8 Die Einlegung einer Revision mit einfacher E-Mail ist demgegenüber nicht statthaft.9

4.22

1 BFH v. 31.7.1990 – VII R 60/89, BStBl. II 1990, 1071; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 72; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 23; a. A. Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 22. 2 BFH v. 27.7.2004 – IX R 44/01, BFH/NV 2005, 188; Lange in HHSp, § 120 FGO Rz. 76. 3 Lange in HHSp, § 120 FGO Rz. 23 m. w. N. 4 Beschlüsse des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 30.4.1979 – GmSOGB 1/78, NJW 1980, 172, und v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 2340, 2341, sowie des Großen Senats des BFH v. 5.11.1973 – GrS 2/72, BStBl. II 1974, 242; BFH v. 17.8.2010 – X B 190/09, BFH/NV 2010, 2285. 5 So ausdrücklich BFH v. 17.8.2010 – X B 190/09, BFH/NV 2010, 2285. 6 Lange in HHSp, § 120 FGO Rz. 34 ff.; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO, Rz. 43.4 m. w. N. 7 BFH v. 9.11.2000 – I S 6/00, BFH/NV 2001, 479; vgl. im Einzelnen zur Wahrung der Schriftform auch Rz. 3.30 ff. 8 BFH v. 26.7.2011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925. 9 Lange in HHSp, § 120 FGO Rz. 41.

Hendricks

419

Kap. 4 Rz. 4.23

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

4.23 Von einer eigenhändigen Unterschrift kann nur bei einem die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden, individuellen Schriftzug ausgegangen werden. Diesen Anforderungen ist allerdings genügt, wenn der in diesem Sinne individuell gestaltete Schriftzug die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen lässt, auch wenn er nur flüchtig geschrieben ist.1 Eine bloße Paraphe reicht als Unterschrift nicht aus.2

4.24 Enthält der innerhalb der Revisionsfrist beim BFH eingegangene Schriftsatz nach den vorgehend dargestellten Grundsätzen keine eigenhändige Unterschrift des Bevollmächtigten, sondern weist den Namen lediglich in Maschinenschrift aus, ist die Revision bereits aus diesem Grund unzulässig. Eine nach Ablauf der Revisionsfrist nachgereichte eigenhändig unterschriebene Ausfertigung der Revisionsschrift ist unbeachtlich und kann der Revision nicht mehr zur Zulässigkeit verhelfen.3

4.25 Die Revision muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Das geschieht regelmäßig durch Angabe des Gerichts, das die Entscheidung gefällt hat, des Urteilsdatums, des Aktenzeichens und der Sache, in der das Urteil ergangen ist. Es muss klar erkennbar und zweifelsfrei sein, gegen welche Entscheidung sich der Revisionskläger wendet und dass insoweit Irrtümer ausgeschlossen sind.4 Mehr verlangt der Zweck der Vorschrift nicht. Diese Angaben müssen innerhalb der Revisionsfrist erfolgen. Außerdem müssen die Beteiligten des Revisionsverfahrens angegeben werden.5

4.26 Die Revisionsfrist ist eine Ausschlussfrist.6 Ihre Versäumung hat deshalb grundsätzlich den Verlust der Revision zur Folge. In diesem Fall muss die Revision als unzulässig verworfen werden. Allerdings kann unter den Voraussetzungen des § 56 FGO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommen. Ist die Frist zur Einlegung der Revision schuldlos versäumt, darf Wiedereinsetzung aber nur dann gewährt werden, wenn die Einlegung der Revision innerhalb der Antragsfrist des § 56 Abs. 2 FGO (zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses) nachgeholt wird, innerhalb dieser Frist also die Revision beim BFH eingeht.7

V. Begründung der Revision Literatur: Gräber, Die Revisionsbegründung im finanzgerichtlichen Verfahren, DStZ/A 1967, 309; Gräber, Statthaftigkeit, Einlegung und Begründung der Revision (§§ 115-120 FGO), DStR 1971, 21; Lücke, Begründungszwang und Verfassung – Zur Begründungspflicht der Gerichte, Behörden und Parlamente, 1987; Müller, Begründungsfehler bei Einlegen der Grundsatzrevision, AO-StB 2010, 308; Müller, Begründungsfehler bei der Divergenzrevision – Voraussetzungen für die erfolgreiche Revision zur Rechtsfortbildung, zur Sicherung einheitlicher Rechtsprechung und wegen gravierender Rechtsanwendungsfehler, AO-StB 2011, 49; Pump, Die Revision im finanzgerichtlichen Verfahren – Antrag, Begründung und typische Fehlerquellen, INF 1993, 343; von Wedelstädt, Der Weg zum Bundes1 Vgl. BFH v. 2.8.2002 – IV R 14/01, BFH/NV 2002, 1604 und v. 16.3.1999 – X R 41/96, BStBl. II 1999, 565. 2 BFH v. 19.12.2012 – I R 81/11, BFH/NV 2013, 698; v. 2.8.2002 – IV R 14/01, BFH/NV 2002, 1604. 3 Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 43. 4 BFH v. 25.2.1997 – VIII R 129/95, BFH/NV 1997, 542. 5 Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 14; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 25. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 18. 7 Vgl. nur BFH v. 23.8.2016 – IX R 15/16, BFH/NV 2017, 47; v. 10.3.2000 – VII R 2/00, BFH/NV 2000, 1117; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 30; zur Wiedereinsetzung im Einzelnen vgl. auch Rz. 3.541 ff.

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B. Revisionsverfahren

Rz. 4.30 Kap. 4

finanzhof (III) – Begründung der Revision, AO-StB 2005, 143; Weigell, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ohne Begründung auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand, DStR 1995, 1334.

1. Begründungsfrist Die Revision ist gem. § 120 Abs. 2 FGO innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Wurde die Revision auf eine Nichtzulassungsbeschwerde hin zugelassen, beträgt die Begründungsfrist einen Monat nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision. In jedem Falle ist die Begründung – ebenso wie die Einlegung – beim BFH einzureichen. Eine etwaige Einreichung beim Finanzgericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, reicht zur Fristwahrung nicht aus.1

4.27

Die Revisionsbegründungsfrist ist keine Ausschlussfrist; sie ist verlängerbar. Sie kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Senatsvorsitzenden verlängert werden (§ 120 Abs. 2 Satz 3 FGO). Ein Verlängerungsantrag, der erst nach Fristablauf beim BFH eingeht, kann keinen Erfolg haben.2 Hier kann nur ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand helfen. Allerdings kommt eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Begründungsfrist nur unter Nachholung der versäumten Revisionsbegründung innerhalb der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist nach § 56 Abs. 2 FGO in Betracht.3 Eine gesonderte Wiedereinsetzung hinsichtlich des verspäteten Antrags auf Fristverlängerung sieht das Gesetz nicht vor.4 Der Antragsteller kann im Übrigen nicht darauf vertrauen, dass seinem Fristverlängerungsantrag auch stattgegeben wird. Deshalb empfiehlt es sich, sich rechtzeitig darüber zu informieren, ob der Antrag Erfolg hat und die Begründungsfrist verlängert wird. Die Geschäftsstelle des zuständigen Senates erteilt insoweit regelmäßig telefonisch Auskunft über die verfügte aber noch nicht schriftlich bekanntgegebene Fristverlängerung.

4.28

Schon aus Gründen der besseren Dokumentierbarkeit sollte der Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist schriftlich gestellt werden.5 Zwar enthält die FGO keine Vorschriften hinsichtlich der Begründung eines Fristverlängerungsantrags. Insoweit greifen aber über § 155 FGO die Vorschriften der ZPO ein, hier § 224 Abs. 2 ZPO. Danach müssen für eine Fristverlängerung erhebliche Gründe glaubhaft gemacht werden. Das können z. B. die besondere Schwierigkeit der Rechtslage, vorübergehende Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten aber auch ein Wechsel des Bevollmächtigten zwischen den Instanzen bei mehr als durchschnittlicher Schwierigkeit der Sache sein.6

4.29

Die Begründungsfrist kann auch mehrfach verlängert werden.7 Allerdings sollte in solchen Fällen der – weitere – Fristverlängerungsantrag besonders sorgfältig begründet werden.

4.30

1 Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 38; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 113. 2 BFH v. 16.5.2000 – VII R 112/99, BFH/NV 2000, 1479 und v. 14.8.1997 – III R 35/96, BFH/NV 1998, 332; Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 73. 3 BFH v. 27.10.2000 – V R 16/00, BFH/NV 2001, 608; Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 74. 4 BFH v. 8.11.2012 – VI R 25/13, BFH/NV 2013, 235; v. 27.10.2000 – V R 16/00, BFH/NV 2001, 608. 5 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 73; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 133. 6 Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 131. 7 Vgl. BFH v. 3.9.2002 – I R 59/01, BFH/NV 2003, 181; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 52; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 132; Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 78.

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421

Kap. 4 Rz. 4.31

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

2. Inhalt der Revisionsbegründung

4.31 Die Revisionsbegründung muss gem. § 120 Abs. 3 FGO inhaltlich Folgendes enthalten: – die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt wird (Revisionsanträge), – die Angabe der Revisionsgründe, und zwar – die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt; – soweit die Revision auf einen Verfahrensmangel gestützt wird: die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben. a) Revisionsantrag

4.32 § 120 Abs. 3 Nr. 1 FGO definiert den Revisionsantrag als „Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt wird“. Eines förmlichen Antrages bedarf es insoweit nicht.1 Vielmehr reicht es aus, dass sich aus der Revisionsbegründung eindeutig ergibt, inwieweit sich der Revisionskläger durch das angefochtene Urteil beschwert fühlt und inwieweit er eine Änderung des angefochtenen Urteils des Finanzgerichts begehrt.2 Das Fehlen eines ausdrücklichen Revisionsantrags steht der Zulässigkeit der Revision mithin nicht entgegen, wenn das Begehren des Rechtsmittelführers aus seinen inhaltlichen Ausführungen eindeutig erkennbar wird.3 Nach der Rechtsprechung kann auf einen förmlichen Revisionsantrag verzichtet werden, wenn sich aus der Begründung das Begehren des Revisionsklägers unzweideutig ergibt.4

4.33 Um nicht darauf angewiesen zu sein, dass der entscheidungszuständige Senat des BFH im Wege der Auslegung aus der Revisionsbegründung die richtigen Schlüsse zieht, sollte der Begründungsschriftsatz einen förmlichen Revisionsantrag enthalten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich der Revisionsantrag immer mit dem eigentlichen Gegenstand des Revisionsverfahrens – dem erstinstanzlichen Urteil – auseinandersetzen muss.5 Um den Anforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 1 FGO zu genügen, reicht es nicht aus, lediglich die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zu beantragen. Mindestens unter Berücksichtigung der Revisionsbegründung (hierzu nachfolgend Rz. 4.41 ff.) sollte deutlich werden, inwieweit das erstinstanzliche Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt wird.6 Ist das erstinstanzliche Urteil zu verschiedenen Verwaltungsakten ergangen, sollte der Revisionsschriftsatz erkennen lassen, inwieweit – d. h. in Bezug auf welche Verwaltungsakte – die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils beantragt wird. Wurde ein angefochtener Bescheid während des erstinstanzlichen Verfahrens durch einen anderen Bescheid ersetzt, der zum Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens wurde, muss sich mindestens aus der Revisionsbegründung ergeben, was mit dem

1 So ausdrücklich BFH v. 7.7.2004 – X R 24/03, BStBl. II 2004, 975; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 53 m. w. N. 2 BFH v. 4.8.2004 – II R 33/03, BFH/NV 2005, 241 und v. 4.11.1997 – VIII R 19/95, BFH/NV 1998, 1094. 3 BFH v. 25.3.2015 – X R 19/14, BFH/NV 2016, 4. 4 BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, BFH/NV 2016, 1791. 5 In diesem Sinne auch Rüsken/Bleschick, DStR-Beih. zu Heft 14-15/2015, 47, 63. 6 BFH v. 25.3.2015 – X R 19/14, BFH/NV 2016, 4; v. 21.6.2016 – X R 44/14, BFH/NV 2016, 1791.

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B. Revisionsverfahren

Rz. 4.37 Kap. 4

bei Aufhebung des ersetzenden Bescheides wiederauflebenden ersten (ursprünglich angefochtenen) Bescheid nach Auffassung des Revisionsklägers geschehen soll.1 Hat die Vorinstanz über mehrere Hauptsacheanträge entschieden, ist eine genaue Bezeichnung dann notwendig, wenn die Anträge teils als unbegründet, teils als unzulässig qualifiziert worden sind. Das Gleiche gilt, wenn der Revisionskläger nur die Entscheidung des Finanzgerichts bzgl. eines von mehreren Anträgen mit der Revision angreifen will. Denn der BFH als Revisionsgericht ist an den gestellten Revisionsantrag gebunden und daher in seiner Befugnis beschränkt, das angefochtene Urteil materiell-rechtlich umfassend zu überprüfen (§ 121 i. V. m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).2

4.34

Enthält die Revisionsschrift keinen bestimmten Antrag und kann auch aus der Revisionsbegründung im Wege der Auslegung kein eindeutiger Antrag entnommen werden, so ist die Revision allein aus diesem Grund unzulässig.3

4.35

Der Revisionsantrag muss innerhalb der Revisionsbegründungsfrist gestellt werden. Anders als im Verfahren vor dem FG kann ein wirksamer Revisionsantrag nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht mehr nachgeholt werden.4

4.36

Losgelöst von den Mindestanforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 1 FGO hat es sich in der Praxis bewährt, im Revisionsbegründungsschriftsatz einen förmlichen Antrag zu stellen, in dem das konkrete Prozessbegehren zum Ausdruck gebracht wird. Anders als im erstinstanzlichen Klageverfahren sollte der Antrag im Revisionsbegründungsschriftsatz allerdings nicht nur angekündigt („voraussichtlich“), sondern innerhalb der Revisionsbegründungsfrist final gestellt werden. Der Inhalt des Antrages ist auf Basis der konkreten Revisionsbegründung zu bestimmen. Der Antrag sollte den Inhalt des gerichtlichen Tenors antizipieren, der sich unter Beachtung der bindenden Feststellung nach § 118 Abs. 2 FGO ergibt, wenn der BFH die Revision für begründet erachtet (vgl. insbesondere § 126 Abs. 3 und Abs. 5 FGO). Dabei zielt der Antrag regelmäßig darauf ab, das Urteil der Vorinstanz ganz oder teilweise aufzuheben.5 Geht der Revisionskläger davon aus, der BFH könne auf Basis der bindenden Feststellungen der Vorinstanz in der Sache „durchentscheiden“, wird sich sein Antrag regelmäßig an seinem erstinstanzlichen Begehren orientieren.

4.37

Beispiel: BFH soll in der Sache selbst entscheiden (hier: Anfechtungsklage) Es wird beantragt, a) das Urteil der Vorinstanz vom 13.3.2017 sowie den Haftungsbescheid vom 1.4.2012 und die Einspruchsentscheidung vom 2.5.2013 aufzuheben. b) das Urteil der Vorinstanz vom 13.3.2017 sowie den Einkommensteuerbescheid vom 1.4.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2.5.2013 dahingehend abzuändern, dass bei der Festsetzung der Einkommensteuer ein weiterer Betrag von 50.000 Euro als Betriebsausgaben bei den Einkünften des Klägers aus Gewerbebetrieb berücksichtigt wird.

1 Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO, Rz. 158 unter Hinweis auf BFH v. 14.12.1977 – II R 75/72, BStBl. II 1978, 196 [zum alten Recht]. 2 BFH v. 11.4.1991 – V R 86/85, BStBl. II, 1991, 729; Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 7. 3 BFH v. 19.11.1990 – VIII R 146/85, BFH/NV 1991, 333; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 55. 4 BFH v. 19.11.1990 – VIII R 146/85, BFH/NV 1991, 333; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 55; Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 98. 5 Vgl. nur BFH v. 6.4.2011 – IX R 49/10, BFH/NV 2012, 13.

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423

Kap. 4 Rz. 4.38

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

4.38 Ist auf Basis der Revisionsbegründung davon auszugehen, dass der BFH nicht in der Sache selbst entscheiden kann (z. B. weil die Sache nicht spruchreif ist oder weil die Entscheidung an einem relevanten Verfahrensmangel leidet),1 wird der Revisionskläger beantragen, den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Beispiel: BFH soll die Sache zurückverweisen Es wird beantragt, das Urteil der Vorinstanz vom 13.3.2017 aufzuheben und an die Vorinstanz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

4.39 Eine Erweiterung des Klageantrags im Revisionsverfahren gegenüber der ersten Instanz ist gem. § 123 Abs. 1 FGO unzulässig. Das Wesen des Revisionsverfahrens besteht darin, die Rechtmäßigkeit der finanzgerichtlichen Entscheidung zu überprüfen. Eine solche Entscheidung liegt aber nur insoweit vor, als über den Klageantrag entschieden worden war. Über ein Begehren, das erstmals in der Revisionsinstanz durch Erweiterung des Klageantrages anhängig gemacht wird, ist gerichtlich noch nicht entschieden, so dass es insoweit an einem Gegenstand der revisionsgerichtlichen Nachprüfung fehlt.2 Geht der Revisionsantrag über den erstinstanzlichen Klageantrag hinaus, ist die Revision mangels formeller Beschwer insoweit unzulässig.3

4.40 Hiervon zu unterscheiden ist die nachträgliche Erweiterung des Revisionsantrags, also die spätere Erweiterung eines zuvor weniger weitgehenden Revisionsantrages. Sie ist nur dann zulässig, wenn sie innerhalb der Revisionsbegründungsfrist erfolgt. Denn die Rechtskraft des angefochtenen Urteils wird durch die Einlegung der Revision in vollem Umfang gehemmt.4 Naturgemäß darf auch die rechtzeitige Erweiterung des Revisionsantrags nicht zu einer Erweiterung des Klageantrags führen. Die nachträgliche Einschränkung des Revisionsantrags ist jederzeit, also auch nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist zulässig.5 b) Revisionsgründe

4.41 Gem. § 120 Abs. 3 Nr. 2a FGO muss die Revisionsbegründung die Umstände bestimmt bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt. Zur hinreichend bestimmten Bezeichnung dieser Umstände muss die erhobene Rüge eindeutig erkennen lassen, – welche Norm der Revisionskläger für verletzt hält und – aus welchen Gründen tatsächlicher oder rechtlicher Art er das erstinstanzliche Urteil für unrichtig hält.

4.42 Die Pflicht zur hinreichend bestimmten Bezeichnung dieser Umstände folgt aus dem Sinn und Zweck des § 120 Abs. 3 Nr. 2a FGO, das Revisionsgericht zu entlasten und den Revisionskläger zu zwingen, Inhalt, Umfang und Zweck des Revisionsangriffs von vornherein klarzustellen.6 Die erhobene Rüge muss zwar nicht unbedingt durch Angabe eines bestimmten Paragraphen gekennzeichnet werden. In jedem Fall muss aber eindeutig aus der Revisions1 Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 126 FGO 72 ff. 2 BFH v. 11.2.2009 – X R 51/06, BStBl. II 2009, 892; v. 12.9.1995 – IX R 78/94, BStBl. II 1996, 16; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 56. 3 BFH v. 1.6.2016 – X R 43/14, BStBl. II 2017, 55. 4 BFH v. 22.4.1986 – VIII R 87/85, BFH/NV 1986, 690; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 57. 5 BFH v. 16.4.2013 – III R 58/11 BFH/NV 2014, 145; vgl. auch BFH v. 25.6.2002 – IX R 47/98, BStBl. II 2002, 756. 6 BFH v. 24.6.2003 – IX R 28/01, BFH/NV 2004, 1383; Seer in Tipke/Kruse, § 120 FGO Rz. 107.

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B. Revisionsverfahren

Rz. 4.44 Kap. 4

schrift oder der Revisionsbegründung erkennbar sein, welche Norm der Revisionskläger für verletzt hält.1 Darüber hinaus muss der Revisionskläger die Gründe rechtlicher oder tatsächlicher Art angeben, die nach seiner Auffassung das erstinstanzliche Urteil als unrichtig erscheinen lassen. Hierzu bedarf es zumindest einer kurzen Auseinandersetzung mit den Gründen des FG-Urteils, die aus sich selbst heraus erkennen lässt, dass der Revisionskläger die Begründung des angefochtenen Urteils und sein bisheriges Vorbringen überprüft hat. Allgemeine Hinweise auf Rechtsverletzungen durch das angefochtene Urteil oder generelle Bezugnahmen auf im finanzgerichtlichen Verfahren oder gar im außergerichtlichen Vorverfahren eingereichte Schriftsätze reichen nicht aus.2 Demgemäß muss sich der Revisionskläger mit den tragenden Gründen des finanzgerichtlichen Urteils auseinandersetzen und darlegen, weshalb er diese für unrichtig hält.3 Aus der Revisionsbegründung muss feststellbar sein, dass der Revisionskläger seine bisherige Rechtsauffassung anhand der Urteilsbegründung des Finanzgerichts überprüft hat. Dazu reicht eine Bezugnahme auf das Vorbringen im Klageverfahren in der Regel nicht aus.4

4.43

c) Mindestanforderungen Gerade wenn der Prozessbevollmächtigte des erstinstanzlichen Verfahrens auch das Revisionsverfahren führt, könnte er geneigt sein, von den im erstinstanzlichen Verfahren vorgebrachten Argumenten auch im Revisionsverfahren unverändert Gebrauch zu machen. Die unreflektierte Verwendung derselben Argumente (insbesondere die Arbeit mit bereits verwendeten „Textbausteinen“) ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht ganz risikofrei. § 120 Abs. 3 FGO zielt darauf ab, das Revisionsgericht zu entlasten und den Revisionskläger anzuhalten, Inhalt, Umfang und Zweck des Revisionsangriffs von vornherein klarzustellen. Der Revisionskläger soll dartun, welche Gründe tatsächlicher oder rechtlicher Art nach seiner Auffassung das erstinstanzliche Urteil als unrichtig erscheinen lassen. Die Revisionsbegründung muss aus sich selbst heraus erkennen lassen, dass der Revisionskläger anhand der Gründe des finanzgerichtlichen Urteils sein bisheriges Vorbringen überprüft hat.5 Vor diesem Hintergrund ist eine Revisionsbegründung nur dann als ordnungsgemäß und damit als zulässig zu qualifizieren, wenn sie eine – mindestens kurze – Auseinandersetzung mit den Gründen des erstinstanzlichen Urteils enthält.6 Anderenfalls verwirft der BFH die Revision regelmäßig als unzulässig.7

1 BFH v. 25.6.2003 – X R 66/00, BFH/NV 2004, 19 und v. 1.6.1994 – II R 124/90, BFH/NV 1995, 128. 2 BFH v. 25.6.2003 – X R 66/00, BFH/NV 2004, 19; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 61. 3 BFH v. 27.11.2003 – VII R 49/03, BFH/NV 2004, 521. 4 BFH v. 19.10.2000 – VI R 73/00, BFH/NV 2001, 333. 5 BFH v. 30.7.2003 – X R 63/01, BFH/NV 2004, 36. 6 St. Rspr., vgl. nur BFH v. 20.8.2012 – I R 3/12, BFH/NV 2012, 1990; v. 30.7.2003 – X R 63/01, BFH/NV 2004, 36; ebenso Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 172 f. m. w. N. 7 Exemplarisch BFH v. 9.3.2016 – I R 79/14, BFH/NV 2016, 1039; v. 20.8.2012 – I R 3/12, BFH/NV 2012, 1990; v. 23.3.2006 – VI R 13/03, BFH/NV 2006, 1321; v. 30.7.2003 – X R 63/01, BFH/NV 2004, 36.

Hendricks

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4.44

Kap. 4 Rz. 4.45

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

4.45 In der Revisionsbegründung sollte in jedem Fall Folgendes dargelegt werden: – welche Rechtsnorm konkret das FG verletzt haben soll; – welche entscheidungserheblichen Ausführungen des Finanzgerichts aus welchen Gründen unrichtig sein sollen; – welche Punkte des angefochtenen Urteils als änderungsbedürftig angesehen werden und – aus welchen Gründen im Einzelnen die Änderung für geboten erachtet wird.1

4.46 Die Revisionsbegründung muss erkennen lassen, dass der Revisionskläger anhand der Gründe des finanzgerichtlichen Urteils sein bisheriges Vorbringen überprüft hat. Eine Auseinandersetzung mit den Gründen des erstinstanzlichen Urteils ist deshalb geboten.

4.47 Ist das Urteil des Finanzgerichts auf mehrere voneinander unabhängige, selbständig tragfähige rechtliche Erwägungen gestützt, so muss in der Revisionsbegründung für jede dieser Erwägungen formgerecht dargelegt werden, weshalb sie nach Auffassung des Revisionsklägers das angefochtene Urteil nicht trägt.2

3. Revisionsgründe im Einzelnen a) Rechtsverletzung

4.48 Gem. § 118 Abs. 1 FGO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung revisiblen Rechts beruht. Revisibel ist grundsätzlich nur Bundesrecht; in Ausnahmefällen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, weil sie in der Praxis nur selten vorkommen, auch Landesrecht (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 2 FGO).

4.49 Bundesrecht i. S. des § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO sind:3 – das Grundgesetz, – die förmlichen Bundesgesetze (z. B. Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Umsatzsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Bewertungsgesetz usw.); – die Rechtsverordnungen von Bundesbehörden, einschließlich der Rechtsverordnungen bundesunmittelbarer Körperschaften; – Gewohnheitsrecht – dabei handelt es sich um Normen des Bundesrechts, die sich durch ständige, über längere Zeit bestehende, einheitliche Übung gebildet haben und vom einheitlichen Rechtsbewusstsein der beteiligten Personenkreise als Rechtsüberzeugung bestätigt worden sind;4 – die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 Satz 1 GG); – das gem. Art. 59 Abs. 2 GG transformierte Völkerrecht, d. h. völkerrechtliche Verträge, insbesondere Doppelbesteuerungsabkommen; – das Recht der Europäischen Union, da es im ganzen Bundesgebiet gilt;

1 2 3 4

Vgl. BFH v. 11.3.1999 – XI R 101/96, BFH/NV 1999, 1228. BFH v. 11.3.1999 – XI R 101/96, BFH/NV 1999, 1228. Vgl. Lange in HHSp, § 118 FGO 28 m. w. N. Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 14; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 13.

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Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.52 Kap. 4

– allgemeine Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien, soweit sie in den Bereich der Rechtsetzungskompetenz des Bundes fallen; – Auslegungsregeln, soweit sie der Auslegung von Bundesrecht dienen; hierzu rechnen vor allem die gesetzlichen Auslegungsregeln, die Denkgesetze und Erfahrungssätze;1 – nicht hingegen z. B. ausländisches Recht,2 kommunales Satzungsrecht3 (z. B. die auf autonomen Satzungen beruhenden Beitragsgebühren- oder Steuersatzungen einer Gemeinde oder eines Landkreises)4 oder normeninterpretierende Verwaltungsvorschriften5 (vgl. nachfolgend Rz. 4.50). Kein Bundesrecht i. S. des § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO sind normeninterpretierende Verwaltungsvorschriften des Bundes. Verwaltungsvorschriften sind grundsätzlich weder für den Bürger noch für die Gerichte als Rechtsnorm verbindlich.6 Ausnahmsweise hat die Rechtsprechung die Revisibilität von Verwaltungsvorschriften dann anerkannt, wenn sie mehr als bloße Dienstanweisungen sind, und eine im Gesetz nur allgemein festgelegte Rechtspflicht durch bestimmte, für alle gleich liegenden Fälle geltenden Regeln konkretisieren und damit das der Verwaltung eingeräumte Beurteilungs- bzw. Entscheidungsermessen mit Wirkung nach außen festlegen, wie z. B. Pauschalierungsregelungen.7

4.50

Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das Urteil geltendes revisibles Recht (materielles Recht oder Verfahrensrecht) verletzt. D. h.: Der Revisionskläger muss in der Revisionsbegründung darlegen, dass das Finanzgericht in dem angefochtenen Urteil das Recht auf den festgestellten Sachverhalt falsch angewendet oder nicht angewendet hat.8 Entsprechend den oben dargestellten Grundsätzen liegt eine Rechtsverletzung auch dann vor, wenn das Finanzgericht beispielsweise die Willenserklärung der Beteiligten unrichtig ausgelegt hat, weil es die gesetzlichen Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB nicht beachtet oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat. Denn der BFH ist an einen vom Finanzgericht angenommenen Erfahrungssatz nicht gem. § 118 Abs. 2 FGO gebunden, weil es sich bei der Ermittlung solcher allgemeinen Erfahrungssätze nicht um eine dem Tatrichter vorbehaltene Würdigung von Tatsachen und Beweisergebnissen, sondern um Rechtsanwendung handelt.9 Auch der Anscheinsbeweis ist eine vom Revisionsgericht zu überprüfende rechtliche Wertung und keine – nicht revisible – reine Beweiswürdigung.10

4.51

Wichtig ist, dass das angefochtene Urteil auf der Rechtsverletzung beruhen muss (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). D. h.: Es muss die Möglichkeit gegeben sein, dass das Gericht ohne die Rechtsverletzung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.11 Hieraus folgt, dass die Rechtsverletzung dann unerheblich ist, wenn das Urteil sich aus anderen als den von

4.52

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

BFH v. 11.2.1981 – I R 13/77, BStBl. II 1981, 475. BFH v. 13.6.2013 – III R 10/11, BStBl. II 2014, 706; Hendricks, IStR 2011, 711. Lange in HHSp, § 118 FGO 55. BFH v. 22.10.1980 – II R 169/78, BStBl. II 1981, 104. BFH v. 9.7.2003 – I R 48/02, BStBl. II 2004, 425. BFH v. 9.7.2003 – I R 48/02, BStBl. II 2004, 425. BFH v. 9.7.2003 – I R 48/02, BStBl. II 2004, 425 und v. 20.3.1980 – IV R 11/76, BStBl. II 1980, 455. Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 31; Werth in Beermann/Gosch, § 118 FGO Rz. 19. BFH v. 20.7.1999 – VII R 111/98, BStBl. II 1999, 803; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 28. BFH v. 8.7.1998 – I R 17/96, BFH/NV 1999, 242. Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 51; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 33; Werth in Beermann/Gosch, § 118 FGO Rz. 39.

Hendricks

427

Kap. 4 Rz. 4.53

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

dem Finanzgericht angefügten Gründen als richtig erweist (vgl. § 126 Abs. 4 FGO). In diesem Fall ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen, obwohl sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ergibt, dass eine Verletzung des bestehenden Rechts gegeben ist. b) Bindung an die tatsächlichen Feststellungen

4.53 Für die Praxis von besonderer Bedeutung ist die Vorschrift des § 118 Abs. 2 FGO: Danach ist der BFH an die im erstinstanzlichen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Der Überprüfung durch das Revisionsgericht kann also nur der Sachverhalt zugewiesen werden, der dem Urteil des Finanzgerichts zu Grunde gelegen hat. Der BFH darf keine Tatsachen berücksichtigen oder seiner Entscheidung zu Grunde legen, die nicht in dem finanzgerichtlichen Urteil festgestellt sind. Das bedeutet: Die Beteiligten können im Revisionsverfahren grundsätzlich keine neuen Tatsachen mehr vortragen.1 Dabei ist es unerheblich, ob die tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts im Tatbestand oder in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils enthalten sind.2 Zu den tatsächlichen Feststellungen gehören auch Schlussfolgerungen tatsächlicher Art, die das Finanzgericht auf der Grundlage des von ihm festgestellten Sachverhalts im Rahmen der ihm obliegenden Tatsachenwürdigung vorgenommen hat. Dabei haben die Schlussfolgerungen des Finanzgerichts schon dann Bestand, wenn sie zwar nicht zwingend, aber möglich sind.3

4.54 Hieraus folgt andererseits: Hat das Finanzgericht in dem Urteil für eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, kann der BFH diese Feststellungen nicht selber treffen. Er darf auch die vom Finanzgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht ergänzen. Fehlende entscheidungserhebliche Tatsachen kann nur das Finanzgericht treffen, an das der Rechtsstreit in einem derartigen Fall zurückzuverweisen ist.4

4.55 Eine Bindung des BFH an die tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts besteht gem. § 118 Abs. 2 FGO ausnahmsweise nur dann nicht, wenn in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe im Wege einer Verfahrensrüge (hierzu nachfolgend Rz. 4.59 ff.) vorgebracht worden sind.5 Solche Rügen sind z. B. die Rüge mangelnder Sachverhaltsaufklärung oder in sich widersprüchlicher tatsächlicher Feststellungen in dem angefochtenen Urteil. Dabei sind unzureichende oder in sich widersprüchliche Tatsachenfeststellungen als materiell-rechtliche Fehler sogar von Amts wegen zu beachten und führen – auch ohne förmliche Rüge – zur Aufhebung der Entscheidung.6 Zu einer solchen Verfahrensrüge gehört auch die Rüge, das Finanzgericht habe bei seiner Entscheidung wesentliche Teile des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht berücksichtigt.7

1 BFH v. 25.1.2005 – I R 52/03, BFH/NV 2005, 940 und v. 9.3.1999 – 7 S 14/96, BFH/NV 1999, 1133; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 36. 2 BFH v. 25.1.2005 – I R 52/03, BFH/NV 2005, 940; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 37; Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 81. 3 BFH v. 9.1.2001 – X R 31/98, BFH/NV 2001, 1017. 4 Vgl. BFH v. 16.12.1998 – X R 125/97, BFH/NV 1999, 917. 5 BFH v. 25.1.2005 – I R 52/03, BFH/NV 2005, 940; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 56; Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 90. 6 BFH v. 26.6.2003 – VI R 10/02, BFH/NV 2003, 1560 und v. 25.6.2003 – X R 72/98, BStBl. II 2004, 403. 7 Vgl. BFH v. 20.1.2005 – X S 2/04, BFH/NV 2005, 902; Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 56.

428

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.60 Kap. 4

Der BFH kann allerdings tatsächliche Feststellungen daraufhin überprüfen, ob sie gegen Denkgesetze, allgemeine Erfahrungssätze, Auslegungsregeln oder andere allgemeine Grundsätze des Bundesrechts verstoßen. Er kann auch allgemeinkundige sowie gerichtskundige Tatsachen berücksichtigen, auch dann, wenn sie in dem finanzgerichtlichen Urteil nicht festgestellt sind. Denn solche Tatsachen bedürfen keines Beweises und haben wie Rechtsnormen Allgemeingültigkeit. In diesem Rahmen kann auch eine Beweiswürdigung vom Revisionsgericht überprüft werden.1

4.56

Die Feststellungen müssen die rechtliche Beurteilung durch die Vorinstanz tragen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass für die Beteiligten aus dem erstinstanzlichen Urteil klar hervorgehen muss, welcher konkrete Sachverhalt unter welche Rechtsnorm subsumiert wurde und was nach der gesetzlichen Regelung die Rechtsfolge hieraus ist.2 Denn die Entscheidung eines FG muss die Tatsachen enthalten, die erforderlich sind, um beurteilen zu können, ob die entscheidungserheblichen Rechtsnormen rechtsfehlerfrei angewandt worden sind.3 Bei unzureichenden tatsächlichen Feststellungen liegt die revisible Rechtsverletzung in einem Subsumtionsfehler, den der BFH von Amts wegen zu berücksichtigen hat.4

4.57

Mit der Revision kann nur geltend gemacht werden, dass die tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts gegen Denkgesetze, allgemeine Erfahrungssätze, Auslegungsregeln oder andere allgemeine Grundsätze des Bundesrechts verstoßen oder dass die tatsächlichen Feststellungen die Entscheidung der Vorinstanz nicht tragen. Es kann hingegen nicht geltend gemacht werden, dass die Feststellung der Tatsachen durch das Finanzgericht, dessen Beweiswürdigung und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen nicht zwingend sind. Der BFH kann im Revisionsverfahren nur prüfen, ob das Finanzgericht zu den von ihm gefundenen Feststellungen kommen konnte, ob also die vorgenommene Beweiswürdigung und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen möglich sind.5 Dies wird in der Praxis häufig verkannt.

4.58

c) Rechtsverletzung in Form eines Verfahrensfehlers Wird die Revision auf einen Verfahrensfehler gestützt, so müssen in sich schlüssig und vollständig die Tatsachen in der Revisionsbegründung herausgearbeitet werden, aus denen sich der Verfahrensfehler ergibt (vgl. § 120 Abs. 3 Nr. 2b FGO). D. h., es müssen Tatsachen vorgetragen werden, die – ihre Richtigkeit unterstellt – den Verfahrensmangel ergeben.6

4.59

Soll die Revision auf einen Verfahrensmangel gestützt werden, muss der Verfahrensmangel im Revisionsbegründungsschriftsatz sauber dargelegt werden. Der Revisionsführer muss erkennbar machen, welche prozessuale Vorschrift das Finanzgericht verletzt haben soll. Dazu müssen auch die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich der Verfahrensmangel ergeben soll.7 Die als fehlerhaft ausgemachten Prozessvorgänge sind deshalb genau und bestimmt zu beschreiben. Der Revisionskläger darf es nicht dem Gericht überlassen, die für die Verfahrensrügen notwendigen Tatsachen anhand der Akten zu ermitteln. Die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel ergibt, sind so vollständig anzugeben, dass es dem BFH möglich ist, al-

4.60

1 2 3 4

Vgl. Ratschow in Gräber, § 118 FGO Rz. 30; Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 69 ff., 73. Zutreffend Werth in Beermann/Gosch, § 118 FGO Rz. 37. So auch Lange in HHSp, § 118 FGO Rz. 100. Exemplarisch BFH v. 4.6.1998 – VII R 46/97, BFH/NV 1999, 55; vgl. auch BFH v. 24.9.2009 – V R 6/08, BStBl. II 2010, 315. 5 BFH v. 9.1.2001 – X R 31/98, BFH/NV 2001, 1017. 6 BFH v. 14.12.2000 – VIII R 28/00, BFH/NV 2001, 794; vgl. auch Rz. 4.61 ff. 7 BFH v. 11.10.2013 – III R 69/11, BFH/NV 2014, 67; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 66.

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429

Kap. 4 Rz. 4.61

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

lein anhand der Revisionsschrift zu prüfen, ob der Verfahrensfehler vorliegt, wenn die Behauptungen des Revisionsklägers zutreffen. Die vorgetragenen Tatsachen müssen – ihre Richtigkeit unterstellt – den gerügten Verfahrensmangel ergeben.1

4.61 Ob ein Verfahrensfehler i. S. von § 120 Abs. 3 Nr. 2b FGO vorliegt, ist in bis zu fünf Prüfungsschritten darzulegen. Im Revisionsverfahren gelten insoweit dieselben Anforderungen, wie bei der Darlegung eines Verfahrensfehlers im Rahmen eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens (vgl. Rz. 4.176 ff.).2

4.62 In einem ersten Schritt muss die Verletzung einer Verfahrensnorm (Norm betreffend das gerichtliche Verfahren) dargelegt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Verletzung verfahrensrechtlicher Bestimmungen nicht mit der Verletzung materiellen Rechts vermischt werden darf. Soweit es für die Prüfung verfahrensrechtlicher Normen auf materiell-rechtliche Erwägungen ankommt, ist der – ggf. auch fehlerhafte – Standpunkt des Finanzgerichts maßgeblich: Die Prüfung des Verfahrensmangels hat also auf Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des Finanzgerichts zu erfolgen.3 So kommt es beispielsweise für die Darlegung der Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO auf den materiell-rechtlichen Standpunkt der Vorinstanz an.4

4.63 Verstöße gegen Verfahrensvorschriften können im Einzelfall durch spätere Handlungen geheilt werden. So kann ein Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs durch die Gewährung des zunächst versagten Gehörs geheilt werden.5 Soweit eine mögliche Heilung des Verfahrensmangels im Raume steht, ist im Rahmen der Revisionsbegründung darzulegen, dass die gerügte Verletzung der Verfahrensnorm nicht geheilt wurde.

4.64 Ein Verfahrensmangel stellt nur dann einen Zulassungsgrund dar, wenn die angefochtene Entscheidung auf dem Mangel „beruhen kann“ (Gedanke des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Der Verfahrensmangel muss also – mindestens potenziell – für die Entscheidung kausal sein.6 Das Beruhen – also die Entscheidungserheblichkeit des Mangels – ist grundsätzlich schlüssig darzulegen.7 Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit des geltend gemachten Verfahrensmangels sind dann entbehrlich, wenn ein Verfahrensmangel i.S. des § 119 FGO (mithin ein absoluter Revisionsgrund) geltend gemacht wird. Die in dieser Bestimmung aufgezählten absoluten Revisionsgründe beruhen auf dem Grundgedanken, dass es sich um besonders schwerwiegende Verstöße gegen die Verfahrensordnung handelt. Absolute Revisionsgründe stehen grundsätzlich „außerhalb jeder Beziehung zum materiellen Inhalt des angefochtenen Urteils“, so dass dieses trotz des jeweiligen Verfahrensfehlers „seinem Inhalt nach vollständig richtig sein kann“. Deshalb ist es im Regelfall nicht möglich, die Ursächlichkeit derartiger Verfahrensfehler für das Entscheidungsergebnis festzustellen.8

4.65 Schließlich ist zu beachten, dass auf die Beachtung zahlreicher Verfahrensvorschriften verzichtet werden kann. Hat der Betroffene auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, kann der Verfahrensmangel im Revisionsverfahren nicht mehr gerügt werden. Ein Verzicht muss 1 2 3 4 5 6 7 8

Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 56. So ausdrücklich Lange in HHSp, § 120 FGO Rz. 202. St. Rspr., vgl. z. B. BFH v. 11.10.2013 – III R 69/11, BFH/NV 2014, 67 m. w. N. Vgl. etwa BFH v. 6.6.2000 – VII R 72/99, BFH/NV 2000, 1435. BFH v. 10.8.2004 – I B 2/04, BFH/NV 2005, 239. Vgl. etwa BFH v. 10.12.1992 – XI R 13/91, BFH/NV 1993, 483 „beruhen kann“. Vgl. nur BFH v. 3.2.1993 – I R 80-81/91, BStBl. II 1993, 462. So ausdrücklich BFH v. 3.9.2001 – GrS 3/98, BStBl. II 2001, 802.

430

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.68 Kap. 4

nicht zwingend ausdrücklich ausgesprochen werden. Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein solcher Verzicht auch dann anzunehmen, wenn der Beteiligte in der (nächsten) mündlichen Verhandlung zur Sache verhandelt hat, ohne den Verfahrensmangel zu rügen (§ 155 FGO i. V. m. § 295 Abs. 1 ZPO).1 Mit anderen Worten: Möchte ein Beteiligter einen Verfahrensfehler im Rahmen eines später gegebenenfalls zu führenden Revisionsverfahrens rügen, muss er den Verfahrensverstoß in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll rügen, damit nicht die Präklusionswirkung des § 295 Abs. 1 ZPO eintritt. Dies gilt aber nur für Verfahrensvorschriften, auf deren Befolgung wirksam verzichtet werden kann (§ 295 Abs. 2 ZPO).2 Zudem greift die Präklusionswirkung des § 295 Abs. 1 ZPO – schon nach dem Wortlaut der Vorschrift – nur dann, wenn der Verfahrensmangel bei der mündlichen Verhandlung „bekannt war oder bekannt sein musste“. Nicht erkennbare Verfahrensmängel können und müssen im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht gerügt werden.3 Wird ein Verfahrensmangel gerügt, ist darzulegen, warum auf die Rüge dieses Verfahrensmangels – auch unter Beachtung von § 295 ZPO (i. V. m. § 155 FGO) – im konkreten Fall nicht wirksam verzichtet worden ist.

4.66

d) Absolute Revisionsgründe Ob ein Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht, braucht dann nicht dargelegt zu werden, wenn ein absoluter Revisionsgrund i. S. des § 119 FGO vorliegt (s. Rz. 4.64). Nach dieser Vorschrift ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn

4.67

– das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; – bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen der Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war; – einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war; – ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat; – das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind, oder – die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. aa) Keine vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts Dieser Revisionsgrund liegt vor, wenn gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen wurde. Dieser verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz will sicherstellen, dass der den Einzelfall entscheidende Spruchkörper sowie jeder an der Entscheidung mitwirkende Richter die gebotene Neutralität und Unparteilichkeit walten lässt. Hierdurch soll der Gefahr begegnet werden, dass die Rechtsprechung durch ei1 Vgl. nur BFH v. 21.5.2014 – I B 97/13, BFH/NV 2014, 1555; BFH, 29.1.2004 – VI B 53/01, BFH/ NV 2004, 661; diese strenge Rspr. mit beachtlichen Gründen in Frage stellend: Kulosa, HFR 2012, 399 f. 2 So kann auf die Einhaltung der Vorschriften über die Besetzung des Senates nicht verzichtet werden, vgl. BFH v. 10.12.1987 – IV R 70/87, BFH/NV 1988, 506. 3 Vgl. z. B. BFH v. 19.1.2012 – X B 4/10, BFH/NV 2012, 958.

Hendricks

431

4.68

Kap. 4 Rz. 4.69

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

ne Manipulation der Spruchkörper sachfremden Einflüssen ausgesetzt und das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst wird.1 Dies erfordert es nicht, Finanzrichter vor allem deshalb von der richterlichen Tätigkeit in Verfahren auszuschließen, die sich gegen eine bestimmte Finanzbehörde richten, weil sie früher selbst der Finanzverwaltung angehört haben.2

4.69 Gesetzlicher Richter in diesem Sinne ist nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit (z. B. Finanzgericht Köln) oder das erkennende Gericht als Spruchkörper (z. B. 2. Senat des Finanzgerichts Köln), vor dem verhandelt und von dem die Streitsache entschieden wird, sondern auch die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter.3 Die Zuständigkeit des für die Entscheidung zuständigen Spruchkörpers ergibt sich aus dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts, der vom Präsidium zu beschließen ist (§ 4 FGO i. V. m. § 21e Abs. 1 GVG; vgl. Rz. 3.851). Darin regelt das Präsidium die personelle Besetzung der Senate und nach abstrakten Merkmalen die Verteilung der Geschäfte auf die Senate. Ist der betreffende Senat mit mehr als der in § 5 Abs. 3 FGO vorgesehenen Zahl von Richtern besetzt (sog. Überbesetzung), dann müssen in einem senatsinternen Geschäftsverteilungsplan (vgl. Rz. 3.626), den der gesamte Senat beschließen muss, die Geschäfte auf die einzelnen Senatsmitglieder verteilt werden (§ 21g Abs. 1 GVG). Der Beschluss bestimmt vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer, nach welchen Grundsätzen die Mitglieder an den Verfahren mitwirken. Er muss auch regeln, welcher Richter des Senats für welche Verfahren als Einzelrichter nach § 6 FGO in Betracht kommt (vgl. zum Einzelrichter Rz. 3.611 ff.).

4.70 Ein Besetzungsfehler kommt insbesondere in folgenden Fällen in Betracht: – Der Rechtsstreit ist vom Einzelrichter entschieden worden, ohne dass ein Übertragungsbeschluss i. S. des § 6 FGO vorlag oder die Voraussetzungen des § 79a FGO – Zustimmung der Beteiligten – erfüllt waren.4 Eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter soll auch dann vorliegen, wenn sich die Übertragung auf den Einzelrichter als „greifbar gesetzeswidrig“ erweist.5 Dies ist z. B. der Fall, wenn der Berichterstatter als Einzelrichter allein entscheidet, nachdem bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist.6 – Der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts oder des Spruchkörpers ist im laufenden Jahr ohne sachlichen Grund geändert worden. Die Gründe für eine ggf. vorliegende Überbelastung sind nach der in § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG getroffenen Regelung ohne Bedeutung; im Übrigen obliegt die Feststellung der Überbelastung der pflichtgemäßen Beurteilung durch das Präsidium, die vom Revisionsgericht nur auf Willkür überprüft werden darf;7 allerdings ist nicht bereits dadurch der gesetzliche Richter verletzt, dass in dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts für das laufende Geschäftsjahr bereits anhängige Sachen einem anderen Spruchkörper zugewiesen werden als dem, bei dem sie im Zeitpunkt ihres Eingangs anhängig geworden sind. Denn erkennendes Gericht ist das Gericht

1 BVerfG v. 8.4.1997 – 1 PBvU 1/95, BStBl. II 1997, 672. 2 BFH v. 18.2.1997 – VIII R 54/95, BStBl. II 1999, 647. 3 Vgl. BFH v. 29.1.1992 – VIII K 4/91, BStBl. II 1992, 252 und v. 28.12.1999 – V R 33/98, BFH/NV 1999, 815. 4 BFH v. 5.5.1999 – XI R 44/98, BFH/NV 1999, 1485. 5 BFH v. 1.9.2016 – VI B 26/16, BFH/NV 2017, 50; v. 8.6.1995 – IV R 80/94, BStBl. II 1995, 776. 6 BFH v. 8.3.1994 – IX R 58/93, BStBl. II 1994, 571. 7 BFH v. 26.9.1990 – IV R 121/89, BFH/NV 1991, 826.

432

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.74 Kap. 4

in der Besetzung, für die der im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung geltende Geschäftsverteilungsplan maßgebend ist.1 – Der Senat ist überbesetzt, und es fehlt ein senatsinterner Geschäftsverteilungsplan, oder er ist mangelhaft oder missbräuchlich umgesetzt.2 – Ein von seinem Amt entbundener ehrenamtlicher Richter hat bei der Entscheidung mitgewirkt.3 bb) Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder mit Erfolg abgelehnten Richters Richter, die gem. § 51 FGO i. V. m. § 41 ZPO kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen sind oder mit Erfolg wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 51 FGO i. V. m. § 42 ZPO) abgelehnt worden sind, dürfen an der Entscheidung nicht mitwirken (vgl. Rz. 3.858 ff.). Tun sie es doch, ist der absolute Revisionsgrund des § 119 Nr. 2 FGO gegeben.

4.71

cc) Verletzung des rechtlichen Gehörs Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs besagt, dass das Gericht seinen Entscheidungen nur Tatsachen zu Grunde legen darf, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern können. Darüber hinaus haben die Beteiligten Anspruch darauf, von sich aus im Verfahren alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten. Das Gericht hat ihre Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen.4

4.72

Die Rüge des Revisionsklägers, ihm sei das rechtliche Gehör versagt worden, ist nur dann zulässig und hinreichend begründet,

4.73

– wenn der Kläger substantiiert darlegt, wozu er sich nicht hat äußern können und – was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte.5 Hierfür genügt es z. B. nicht, wenn der Kläger lediglich darlegt, er habe von der Beiziehung von Akten, die das Finanzgericht in seiner Entscheidung verwertet habe, nichts gewusst. Er muss vielmehr – ggf. nach Einsicht in die betreffenden Akten – darlegen, was er in der Vorinstanz vorgetragen hätte, falls ihm das Finanzgericht das rechtliche Gehör im ausreichenden Maße gewährt hätte. Diese Grundsätze gelten allerdings nicht, wenn das rechtliche Gehör durch Nichtverlegung eines zur mündlichen Verhandlung bestimmten Termins verletzt worden sein soll.6 Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist auch dann verletzt, wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt ist, zu denen sie sich bislang nicht geäußert hatten und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten, sich zu äußern. Denn die Verfahrensbeteiligten haben Anspruch darauf, dass das Gericht sie auch in rechtlicher Hinsicht auf entscheidungserhebliche Erwägungen und Gesichtspunkte hinweist, mit denen sie erkennbar nicht gerechnet haben und auch nicht rechnen mussten. Deshalb ist 1 2 3 4 5 6

BFH v. 14.11.1995 – VIII R 3 – 5/95, BFH/NV 1996, 481. BFH v. 7.11.1994 – VIII R 3/94, BFH/NV 1995, 618. BFH v. 16.12.1993 – V R 2/92, BFH/NV 1995, 397. BFH v. 26.4.1995 – I B 166/94, BStBl. II 1995, 532; Ratschow in Gräber, § 119 FGO Rz. 10a. BFH v. 20.1.2000 – II B 68/99, BFH/NV 2000, 861. BFH v. 3.9.2001 – GrS 3/98, BStBl. II 2001, 802 und v. 7.4.2004 – I B 111/03, BFH/NV 2004, 1282.

Hendricks

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4.74

Kap. 4 Rz. 4.75

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

das rechtliche Gehör verletzt, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, der weder im Besteuerungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren geäußert worden ist und dessen Heranziehung auch aus sonstigen Gründen nicht nahe lag.1

4.75 Im Einzelnen ist bei der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs substantiiert darzulegen: – wozu der Beteiligte sich vor dem Finanzgericht nicht hat äußern können, – was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte, – inwieweit er alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, sich rechtliches Gehör vor dem Finanzgericht zu verschaffen, und – dass das angefochtene Urteil ohne die Verletzung rechtlichen Gehörs hätte anders ausfallen können.2

4.76 Auf die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs kann gem. § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO verzichtet werden. Ein solcher Verzicht kann ausdrücklich erklärt werden, er kann aber auch konkludent erfolgen, z. B. durch eine rügelose Einlassung.3

4.77 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Ablehnung eines Antrags auf Terminsverlegung die Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht zu rechtfertigen vermag, wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Termin erschienen ist und zur Sache verhandelt hat. Denn der Verzicht auf den Anspruch auf rechtliches Gehör wird unterstellt, wenn der Berechtigte trotz Kenntnis der Verkürzung seines Rechts die Rechtsverletzung nicht schon in der Instanz rügt, in der sie stattgefunden haben soll. Deshalb gehört zur schlüssigen Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs die Angabe, dass die Verletzung bereits in der Vorinstanz gerügt worden ist oder warum die Verletzung nicht gerügt werden konnte.4

dd) Mangelhafte Vertretung

4.78 Ein Beteiligter ist dann in gesetzwidriger Weise im Verfahren nicht vertreten, wenn das Gericht bei der Vorbereitung oder Durchführung der mündlichen Verhandlung gesetzliche Vorschriften verletzt und dadurch die Teilnahme unmöglich gemacht hat.5 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Beteiligter nicht ordnungsgemäß geladen war,6 das Finanzgericht zu Unrecht einen Verzicht auf mündliche Verhandlung angenommen und unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden hat,7 oder eine Terminsverlegung vom Senatsvorsitzenden zugesagt worden ist, der Termin aber gleichwohl durchgeführt wird.8 Das Gleiche gilt, wenn der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle irrtümlich

1 Vgl. BFH v. 14.5.2003 – X B 168/02, BFH/NV 2003, 1205 und v. 29.11.2000 – X R 10/00, BFH/NV 2001, 627. 2 BFH v. 21.8.2000 – VII B 113/00, BFH/NV 2001, 194 und v. 23.7.1999 – XI B 170/97, BFH/NV 2000, 7; Ratschow in Gräber, § 119 FGO Rz. 14. 3 BFH v. 23.7.2003 – V B 260/02, BFH/NV 2003, 1595 und v. 19.5.1995 – VIII B 85/93, BFH/NV 1995, 142. 4 BFH v. 23.7.1999 – XI B 170/97, BFH/NV 2000, 7 m. w. N. 5 BFH v. 17.12.1999 – III R 64/98, BFH/NV 2000, 741. 6 BFH v. 14.6.1994 – VIII R 79/93, BFH/NV 1995, 225. 7 BFH v. 5.5.1999 – XI R 44/98, BFH/NV 1999, 1485. 8 BFH v. 18.10.2000 – VIII R 22/00, BFH/NV 2001, 466.

434

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.84 Kap. 4

die unzutreffende Auskunft erteilt, der Termin zur mündlichen Verhandlung sei verlegt worden, die mündliche Verhandlung aber gleichwohl durchgeführt wird.1 Ein Fall mangelhafter Vertretung liegt auch vor, wenn das Finanzgericht sein Verfahren gem. § 94a FGO nach billigem Ermessen bestimmt und ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, obgleich ein Beteiligter einen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hat,2 oder der Berichterstatter im schriftlichen Verfahren entscheidet, weil er irrtümlich annimmt, auch die Kläger hätten auf mündliche Verhandlung verzichtet.3

4.79

Demgegenüber liegt keine mangelhafte Vertretung vor, wenn das Finanzgericht einen Antrag auf Aufhebung oder Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu Unrecht abgelehnt und durch Urteil entschieden hat; hier kann allenfalls eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht werden.4

4.80

ee) Verletzung der Öffentlichkeit des Verfahrens Die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Senat des Finanzgerichts bzw. dem Einzelrichter einschließlich der Verkündung muss gem. § 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 169 GVG grundsätzlich öffentlich sein (vgl. Rz. 3.1349 ff.). Das bedeutet: Ein unbestimmter Personenkreis muss die Möglichkeit haben, die Verhandlung an Ort und Stelle zu verfolgen. Der Raum, in dem die Streitsache verhandelt wird, muss für jedermann zugänglich sein.5

4.81

Wird gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens verstoßen, ist der absolute Revisionsgrund des § 119 Nr. 5 FGO gegeben. Er setzt allerdings voraus, dass die Beeinträchtigung der Öffentlichkeit auf den Willen oder auf mangelnde Sorgfalt des Gerichts zurückzuführen ist.6

4.82

§ 119 Nr. 5 FGO stellt nur auf die mündliche Verhandlung ab, auf die hin das Urteil ergangen ist, befasst sich aber nicht mit der Verkündung oder sonstigen Bekanntgabe des Urteils. Dass das Finanzgericht das angefochtene Urteil nicht öffentlich verkündet, sondern von der Möglichkeit der Urteilszustellung Gebrauch gemacht hat, kann aus diesem Grunde nicht zur Aufhebung der Vorentscheidung wegen eines Verfahrensmangels führen.7

4.83

ff) Fehlen der Entscheidungsgründe Eine Entscheidung ist dann nicht mit Gründen versehen, wenn sie nicht erkennen lässt, welche tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen für sie maßgeblich waren. Der Sinn des Begründungszwangs liegt darin, die Prozessbeteiligten darüber in Kenntnis zu setzen, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen liegt deshalb nur dann vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung zu überprüfen. Das ist nur dann der Fall, wenn das Finanzgericht seine Entscheidung überhaupt nicht begründet oder die Ent1 2 3 4 5

BFH v. 25.8.1999 – X R 9/98, BFH/NV 2000, 569. BFH v. 26.9.2000 – VI R 16/98, BFH/NV 2001, 325. BFH v. 5.5.1999 – XI R 44/98, BFH/NV 1999, 1485. BFH v. 18.10.2000 – VIII R 22/00, BFH/NV 2001, 466. BFH v. 19.1.2002 – V B 164/01, BFH/NV 2003, 521 und v. 27.11.1991 – X R 98 – 100/90, BStBl. II 1992, 411. 6 BFH v. 10.1.1995 – IV B 108/94, BFH/NV 1995, 803 und v. 22.3.1993 – XI R 23/92, XI R 24/92, BStBl. II 1993, 514. 7 BFH v. 15.7.2015 – II R 31/14, BFH/NV 2015, 1697.

Hendricks

435

4.84

Kap. 4 Rz. 4.85

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

scheidungsgründe insgesamt nur aus inhaltsleeren Floskeln bestehen oder missverständlich und verworren sind, nicht jedoch bei einer unzutreffenden oder unzureichenden Begründung.1

4.85 Das Finanzgericht ist zwar nicht verpflichtet, auf alle Einzelheiten des Sachverhalts und auf jede von den Beteiligten angestellte Erwägung näher einzugehen. Es fehlen jedoch dann hinreichende Entscheidungsgründe, wenn das Finanzgericht einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt.2 Allerdings verstößt es nicht gegen den Begründungszwang, wenn das Gericht an Stelle eigener Ausführungen zu einer Rechtsfrage auf eine Entscheidung des BFH verweist – unter Angabe der Fundstelle.3

4.86 Der Tatbestand eines Urteils muss aus sich heraus verständlich sein. Die Darstellung muss ein – wenn auch kurz gehaltenes – klares, vollständiges und in sich abgeschlossenes Bild des Streitstoffs vermitteln. Gibt der Tatbestand eines angefochtenen Urteils einschließlich der in Bezug genommenen Schriftstücke den zum Verständnis seines Inhalts erforderlichen Sach- und Streitstand nicht hinreichend wieder, so bildet die Entscheidung keine geeignete Grundlage für deren sachliche Nachprüfung durch das Revisionsgericht.4

4.87 Macht das Finanzgericht von der Begründungserleichterung nach § 105 Abs. 5 FGO Gebrauch (vgl. Rz. 3.1055), ist das Urteil dann nicht mit Gründen versehen, wenn das Gericht zu wesentlich neuem Klagevorbringen, über das im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren noch nicht entschieden worden ist, nicht Stellung genommen hat.5

4.88 Ein Urteil gilt auch dann als nicht mit Gründen versehen, wenn es bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefasst war und nicht spätestens innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung in vollständiger Fassung mit Urteilsformel, Tatbestand und Entscheidungsgründen einschließlich Unterschrift der mitwirkenden Richter der Geschäftsstelle übergeben worden ist.6

VI. Revisionserwiderung 1. „Einfache“ Revisionserwiderung

4.89 Nach Eingang der Revisionsbegründung gibt der BFH dem Revisionsbeklagten die Gelegenheit, innerhalb einer bestimmten Frist zur Revisionsbegründung Stellung zu nehmen. Die vom Gericht gesetzte Frist liegt im Regelfall zwischen vier und acht Wochen. Auch wenn es sich bei der gesetzten Frist nicht um eine Ausschlussfrist handelt, wird es für den Prozessbevollmächtigten selbstverständlich sein, die gesetzte Frist zu wahren. Im Regelfall wird die Stellungnahmefrist auf Antrag verlängert. Erwägt der Revisionsbeklagte eine Anschlussrevision (Rz. 4.92 ff.) hat er – unabhängig von der vom BFH gesetzten Stellungnahmefrist – die für die Anschlussrevision geltende Monatsfrist zu beachten (Rz. 4.17). Die Frist für die Ein-

1 2 3 4 5 6

BFH v. 20.6.2000 – VIII R 47/99, BFH/NV 2001, 46. BFH v. 29.11.2000 – I R 16/00, BFH/NV 2001, 626. BFH v. 16.8.1999 – VIII B 63/99, BFH/NV 2000, 209. BFH v. 20.6.2000 – VIII R 47/99, BFH/NV 2001, 46. BFH v. 2.12.1999 – IX R 76/98, BFH/NV 2000, 731. BFH v. 18.10.1999 – IX R 28/99, BFH/NV 2000, 464; Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 27.4.1993 – GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603.

436

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.93 Kap. 4

legung der Anschlussrevision kann – anders als die Frist zur Revisionserwiderung – nicht verlängert werden.1 Inhaltlich sollte sich der Revisionsbeklagte bemühen, dem BFH im Rahmen der Revisionserwiderung darzulegen, dass die Revision nicht begründet (gegebenenfalls sogar unzulässig) ist. Dies läuft im Regelfall darauf hinaus, dass sich der Revisionsbeklagte kritisch mit den vom Revisionsführer dargelegten Revisionsgründen auseinandersetzt.

4.90

Enthält das angefochtene Urteil tatsächliche Feststellungen, die der Revisionsbeklagte für unzutreffend hält, muss er prüfen, ob er von der Möglichkeit einer Gegenrüge Gebrauch machen sollte. Hat der Revisionsbeklagte im erstinstanzlichen Verfahren vollständig obsiegt, hatte er keinen Anlass (und verfahrensrechtlich mangels Rechtsschutzbedürfnis auch keine Möglichkeit)2, die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz anzugreifen. Das Institut der Gegenrüge ermöglicht es dem Revisionsbeklagten im Rahmen des Revisionsverfahrens, unzutreffende Tatsachenfeststellungen anzugreifen, um so zu verhindern, dass diese Feststellungen zur Grundlage einer ihn belastenden Entscheidung des Revisionsgerichts gemacht werden.3 An die Zulässigkeit der Gegenrüge sind die gleichen formellen Anforderungen zu stellen wie an die Verfahrensrüge des Revisionsklägers.4 Eine Gegenrüge muss also den allgemeinen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge genügen (s. Rz. 4.59 ff.).5 Anders als die Verfahrensrüge des Revisionsklägers ist die Gegenrüge jedoch nicht fristgebunden. Sie kann noch bis zum Schluss der Revisionsverhandlung ausgeübt werden.6

4.91

2. Anschlussrevision Literatur: Coring, Die Anschlußrevision im Finanzrechtsstreit, BB 1989, 1659; Binnewies, Rechtsbehelfe nach beiderseitigem Teilunterliegen im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 2001, 342; Günther, Zulässigkeit einer Anschlussrevision AO-StB 2015, 39.

Die Anschlussrevision ist zwar in der Finanzgerichtsordnung selbst nicht erwähnt. Ihre Statthaftigkeit folgt aber aus § 155 FGO i. V. m. § 554 ZPO. Sie hat vor allem in den Fällen Bedeutung, in denen Kläger und Beklagter teilweise obsiegt haben, teils unterlegen sind und beide hinsichtlich desselben Bescheides eine Abänderung des finanzgerichtlichen Urteils erreichen wollen, der Revisionsbeklagte sich allerdings lediglich der Revision des Revisionsklägers anschließen will.

4.92

Zu unterscheiden ist zwischen einer selbständigen Revision des Revisionsbeklagten und der unselbständigen Anschlussrevision: Eine selbständige Revision liegt vor, wenn nach Einlegung der Revision durch einen Beteiligten dessen Prozessgegner innerhalb der für ihn geltenden Revisionsfrist ebenfalls Revision einlegt. Diese Revision behält ihre volle Wirkung als selbständiges Rechtsmittel auch dann, wenn die Revision des anderen Beteiligten zurückgenommen oder als unzulässig verworfen

4.93

1 Lange in HHSp, § 118 FGO Rz. 276. 2 Vgl. nur Lange in HHSp, Vor §§ 115 – 134 FGO Rz. 16 ff. 3 Vgl. nur BFH v. 5.2.2015 – III R 30/14, BFH/NV 2015, 980; v. 13.8.2002 – VIII R 54/00, BStBl. II 2002, 869; v. 11.2.2004 – II R 43/01, BFH/NV 2004, 922; BVerwG v. 27.9.2006 – 9 C 4/05, BVerwGE 126, 378; BFH v. 5.5.2011 – IV R 34/08, BStBl. II 2011, 787. 4 So ausdrücklich BFH v. 5.2.2015 – III R 30/14, BFH/NV 2015, 980. 5 Lange in HHSp, § 118 FGO Rz. 276. 6 So ausdrücklich BFH v. 5.2.2015 – III R 30/14, BFH/NV 2015, 980; BVerwG v. 27.9.2006 – 9 C 4/05, BVerwGE 126, 378; Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 222 f.

Hendricks

437

Kap. 4 Rz. 4.94

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

worden ist. Denn es handelt sich im Ergebnis um zwei voneinander unabhängige, selbständige Revisionen.1

4.94 Eine Anschlussrevision liegt vor, wenn der Revisionsbeklagte sich der Revision des Revisionsklägers anschließt (vgl. § 155 FGO i. V. m. § 554 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine Anschlussrevision ist der in einem bereits eröffneten und noch nicht beendeten Revisionsverfahren unter Bezugnahme auf die ersteingelegte Revision vom Revisionsbeklagten gestellte Antrag, das angefochtene Urteil auch zu seinen Gunsten zu ändern.2 Durch die Bezugnahme auf die Revision des Revisionsklägers wird deutlich, dass insoweit keine selbständige Revision eingelegt werden soll.

4.95 Sind noch alle Voraussetzungen für eine Revision (einschließlich der Wahrung der Revisionsfrist) erfüllbar, besteht für den Revisionsbeklagten die Möglichkeit, eine selbständige Revision oder eine Anschlussrevision einzulegen (oder natürlich vollständig auf eine eigene Revision zu verzichten). Ist die Frist für eine eigene selbständige Revision bereits abgelaufen, kann er sich im Rahmen einer Anschlussrevision nur noch der Revision des Revisionsklägers anschließen. Gem. § 155 FGO i. V. m. § 554 Abs. 2 ZPO ist eine Anschlussrevision auch dann statthaft, wenn der Revisionsbeklagte auf die Revision verzichtet hat, die Revisionsfrist verstrichen oder die Revision nicht zugelassen worden ist.

4.96 Die Umdeutung einer selbständigen Revision in eine unselbständige Anschlussrevision ist ebenso wie der Übergang zur Anschlussrevision zulässig.3

4.97 Wird bei einem teilweise stattgebenden Urteil die Revisionsfrist für eine selbständige Revision durch den Revisionsbeklagten versäumt oder bestehen Zweifel daran, ob die Revisionsfrist für eine selbständige Revision eingehalten worden ist, so kann der Revisionsbeklagte innerhalb eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung zur Anschlussrevision übergehen. Diese darf aber nicht über den Rahmen der (Haupt-)Revision hinausgehen, da die Anschließung an eine Revision ihrem Wesen nach akzessorisch im Verhältnis zur Hauptrevision ist (s. Rz. 4.94).

4.98 Die Anschlussrevision muss gem. § 554 Abs. 2, 3 ZPO innerhalb eines Monats nach der Zustellung der Revisionsbegründung schriftlich eingelegt und begründet werden. Sie erfolgt durch Einreichung einer Revisionsanschlussschrift beim BFH. Die Frist für die Begründung der Anschlussrevision ist eine Ausschlussfrist; sie kann nicht verlängert werden.4

4.99 Die Begründung der Anschlussrevision muss den Anforderungen des § 120 Abs. 3 FGO genügen. D. h. sie muss folgende Angaben enthalten: – die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt wird (Revisionsanträge), – die Angabe der Revisionsgründe, und zwar – die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt;

1 Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 120 FGO Rz. 109 ff., der hier allerdings von einer selbständigen Anschlussrevision spricht; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 81. 2 BFH v. 17.11.2010 – I R 76/09, BStBl. II 2012, 276; Lange in HHSp, § 120 FGO Rz. 230. 3 Vgl. BFH v. 13.4.1994 – II R 93/90, BStBl. II 1994, 817 m. w. N. 4 Vgl. BFH v. 19.3.2003 – VI R 40/01, BFH/NV 2003, 1163.

438

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.103 Kap. 4

– soweit die Revision auf einen Verfahrensmangel gestützt wird: die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben. Die Anschlussrevision muss sich auf denselben Steuerfall beziehen wie die Revision. Fehlt es an dieser Voraussetzung, weil sie sich z. B. auf einen Steuerbescheid bezieht, für den keine Revision eingelegt wurde, so ist die Anschließung unzulässig.1 Hat bei objektiver Klagehäufung ein Beteiligter Revision nur wegen eines bestimmten Streitjahres eingelegt, kann daher der andere Beteiligte die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht durch eine unselbständige Anschlussrevision auf ein anderes Streitjahr ausdehnen.2

4.100

Beispiel:3 Das Finanzgericht hat der von K gegen die Einkommensteuerbescheide 2014 und 2016 erhobenen Klage nur hinsichtlich des Einkommensteuerbescheides 2014 stattgegeben und die Revision zugelassen. Das Finanzamt hat hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids 2014 Revision eingelegt. Eine gegen den anderen – abweisenden – Teil des finanzgerichtlichen Urteils betreffend das Streitjahr 2014 gerichtete unselbständige Anschlussrevision des K wäre unzulässig. Dies gilt in solchen Fällen auch umgekehrt bei einer Revision des K gegen die Klageabweisung betreffend das Jahr 2014 hinsichtlich einer betreffend das Jahr 2016 gerichteten unselbständigen Anschlussrevision des Finanzamts.

Die früher bestehenden Unterschiede zwischen einer selbständigen und einer unselbständigen Anschlussrevision sind nach der Neuregelung der Anschlussrevision in § 554 ZPO entfallen. Die Anschlussrevision ist nunmehr generell gegenüber der Hauptrevision akzessorisch, d. h. sie ist von deren Zulässigkeit und Fortführung abhängig. Sie verliert gem. § 554 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung, wenn die Hauptrevision zurückgenommen, verworfen oder durch Beschluss zurückgewiesen wird.4

4.101

Erweist sich die Anschlussrevision aber als begründet, so kann das erstinstanzliche Urteil unter Durchbrechung des Verbots der Verböserung auch zum Nachteil des Revisionsklägers abgeändert werden.5

4.102

VII. Weiteres Verfahren Literatur: Bundesfinanzhof (Hrsg.), 60 Jahre Bundesfinanzhof, Bonn 2010, S. 166 ff.; Kamps, Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumnis der Revisionsbegründungsfrist?, DStR 2008, 2250; Naumann, Der Beitritt im Finanzgerichtsprozeß, in FS Wacke, Köln 1972, S. 257; Schneider, Entscheidung durch Gerichtsbescheid im Verfahren vor dem BFH, NJW NJW-Spezial 2010, 91; Schwendy, Die Anhörung von Verbänden im Verfahren vor dem Bundesfinanzhof, FR 1990, 604.

1. Verfahrensgang und anwendbare Vorschriften Der äußere Ablauf des Verfahrens vor dem BFH ähnelt dem Verfahren vor dem Finanzgericht. Dies ergibt sich daraus, dass gem. § 121 Satz 1 FGO die für das finanzgerichtliche Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften entsprechend anwendbar sind. Über diese Bestimmung sind auch die Vorschriften über die Aussetzung, das Ruhen und die Unterbrechung des Verfahrens (etwa wegen des Todes oder der Insolvenz eines Verfahrensbeteiligten) zu beachten. 1 2 3 4 5

BFH v. 13.4.1994 – II R 93/90, BStBl. II 1994, 817. BFH v. 8.3.2007 – IV R 41/05, BFH/NV 2007, 1813. Vgl. BFH v. 13.4.1994 – II R 93/90, BStBl. II 1994, 817. Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 148; Ratschow in Gräber, § 120 FGO Rz. 81. BFH v. 20.9.1999 – III R 33/97, BStBl. II 2000, 208 m. w. N.

Hendricks

439

4.103

Kap. 4 Rz. 4.104

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

Gleiches gilt für die Trennung und Verbindung von Verfahren nach Maßgabe von § 74 FGO.1

4.104 Eine Besonderheit des Revisionsverfahrens besteht gem. § 122 Abs. 2 FGO darin, dass bei Streitigkeiten über eine auf Bundesrecht beruhende Abgabe oder über Bundesrecht das Bundesministerium für Finanzen dem Revisionsverfahren beitreten kann. Häufig wird es vom BFH sogar dazu aufgefordert, dem Verfahren beizutreten. Tritt das Bundesministerium der Finanzen dem Rechtsstreit bei, so hat es die Stellung eines Beteiligten (§ 122 Abs. 2 Satz 4 FGO). Das bedeutet, es kann Anträge stellen, Schriftsätze einreichen und sich in der mündlichen Verhandlung äußern. Gleiches gilt gem. § 112 Abs. 2 Satz 2 FGO für die zuständige oberste Landesbehörde, wenn das Verfahren eine von den Landesfinanzverwaltungen verwaltete Abgabe oder eine Rechtsstreitigkeit über Landesrecht betrifft.

4.105 Der BFH prüft zunächst, ob die Revision statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form eingelegt und begründet worden ist (vgl. Rz. 4.16 ff. und Rz. 4.44 ff.). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so verwirft der BFH die Revision als unzulässig. Die Entscheidung ergeht nicht durch Urteil, sondern gem. § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss. 2. Mündliche Verhandlung

4.106 Ist die Revision statthaft und zulässig, entscheidet der BFH gem. §§ 121, 90 Abs. 1 FGO grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Grundsatz ist jedoch in der Praxis nicht der Regelfall. Denn der BFH fordert die Beteiligten vielfach zu einem Verzicht auf mündliche Verhandlung auf (vgl. § 121 i. V. m. § 90 Abs. 2 FGO) oder entscheidet durch Gerichtsbescheid (vgl. Rz. 4.119). In weniger als 10 v. H. der vom BFH durch Urteil oder Beschluss entschiedenen Verfahren wird nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden.2

4.107 Kommt es zu einer mündlichen Verhandlung, so läuft diese ähnlich wie die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht ab (vgl. Rz. 3.805). Jeder Senat beim BFH entscheidet in der mündlichen Verhandlung mit fünf Berufsrichtern. Ehrenamtliche Richter wirken beim BFH nicht mit.

4.108 Wird die Prozessvertretung durch einen Anwalt wahrgenommen, sollte sein äußeres Erscheinungsbild insbesondere vor dem BFH dem Standesrecht entsprechen. Neben einer Robe trägt der bevollmächtigte Anwalt daher ein weißes Hemd und eine weiße Krawatte. Den Senat spricht der Prozessbevollmächtigte mit „Hoher Senat“ an. Diese Anrede sollte zumindest bei der Eröffnung des Plädoyers einmal verwendet werden.

4.109 Nach dem Aufruf der Sache betritt der Senat den Sitzungsaal. In diesem Moment erheben sich die Beteiligten von ihren Plätzen. Sie sollten stehen bleiben bis der3 Vorsitzende sie auffordert, Platz zu nehmen. Der Vorsitzende leitet die mündliche Verhandlung. Zunächst eröffnet er die mündliche Verhandlung. In einigen Senaten hat sich durchgesetzt, dass der Vorsitzende zunächst den Senat in seiner konkreten Besetzung persönlich vorstellt. Nach § 57 FGO stellt er (dann) zunächst die Anwesenheit der Erschienenen fest. Anschließend kommt es zur Erörte1 Seer in Tipke/Kruse, § 121 FGO Rz. 21. 2 In 2016 fand lediglich in 7 v. H. der Fälle (in 2015 lediglich in 9 v. H. der Fälle) eine mündliche Verhandlung statt, vgl. den Jahresbericht des BFH für das Jahr 2016. 3 Mehrere Senate haben eine weibliche Vorsitzende. Aus Gründen der Vereinfachung wird nachfolgend auf eine sprachliche Differenzierung verzichtet.

440

Hendricks

B. Revisionsverfahren

Rz. 4.114 Kap. 4

rung des Sach- und Streitstands, wobei sich einige Vorsitzende hierbei vom Berichterstatter unterstützen lassen. Die Erörterung des Sach- und Streitstands beginnt mit einer Darstellung der Entscheidungsgrundlagen. Soweit die Beteiligten hierauf nicht verzichten, legt der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Sachverhalt dar, über den nach Auffassung des Gerichts zu entscheiden ist.1 Da den Beteiligten zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Wort erteilt wurde, ist davon abzuraten, ein abweichendes Verständnis des Sachverhalts bereits an dieser Stelle zu äußern. Vielmehr sollte man notieren, inwieweit man anderer Auffassung ist und diese im Anschluss an die richterliche Sachverhaltsdarstellung darlegen.

4.110

Als Nächstes hat zunächst der Vertreter des Revisionsklägers das Recht zu plädieren. Plädiert wird an dem hierfür vorgesehenen Rednerpult. Zu empfehlen ist ein strukturierter Vortrag, der sowohl auf die in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht entscheidenden Aspekte eingeht. Der Vertreter hat hier die Möglichkeit, das Gericht und die Gegenseite noch einmal von seiner Rechtsauffassung zu überzeugen. Dabei ist es unschädlich, wenn sich der Vortrag seinem Aufbau nach deutlich am Aufbau des Revisionsbegründungsschriftsatzes orientiert. Allerdings sollte das Plädoyer frei vorgetragen werden. Ein mehr oder weniger umfangreiches Redemanuskript ist unschädlich. Je nach Kompliziertheit des Falles dauert ein übliches Plädoyer zwischen 5 und 30 Minuten.2 Mit Rücksicht auf das nachfolgende Rechtsgespräch, in dem auch Details noch einmal beleuchtet werden können, sollte sich das Plädoyer auf die wesentlichen Argumente beschränken. Das Plädoyer endet mit dem förmlichen Antrag. Hier ist es üblich, auf die Seite des Schriftsatzes zu verweisen, auf welcher der Antrag gestellt wurde.3 Ist der Antrag vergleichsweise einfach formuliert, kann er auch wörtlich wiedergegeben werden.

4.111

Nach dem Plädoyer des Vertreters des Revisionsklägers hat der Vertreter des Revisionsbeklagten die Möglichkeit zur Stellungnahme. Es gelten die vorgenannten Grundsätze.

4.112

Anschließend eröffnet der Vorsitzende das Rechtsgespräch. Aufbauend auf dem zuvor dargestellten Sachverhalt und den Plädoyers geht das Gericht nun auf die vorgetragenen Argumente ein und nimmt hierzu Stellung. Auch hier empfiehlt es sich wieder, zunächst die vollständigen Ausführungen abzuwarten und sich wesentliche Punkte zu notieren. Denn nach Würdigung durch das Gericht fordert der Vorsitzende oder der Berichterstatter die Beteiligten abermals zur Stellungnahme auf. An diesem Rechtsgespräch nehmen die Vertreter der Beteiligten regelmäßig sitzend teil, es sei denn, dass der Vorsitzende (ausnahmsweise) darum bittet, an das Rednerpult zu treten.

4.113

Am Ende schließt der Vorsitzende die Sitzung und das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Zuvor teilt der Vorsitzende noch mit, ob der Tenor der Entscheidung kurzfristig4 bei der Geschäftsstelle des zuständigen Senates telefonisch erfragt werden kann oder ob die Entscheidung den Beteiligten schriftlich zugestellt wird.

4.114

1 Einzelne Senate lassen den Beteiligten in zeitlicher Nähe zur mündlichen Verhandlung regelmäßig eine schriftliche Sachverhaltsdarstellung („Sachbericht“) zukommen. 2 Es wird berichtet, dass das Plädoyer in einzelnen Fällen die 45-Minuten-Grenze überschritten hat. Dies dürfte selbst die Aufnahmefähigkeit eines BFH-Richters überschreiten. 3 Formulierungsvorschlag: „Hinsichtlich des Antrages wird verwiesen auf Seite 27 des Schriftsatzes vom 13. März 2017“. 4 In der Regel am nächsten Werktag.

Hendricks

441

Kap. 4 Rz. 4.115

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

3. Entscheidung über die Revision

4.115 Von dem Grundsatz, dass über eine Revision durch Urteil entschieden wird, gibt es nach § 126a FGO eine weitere Ausnahme: Der BFH kann eine unbegründete Revision durch Beschluss in der Besetzung mit fünf Berufsrichtern zurückweisen, wenn – diese Entscheidung einstimmig ergeht und – der Senat eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

4.116 In einem solchen Fall sind allerdings die Beteiligten von der Absicht des Senats vorab zu unterrichten und zu hören. Der Beschluss soll eine kurze Begründung enthalten; dabei sollen die Voraussetzungen dieser Verfahrensmöglichkeit festgestellt werden (§ 126a Satz 3 FGO).

4.117 Ist die Revision begründet, so kann der BFH wie folgt verfahren: – Er kann in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Sache spruchreif ist. Das ist der Fall, wenn die vom Finanzgericht festgestellten Tatsachen eine abschließende rechtliche Beurteilung der Streitsache durch den BFH ermöglichen, also keine weiteren tatsächlichen Feststellungen zu treffen sind.1 – Er kann auch das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen die Sache noch nicht spruchreif ist2 oder das Finanzgericht die Klage – zu Unrecht – als unzulässig abgewiesen hat, die Begründetheit der Klage also nicht geprüft hat.3 Aufhebung und Zurückverweisung erfolgen auch dann, wenn das Urteil auf einem Verfahrensmangel beruht. Auch die notwendige Beiladung gehört zur Grundordnung des Verfahrens; auf sie kann nicht verzichtet werden. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung ist deshalb verfahrensfehlerhaft. Wird sie im finanzgerichtlichen Verfahren unterlassen, kann dieser Verfahrensfehler noch im Revisionsverfahren geheilt werden (vgl. § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO). Allerdings steht es im Ermessen des BFH, ob er die Sache an das Finanzgericht zur Nachholung der notwendigen Beiladung zurückverweist oder die Beiladung selbst vornimmt.4 Hat der BFH das Urteil eines Einzelrichters aufgehoben, kann er die Sache an den Vollsenat des Finanzgerichts zurückverweisen, wenn die Sache im zweiten Rechtszug weiterhin besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder von grundsätzlicher Bedeutung ist.5

4.118 Das Finanzgericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des BFH zu Grunde zu legen, § 126 Abs. 5 FGO.

4.119 Hat der BFH durch Gerichtsbescheid entschieden, so kann jeder Beteiligte innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids Antrag auf mündliche Verhandlung stellen. Es empfiehlt sich, mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung oder einem gesonderten, wenig später auf den Weg ge1 Ratschow in Gräber, § 126 FGO Rz. 12; Seer in Tipke/Kruse, § 126 FGO Rz. 28. 2 BFH v. 28.9.2000 – III R 61/98, BFH/NV 2001, 643; Ratschow in Gräber, § 126 FGO Rz. 14; Seer in Tipke/Kruse, § 126 FGO Rz. 29, 30. 3 BFH v. 14.6.2000 – X R 18/99, BFH/NV 2001, 170. 4 BFH v. 19.6.2006 – VIII R 33/05, BFH/NV 2006, 1693; vgl. zur notwendigen Beiladung auch Rz. 3.789 ff. 5 BFH v. 27.7.2004 – IX R 64/01, BFH/NV 2005, 191 und v. 15.4.1996 – VI R 98/95, BStBl. II 1996, 478.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.124 Kap. 4

brachten weiteren Schriftsatz darzulegen, weshalb der Antragsteller den ergangenen Gerichtsbescheid nicht für rechtens hält.

4. Beendigung des Revisionsverfahrens auf andere Weise Das Revisionsverfahren kann – außer durch Urteil oder Beschluss des BFH – auch durch eine Rücknahme beendet werden (§ 125 FGO).1 In einem solchen Fall ist das Verfahren durch Beschluss einzustellen.

4.120

Darüber hinaus kann das Verfahren auch durch übereinstimmende Erledigungserklärungen beendet werden. Tritt z. B. während des Revisionsverfahrens ein erledigendes Ereignis ein (der angefochtene Bescheid wird vom beklagten Finanzamt z. B. zurückgenommen) und erklären daraufhin die Beteiligten den Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt, so werden das angefochtene Urteil und das Revisionsverfahren gegenstandslos; der BFH hat nur noch über die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu entscheiden.2

4.121

Auch eine einseitige Erledigungserklärung ist möglich. In diesem Fall entscheidet der BFH lediglich noch über die Frage, ob sich das Verfahren erledigt hat. Wie im Klageverfahren (vgl. Rz. 3.751) hat auch hier die Erledigungserklärung des Revisionsklägers den Inhalt, festzustellen, dass das zunächst zulässige und begründete Rechtsmittel inzwischen gegenstandslos geworden ist. Der Revisionskläger geht also von seinem ursprünglichen Sachantrag (Zulassung der Revision) auf einen Feststellungsantrag über. Dieser Antrag hat Erfolg, wenn tatsächlich eine Erledigung eingetreten ist.3

4.122

Hat sich der Rechtsstreit tatsächlich in der Hauptsache erledigt (z. B. durch antragsgemäße Änderung oder Aufhebung des angefochtenen Bescheides), sollte zur Vermeidung von Kosten die Abgabe einer Erledigungserklärung geprüft werden. Wird der Rechtsstreit seitens des Revisionsklägers nämlich nicht für erledigt erklärt, so wird die Revision wegen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses unzulässig und muss auf Kosten des Revisionsklägers abgewiesen werden.4

4.123

C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren I. Ziel und praktische Bedeutung Ein Revisionsverfahren setzt voraus, dass zuvor der Weg für ein solches Verfahren durch Zulassung der Revision eröffnet worden ist. In einer Vielzahl von Fällen erfolgt die Revisionszulassung durch das Finanzgericht selbst. Hat das Finanzgericht die Revision nicht ausdrücklich zugelassen (z. B. weil das finanzgerichtliche Urteil keine Entscheidung über die Revisionszulassung enthält), kann die unterlegene Seite versuchen, eine Revisionszulassung im Rahmen eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens durchzusetzen (§ 116 FGO). Ein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ist darauf gerichtet, beim BFH eine Zulassung der Revision zu erreichen. Im Einzelfall kann das Verfahren auch auf eine Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht gerichtet sein. In der Praxis basieren rund drei Viertel der beim BFH anhängigen Revisionsverfahren auf einer Revisionszulassung durch das Finanz-

1 2 3 4

Seer in Tipke/Kruse, § 125 FGO Rz. 17. Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 125 FGO Rz. 29 ff. m. w. N. Hierzu Rüsken in Beermann/Gosch, § 125 FGO Rz. 35 ff. m. w. N. Vgl. BFH v. 22.5.2001 – VII R 71/99, BStBl. II 2001, 683.

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4.124

Kap. 4 Rz. 4.125

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

gericht, in ca. einem Viertel der Revisionsverfahren wurde die Revision zuvor vom BFH selbst zugelassen.1

4.125 Statistisch gesehen sind die Erfolgsaussichten einer Nichtzulassungsbeschwerde gering. So waren nach den jüngsten Geschäftsberichten des BFH in den letzten Jahren im Schnitt etwa nur 13 % bis 17 % aller Beschwerden von Erfolg gekrönt.2 Bemerkenswert ist die hohe Zahl von Beschwerden, die der BFH als unzulässig verwirft. In den letzten Jahren wurden regelmäßig mehr als 40 % der Nichtzulassungsbeschwerden vom BFH als unzulässig verworfen.3 Der Grund dürfte darin liegen, dass der BFH für die Begründung einer Beschwerde sehr hohe Darlegungsanforderungen entwickelt hat.4 Die professionelle Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde setzt vor diesem Hintergrund eine gewisse Spezialisierung und vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit der umfangreichen Rechtsprechung zu den Darlegungserfordernissen voraus. Die Erfolgsaussichten können dann als relevant bezeichnet werden, wenn sich die Begründungsschrift gewissenhaft an den vom BFH entwickelten Darlegungsanforderungen orientiert.5

II. Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde Literatur: Gersch, Fristen für Prozesshandlungen, AO-StB 2002, 313; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl. 2010, S. 41 ff.; Schimmele, Erfolgreiche Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde, AO-StB 2002, 54; von Wedelstädt, Nichtzulassungsbeschwerde: Frist, Form, Begründung, Darlegung der Zulassungsgründe und Checklisten dazu, AO-StB 2005, 110.

4.126 Die Nichtzulassungsbeschwerde ist schriftlich einzulegen (vgl. § 116 Abs. 2 Satz 3 FGO: „Beschwerdeschrift“).6 Das Erfordernis der Schriftlichkeit ist grundsätzlich nur dann gewahrt, wenn der Schriftsatz unterschrieben, d. h. handschriftlich unterzeichnet ist.7 Das Fehlen der Unterschrift kann ausnahmsweise unschädlich sein, wenn sich aus anderen Umständen zweifelsfrei ergibt, dass die Beschwerde mit Wissen und Wollen des (angegebenen) Absenders gefertigt und abgesendet worden ist.8 Aber auch die Einlegung per Telefax oder Computerfax ge1 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.5. Rechtspflege Finanzgerichte 2016, S. 33 (ausgewertet wurden die Jahre 2014 bis 2016). 2 In 2014: 17 %, in 2015: 14 %, in 2016: 13 %, vgl. jeweils den Jahresbericht des BFH (veröffentlicht unter www.bundesfinanzhof.de). 3 So hat der BFH im Jahr 2016 in 1431 Fällen über eine Nichtzulassungsbeschwerde entschieden. Die Beschwerde wurde in 514 Fällen (41,95 %) als unzulässig verworfen und in 535 Fällen (43,67 %) wurde die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Lediglich in 176 Fällen (14,36 %) wurde die Beschwerde als zulässig und begründet qualifiziert, vgl. den Jahresbericht des BFH für das Jahr 2016. Zu Zahlen für die Vorjahre vgl. Lange in HHSp, § 115 FGO Rz. 71. 4 Das Nichtzulassungsbeschwerderecht wird vor diesem Hintergrund bisweilen auch als „Stolperdraht-Recht“ bezeichnet, vgl. nur Seer in Tipke/Kruse, § 116 FGO Rz. 29; sowie ausführlich Seer, StuW 2001, 3 (11 f.); Seer, StuW 2003, 193 (203). 5 So auch Rätke, Finanzgerichtsverfahren für Steuerberater und Rechtsanwälte, Rz. 1232, im Ergebnis auch Lange, StuW 2006, 366. 6 BFH v. 15.1.2002 – X B 143/01, BFH/NV 2002, 669; v. 17.8.2010 – X B 190/09, BFH/NV 2010, 2285. 7 Beschlüsse des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 30.4.1979 – GmSOGB 1/78, NJW 1980, 172 und v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 2340 (2341) sowie des Großen Senats des BFH v. 5.11.1973 – GrS 2/72, BStBl. II 1974, 242; BFH v. 17.8.2010 – X B 190/09, BFH/NV 2010, 2285. 8 So ausdrücklich BFH v. 17.8.2010 – X B 190/09, BFH/NV 2010, 2285.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.129 Kap. 4

nügt nach der Rechtsprechung dem Schriftformerfordernis, wenn das fragliche Dokument mit einer Unterschrift versehen übermittelt wurde.1 Aus § 52a FGO folgt die Möglichkeit, eine Beschwerde elektronisch (d. h. per E-Mail) einzulegen. Dabei ist zu beachten, dass das elektronische Dokument einem von Gesetzes wegen „schriftlich“ (d. h. eigenhändig) zu unterzeichnenden Schriftstück nur dann gleichsteht, wenn es mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach § 2 Nr. 3 SigG versehen ist.2 Die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde mit einfacher E-Mail ist demgegenüber nicht statthaft.3 Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb der Beschwerdefrist einzulegen. Die Beschwerdefrist endet einen Monat nach Zustellung des vollständigen Urteils (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO). Es handelt sich um eine Ausschlussfrist, die nicht verlängert werden kann. Wird diese Frist versäumt, so kommt allenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 56 FGO in Betracht, falls kein Verschulden vorliegt.4 Die Beschwerdeschrift muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Dies geschieht durch die Angabe des Finanzgerichts, des Datums der Entscheidung sowie des Aktenzeichens des finanzgerichtlichen Rechtsstreits.5 Um insoweit Probleme zu vermeiden, empfiehlt es sich, der Beschwerdeschrift eine Ausfertigung oder Abschrift des Urteils beizufügen, gegen das Revisionsverfahren angestrebt wird.6

4.127

Wegen des vor dem BFH bestehenden Vertretungszwangs muss die Nichtzulassungsbeschwerde von einer vertretungsberechtigten Person i. S. des § 62 Abs. 4 FGO unterzeichnet sein. Diese muss die volle Verantwortung für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde übernehmen und erkennen lassen, dass sie sich mit dem Streitstoff befasst hat. Die Nichtzulassungsbeschwerde muss daher von dem Bevollmächtigten selber stammen. Hierfür reicht es nicht aus, dass ein Bevollmächtigter lediglich einen von einem Beteiligten selbst verfassten Schriftsatz unterschreibt und weiterleitet oder auf einen Schriftsatz eines Beteiligten Bezug nimmt, ohne sich diesen erkennbar zu eigen zu machen.7

4.128

Der Beschwerdeschrift sollte klar und eindeutig zu entnehmen sein, dass Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt werden soll, nicht etwa Revision. Zwar kann unter Umständen auch eine Auslegung des entsprechenden Schriftsatzes zur Annahme einer Nichtzulassungsbeschwerde führen. Allerdings sind der Auslegung im Hinblick auf den beim BFH herrschenden Vertretungszwang (vgl. 4.4 ff.) durch rechtskundige Bevollmächtigte enge Grenzen gesetzt.8 Legt der Kläger statt der Nichtzulassungsbeschwerde „Revision“ ein, so kann die Revision nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde umgedeutet werden.9 Auch eine Nichtzulassungsbeschwerde, die nur hilfsweise für den Fall der Unzulässigkeit der primär eingelegten Revision erhoben wird, ist unzulässig.10

4.129

1 BFH v. 4.9.2000 – III B 41/00, BFH/NV 2001, 321; Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 30 m. w. N. 2 BFH v. 26.7.2011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925. 3 Ebenso Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 87. 4 Vgl. Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 101 m. w. N. 5 BFH v. 16.11.2007 – X B 167/07, BFH/NV 2008, 244. 6 Nach § 116 Abs. 2 Satz 3 FGO „soll“ diese erfolgen, ist aber im Regelfall zweckmäßig. 7 BFH v. 21.9.2004 – VII B 89/04, BFH/NV 2005, 232 und v. 11.3.2003 – VII B 356/02, BFH/NV 2003, 817. 8 BFH v. 31.1.2000 – V B 190/99, BFH/NV 2000, 872; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 9. 9 BFH v. 18.12.1996 – XI R 88/96, BFH/NV 1997, 506; v. 23.8.2000 – I R 49/00, BFH/NV 2001, 196. 10 BFH v. 26.3.2001 – III R 46/00, BFH/NV 2001, 1137; v. 27.3.2013 – I R 71/12, BFH/NV 2013, 1108.

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Kap. 4 Rz. 4.130

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

III. Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Literatur: Beermann, Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 116 FGO, DStZ 2001, 312; Jachmann-Michel, Die erfolgreiche Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision zum BFH, jM 2015, 426; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl. 2010, S. 91 ff.; Lange, Anforderungen an die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde, DB 2001, 2312; Lange, Die Verlängerung der Begründungsfrist für eine Nichtzulassungsbeschwerde, DStZ 2003, 269; Nacke, Verfahren vor dem BFH – Anforderungen und Fallstricke, NWB 2016, 2054 und NWB 2016, 2131; Rüsken/Bleschick, Revisionszulassung und Revision – eine Handreichung zu deren Begründung, DStR Beihefter 2015 zu Nr 35, 45; Sangmeister, Darf die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 Abs. 3 Satz 4 FGO) nur einmal verlängert werden?, FR 2002, 273; Schlüßel, Anforderungen an NZB-Begründung, AO-StB 2008, 299.

1. Form und Frist

4.130 Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch schriftlich zu begründen.1 Die Begründung ist beim BFH einzureichen (§ 116 Abs. 3 Satz 2 FGO, zur Schriftform s. Rz. 4.19 f.). Ein fristgerechter Eingang beim Finanzgericht genügt nicht. Wegen des vor dem BFH bestehenden Vertretungszwangs muss auch der Begründungsschriftsatz von einer vertretungsberechtigten Person i. S. des § 62 Abs. 4 FGO (vgl. Rz. 4.4 ff.) unterzeichnet sein.

4.131 Für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist eine selbständige Begründungsfrist zu beachten. Sie beträgt zwei Monate ab der Zustellung des vollständigen finanzgerichtlichen Urteils (§ 116 Abs. 3 Satz 1 FGO). Die Begründungsfrist kann von dem Vorsitzenden auf einen entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers um einen weiteren Monat verlängert werden. Anders als die Frist zur Begründung der Revision kann die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehrfach verlängert werden. Sie endet spätestens drei Monate nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils. Der für eine Verlängerung notwendige Fristverlängerungsantrag muss vor Ablauf der regulären Begründungsfrist gestellt sein, also beim BFH eingehen (vgl. § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO).2 Geht der Fristverlängerungsantrag dort später ein, kann ihm nicht stattgegeben werden; die Nichtzulassungsbeschwerde ist – wenn bislang keine den Vorschriften der FGO entsprechende Begründung abgegeben worden ist – als unzulässig zu qualifizieren.3

4.132 Es ist darauf zu achten, dass sämtliche Nichtzulassungsgründe fristgerecht vorgetragen werden, damit sie auch bei der Entscheidung berücksichtigt werden können. Der Berater muss nämlich sämtliche Zulassungsgründe innerhalb der Begründungsfrist substantiiert vortragen. Zulassungsgründe, die erst nach Ablauf der Begründungsfrist vorgebracht werden, bleiben unberücksichtigt. Denn die Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde insbesondere hinsichtlich der Begründungsanforderungen ist nur nach den innerhalb der Begründungsfrist vorgebrachten Ausführungen zu beurteilen.4

4.133 Die Gründe für die Zulassung der Revision müssen innerhalb der Begründungsfrist vorgebracht werden. Neue Gründe können nach Ablauf der Frist nicht „nachgeschoben“ werden. Bloße Erläuterungen oder Ergänzungen sind allerdings auch noch nach Fristablauf zulässig.5 1 BFH v. 27.7.2010 – IX B 174/09, BFH/NV 2010, 2097. 2 BFH v. 28.6.2007 – IX B 39/07, BFH/NV 2007, 2124 und v. 7.12.2006 – IX B 44/06, BFH/NV 2007, 921. 3 BFH v. 28.1.2003 – X B 126/02, BFH/NV 2003, 505; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 21. 4 BFH v. 24.4.2007 – X B 169/06, BFH/NV 2007, 1504. 5 BFH v. 23.6.2004 – V B 230/02, BFH/NV 2005, 80 und v. 30.7.2003 – X B 152/02, BFH/NV 2003, 1603; Seer in Tipke/Kruse, § 116 FGO Rz. 23; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 22.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.136 Kap. 4

2. Inhalt der Beschwerdebegründung a) Allgemeines Die Nichtzulassungsbeschwerde kann nur auf Gründe gestützt werden, die die Zulassung der Revision durch das Finanzgericht rechtfertigen. Das bedeutet: Die Nichtzulassungsbeschwerde muss sich mit einem oder mehreren der in § 115 Abs. 2 Nr. 1-3 FGO aufgeführten Zulassungsgründe auseinandersetzen. Die Aufzählung in § 115 Abs. 2 FGO ist abschließend (Enumerationsprinzip).1 Hiernach ist die Revision „nur“ zuzulassen, wenn

4.134

– die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), – die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert (Nr. 2) oder – ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Da eine Revisionszulassung nur mit Rücksicht auf die gesetzlich geregelten Gründe beansprucht werden kann, kann die Nichtzulassungsbeschwerde – von seltenen Extremfällen abgesehen (Rz. 4.145 und 4.172 ff.) – gerade nicht darauf gestützt werden, dass das Urteil in materiell-rechtlicher Hinsicht fehlerhaft ist (Umkehrschluss aus § 115 Abs. 2 FGO). Das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren dient also nicht dazu, die allgemeine Richtigkeit finanzgerichtlicher Urteile zu gewährleisten.2 Gleichwohl ist in der Praxis immer wieder zu beobachten, dass Nichtzulassungsbeschwerden ausschließlich oder primär damit begründet werden, das Urteil der Vorinstanz sei rechtswidrig. Eine so begründete Nichtzulassungsbeschwerde wird regelmäßig als unzulässig verworfen.

4.135

b) Überblick über die Zulassungsgründe aa) Grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) Literatur: Bleschick, Die Revisionszulassungsgründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO im Spannungsverhältnis zwischen Individualrechtsschutz und Allgemeininteresse, Frankfurt am Main 2012; Müller, Begründungsfehler bei Einlegen der Grundsatzrevision, AO-StB 2010, 308; Schumann, Die „grundsätzliche Bedeutung“ bei der Nichtzulassungsbeschwerde – Neuer Wein in alten Schläuchen?, Stbg. 2002, 61; Thebrath, Die Revisionszulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO und ihre Darlegung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde, Frankfurt/Main 2015.

Gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn eine Frage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht, weil ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der Entwicklung und Handhabung des Rechts betrifft.3 Es muss sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsanwendung wichtige Frage handeln.4 Dies ist der Fall, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtssicherheit, der 1 Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO, Rz. 32; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 11. 2 BFH v. 19.11.2013 – IX B 79/13, BFH/NV 2014, 371; v. 14.12.2011 – VII B 26/10, BFH/NV 2012, 591; v. 11.3.2011 – V B 45/10, BFH/NV 2011, 999; Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 59. 3 St. Rspr., vgl. BFH v. 22.1.2007 – VIII B 161/05, BFH/NV 2007, 889 m. w. N. 4 Vgl. BFH v. 5.5.1998 – I B 24/98, BStBl. II 2000, 430; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 23.

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4.136

Kap. 4 Rz. 4.137

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

Rechtseinheitlichkeit bzw. der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und im Streitfall auch klärungsfähig ist.1 Hiervon kann z. B. ausgegangen werden, wenn die aufgeworfene Rechtsfrage in Rechtsprechung bzw. Schrifttum umstritten ist und deshalb für die Allgemeinheit eine höchstrichterliche Klärung geboten ist.2 Hat das Finanzgericht die Rechtslage abweichend von einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift beurteilt, liegt regelmäßig ein allgemeines Interesse an höchstrichterlicher Klärung vor.3 Hingegen kommt Rechtsfragen, die ausgelaufenes Recht oder auslaufendes Recht betreffen, regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung mehr zu4 (vgl. aber Rz. 4.164).

4.137 Die Rechtsfrage muss darüber hinaus klärungsbedürftig sein. Daran fehlt es, wenn sich die Antwort auf die streitige Rechtsfrage ohne weiteres aus dem klaren Wortlaut und dem Sinngehalt des Gesetzes ergibt oder die Rechtslage offensichtlich eindeutig ist5 bzw. vom BFH hinreichend geklärt ist und sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben, die eine erneute Überprüfung durch den BFH erforderlich machen.6

4.138 Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung setzt ferner voraus, dass die streitige Rechtsfrage in dem betreffenden Verfahren auch klärungsfähig ist. Hieran fehlt es, wenn sie nach den für den BFH bindenden Feststellungen des Finanzgerichts nicht entscheidungserheblich wäre,7 so z. B. wenn die Rechtsfrage die Begründetheit der Klage betrifft, die Klage aber als unzulässig abgewiesen wurde.8 An der Entscheidungserheblichkeit fehlt es auch dann, wenn das Finanzgericht seine Entscheidung auch auf andere selbständige und für sich bereits tragende Erwägungen gestützt hat.9 bb) Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO) Literatur: Bleschick, Die Revisionszulassungsgründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO im Spannungsverhältnis zwischen Individualrechtsschutz und Allgemeininteresse, Frankfurt/Main 2012; Jachmann, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, FS Frotscher 2013, S. 259; Kulosa, Zugang zum BFH bei schwerwiegenden Rechtsfehlern – Plädoyer für mehr Großzügigkeit, DStR 2013, 1523; Spindler, Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtssicherheit, in FS Kirchhof, 2013, S. 1789; Thebrath, Die Revisionszulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO und ihre Darlegung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde, Frankfurt/Main 2015.

4.139 Der Zulassungsgrund „Fortbildung des Rechts“ steht zwar selbständig neben dem der „grundsätzlichen Bedeutung“ und „der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“ (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 bzw. § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO); in der Rechtssprechungspraxis handelt es sich aber um einen Unterfall der „grundsätzlichen Bedeutung“ i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1

1 St. Rspr., vgl. BFH v. 29.12.2006 – IX B 139/05, BFH/NV 2007, 1084 und v. 27.10.2003 – VII B 196/03, BFH/NV 2004, 232 m. w. N. 2 BFH v. 19.5.2005 – IX B 98/06, BFH/NV 2005, 1829 m. w. N. 3 Lange in HHSp, § 115 FGO Rz. 97. 4 BFH v. 8.2.2007 – IX B 107/06, BFH/NV 2007, 1098 und v. 20.10.2006 – IX B 52/05, BFH/NV 2007, 214. 5 BFH v. 8.2.2007 – XI B 70/06, BFH/NV 2007, 1071; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 28. 6 BFH v. 2.3.2007 – IX B 144/06, BFH/NV 2007, 1120 und v. 4.5.1999 – IX B 38/99, BStBl. II 1999, 587. 7 BFH v. 1.8.2016 – VI B 18/16, BFH/NV 2016, 1708; v. 8.4.2004 – VII B 110/03, BFH/NV 2004, 1310; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 30. 8 BFH v. 19.2.2001 – VI B 35/99, BFH/NV 2001, 1032; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 52. 9 BFH v. 8.2.2000 – I B 61/99, BFH/NV 2000, 964.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.142 Kap. 4

FGO.1 Eine Zulassung kommt nur in Betracht, wenn die Entscheidung über die Rechtsfrage im Allgemeininteresse zur Rechtsfortbildung beiträgt. Diese Voraussetzung ist dann erfüllt, wenn die Entscheidung über die betreffende Rechtsfrage bisher ungeklärt ist und der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen.2 Dass die betreffende Rechtsfrage bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden ist, reicht – für sich allein – noch nicht aus.3 Vielmehr muss ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung bestehen.4 Rechtsfortbildung setzt voraus, dass das Gesetz eine Lücke in der Weise aufweist, dass es an einer gesetzlichen Regelung für den zu beurteilenden Sachverhalt fehlt und dass dieser Mangel sich als eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts erweist.5 Dies ist nach der Rechtsprechung des BFH der Fall, wenn „das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie […] unvollständig, also ergänzungsbedürftig, ist“ und dass „die Ergänzung nicht etwa einer vom Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht“.6

4.140

Da es sich bei der Zulassung zur Fortbildung des Rechts um einen Unterfall der grundsätzlichen Bedeutung handelt,7 gelten im Übrigen die für die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung geltenden Zulassungsvoraussetzungen. Die aufgeworfene Frage muss insoweit nicht nur entscheidungserheblich, sondern auch klärungsbedürftig und klärungsfähig sein; darüber hinaus muss ein abstraktes (d. h. allgemeines) Interesse an der Klärung der Rechtsfrage bestehen.8

4.141

cc) Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO) Literatur: Kulosa, Zugang zum BFH bei schwerwiegenden Rechtsfehlern – Plädoyer für mehr Großzügigkeit, DStR 2013, 1523; Lange, Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wegen eines schwerwiegenden Rechtsfehlers, DStZ 2002, 782; Müller, Begründungsfehler bei der Divergenzrevision – Voraussetzungen für die erfolgreiche Revision zur Rechtsfortbildung, zur Sicherung einheitlicher Rechtsprechung und wegen gravierender Rechtsanwendungsfehler, AO-StB 2011, 49; Thebrath, Die Revisionszulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO und ihre Darlegung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde, Frankfurt/Main 2015.

Gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO ist eine Revision auch dann zuzulassen, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert. Mit diesem Zulassungsgrund sollen Unterschiede in der Rechtsanwendung durch die Gerichte vermieden bzw. beseitigt werden.9 Häufig wird eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diese Bestim1 BFH v. 8.10.2014 – X B 24/14, BFH/NV 2015, 153; v. 28.12.2006 – III B 91/05, BFH/NV 2007, 864 und v. 27.1.2003 – II B 194/01, BFH/NV 2003, 792. 2 BFH v. 23.8.2002 – IV B 89/01, BFH/NV 2003, 177 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 61; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 41. 3 BFH v. 27.3.2006 – VIII B 131/06, BFH/NV 2006, 2122. 4 BFH v. 10.6.2011 – IX B 13/11, BFH/NV 2011, 2074. 5 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 2014, S. 370 ff.; Werth in Beermann/Gosch, § 115 FGO Rz. 112. 6 BFH v. 13.7.1989 – V R 110 – 112/84, BStBl. II 1989, 1036; vgl. auch BFH v. 25.11.1993 – V R 64/89, BStBl. II 1994, 212; v. 23.11.1983 – II R 27/82, BStBl. II 1984, 225; Werth in Beermann/ Gosch, § 115 FGO Rz. 112. 7 Vgl. nur BFH v. 8.10.2014 – X B 24/14, BFH/NV 2015, 153. 8 BFH v. 10.6.2011 – IX B 13/11, BFH/NV 2011, 2074. 9 Vgl. BT-Drucks. 14/3750, S. 75.

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449

4.142

Kap. 4 Rz. 4.143

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

mung gestützt, wenn das Urteil eines Finanzgerichts von der Rechtsprechung des BFH abweicht. Die Bestimmung kommt grundsätzlich auch dann zur Anwendung, wenn das Urteil des Finanzgerichts von der Entscheidung eines anderen Gerichts abweicht (insbesondere von der Entscheidung eines Finanzgerichts, aber auch von der Entscheidung eines anderen obersten Bundesgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts). Die Instanzgerichte anderer Gerichtszweige gehören zwar ebenfalls zur „Rechtsprechung“; der BFH geht aber davon aus, dass § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO insoweit ausschließlich die Einheitlichkeit der finanzgerichtlichen Rechtsprechung sicherstellen soll und hält divergierende Entscheidungen gerichtszweigfremder Instanzgerichte (z. B. eines Landgerichts1 oder eines Sozialgerichts)2 für nicht geeignet, eine Revisionszulassung nach dieser Vorschrift zu begründen.3

4.143 Dabei kann von einer Divergenz nur dann ausgegangen werden, wenn beiden divergierenden Entscheidungen vergleichbare Sachverhalte zu Grunde lagen und in Bezug auf die identische Rechtsfrage unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten wurden.4 Die Vorinstanz muss ihrer Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz zu Grunde gelegt haben, der mit den tragenden Rechtsausführungen in der Divergenzentscheidung nicht übereinstimmt.5 Eine Abweichung in der Würdigung von Tatsachen genügt nicht.6 Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wird eine Revision dann nicht erforderlich sein, wenn das Finanzgericht von der Rechtsprechung des betreffenden Gerichts ausgeht, deren Voraussetzungen aber wegen der Besonderheiten des Einzelfalls verneint.7

4.144 Im Grundsatz lässt der BFH das Revisionsverfahren nur dann mit Rücksicht auf eine Divergenz zu, wenn der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für diesen Zulassungsgrund innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist dargelegt hat (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO, vgl. Rz. 4.155 ff.). In den (seltenen) Fällen der nachträglichen Divergenz wird die Revision ausnahmsweise zugelassen, ohne dass die Voraussetzungen der Divergenz vom Beschwerdeführer dargelegt wurden. Von dieser Möglichkeit macht der BFH Gebrauch, wenn die Voraussetzungen für eine Revisionszulassung wegen Divergenz erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist erstmalig vorliegen. Hat z. B. der Beschwerdeführer seine Nichtzulassungsbeschwerde auf eine grundsätzliche Bedeutung gestützt und wird die aufgeworfene Rechtsfrage durch eine nach Einreichung der Beschwerdebegründung veröffentlichte Entscheidung höchstrichterlich geklärt, lässt der BFH die Beschwerde wegen nachträglicher Divergenz zu.8 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die dem Beschwerdeverfahren zu Grunde liegenden Entscheidung der Vorinstanz von der neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht. Durch die Revisionszulassung ist dann sichergestellt, dass die neue höchstrichterliche Rechtsprechung auch für die Streitfälle zur Anwendung kommen kann, in denen zuvor (unter Berufung auf eine grundsätzliche Bedeutung) die Klärung der Rechtsfrage durch den BFH gefordert wurde. Der BFH macht allerdings nur dann von der Möglichkeit der Zulassung wegen nachträglicher Divergenz Gebrauch, wenn der Beschwerdeführer im Rahmen 1 2 3 4 5 6

BFH v. 11.11.2010 – XI B 107/09, BFH/NV 2011, 289. BFH v. 11.3.2014 – V B 30/13, BFH/NV 2014, 920. Ebenso Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 49; kritisch Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 67. BFH v. 3.4.2007 – VIII B 60/06, BFH/NV 2007, 1341; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 58. BFH v. 12.10.2006 – VI B 154/05, BFH/NV 2007, 51. BFH v. 12.10.2006 – VI B 154/05, BFH/NV 2007, 51 und v. 4.8.1993 – II B 175/92, BFH/NV 1994, 718. 7 Vgl. BFH v. 28.4.1994 – X B 313/93, BFH/NV 1995, 124 zum Zulassungsgrund der Divergenz. 8 St. Rspr., vgl. nur BFH v. 20.6.1974 – VI B 15/74, BStBl. II 1974, 583; v. 3.4.2013 – X B 20/12, BFH/ NV 2013, 111; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 55 m. w. N.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.146 Kap. 4

seiner Beschwerdebegründung ordnungsgemäß die Voraussetzungen der grundsätzlichen Bedeutung dargelegt hatte.1 Unabhängig von der Divergenz zu einer konkreten anderen gerichtlichen Entscheidung ist die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO „zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“ geboten, wenn die Entscheidung des Finanzgerichts an einem schwerwiegenden Rechtsanwendungsfehler leidet, der geeignet ist, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen.2 Insoweit können auch schwerwiegende Fehler bei der Auslegung revisiblen Rechts (sog. qualifizierte Rechtsanwendungsfehler) die Zulassung der Revision rechtfertigen. Es muss sich um einen offensichtlichen formellen oder materiellen Rechtsfehler des Finanzgerichts handeln von erheblichem Gewicht i. S. einer willkürlichen oder greifbar gesetzeswidrigen Entscheidung.3 Hiervon kann nur dann ausgegangen werden, wenn das Finanzgericht die Rechtslage in eklatanter Weise verkannt hat und seine Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar erscheint.4 Dies kann z. B. der Fall sein, wenn das Finanzgericht eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Rechtsnorm übersehen hat.5 Eine lediglich fehlerhafte Umsetzung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalls reicht hierfür nicht aus.6 Von einer willkürlichen Entscheidung kann auch dann nicht gesprochen werden, wenn sich das Gericht mit der Rechtslage eingehend auseinander setzt und seine Rechtsauffassung nicht jeder Rechtsgrundlage entbehrt bzw. noch als vertretbar erscheint.7

4.145

Eine greifbare Gesetzeswidrigkeit, die eine Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO rechtfertigt, bejaht der BFH nur im absoluten Ausnahmefall. Soweit ersichtlich sind bislang lediglich drei Entscheidungen veröffentlicht worden, bei denen ein derartiger qualifizierter Rechtsanwendungsfehler bejaht worden ist.8 Selbst wenn man unterstellen darf, dass einige auf diesen Grund gestützte Zulassungsbeschlüsse nicht veröffentlicht wurden (stattgebende Beschlüsse sind nach dem Gesetz nicht begründungsbedürftig, vgl. § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO),9 muss man gleichwohl davon ausgehen, dass der BFH von diesem Zulassungsgrund lediglich in besonderen Einzelfällen Gebrauch macht.

4.146

1 Vgl. nur BFH v. 3.4.2013 – X B 20/12, BFH/NV 2013, 1111 m. w. N. 2 So z. B. BFH v. 12.2.2014 – V B 81/13, BFH/NV 2014, 740; zur Revisionszulassung aus diesem Grund instruktiv: Kulosa, DStR 2013, 1523 ff. 3 BFH v. 19.1.2002 – IX B 79/02, BFH/NV 2003, 501 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 75 ff. 4 BFH v. 21.5.2004 – III B 107/03, BFH/NV 2004, 1220. 5 So BFH v. 28.7.2003 – V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597. 6 BFH v. 14.3.2007 – VIII B 131/06, BFH/NV 2007, 1176 und v. 17.1.2006 – VIII B 172/05, BFH/NV 2006, 799. 7 BFH v. 13.10.2004 – IV B 122/02, BFH/NV 2005, 341 und v. 30.8.2001 – IV B 79-80/01, BStBl. II 2001, 837. 8 Veröffentlichte Entscheidungen, in denen eine greifbare Gesetzeswidrigkeit bejaht wurde: BFH v. 28.7.2003 – V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597 [Übersehen einer einschlägigen Vorschrift]; v. 13.10.2003 – IV B 85/02, BStBl. II 2004, 25 [objektiv willkürliche Gewinnschätzung]; v. 13.1.2005 – VII B 147/04, BStBl. II 2005, 457 [evidenter Rechenfehler]. 9 Ebenso Kulosa, DStR 2013, 1523 (1526).

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451

Kap. 4 Rz. 4.147

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

dd) Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) Literatur: Drüen, Die Verfahrensrüge der Überraschungsentscheidung, AO-StB 2002, 196 und AOStB 2002, 242; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl. 2010, S. 154 ff.; Müller, Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde bei Verfahrensverstößen des FG – Darstellung von vermeidbaren Fehlern anhand von Beispielsfällen, AO-StB 2009, 302; Nieland, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme bei Richterwechsel, AO-StB 2013, 11; Rätke, Der Begriff des error in iudicando im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 FGO, DStZ 2000, 246.

4.147 Gem. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Mit diesem Revisionszulassungsgrund soll gewährleistet werden, dass ein korrektes Verfahren eingehalten wird. Er dient dem Schutz des rechtsuchenden Bürgers vor einer rechtsfehlerhaften Durchführung des finanzgerichtlichen Verfahrens. Hier geht es also nicht in erster Linie um eine „richtige“ Entscheidung des Finanzgerichts, sondern vielmehr um die Beachtung der verfahrensrechtlichen Vorschriften der FGO, falls auf deren Verletzung oder Nichtbeachtung die Entscheidung des Finanzgerichts beruhen kann.

4.148 Einzelne Verfahrensfehler sind erst nach Einsicht in die finanzgerichtliche Akte erkennbar. So ist etwa die Rüge der fehlerhaften Besetzung des Gerichts wegen eines vermeintlich verhinderten Richters überhaupt nur dann denkbar, wenn der Beschwerdeführer erkennt, dass der fragliche Richter in Wirklichkeit gar nicht verhindert war.1 Mit Rücksicht auf potenzielle Verfahrensmängel, die erst nach Einsicht in die finanzgerichtliche Akte erkennbar sind, empfiehlt es sich, auch im Rahmen des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens von der Möglichkeit der Akteneinsicht Gebrauch zu machen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn im Rahmen des Beschwerdeverfahrens alle potenziellen Verfahrensfehler gerügt werden sollen.

4.149 Verfahrensfehler sind Verstöße gegen die das finanzgerichtliche Verfahren betreffenden gesetzlichen Vorschriften, also Verstöße gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts. Hierunter fallen also nicht Fehler im Verwaltungsverfahren bzw. außergerichtlichen Vorverfahren.2 Solche Verfahrensfehler sind u. a., dass – das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; – bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen der Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war;3 – ein Beteiligter im Verfahren nicht nach ordnungsgemäß vertreten war, außer wenn er der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat; – das Urteil auf eine mündliche Verhandlung hin ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind oder – die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.4

1 Zu einem solchen Fall z. B. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 45/99, BFH/NV 2001, 1594. 2 BFH v. 9.1.2.2003 – III B 135/03, BFH/NV 2004, 339 und v. 29.11.2001 – VI B 67/01, BFH/NV 2002, 525. 3 Vgl. BFH v. 3.5.2000 – IV B 46/99, BStBl. II 2000, 376. 4 BFH v. 23.12.2002 – III B 77/02, BFH/NV 2002, 502.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.153 Kap. 4

4.150

Weitere Verfahrensmängel, die häufig gerügt werden, sind folgende: – Abweisung der Klage zu Unrecht als unzulässig;1 – Verletzung der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung durch unterbliebene Beweiserhebung bzw. Übergehen eines Beweisantrags;2 – Einwendungen gegen die Richtigkeit und Vollständigkeit des im Urteil des Finanzgerichts festgestellten Tatbestandes; diese Rüge greift allerdings nur dann, wenn der Tatbestand gänzlich fehlt oder als Grundlage für die rechtlichen Schlussfolgerungen des FG völlig unzureichend ist;3 – vorweggenommene Beweiswürdigung;4 – Verletzung des rechtlichen Gehörs;5 allerdings kann dieses Rügerecht durch rügelose Verhandlung zur Hauptsache verloren gehen (vgl. Rz. 4.180); – Verstoß gegen die prozessuale Fürsorgepflicht6 und Hinweispflicht.7 Eine möglicherweise fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Finanzgericht stellt keinen Verfahrensmangel dar; denn die Grundsätze der Beweiswürdigung sind dem materiellen Recht, nicht dem Verfahrensrecht zuzuordnen. Dazu rechnet auch die Frage, ob im Einzelfall ein Beweis des ersten Anscheins erschüttert ist.8

4.151

Gem. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist eine Revision wegen eines Verfahrensmangels nur dann zulässig, wenn der Verfahrensmangel auch tatsächlich vorliegt. Das ist z. B. nicht der Fall, wenn der Verfahrensmangel nur vorgeschoben ist oder es hierauf nach der Rechtsauffassung des Finanzgerichts nicht ankam.9

4.152

Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO muss das Urteil außerdem auf dem Verfahrensmangel beruhen können. Dies ist der Fall, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Entscheidung bei richtigem Verfahren anders ausgefallen wäre; dabei kommt es auf die Rechtsauffassung des Finanzgerichts – mag sie richtig oder falsch sein – an.10 Deshalb liegt z. B. ein Verfahrensfehler durch unterlassene Beweiswürdigung dann nicht vor, wenn das Beweisthema nach der Rechtsauffassung des Finanzgerichts nicht entscheidungserheblich ist.11

4.153

1 BFH v. 11.1.2007 – VII B 262/06, BFH/NV 2007, 1142. 2 BFH v. 15.3.2007 – IX B 234/06, BFH/NV 2007, 1179 und v. 27.10.2004 – XI B 182/02, BFH/NV 2005, 564. 3 BFH v. 27.2.2007 – III B 84/06, BFH/NV 2007, 1136. 4 BFH v. 23.12.2002 – III B 77/02, BFH/NV 2002, 502 und v. 26.1.2001 – VI B 156/00, BFH/NV 2001, 808. 5 BFH v. 9.1.2007 – VII B 134/05, BFH/NV 2007, 1141; vgl. Rz. 5.1 ff., allgemein zur Verletzung des rechtlichen Gehörs. 6 Vgl. BFH v. 1.2.2001 – XI B 11/00, BFH/NV 2001, 811. 7 BFH v. 9.12.2003 – III B 135/03, BFH/NV 2004, 339. 8 St. Rspr., vgl. u. a. BFH v. 4.6.2004 – VI B 256/01, BFH/NV 2004, 1416 und v. 23.4.1992 – VIII B 49/90, BStBl. II 1992, 671; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 82. 9 BFH v. 4.11.1993 – VII B 141/93, BFH/NV 1994, 642; vgl. auch Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 94. 10 BFH v. 11.1.2007 – VII B 262/06, BFH/NV 2007, 1142 und v. 28.6.2002 – III B 41/02, BFH/NV 2002, 1337. 11 BFH v. 26.1.2001 – VI B 265/00, BFH/NV 2001, 809; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 79.

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453

Kap. 4 Rz. 4.154

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

4.154 Verfahrensmängel, auf deren Rüge im finanzgerichtlichen Verfahren wirksam verzichtet werden kann und verzichtet worden ist, können mit der Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr geltend gemacht werden. Hierzu gehört u. a. das Übergehen eines Beweisantrags,1 die Verletzung der Amtsermittlungspflicht bzw. Sachverhaltsaufklärungspflicht,2 die Einhaltung der Ladungsfrist,3 die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme z. B. durch die Vernehmung eines Zeugen durch den beauftragten Richter4 sowie der Anspruch auf rechtliches Gehör.5 Beispiel: Den Verfahrensbeteiligten war bis zur mündlichen Verhandlung nicht mitgeteilt worden, dass das Gericht die Strafakten des Amtsgerichts beigezogen hatte. Dies allein begründet jedoch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Auf die Geltendmachung eines solchen Verfahrensmangels kann nämlich gem. § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO verzichtet werden. Wird der Verstoß gegen Vorschriften des Prozessrechts gerügt, auf deren Beachtung die Beteiligten verzichten können, muss in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen werden, dass der Beschwerdeführer den Fehler bei nächster sich bietender Gelegenheit vor dem Finanzgericht gerügt hat oder weshalb eine solche Rüge nicht möglich gewesen ist. Dem Kläger bleibt es auch in diesen Fällen unbenommen, während der mündlichen Verhandlung die Akten einzusehen und, falls ihm die Zeit nicht ausreichen oder der Aktenumfang eine ordnungsgemäße Einsichtnahme nicht erlauben sollte, eine Vertagung der Streitsache zu beantragen.

c) Darlegung der Zulassungsgründe

4.155 Gem. § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO müssen in der Beschwerdebegründung die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden. Eine den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügende Begründung ist Zulässigkeitsvoraussetzung der Nichtzulassungsbeschwerde.6 Verstöße gegen die Darlegungsanforderungen führen regelmäßig dazu, dass die Beschwerde als unzulässig verworfen wird.7

4.156 Eine Darlegung der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO erfordert, dass der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde zu entnehmen ist, auf welchen Zulassungsgrund die Beschwerde gestützt wird und dass die Voraussetzungen dieses Zulassungsgrundes gegeben sind. Dazu müssen zumindest die in dieser Vorschrift genannten Tatbestandsmerkmale in der Beschwerdebegründung näher erläutert werden. Allgemeine Ausführungen genügen nicht. Erforderlich sind substantiierte und in sich schlüssige Ausführungen zu den Voraussetzungen des betreffenden Zulassungsgrundes.8 § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO stellt hinsichtlich aller Revisionszulassungsgründe auch Anforderungen an die Klarheit, Verständlichkeit und Überschaubarkeit des Beschwerdevorbringens.9 Der BFH sieht es nicht als seine Aufgabe an, aus den eingereichten Unterlagen das herauszusuchen, was möglicherweise zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte oder mögliche Zulassungsgründe selbst zu ermitteln.10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. BFH v. 19.1.2005 – VII B 61/04, BFH/NV 2005, 921. Vgl. BFH v. 17.3.2000 – VII B 1/00, BFH/NV 2000, 1125. Vgl. BFH v. 17.12.1998 – VII B 239/97, BFH/NV 1999, 1093. Vgl. BFH v. 17.12.1998 – VII B 239/97, BFH/NV 1999, 1093. Vgl. BFH v. 20.8.1999 – VII B 4/99, BFH/NV 2000, 214. BFH v. 24.7.2002 – I B 154/01, BFH/NV 2003, 52 und v. 30.8.2001 – IV B 79, 80/01, BStBl. II 2001, 837. Vgl. BFH v. 22.4.2013 – IX B 181/12, BFH/NV 2013, 1267; v. 15.4.2013 – IX B 169/12, BFH/NV 2013, 124; v. 20.4.2006 – VII B 163/05, BFH/NV 2006, 1439. BFH v. 24.7.2002 – I B 154/01, BFH/NV 2003, 53. Treffend Werth in Beermann/Gosch, § 115 FGO Rz. 61. BFH v. 7.2.2013 – VI B 163/12, BFH/NV 2013, 950; v. 26.6.2012 – IV B 34/12, BFH/NV 2012, 1621; v. 23.7.2008 – VI B 78/07, BStBl. II 2008, 878.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.159 Kap. 4

Darüber hinaus ist bei der Abfassung der Beschwerdebegründung zu beachten, dass der BFH keine Tatsacheninstanz ist. Mit neuem Tatsachenvortrag und Ausführungen dazu, dass das Finanzgericht die Tatsachen falsch festgestellt habe, kann die Zulassung der Revision schon deshalb nicht erreicht werden, weil der BFH auch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nach § 118 Abs. 2 FGO grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden ist.1 Vor diesem Hintergrund muss der Beschwerdeführer auch bei der Darlegung der Zulassungsgründe von den vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen ausgehen.2 Etwas anderes gilt nur dann, wenn nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ein Verfahrensfehler gerügt wird. § 118 Abs. 2 FGO entfaltet für die Frage, ob ein solcher Verfahrensfehler vorliegt, keine Bindungswirkung.3

4.157

Hat die Vorinstanz das Urteil auf mehrere selbständig tragende Gründe (d. h. Begründungsstränge) gestützt, von denen jeder Begründungsstrang für sich betrachtet das Entscheidungsergebnis trägt (sog. kumulative Begründung), hat die Nichtzulassungsbeschwerde nur dann Erfolg, wenn für jeden tragenden Begründungsstrang schlüssig ein Zulassungsgrund i. S. von § 115 Abs. 2 FGO dargelegt wird.4 Die nur für einen Begründungsstrang aufgeworfene Rechtsfrage kann nicht im geforderten Sinne von grundsätzlicher Bedeutung sein, weil sie mit Rücksicht auf den anderen Begründungsstrang nicht entscheidungserheblich ist.5 Aus demselben Grund scheidet eine Zulassung der Revision wegen Divergenz6 oder zur Fortbildung des Rechts7 aus, wenn die genannten Zulassungsgründe lediglich für einen von mehreren Begründungssträngen zum Tragen kommen. Auch für einen Verfahrensmangel, der lediglich für einen von mehreren tragenden Begründungssträngen geltend gemacht wird, ist die geforderte Kausalität des Fehlers („Beruhen“, vgl. Rz. 4.179) nicht dargelegt.8 In den Fällen kumulativer Begründung kommt der Analyse der logischen Struktur des Urteils der Vorinstanz zentrale Bedeutung zu. Eine erfolgsversprechende Begründung kann nur dann entwickelt werden, wenn herausgearbeitet werden konnte, welche Erwägungen der Vorinstanz tragend sind und inwiefern das Ergebnis kumulativ begründet wurde. Nur dann, wenn für jeden tragenden Begründungsstrang ein eigener Zulassungsgrund i. S. von § 115 Abs. 2 FGO herausgearbeitet und dargelegt wird, kann die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg haben.9

4.158

Zu den Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe im Einzelnen:

4.159

1 Vgl. nur BFH v. 11.11.2013 – XI B 99/12, BFH/NV 2014, 366; v. 12.12.2012 – XI B 70/11 BFH/NV 2013, 705; v. 19.8.2002 – IX B 179/01, BFH/NV 2003, 138. 2 So z. B. BFH v. 9.3.2016 – X B 142/15, BFH/NV 2016, 1030; v. 6.2.2014 – II B 129/13, BFH/NV 2014, 708. 3 So z. B. BFH v. 17.2.1998 – VIII R 21/95, BFH/NV 1998, 1356 zu durch die Vorinstanz falsch beurteilten Sachurteilsvoraussetzungen. 4 BFH v. 30.9.2016 – X B 27/16, BFH/NV 2017, 162; v. 7.7.2015 – I B 114/14, BFH/NV 2015, 1425; Lange in HHSp, § 115 FGO Rz. 127; Werth in Beermann/Gosch, § 115 FGO Rz. 63. 5 BFH v. 22.5.2013 – III B 1/13, BFH/NV 2013, 1264; v. 20.2.2008 – VIII B 83/07, BFH/NV 2008, 978; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 291 m. w. N. 6 So z. B. BFH v. 11.2.2014 – III B 113-114/13, BFH/NV 2014, 713; v. 30.8.2000 – III B 62/98, BFH/ NV 2001, 455. 7 Vgl. z. B. BFH v. 24.1.2008 – VIII B 197/06, BFH/NV 2008, 1133; v. 6.10.2003 – VII B 130/03, BFH/NV 2004, 215. 8 So z. B. BFH v. 20.2.2013 – III B 129/12, BFH/NV 2014, 163; v. 20.2.2012 – III B 196/11, BFH/NV 2013, 48. 9 BFH v. 30.9.2016 – X B 27/16, BFH/NV 2017, 162; v. 7.7.2015 – I B 114/14, BFH/NV 2015, 1425; Lange in HHSp, § 115 FGO Rz. 127; Werth in Beermann/Gosch, § 115 FGO Rz. 63.

Hendricks

455

Kap. 4 Rz. 4.160

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

aa) Grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO)

4.160 Wie oben ausgeführt (vgl. Rz. 4.136 ff.) ist eine grundsätzliche Bedeutung zu bejahen, wenn der Rechtsstreit auf Grund einer klärungsfähigen und auch klärungsbedürftigen (d. h. vom BFH noch nicht geklärten) Rechtsfrage zu entscheiden ist und die Allgemeinheit ein Interesse an der Klärung dieser Rechtsfrage hat. Der Beschwerdeführer muss darlegen, dass die Rechtssache eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche, noch ungeklärte Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Allgemeinheit der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf.1

4.161 Das bedeutet im Einzelnen:2 Zunächst muss eine für Rechtsstreit erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausgearbeitet3 und dargelegt werden. Idealerweise handelt es sich um eine möglichst kurze abstrakte Rechtsfrage mit Bezug zu einer konkreten Norm, die mit Ja oder Nein zu beantworten ist.4 Unzulässig ist eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalls abhängt und damit auf die Antwort „Kann sein“ hinausläuft.5 Es empfiehlt sich, die Rechtsfrage in sprachlicher Hinsicht daran zu orientieren, wie der BFH die Leitsätze zu seiner veröffentlichten Rechtsprechung formuliert.6

4.162 Alsdann muss die Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage substantiiert dargelegt werden. Eine Rechtsfrage ist klärungsbedürftig, wenn ihre Beantwortung zu Zweifeln Anlass gibt, so dass mehrere Lösungen vertretbar sind.7 Daraus folgt, dass die Beschwerdeschrift konkrete Ausführungen darüber enthalten muss, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die betreffende Rechtsfrage umstritten ist. Hierzu muss sich der Beschwerdeführer insbesondere mit der Rechtsprechung des BFH, den Äußerungen im Schrifttum sowie mit ggf. veröffentlichten Verwaltungsmeinungen auseinandersetzen.8 Mit Einwendungen gegen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils ist die Klärungsbedürftigkeit gerade nicht hinreichend dargetan.9 Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie sich ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten lässt oder wenn sie bereits durch eine Entscheidung des BFH geklärt worden ist und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar gemacht werden, die eine erneute Überprüfung und Entscheidung durch den BFH erforderlich machen.10

4.163 In einem nächsten Schritt sollte die Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage dargelegt werden. Nach der Rechtsprechung ist eine Rechtsfrage klärungsfähig, wenn sie in einem künftigen 1 St. Rspr., vgl. BFH v. 11.4.2007 – II B 104/06, BFH/NV 2007, 1280 m. w. N. 2 Ausführlich zu den nachfolgenden fünf Darlegungsschritten: Bleschick, Die Revisionszulassung des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO im Spannungsverhältnis zwischen Individualrechtsschutz und Allgemeininteresse, 2011, S. 68 ff. 3 So die Formulierung in BFH v. 12.7.2002 – II B 33/01, BFH/NV 2002, 1482. 4 Vgl. zuletzt BFH v. 21.9.2016 – VI B 34/16, BFH/NV 2017, 26; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 32. 5 So ausdrücklich BFH v. 21.9.2016 – VI B 34/16, BFH/NV 2017, 26; v. 29.2.2012 – I B 88/11, BFH/ NV 2012, 1089. 6 So auch Rüsken/Bleschick, DStR-Beih. zu Heft 14-15/2015, 51. 7 St. Rspr., vgl. BFH v. 14.6.2016 – VII B 47/15, BFH/NV 2016, 1428; v. 8.12.2010 – VII B 102/10, BFH/NV 2011, 740. 8 Vgl. BFH v. 11.4.2007 – II B 104/06, BFH/NV 2007, 1280. 9 BFH v. 5.12.2006 – VIII B 4/06, BFH/NV 2007, 490. 10 BFH v. 30.6.2011 – VII B 124/10, BFH/NV 2011, 2112; Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 74 m. w. N.

456

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.164 Kap. 4

Revisionsverfahren geklärt werden kann.1 Voraussetzung hierfür ist, dass die Rechtsfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits „rechtserheblich“ bzw. „entscheidungserheblich“2 ist. Hieran fehlt es z. B., wenn sich die Rechtsfrage auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gar nicht stellen würde (§ 118 Abs. 2 FGO).3 Aber selbst wenn sich die aufgeworfene Frage auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz stellt, muss es sich um eine Frage des revisiblen Rechts handeln, im Ergebnis also um eine Frage der Anwendung oder Auslegung des revisiblen Bundes- oder Landesrechts.4 Eine Klärungsfähigkeit ist auch zu verneinen, wenn das Urteil der Vorinstanz mit einer kumulativen Begründung versehen ist und sich die aufgeworfene Rechtsfrage mit Rücksicht auf einen anderen (tragenden) Begründungsstrang, für den kein Zulassungsgrund i. S. des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden kann, nicht entscheidungserheblich ist.5 Schließlich muss dargelegt werden, dass der Rechtsfrage über den Einzelfall hinausgehende – d.h. „grundsätzliche“ – Bedeutung zukommt.6 Insoweit ist darzulegen, inwieweit die Rechtsfrage im allgemeinen Interesse der höchstrichterlichen Klärung bedarf.7 Unter welchen Voraussetzungen dies zu bejahen ist, definiert der BFH uneinheitlich.8 Ein allgemeines Interesse an höchstrichterlicher Klärung wird jedenfalls dann bejaht, wenn der Rechtsfrage eine gewisse Breitenwirkung zukommt.9 Der bloße Hinweis auf zahlreiche vergleichbare Fälle genügt jedoch regelmäßig nicht zur Darlegung der über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung.10 Etwas anderes gilt, wenn die praktische Bedeutung und damit die Breitenwirkung der Rechtsfrage offensichtlich sind.11 Im Zweifel empfiehlt sich, die Breitenwirkung der Rechtsfrage im Begründungsschriftsatz näher zu erläutern. An die Darlegung der Breitenwirkung sind besondere Anforderungen zu stellen, wenn die angesprochene Rechtsfrage auslaufendes oder ausgelaufenes Recht betrifft.12

1 BFH v. 29.4.2010 – VI B 153/09, BFH/NV 2010, 1442; v. 14.10.2003 – X B 26/03, BFH/NV 2004, 82; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 52. 2 Vgl. nur BFH v. 2.4.2014 – I B 130/13, BFH/NV 2014, 1085; v. 24.1.2008 – X B 87/07, BFH/NV 2008, 605; v. 15.12.2000 – IX B 91/00, BFH/NV 2001, 795; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 29; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 324 m. w. N. 3 BFH v. 21.8.2013 – III B 122/12, BFH/NV 2013, 1789; v. 23.1.2013 – X B 84/12, BFH/NV 2013, 771. 4 BFH v. 10.6.2008 – I B 211/07, BFH/NV 2008, 1697; vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 52. 5 BFH v. 22.5.2013 – III B 1/13, BFH/NV 2013, 1264; v. 20.2.2008 – VIII B 83/07, BFH/NV 2008, 978; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 291 m. w. N. 6 Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 322 m. w. N. 7 St. Rspr., vgl. z. B. BFH v. 16.7.2008 – X B 202/07, BFH/NV 2008, 1681; v. 7.6.2011 – X B 212/10, BFH/NV 2011, 1709. 8 Vgl. die Nachweise bei Bleschick, Die Revisionszulassung des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO im Spannungsverhältnis zwischen Individualrechtsschutz und Allgemeininteresse, 2011, S. 87 ff. 9 Exemplarisch BFH v. 5.3.2008 – V B 69/06, BFH/NV 2008, 1006; ebenso Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 23. 10 Vgl. nur BFH v. 29.8.2011 – II B 86/10, BFH/NV 2012, 286; v. 27.6.2012 – XI B 8/12, BFH/NV 2012, 1809. 11 Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 174 m. w. N. 12 BFH v. 9.1.2001 – VIII B 51/00, BFH/NV 2001, 801.

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457

4.164

Kap. 4 Rz. 4.165

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

bb) Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO)

4.165 Beim Zulassungsgrund „Fortbildung des Rechts“ handelt es sich in der Rechtsprechungspraxis wie dargestellt (Rz. 4.141) um einen Unterfall der „grundsätzlichen Bedeutung“ i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.1 Für die Darlegung dieses Zulassungsgrundes bedeutet dies zunächst, dass auch hier in den vorgehend aufgezeigten fünf Darlegungsschritten die Voraussetzungen einer grundsätzlichen Bedeutung aufgezeigt werden müssen.2 Über diese Voraussetzungen hinausgehend muss dargelegt werden, dass der Einzelfall dazu Veranlassung gibt, Grundsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen.3 Der Rechtssatz sollte so formuliert werden, wie er nach Auffassung des Beschwerdeführers durch den BFH aufgestellt werden dürfte.4 Schließlich sollte aufgezeigt werden, dass ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung besteht.5 cc) Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO)

4.166 Nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO ist eine Revision dann zuzulassen, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert. Hiernach ist eine Revisionszulassung geboten, wenn das Urteil des Finanzgerichts von einer relevanten Entscheidung eines anderen Gerichts abweicht und vor diesem Hintergrund eine höchstrichterliche Entscheidung geboten ist. Für die Darlegung einer solchen Divergenz muss nach der Rechtsprechung aufgezeigt werden, dass „die angeblich voneinander abweichenden tragenden Rechtssätze im Urteil des Finanzgerichts und in der angeblichen Divergenzentscheidung herausgearbeitet und gegenübergestellt werden“, wobei „erkennbar“ sein muss, „dass beide Entscheidungen dieselbe Rechtsfrage betreffen und dass beide Entscheidungen im Grundsätzlichen voneinander abweichen“.6 Es ist außerdem darzulegen, dass die divergierenden Entscheidungen den gleichen oder einen vergleichbaren Sachverhalt betreffen.7 Auf Basis der einschlägigen Rechtsprechung empfiehlt sich die Darlegung einer Divergenzrüge in den nachfolgenden fünf Schritten:

4.167 Zunächst ist ein abstrakter Rechtssatz herauszuarbeiten, auf dem die Entscheidung der Vorinstanz basiert.8 Idealerweise handelt es sich auch hier (vgl. Rz. 4.161) um eine möglichst kurze abstrakte Rechtsfrage mit Bezug zu einer konkreten Norm, die mit Ja oder Nein zu beantworten ist.9 Die Entscheidung der Vorinstanz muss auf dem Rechtssatz beruhen. Dies ist zu verneinen, wenn der Rechtssatz auf Basis der erstinstanzlichen tatsächlichen Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) nicht entscheidungserheblich ist.10

1 BFH v. 8.10.2014 – X B 24/14, BFH/NV 2015, 153; v. 28.12.2006 – III B 91/05, BFH/NV 2007, 864 und v. 27.1.2003 – II B 194/01, BFH/NV 2003, 792. 2 Vgl. nur BFH v. 15.7.2005 – I B 252/04, BFH/NV 2006, 67. Ebenso z. B. Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 60 m. w. N. 3 Exemplarisch BFH v. 13.5.2005 – VIII B 205/03, BFH/NV 2005, 1741. 4 Vgl. Rüsken/Bleschick, DStR-Beih. zu Heft 14-15/2015, 51. 5 BFH v. 10.6.2011 – IX B 13/11, BFH/NV 2011, 2074. 6 Vgl. nur BFH v. 8.11.2006 – X B 183/05, BFH/NV 2007, 232; v. 26.2.2015 – III B 124/14, BFH/NV 2015, 837. 7 Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 82 m. w. N. 8 BFH v. 8.11.2006 – X B 183/05, BFH/NV 2007, 232; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 389 m. w. N. 9 BFH v. 29.2.2012 – I B 88/11, BFH/NV 2012, 1089. 10 Vgl. BFH v. 8.12.1998 – XI B 159/97, BFH/NV 1999, 662.

458

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.173 Kap. 4

Anschließend ist darzulegen, dass ein relevantes anderes Gericht (v. a. BFH, FG, BGH, BAG, BSG, BVerwG) einer Entscheidung einen hiervon abweichenden (divergierenden = widersprechenden) Rechtssatz zugrunde gelegt hat. Diese Entscheidung ist konkret zu benennen und darzustellen.1

4.168

Weiter ist aufzuzeigen, dass beide Entscheidungen zu gleichen oder jedenfalls zu vergleichbaren Sachverhalten ergangen sind.2 Die Vergleichbarkeit ist normenbezogen zu prüfen. Eine Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist zu verneinen, wenn der herausgearbeitete Rechtssatz wegen der sachverhaltlichen Abweichungen unterschiedlich zu beantworten ist.3

4.169

In einem nächsten Schritt ist darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf der Divergenz beruht (Beruhen auf der Divergenz).4 Aufzuzeigen ist, dass die Entscheidung der Vorinstanz unter Zugrundelegung des Rechtssatzes der Divergenzentscheidung anders ausgefallen wäre.5

4.170

Schließlich ist darzulegen, dass eine Entscheidung des BFH zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich ist.6 Insoweit ist aufzuzeigen, dass eine Entscheidung des BFH geeignet und notwendig ist, um künftige unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen über die für die Sicherung bedeutsame Rechtsfrage zu verhindern.7

4.171

dd) Greifbare Gesetzeswidrigkeit (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO) Zielt die Beschwerdeschrift – ausnahmsweise (vgl. Rz. 4.146) – auf die Zulassung der Revision wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit ab, muss sich aus der Darlegung ergeben, dass es sich bei der Rechtsverletzung im Sinne der Rechtsprechung um einen sog. qualifizierten Rechtsanwendungsfehler handelt.8 Darzulegen ist insbesondere der schwerwiegende Fehler, seine Offensichtlichkeit sowie seine Korrekturmöglichkeit im Revisionsverfahren.9 Dieser Darlegungsgrund erfordert eine besonders gelungene Beschwerdebegründung. Der Rechtsanwendungsfehler und sein außergewöhnlicher Schweregrad müssen dem BFH gleichsam „auf dem Silbertablett präsentiert“ werden.10

4.172

In einem ersten Darlegungsschritt muss es folglich darum gehen, einen qualifizierten (d. h. schwerwiegenden) Rechtsanwendungsfehler aufzuzeigen. Ein derartiger Fehler liegt „nur bei offensichtlichen materiellen oder formellen Fehlern des FG im Sinne einer willkürlichen

4.173

1 BFH v. 28.4.2016 – IX B 18/16, BFH/NV 2016, 1173; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 391 f. m. w. N. 2 St. Rspr., z. B. BFH v. 30.9.2015 – I B 85/14, BFH/NV 2016, 423; BFH v. 8.6.2016 – I B 143/15, BFH/NV 2016, 1480. 3 In diesem Sinne Rüsken/Bleschick, DStR-Beih. zu Heft 14-15/2015, 57. 4 Vgl. nur BFH v. 27.12.1996 – XI B 11/96, BFH/NV 1997, 506; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 395 m. w. N. 5 Hierzu im Einzelnen Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 395. 6 BFH v. 20.5.2016 – III B 62/15, BFH/NV 2016, 1293; Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 48. 7 Vgl. BFH v. 6.10.2003 – VII B 67/03, BFH/NV 2004, 214. 8 BFH v. 24.7.2006 – IX B 208/05, BFH/NV 2006, 2269; Werth in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 116 FGO, Rz. 84. 9 BFH v. 12.11.2012 – III B 186/11, BFH/NV 2013, 236; v. 20.5.2016 – III B 62/15, BFH/NV 2016, 1293; Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 202. 10 So ausdrücklich Kulosa, DStR 2013, 1523 (1529).

Hendricks

459

Kap. 4 Rz. 4.174

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

oder zumindest greifbar gesetzwidrigen Entscheidung“ vor.1 Bei der Frage, ob ein qualifizierter Rechtsanwendungsfehler vorliegt, kann sich der Beschwerdeführer an den veröffentlichten Entscheidungen orientieren, in denen der BFH einen solchen Fehler bejaht hat.2

4.174 Anschließend ist aufzuzeigen, dass es sich um einen offensichtlichen Fehler handelt.3 Dies ist der Fall, wenn der Fehler für einen Verständigen „ohne weiteres erkennbar“ ist.4

4.175 Schließlich ist darzulegen, dass der Fehler im Revisionsverfahren korrigiert werden kann.5 Ein Bedürfnis nach Korrektur ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass ein offensichtlicher Gesetzesverstoß vorliegt.6 Der Fehler kann im Revisionsverfahren korrigiert werden, wenn es sich um einen Verstoß gegen revisibles Recht handelt (vgl. § 118 Abs. 1 FGO). Diese Korrekturmöglichkeit ist darzulegen. In den veröffentlichten Entscheidungen, in denen eine greifbare Gesetzeswidrigkeit als Zulassungsgrund bejaht wurde, hat der BFH die revisionsrechtliche Korrigierbarkeit des Fehlers nicht näher problematisiert.7 Gleichwohl sind Ausführungen zu dieser Frage aus Gründen der Vorsicht zu empfehlen.8 ee) Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO)

4.176 Soll die Nichtzulassungsbeschwerde auf einen Verfahrensmangel gestützt werden (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), muss der Begründungsschriftsatz den Verfahrensmangel sauber darlegen. Der Beschwerdeführer muss erkennbar machen, welche Verfahrensvorschrift das Finanzgericht verletzt haben soll. Dazu müssen auch die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich der Verfahrensmangel ergeben soll.9 Fehlerhafte Prozessvorgänge sind deshalb genau und bestimmt zu beschreiben. Der Beschwerdeführer darf es nicht dem Gericht überlassen, die für die Verfahrensrügen notwendigen Tatsachen anhand der Akten zu ermitteln. Die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel ergibt, sind so vollständig anzugeben, dass es dem BFH möglich ist, allein anhand der Beschwerdeschrift zu prüfen, ob der Verfahrensfehler vorliegt, wenn die Behauptungen des Beschwerdeführers zutreffen. Die vorgetragenen Tatsachen müssen – ihre Richtigkeit unterstellt – den gerügten Verfahrensmangel ergeben.10

4.177 Ob ein Verfahrensfehler i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegt, ist in bis zu fünf Prüfungsschritten darzulegen: Zunächst muss die Verletzung einer Verfahrensnorm (Norm betreffend das gerichtliche Verfahren) dargelegt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Verletzung verfahrensrecht1 BFH v. 9.2.2014 – XI B 10/14, BFH/NV 2014, 1099; v. 24.9.2013 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164. 2 Veröffentlichte Beispiele: BFH v. 28.7.2003 – V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597 [Übersehen einer einschlägigen Vorschrift]; BFH v. 13.10.2003 – IV B 85/02, BStBl. II 2004, 25 [objektiv willkürliche Gewinnschätzung]; BFH v. 13.1.2005 – VII B 147/04, BStBl. II 2005, 457 [evidenter Rechenfehler]. 3 Vgl. BFH v. 20.5.2016 – III B 62/15, BFH/NV 2016, 1293. 4 Vgl. BFH v. 1.4.2008 – X B 154/04, BFH/NV 2008, 1116; ebenso Lange in HHSp, § 115 FGO Rz. 214; a. A. Rüsken, DStZ 2000, 815 (820). 5 BFH v. 12.11.2012 – III B 186/11, BFH/NV 2013, 236; Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 202. 6 Vgl. Lange in HHSp, § 115 FGO Rz. 215. 7 Vgl. im Einzelnen BFH v. 28.7.2003 – V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597; v. 13.10.2003 – IV B 85/02, BStBl. II 2004, 25; v. 13.1.2005 – VII B 147/04, BStBl. II 2005, 457. 8 Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 202. 9 BFH v. 19.1.2000 – II B 41/99, BFH/NV 2000, 1102; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 48. 10 BFH v. 29.10.2002 – IV B 98/01, BFH/NV 2003, 326.

460

Hendricks

C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.180 Kap. 4

licher Bestimmungen nicht mit der Verletzung materiellen Rechts vermischt werden darf. Soweit es für die Prüfung verfahrensrechtlicher Normen auf materiell-rechtliche Erwägungen ankommt, ist der Standpunkt des Finanzgerichts maßgeblich: Die Prüfung des Verfahrensmangels hat also auf Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des Finanzgerichts zu erfolgen.1 So kommt es beispielsweise für die Darlegung der Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO auf den materiell-rechtlichen Standpunkt der Vorinstanz an.2 Verstöße gegen Verfahrensvorschriften können im Einzelfall durch spätere Maßnahmen geheilt werden. So kann ein Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs durch die Gewährung des zunächst versagten Gehörs geheilt werden.3 Soweit eine mögliche Heilung des Verfahrensmangels im Raume steht, ist darzulegen, dass die gerügte Verletzung der Verfahrensnorm nicht geheilt wurde.

4.178

Ein Verfahrensmangel stellt nur dann einen Zulassungsgrund dar, wenn die angefochtene Entscheidung auf dem Mangel „beruhen kann“ (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Der Verfahrensmangel muss also – mindestens potenziell – für die Entscheidung kausal sein.4 Das Beruhen – also die Entscheidungserheblichkeit des Mangels – ist grundsätzlich sorgfältig darzulegen.5 Ausführungen des Beschwerdeführers zur Entscheidungserheblichkeit des geltend gemachten Verfahrensmangels sind entbehrlich, soweit ein Verfahrensmangel i. S. des § 119 FGO (mithin ein absoluter Revisionsgrund) geltend gemacht wird; in diesen Fällen wird die Entscheidungskausalität durch das Gesetz vermutet („ist stets als … beruhend anzusehen“).6

4.179

Auf die Beachtung zahlreicher Verfahrensvorschriften kann verzichtet werden. Hat der Betroffene auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, kann der Verfahrensmangel dann nicht mehr gerügt werden. Dabei ist zu beachten, dass ein Verzicht nicht ausdrücklich ausgesprochen werden muss. Ein solcher Verzicht ist nach der Rechtsprechung des BFH auch dann anzunehmen, wenn der Beteiligte in der (nächsten) mündlichen Verhandlung zur Sache verhandelt hat, ohne den Verfahrensmangel zu rügen (§ 155 FGO i. V. m. § 295 Abs. 1 ZPO).7 Mit anderen Worten: Möchte ein Beteiligter einen Verfahrensfehler im Rahmen eines später gegebenenfalls zu führenden Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens rügen, muss er den Verfahrensverstoß in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll rügen, damit nicht die Präklusionswirkung des § 295 Abs. 1 ZPO eintritt (vgl. Rz. 3.645). Dies gilt aber nur für Verfahrensvorschriften, auf deren Befolgung wirksam verzichtet werden kann (§ 295 Abs. 2 ZPO).8 Zudem greift die Präklusionswirkung des § 295 Abs. 1 ZPO – schon nach dem Wortlaut der Vorschrift – nur dann, wenn der Verfahrensmangel bei der mündlichen Verhandlung „bekannt

4.180

1 St. Rspr., vgl. z. B. BFH v. 5.4.2016 – I B 99/15, BFH/NV 2016, 1168; v. 7.10.1987 – X B 54/87, BStBl. II 1988, 17. 2 Vgl. etwa BFH v. 29.1.2016 – IX B 122/15, BFH/NV 2016, 773. 3 Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, Rz. 692 m. N. 4 Vgl. etwa BFH v. 29.1.2016 – IX B 122/15, BFH/NV 2016, 773. 5 Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 88 m. N. 6 Exemplarisch: BFH v. 20.7.2011 – XI B 108/10, BFH/NV 2011, 2134; ebenso z. B. Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 207. 7 Vgl. nur BFH v. 21.5.2014 – I B 97/13, BFH/NV 2014, 1555; v. 29.1.2004 – VI B 53/01, BFH/NV 2004, 661; diese strenge Rspr. mit beachtlichen Gründen in Frage stellend Kulosa, HFR 2012, 399 f. 8 So kann auf die Einhaltung der Vorschriften über die Besetzung des Senates nicht verzichtet werden, vgl. BFH v. 10.12.1987 – IV R 70/87, BFH/NV 1988, 506.

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461

Kap. 4 Rz. 4.181

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

war oder bekannt sein musste“. Nicht erkennbare Verfahrensmängel können und müssen im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht gerügt werden.1

4.181 Wird ein Verfahrensmangel gerügt, ist darzulegen, warum auf die Rüge dieses Verfahrensmangels – auch unter Beachtung von § 295 ZPO (i. V. m. § 155 FGO) – im konkreten Fall nicht wirksam verzichtet worden ist.

IV. Weiteres Verfahren 1. Verfahrensgang und anwendbare Vorschriften

4.182 Da es sich beim Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren um ein eigenständiges (vom allgemeinen Beschwerdeverfahren zu unterscheidendes) Verfahren handelt, finden die Regelungen über die allgemeine Beschwerde grundsätzlich keine Anwendung (§ 116 FGO als lex specialis). Neben den Regelungen des § 116 FGO sind bei sinngemäßer Anwendung des § 121 Satz 1 FGO die allgemeinen Verfahrensvorschriften der FGO über das Verfahren im ersten Rechtszug (§§ 51 ff. FGO) entsprechend anzuwenden. So sind die Vorschriften über die Aussetzung, das Ruhen und die Unterbrechung des Verfahrens (etwa wegen des Todes oder der Insolvenz eines Verfahrensbeteiligten) auch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zu beachten. Gleiches gilt für die Trennung und Verbindung von Verfahren nach Maßgabe von § 73 FGO.2

4.183 Die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils (§ 116 Abs. 4 FGO). Eine Abhilfemöglichkeit des Finanzgerichts besteht nicht.3 Nunmehr entscheidet ausschließlich der BFH über die Zulässigkeit und Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).

4.184 Nach Eingang der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde gibt der BFH dem Beschwerdegegner Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 155 FGO i. V. m. § 544 Abs. 3 ZPO). Eine unzulässige oder offensichtlich unbegründete Beschwerde kann auch ohne Anhörung des Beschwerdegegners zurückgewiesen werden.4

4.185 Umstritten ist, ob der BFH sich im Rahmen der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde auf § 126 Abs. 4 FGO stützen kann. Nach dieser für das Revisionsverfahren konzipierten Bestimmung ist die Revision zurückzuweisen, wenn die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, sich die Entscheidung der Vorinstanz aber aus anderen Gründen als richtig darstellt. Gegen Bedenken im Schrifttum5 bejaht der BFH eine analoge Anwendung der Bestimmung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren.6 Nach dieser Rechtsprechung wird eine Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen, wenn zwar eigentlich Gründe für eine Revisionszulassung vorliegen, sich die Entschei-

1 Vgl. z. B. BFH v. 19.1.2012 – X B 4/10, BFH/NV 2012, 958; v. 10.11.2005 – VIII B 166/04, BFH/NV 2006, 752. 2 Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 102. 3 Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 53. 4 Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 252. 5 Zu Recht kritisch: Ratschow in Gräber, § 115 FGO Rz. 32; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO, Rz. 53 sowie ausführlich Bleschick, Die Revisionszulassung des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO im Spannungsverhältnis zwischen Individualrechtsschutz und Allgemeininteresse, 2011, S. 385 ff. 6 Nunmehr st. Rspr., vgl. BFH v. 18.6.2015 – X B 20/15, BFH/NV 2015, 1418; v. 6.5.2013 – I B 53/12, BFH/NV 2013, 1561; v. 6.4.2001 – II B 95/00, BFH/NV 2001, 1299.

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C. Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Rz. 4.188 Kap. 4

dung der Vorinstanz auf Basis ihrer tatsächlichen Feststellungen1 jedoch aus anderen Gründen – also unabhängig von den Zulassungsgründen des § 115 Abs. 2 FGO – als im Ergebnis zutreffend darstellt. Mit diesem Ansatz werden die Erfolgsaussichten einer künftigen Revision zum Entscheidungsmaßstab für die Nichtzulassungsbeschwerde.2 Der BFH macht in der Praxis von diesem Ansatz aber eher selten Gebrauch. Im Grundsatz bleibt es dabei, dass die Erfolgsaussichten einer künftigen Revision die Erfolgsaussichten der vorgeschalteten Nichtzulassungsbeschwerde nicht beeinflussen.3 2. Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde Über eine Nichtzulassungsbeschwerde entscheidet der BFH durch Beschluss (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Die Entscheidung trifft der zuständige Senat in aller Regel ohne mündliche Verhandlung in der Besetzung von drei Richtern (§ 10 Abs. 3 FGO). In äußerst seltenen Fällen wird die Entscheidung nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (dann in der Besetzung von fünf Richtern) getroffen.4 Die richterlichen Bearbeitungszeiten sind deutlich kürzer als bei Revisionsverfahren: Die durchschnittliche Dauer eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens liegt aktuell bei ca. sechs Monaten.5

4.186

Für die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO für eine Revisionszulassung gegeben sind, kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde an.6 Der zuständige Senat prüft zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde. Fehlt es hieran, wird die Beschwerde als unzulässig verworfen. Eine Unzulässigkeit wird regelmäßig schon dann angenommen, wenn es dem Beschwerdeführer evident nicht gelungen ist, die vorgehend beschriebenen Darlegungsanforderungen (Rz. 4.155 ff.) zu erfüllen. Die unbegründete Beschwerde wird vom BFH „als unbegründet zurückgewiesen“. Soweit der BFH die Beschwerde als unzulässig verwirft oder als unbegründet zurückweist, wird der Beschluss regelmäßig begründet.7 Mit der Ablehnung der Beschwerde durch den BFH wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig (§ 116 Abs. 5 Satz 3 FGO).8

4.187

Hält der Senat die Nichtzulassungsbeschwerde für begründet, hängt das weitere Schicksal des Rechtsstreits davon ab, welchen Zulassungsgrund der Senat als gegeben ansieht. Ist die Beschwerde begründet, weil ein Verfahrensmängel angenommen wurde (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), kann der BFH im stattgebenden Beschluss sogleich das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO). In den übrigen Fällen der Stattgabe wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt (§ 116 Abs. 7 Satz 1 Halbs. 1 FGO). Nach Zulassung der Revision durch Zulassungsbeschluss muss der Beschwerdeführer die Revision nicht gesondert einlegen (§ 116 Abs. 7 Satz 1 Halbs. 2 FGO), die Revision aber begründen. Die Begründungsfrist beträgt einen Monat (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 FGO). Sie beginnt

4.188

1 2 3 4 5

So ausdrücklich BFH v. 25.6.2014 – VII B 210/13, BFH/NV 2014, 1714. Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 64. Vgl. zuletzt auch BFH v. 20.10.2016 – VI R 27/15, BFH/NV 2017, 223. Vgl. Lange in HHSp, § 116 FGO Rz. 250. In 2013 lag die Verfahrensdauer bei 7 Monaten, in 2014, 2015 und 2017 jeweils bei ca. 6 Monaten, vgl. jeweils den Jahresbericht des BFH (veröffentlicht unter www.bundesfinanzhof.de). 6 BFH v. 6.7.1995 – III B 41/94, BFH/NV 1996, 299. 7 Nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO „soll“ der Beschluss kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen. 8 Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 53.

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Kap. 4 Rz. 4.189

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

mit der Zustellung des Zulassungsbeschlusses (der in der Praxis im Regelfall nicht begründet wird). Die einmonatige Begründungsfrist kann nach den im Revisionsverfahren geltenden Grundsätzen (mehrfach) verlängert werden.1

4.189 Im Revisionsverfahren ist der BFH nicht an die im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren bejahten Zulassungsgründe gebunden. Es gilt der Grundsatz der Vollrevision, d. h. der BFH hat die Vorentscheidung der Vorinstanz ungeachtet des Zulassungsgrundes vollumfänglich zu überprüfen.2 Aus dem Umstand, dass der BFH die Revision zuvor selbst in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zugelassen hat, können keine generellen Schlüsse für den Ausgang des anschließenden Revisionsverfahrens gezogen werden. Selbst nach Zulassung der Revision kann nicht ausgeschlossen werden, dass derselbe Senat die Revision einstimmig als unbegründet zurückweist.3 3. Beendigung des Beschwerdeverfahrens auf andere Weise

4.190 Das Beschwerdeverfahren kann – außer durch einen Beschluss des BFH – auch durch eine Rücknahme beendet werden. Eine Rücknahme der Beschwerde ist in entsprechender Anwendung des § 125 FGO (Rücknahme einer Revision) zulässig.4 In einem solchen Fall ist das Verfahren durch Beschluss einzustellen.

4.191 Darüber hinaus kann das Beschwerdeverfahren auch durch übereinstimmende Erledigungserklärungen beendet werden. Tritt z. B. während des Beschwerdeverfahrens ein erledigendes Ereignis ein (der angefochtene Bescheid wird vom beklagten Finanzamt z. B. zurückgenommen) und erklären daraufhin die Beteiligten den Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt, so werden das angefochtene Urteil und das Beschwerdeverfahren gegenstandslos; der BFH hat nur noch über die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu entscheiden.5

4.192 Das Beschwerdeverfahren kann sich allerdings auch – unabhängig vom Hauptsacheverfahren – erledigen, z. B. dadurch, dass die als klärungsbedürftig angesehene Rechtsfrage inzwischen in einem anderen Verfahren abschließend geklärt ist6 und auch kein Fall nachträglicher Divergenz (hierzu Rz. 4.144) vorliegt. Hat sich das Beschwerdeverfahren erledigt, dann sollte der Beschwerdeführer das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklären, um so zu vermeiden, dass die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen wird.

4.193 Auch eine einseitige Erledigungserklärung ist möglich. In diesem Fall entscheidet der BFH lediglich noch über die Frage, ob sich das Verfahren erledigt hat. Wie im Klageverfahren (vgl. Rz. 3.751 ff.) hat auch hier die Erledigungserklärung des Beschwerdeführers den Inhalt, festzustellen, dass das zunächst zulässige und begründete Rechtsmittel inzwischen gegenstandslos geworden sei. Der Beschwerdeführer geht also von seinem ursprünglichen Sachantrag (Zulas-

1 Seer in Tipke/Kruse, § 116 FGO Rz. 87. 2 Vgl. BFH v. 18.1.2007 – V R 22/05, BStBl. II 2007, 426; Werth in Beermann/Gosch, § 116 FGO Rz. 125. 3 Vgl. zuletzt BFH v. 20.10.2016 – VI R 27/15, BFH/NV 2017, 223; dies ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 6.9.1996 – 1 BvR 1485/89, NJW 1997, 1693. 4 BFH v. 24.4.1995 – III B 27/95, BFH/NV 1995, 914; Seer in Tipke/Kruse, § 116 FGO Rz. 66. 5 BFH v. 21.8.2000 – IX B 123/99, BFH/NV 2001, 195; Seer in Tipke/Kruse, § 116 FGO Rz. 68. 6 BFH v. 18.3.1994 – III B 543/90, BStBl. II 1994, 473; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 74.

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D. Beschwerdeverfahren

Rz. 4.197 Kap. 4

sung der Revision) auf einen Feststellungsantrag über. Dieser Antrag hat Erfolg, wenn tatsächlich eine Erledigung eingetreten ist.1 Hat sich der Rechtsstreit tatsächlich in der Hauptsache erledigt (z. B. durch antragsgemäße Änderung oder Aufhebung des angefochtenen Bescheides) sollte zur Vermeidung von Kosten die Abgabe einer Erledigungserklärung geprüft werden. Wird der Rechtsstreit seitens des Beschwerdeführers nämlich nicht für erledigt erklärt, so wird die Nichtzulassungsbeschwerde wegen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses unzulässig und muss auf Kosten des Beschwerdeführers abgewiesen werden.2

4.194

D. Beschwerdeverfahren Literatur: Brunk, Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss des Finanzgerichts, FR 1972, 390; Gräber, Beschwerdeverfahren und Wiederaufnahmeverfahren nach der FGO, DStR 1972, 202; Lange, Der leise Wegfall der außerordentlichen Beschwerde zum BFH, DB 2002, 2396; Lipp, Beschwerden wegen „greifbarer Gesetzeswidrigkeit“ nach der ZPO-Reform, NJW 2002, 1700; Rößler, Auch weiterhin außerordentliche Beschwerden wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit?, BB 2003, 1740; Rüsken, Rechtsbehelfe gegen willkürliche Gerichtsentscheidungen, DStZ 2000, 815; Sangmeister Unanfechtbarkeit von Beschlüssen nach § 128 Abs 4 FGO, NJW 2007, 2539; Schuhmann, Gegenvorstellung und außerordentliche Beschwerden – zwei brauchbare Instrumente?, DStZ 2002, 405; Vollkommer, Das Ablehnungsverfahren der FGO nach dem Zweiten FGO-Änderungsgesetz – ein Modell für die anderen Verfahrensordnungen?, NJW 2001, 1827.

I. Statthaftigkeit und praktische Bedeutung Gegen Entscheidungen des Finanzgerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters, die nicht Urteile oder Gerichtsbescheide sind, steht den Beteiligten die Beschwerde an den BFH zu (§ 128 Abs. 1 FGO).3 In Bezug auf bestimmte Entscheidungen schließt das Gesetz eine Beschwerde ausdrücklich aus (vgl. § 128 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4).

4.195

Anfechtbar sind zunächst nur Entscheidungen. Hierzu zählen Beschlüsse und Verfügungen, nicht aber Anfragen, formlose Mitteilungen und rechtliche oder tatsächliche Hinweise ohne konkreten Regelungsgehalt.4 So ist z. B. die formlose Mitteilung einer Rechtsansicht des Gerichts keine Entscheidung und damit nicht mit der Beschwerde angreifbar.5

4.196

Anfechtbar sind z. B.

4.197

– Entscheidungen des Finanzgerichts über die Gewährung von

Akteneinsicht,6

– Verhängung eines Ordnungsgelds gegen einen Zeugen oder Sachverständigen durch das Finanzgericht,7

1 BFH v. 3.4.2000 – I B 68/99, BFH/NV 2000, 1226; Ratschow in Gräber, § 116 FGO Rz. 74. 2 BFH v. 22.9.1999 – VII B 82/99, BFH/NV 2000, 335. 3 Gegen die Entscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ist dagegen die Erinnerung (§ 133 FGO) statthaft, vgl. zuletzt BFH v. 27.1.2016 – IX B 6/16, BFH/NV 2016, 585. 4 Bergkemper in HHSp, § 128 FGO Rz. 31 mit Beispielen. 5 Vgl. BFH v. 28.8.2002 – IX B 38/02, BFH/NV 2002, 1610. 6 Vgl. BFH v. 19.7.2000 – III B 46/99, BFH/NV 2001, 53. 7 Vgl. BFH v. 25.7.2000 – V B 121/00, BFH/NV 2001, 177.

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Kap. 4 Rz. 4.198

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

– die Aussetzung des Verfahrens gem. § 74 FGO,1 – der Beschluss über eine Beiladung.2

4.198 Eine sog. Untätigkeitsbeschwerde kennt das Gesetz nicht. Die FGO sieht kein Rechtsmittel gegen die Untätigkeit des Gerichts vor. Mit der Beschwerde kann daher ein Tätigwerden des Gerichts nicht erzwungen werden.3

4.199 Nach dem Katalog des § 128 Abs. 2 FGO sind folgende Entscheidungen allerdings nicht mit der Beschwerde angreifbar: – prozessleitende Verfügungen, – Aufklärungsanordnungen, – Beschlüsse über Vertagung oder Fristbestimmung, – Beweisbeschlüsse, – Beschlüsse nach §§ 91a und 93a FGO (Videokonferenz), – Beschlüsse über die Ablehnung von Beweisanträgen, – Beschlüsse über die Verbindung und Trennung von Verfahren, – Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen, Sachverständigen und Dolmetschern, – Einstellungsbeschlüsse nach Klagerücknahme sowie – Beschlüsse in Prozesskostenhilfeverfahren.

4.200 Eine weitere Einschränkung der Beschwerdemöglichkeit enthält § 128 Abs. 3 FGO. Danach ist die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung und über einstweilige Anordnungen nur dann zulässig, wenn die Beschwerde ist in dem Beschluss ausdrücklich zugelassen wurde. Für die Zulassung gilt § 115 Abs. 2 FGO (Zulassung der Revision) entsprechend. Eine Zulassung durch den BFH und eine darauf gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht statthaft.4

4.201 Ferner scheidet eine Beschwerde gegen eine Entscheidung des Finanzgerichts in Streitigkeiten über Kosten und über die Festsetzung des Streitwerts aus (§ 128 Abs. 4 FGO). Zu den Kostensachen gehören Beschlüsse gem. § 138 FGO (Kostenentscheidung nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache) und § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO (Beschluss über die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren). Eine Beschwerde ist auch dann unzulässig, wenn jemandem als vollmachtlosem Vertreter Kosten in einem Einstellungsbeschluss auferlegt worden sind und dieser sich ausschließlich gegen die ihn betreffende Kostenentscheidung wendet.5

1 BFH v. 1.12.2004 – VII B 245/04, BFH/NV 2005, 711. 2 BFH v. 2.12.1999 – II B 17/99, BFH/NV 2000, 679. 3 BFH v. 30.6.2000 – VII K 1/00, BFH/NV 2000, 1490; v. 30.1.2004 – V B 217/03, BFH/NV 2004, 802. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 128 FGO Rz. 5. 5 BFH v. 7.12.2000 – VII B 303/00, n. v., und v. 15.4.1994 – IIIB 97/93, BFH/NV 1995, 148.

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D. Beschwerdeverfahren

Rz. 4.207 Kap. 4

Außerdem sind aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Einzelbestimmungen folgende Entscheidungen nicht beschwerdefähig:

4.202

– sitzungspolizeiliche Anordnungen (§ 177 GVG i. V. m. § 52 Abs. 1 FGO), – Verweisungen an das örtlich oder sachlich zuständige Gericht (§ 70 Satz 2 FGO), – Ablehnung der Aufnahme bestimmter Vorgänge oder Äußerungen in die Sitzungsniederschrift (§ 94 FGO i. V. m. § 160 Abs. 4 Satz 3 ZPO), – Berichtigung des Urteilstatbestandes (§ 108 Abs. 2 Satz 2 FGO). Gegen die Festsetzung der einem Zeugen oder Sachverständigen zu gewährenden Entschädigung durch das Finanzgericht auf Basis des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG) kann gem. § 4 Abs. 3 JVEG Beschwerde eingelegt werden, wenn der Beschwerdewert 200 Euro übersteigt oder das Finanzgericht die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat.

4.203

Ob eine an sich nicht zulässige Beschwerde ausnahmsweise als sog. außerordentliche Beschwerde statthaft ist, wenn die Entscheidung des Finanzgerichts wegen „greifbarer Gesetzwidrigkeit“ jeglicher Grundlage entbehrt, war zunächst nach Einführung der Anhörungsrüge (vgl. Rz. 5.1 ff.) in § 133a FGO umstritten. Inzwischen lässt der BFH eine solche außerordentliche Beschwerde nicht mehr zu.1

4.204

Eine Umdeutung einer von einem fachkundigen Prozessvertreter ausdrücklich als solche erhobenen außerordentlichen Beschwerde in eine von der Rechtsprechung neben der Anhörungsrüge als statthaft erachtete, gesetzlich freilich nicht geregelte Gegenvorstellung (vgl. Rz. 2.309 f.) kommt regelmäßig nicht in Betracht.2

4.205

Wegen des nach dem Gesetz stark eingeschränkten Anwendungsbereichs spielen Beschwerden nach §§ 128 ff. FGO in der Praxis des BFH in quantitativer Hinsicht keine prägende Rolle. Beim BFH wurden in der jüngsten Vergangenheit im Schnitt weniger als 200 Beschwerdeverfahren pro Jahr anhängig.3 Im Vergleich zu Nichtzulassungsbeschwerden gem. § 116 FGO kommt den Beschwerden nach §§ 128 ff. FGO insofern eine deutlich geringere Bedeutung zu.4 Gerade wenn es um die Gewährung vorläufigern Rechtsschutzes durch Aussetzung der Vollziehung bzw. dem Erlass einer einstweiligen Anordnung geht, kommt dem Beschwerdeverfahren – soweit zugelassen (Rz. 4.200) – die Funktion zu, einen effektiven Rechtsschutz sicherzustellen.5

4.206

II. Einlegung Die Beschwerde ist nach § 129 Abs. 1 FGO nicht direkt beim BFH, sondern beim Finanzgericht einzulegen. Die Einlegung erfolgt schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (zur Wahrung der Schriftform vgl. Rz. 3.30 ff.). Die Beschwerde 1 BFH v. 17.7.2013 – V B 128/12, BFH/NV 2013, 1611; v. 14.3.2007 – IV B 13/06 (PKH), BStBl. II 2007, 1041 m. w. N.; Ratschow in Gräber, § 128 FGO Rz. 16 i. V. m. Vor § 115 FGO Rz. 30. 2 BFH v. 30.6.2005 – III B 63/05, BFH/NV 2005, 2019. 3 Ergebnis der Auswertung der Jahresberichte des BFH für die Jahre 2013 bis 2016. Die Anzahl der Neuzugänge lag zwischen 152 (in 2015) und 222 (in 2013). 4 Vgl. BFH (Hrsg.), 60 Jahre Bundesfinanzhof, 2010, S. 57. 5 Vgl. nur BFH v. 19.10.2009 – XI B 60/09, BFH/NV 2010, 58.

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4.207

Kap. 4 Rz. 4.208

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

ist innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen. Die Zwei-Wochen-Frist wird auch dann gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist beim BFH eingeht (§ 129 Abs. 2 FGO).

4.208 Die Einlegung beim Finanzamt wahrt die Frist nicht. In diesem Fall ist die Frist nur dann gewahrt, wenn die Beschwerde nach Weiterleitung durch das Finanzamt rechtzeitig beim Gericht eingeht.

4.209 Selbst wenn die Beschwerde beim Finanzgericht eingelegt werden kann, zielt die Beschwerde letztendlich auf ein Verfahren vor dem BFH ab. Die Beschwerde kann daher nur durch eine gem. § 62 Abs. 4 FGO vor dem BFH vertretungsberechtigte Person wirksam eingelegt werden.1 Insoweit gilt derselbe Vertretungszwang wie für Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden (vgl. Rz. 4.4 ff.).2

4.210 Der Inhalt der Beschwerdeschrift ist gesetzlich nicht festgelegt. Da mit der Beschwerde aber eine Entscheidung des Finanzgerichts angegriffen wird, ist in jedem Fall die angefochtene Entscheidung genau zu bezeichnen, möglichst mit Datum und Aktenzeichen.3 Zwar besteht für die Beschwerde kein Begründungszwang,4 gleichwohl muss erkennbar sein, was konkret mit der Beschwerde begehrt wird.5 Deshalb empfiehlt es sich, das mit der Beschwerde geltend gemachte Begehren anzugeben sowie die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel anzuführen. Denn eine Beschwerde ist unzulässig, wenn nicht erkennbar ist, was mit dem Rechtsmittel begehrt wird, z. B. wenn sie sich in keiner Weise mit der Begründung des angegriffenen Beschlusses auseinandersetzt.6

4.211 In jedem Fall muss mit der Beschwerde erkennbar gemacht werden, was mit dem Rechtsmittel begehrt wird; dies erfordert in der Regel, dass sich die Beschwerde mit der Begründung des angefochtenen Beschlusses auseinandersetzt.7 Eine fehlende Begründung führt nur dann nicht zur Unzulässigkeit, wenn das mit der Beschwerde verfolgte Begehren erkennbar ist.8

4.212 Ebenso wie die Klage hat auch die Beschwerde grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet: Das Verfahren geht auch nach Einlegung der Beschwerde entsprechend dem angefochtenen Beschluss weiter (vgl. § 131 Abs. 1 FGO).9 Eine Ausnahme gilt allerdings dann, wenn die angefochtene Entscheidung die Festsetzung eines Ordnungs- oder Zwangsmittels zum Gegenstand hat (§ 131 Abs. 1 Satz 1 FGO). In einem solchen Fall hat die Beschwerde aufschiebende Wirkung mit der Folge, dass der entsprechende Beschluss nicht vollzogen werden kann.

4.213 In den Fällen, in denen die Beschwerde keine aufschiebende Wirkung hat, können der Senat, der Vorsitzende oder der Berichterstatter, dessen Entscheidung angefochten wird, die Vollziehung der Entscheidung einstweilen aussetzen (§ 131 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Aussetzung setzt allerdings eine vollziehbare Entscheidung voraus. Wird lediglich ein Antrag abgelehnt,

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH, Beschluss vom 13.4.2016 – V B 42/16, BFH/NV 2016, 1057. Ratschow in Gräber, § 129 FGO Rz. 3. Vgl. Ratschow in Gräber, § 129 FGO Rz. 6; Seer in Tipke/Kruse, § 129 FGO Rz. 10. Vgl. BFH v. 24.11.1998 – V B 89/98, BFH/NV 1999, 653; v. 31.8.1995 – I B 8/92, BFH/NV 1996, 225. BFH v. 14.1.1999 – IX B 137/98, BFH/NV 1999, 821. Zu einem Fall: BFH v. 14.1.1999 – IX B 137/98, BFH/NV 1999, 821. BFH v. 14.1.1999 – IX B 137/98, BFH/NV 1999, 821. BFH v. 6.11.1997 – V B 92/97, BFH/NV 1998, 602. Ratschow in Gräber, § 131 FGO Rz. 1.

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D. Beschwerdeverfahren

Rz. 4.220 Kap. 4

liegt keine vollziehbare Entscheidung vor, kommt eine einstweilige Aussetzung der Vollziehung auch nicht in Betracht.

III. Weiteres Verfahren Das Beschwerdeverfahren soll eine Selbstkontrolle des Finanzgerichts ermöglichen.1 Über die Beschwerde entscheidet daher zunächst das Finanzgericht, dessen Entscheidung angefochten wird. Das Gericht kann der Beschwerde abhelfen, wenn es sie für begründet hält. Dann ergeht ein entsprechend begründeter schriftlicher Beschluss (§ 130 Abs. 1 FGO).

4.214

Hält das Finanzgericht die Beschwerde nicht für begründet (was in der Praxis der Regelfall ist), so hilft es der Beschwerde nicht ab. Auch diese Entscheidung ergeht in Form eines Beschlusses. In der Regel wird der Beschluss nicht weiter begründet. Vielmehr wird in den Akten dann folgende Beschlussformel festgehalten: Der Beschwerde wird nicht abgeholfen.

4.215

Das Finanzgericht kann der Beschwerde auch nur teilweise abhelfen. In diesem Fall erlässt es einen entsprechend begründeten Beschluss.

4.216

Hilft das Finanzgericht der Beschwerde ganz oder teilweise nicht ab, so übersendet es die Beschwerde nach entsprechender Beschlussfassung nebst Gerichtsakten an den BFH. Anders als der Abhilfebeschluss ist der Beschluss über die Nichtabhilfe der Beschwerde den Beteiligten nicht zuzustellen (vgl. § 53 Abs. 1 FGO). Die Beteiligten erhalten vielmehr lediglich eine Mitteilung darüber, dass die Beschwerde dem BFH vorgelegt wird (§ 130 Abs. 2 FGO). Dabei handelt es sich allerdings bloß um eine Ordnungsvorschrift; ein Verstoß hat keine prozessualen Folgen.2

4.217

Der Beschluss des Finanzgerichts, der Beschwerde nicht abzuhelfen, kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden.3

4.218

Anders als im Revisionsverfahren kann im Beschwerdeverfahren neues Vorbringen erfolgen. Dies ergibt sich aus § 155 FGO i. V. m. § 571 Abs. 2 ZPO. Auch eine Änderung oder Erweiterung des ursprünglich beim Finanzgericht gestellten Antrags ist im Beschwerdeverfahren zulässig.4 Allerdings dürfen neue Anträge keine wesentliche Änderung des Streitgegenstands enthalten.5

4.219

Der BFH muss die angefochtene Entscheidung des Finanzgerichts in vollem Umfang, also nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht nachprüfen und kann ggf. auch Beweis erheben.6 Allerdings ist es in erster Linie Aufgabe des BFH als Beschwerdegericht, die Entscheidung des Finanzgerichts zu überprüfen. Deshalb kann er die Sache auch an das Finanzgericht zurückverweisen, z. B. wenn nicht feststellbar ist, von welchem Sachverhalt das Finanzgericht ausgegangen ist.7 Der BFH ist als Beschwerdegericht Tatsacheninstanz und des-

4.220

1 2 3 4 5 6 7

Seer in Tipke/Kruse, § 130 FGO Rz. 2. BFH v. 19.3.2001 – X E 1/01, juris; Bergkemper in HHSp, § 130 FGO Rz. 32. BFH v. 22.10.1998 – X B 164/98, BFH/NV 1999, 505. Seer in Tipke/Kruse, § 132 FGO Rz. 12. BFH v. 16.3.1995 – VIII B 158/94, BFH/NV 1995, 680; Seer in Tipke/Kruse, § 132 FGO Rz. 12. BFH v. 22.11.2001 – V B 124/01, BFH/NV 2002, 549. BFH v. 22.11.2001 – V B 124/01, BFH/NV 2002, 549.

Hendricks

469

Kap. 4 Rz. 4.221

Verfahren vor dem Bundesfinanzhof

halb gehalten, bei Ermessensentscheidungen des Finanzgerichts das Ermessen des Finanzgerichts nicht nur zu überprüfen, sondern eigenes Ermessen auszuüben.1

4.221 Der BFH prüft als Erstes die Zulässigkeit der Beschwerde. Hält er die Beschwerde für unzulässig, so wird sie als unzulässig verworfen.2

4.222 Soweit die Beschwerde nicht begründet ist, weist der BFH sie als unbegründet zurück. Dabei gilt das Verbot, die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers zu ändern, auch im Beschwerdeverfahren.3

4.223 Hält der BFH die Beschwerde für begründet, wird ihr stattgegeben. Dabei hat der BFH in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO auch die Möglichkeit, in den Fällen, in denen er die Sache nicht für spruchreif hält, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung das Verfahren an das Finanzgericht zurückzuverweisen.4

4.224 Der BFH entscheidet durch Beschluss (§ 132 FGO). Dieser Beschluss ist zu begründen und den Beteiligten zuzustellen.

1 2 3 4

BFH v. 31.8.1993 – XI B 31/93, BFH/NV 1994, 187; Ratschow in Gräber, § 132 FGO Rz. 6. BFH v. 4.7.2006 – X B 17/06, BFH/NV 2006, 1868. Ratschow in Gräber, § 132 FGO Rz. 8; Seer in Tipke/Kruse, § 132 FGO Rz. 10. Vgl. z. B. BFH v. 28.9.1987 – IV B 38/85, BFH/NV 1989, 504.

470

Hendricks

Kapitel 5 Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO) A. Grundlagen I. Hintergrund und praktische Bedeutung der Anhörungsrüge . . . . . . . . .

5.1

II. Relevante Fallgruppen eines Gehörsverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . .

5.4

B. Zulässigkeit der Anhörungsrüge I. Statthaftigkeit der Anhörungsrüge. . II. Form, Frist und Inhalt der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.10

C. Begründetheit der Anhörungsrüge

5.23

D. Gang des Verfahrens . . . . . . . . . . . .

5.24

E. Verhältnis von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde . . . . . .

5.29

I. Anhörungsrügeverfahren vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde . . .

5.30

II. Parallele Verfahren bei möglicherweise unzulässiger Anhörungsrüge .

5.32

5.15

Literatur: Allgayer, Auswirkungen des Anhörungsrügeverfahrens auf die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden?, NJW 2013, 3484; Bartone, Rechtsschutz gegen Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Finanzprozess, AO-StB 2011, 213; Desens, Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde und ihr Verhältnis zu fachgerichtlichen Anhörungsrügen, NJW 2006, 1243; Kettinger, Der dritte Weg: Die Effektivierung der Anhörungsrüge, StB 2006, 259; Mack/Fraedrich, Die Anhörungsrüge nach § 133a FGO, AO-StB 2005, 115; Nöcker, Verhältnis der Anhörungsrüge zur Gegenvorstellung, AO-StB 2011, 55; Rosenke, Anhörungsrüge gegen die im Urteil getroffene Kostenentscheidung, EFG 2011, 1538; Schoenfeld, Die Anhörungsrüge nach § 133a FGO - Voraussetzungen und Stellung im System der außerordentlichen Rechtsbehelfe, DB 2005, 850; Seer, Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193; Seer/Thulfaut, Die neue Anhörungsrüge als außerordentlicher Rechtsbehelf im Steuerprozess, BB 2005, 1085; Thiemann, Die Anhörungsrüge als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde, DVBl. 2012, 1420; Treiber, Neuerungen durch das Anhörungsrügengesetz, NJW 2005, 97; Vielmeier, Rechtswegerschöpfung bei verzögerter Anhörungsrüge, NJW 2013, 346; Werth, Die Anhörungsrüge nach § 133a FGO im Kontext der Verfassungsbeschwerde, DStZ 2008, 534; Zuck, Das Verhältnis von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde, NVwZ 2005, 739; Zuck, Neues zum rechtlichen Gehör?, NVwZ 2012, 479.

A. Grundlagen I. Hintergrund und praktische Bedeutung der Anhörungsrüge Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Ist ein Beteiligter der Auffassung, dass eine Entscheidung des FG oder des BFH, bei der es sich nicht nur um eine „Zwischenentscheidung“ (vgl. Rz. 5.12) handelt, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und stehen ihm keine Rechtsmittel oder anderen Rechtsbehelfe zur Verfügung, mit denen der Beteiligte diesen Gehörsverstoß rügen kann, kommt die Erhebung einer Anhörungsrüge nach § 133a FGO in Betracht. Die Anhörungsrüge ist ein eigenständiger – außerordentlicher – Rechtsbehelf, durch den das betreffende Gericht zur Prüfung veranlasst werden soll, ob es zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gekommen ist. Die Anhörungsrüge ist als wiedereinsetzungsähnlicher Rechtsbehelf ausgestaltet, der den Eintritt der Rechtskraft unberührt lässt.1

1 BFH v. 8.12.2006 – XI B 59/06, BFH/NV 2007, 737; Ratschow in Gräber, § 133a FGO Rz. 2.

Hendricks

471

5.1

Kap. 5 Rz. 5.2

Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO)

5.2 In quantitativer Hinsicht ist die Bedeutung der Anhörungsrüge vergleichsweise gering. So bleibt die Anzahl der beim BFH eingereichten Anhörungsrügen sehr deutlich hinter der Zahl der eingehenden Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden zurück.1 Neben dem sehr eingeschränkten Anwendungsbereich (vgl. hierzu nachfolgend Rz. 5.20 ff.) könnte auch die offensichtlich sehr geringe Erfolgsquote2 ein Grund dafür sein, dass in der Praxis nur vergleichsweise selten von der Möglichkeit der Anhörungsrüge Gebrauch gemacht wird. In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass über die Anhörungsrüge genau jene Richter entscheiden, die bereits an der als verfahrensfehlerhaft gerügten Entscheidung mitgewirkt haben (iudex a quo).3 Die Richter entscheiden quasi „in eigener Sache“, was nach kritischen Stimmen das Risiko mit sich bringt, dass sie sich im Einzelfall nicht eingestehen wollen, dass es zu einer Gehörsverletzung gekommen ist.4

5.3 Selbst wenn man unterstellt, dass einer Anhörungsrüge regelmäßig der Erfolg versagt bleibt, kommt ihr jedoch erhebliche praktische Bedeutung zu, wenn es im Einzelfall tatsächlich zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gekommen ist. Denn die Möglichkeit, die Gehörsverletzung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG zu rügen, besteht nur dann, wenn der Verfahrensverstoß zuvor zum Gegenstand einer Anhörungsrüge gemacht wurde. Das durchgeführte Anhörungsrügeverfahren ist Zulässigkeitsvoraussetzung der anschließenden Verfassungsbeschwerde (näher Rz. 5.29 ff.).

II. Relevante Fallgruppen eines Gehörsverstoßes 5.4 Beschränkt man die Betrachtung nicht auf Entscheidungen, die zu Anhörungsrügeverfahren veröffentlicht werden, sondern bezieht auch andere Verfahren mit in die Betrachtung ein, dann wird deutlich, dass in der finanzgerichtlichen Praxis vergleichsweise häufig eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerichtlich festgestellt wird. So bejaht der BFH im Rahmen von Revisions- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren regelmäßig entsprechende Verstöße (vgl. auch Rz. 3.1385 ff.).

5.5 Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Beteiligten über den Verfahrensstoff zu informieren, ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, ihre Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern ihres Vorbringens auseinanderzusetzen.5 Anknüpfend hieran lassen sich für die Praxis

1 In den Jahren 2012 bis 2016 erreichten den BFH lediglich zwischen 72 (2012) und 109 (2016) Anhörungsrügen per annum, vgl. hierzu die Jahresberichte für die Jahre 2012 bis 2016, veröffentlicht unter www.bundesfinanzhof.de. 2 Statistiken zur Erfolgsquote von Anhörungsrügen werden nicht veröffentlicht. Allgemein wird angenommen, dass nur sehr wenige Anhörungsrügen von Erfolg gekrönt sind. Im Bereich der Finanzgerichtsbarkeit wurde, soweit ersichtlich, bislang lediglich eine einzige Entscheidung veröffentlicht, bei der eine Anhörungsrüge erfolgreich war, vgl. Hessisches FG v. 25.1.2012 – 11 K 3006/11, juris. 3 Kritisch zur Ausgestaltung der Anhörungsrüge als Selbstkontrollverfahren beispielweise Seer/Thulfaut, BB 2005, 1085 (1085); Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2197); Redeker, NJW 2003, 2956 (2957); Nasall, ZRP 2004, 164 (167). 4 Nach Seer bedarf es „insoweit schon einer beachtlichen menschlichen Größe, sich nach außen hin offen Verfahrensfehler einzugestehen“, vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 133a FGO Rz. 2. 5 St. Rspr., so z.B. wörtlich BFH v. 5.5.2014 – III B 125/13, BFH/NV 2014, 1219; v. 27.1.2011 – III R 90/07, BStBl. II 2011, 543.

472

Hendricks

A. Grundlagen

Rz. 5.8 Kap. 5

drei Fallgruppen unterscheiden, in denen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angenommen wird. Zunächst ist der Anspruch auf rechtliches Gehör immer dann verletzt, wenn das Äußerungsrecht der Beteiligten1 missachtet wurde. Das Gericht darf seine Entscheidung nur auf Tatsachen stützen, zu denen sich die Beteiligten zuvor äußern konnten (so auch § 96 Abs. 2 FGO für das finanzgerichtliche Klageverfahren). Dieses Äußerungsrecht wird den Beteiligten abgeschnitten, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Umstände stützt, die zuvor weder in den Schriftsätzen der Beteiligten noch in einer mündlichen Verhandlung erörtert wurden.

5.6

Das Recht auf Äußerung der Beteiligten ist eng verknüpft mit ihrem Anspruch auf Information.2 Zwar müssen die Beteiligten den Prozess mit der gebotenen Sorgfalt führen und grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen.3 Allerdings würde das Recht auf Äußerung ohne eine korrespondierende Pflicht des Gerichts zur Unterrichtung der Beteiligten vielfach leer laufen.4 Das Gericht ist daher verpflichtet, die Beteiligten über den Verfahrensstoff zu informieren, damit diese die Gelegenheit haben, sich hierzu zu äußern (gerichtliche Informations- und Unterrichtungspflicht).5 Diese gerichtliche Pflicht wird beispielsweise verletzt, wenn das Gericht die Beteiligten über die Beiziehung von Akten nicht ordnungsgemäß informiert, seine Entscheidung aber auch auf Erkenntnisse aus den beigezogenen Akten stützt.6 Gleiches gilt z. B., wenn das Gericht seine Entscheidung auf eine bisher nicht erörterte Schätzungsmethode stützt, ohne die Beteiligten über die mögliche Nutzung dieser Schätzungsmethode zu informieren.7

5.7

Das Äußerungsrecht der Beteiligten ist kein bloßer Formalismus; dieses Recht macht nur dann Sinn, wenn die jeweilige Äußerung vom Gericht auch zur Kenntnis genommen und mit in die Entscheidungserwägungen einbezogen wird. Daher korrespondiert mit dem Äußerungsrecht der Beteiligten die gerichtliche Beachtungspflicht.8 Zur Vermeidung einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG muss das Gericht die Äußerungen der Beteiligten zunächst zur Kenntnis nehmen.9 Entscheidet das Gericht, ohne die Äußerungen der Beteiligten überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben – beispielsweise weil die Entscheidung gefällt wird, bevor ein Beteiligter innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist seine Stellungnahme eingereicht hat10 – liegt bereits eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor. Über die bloße Kenntnisnahme hinaus ist aber erforderlich, dass sich das Gericht mit den Äußerungen im Rahmen seiner Entscheidungsfindung auseinandersetzt (Prüfungspflicht)11. Das Gericht muss Ausführungen der Prozessbeteiligten, auf die es ankommen kann, „in Erwägung ziehen“.12 Das Gericht ist jedoch nicht verpflichtet, sich auch in den Entscheidungsgründen ausdrücklich

5.8

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. etwa BVerfG v. 11.10.1978 – 2 BvR 214/76, BVerfGE 49, 325. BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28 (35). BFH v. 3.3.1998 – VIII R 66/96, BStBl. II 1998, 383 (384). Instruktiv Drüen, AO-StB 2002, 196 (197). Vgl. nur BFH v. 26.7.2012 – IX B 164/11, BFH/NV 2012, 1643; v. 10.9.2013 – XI B 114/12, BFH/ NV 2013, 1947; Bartone, AO-StB 2011, 179 (180). So ausdrücklich BFH v. 26.7.2012 – IX B 164/11, BFH/NV 2012, 1643. So BFH v. 10.9.2013 – XI B 114/12, BFH/NV 2013, 1947. Vgl. nur BFH v. 13.3.2015 – X B 138/14, BFH/NV 2015, 982. BFH v. 17.3.2010 – X B 62/09, BFH/NV 2010, 1825. BFH v. 3.2.2015 – V B 101/14, BFH/NV 2015, 696. So der treffende Begriff von Lange in HHSp, § 96 FGO Rz. 217. St. Rspr. des BVerfG, vgl. nur BVerfG v. 14.3.1990 – 2 BvR 930/89, NVwZ 1990, 651.

Hendricks

473

Kap. 5 Rz. 5.9

Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO)

mit jedem Vorbringen auseinanderzusetzen.1 Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt dann vor, wenn das Gericht Sachverhalt und Sachvortrag, auf den es ankommen kann, nicht nur nicht ausdrücklich bescheidet, sondern überhaupt nicht berücksichtigt.2

5.9 Der Anspruch auf rechtliches Gehör vermittelt naturgemäß keinen Anspruch darauf, das Gericht mit seinen Argumenten auch zu überzeugen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, dass das Gericht den Beteiligten „hören“ muss, aber nicht, dass es ihn „erhören“, sich also seinen rechtlichen Ansichten anschließen müsste.3

B. Zulässigkeit der Anhörungsrüge I. Statthaftigkeit der Anhörungsrüge 5.10 Eine Anhörungsrüge ist nur statthaft, wenn mit ihr geltend gemacht wird, dass das Gericht den Anspruch des Rügeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (§ 133a Abs. 1 Nr. 2 FGO).4 Die Verletzung anderer Justizgrundrechte, wie beispielsweise die Verletzung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), kann mit diesem Rechtsbehelf nicht gerügt werden.5 Weiter ist die Anhörungsrüge nur statthaft, wenn die Gehörsverletzung durch das angerufene Gericht selbst – also nicht durch ein anderes Gericht – erfolgt ist. Daher ist eine Anhörungsrüge, mit der die Gehörsverletzung der Vorinstanz geltend gemacht wird, nicht statthaft.6

5.11 Allerdings kann die Anhörungsrüge nicht gegen jede gerichtliche Entscheidung gerichtet werden, bei der eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör möglich erscheint. Voraussetzung ist zunächst, dass gegen diese Entscheidung kein anderes Rechtsmittel oder anderer Rechtsbehelf gegeben ist (§ 133a Abs. 1 Nr. 1 FGO). Ist gegen die Entscheidung ein anderes Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegeben, mit dem die Gehörsverletzung gerügt werden kann, so hat dieser Rechtsbehelf Vorrang vor der Anhörungsrüge (Subsidiarität der Anhörungsrüge).7 Daher muss beispielsweise eine Gehörsverletzung des Finanzgerichts in einem durch Urteil abgeschlossenen Klageverfahren im Rahmen eines Revisionsverfahrens oder eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens gerügt werden. Die Gehörsverletzung des Finanzgerichts zum Gegenstand einer Anhörungsrüge zu machen, wäre unzulässig.8 Entsprechendes gilt, wenn das Finanzgericht durch Gerichtsbescheid entschieden hat und eine Gehörsverletzung durch einen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung und entsprechende Hinweise im Rahmen der dann durchzuführenden mündlichen Verhandlung abgewehrt werden kann.9 Durch die Subsidiarität der Anhörungsrüge wird ihr Anwendungsbereich in der Praxis stark eingeschränkt.10

1 Vgl. nur BFH-Beschlüsse v. 15.9.2006 – III B 197/05, BFH/NV 2007, 28; v. 13.4.2007 – V B 122/05, BFH/NV 2007, 1517, sowie v. 17.3.2010 – X B 62/09, BFH/NV 2010, 1825. 2 BFH v. 24.1.2013 – III B 113/11, BFH/NV 2013, 726. 3 St. Rspr., vgl. nur BFH v. 21.7.2016 – V S 20/16 (PKH), BFH/NV 2016, 1734. 4 BFH v. 27.7.2007 – III S 8/07, BFH/NV 2007, 2135. 5 BFH v. 1.9.2016 – V S 24/16, BFH/NV 2017, 49. 6 BFH v. 14.10.2015 – I S 10/15, BFH/NV 2016, 570. 7 So ausdrücklich BFH v. 14.10.2015 – I S 10/15, BFH/NV 2016, 570. 8 Exemplarisch BFH v. 14.10.2015 – I S 10/15, BFH/NV 2016, 570. 9 Bergkemper in HHSp, § 133a FGO Rz. 10; Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 19. 10 Ebenso Seer in Tipke/Kruse, § 133a FGO Rz. 4.

474

Hendricks

B. Zulässigkeit der Anhörungsrüge

Rz. 5.14 Kap. 5

Der Anwendungsbereich der Anhörungsrüge ist zudem auf gerichtliche Endentscheidungen beschränkt. Gegen eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung - mit anderen Worten gegen „Zwischenentscheidungen“ - ist eine Anhörungsrüge ausdrücklich ausgeschlossen (§ 133a Abs. 1 Satz 2 FGO). Dieser weiteren Einschränkung liegt die (zutreffende) Überlegung zugrunde, dass es eines eigenen Rechtsbehelfs zur Abwehr einer Gehörsverletzung erst dann bedarf, wenn das Verfahren insoweit abgeschlossen ist und sich die Gehörsverletzung in einer abschließenden Entscheidung manifestiert.1

5.12

Insgesamt verbleibt nur ein kleiner (indes sehr praxisrelevanter) Anwendungsbereich für statthafte Anhörungsrügen. Tauglicher Gegenstand von Anhörungsrügen sind vor allem Urteile und Beschlüsse des BFH über Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden, bei denen geltend gemacht werden kann, dass durch sie eine eigenständige Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bewirkt wird.2 Aber auch Entscheidungen der Finanzgerichte können zum Gegenstand einer statthaften Anhörungsrüge gemacht werden, insbesondere

5.13

– Beschlüsse über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 FGO), wenn das Finanzgericht die Beschwerde nicht zugelassen hat (vgl. § 128 Abs. 3 FGO);3 etwas anderes gilt mit Rücksicht auf die Subsidiarität der Anhörungsrüge nur dann, wenn im konkreten Fall (ausnahmsweise) ein Änderungsverfahren nach § 69 Abs. 6 FGO betrieben werden kann;4 – Beschlüsse über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 114 FGO), wenn das Finanzgericht die Beschwerde nicht zugelassen hat (vgl. § 128 Abs. 3 FGO);5 – die isoliert nicht anfechtbare Kosten(grund)entscheidung als Nebenentscheidung zur Hauptsacheentscheidung (vgl. Rz. 10.1 f.; § 145 FGO);6 – andere Kostenentscheidungen, die nach § 128 Abs. 4 FGO nicht anfechtbar sind, wie z. B. eine Kostenentscheidung im Einstellungsbeschluss nach Klagerücknahme oder im Beschluss über die Kostentragung nach Erledigung der Hauptsache;7 – aber auch unanfechtbare Beschlüsse über Prozesskostenhilfe (§ 128 Abs. 4 FGO),8 Freilich macht eine Anhörungsrüge auch in diesen Fällen nur dann Sinn, wenn geltend gemacht werden kann, dass das Gericht den Anspruch des Rügeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (hierzu Rz. 3.1385 ff. sowie Rz. 5.4 ff.).

1 Vgl. Bergkemper in HHSp, § 133a FGO Rz. 15. 2 Werth, DStZ 2008, 534 (535). 3 Vgl. nur FG Düsseldorf v. 15.122014 – 13 V 3218/14 A (G), EFG 2015, 494; ebenso Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 24.2. 4 Vgl. im Einzelnen Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 24.2. 5 Ebenso Bergkemper in HHSp, § 133a FGO Rz. 10. 6 Exemplarisch FG München v. 12.5.2011 – 7 K 854/11, EFG 2011, 1537. 7 Für gerichtliche Entscheidungen nach dem GKG, die nicht mit einem Rechtsmittel oder anderen Rechtsbehelf anfechtbar sind (wie z. B. die Auferlegung einer Verzögerungsgebühr nach § 38 GKG oder etwa Beschlüsse des Gerichts im Kostenerinnerungsverfahren nach § 66 GKG) ist die Anhörungsrüge auf § 69a GKG zu stützen. Die Bestimmung enthält eine eigenständige Kodifizierung der Anhörungsrüge, weil das GKG einen weit über die Verfahren nach der FGO hinausgehenden Anwendungsbereich hat (s. § 1 GKG), vgl. Nöcker/Ebner, AO-StB 2017, 184 (185). 8 Vgl. Bergkemper in HHSp, § 133a FGO Rz. 15.

Hendricks

475

5.14

Kap. 5 Rz. 5.15

Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO)

II. Form, Frist und Inhalt der Anhörungsrüge 5.15 Die Anhörungsrüge ist gem. § 133a Abs. 2 Satz 4 FGO schriftlich (vgl. Rz. 4.19 ff.) oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Gericht zu erheben, dessen Entscheidung angegriffen wird.

5.16 Richtet sich die Rüge gegen eine Entscheidung des BFH, ist der für dort betriebene Verfahren geltende Vertretungszwang zu beachten (§ 62 Abs. 4 FGO).1 Das bedeutet, der betreffende Beteiligte kann die Anhörungsrüge in diesem Fall nicht selbst erheben, sondern muss sich durch einen beim BFH vertretungsberechtigten Prozessbevollmächtigten vertreten lassen (vgl. Rz. 4.19).2

5.17 Die Anhörungsrüge ist gem. § 133a Abs. 2 FGO innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben. Es handelt sich um eine Ausschlussfrist, die nicht verlängert werden kann. Bei unverschuldeter Fristversäumnis kann eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.3 Allerdings kann nach Ablauf eines Jahres seit Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung die Rüge nicht mehr erhoben werden (§ 133a Abs. 2 Satz 2 FGO).

5.18 Die Anhörungsrüge muss bestimmten inhaltlichen Mindestanforderungen genügen: In der Rüge muss die angegriffene Entscheidung möglichst genau bezeichnet werden (§ 133a Abs. 2 Satz 5 FGO). Hierzu reicht die Angabe des Datums, des Aktenzeichens und der Sache, in der die Entscheidung ergangen ist, aus.4

5.19 Außerdem muss dargelegt werden, dass das Gericht den Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Der Gesetzeswortlaut spricht dafür, dass hier die gleichen Anforderungen an den Darlegungsumfang zu stellen sind wie bei einer auf Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützten Nichtzulassungsbeschwerde5 (hierzu Rz. 4.176 ff.). Der Gehörsverstoß ist also konkret und vollständig darzulegen. In der Rügeschrift sollten alle Tatsachen dargelegt werden, aus denen sich der Gehörverstoß ergibt. Den Rügeführer trifft insoweit die Darlegungslast.6

5.20 Soll ein Verstoß gegen das Äußerungsrecht bzw. gegen die gerichtliche Informationspflicht (vgl. Rz. 5.6 f.) gerügt werden, muss in der Rügeschrift schlüssig und substantiiert dargelegt werden,7 – zu welchen konkreten Sach- oder Rechtsfragen sich der Rügeführer im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht hat äußern können,

1 BFH v. 16.8.2016 – II S 16/16, BFH/NV 2016, 1746. 2 Bezieht sich die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs auf die Frage, ob Vertretungszwang besteht, ist zur Prüfung dieser Frage, allerdings auch nur dafür, vorläufig die Befugnis zur Selbstvertretung anzunehmen, so ausdrücklich BFH v. 25.7.2016 – X S 10/16, BFH/NV 2016, 1739. 3 Vgl. Bergkemper in HHSp, § 133a FGO Rz. 16. 4 Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 51; Ratschow in Gräber, § 133a FGO Rz. 31. 5 So auch BFH v. 11.1.2006 – IV S 17/05, BFH/NV 2006, 956. 6 So z. B. Seer in Tipke/Kruse, § 133a FGO Rz. 9; ebenso Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 12. 7 Vgl. BFH v. 11.3.2009 – VI S 2/09, BFH/NV 2009, 1131; v. 22.4.2013 – IX S 8/13, BFH/NV 2013, 1244; sowie Nöcker/Ebner, AO-StB 2017, 184 (186 ff.).

476

Hendricks

D. Gang des Verfahrens

Rz. 5.24 Kap. 5

– dass er keine Möglichkeit hatte, die Gehörsversagung bereits vor Ergehen der Entscheidung mit Erfolg zu beanstanden, – was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch zusätzlich vorgetragen hätte und – dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre. Soll hingegen ein Verstoß gegen die gerichtliche Beachtungspflicht (vgl. Rz. 5.8) gerügt werden, muss in der Rügeschrift schlüssig und substantiiert dargelegt werden1

5.21

– welches entscheidungserhebliche Vorbringen das Gericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zur Kenntnis genommen oder in Erwägung gezogen hat, – woraus der Rügeführer dies schließt und – dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre. In beiden Konstellationen ist die Entscheidungserheblichkeit bereits dann zu bejahen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht bei einer Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.2 D. h.: Die bloße Möglichkeit einer anderen Entscheidung bei ordnungsgemäßer Gewährung rechtlichen Gehörs reicht für die Entscheidungserheblichkeit aus. Diese Möglichkeit muss jedoch konkret dargelegt werden.3

5.22

C. Begründetheit der Anhörungsrüge Die Anhörungsrüge ist gem. § 133a Abs. 1 Nr. 2 FGO begründet, wenn das Gericht den Anspruch des Rügeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat und der Rügeführer dies in seiner Rügeschrift nach den vorgehend dargestellten Grundsätzen dargelegt hat.

5.23

D. Gang des Verfahrens Wird von einem Beteiligten eine Anhörungsrüge erhoben, so gibt das Gericht den übrigen Beteiligten, soweit dies erforderlich ist, Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 133a Abs. 3 FGO). Hierdurch soll den übrigen Beteiligten rechtliches Gehör gewährt werden. Die Einschränkung „soweit erforderlich“ bedeutet, dass das Gericht auf die Gelegenheit zur Stellungnahme verzichten kann, wenn schutzwürdige Interessen der übrigen Beteiligten nicht berührt werden, z. B. weil die Rüge offensichtlich unstatthaft ist oder wegen Versäumung der Rügefrist oder mangelhafter Begründung offensichtlich unzulässig ist.4

1 Vgl. nur vgl. BFH v. 11.3.2009 – VI S 2/09, BFH/NV 2009, 1131; v. 22.4.2013 – IX S 8/13, BFH/NV 2013, 1244. 2 Vgl. Ratschow in Gräber, § 133a FGO Rz. 15; Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 56. 3 Vgl. auch BFH v. 26.3.2014 – XI S 1/14, BFH/NV 2014, 1071. 4 Vgl. Ratschow in Gräber, § 133a FGO Rz. 15.

Hendricks

477

5.24

Kap. 5 Rz. 5.25

Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO)

5.25 Das Gericht prüft als Erstes, ob die Rüge statthaft und zulässig ist. Ist die Rüge nicht statthaft oder nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form oder Frist erhoben, hat das Gericht sie als unzulässig zu verwerfen (§ 133a Abs. 4 Satz 1 FGO).

5.26 Ist die Rüge hingegen zulässig, prüft das Gericht ihre Begründetheit, d. h. es untersucht, ob es den Anspruch des Rügeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Rüge nicht begründet ist, weist es die Rüge als unbegründet zurück (§ 133a Abs. 4 Satz 2 FGO). Die Entscheidung ergeht durch unanfechtbaren Beschluss, der kurz begründet werden soll (§ 133a Abs. 4 Sätze 3, 4 FGO).

5.27 Ist die Anhörungsrüge hingegen begründet, hilft das Gericht ihr ab, indem es das Verfahren fortsetzt, soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist. Die Fortsetzung des Verfahrens erfolgt nur für den Teil, für den die Rüge erhoben wurde und von Erfolg gekrönt war (§ 133a Abs. 5 Satz 1 FGO). Das Verfahren wird nicht insgesamt neu aufgerollt.1 Dabei wird das Verfahren in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befunden hat (§ 133a Abs. 5 Satz 2 FGO). In schriftlichen Verfahren tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können (§ 133a Abs. 5 Satz 3 FGO).

5.28 Für den Tenor der gerichtlichen Entscheidung gelten gem. § 133a Abs. 5 Satz 4 FGO die Regelungen in § 343 ZPO entsprechend. § 343 ZPO regelt die Entscheidung über einen gegen ein Versäumnisurteil gerichteten Einspruch (vgl. § 338 ZPO). Überträgt man den Inhalt dieser Vorschrift auf das Anhörungsrügeverfahren, gilt Folgendes: Kommt das Gericht nach Durchführung des Fortsetzungsverfahrens zum gleichen Ergebnis, hat es im Urteil bzw. Beschluss auszusprechen, dass die Entscheidung aufrecht erhalten bleibt (§ 343 Satz 1 ZPO). Bei abweichendem Ergebnis hat es die ursprüngliche Entscheidung im Urteil bzw. Beschluss aufzuheben bzw. abzuändern (§ 343 Satz 2 ZPO).2

E. Verhältnis von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde 5.29 Der aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleitende Anspruch auf rechtliches Gehör gehört zu den sog. grundrechtsgleichen Rechten, deren Verletzung auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Wurde der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, kommt neben der Anhörungsrüge also auch die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde in Betracht. Zwischen beiden Optionen besteht indes kein freies Wahlrecht. Im Regelfall ist es geboten, zunächst eine Anhörungsrüge zu erheben, um dann anschließend im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde das BVerfG anzurufen. Denn die Durchführung des Anhörungsrügeverfahrens ist Zulässigkeitsvoraussetzung einer Verfassungsbeschwerde (hierzu Rz. 5.30). Im Einzelfall kann es geboten sein, beide Verfahren parallel zu betreiben (hierzu Rz. 5.32 ff.).

I. Anhörungsrügeverfahren vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde 5.30 Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig erhoben werden. Das BVerfG legt die Bestim1 Vgl. Rüsken in Beermann/Gosch, § 133a FGO Rz. 76. 2 Bergkemper in HHSp, § 133a FGO Rz. 28.

478

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E. Verhältnis von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde

Rz. 5.33 Kap. 5

mung extensiv aus. Danach müssen – über die Erschöpfung des Rechtswegs i. e. S. hinausgehend – alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen worden sein, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen. Der Beschwerdeführer muss selbst das ihm Mögliche getan haben, um eine Verletzung des Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts bereits im fachgerichtlichen Instanzenzug zu beseitigen. Soll im Rahmen der Verfassungsbeschwerde die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerügt werden, ist nach der Rechtsprechung des BVerfG der Rechtsweg erst dann erschöpft, wenn zuvor von der Möglichkeit der Anhörungsrüge Gebrauch gemacht wurde (Anhörungsrügeverfahren als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde).1 Allerdings ist die Anhörungsrüge nach der Rechtsprechung des BVerfG auch Zulässigkeitsvoraussetzung für weitere, neben der Gehörsrüge geltend gemachte Grundrechtsverletzungen, soweit es sich um ein und denselben Streitgegenstand handelt.2 Der Grund für diese weite Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzung des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist, dass das Ausgangsgericht bei einer erfolgreichen Anhörungsrüge das Verfahren fortführt und neben dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG auch die Verletzung weiterer Grundrechte zu überprüfen hat.3 Über die mit einer Anhörungsrüge verbundene Verfahrensfortsetzung könnte der Rügeführer also auch weitere Grundrechtsverstöße thematisieren, mit der Folge, dass der Rechtsweg auch für diese Grundrechtsverstöße erst nach Abschluss des Anhörungsrügeverfahrens abgeschlossen wäre.4 Dies unterstreicht die Bedeutung der Anhörungsrüge für ein mögliches Verfassungsbeschwerdeverfahren in Bezug auf andere Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte.

5.31

II. Parallele Verfahren bei möglicherweise unzulässiger Anhörungsrüge Ein mögliches Anhörungsrügeverfahren ist nach der Rechtsprechung jedoch dann keine Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Verfassungsbeschwerde, wenn eine Anhörungsrüge „offensichtlich unzulässig“ wäre.5 Denn weder soll der Betroffene vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde aussichtslose Rechtsbehelfe betreiben müssen, noch soll das Betreiben eines offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelfs dazu genutzt werden können, den Beginn der einmonatigen Verfassungsbeschwerdefrist nach hinten zu verschieben.6

5.32

Wann eine Anhörungsrüge im Sinne dieser Rechtsprechung „offensichtlich unzulässig“ wäre, kann im Einzelfall schwierig zu beurteilen sein. Nach der Rechtsprechung ist dies dann anzunehmen, wenn der Rechtsbehelfsführer hierüber „nach dem Stand der Rechtsprechung und der Lehre nicht im Ungewissen sein konnte“.7 Die Anwendung dieser Formel auf den

5.33

1 Exemplarisch BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 13.9.2007 – 2 BvR 304/05, BFH/NV 2008, Beilage 1, 63. 2 Vgl. vor allem BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 25.4.2005 – 1 BvR 644/05, NJW 2005, 3059; hierzu im Einzelnen Werth, DStZ 2008, 534 (536 f.). 3 Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 25.4.2005 – 1 BvR 644/05, NJW 2005, 3059; BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 29.3.2007 – 2 BvR 120/07, juris. 4 Werth, DStZ 2008, 534 (536). 5 Exemplarisch BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07, NJW-RR 2008, 75. 6 BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07, NJW-RR 2008, 75; Desens, NJW 2006, 1243 (1246). 7 Vgl. etwa BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07, NJW-RR 2008, 75.

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479

Kap. 5 Rz. 5.34

Die Anhörungsrüge (§ 133a FGO)

Einzelfall ist in der Praxis gleichwohl alles andere als prognosesicher möglich.1 So stellt sich bereits die Frage, inwieweit Darlegungsvoraussetzungen bei der Beurteilung der Zulässigkeitsvoraussetzungen zu berücksichtigen sind.2

5.34 In Fällen, in denen nicht mit Sicherheit prognostiziert werden kann, ob eine Anhörungsrüge „offensichtlich unzulässig“ wäre, empfiehlt es sich, Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde parallel zu erheben. In der an das BVerfG gerichteten Verfassungsbeschwerdeschrift sollte auf das gleichzeitig anhängige Anhörungsrügeverfahren hingewiesen werden. Die Beschwerdeschrift sollte gleichzeitig die Anregung an das Verfassungsgericht enthalten, die Verfassungsbeschwerde zunächst nur im allgemeinen Register zu erfassen.3

5.35 Ist die Anhörungsrüge im Nachhinein tatsächlich als „offensichtlich unzulässig“ zu beurteilen, konnte die Verfassungsbeschwerde auch ohne den Abschluss des Anhörungsrügeverfahrens erhoben werden. War die Anhörungsrüge hingegen zulässig, blieb aber in der Sache ohne Erfolg, kann die Verfassungsbeschwerde ggf. noch einmal erhoben werden.4

1 2 3 4

Vgl. Thiemann, DVBl. 2012, 1420 ff. Werth, DStZ 2008, 534 (537). So ausdrücklich Thiemann, DVBl. 2012, 1420; zustimmend Steinhauff, AO-StB 2013, 108 ff. Zu Einzelheiten Thiemann, DVBl. 2012, 1420 sowie Werth, DStZ 2008, 534 (536 ff.).

480

Hendricks

Kapitel 6 Anrufung des Bundesverfassungsgerichts A. Bedeutung und Organisation des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . .

6.1

B. Verfassungsbeschwerde I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zulässigkeitsvoraussetzungen 1. Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frist und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht. . . . . . . . . . . . . . .

6.6

6.11 6.13 6.17 6.28

III. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1. Grundsatz der Annahmebedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prozedere bei Annahme zur Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahrensdauer und Erfolgsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.39 6.45 6.52

C. Konkrete Normenkontrolle I. Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.54

II. Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.61

D. Einstweiliger Rechtsschutz . . . . . . .

6.65

6.37

Literatur: Bartone, Grundrechte und grundrechtsgleiche Verfahrensrechte im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen letztinstanzliche Entscheidungen des BFH, AO-StB 2008, 224; Brandt, Steuerrechtsschutz durch Verfassungsbeschwerde, AO-StB 2002, 123 (Teil I), 166 (Teil II); Burkiczak/Dollinger/ Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Heidelberg 2015; Hey, Evidenz von Verfassungsverstößen, Budgetschutz und Unvereinbarkeitsaussprüche, FS Spindler, 2011, S. 97; Klein/Sennekamp, Aktuelle Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde, NJW 2007, 945; Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR Bd. 128 (2003), 1; Lübbe-Wolf, Die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde, AnwBl. 2005, 509; Mellinghoff, Steuerverfassungsrecht im Gespräch, FR 2012, 989; Sangmeister, Das BVerfG und das Verfassungsprozeßrecht, dargestellt am Beispiel seiner Beschlüsse zur Familienbesteuerung v. 10.11.1998, StuW 2001, 168; Schorkopf, Die prozessuale Steuerung des Verfassungsrechtsschutzes, AöR Bd. 130 (2005), 465; Seer, Finanzrichterlicher Rechtsschutz in Verfassungsfragen, FS Spindler 2011, S. 219; Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rspr. zum Abgabenrecht, NJW 1996, 285; Spindler, Der BFH und das BVerfG im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, FS Schaumburg, 2009, S. 169; Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, Diss. Berlin 2000; Werth, Verfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Entscheidungen des BFH, AO-StB 2007, 24.

A. Bedeutung und Organisation des Bundesverfassungsgerichts Die praktische Bedeutung des BVerfG für den Steuerrechtsschutz1 wird oft unterschätzt. Oft wird die Aufgabe dieses Verfassungsorgans allein in der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder Verwaltungsentscheidungen gesehen. Die Tätigkeit des Gerichts ist jedoch nicht hierauf beschränkt. In quantitativer Hinsicht manifestiert sich die praktische Bedeutung des BVerfG für den Steuerrechtsschutz vor allem in zahlreichen Entscheidungen, in denen das Gericht eine Verletzung von Justizgrundrechten (insbesondere des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör) oder eine Verletzung des Anspruchs auf effek-

1 Der Verfasser dankt Herrn Rechtsanwalt/Steuerberater Dr. Rudolf Hübner (Bonn) für die wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Abschnitts.

Hendricks

481

6.1

Kap. 6 Rz. 6.2

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

tiven Rechtsschutz bejaht hat.1 Insoweit darf man die Richter des BVerfG ohne weiteres als Hüter eines effektiven Steuerrechtsschutzes bezeichnen.

6.2 Aber auch die verfassungsrechtliche Überprüfung von Steuergesetzen wird sehr häufig an das BVerfG herangetragen. Wie kein anderes Rechtsgebiet steht das Steuerrecht „unter verfassungsrechtlicher Beobachtung“.2 Die steuerbezogenen Entscheidungen des Gerichts basieren dabei im Regelfall auf Verfassungsbeschwerden (hierzu Rz. 6.6 ff.) oder auf Richtervorlagen (also auf konkreten Normenkontrollverfahren, hierzu Rz. 6.54 ff.).

6.3 Das BVerfG besteht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richterinnen und Richtern (§ 2 Abs. 1-2 BVerfGG). Die eine Hälfte wählt der Bundestag, die andere der Bundesrat, jeweils mit Zweidrittelmehrheit (Art. 94 Abs. 1 GG; §§ 5-7 BVerfGG). Drei Mitglieder jedes Senats müssen zuvor an einem obersten Gerichtshof des Bundes tätig gewesen sein (§ 2 Abs. 3 BVerfGG). Die Amtszeit der Richterinnen und Richter beträgt gem. § 4 Abs. 1 BVerfGG zwölf Jahre. Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen (§ 4 Abs. 2 BVerfGG).

6.4 Das Gericht entscheidet durch einen Senat oder – wenn dies ausdrücklich vorgesehen ist – durch eine Kammer. Die Kammern werden gem. § 15a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG durch die Senate jährlich für die Dauer eines Geschäftsjahres berufen. Sie bestehen aus jeweils drei Richterinnen und Richtern (§ 15a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Der Erste Senat hat aktuell vier, der Zweite Senat drei Kammern. Die Kammern entscheiden über die Zulässigkeit untergerichtlicher Normenkontrollanträge (§ 81a BVerfGG) sowie über die Annahme von Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung (§§ 93a, 93b, 93c BVerfGG). In Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung entscheidet jedoch stets der Senat.

6.5 Die sachliche Zuständigkeit der Senate ist in § 14 BVerfGG geregelt. Nach der gesetzgeberischen Grundidee widmet sich der erste Senat vor allem Grundrechtsfragen, während der Zweite Senat in erster Linie als Staatsgerichtshof konzipiert ist. Im Steuerrecht kommt diese Grundidee praktisch kaum zur Geltung. In den wichtigen Gebieten des Einkommensteuerrechts (einschließlich der Kirchensteuer), des Körperschaftsteuerrechts und des Umwandlungssteuerrechts ist der Zweite Senat für Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollverfahren zuständig.3 Im Übrigen ist die Zuständigkeit des Ersten Senats begründet.

B. Verfassungsbeschwerde I. Allgemeines 6.6 Grundrechtsverletzungen werden wie alle anderen Rechtsverletzungen grundsätzlich in dem Rechtsmittelverfahren gerügt, das gegen die betreffende staatliche Maßnahme nach den allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen und Regelungen jeweils zulässig ist. So 1 Exemplarisch BVerfG v. 4.5.2015 – 1 BvR 2096/13, NJW 2015, 2173; v. 25.1.2014 – 1 BvR 1126/11, NJW 2014, 991; v. 7.6.2011 – 1 BvR 194/11, NVwZ-RR 2011, 625; v. 11.10.2010 – 2 BvR 1710/10, DStR 2010, 2296; v. 13.4.2010 – 1 BvR 3515/08, HFR 2010, 862; v. 22.9.2009 – 1 BvR 1305/09, DStR 2009, 2146. In allen zitierten Entscheidungen hat das BVerfG eine finanzgerichtliche Entscheidung mit Rücksicht auf einen Verfassungsverstoß (mindestens teilweise) aufgehoben. 2 So wörtlich Mellinghoff, FR 2012, 989, der aufzeigt, dass von den 179 Senatsentscheidungen der Jahre 2005 bis 2010 insgesamt 16,2 % einen steuerlichen Hintergrund hatten. 3 Beschluss des Plenums des BVerfG v. 24.11.2015 (BGBl. I 2016, S. 118) i. d. F. des Beschlusses des Plenums v. 22.11.2016 (BGBl. I 2016, S. 2929).

482

Hendricks

B. Verfassungsbeschwerde

Rz. 6.10 Kap. 6

können im finanzgerichtlichen Verfahren Grundrechtsverstöße der Finanzverwaltung im Rahmen einer Klage gegen die entsprechende Maßnahme, meist ein Steuerbescheid, gerügt werden. Kommt das angerufene Gericht zu der Überzeugung, dass ein Verfassungsverstoß vorliegt, muss es vorrangig prüfen, ob der Verfassungsverstoß durch eine andere, verfassungskonforme Auslegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften vermieden werden kann. Eine Norm ist nach der Rechtsprechung des BVerfG nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit dem Grundgesetz vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese Deutung geboten.1 Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Normgebers in Widerspruch träte.2 Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen.3 Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss demnach nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Normgebers wahren. Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden.4

6.7

Erst wenn der Verfassungsverstoß nach Maßgabe dieser Grundsätze nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung der maßgebenden Vorschriften vermieden werden kann, darf und muss das erkennende Gericht zu der Überzeugung von deren Verfassungswidrigkeit gelangen. Es darf die Verfassungswidrigkeit eines nachkonstitutionellen Gesetzes5 jedoch nicht selbst aussprechen. Das Verfahren ist vielmehr auszusetzen und die Frage der Verfassungsmäßigkeit der maßgebenden Vorschriften gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorzulegen (vgl. Rz. 6.54 ff.).

6.8

Der Steuerpflichtige kann sich unter bestimmten Voraussetzungen auch selbst mit der Verfassungsbeschwerde an das BVerfG wenden, wenn er meint, durch die öffentliche Gewalt, d. h. eine Entscheidung der Finanzverwaltung, des Finanzgerichts oder des BFH, in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 101 GG (gesetzlicher Richter) oder Art. 103 GG (rechtliches Gehör) geregelten Rechte verletzt zu sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG).

6.9

Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf. Außerordentliche Rechtsbehelfe hemmen den Eintritt der Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung grundsätzlich nicht, durchbrechen die Rechtskraft aber bei Erfolg. Außerdem sind sie durch einen

6.10

1 Vgl. BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BVerfGE 119, 247 (274). 2 Vgl. BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64 (94) jeweils m. w. N. 3 Vgl. BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (183). 4 Vgl. BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64 (94); v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BVerfGE 119, 247 (274) m. w. N. 5 Das sind Gesetze, die nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet worden sind oder die zwar vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet worden sind, die der Gesetzgeber aber nachfolgend in seinen Willen aufgenommen hat, vgl. BVerfG v. 18.12.2012 – 1 BvL 8/11, 1 BvL 22/11, BVerfGE 132, 372, (390) m. w. N.; v. 24.2.1953 – 1 BvL 21/51, BVerfGE 2, 124 (128 ff.).

Hendricks

483

Kap. 6 Rz. 6.11

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

eingeschränkten Prüfungsumfang gekennzeichnet. Das gilt auch für die Individualverfassungsbeschwerde. Sie ist ausschließlich zur Rüge der Verletzung der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten grundgesetzlichen Rechte, insbesondere also der Grundrechte, zulässig. Das BVerfG kann nur bei einer Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aufgrund einer Verfassungsbeschwerde eingreifen.1 Damit wird zugleich deutlich, dass die Verfassungsbeschwerde keine Superrevision ist. Das BVerfG prüft nicht, ob die Anwendung des einfachen Rechts auf der Grundlage desselben überzeugt, sondern nur, ob die angegriffene Maßnahme bzw. Entscheidung mit den verfassungsrechtlich garantierten Rechten im Einklang steht.

II. Zulässigkeitsvoraussetzungen 1. Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht

6.11 Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. §§ 90 ff. BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG gegen jeden Akt öffentlicher Gewalt zulässig. Gerügt werden muss allerdings die Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten wie Art. 20 Abs. 4, 33, 101, 103 und 104 GG. Eine Verfassungsbeschwerde, mit der ein Verstoß gegen Völkerrecht, Landesverfassungsrecht2 oder gegen einfaches Gesetzesrecht gerügt wird, ist deshalb unzulässig. Dies gilt auch für einen gerügten Verstoß gegen Europäisches Recht.

6.12 Öffentliche Gewalt in diesem Sinne ist die hoheitliche Eingriffstätigkeit durch Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltung.3 Akte öffentlicher Gewalt sind deshalb auch Urteile (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde) und Rechtsnormen (sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde). 2. Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis

6.13 Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG kann die Verfassungsbeschwerde von Jedermann erhoben werden. „Jedermann“ meint dabei den Personenkreis, der Träger eines der in den Vorschriften genannten Rechte sein kann.4 Die Beschwerdefähigkeit ist hiernach davon abhängig, in welchem Umfang das materielle Verfassungsrecht dem Einzelnen Rechte zuweist.5 Eingeschränkt beschwerdefähig sind insoweit allenfalls juristische Personen und in Bezug auf die sog. Deutschenrechte auch Ausländer. Im Steuerrecht sind beide Personengruppen im Ergebnis unproblematisch beschwerdefähig.

6.14 Inländische juristische Personen6 können sich gem. Art. 19 Abs. 3 GG auf alle Grundrechte berufen, die ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind. Das ist der Fall, wenn eine Rechtsbeziehung in Streit steht, die juristischen Personen in gleicher Weise zugänglich ist wie natürlichen Personen.7 Bei allen im Steuerrecht wichtigen materiellen Grundrechten, Art. 3 1 2 3 4 5 6

BVerfG v. 7.12.1976 – 1 BvR 460/72, BVerfGE 43, 130 (135). Insoweit bestehen ggf. Rechtsschutzmöglichkeiten nach Landesrecht. Maunz in Maunz/Dürig, Art. 93 GG Rz. 69. Lechner/Zuck, § 90 BVerfGG Rz. 32. Vgl. Ruppert/Schorkopf in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 18. Vgl. im Einzelnen Ruppert/Schorkopf in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 28 ff.; Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind nur im Ausnahmefall beschwerdefähig, Rz. 48 ff. 7 BVerfG v. 6.3.1968 – 1 BvR 975/58, BVerfGE 23, 153 (163 m. w. N.); Ruppert/Schorkopf in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 34, 38 zu Art. 3 Abs. 1 GG.

484

Hendricks

B. Verfassungsbeschwerde

Rz. 6.17 Kap. 6

Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 GG, trifft dies im Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis zu.1 Da auch die Verfassungsbeschwerde dem Individualrechtsschutz dient, ist beschwerdebefugt nur, wer geltend macht, durch die gerügte Maßnahme selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen zu sein.2 Diese Voraussetzungen gelten nicht nur für Rechtssatzverfassungsbeschwerden, sondern auch für Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Urteile.3 Selbstbetroffenheit ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Beschwerdeführer Adressat der Regelung ist. Gegenwärtig ist die Betroffenheit, wenn die angegriffene Vorschrift (bzw. der angegriffene Hoheitsakt) aktuell auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers einwirkt. Unmittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn die Rechtsstellung des Beschwerdeführers ohne die Notwendigkeit eines weiteren Vollzugsakts verändert wird.4 Bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen bedürfen diese Voraussetzungen jedoch meist keiner näheren Prüfung.5 Denn die Anwendung eines abstrakten Rechtssatzes auf einen konkreten Sachverhalt führt in aller Regel zu einem aktuellen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen.6 Deutlich wird aber insbesondere aus der erforderlichen unmittelbaren Betroffenheit, dass Rechtssatzverfassungsbeschwerden im Steuerrecht praktisch keine Rolle spielen. Steuergesetze bedürfen zur Einwirkung auf die Rechtsstellung des Einzelnen grundsätzlich eines Vollzugsakts der Finanzverwaltung, meist durch einen Steuerbescheid.

6.15

Ein Beschwerdeführer macht eine Grundrechtsverletzung nur dann in zulässiger Weise geltend, wenn er substantiiert darlegt, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert; die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ist deutlich zu machen.7 Für die Frage, wann die Möglichkeit einer Rechtsverletzung besteht, gilt im Ergebnis das Gleiche wie für die verwaltungsgerichtliche Klagebefugnis.8 Danach ist die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung anzunehmen, wenn die Verletzung nicht nach jeder Betrachtungsweise offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen ist.9

6.16

3. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität Gem. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann eine Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung eines zulässigen Rechtswegs erhoben werden. Das bedeutet: Der Steuerpflichtige kann sich

1 Zu Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 14 GG: BVerfG v. 6.3.1968 – 1 BvR 975/58, BVerfGE 23, 153 (163 m. w. N.); zu Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfG v. 29.11.1967 – 1 BvR 175/66, BVerfGE 22, 380 (381 f.). Für das körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerliche Steuerschuldverhältnis ergibt sich die gleichartige Betroffenheit von natürlichen und juristischen Personen sogar ausdrücklich aus dem Gesetz, §§ 1, 8 Abs. 1 KStG 2002 i. V. m. §§ 4 ff. EStG sowie § 2 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, Abs. 3 GewStG. 2 BVerfG v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, 30 (48). 3 BVerfG v. 12.2.1986 – 1 BvR 1578/82, BVerfGE 72, 1 (5). 4 Zum Ganzen BVerfG v. 11.9.2007 – 1 BvR 2270/05 etc., BVerfGE 119, 181 (212). 5 BVerfG v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, 30 (48). 6 BVerfG v. 12.2.1986 – 1 BvR 1578/82, BVerfGE 72, 1 (5). 7 BVerfG v. 7.10.2003 – 1 BvR 1712/01, BVerfGE 108, 370 (386 f. m. w. N.); v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2159/92, BVerfGE 89, 155 (171 m. w. N.); vgl. auch Ruppert/Schorkopf in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 122 sowie Magen in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf. § 92 BVerfGG Rz. 14 f., 46. 8 Vgl. BVerfG v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, 30 (51). 9 Vgl. BVerfG v. 10.6.2009 – 1 BvR 198/08, NVwZ 2009, 1426 (1428).

Hendricks

485

6.17

Kap. 6 Rz. 6.18

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

mit der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung der Finanzverwaltung nicht unmittelbar an das BVerfG wenden.

6.18 Unter den Begriff „Rechtsweg“ fällt jede gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts mit Ausnahme der Einlegung der Landesverfassungsbeschwerde und der Individualrechtsbeschwerde zum EGMR.1 Erschöpft ist der Rechtsweg solange nicht, als die Möglichkeit besteht, im Verfahren vor den Gerichten des zuständigen Gerichtszweiges die Beseitigung des Hoheitsakts zu erreichen, dessen Grundrechtswidrigkeit geltend gemacht wird.2

6.19 Im finanzgerichtlichen Verfahren zählen zum Rechtsweg das Einspruchsverfahren (sofern keine Sprungklage erhoben wird), die Klage vor dem Finanzgericht, ggf. die Revision bzw. die Nichtzulassungsbeschwerde,3 Erinnerung, Beschwerde oder ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis.4 Auch die Anhörungsrüge (§ 133a FGO) in Bezug auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs fällt hierunter.5

6.20 Problematisch im Zusammenhang mit der Rechtswegerschöpfung sind vor allem Fälle der Zurückverweisung durch den BFH an die Finanzgerichte. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist der Rechtsweg grundsätzlich nicht erschöpft, wenn das Revisionsgericht die Sache an die Vorinstanz zurückverweist.6 Das gilt auch dann, wenn das Revisionsgericht abschließend und mit Bindungswirkung für das weitere Verfahren über die verfassungsrechtliche Rechtslage entscheidet.7 Eine Ausnahme kommt allerdings in Betracht, wenn der Betroffene im weiteren fachgerichtlichen Verfahren mit seinem Begehren keinen Erfolg mehr haben kann.8 Dabei ist jedoch unklar, wann eine solche Ausnahme im Einzelnen anzunehmen ist. Es empfiehlt sich daher, um eine Verfristung der Verfassungsbeschwerde durch ein Abwarten der Entscheidung im zweiten Rechtszug zu vermeiden (sog. „Neunzigzwei-Dreiundneunzigeins-Falle“)9, aus Vorsichtsgründen zumindest dann eine Verfassungsbeschwerde bereits nach der Revisionsentscheidung zu erwägen, wenn die theoretische Möglichkeit eines vollumfänglichen Erfolges im zweiten Rechtszug nicht ausgeschlossen werden kann (z.B. im Falle einer noch erforderlichen Bewertung, die zwar theoretisch aber nicht praktisch auf null Euro absinken kann). Ggf. kann die vorsorgliche Verfassungsbeschwerde mit der Anregung eingelegt werden, sie nicht in das Verfahrensregister, sondern in das allgemeine Register ein-

1 Vgl. BVerfG v. 4.5.2011 – 1 BvR 1502/08, NVwZ 2011, 991 (992); v. 20.6.1984 – 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (170). 2 BVerfG v. 23.10.1958 – 1 BvR 458/58, BVerfGE 8, 222 (225 f.). 3 BVerfG v. 26.4.2004 – 1 BvR 138/04, NJW 2004, 3029 (3030) für den Zivilprozess. 4 BVerfG v. 2.12.1987 – 1 BvR 1291/85, BVerfGE 77, 275 (275 ff.). 5 BVerfG v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057/11, BVerfGE 134, 106 (106 ff.); v. 25.4.2005 – 1 BvR 644/05, NJW 2005, 3059; Klein/Sennekamp, NJW 2007, 945 (950). 6 BVerfG v. 16.11.2009 – 1 BvR 2545/09, juris; v. 14.9.2009 – 1 BvR 1993/09, NZS 2010, 322; v. 13.10.1958 – 1 BvR 458/58, BVerfGE 8, 222 (225). 7 BVerfG v. 14.9.2009 – 1 BvR 1993/09, NZS 2010, 322; v. 8.3.1988 – 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58 (68); v. 13.10.1958 – 1 BvR 458/58, BVerfGE 8, 222 (225). 8 BVerfG v. 16.11.2009 – 1 BvR 2545/09; v. 14.9.2009 – 1 BvR 1993/09, NZS 2010, 322; v. 8.3.1988 – 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58 (68); Henke in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 170. 9 Henke in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 201.

486

Hendricks

B. Verfassungsbeschwerde

Rz. 6.24 Kap. 6

zutragen. Die Zulässigkeit der Beschwerde kann dann ggf. durch nachträgliche Rechtswegerschöpfung begründet werden.1 Schwierig kann auch die Frage sein, ob möglicherweise unzulässige oder in der Sache sinnund aussichtslose Rechtsbehelfe in der Weise „offensichtlich“ aussichtslos sind, dass ihre Einlegung auch nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr zumutbar ist und dementsprechend zur Rechtswegerschöpfung nicht erforderlich ist.2 Auch in diesen Fällen droht die sog. „Neunzigzwei-Dreiundneunzigeins-Falle“3: Wird der Rechtsbehelf nicht eingelegt, ist der Rechtsweg möglicherweise nicht erschöpft; wird er eingelegt, obwohl er „offensichtlich“ aussichtslos ist und wird deshalb die Verfassungsbeschwerde nicht erhoben, ist diese verfristet.

6.21

Das BVerfG hat aus § 90 Abs. 2 BVerfGG über die Rechtswegerschöpfung hinaus einen weitergehenden allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entwickelt.4 Der Grundsatz der Subsidiarität kann in eine formelle und in eine materielle Subsidiarität unterteilt werden.

6.22

Eine Verfassungsbeschwerde ist aufgrund formeller Subsidiarität nicht zulässig, wenn neben dem erschöpften Rechtsweg ein weiterer Weg zur Verfügung steht, auf dem die Beseitigung der Grundrechtsverletzung ohne Anrufung des BVerfG erreicht werden kann.5 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG muss ein Beschwerdeführer deshalb über die Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus sonstige ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine anderweitige Möglichkeit besteht, die Verfassungswidrigkeit des beschwerenden Akts der öffentlichen Gewalt geltend zu machen. Es genügt, wenn dessen Beseitigung aus anderen Gründen erreicht werden kann. Beruht ein Eingriffsakt auf einer grundrechtsverletzenden Regelung, die Ausnahmen vorsieht, muss der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde versuchen, die Beseitigung des Eingriffsakts unter Berufung auf die Ausnahmeregelung zu erwirken, wenn dies nicht offensichtlich aussichtslos ist.6

6.23

Im Steuerrecht ist deshalb unter dem Gesichtspunkt der formellen Subsidiarität unter anderem zu erwägen, ob vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde ein Billigkeitsverfahren durchzuführen ist. Insbesondere wenn die Fachgerichte eine Klägerin bzw. Beschwerdeführerin auf den Erlassweg verweisen, kann dies der Fall sein.7 Denn bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von generalisierenden und typisierenden Normen des Steuerrechts kommt der Möglichkeit des Steuererlasses zur Milderung unbilliger Härten, die in Einzelfällen oder Einzelfallgruppen aufgrund der Typisierung entstehen, praktische Bedeutung zu.8 An dieser Stelle ist sorgsam zu prüfen, ob die behauptete Grundrechtsverletzung auf einem besonderen Einzelfall beruht, in dem der Gesetzgeber – hätte er ihn geregelt – im Sinne einer Billigkeitsmaß-

6.24

1 Vgl. BVerfG v. 15.4.1980 – 2 BvR 842/77, BVerfGE 54, 53 (66); v. 21.1.1953 – 1 BvR 520/52, BVerfGE 2, 105 (109); Henke in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 185; Lechner/Zuck, § 90 BVerfGG Rz. 156. 2 Vgl. dazu Henke in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 200 ff. 3 Henke in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 201. 4 Henke in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 133 ff. 5 BVerfG v. 8.3.1988 – 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58 (68 m. w. N.); vgl. zum Begriff der formellen Subsidiarität BVerfG v. 30.5.2007 – 1 BvR 390/04, NJW 2007, 3268 (3270). 6 BVerfG v. 11.3.2013 – 1 BvR 614/09, juris; v. 8.3.1988 – 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58 (68 f.). 7 Vgl. BVerfG v. 24.2.1989 – 1 BvR 519/87, HFR 1990, 42 (42). 8 Vgl. BVerfG v. 28.2.2017 – 1 BvR 1103/15, HFR 2017, 544 (545); v. 5.4.1978 – 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102 (114); BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498 jeweils m. w. N.

Hendricks

487

Kap. 6 Rz. 6.25

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

nahme entschieden hätte, oder ob der Gesetzgeber die als Grundrechtsverletzung gerügte Härte bewusst in Kauf genommen hat.1 Ist letzteres der Fall, ist ein Billigkeitsverfahren offensichtlich aussichtslos und nicht erforderlich. Ggf. ist daher – möglichst parallel zum Rechtsweg im Festsetzungsverfahren – der Rechtsweg auch im Billigkeitsverfahren zu beschreiten.

6.25 Aufgrund der formellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde kann das BVerfG regelmäßig auch dann (noch) nicht angerufen werden, wenn der Rechtsweg lediglich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erschöpft ist. In diesen Fällen ist zusätzlich die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache geboten, wenn dort nach der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen. Dies ist in der Regel anzunehmen, wenn mit der Verfassungsbeschwerde Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen.2 Etwas anderes gilt dementsprechend nur, wenn die Verfassungsbeschwerde auf eilrechtsspezifische Besonderheiten gestützt wird, die nicht Gegenstand des Hauptsacheverfahrens sein können.

6.26 Nach dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität muss ein potentieller Beschwerdeführer alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen.3 Dazu können Rechtsausführungen vor den Fachgerichten gehören, sofern das Prozessrecht, wie beispielsweise bei der Einlegung einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung eines Rechtsmittels, rechtliche Darlegungen verlangt.4 In Bezug auf die Grundrechte ist es jedoch grundsätzlich Aufgabe der rechtsprechenden Organe, die durch Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind, das Klagebegehren auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, wenn der konkrete Rechtsstreit dazu Anlass gibt.5

6.27 Der Grundsatz der Subsidiarität fordert deshalb im Prinzip nicht, dass bereits das fachgerichtliche Verfahren als „Verfassungsprozess“ geführt wird, also von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Erwägungen und Bedenken geltend gemacht werden.6 Abweichend von diesem Grundsatz ist das BVerfG indes – vor allem im Steuerrecht – deutlich strenger bei Begehren, die nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen in das fachgerichtliche Verfahren eingeführt werden. Insbesondere geht es um Fälle, in denen der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abhängt oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist.7 Hier sind, um dem Grundsatz der Subsidiarität zu genügen, die Fachgerichte in geeigneter Weise mit der verfassungsrechtlichen Frage zu befassen. Der Subsidiaritätsgrundsatz soll insoweit vor allem sichern, dass dem BVerfG durch eine umfas1 Vgl. BVerfG v. 28.2.2017 – 1 BvR 1103/15, HFR 2017, 544 (545). 2 BVerfG v. 9.10.2001 – 1 BvR 622/01, BVerfGE 104, 65 (70 f.) m. w. N. 3 Vgl. BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, BVerfGE 125, 104 (120); v. 9.11.2004 – 1 BvR 684/98, BVerfGE 112, 50 (60), jeweils m. w. N. zur st. Rspr. des BVerfG; vgl. zum Begriff der materiellen Subsidiarität BVerfG v. 15.8.2014 – 2 BvR 969/14, NJW 2014, 3085. 4 BVerfG v. 28.4.2011 – 1 BvR 3007/07, NJW 2011, 2276; v. 9.11.2004 – 1 BvR 684/98, BVerfGE 112, 50 (60). 5 BVerfG v. 9.11.2004 – 1 BvR 684/98, BVerfGE 112, 50 (61); vgl. auch v. 13.1.1987 – 2 BvR 209/84, BVerfGE 74, 102 (114). 6 Vgl. BVerfG v. 26.2.2016 – 1 BvR 2836/14, HFR 2016, 1186; v. 9.11.2004 – 1 BvR 684/98, BVerfGE 112, 50 (60 f.). 7 BVerfG v. 26.2.2016 – 1 BvR 2836/14, HFR 2016, 1186; vgl. auch v. 9.11.2004 – 1 BvR 684/98, BVerfGE 112, 50 (62).

488

Hendricks

B. Verfassungsbeschwerde

Rz. 6.32 Kap. 6

sende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein bereits gerichtlich geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm dazu auch die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden. Dem potentiellen Beschwerdeführer obliegt daher bereits im fachgerichtlichen Verfahren, seine Angriffe gegen den beanstandeten Hoheitsakt so deutlich vorzutragen, dass ihre Prüfung in diesem Verfahren gewährleistet ist, unabhängig davon, ob dieses der Parteimaxime oder dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegt.1 Nach neuester Auffassung des BVerfG kann es dabei nicht nur erforderlich sein, während des gesamten Verfahrens beispielsweise die Gleichheitswidrigkeit einer Vorschrift zu rügen. Darüber hinaus soll es erforderlich sein, bereits die konkrete rechtliche Begründung der Gleichheitswidrigkeit, die der Verfassungsbeschwerde zugrunde gelegt wird, auch im fachgerichtlichen Verfahren vorzutragen.2 Dies ist insbesondere deshalb misslich, weil es weitgehend die Möglichkeit abschneidet, im Rahmen der Verfassungsbeschwerde auf die Argumentation der Fachgerichte mit einer neuen, angepassten Begründung zu reagieren. 4. Frist und Form Die Verfassungsbeschwerde ist gem. § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfG binnen eines Monats zu erheben und zu begründen.

6.28

Ist die Entscheidung von Amts wegen zuzustellen, beginnt die Frist nach § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG mit der Zustellung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung. Für finanzgerichtliche (Revisions-)Urteile ist die Amtszustellung nach §§ 121, 104 Abs. 1 Satz 2 FGO vorgeschrieben.3 Für die Fristberechnung gelten die §§ 187 ff. BGB, §§ 221 f. ZPO.4 Andere Formen des Fristbeginns (§ 93 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 BVerfGG) sind im Bereich des Steuerrechts praktisch bedeutungslos.

6.29

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach Maßgabe von § 92 Abs. 2 BVerfGG möglich.

6.30

Die Verfassungsbeschwerde ist innerhalb eines Monats nicht nur einzulegen, sondern auch schriftlich zu begründen (§§ 23 Abs. 1, 92 BVerfGG); auch alle erforderlichen Anlagen müssen innerhalb der Frist beim BVerfG eingehen.

6.31

Die Begründungsanforderungen an eine Verfassungsbeschwerde sind nicht zu unterschätzen. Schon das offizielle „Merkblatt über die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht“ weist auf die umfangreichen Darlegungspflichten sowie die erforderlichen Anlagen hin. Auch bezüglich der Begründung sind die Anforderungen in letztlich vermögensrechtlichen Streitigkeiten wie denjenigen aus dem Bereich des Steuerrechts besonders hoch.

6.32

1 BVerfG v. 26.2.2016 – 1 BvR 2836/14, HFR 2016, 1186; vgl. auch v. 30.11.1988 – 1 BvR 1301/84, BVerfGE 79, 174 (189 f.), wobei es dort allerdings um in tatsächlicher Hinsicht anderes Vorbringen ging: im fachgerichtlichen Verfahren gegen einen Bauleitplan wurde die Lärmbelästigung in den Vordergrund gestellt, im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine übermäßige Schadstoffbelastung; ebenso BVerfG v. 8.6.2011 – 1 BvR 759/08, 1 BvR 733/09, BVerfGK 18, 469 (474); dort hatte der Beschwerdeführer unzureichend zu einem von ihm begehrten alternativen pädagogischen Prüfungskonzept in einer Privatschule vorgetragen. 2 BVerfG v. 26.2.2016 – 1 BvR 2836/14, HFR 2016, 1186. 3 Vgl. auch Hammer in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 90 BVerfGG Rz. 26, 27. 4 BVerfG v. 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u. a., BVerfGE 102, 254 (295).

Hendricks

489

Kap. 6 Rz. 6.33

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

6.33 Das BVerfG soll durch die Begründung in die Lage versetzt werden, den angegriffenen Akt ohne eigene weitere Nachforschungen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen. Deshalb ist grundsätzlich nicht nur zum Sachverhalt und zur Begründetheit, sondern auch zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde sowie sicherheitshalber zu ihren Annahmevoraussetzungen jeweils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorzutragen.

6.34 Der Verfassungsbeschwerde sollten alle zum Verständnis des Verfahrensganges sowie des Rechtsschutzbegehrens erforderlichen Dokumente – insbesondere die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt – als Anlage beigefügt werden. Dabei genügt es nicht, in der Beschwerdeschrift insoweit lediglich auf die Anlagen zu verweisen. Die Beschwerdeschrift sollte eine aus sich heraus verständliche Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts aller beigefügten Anlagen enthalten. Dabei empfiehlt es sich, auf die Anlagen möglichst konkret, d. h. ggf. mit Zitierung der Seitenzahl einer umfangreicheren Anlage, Bezug zu nehmen.

6.35 Ein Beschwerdeführer muss insbesondere substantiiert vortragen, inwieweit das geltend gemachte Grundrecht durch die betreffende Entscheidung verletzt ist und die Entscheidung auf der Grundrechtsverletzung beruht. Dies setzt eine ausführliche rechtliche Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der angegriffenen Entscheidung sowie der einschlägigen Rechtsprechung sowohl der obersten Bundesgerichte wie auch insbesondere des BVerfG voraus.1

6.36 Die gesamte Begründung der Verfassungsbeschwerde muss innerhalb der Monatsfrist inklusive aller Anlagen beim BVerfG eingehen, andernfalls ist die Verfassungsbeschwerde nicht innerhalb der Frist begründet und damit unzulässig. In der Regel empfiehlt es sich wegen der bei Verfassungsbeschwerden aus dem Steuerrecht häufig umfangreichen Anlagen nicht, die Beschwerdeschrift per Telefax zu übermitteln. Post- bzw. Kurierlauf sind daher ggf. bei der Planung der Fristen einzubeziehen.

5. Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht

6.37 Im schriftlichen Verfahren besteht vor dem BVerfG kein Anwaltszwang; ein Beschwerdeführer kann insoweit selbst auftreten.2 Nur wenn eine mündliche Verhandlung stattfindet, muss sich der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung durch einen Rechtsanwalt oder einen Lehrer des Rechts an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BVerfGG). Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann jedoch bei Verfassungsbeschwerden vom Beschwerdeführer nicht verlangt werden und ist bezogen auf die Masse der Verfahren äußerst unüblich (vgl. § 94 Abs. 5 BVerfGG).

6.38 Lässt sich ein Beteiligter vertreten, ist dies grundsätzlich nur durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer der in § 22 Abs. 1 BVerfGG genannten Hochschulen möglich. Eine Vertretung durch Steuerberater ist vor dem BVerfG grundsätzlich nicht möglich.3 Die Vollmacht ist in der besonderen Form des § 22 Abs. 2 BVerfGG zu erteilen; sie muss sich ausdrücklich auf das konkrete Verfassungsbeschwerdeverfahren beziehen. Eine allgemei-

1 BVerfG v. 27.4.2000 – 2 BvR 75/94, NJW 2000, 3557. 2 Vgl. Speckmaier in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 22 BVerfGG Rz. 6. 3 BVerfG v. 12.12.2002 – 2 BvR 1632/02, juris; v. 23.1.1958 – 1 BvR 30/58, BVerfGE 7, 241 (242); s. auch Speckmaier in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 22 BVerfGG Rz. 28.

490

Hendricks

B. Verfassungsbeschwerde

Rz. 6.42 Kap. 6

ne Prozessvollmacht und selbst eine allgemein „wegen Verfassungsbeschwerde“ erteilte Vollmacht reichen dafür nicht aus.1

III. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1. Grundsatz der Annahmebedürftigkeit Die Verfassungsbeschwerde muss gem. § 93a Abs. 1 BVerfGG vom BVerfG zur Entscheidung angenommen werden. Dies geschieht allerdings in den wenigsten Fällen. Die Annahme eines großen Teils der Verfassungsbeschwerden wird durch die aus drei Richtern bestehenden Kammern durch einstimmigen Beschluss abgelehnt, der ohne mündliche Verhandlung ergeht, unanfechtbar ist und im Interesse der Funktionsfähigkeit des Gerichts2 keiner Begründung bedarf (§ 93d Abs. 1 BVerfGG).

6.39

Die Verfassungsbeschwerde ist anzunehmen,

6.40

– soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (§ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG), – wenn es zur Durchsetzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung einer Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entstehen würde (§ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG). Eine grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG ist gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist.3 Über die Beantwortung der Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. Anhaltspunkt für eine grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne kann sein, dass die Frage in der Fachliteratur kontrovers diskutiert oder in der Rechtsprechung der Fachgerichte unterschiedlich beantwortet wird. An ihrer Klärung muss zudem ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse bestehen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn sie für eine nicht unerhebliche Anzahl von Streitigkeiten bedeutsam ist oder ein Problem von einigem Gewicht betrifft, das in künftigen Fällen erneut Bedeutung erlangen kann.4

6.41

Zur Durchsetzung subjektiver Verfassungsrechte ist die Annahme einer Verfassungsbeschwerde im Sinne des § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG angezeigt, wenn die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existenzieller Weise betrifft.

6.42

1 Speckmaier in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 22 BVerfGG Rz. 36. 2 Entscheidungen, die nicht begründet werden, werden beim BVerfG grundsätzlich genauso sorgfältig und auch schriftlich vorbereitet, wie solche Entscheidungen, die begründet werden. Der Grund für den Verzicht auf die Mitteilung und Veröffentlichung einer Begründung liegt darin, dass Fälle ohne grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu einem die Übersichtlichkeit beeinträchtigenden zusätzlichen Ausufern der zitierfähigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung beitragen sollen. 3 BVerfG v. 8.2.1994 – 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22 (24 f.). 4 Zum Ganzen BVerfG v. 8.2.1994 – 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22 (24 f.); außerdem v. 4.9.2008 – 2 BvR 1739/06, 2 BvR 1811/06, BVerfGK 14, 202.

Hendricks

491

Kap. 6 Rz. 6.43

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

6.43 Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung beispielsweise, wenn sie auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet, wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt. Eine besonders gewichtige Grundrechtsverletzung in diesem Sinne wird im Steuerrecht eher die Ausnahme sein.1

6.44 Mehr Erfolg verspricht im Steuerrecht die Berufung auf eine existenzielle Betroffenheit. Eine existenzielle Betroffenheit des Beschwerdeführers kann sich vor allem aus dem Gegenstand der angegriffenen Entscheidung oder der aus ihr folgenden Belastung ergeben.2 In vermögensrechtlichen Streitigkeiten, deren Verfahrensgegenstand die Zahlung oder Nichtzahlung einer Geldsumme ist, kommt es dabei regelmäßig auf die Bedeutung des streitigen Geldbetrags für den Beschwerdeführer unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls an.3 2. Prozedere bei Annahme zur Entscheidung

6.45 Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und zur Entscheidung angenommen, so entscheidet über ihre Begründetheit grundsätzlich der Senat in seiner Besetzung mit acht Richtern.

6.46 Ausnahmsweise ist die Kammer berechtigt, nicht nur über die Annahme der Verfassungsbeschwerde, sondern auch über deren Begründetheit zu entscheiden. Sie kann in den Fällen des § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG (vgl. Rz. 6.39 ff.) der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das BVerfG bereits entschieden ist und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ist jedoch gem. § 93c Abs. 1 Satz 3 BVerfGG stets dem Senat vorbehalten.

6.47 Bei der im Bereich des Steuerrechts typischen mittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde sieht § 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG als Rechtsfolge einer festgestellten Verletzung des Grundgesetzes für den Regelfall die Nichtigkeitserklärung vor. Das BVerfG kann aber auch die Verfassungswidrigkeit oder - gleichbedeutend - die Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellen (vgl. §§ 13 Nr. 8a, 31 Abs. 2 Satz 2, 79 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG). Eine bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist insbesondere geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Dies ist vor allem bei einer Verletzung des Gleichheitssatzes der Fall. Da Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht das praktisch wichtigste materielle Grundrecht ist, ist die Unvereinbarkeitserklärung im Steuerrecht der Regelfall des Tenors einer erfolgreichen, mittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde.4

6.48 Wird eine Norm für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, ist der Gesetzgeber im Prinzip verpflichtet, rückwirkend eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen. Im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit darf die Norm zudem von Gerichten und Verwaltungsbehörden regelmäßig nicht mehr angewendet werden.5 Allerdings bleiben bestandskräftige 1 Vgl. BVerfG v. 8.2.1994 – 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22 (25). 2 Vgl. BVerfG v. 8.2.1994 – 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22 (25 f.). 3 Vgl. BVerfG v. 18.3.2008 – 1 BvR 125/06, BVerfGK 13, 409; v. 11.7.1999 – 2 BvR 1313/93, HFR 1999, 839 zur Gewährung eines Freibetrags von höchstens 1200 DM bei Einkünften aus selbständiger Arbeit; BVerfG v. 8.2.1994 – 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22 (27). Vgl. auch Schenk in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 93a BVerfGG Rz. 39 f. 4 Vgl. z. B. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BStBl. II 2003, 534. 5 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BStBl. II 2003, 534.

492

Hendricks

B. Verfassungsbeschwerde

Rz. 6.53 Kap. 6

Steuerbescheide, die auf einer nichtigen oder mit der Verfassung für unvereinbar erklärten Vorschrift beruhen, in ihrem Bestand gem. § 95 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG i. V. m. § 79 Abs. 2 BVerfGG unberührt, soweit sie nicht aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 3 AO aufzuheben oder zu ändern sind. Sie dürfen allerdings grundsätzlich nicht mehr vollstreckt werden (§ 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). Nicht selten verbindet das BVerfG die Unvereinbarkeitserklärung einer Norm mit einer Weitergeltungsanordnung und gibt dem Gesetzgeber gleichzeitig eine Frist für den Erlass einer Neuregelung.1 Diese Praxis ist indes nicht unbedenklich. Denn sie entbindet den Gesetzgeber gegebenenfalls zu Lasten der Steuerpflichtigen von den fiskalischen Folgen seiner grundrechtswidrigen Gesetzesausgestaltung.2

6.49

Wird einer auf die Verfassungswidrigkeit einer Norm gestützten Verfassungsbeschwerde gegen finanzgerichtliche Entscheidungen – Urteil des Finanzgerichts und Urteil bzw. Beschluss des BFH über eine Revision bzw. Nichtzulassungsbeschwerde – durch das BVerfG stattgegeben, so trifft das BVerfG danach folgende Entscheidungen: Die Nichtigkeit bzw. Unvereinbarkeit der betreffenden Norm mit dem Grundgesetz wird festgestellt. Außerdem wird festgestellt, dass das Urteil des Finanzgerichts und die Entscheidung des BFH den Beschwerdeführer in bestimmten Grundrechten verletzen. Darüber hinaus wird die Entscheidung des BFH aufgehoben und die Sache an den BFH zurückverwiesen (vgl. Muster M 22, Rz. 11.22).

6.50

Wird mit einer Verfassungsbeschwerde gegen finanzgerichtliche Entscheidungen lediglich geltend gemacht, dass die konkrete Auslegung einer Norm verfassungswidrig und daher eine andere, verfassungskonforme Auslegung geboten sei, entfällt die Nichtigkeits- bzw. Unvereinbarkeitserklärung. Ist ausschließlich eine verfassungskonforme Auslegung möglich, wird mit der Zurückverweisung auch diese eine Auslegung verbindlich.

6.51

3. Verfahrensdauer und Erfolgsquoten Die Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens hängt sehr von den Umständen des Einzelfalles ab. Auf Basis der Statistiken für die Jahre 2008 bis 2016 wurde über ca. 64% der Verfassungsbeschwerden innerhalb eines Jahres entschieden. Knapp 87% der Verfassungsbeschwerdeverfahren waren innerhalb von zwei Jahren nach Erhebung abgeschlossen.3 Nur im Ausnahmefall muss mit einer Verfahrensdauer von über 24 Monaten gerechnet werden. Eine lange Verfahrensdauer kann sich insbesondere ergeben, wenn das Verfassungsgericht erwägt, eine zentrale Steuernorm mit großer Breitenwirkung als verfassungswidrig zu qualifizieren.4 Bevor dies geschieht, holt das Gericht die Stellungnahme verschiedener staatlicher Stellen (z. B. des Bundesfinanzministeriums) ein.

6.52

Statistisch gesehen sind die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gering. So waren nach den jüngsten Geschäftsberichten des BVerfG in den letzten Jahren im Schnitt etwa nur

6.53

1 Vgl. nur BVerfG v. 17.12.2015 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136. 2 Zu Recht kritisch Seer in Tipke/Kruse, VerfRS Rz. 62 sowie grundlegend Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, Berlin 2000, S. 75 ff. mit ausführlicher Rechtsprechungsanalyse. 3 Vgl. die Statistiken unter www.bundesverfassungsgericht.de. 4 Exemplarisch BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61 zur rückwirkenden Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze des § 17 EStG von 25 % auf 10 %. Die Verfahrensdauer dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens betrug über fünf Jahre.

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493

Kap. 6 Rz. 6.54

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

zwischen 1,46 % bis 2,78 % aller Beschwerden von Erfolg gekrönt.1 Bemerkenswert ist die hohe Zahl von Beschwerden, die das Gericht bereits nicht zur Entscheidung annimmt. Der Grund dürfte unter anderem darin liegen, dass das BVerfG sehr hohe Anforderungen an die Darlegung des Verfassungsverstoßes entwickelt hat. Die professionelle Begründung einer Verfassungsbeschwerde setzt vor diesem Hintergrund eine gewisse Spezialisierung und vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit der umfangreichen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu der geltend gemachten Bestimmung der Verfassung voraus. Die Erfolgsaussichten können überhaupt nur dann als relevant bezeichnet werden, wenn sich die Begründung der Beschwerde gewissenhaft an den vom Gericht entwickelten Darlegungsanforderungen orientiert.

C. Konkrete Normenkontrolle I. Verfahren 6.54 Ist das Finanzgericht oder der BFH von der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Norm überzeugt, auf deren Gültigkeit es für die Entscheidung ankommt, so ist das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Zur Wahrung der Rechtseinheit sowie der Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers ist es den Gerichten verwehrt, ein nachkonstitutionelles Gesetz selbst als verfassungswidrig zu verwerfen.2

6.55 Die Vorlage an das BVerfG setzt keinen Antrag der Beteiligten voraus (§ 80 Abs. 3 BVerfGG). Allerdings sollte ein sich durch eine gesetzliche Vorschrift in seinen Grundrechten verletzt fühlender Steuerpflichtiger oder dessen Berater die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG anregen und versuchen, das Gericht von der Verfassungswidrigkeit der Norm zu überzeugen, um eine Vorlage des Finanzgerichts zu erreichen. Dies dient gleichzeitig der Vorbereitung der Verfassungsbeschwerde, für die er seine verfassungsrechtlichen Argumente frühzeitig einbringen muss, um deren Verwerfung als unzulässig zu vermeiden (vgl. Rz. 6.58).

6.56 Gem. § 81a BVerfGG wird die Zulässigkeit eines Vorlagebeschlusses durch die Kammer beim BVerfG vorgeprüft. Sie kann durch einstimmigen Beschluss die Unzulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG feststellen. Ansonsten und bei Vorlagen durch den BFH bleibt die Entscheidung gem. § 81a Satz 2 BVerfGG dem Senat vorbehalten.

6.57 Wesentliche Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Vorlage an das BVerfG ist deren Begründung (vgl. § 80 Abs. 2 BVerfGG). Das vorlegende Gericht muss gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG selbst darlegen, warum es die betreffende Norm für verfassungswidrig hält und weshalb davon der Ausgang des Rechtsstreits abhängt.

6.58 Deshalb ist eine Vorlage zur Normenkontrolle unzulässig, wenn der Vorlagebeschluss nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lässt, dass das vorlegende Gericht sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft

1 Zahlen für die Jahre von 2008 bis 2016 (veröffentlicht unter www.bundesverfassungsgericht.de). 2 Vgl. BVerfG v. 18.12.2012 – 1 BvL 8/11, 1 BvL 22/11, BVerfGE 132, 372 (372 ff.) m. w. N.; v. 24.2.1953 – 1 BvL 21/51, BVerfGE 2, 124 (128 ff.).

494

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C. Konkrete Normenkontrolle

Rz. 6.63 Kap. 6

hat.1 Besonders wichtig ist eine eingehende Auseinandersetzung mit der maßgeblichen Rechtsprechung des BVerfG.2 Der Vorlagebeschluss muss zudem aus sich heraus – ohne Beiziehung der Akten – verständlich sein;3 denn der Begründungszwang dient der Entlastung des BVerfG. Die Anforderungen des BVerfG an die Begründung von Vorlagebeschlüssen sind insgesamt sehr hoch. Wenn eine Vorlage angestrebt wird, ist es dringend zu empfehlen, dem Gericht durch sehr gründliche und gut strukturierte Schriftsätze die Arbeit nach Möglichkeit zu erleichtern. Das vorlegende Gericht ist nicht gehindert, eine mangels ausreichender Begründung als unzulässig verworfene Vorlage mit neuer Begründung zu wiederholen; es handelt sich um einen behebbaren Mangel.4 Den Vorlagebeschluss fasst das Gericht in derselben Besetzung und in demselben Verfahren, wie sie für die Entscheidung vorgeschrieben sind. Will das Finanzgericht eine Entscheidung des BVerfG einholen, so hat hierüber also der Senat in der Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern zu entscheiden. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter (§ 6 FGO) oder den Berichterstatter gem. § 79a Abs. 3, 4 FGO ist unzulässig.5 In dem Vorlagebeschluss ist gleichzeitig auszusprechen, dass das Ausgangsverfahren ausgesetzt wird (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG).

6.59

Das BVerfG gibt dem Bundestag, Bundesrat, der Bundesregierung sowie den Landesregierungen Gelegenheit zur Stellungnahme zum Vorlagebeschluss (§ 82 Abs. 1 i. V. m. § 77 BVerfGG). Es gibt auch den Beteiligten des Verfahrens vor dem Gericht, das den Antrag gestellt hat, Gelegenheit zur Äußerung; sie werden auch zur mündlichen Verhandlung geladen und können sich durch ihre Prozessbevollmächtigten äußern (§ 82 Abs. 3 BVerfGG).

6.60

II. Entscheidung Liegen die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung des BVerfG nicht vor, z. B. weil der Vorlagebeschluss nicht hinreichend begründet ist, so erklärt das BVerfG die Vorlage durch Beschluss für unzulässig. Über die Unzulässigkeit kann die Kammer durch einstimmigen Beschluss entscheiden (§ 81a Satz 1 BVerfGG). Die Entscheidung bleibt allerdings dem Senat vorbehalten, wenn der Antrag von einem Landesverfassungsgericht oder einem obersten Gerichtshof des Bundes gestellt wird (§ 81a Satz 2 BVerfGG).

6.61

Ist die Vorlage zulässig und gelangt das BVerfG zu einer Sachprüfung, so legt es die in Frage gestellte Vorschrift – anders als bei der Zulässigkeitsprüfung – ohne Bindung an die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts selbständig aus. Deshalb ist es durchaus möglich, dass das BVerfG bei der Zulässigkeitsprüfung die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts zugrunde legt, hiervon aber bei der Sachentscheidung abweicht und zu einem anderen Auslegungsergebnis kommt.6

6.62

Gelangt das BVerfG aufgrund des Vorlagebeschlusses zu dem Ergebnis, dass entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts die betreffende Norm mit dem Grundgesetz vereinbar

6.63

1 BVerfG v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557; v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 (355 f.). 2 BVerfG v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557; v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 (355 f.). 3 BVerfG v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557 m. w. N. 4 Ulsamer/Müller-Terpitz in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 81 BVerfGG Rz. 28. 5 BVerfG v. 5.8.1998 – 1 BvL 23/97, NJW 1999, 274. 6 Ulsamer/Müller-Terpitz in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 81 BVerfGG Rz. 11.

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495

Kap. 6 Rz. 6.64

Anrufung des Bundesverfassungsgerichts

ist, die Vorlage also unbegründet ist, wird die Vorlage nicht etwa verworfen oder als unbegründet abgewiesen (vgl. § 81 BVerfGG); das BVerfG spricht vielmehr ausdrücklich aus, dass die Norm mit dem Grundgesetz vereinbar ist.1

6.64 Hält das BVerfG hingegen die im Vorlagebeschluss genannte Vorschrift für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, so erklärt es die betreffende Vorschrift grundsätzlich für nichtig (§ 82 Abs. 1 i. V. m. § 78 BVerfGG). Diese vom Gesetz als Regel gedachte Entscheidung ist allerdings mittlerweile in der Entscheidungspraxis des BVerfG auch bei Vorlagen die Ausnahme. Gerade im Bereich des Steuerrechts ist das BVerfG weitgehend dazu übergegangen, eine Norm lediglich für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären und den Gesetzgeber unter Gewährung von Übergangsfristen zur verfassungskonformen Regelung zu verpflichten;2 insoweit gelten die Ausführungen zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde entsprechend (Rz. 6.47).

D. Einstweiliger Rechtsschutz 6.65 Auch das BVerfG hat die Möglichkeit, einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, um einen effektiven Verfassungsrechtsschutz zu gewährleisten. Gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das BVerfG in einem Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Diese Vorschrift gilt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG als allgemeine Verfahrensnorm für alle im BVerfGG vorgesehenen Verfahren.3

6.66 Das Verfahren der einstweiligen Anordnung kann allerdings immer nur ein Nebenverfahren in einem Verfassungsstreit sein, für den das BVerfG zuständig ist. Denn es ist seinem Rechtsschutzziel entsprechend auf die Sicherung und Umsetzbarkeit einer Entscheidung des BVerfG im Hauptsacheverfahren gerichtet.4 Nur auf ein solches Verfahren bezieht sich die Sicherungsfunktion des § 32 BVerfGG.5 Dementsprechend muss eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG im Hauptsacheverfahren noch zulässig erhoben werden können,6 wenn ein einzelner vor dem BVerfG einstweiligen Rechtsschutz erlangen will.

6.67 Grundsätzlich kann der Antragsteller im einstweiligen Anordnungsverfahren keine Entscheidung über die im Hauptsacheverfahren angegriffene Maßnahme erreichen. Denn auch hier gilt der allgemein im einstweiligen Rechtsschutz geltende Grundsatz, dass das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens nicht vorweggenommen werden darf.7

6.68 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nur dann begründet, wenn eine vorläufige Regelung zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 1 BVerfG v. 16.6.1959 – 2 BvL 10/59, BVerfGE 9, 334 (336); Ulsamer/Müller-Terpitz in Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 81 BVerfGG Rz. 20 m. w. N. 2 Zu Recht kritisch Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, Berlin 2000, S. 75 ff. mit ausführlicher Rechtsprechungsanalyse. 3 Vgl. Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 32 BVerfGG Rz. 14 m. w. N. 4 Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 32 BVerfGG Rz. 16. 5 Steinhauff, AO-StB 2013, 110; Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 32 BVerfGG Rz. 16. 6 Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 32 BVerfGG Rz. 18. 7 Vgl. Graßhof in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 32 BVerfGG Rz. 48, 49.

496

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D. Einstweiliger Rechtsschutz

Rz. 6.68 Kap. 6

BVerfGG). An die Erfüllung dieser Voraussetzungen stellt das BVerfG hohe Anforderungen, weil eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren meist weitreichende Folgen auslöst.1 Die Auferlegung von Geldleistungspflichten genügt dabei meist nicht. Entsprechend gering ist die Bedeutung des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem BVerfG für den Bereich des Steuerrechts. Soweit ersichtlich sind bislang praktisch alle im Bereich des Steuerrechts beantragten einstweiligen Anordnungen erfolglos geblieben.2

1 Vgl. BVerfG v. 7.10.1970 – 1 BvR 622/70, BVerfGE 29, 179. 2 Vgl. BVerfG v. 22.3.2005 – 1 BvQ 2/05, 1 BvR 2357/04, BVerfGE 112, 284 (284) zum automatisierten Abruf von Kontenstammdaten; v. 21.12.2004 – 2 BvR 2197/04, HFR 2005, 353 zur einstweiligen Aussetzung des Alterseinkünftegesetzes; v 5.2.2003 – 1 BvR 192/03, HFR 2003, 721 zur Verpflichtung zur Angabe der Steuernummer gem. § 14 UStG; v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (69 ff.) zur Abschaffung steuerlicher Begünstigungen bei Schiffbauverträgen; v. 3.7.1973 – 1 BvQ 2/73 bis 5/73, BVerfGE 35, 363 zur Einschränkung des Umsatzsteuerprivilegs für blinde Unternehmer; v. 7.10.1970 – 1 BvR 622/70, BVerfGE 29, 179 zum Konjunkturzuschlagsgesetz; v. 13.11.1957 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 7, 175 zum Beförderungssteuergesetz.

Hendricks

497

Kapitel 7 Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof A. Grundlagen I. Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.1

B. Das Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.20

I. Vorlageberechtigung und Vorlageverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.22

II. Verhältnis von Ausgangsverfahren und Vorlageverfahren . . . . . . . . . . . .

7.24

II. Besetzung des Europäischen Gerichtshofs 1. Spruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generalanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.10 7.13

III. Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . .

7.14

III. Rechtsschutzmöglichkeiten bei Nichtvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.27

IV. Verfahrenssprache. . . . . . . . . . . . . . .

7.16

IV. Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . .

7.32

Literatur: Carle, Der (Rechts-)Weg zum EuGH, AO-StB 2007, 243; Kokott/Henze, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von EuGH-Urteilen in Steuersachen, NJW 2006, 177; Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, Oxford 2014; Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, Baden Baden 2014; Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014; Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, Köln 2015; Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 3. Aufl. Wien 2015; Wägenbaur, Satzung und Verfahrensordnungen: EuGH/VerfO, 2. Aufl. 2017.

A. Grundlagen I. Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof (EuGH) – amtlich nur „Gerichtshof“ genannt – hat seinen Sitz in Luxemburg und ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union (EU). Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV sichert er „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Zusammen mit dem „Gericht“ der Europäischen Union bildet er die Judikative im Gerichtssystem der Europäischen Union.

7.1

Die Arbeit des EuGH ist in verschiedenen Rechtsgrundlagen normiert. Wesentliche Regelungen finden sich in Art. 19 EUV, den Art. 251 bis 281 AEUV sowie der Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union (Satzung-EuGH)1. Bei der Satzung-EuGH handelt es sich um ein Protokoll i. S. von Art. 51 AEUV, welches als Bestandteil des AEUV verabschiedet wurde und grundsätzlich dessen Rechtsqualität teilt.2 Darüber hinaus hat sich der Gerichtshof – gestützt auf Art. 253 Abs. 6 AEUV – mit Zustimmung des Rates eine Verfahrensordnung gegeben (VerfO-EuGH).3 Durch die Regelungen der VerfO-EuGH werden die einschlägigen

7.2

1 ABl. Nr. C 83 v. 30.3.2010, S. 210. 2 Zum genauen Inhalt der auf Art. 281 AEUV gestützten Satzung vgl. im Einzelnen Wägenbaur, S. 1 ff. (mit einer Kommentierung zu den einzelnen Satzungsbestimmungen). 3 Verfahrensordnung des Gerichtshofs v. 25.9.2012 (ABl. Nr. L 265 v. 29.9.2012, S. 1) mit späteren Änderungen. Eine aktuelle konsolidierte Fassung ist abrufbar unter https://curia.europa.eu/jcms/ upload/docs/application/pdf/2012-10/rp_de.pdf.

Hendricks

499

Kap. 7 Rz. 7.3

Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

Bestimmungen des EUV, des EAG-Vertrags1 und des AEUV sowie der Satzung umgesetzt und, soweit erforderlich, ergänzt (so Art. 2 VerfO-EuGH).2 Rechtsnormqualität auf der untersten Stufe der Normenhierarchie kommt schließlich den „Praktischen Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen vor dem Gerichtshof“ zu, die der Gerichtshof auf Basis der VerfOEuGH selbst erlässt.3 Die praktische Bedeutung dieser dritten Regelungsebene ist erheblich.4 Jeder Verfahrensbevollmächtigte sollte sich mit diesen Anweisungen auseinandersetzen, bevor er vor dem EuGH tätig wird.

7.3 Der Gerichtshof entscheidet in den Rechtssachen, mit denen er befasst wird. Seinen Auftrag, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern, nimmt er insbesondere im Rahmen der vier häufigsten Verfahrensarten wahr: 1. Vertragsverletzungsklagen (Art. 258 bis 260 AEUV, vgl. Rz. 7.4); 2. Nichtigkeitsklagen (Art. 263 und Art. 264 AEUV, vgl. Rz. 7.5); 3. Untätigkeitsklagen (Art. 265 AEUV, vgl. Rz. 7.6); 4. Vorabentscheidungsersuchen (Art. 267 AEUV, hierzu ausführlich Rz. 7.20 ff.).

7.4 Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens können die EU-Kommission (sog. Aufsichtsklage, Art. 258 AEUV) oder andere Mitgliedstaaten (sog. Staatenklage, Art. 259 AEUV) den EuGH anrufen und Verstöße eines Mitgliedstaates gegen Unionsrecht geltend machen. Auch im Bereich des Steuerrechts kommt Vertragsverletzungsverfahren immer wieder praktische Bedeutung zu. Im Rahmen derartiger Verfahren hat der EuGH bereits mehrfach Verstöße der Bundesrepublik Deutschland gegen europarechtliche Vorgaben explizit bejaht.5 Häufig zeitigt das Vertragsverletzungsverfahren bereits durch die bloße Verfahrenseinleitung Wirkung bei den Mitgliedstaaten; immer wieder ist zu beobachten, dass Mitgliedstaaten mit Rücksicht auf ein eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren gerügte nationale Bestimmungen durch gesetzgeberische Maßnahmen anpassen, um so einer Verurteilung durch den EuGH zu entgehen.6 Für eigene Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen kann einzelnen abgeschlossenen Vertragsverletzungsverfahren erhebliche praktische Bedeutung zukommen. Er kann derartige Verfahren jedoch weder selbst initiieren noch hat er Einfluss auf den Gang des Verfah1 Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft. Die Europäische Atomgemeinschaft („EURATOM“) ist eine neben der Europäischen Union fortgeführte eigenständige Internationale Organisation, die mit ihr jedoch sämtliche Organe teilt. Rechtsstreitigkeiten in diesem Bereich werden vom EuGH entschieden. 2 Zum genauen Inhalt der VerfO-EuGH vgl. im Einzelnen Wägenbaur, S. 123 ff. (mit einer Kommentierung zu den einzelnen Bestimmungen der Verfahrensordnung). 3 Praktischen Anweisungen für Klagen und Rechtsmittel v. 15.10.2004, ABl. Nr. L 31 v. 31.1.2014, S. 1. 4 Wägenbaur, Einf. VerfO-EuGH, Rz. 14 f. 5 Exemplarisch: EuGH v. 17.1.2008 – C-152/05, BStBl. II 2008, 326 (zur deutschen Eigenheimzulage); v. 10.9.2009 – C-269/07, FR 2009, 964 (zur Versagung der Altersvorsorgezulage in Fällen der beschränkten Steuerpflicht); v. 20.10.2011 – C-284/09, FR 2011, 1112 (zur unterschiedlichen Besteuerung von Dividenden an Gesellschaften mit Sitz im Inland und an Gesellschaften mit Sitz in einem anderem Mitgliedstaat oder in einem Staat des EWR); v. 4.9.2014 – C-211/13, DStR 2014, 1818 (zu höheren Freibeträgen nach ErbStG bei Inlandsansässigkeit); v. 16.4.2015 – C-591/13, DStR 2015, 870 (zur ausschließlichen Anwendung von § 6b EStG auf inländische Betriebsstätten). 6 I. d. S. Oellerich in Schaumburg/Englisch, Rz. 5.29 zur Abschaffung des Anrechnungsverfahrens nach Einleitung eines diesbezüglichen Vertragsverletzungsverfahrens.

500

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A. Grundlagen

Rz. 7.7 Kap. 7

rens; vor diesem Hintergrund wird auf eine breite Analyse des Vertragsverletzungsverfahrens im Rahmen dieser Darstellung verzichtet.1 Geringe Bedeutung für eigene Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen kommt bislang auch den Nichtigkeitsklagen zu. Im Rahmen dieser Verfahren überprüft der EuGH die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte sowie der Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank, soweit es sich hierbei nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt. Verfahrensgegenstand können auch Handlungen des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates, von Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union mit Rechtswirkung gegenüber Dritten sein (Art. 263 Abs. 1 AEUV). Ist die Klage begründet, so erklärt der EuGH die angefochtene Handlung für nichtig (Art. 264 AEUV). Berührungspunkte zum Steuerrecht können sich daraus ergeben, dass die (Nicht)Besteuerung eines Mitgliedstaates von der Kommission als Verstoß gegen das EU-Beihilfeverbot qualifiziert wird; die Entscheidung der Kommission wiederum kann dann zum Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gemacht werden.2 In der bisherigen Praxis ist eine nennenswerte praktische Bedeutung dieser Verfahren für eigene Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen zu verneinen.3

7.5

Untätigkeitsklagen ermöglichen es, gegen ein vertragswidriges Untätigbleiben eines Unionsorgans vorzugehen (Art. 265 AEUV). Durch das Instrument der Untätigkeitsklage wird der Rechtsschutz im Rahmen von Nichtigkeitsklagen ergänzt. Soweit ein Organ, eine Einrichtung oder Stelle im Rahmen einer Nichtigkeitsklage aufgefordert worden ist, tätig zu werden, kann nach Ablauf von zwei Monaten Untätigkeitsklage erhoben werden (vgl. Art. 265 Abs. 2 AEUV). Der Untätigkeitsklage kommt insoweit Ergänzungsfunktion zu.4 Dieses Instrument hat in der Praxis des EuGH auch jenseits des Steuerrechts zu keinem Zeitpunkt eine besondere Rolle gespielt.5 Seine Relevanz für das Steuerrecht ist eher theoretischer Natur, weshalb auch insoweit auf eine Analyse im Rahmen dieser Darstellung verzichtet wird.6

7.6

Demgegenüber ist die praktische Bedeutung von Vorabentscheidungsverfahren – auch im Bereich des Steuerrechts – enorm. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens judiziert der EuGH über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (Art. 267 AEUV). Durch ein Vorabentscheidungsverfahren soll die Wahrung der einheitlichen Anwendung und Geltung des EU-Rechts sichergestellt werden. Im Bereich der (harmonisierten) indirekten Steuern hat der EuGH im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren häufig die Frage zu klären, wie Richtlinienbestimmungen auszulegen sind. Auf Basis der Entscheidung des EuGH wird dann beispielsweise deutlich, ob eine Richtlinie zutreffend umgesetzt wurde. Auch kann aus der Entscheidung abzuleiten sein, dass eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Bestimmung geboten ist. Im Bereich der direkten Steuern hat der EuGH regelmäßig die Frage zu klären, unter welchen Voraussetzungen die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften gegen die europäischen Grundfreiheiten vor allem gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 und Art. 54 AEUV), die Dienst-

7.7

1 Ausführlich zum Vertragsverletzungsverfahren: Burgi in Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rz. 1 ff.; Nowak in Leible/Terhechte, § 10 Rz. 1 ff. 2 Hierzu instruktiv Cordewener/Henze, FR 2016, 756 ff. 3 Ebenso Oellerich in Schaumburg/Englisch, Rz. 5.34; ausführlich zu den Nichtigkeitsklagen: Dervisopoules in Rengeling/Middeke/Gellermann, § 7 Rz. 1 ff.; Thiele in Leible/Terhechte, § 9 Rz. 1 ff. 4 Thiele in Leible/Terhechte, § 11 Rz. 1 m. w. N. 5 So wörtlich Thiele in Leible/Terhechte, § 11 Rz. 8. 6 Ausführlich zur Untätigkeitsklage: Dervisopoules in Rengeling/Middeke/Gellermann, § 8 Rz. 1 ff.; Thiele in Leible/Terhechte, § 11 Rz. 1 ff.

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501

Kap. 7 Rz. 7.8

Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

leistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) oder die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) verstößt. Es ist wichtig, dass der den Kläger beratende Steuerberater oder Rechtsanwalt mit dem Unionsrecht vertraut ist. Unkenntnis auf dem Gebiet des europäischen Steuerrechts kann zu haftungsrechtlichen Konsequenzen führen.1

7.8 Die Auslegung und Anwendung europäischer Bestimmungen ist jedoch nicht dem EuGH vorbehalten; auch nationale Gerichte sind verpflichtet, das Unionsrecht anzuwenden. Die Finanzgerichte und der BFH haben das Unionsrecht als Bestandteil des Bundesrechts anzuwenden (Art. 23 und Art. 25 GG sowie Art. 288 AEUV). So haben sie im Anwendungsbereich von Richtlinien nationale Bestimmungen richtlinienkonform auszulegen. Gegenüber dem nationalen Recht kommt dem Unionsrecht gar ein Anwendungsvorrang zu, d. h. deutsche Vorschriften dürfen von den nationalen Gerichten nicht angewendet werden, soweit sie dem Unionsrecht widersprechen.2 Unter Beachtung dieser Grundsätze werden auch die nationalen Gerichte funktional als Unionsgerichte tätig.3 Die unmittelbare Zuständigkeit der nationalen Gerichte für die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht bringt jedoch die Gefahr einer unterschiedlichen Auslegung des Unionsrechts und damit das Risiko der Rechtszersplitterung mit sich. Dem EuGH obliegt in diesem Zusammenhang die letztverbindliche Entscheidung über die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts.4 Soweit bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts eine für einen Einzelfall relevante Frage noch nicht geklärt ist, obliegt dem EuGH das Letztentscheidungsrecht. Deutlich wird dies etwa aus der Vorlagepflicht letztinstanzlicher einzelstaatlicher Gerichte (vgl. Art. 267 Abs. 3 AEUV, vgl. hierzu Rz. 7.22 f.).

7.9 Die Verletzung von Unionsrecht durch den nationalen Gesetzgeber und die Finanzverwaltung kann vom Steuerpflichtigen im Verfahren vor dem Finanzgericht und vor dem BFH gerügt werden. Der Steuerpflichtige selbst hat allerdings kein eigenes Klagerecht beim EuGH.5 Er kann jedoch im Rahmen der durch ihn betriebenen nationalen Rechtsbehelfsverfahren darauf hinwirken, dass Fragen betreffend die Auslegung oder Anwendung von Unionsrecht dem EuGH vorgelegt werden. Soweit das angerufene nationale Gericht (insbesondere der BFH) entscheidungserhebliche Fragen entgegen einer bestehenden Vorlagepflicht nicht dem EuGH vorlegt, kann der Steuerpflichtige im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (vgl. Rz. 7.29) die Missachtung des gesetzlichen Richters rügen.

II. Besetzung des Europäischen Gerichtshofs 1. Spruchkörper

7.10 Der Gerichtshof übt seine Tätigkeit grundsätzlich in Kammern mit einer Besetzung von drei oder fünf Richtern aus (Art. 50 Satzung-EuGH). Aktuell existieren zehn derartige Kammern. Wenn ein am Verfahren beteiligter Mitgliedstaat oder ein am Verfahren beteiligtes Unions1 Ebenso Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 1; Thömmes, StbJb. 05/06, 191 (210 ff.). 2 Exemplarisch BFH v. 24.10.2013 – V R 17/13, BStBl. II 2015, 513; ausführlich zum Anwendungsvorrang Schaumburg in Schaumburg/Englisch, Rz. 4.18 ff. m. w. N. 3 Rengeling/Kotzur in Rengeling/Middeke/Gellermann, § 4 Rz. 2; Fehling in Schaumburg/Englisch, Rz. 23.1. m. w. N. 4 Vgl. nur BFH v. 8.2.2008 – VII R 21/03, BFH/NV 2008, 1219 „zur letztverbindlichen Auslegung … berufen“. 5 Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 9.

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A. Grundlagen

Rz. 7.14 Kap. 7

organ dies beantragt, tagt der Gerichtshof als Große Kammer, bestehend aus 13 Richtern einschließlich des Präsidenten des EuGH als Vorsitzenden, (Art. 16 Abs. 2, Abs. 3 SatzungEuGH). In seltenen Ausnahmefällen entscheidet der Gerichtshof im Plenum, d. h. unter Teilnahme sämtlicher EuGH-Richter. Die Anzahl der Richter des Gerichts entspricht der Anzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aktuell also 28. Jeder Mitgliedstaat kann einen Richter zur Wahl vorschlagen. Die Richter werden jeweils für sechs Jahre gewählt, wobei die Möglichkeit zur Wiederwahl besteht. Der Präsident des Gerichtshofs wird für eine Amtszeit von drei Jahren aus der Mitte der Richter gewählt (Art. 254 Abs. 3 AEUV).

7.11

Die Entscheidung des zuständigen Spruchkörpers wird maßgeblich durch den Berichterstatter vorbereitet. Dieser wird jeweils durch den Präsidenten bestimmt (Art. 15 VerfO-EuGH). Eine feste Geschäftsverteilung gibt es nicht. Um den Anschein der Befangenheit zu vermeiden, wird einem Richter im Regelfall kein Vorabentscheidungsersuchen eines Gerichts seines Herkunftsstaats zugewiesen, sowie kein Verfahren, in dem dieser Staat Kläger oder Beklagter ist.1

7.12

2. Generalanwalt Der Gerichtshof wird von elf Generalanwälten unterstützt.2 Im deutschen Gerichtsverfahren gibt es keine dem Generalanwalt vergleichbaren Funktionsträger.3 Der Generalanwalt ist dem Gerichtshof insgesamt zugeordnet. Nach Art. 252 Abs. 2 AEUV hat er die Aufgabe, in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit zu den einzelnen Verfahren einen Vorschlag für die Entscheidung des EuGH in Form von begründeten Schlussanträgen zu formulieren. Dies erfolgt jedoch nur in den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des EuGH seine Mitwirkung erforderlich ist. Soweit seine Mitwirkung erforderlich ist, wird er schon zu Beginn des Verfahrens in den weiteren Ablauf involviert. So wird er aufgrund der Satzung und der Verfahrensordnung des EuGH vor allen verfahrensleitenden Entscheidungen angehört (z. B. Verbindung von Verfahren, Aussetzung). Die Schlussanträge schließen die mündliche Verfahrensphase ab. Nach Vorlage der Schlussanträge schreibt der Berichterstatter seinen Urteilsentwurf. An der Beratung durch die zuständige Kammer nimmt der Generalanwalt nicht teil; insbesondere hat er kein Stimmrecht bei der Urteilsfindung. An seine Vorschläge (in Form der Schlussanträge) sind die zuständigen Richter nicht gebunden. Der praktische Einfluss eines Generalanwalts ist gleichwohl bedeutend. In etwa drei Viertel aller Fälle folgt die Kammer den Vorschlägen des Generalanwalts.

7.13

III. Vertretungszwang Die Postulationsfähigkeit ist in Art. 19 Satzung-EuGH geregelt. Hiernach werden Mitgliedstaaten und Unionsorgane durch einen Bevollmächtigten vertreten, der für die Sache bestellt wird und sich der Hilfe von Beiständen und Anwälten bedienen kann. In der Praxis treten häufig Beamte als Bevollmächtigte auf. In der Bundesregierung ist das Bundesminis-

1 So Henze/Sobotta in Beermann/Gosch, EuGH-Verfahrensrecht, Rz. 17. 2 Der Rat hat von seiner in Art. 252 Abs. 1 Satz 2 AEUV niedergelegten Möglichkeit Gebrauch gemacht und die Zahl der Generalanwälte auf Antrag des Gerichtshofs von acht auf elf erhöht. 3 Kokott, Anwältin des Rechts – Zur Rolle der Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof, Bonn 2006.

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7.14

Kap. 7 Rz. 7.15

Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

terium für Wirtschaft und Technologie federführend für die Prozessvertretung vor dem EuGH. Die Kommission wird meist von Beamten ihres Juristischen Dienstes vertreten.1

7.15 Für natürliche und juristische Personen besteht demgegenüber vor dem EuGH grundsätzlich Anwaltszwang (Art. 19 Abs. 3 Satzung-EuGH). Davon erlaubt Art. 47 Abs. 2 VerfO-EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Abweichungen. Hiernach sind auch andere Personen als Anwälte postulationsfähig, wenn sie nach den im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Verfahrensvorschriften berechtigt sind, vor Gericht aufzutreten. Bei Vorlagen aus deutschen finanzgerichtlichen Verfahren gelten somit die Regelungen über die Postulationsfähigkeit in den §§ 62 und 62a FGO entsprechend für die Vertretung vor dem EuGH2 (mit der Folge, dass z. B. auch Steuerberater im Vorabentscheidungsverfahren postulationsfähig sind).

IV. Verfahrenssprache 7.16 Verfahrenssprache kann im Grundsatz jede Amtssprache der Europäischen Union sein (vgl. Art. 36 VerfO-EuGH). Die Bestimmung der Verfahrenssprache obliegt grundsätzlich der Klage erhebenden Partei (vgl. Art. 37 Abs. 1 VerfO-EuGH). Beim Vorabentscheidungsverfahren ist dies jedoch die Sprache im Mitgliedsland des anfragenden Gerichts, bei Klagen gegen einen Mitgliedstaat wird dessen Amtssprache (ggf. auch mehrere) Verfahrenssprache (vgl. im Einzelnen Art. 37 VerfO-EuGH).

7.17 Alle Verfahrensdokumente werden in die nach den vorgenannten Regeln bestimmte Verfahrenssprache sowie ins Französische – der internen Arbeitssprache des EuGH – übersetzt, Vorabentscheidungsersuchen und die Urteile des EuGH, die zur Veröffentlichung bestimmt sind, in sämtliche Amtssprachen. Auch die Äußerungen des Generalanwalts, der sich in seiner eigenen Sprache äußern kann, werden in alle Amtssprachen übersetzt. Der EuGH unterhält gemeinsam mit dem Europäischen Gericht einen Übersetzungsdienst. Die Übersetzer verfügen alle über eine abgeschlossene juristische Ausbildung und werden auch als „Lawyer-Linguists“ bezeichnet.

7.18–7.19

Einstweilen frei.

B. Das Vorabentscheidungsverfahren 7.20 Der Individualrechtsschutz gegen Verstöße gegen das Unionsrecht wird durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV gewährleistet. Der EuGH entscheidet dabei jedoch nur über Fragen der Auslegung von Unionsrecht und der Gültigkeit von Handlungen der Unionsorgane, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, nicht aber über die Auslegung oder Anwendung nationalen Rechts.

7.21 Dem Vorabentscheidungsverfahren kommt auch in quantitativer Hinsicht eine herausragende Bedeutung zu. Es dominiert als wichtigste Verfahrensart die Tätigkeit des EuGH.3 Von den im Jahr 2016 neu anhängigen 692 Rechtssachen handelte es sich in 453 Fällen (=

1 So Henze/Sobotta in Beermann/Gosch, EuGH-Verfahrensrecht, Rz. 52. 2 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 34; Henze/Sobotta in Beermann/Gosch, EuGH-Verfahrensrecht, Rz. 52. 3 So treffend Karpenstein in Leible/Terhechte, § 8 Rz. 7 m. N.

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B. Das Vorabentscheidungsverfahren

Rz. 7.23 Kap. 7

65,46 %) um Vorabentscheidungsverfahren. 84 der im Jahr 2016 beim EuGH eingegangenen 453 Vorabentscheidungsersuchen stammten aus Deutschland.1

I. Vorlageberechtigung und Vorlageverpflichtung Werden Normen entscheidungserheblich, bei denen Unionsrecht verletzt sein könnte, so kann das Finanzgericht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV die Frage nach der Auslegung der maßgeblichen Normen des Unionsrechts dem EuGH vorlegen. Das Finanzgericht als untere Instanz ist zur Vorlage nicht verpflichtet, auch wenn der Kläger oder sein Berater diese anregen.2 Der BFH muss aber als letztinstanzliches Gericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV das Vorabentscheidungsverfahren durch Vorlage an den EuGH einleiten, sofern Auslegungszweifel bestehen. Die Finanzgerichte sind also vorlageberechtigt, während der BFH vorlageverpflichtet3 ist. Zu beachten ist, dass eine Vorlagepflicht jedoch nicht in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes besteht, da die Entscheidung ja noch in der Hauptsache überprüft werden kann.4

7.22

Sind der Kläger und/oder sein Berater der Auffassung, dass durch eine gesetzliche Vorschrift europäisches Recht verletzt ist, so empfiehlt es sich, schon beim Finanzgericht einen Antrag dahingehend zu stellen, dass die Rechtsfrage dem EuGH vorgelegt wird.5 Der diesbezügliche Antrag lautet wie folgt:

Es wird beantragt, das Verfahren gem. § 74 FGO auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: „Steht Art. 63 AEUV der Regelung eines Mitgliedstaates entgegen, … (z. B.: nach welcher ein Abzugsverbot von Gewinnminderungen im Zusammenhang mit der Beteiligung einer Kapitalgesellschaft an einer anderen Kapitalgesellschaft bezogen auf Auslandsbeteiligungen früher in Kraft tritt als für Inlandsbeteiligungen?)“6

Der BFH ist an die Vorlageverpflichtung nicht gebunden, wenn7

7.23

– die Rechtslage bereits in einem gleich gelagerten Fall Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH war, – eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH existiert, wonach die betreffende Auslegungsfrage bereits entschieden ist, – die Anwendung des Unionsrechts offenkundig zutreffend ist, so dass kein Raum für vernünftige Zweifel besteht.

1 2 3 4 5 6 7

Jahresbericht des EuGH für 2016, abrufbar unter www.curia.europa.eu. BFH v. 27.3.2007 – VIII B 152/05, BFH/NV 2007, 1335. BFH v. 28.8.2003 – VII B 259/02, BFH/NV 2004, 68. So bereits EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 – Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 46. Ebenso Carle, AO-StB 2007, 243. Nach BFH v. 4.4.2007 – I R 57/06, BFH/NV 2007, 2028. So bereits EuGH v. 27.3.1963 – Rs. 28-30/62 – Da Costa, Slg. 1963, 63; EuGH v. 4.11.1997 – Rs. C-337/95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-06013; EuGH v. 15.9.2005 – Rs. C-495/03 – Intermodal Transports, Slg. 2005, I-08151; Karpenstein in Leible/Terhechte, § 8 Rz. 61.

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Kap. 7 Rz. 7.24

Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

II. Verhältnis von Ausgangsverfahren und Vorlageverfahren 7.24 Die Vorlage erfolgt durch Beschluss des vorlegenden Gerichts. Gleichzeitig wird das anhängige Verfahren gem. § 74 (ggf. i. V. m. § 121 Satz 1) FGO bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt, da es sich bei dem Verfahren vor dem EuGH um ein Zwischenverfahren handelt. An dem Beschluss, der zumeist aufgrund mündlicher Verhandlung ergeht, wirken beim Finanzgericht die ehrenamtlichen Richter mit.

7.25 Auch nach Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH besteht die nach FGO bestehende Dispositionsmaxime der Beteiligten fort. Sie können das anhängige Klage- oder Revisionsverfahren jederzeit durch Klagerücknahme (§ 72 FGO, s. Rz. 3.755) oder beiderseitige Erledigungserklärungen (§ 138 FGO, s. Rz. 3.751 ff.) beenden. Auf diese Weise erledigt sich dann auch das Verfahren vor dem EuGH.

7.26 Das Verfahren vor dem EuGH ist aus Sicht des nationalen Steuerprozesses ein Zwischenverfahren, das dem Interesse an der einheitlichen Auslegung und Gültigkeitsprüfung des Unionsrechts dient. Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens können in diesem Verfahren Anregungen geben, ihnen steht aber kein eigenes Antragsrecht zu.

III. Rechtsschutzmöglichkeiten bei Nichtvorlage 7.27 Nicht selten leitet das nationale Gericht – entgegen dem ausdrücklichen Wunsch eines Beteiligten – kein Vorabentscheidungsverfahren ein. Die Beteiligten des Rechtsstreits, die sich auf die Vorlageverpflichtung berufen, haben kein eigenständiges Rechtsmittel gegen die Entscheidung des nationalen Gerichts, den EuGH nicht anzurufen.1 Insbesondere können sie nicht selbst den EuGH anrufen, um eine Entscheidung dieses Gerichts zu erreichen. Allerdings besteht die Möglichkeit, wegen der Verletzung der Vorlagepflicht bei der EU-Kommission eine Beschwerde einzureichen, die die Kommission wiederum dazu bewegen soll, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den betroffenen Mitgliedstaat einzuleiten. Von dieser Möglichkeit hat die Kommission in der Vergangenheit aus Respekt vor der richterlichen Unabhängigkeit keinen Gebrauch gemacht.2

7.28 Sieht ein Finanzgericht im Rahmen eines erstinstanzlichen finanzgerichtlichen Verfahrens von einer Vorlage an den EuGH ab und entscheidet durch Urteil, ohne hierbei die Revision zuzulassen, kann der unterlegene Beteiligte versuchen, die Zulassung der Revision im Rahmen eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu erreichen. Da das Unionsrecht zum revisiblem Bundesrecht gehört (vgl. Rz. 4.49), kann eine Nichtzulassungsbeschwerde durchaus auf eine unionsrechtliche Fragestellung gestützt werden.3 Allerdings hat eine Rechtssache nicht schon deshalb grundsätzliche Bedeutung, weil das Finanzgericht unmittelbar anwendbares Unionsrecht auszulegen hat und von der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH absieht. Erforderlich ist vielmehr die Darlegung einer entscheidungserheblichen, klärbaren und klärungsbedürftigen Rechtsfrage, die wegen der Auslegung von Unionsrecht einer Vorabentscheidung des EuGH bedarf.4 Hat eine auf diese Begründung gestützte Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg, ist es durchaus wahrscheinlich, dass der BFH den Fall im Rahmen des sich anschließenden Revisionsverfahrens dem EuGH vorlegt. 1 2 3 4

Zu Einzelheiten s. Karpenstein in Leible/Terhechte, § 8 Rz. 70 ff. Vgl. Karpenstein in Leible/Terhechte, § 8 Rz. 78 m. N. Ebenso Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 14 m. w. N. Vgl. nur BFH v. 7.3.2003 – VII B 282/02, juris; Karpenstein in Leible/Terhechte, § 8 Rz. 71 m. w. N.

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B. Das Vorabentscheidungsverfahren

Rz. 7.31 Kap. 7

Unterlässt der BFH eine nach Ansicht des unterliegenden Beteiligten gebotene Vorlagen an den EuGH, kann hierin ein Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu sehen sein, den der Beteiligte im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde rügen kann. Denn der BFH entzieht dem Beteiligten seinen gesetzlichen Richter, wenn er seiner Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt.1 Allerdings qualifiziert das BVerfG nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht als einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ein verfassungsrechtlich relevanter Entzug des gesetzlichen Richters wird nur angenommen, wenn der Verzicht auf die Vorlage an den EuGH bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.2 Das BVerfG hat drei Fallgruppen entwickelt, in denen eine solche offensichtlich unhaltbare Verletzung der Vorlagepflicht anzunehmen ist3:

7.29

– Das BVerfG bejaht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn das letztinstanzliche Gericht eine Vorlage gar nicht in Betracht zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). – Dasselbe gilt, wenn das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung „bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt“ (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). – Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird schließlich angenommen, wenn zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts noch keine einschlägige oder erschöpfende Rechtsprechung vorliegt, das letztinstanzliche Gericht aber gleichwohl von einer Vorlage an den EuGH absieht und hierbei seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschreitet (Unvollständigkeit der EuGH-Rechtsprechung). In der Entscheidungspraxis sieht das BVerfG die von ihm selbst entwickelten Fallgruppen nur sehr selten als gegeben an. Von Ausnahmen abgesehen4 hat eine Verfassungsbeschwerde, die auf einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen unterlassener Vorlage an den EuGH gerichtet ist, ganz überwiegend keinen Erfolg.5

7.30

Erleidet der Steuerpflichtige dadurch einen Schaden, dass ein letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaates seine Vorlagepflicht verletzt hat, kann dies einen Staatshaftungsanspruch gegen diesen Mitgliedstaat begründen.6 Es handelt sich um einen Fall der mitgliedstaatlichen Haftung für judikatives Unrecht. Ein Haftungsanspruch des Staates kommt jedoch nur bei offenkundigen Verstößen gegen das Unionsrecht in Betracht. Weiter muss nachgewiesen sein, dass die verletzte Rechtsvorschrift bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Schließlich

7.31

1 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223; Kirchhof, DStR 1989, 551; Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 18. 2 Grundlegend BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286. 3 Vgl. im Einzelnen: BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286; Karpenstein in Leible/ Terhechte, § 8 Rz. 75 m. w. N. 4 So z. B. BVerfG v. 9.1.2001 – 1 BvR 1036/99, NJW 2001, 1267. 5 BFH v. 11.5.2007 – V S 6/07, BStBl. II 2007, 653; zu den hohen Anforderungen des BVerfG an eine solche Verfassungsbeschwerde vgl. Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 18 f. m. w. N. 6 Vgl. nur BVerfG v. 16.4.2012 – 1 BvR 523/11, BFH/NV 2012, 1405.

Hendricks

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Kap. 7 Rz. 7.32

Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

muss zwischen dem geltend gemachten offenkundigen Verstoß gegen Unionsrecht und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.1

IV. Verfahrensablauf 7.32 Der Verfahrensablauf ist streng formalisiert und stellt sich im Einzelnen beim Vorabentscheidungsverfahren grundsätzlich wie folgt dar2: 1. Jedes Ersuchen um Vorabentscheidung wird in der Kanzlei des EuGH behandelt: Hier erfolgen dessen Eintragung in das Register der Kanzlei des Gerichtshofes in der Sprache des vorlegenden Gerichts. Diese Sprache wird Verfahrenssprache. Es wird eine Mitteilung für das vorlegende Gericht über das eingegangene Vorabentscheidungsersuchen erstellt. Jede neu eingehende Rechtssache wird im Amtsblatt der EU veröffentlicht (Art. 21 Abs. 4 VerfO-EuGH), wobei auch die Namen der Beteiligten angegeben werden. Das im deutschen Recht geltende Steuergeheimnis (§ 30 AO) hindert die Veröffentlichung der Namen nicht. Es erfolgt eine Vorlage an den Präsidenten des EuGH und gleichzeitig die Weiterleitung an den Übersetzerdienst des EuGH (vgl. Rz. 7.17), der das Ersuchen in alle anderen Amtssprachen (vgl. Art. 98 Abs. 1 VerfO-EuGH) übersetzt. 2. Zuweisung durch den Präsidenten an einen für die gesamte Verfahrensdauer federführenden Berichterstatter (Art. 15 Abs. 1 VerfO-EuGH). Ebenso weist der erste Generalanwalt die Rechtssache einem bestimmten Generalanwalt zu. Die Entscheidung über die Zuweisung ist nicht – wie im deutschen Verfahrensrecht – nach festen Kriterien vorzunehmen. Es steht nicht von vornherein fest, an welchen Richter ein bestimmtes Verfahren gelangen wird.3 3. Es findet dann eine Vorprüfung des Ersuchens durch einen Juristen des wissenschaftlichen Dienstes statt, der das nationale Rechtssystem kennt, aus dem die Vorlage kommt. Hierbei geht es vor allem um Zulässigkeitsfragen. Gem. Art. 53 Abs. 2 VerfO-EuGH kann der EuGH nach Anhörung des Generalanwalts ein Vorabentscheidungsersuchen durch begründeten Beschluss zurückweisen, wenn er offensichtlich unzuständig oder das Ersuchen offensichtlich unzulässig ist. Dies kann schon vor Zustellung des Vorabentscheidungsersuchens geschehen. 4. Zustellung des Vorabentscheidungsersuchens: Das Vorabentscheidungsersuchen wird an die beteiligten Parteien, die Regierungen aller Mitgliedstaaten und an die Kommission sowie weitere im Einzelnen in Art. 98 Abs. 1 VerfO-EuGH genannte Institutionen zugestellt (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 Satzung-EuGH). Den Mitgliedstaaten wird die Originalfassung des Ersuchens zusammen mit einer Übersetzung in der Amtssprache des Empfängerstaats übermittelt (vgl. Art. 98 Abs. 1 VerfO-EuGH). 5. Die Zustellung setzt eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme von zwei Monaten zzgl. einer pauschalen Entfernungsfrist von zehn Tagen in Lauf (Art. 51 VerfO-EuGH). 1 Vgl. EuGH v. 13.6.2006 – C-173/03 – Traghetti del Mediterraneo, IStR 2006, 611 m. w. N.; ebenso Seegers, EuZW 2006, 564 (565); allgemein zu diesem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch: Dörr, EuZW 2012, 86. 2 S. dazu im Einzelnen Schima, S. 131 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen sowie Kokott/Henze, AnwBl. 2007, 309 ff. 3 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, EuRS, Rz. 28.

508

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B. Das Vorabentscheidungsverfahren

Rz. 7.32 Kap. 7

Diese Frist ist nicht verlängerbar;1 gem. Art. 45 Abs. 2 Satzung-EuGH kann jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung dieser Frist infolge höherer Gewalt oder eines Zufalls gewährt werden. 6. Die schriftlichen Erklärungen der Parteien, Organe und Mitgliedstaaten (vgl. Art. 23 Abs. 2 Satzung-EuGH) sind im unterschriebenen Original sowie mit mindestens fünf beglaubigten Kopien einzureichen (vgl. Art. 57 Abs. 2 VerfO-EuGH). Die Mitgliedstaaten dürfen ihre schriftlichen Erklärungen in ihrer eigenen Amtssprache abgeben.2 Ein weiterer Schriftsatzaustausch ist nicht vorgesehen. Allein die mündliche Verhandlung gibt noch Gelegenheit, auf die Schriftsätze der anderen Beteiligten einzugehen.3 Zwar können die Parteien in ihren Stellungnahmen dem EuGH keine weiteren Vorlagefragen unterbreiten oder den Verfahrensgegenstand in sonstiger Weise erweitern; sie sind jedoch dazu berufen, dem EuGH zusätzliche Informationen über den Sachverhalt und die nationale Rechtslage zu liefern. Solche Beiträge sind in der Praxis ebenso wichtig wie Rechtsausführungen zum Unionsrecht.4 Dies sollte aber nicht dazu führen, dass die Schriftsätze übermäßig lang werden, denn sie müssen ins Französische, die interne Amtssprache des EuGH, übersetzt werden. Deshalb sollten Satzkonstruktionen oder Ausdrücke vermieden werden, die schwierig zu übersetzen sind und möglicherweise Missverständnisse oder Unklarheiten in der Übersetzung hervorrufen. Da grundsätzlich auch nur der Schriftsatz selbst übersetzt wird, nicht aber etwaige Anlagen, sollten wichtige Passagen aus Urkunden oder Gesetzestexten im Schriftsatz selbst wiedergegeben werden.5

7. Nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens werden die eingegangenen Schriftsätze an die Parteien, Organe und Mitgliedstaaten zugestellt. Anschließend wird nach Abstimmung mit dem zuständigen Generalanwalt durch den Berichterstatter ein Vorbericht in der internen Arbeitssprache (vgl. Art. 20 Abs. 4 Satzung-EuGH und Art. 59 Abs. 2 VerfOEuGH) erstellt. Dieser Vorbericht ist ein internes Dokument und endet mit den Vorschlägen für den weiteren Ablauf des Verfahrens. Im Rahmen des Vorberichts hat der Berichterstatter auch darüber zu entscheiden, ob eine mündliche Verhandlung stattfinden soll. 8. Auf der Grundlage des Vorberichts entscheidet nunmehr die Generalversammlung, bestehend aus allen Richtern und Generalanwälten des EuGH, ob die Rechtssache eine Beweisaufnahme erfordert, weitere Aufklärungsmaßnahmen erforderlich sind, welchem Spruchkörper die Rechtssache zugewiesen wird und ob eine mündliche Verhandlung stattfindet, deren Termin der Präsident bestimmt. Ferner erfolgt durch die Generalversammlung die Zuweisung an einen Spruchkörper – je nach Bedeutung der Sache an die Dreier-, Fünfer- oder Große Kammer (13 Richter). Diese Zuweisung erfolgt unter Beibehaltung des Berichterstatters. Schließlich entscheidet sie nach Anhörung des Generalanwalts, wenn gem. Art. 20 Abs. 5 Satzung-EuGH ohne Schlussanträge entschieden werden soll, weil die Rechtssache keine neuen Rechtsfragen aufwirft. 9. Anschließend erfolgt die Zustellung des vom Berichterstatter ebenfalls erstellten Sitzungsberichts in der Verfahrenssprache an die Parteien, Organe und Mitgliedstaaten. Die Parteien erhalten damit die Möglichkeit, vor oder zu Beginn der mündlichen Ver-

1 2 3 4 5

Schima, S. 140. So Wägenbaur, Art. 23 Satzung-EuGH Rz. 28. S. dazu Kokott/Henze, AnwBl. 2007, 309 (312). So ausdrücklich Kokott/Henze, AnwBl. 2007, 309 (312). So die ausdrückliche Empfehlung von Kokott/Henze, AnwBl. 2007, 309 (312).

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509

Kap. 7 Rz. 7.32

Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

handlung Berichtigungen zu beantragen oder Vorbehalte anzumelden und ggf. schriftlich einzureichen.1 10. Die mündliche Verhandlung ist öffentlich. Sie ist streng formalisiert. Sämtliche Beiträge werden je nach Bedarf in die verschiedenen Amtssprachen simultan übersetzt. Der Berichterstatter fasst in einem Sitzungsbericht das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Parteien zusammen. In der mündlichen Verhandlung tragen die Parteien ihre Ausführungen dem Spruchkörper und dem Generalanwalt vor. Die Redezeit beträgt normalerweise maximal 30 Minuten vor der Großen Kammer und der Fünfer-Kammer und 15 Minuten vor der Dreier-Kammer. Da das Plädoyer simultan in mehrere Sprachen übertragen wird, sollte der Prozessvertreter deutlich und in angemessenem Tempo vortragen. Es erleichtert die Übersetzung, wenn unmittelbar vor der Verhandlung den Dolmetschern eine Kopie des Redemanuskripts überlassen wird.2 Die Richter und der Generalanwalt können den Parteien die Fragen stellen, die sie für zweckdienlich erachten. Am Ende der Sitzung gibt der Generalanwalt in der Regel das Datum der Verkündung der Schlussanträge bekannt.

11. Einige Wochen später – wiederum in öffentlicher Sitzung – trägt der Generalanwalt dem Gerichtshof seine Schlussanträge vor, die er in seiner eigenen Sprache erstellt hat (vgl. Art. 82 VerfO-EuGH) und die in die Verfahrenssprache und die interne Amtssprache übersetzt worden sind. In diesen Schlussanträgen geht er insbesondere auf die rechtlichen Fragen des Rechtsstreits ein und schlägt dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit die Entscheidung vor, die seiner Meinung nach in dem Rechtsstreit ergehen sollte. Damit ist das mündliche Verfahren abgeschlossen (vgl. Art. 82 Abs. 2VerfO-EuGH). Insbesondere können die Verfahrensbeteiligten jetzt nicht mehr Stellung nehmen. Es kann allenfalls nach Art. 83 VerfO-EuGH die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung angeordnet werden. 12. Anschließend erstellt der Berichterstatter in der internen Arbeitssprache einen Entscheidungsentwurf. Er ist dabei nicht an die Schlussanträge des Generalanwalts gebunden, folgt ihm in der Praxis aber häufig. 13. Die Richter beraten auf der Grundlage des vom Berichterstatter erstellten Urteilsentwurfs. Die Beratung ist geheim (Art. 35 Satzung-EuGH). Es wird ohne Dolmetscher in einer gemeinsamen Sprache, herkömmlicherweise in Französisch, beraten. Jeder Richter des Spruchkörpers trägt seine Auffassung vor und begründet sie. Das Ergebnis, auf das sich die Mehrheit der Richter nach der abschließenden Erörterung geeinigt hat, ist für die Entscheidung des Gerichtshofs maßgebend. Die Entscheidungen des Gerichtshofes werden also mit Stimmenmehrheit gefasst; etwaige abweichende Meinungen werden nicht aufgeführt. Die Einzelheiten der Beratung sind in den Art. 32 ff. VerfO-EuGH geregelt. Eine Kostenentscheidung wird im Vorabentscheidungsverfahren nicht getroffen. Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist kostenfrei. Es bleibt dem vorlegenden Finanzgericht oder dem BFH vorbehalten, über die Kosten des Vorabentscheidungsverfahrens mit zu entscheiden (Art. 102 VerfO-EuGH).

1 So Wägenbaur, Art. 20 Satzung-EuGH Rz. 10. 2 So das ausdrückliche Ersuchen des EuGH in seinen Praktischen Anweisungen für Klagen und Rechtsmittel unter Tz. 52.

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B. Das Vorabentscheidungsverfahren

Rz. 7.33 Kap. 7

14. Der Tenor des Urteils wird in öffentlicher Sitzung verkündet. Das Urteil wird mit der Verkündung rechtskräftig (Art. 91 Abs. 1 VerfO-EuGH). Jeweils am Tag der Verkündung der Urteile und der Verlesung der Schlussanträge der Generalanwälte sind diese Dokumente nachmittags auf der Internetseite des Gerichtshofes verfügbar. Sie werden in den meisten Fällen später in der Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes veröffentlicht. Die Entscheidung des EuGH bindet das vorlegende Gericht. Der EuGH entscheidet normalerweise über die ausgelegte Norm mit ex-tunc-Wirkung, also rückwirkend seit deren Inkrafttreten. Nur in Ausnahmefällen wird die Wirkung des Urteils auf die Zukunft beschränkt.1

1 Vgl. EuGH v. 6.3.2007 – C-292/04 – Meilicke, Slg. 2007, I-18352; Kokott/Henze, NJW 2006, 177.

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511

7.33

Kapitel 8 Internationale Verfahren A. Einführung I. Ursachen internationaler Doppelbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Notwendigkeit internationaler Verfahren 1. Überblick zu internationalen Verständigungsverfahren . . . . . . . . 2. Überblick zu internationalen Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . .

8.1

8.4 8.8

B. Internationale Verständigungsverfahren I. Rechtsgrundlagen und Durchführungsbestimmungen . . . . . . . . II. Ablauf eines Verständigungsverfahrens im Überblick . . . . . . . . 1. Innerstaatliches Vorprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwischenstaatliche Verständigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Innerstaatliche Umsetzung der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1. 2. 3. 4. 5.

8.11 8.12 8.13 8.14 8.15

Antrag auf Einleitung Notwendigkeit eines Antrags. . . . . Antragsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adressat des Antrags . . . . . . . . . . . Antragsfrist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antragsform und Antragsinhalt . .

8.16 8.17 8.20 8.21 8.24

IV. Entscheidung über den Antrag 1. Innerstaatliches Vorprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anspruch auf Verfahrenseinleitung

8.29 8.30

V. Zwischenstaatliches Verständigungsverfahren 1. Einigungsbemühungen . . . . . . . . . 2. Praktischer Ablauf in Deutschland 3. Völkerrechtlicher Vertrag unter Zustimmungsvorbehalt . . . . . . . . . 4. Dauer des Verfahrens. . . . . . . . . . . 5. Stellung des Antragstellers im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zustimmungserklärung und Einspruchsverzicht. . . . . . . . . . . . . VI. Innerstaatliche Umsetzung der Verständigungsvereinbarung 1. Durchbrechung der Bestandskraft

8.33 8.35 8.38 8.39 8.41 8.43

2. Verhältnis des Verständigungsverfahrens zu innerstaatlichen Rechtsbehelfen . . . . . . . . . . . . . . . .

8.45

VII. Kosten und Gebühren des Verständigungsverfahrens . . . . . . .

8.47

VIII. Scheitern einer zwischenstaatlichen Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . .

8.48

C. Schiedsverfahren I. Allgemeines 1. Wachsende Bedeutung internationaler Schiedsverfahren . . . . . . . . . . 2. Schiedsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen . . . . . . . . . . 3. Schiedsklauseln der EU-Schiedskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahren nach EU-Schiedskonvention 1. Verfahrensabschnitte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beantragung eines Verständigungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 4. Prüfung unilateraler Abhilfe . . . . . 5. Einleitung eines Verständigungsverfahrens a) Anspruch auf Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Empfindlich zu bestrafender Verstoß gegen steuerliche Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pflicht zur beschleunigten Antragsbearbeitung . . . . . . . . . . 6. Durchführung der zwischenstaatlichen Verständigung a) Zwischenstaatliche Einigungsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Austausch von Positionspapieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einigung unter Zustimmungsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Einleitung und Durchführung des Schiedsverfahrens a) Konstituierung eines Beratenden Ausschusses als Schiedsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.51 8.52 8.53

8.59 8.62 8.65 8.71

8.72 8.73 8.76

8.77 8.78 8.80

8.81

8.44

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Kap. 8 Rz. 8.1

Internationale Verfahren

b) Pflicht zur Konstituierung nach Ablauf der Zwei-JahresFrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammensetzung des Beratenden Ausschusses . . . . . . . . . . . . d) Sachaufklärung und Amtsermittlungsgrundsatz . . . . . . . . e) Beweislastentscheidungen. . . . . f) Prozessuale Stellung des Steuerpflichtigen . . . . . . . . . . . . g) Entscheidung in Form einer Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . 8. Verständigungsvereinbarung oder Bindungswirkung der Stellungnahme a) Zweite Möglichkeit einer Verständigung . . . . . . . . . . . . . . b) Verbindlichkeit der Stellungnahme als Schiedsspruch . . . . . 9. Innerstaatliche Umsetzung a) Durchbrechung der Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.82 8.84 8.85 8.88 8.90 8.91

b) Verhältnis zu gerichtlich bestätigten Steuerbescheiden . . . . . . 10. Kosten und Gebühren a) Verständigungsverfahren. . . . . . b) Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . 11. Durchführung multilateraler Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Bewertung der EU-Schiedskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.100 8.101 8.102 8.103 8.105

D. Abwägung zwischen den verschiedenen verfahrensrechtlichen Optionen I. Überblick über die einzelnen Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.106

8.96

II. Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.109

8.98

III. Abwägungskriterien für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.112

8.99

Literatur: Bär, Verständigungen über Verrechnungspreise verbundener Unternehmen im deutschen Steuerrecht, Berlin 2009; Gassner/Lang/Lechner (Hrsg.), Das neue Doppelbesteuerungsabkommen Österreich-Deutschland, Wien 1999; Gloria, Das steuerliche Verständigungsverfahren, Diss. Berlin 1988; Gosch/Kroppen/Grotherr, DBA, Loseblatt; Haase, Außensteuergesetz/Doppelbesteuerungsabkommen, 3. Aufl. 2016; Mülhausen, Das Verständigungsverfahren, Berlin 1976; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl. 2017; Schönfeld/Ditz, DBA, 2013; Strunk/Kaminski/Köhler, Außensteuergesetz/Doppelbesteuerungsabkommen, Loseblatt; Vögele/Borstell/Engler (Hrsg.), Verrechnungspreise, 3. Aufl. 2011; Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015; Wassermeyer, DBA, Loseblatt; Wassermeyer/Baumhoff, Verrechnungspreise international tätiger Unternehmen, 2014; Züger, Schiedsverfahren für Doppelbesteuerungsabkommen, Wien 2001.

A. Einführung I. Ursachen internationaler Doppelbesteuerung 8.1 Nicht in allen Fällen sind die vorgehend dargestellten Rechtsbehelfe geeignet, den Steuerpflichtigen effektiv vor einer als rechtswidrig zu qualifizierenden Besteuerung zu schützen. Gerade wenn es um die Abwehr einer internationalen Doppelbesteuerung geht, kann es geboten sein, auf internationale Verfahren zurückzugreifen.

8.2 Die Ursachen von Doppelbesteuerung sind vielfältig. Selbst einschlägige Doppelbesteuerungsabkommen können das Risiko einer Doppelbesteuerung im Einzelfall nicht effektiv beseitigen. Hintergrund ist der Umstand, dass die Steuerbehörden das jeweilige Abkommen getrennt voneinander anwenden. Eine automatische Koordinierung der Abkommensanwendung findet im Grundsatz nicht statt. Aus diesem Grund besteht die Gefahr, dass die Behörden der Vertragsstaaten das jeweils einschlägige Abkommen divergierend anwenden. Dies kann bereits auf einem divergierenden Sachverhaltsverständnis beruhen; aber auch die unterschiedliche

514

Hendricks

A. Einführung

Rz. 8.6 Kap. 8

Auslegung und Anwendung der Abkommensklauseln bringt die Gefahr von Besteuerungskonflikten mit sich.1 Bedingt durch die weitere Internationalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten hat die Anzahl der Fälle, in denen es zu einer internationalen Doppelbesteuerung kommt, deutlich zugenommen. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass viele Staaten immer mehr dazu übergehen, internationale Sachverhalte zum Gegenstand steuerlicher Außenprüfungen zu machen.2 In der Folge ist der Bedarf an effektiven Verfahren zu Beseitigung einer Doppelbesteuerung erheblich gestiegen. Die Zahl eingeleiteter internationaler Verständigungsverfahren hat sich in den letzten Jahren dramatisch erhöht.3

8.3

II. Notwendigkeit internationaler Verfahren 1. Überblick zu internationalen Verständigungsverfahren Rein nationale Verfahren sind nur bedingt geeignet, eine eingetretene Doppelbesteuerung effektiv zu beseitigen. Denn auch die nationalen Gerichte wenden Doppelbesteuerungsabkommen autonom und ohne grenzüberschreitende Koordination an. Beschreitet der Steuerpflichtige im Falle einer Doppelbesteuerung in beiden involvierten Staaten den nationalen Rechtsweg, kann es passieren, dass die Gerichte in beiden Staaten die Besteuerung des eigenen Staates als abkommenskonform und damit als rechtmäßig bestätigen. Damit bliebe es bei der doppelten Besteuerung desselben Steuersubstrats. Die Beschreitung des nationalen Rechtsweges kann eine Doppelbesteuerung beseitigen – zwingend ist dies jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund sehen Doppelbesteuerungsabkommen klassischerweise ein alternatives verfahrensrechtliches Instrument zur Bereinigung von Besteuerungskonflikten vor: das internationale Verständigungsverfahren.

8.4

Ist ein Steuerpflichtiger der Auffassung, dass Maßnahmen eines Vertragsstaates oder beider Vertragsstaaten für ihn zu einer Besteuerung führen, die dem jeweiligen Abkommen nicht entspricht, kann er bei den zuständigen Behörden die Einleitung eines internationalen Verständigungsverfahrens beantragen. Die Antragsvoraussetzungen und der Gang eines Verständigungsverfahrens sind – wegen der prägenden Wirkung des Musters der OECD – in den meisten Abkommen in Art. 25 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 2 geregelt (vgl. Art. 25 Abs. 1 und Abs. 2 OECD-MA). Dabei zielt das Verfahren auf Basis der einschlägigen Bestimmungen auf die Beseitigung einer „abkommenswidrigen Besteuerung“ (und im Regelfall auch auf die Beseitigung einer hierdurch verursachten Doppelbesteuerung) ab.

8.5

Da es sich beim internationalen Verständigungsverfahren um ein von der Rechtsordnung zugelassenes Verfahren handelt, das auf die Überprüfung einer behördlichen Entscheidung abzielt, handelt es sich um ein Rechtsbehelfsverfahren.4 Der Steuerpflichtige kann das Verfahren lediglich beantragen (also initiieren), ist selbst aber nicht Beteiligter des Verfahrens, so

8.6

1 Vgl. nur Schaumburg/Häck in Schaumburg, Rz. 19.79 ff.; Drüen in FG Wassermeyer, 2015, Nr. 68 Rz. 1 f. 2 I. d. S. auch Jehlin/Löcherbach, DStR-Beih. 2016, 1 (3); Strotkemper, IStR 2016, 479 (481). 3 Vgl. die Auswertung des von der OECD veröffentlichten Zahlenmaterials bei Strotkemper, IStR 2016, 479 (480 ff.). 4 Im Allgemeinen wird unter einem Rechtsbehelf jedes von der Rechtsordnung in einem Verfahren zugelassene Gesuch verstanden, mit dem eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung angefochten werden kann, vgl. nur Creifelds, Rechtswörterbuch, 22. Aufl. 2017, „Rechtsbehelf“.

Hendricks

515

Kap. 8 Rz. 8.7

Internationale Verfahren

dass es sich nicht um ein Rechtsbehelfsverfahren im engeren Sinne handelt, für das beispielsweise die verfassungsrechtlichen Vorgaben für einen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) zum Tragen kommen.1 Vielmehr handelt es sich um ein Verfahren eigener Art. Aus völkerrechtlicher Sicht ist das Verfahren als diplomatisches Streiterledigungsmittel einzuordnen, und zwar als Verhandlung i. S. von Art. 33 Abs. 1 der UN-Charta, mit der Besonderheit, dass die im Abkommen definierten zuständigen Behörden unter Umgehung des normalen diplomatischen Verkehrs unmittelbar miteinander verhandeln können.2

8.7 Trotz im Regelfall guter Erfolgsaussichten bieten auch internationale Verständigungsverfahren keine Gewähr dafür, dass die gerügte abkommenswidrige Besteuerung auf jeden Fall beseitigt wird. Denn nach klassischen Verständigungsklauseln schulden die Vertragsstaaten lediglich das „Bemühen“, durch zwischenstaatliche Verständigung eine abkommenswidrige Besteuerung zu beseitigen (vgl. Art. 25 Abs. 2 Satz 1 OECD-MA). Vor diesem Hintergrund bleiben Verständigungsverfahren nicht selten erfolglos. Zwar werden Verständigungsverfahren durch die deutsche Finanzverwaltung überdurchschnittlich ernsthaft und engagiert betrieben; trotzdem enden ca. 10 % der Verfahren unter deutscher Beteiligung ohne Erfolg, d.h. die gerügte abkommenswidrige Besteuerung wird nicht durch das Verständigungsverfahren beseitigt.3 Für den Fall des Scheiterns eines Verständigungsverfahrens sollen die örtlichen Steuerbehörden nach einer Anweisung des deutschen Bundesfinanzministers prüfen, ob die Doppelbesteuerung durch einseitige deutsche Billigkeitsmaßnahmen abgemildert werden kann.4 Erfahrungsgemäß sind Anträge auf entsprechende Billigkeitsmaßnahmen jedoch nicht zwingend von Erfolg gekrönt.5 Selbst wenn man eine Billigkeitsmaßnahme erreichen kann, muss man erhebliche Zeit dafür kämpfen. 2. Überblick zu internationalen Schiedsverfahren

8.8 Mit Rücksicht auf die Schwächen klassischer Verständigungsverfahren ist es aus Sicht der Steuerpflichtigen sehr erfreulich, dass eine wachsende Zahl deutscher Doppelbesteuerungsabkommen zusätzlich zum Verständigungsverfahren die Durchführung eines Schiedsverfahrens vorsehen. Nach diesen Abkommen ist für den Fall der erfolglosen Durchführung eines Verständigungsverfahrens die Durchführung eines internationalen Schiedsverfahrens geboten oder jedenfalls möglich (Schiedsverfahren als subsidiäres Streitbeilegungsinstrument). Das Schiedsverfahren zielt auf die Bereinigung eines Besteuerungskonflikts durch Schiedsspruch ab6.

8.9 Zu unterscheiden sind zwei Arten von Schiedsverfahren. Sind die Vertragsstaaten im Falle des Scheiterns des Verständigungsverfahrens zur Anrufung eines Schiedsgerichts gezwungen, spricht man von einem obligatorischen Schiedsverfahren, entscheiden sie über ein solches Verfahren nach freiem Ermessen, handelt es sich um fakultative Schiedsverfahren.7 Aktuell 1 Drüen, IStR 2015, 609 (616); Schaumburg/Häck in Schaumburg, Rz. 19.90; kritisch zur Sicherung der Gesetzesbindung Mellinghoff, DStJG 36 [2013], 198 [Diskussionsbeitrag]). 2 Mülhausen, S. 83, 117 f.; Gloria, S. 162 f.; sowie Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 3. 3 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 27. 4 BMF, Merkblatt vom 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461 (437), Tz. 8.2. 5 Statistiken über den Erfolg von Billigkeitsanträgen im Anschluss an gescheiterte Verständigungsverfahren werden nicht geführt oder jedenfalls nicht veröffentlicht. 6 Vgl. nur Herlinghaus, IStR 2010, 125 (129 f.); Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 449 (450); Nientimp/ Tomson, IStR 2009, 615 (618). 7 Grundlegend hierzu Züger, S. 31 ff. und S. 73 ff.

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Hendricks

B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.11 Kap. 8

sehen lediglich neun deutsche Doppelbesteuerungsabkommen die Durchführung obligatorischer Schiedsverfahren vor (Art. 25 Abs. 5 DBA-Österreich1; Art. 25 Abs. 5 DBA-USA2; Art. 26 Abs. 5 DBA-Großbritannien3; Art. 26 Abs. 5 DBA-Schweiz4; Art. 25 Abs. 5 DBALiechtenstein; Art. 25 Abs. 5 DBA-Niederlande; Art. 24 Abs. 5 DBA-Luxemburg; Art. 25 Abs. 5 DBA-Australien; Art. 25 Abs. 5 DBA-Frankreich).5 Im Verhältnis zu drei weiteren Staaten sehen die Abkommen die fakultative Durchführung eines Schiedsverfahren vor (vgl. Art. 24 DBA-Japan6; Art. 25 Abs. 6 DBA-Kanada7; Art. 41 Abs. 5 DBA-Schweden8).9 Für den Bereich der Verrechnungspreise können abkommensberechtigte Steuerpflichtige die Durchführung eines obligatorischen Schiedsverfahrens indes vor allem auf Grundlage des Europäischen Übereinkommens Nr. 90/436/EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (nachfolgend EUSchiedskonvention) beanspruchen.10 Hierbei handelt es sich um ein auf Art. 293 EG-Vertrag gestütztes multilaterales völkerrechtliches Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Es hat in der Praxis mittlerweile recht große Bedeutung erlangt.11

8.10

B. Internationale Verständigungsverfahren I. Rechtsgrundlagen und Durchführungsbestimmungen Beim Verständigungsverfahren handelt es sich um ein antragsgebundenes zwischenstaatliches Verwaltungsverfahren (s. Rz. 8.6). Rechtsgrundlage sind die jeweiligen Verständigungs-

1 Vgl. hierzu Lang/Stefaner in Wassermeyer, Art. 25 DBA-Österreich Rz. 3 ff.; Züger, Das Schiedsverfahren nach den neuen DBA Österreich-Deutschland in Gassner/Lang/Lechner, S. 245 ff.; Züger, Der EuGH als Schiedsgericht im neuen DBA Österreich-Deutschland, SWI 1999, 19 ff. 2 Hierzu im Einzelnen Schönfeld, Das neue Verständigungs- und Schiedsverfahren nach Art. 25 DBA-USA, Ubg 2008, 544; Loh/Peters, Das neue Schiedsverfahren im DBA-USA, RIW 2008, 294; Eimermann in Wassermeyer, Art. 25 DBA-USA Rz. 40 ff.; BMF, Schreiben vom 16.1.2009, Verständigungsvereinbarung über die Anwendung des Schiedsverfahrens, BStBl. I 2009, 345. 3 Zu dieser Klausel vgl. Beckmann in Wassermeyer, Art. 25 DBA-Großbritannien Rz. 6; Kuntschik/ Bödefeld, IStR 2012, 137. 4 Vgl. hierzu Hardt in Wassermeyer, Art. 26 DBA-Schweiz Rz. 230 ff.; Kuntschik/Bödefeld, IStR 2012, 137. 5 In Kürze dürften Abkommen hinzukommen. 6 Vgl. hierzu Schrepfer/Stuffer in Wassermeyer, Art. 24 DBA-Japan Rz. 29 ff. 7 Zu dieser Klausel vgl. W. Wassermeyer in Wassermeyer, Art. 25 DBA-Großbritannien Rz. 42; Lüthi in Gosch/Kroppen/Grotherr, Art. 25 DBA-Kanada Rz. 5. 8 Vgl. hierzu Lüthi in Gosch/Kroppen/Grotherr, Art. 41 DBA-Schweden Rz. 5. 9 Das DBA-Dänemark sieht demgegenüber die – fakultative – Möglichkeit vor, ein unabhängiges Gremium mit einer gutachtlichen Äußerung zu einer umstrittenen abkommensrechtlichen Fragestellung einzuholen, vgl. Art. 44 Abs. 3 DBA-Dänemark sowie Krabbe in in Wassermeyer, Art. 44 DBA-Dänemark Rz. 4. 10 ABl.EG Nr. L 225 S. 20 ff.; sowie BGBl. 1993 II S. 1308, BStBl. 1993 I S. 818 und BGBl. 1995 II S. 84, BStBl. 1995 I S. 166; hierzu ausführlich auch Hendricks in Wassermeyer/Baumhoff, Rz. 10.30 ff. 11 Vgl. hierzu im Einzelnen Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268; dies., IStR 2010, 474; Elicker/Stockburger, IWB Fach 11 EG Gruppe 2 S. 661; Hinnekens, EC Tax Review 2010, 109; Krabbe, IStR 1996, 5; Loh/Haverkamp, BB 2011, 1303; Vögele/Forster, IStR 2006, 537; vertiefend auch die Kommentierung von Krabbe in Wassermeyer, Band I, EU-SchÜ.

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517

8.11

Kap. 8 Rz. 8.12

Internationale Verfahren

klauseln der zwischen den Staaten geltenden DBA. Das BMF hat mit Schreiben vom 13.7.2006 ein umfangreiches Merkblatt herausgegeben, welches Einzelheiten zu Einleitung, Durchführung und Umsetzung von Verständigungsvereinbarungen enthält.1 Daneben hat auch die OECD ein sog. „Manual on Effective Mutual Agreement Procedures“ veröffentlicht, welches durch konkrete Handlungsempfehlungen die praktische Durchführung des Verfahrens vereinfachen und die Transparenz des Verfahrens erhöhen soll.2

II. Ablauf eines Verständigungsverfahrens im Überblick 8.12 Das Verständigungsverfahren lässt sich in drei Phasen einteilen, wobei die letzte Phase nach überwiegender Auffassung rein fakultativer Natur ist.3 1. Innerstaatliches Vorprüfungsverfahren

8.13 Die erste Phase ist ein rein innerstaatlicher Verfahrensabschnitt, der grundsätzlich vom Ansässigkeitsstaat abgewickelt wird.4 Dieser Abschnitt wird in Deutschland auch als Vorprüfungsoder Abhilfeverfahren bezeichnet. Innerhalb dieser ersten Phase klärt die angerufene nationale Behörde vorab, ob dem Begehren des Steuerpflichtigen unilateral abgeholfen werden kann (ausführlich Rz. 8.29). 2. Zwischenstaatliche Verständigungen

8.14 Im Falle eines zulässigen und begründeten Antrags geht das Verfahren dann in die zweite – zwischenstaatliche – Phase über. Erst in dieser zweiten Phase findet das eigentliche Verständigungsverfahren zwischen den beteiligten nationalen Behörden statt (ausführlich Rz. 8.33). 3. Innerstaatliche Umsetzung der Verständigung

8.15 Die dritte Phase findet nur statt, wenn sich die Unterhändler der Staaten auf eine gemeinsame Lösung geeinigt haben. Sie betrifft die innerstaatliche Umsetzung der zwischen den Staaten erreichten Verständigung (ausführlich Rz. 8.44).

III. Antrag auf Einleitung 1. Notwendigkeit eines Antrags

8.16 Das Verständigungsverfahren nach dem Vorbild von Art. 25 Abs. 1 OECD-MA ist im Gegensatz zum Konsultationsverfahren antragsgebunden (vgl. Art. 25 Abs. 3 OECD-MA). Die 1 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461. 2 Abrufbar unter: http://www.oecd.org/ctp/dispute/manualoneffectivemutualagreementprocedu res-index.htm sowie auf der Webseite des BZSt. Vgl. ferner die auf der Webseite der OECD hinterlegten Länderprofile sowie Statistiken zu Anzahl und Laufzeiten von Verständigungsverfahren, abrufbar unter: http://www.oecd.org/ctp/dispute/countrymapprofiles.htm. Die Deutschland betreffende Statistik ist ebenfalls auch über die Webseite des BZSt über die Rubrik „Verständigungsverfahren – links“ zu erreichen. Zur Verbesserung von Streitbeilegungsverfahren bei DBA-Sachverhalten innerhalb der EU vgl. KOM (2011) 712 endg. 3 So Flüchter, IStR 2012, 694 f.; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 71. 4 MK Nr. 7 zu Art. 25.

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B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.19 Kap. 8

Antragsbefugnis besteht nach Art. 25 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA unbeschadet von innerstaatlichen Rechtsbehelfen. Auch das BMF-Merkblatt geht davon aus, dass der Umstand, dass der nationale Rechtsweg noch nicht erschöpft ist, einem Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens nicht entgegensteht.1 Für die Praxis ist zu beachten, dass nach dem Verständnis des BMF der Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens nicht den Antrag auf Erstattung ausländischer Quellensteuer ersetzt.2 Letzterer sollte daher vorab gestellt werden.3 Erst bei Ablehnung der Erstattung ist die Einleitung eines Verständigungsverfahrens anzustreben.4 2. Antragsteller Als Antragsteller kommt jede Person in Betracht, die geltend machen kann, dass Maßnahmen eines Vertragsstaats oder beider Vertragsstaaten für sie zu einer Besteuerung führen oder führen werden, die dem jeweiligen Abkommen nicht entspricht (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA). Dies setzt voraus, dass sich der Antragsteller überhaupt auf das Abkommen berufen kann (Abkommensberechtigung). Abkommensberechtigt ist nach den meisten Klauseln zum persönlichen Anwendungsbereich eines Abkommens (vgl. Art. 1 OECD-MA), wer in zumindest einem Vertragsstaat ansässig ist.5 Darüber hinaus sind auch Personen antragsberechtigt, die sich auf das Verbot der Staatsangehörigkeitsdiskriminierung berufen.6 Schließlich verweist das BMF-Merkblatt darauf, dass der Antrag zusätzlich von jeder Person gestellt werden kann, die durch die abkommenswidrige Besteuerung betroffen ist, was in der Praxis etwa bei Haftungsfällen der Fall sein kann.7

8.17

Nach Verständigungsklauseln, die dem Muster der OECD entsprechen, muss die antragstellende Person im Rahmen ihres Antrags geltend machen, dass Maßnahmen eines Vertragsstaats oder beider Vertragsstaaten „für sie“ zu einer Besteuerung führen (oder führen werden), die dem jeweiligen Abkommen nicht entspricht (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA). Durch dieses Merkmal der Selbstbetroffenheit unterscheidet sich der antragsbefugte Steuerpflichtige von einem nicht antragsbefugten Dritten. Gerade wenn am doppelbesteuerten Sachverhalt verschiedene Steuerpflichtige beteiligt sind, kann die Frage im Einzelfall schwierig zu beantworten sein, welcher Steuerpflichtige abkommenswidrig besteuert wurde.

8.18

Dies gilt insbesondere für Verrechnungspreissachverhalte, bei denen nicht ohne weiteres erkennbar ist, welcher Staat ein zu hohes Einkommen besteuert hat. Das Merkmal Selbstbetroffenheit wird daher insbesondere für Verrechnungspreissachverhalte zu Recht weit verstanden.8 Hier ist zwar häufig evident, dass es zu einer abkommenswidrigen Besteuerung in Form einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung gekommen ist; welcher der beiden Staaten den Fremdvergleichsgrundsatz unzutreffend angewendet hat – und damit gegen die Klauseln zur Gewinnabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen verstoßen hat (Art. 9 OECD-

8.19

1 2 3 4 5

BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.5. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.6. Krämer, IWB 2007, F. 3 G. 2, 1331 (1332). Krämer, IWB 2007, F. 3 G. 2, 1331 (1332). Ausführlich zur Abkommensberechtigung Dremel in Schönfeld/Ditz, Art. 1 OECD-MA Rz. 31 ff. 6 MK Nr. 17, 18 zu Art. 25; darauf verweisend Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 26. 7 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.2. Hierbei handelt es sich um eine nicht vom Musterabkommen vorgesehene zusätzliche nationale Möglichkeit. 8 Vgl. hierzu bereits Hendricks in Wassermeyer/Baumhoff, Rz. 10.10 m. w. N.

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519

Kap. 8 Rz. 8.20

Internationale Verfahren

MA) – ist hingegen weniger evident und im Einzelfall vor Durchführung des Verständigungsverfahrens schwer zu beurteilen. Es ist jedoch nicht sachgerecht, dem Antragsteller das Risiko aufzuerlegen, dass sein Verständigungsantrag erfolglos bleibt, weil sich letztendlich herausstellt, dass nicht „seine“ Besteuerung, sondern die Besteuerung des mit ihm verbundenen Unternehmens als abkommenswidrig zu qualifizieren war. Im Rahmen einer systematischen Auslegung unter Berücksichtigung der jeweiligen Gewinnabgrenzungsklausel (Art. 9 OECD-MA) ist das Merkmal der Selbstbetroffenheit bei Verrechnungspreissachverhalten weit zu interpretieren: Es reicht aus, wenn der Antragsteller geltend macht, dass entweder seine (inländische) Besteuerung oder die (ausländische) Besteuerung des mit ihm verbundenen Unternehmens als abkommenswidrig zu qualifizieren ist.1 Eine Selbstbetroffenheit ist in diesen Fällen also auch dann zu bejahen, wenn der Antragsteller offenlässt, welcher Staat sich abkommenswidrig verhalten hat.2 3. Adressat des Antrags

8.20 Adressat des Antrags ist die Behörde des Staates, in welcher der Antragsteller ansässig ist. Lediglich wenn eine Diskriminierung gerügt wird, ist der Antrag abweichend hiervon an die zuständige Behörde des Staates zu richten, dessen Staatsangehöriger der Steuerpflichtige ist.3 In Deutschland hat das Bundesfinanzministerium4 die Wahrnehmung der Aufgaben für den Bereich des Verständigungsverfahrens nach § 5 Abs. 1 Nr. 5 FVG auf das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) in Bonn übertragen. Ungeachtet dessen behält sich das BMF in Einzelfällen vor, das Verfahren selbst zu führen.5 Der Antrag kann in Deutschland zudem bei dem für die Besteuerung des abkommensberechtigten Steuerpflichtigen örtlich zuständigen Finanzamt gestellt werden.6 Dieses soll vorab zu dem Antrag Stellung nehmen und ihn dann zeitnah an das BZSt weiterleiten.7 4. Antragsfrist

8.21 Nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 OECD-MA muss der Antrag innerhalb von drei Jahren nach der „ersten Mitteilung der Maßnahme“, die zu der abkommenswidrigen Besteuerung führt, gestellt werden. Der Steuerausschuss der OECD versteht die Frist von drei Jahren als Minimum, die Vertragsstaaten können folglich in ihren Abkommen auch längere Fristen vereinbaren.8

8.22 Die Drei-Jahres-Frist entspricht der regelmäßigen deutschen Abkommenspraxis. Einige wenige Abkommen sehen eine Zwei-Jahres-Frist, das DBA-USA hingegen eine Vier-Jahres-Frist

1 Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 45 f. sowie Rz. 118; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 33. 2 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.3.1. 3 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.3. 4 Die formale Zuständigkeit des BMF folgt aus der in allen deutschen DBA getroffenen Spezialzuweisung entsprechend Art. 3 Abs. 1 lit. f OECD-MA. Originär zuständig wäre demgegenüber das Außenministerium. Eine Übersicht zu den zuständigen Behörden der OECD-Mitgliedstaaten mit den jeweiligen Kontaktadressen findet sich auf der Webseite der OECD unter der Rubrik „country map profiles“. 5 BMF-Schreiben v. 29.11.2004 – IV B 6 – S 1300 – 320/04, BStBl. I 2004, 1144; BMF, Merkblatt v. 13.8.2006 – IV B 6 - S 1300 – 340/06. 6 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.4. 7 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.4. 8 Vgl. MK Nr. 20 zu Art. 25 OECD-MA.

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B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.24 Kap. 8

vor.1 Sofern das jeweilige DBA keine Antragsfrist vorgibt, stimmt die deutsche Finanzverwaltung im Regelfall einer Einleitung des Verfahrens innerhalb einer Frist von vier Jahren zu.2 Unter „erster Mitteilung“ ist im Regelfall die Bekanntgabe des abkommenswidrigen Steuerbescheides zu verstehen.3 Spätere Änderungsbescheide können nur einen neuen Fristbeginn auslösen, wenn sie eine neue als abkommenswidrig angesehene Besteuerung mitteilten, etwa im Falle einer Verböserung.4 Die Frist ist gewahrt, wenn der Antrag vor Fristablauf bei der zuständigen Behörde eingeht.5 Nach Ablauf dieser Frist scheidet ein Anspruch auf Durchführung des Verständigungsverfahrens aus.6 Gerade bei Verrechnungspreissachverhalten ist oftmals schwer zu beurteilen, welcher der beiden Staaten letztendlich abkommenswidrig agiert hat. Bei der Berechnung der Antragsfrist an die Bekanntgabe des „tatsächlich abkommenswidrigen Steuerbescheids“ anzuknüpfen, würde aus Sicht des Antragstellers nicht nur zu erheblicher Unsicherheit bei der Berechnung der Antragsfrist führen, sondern darüber hinaus in der Praxis eine Vielzahl präventiver Anträge provozieren. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass sowohl die OECD7 als auch das BMF8 in diesen Fällen auf die jüngere Maßnahme abstellen.9 Beruht die gerügte Abkommenswidrigkeit – wie in Verrechnungspreisfällen – auf dem Zusammenspiel der Besteuerung beider Staaten, so kommt es für den Fristbeginn nach der Verwaltungsauffassung auf die Bekanntgabe des zeitlich „letzten Bescheides“ an.10

8.23

5. Antragsform und Antragsinhalt Die Verständigungsklauseln selbst enthalten regelmäßig keine besonderen Formvorgaben für den zu stellenden Antrag. Der Musterkommentar der OECD geht davon aus, dass die zuständigen Behörden erforderlichenfalls besondere Verfahrensvorschriften erlassen dürfen.11 Deutschland hat von dieser Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht, so dass sich die Form nach dem Verständnis des Musterkommentars zu Art. 25 OECD-MA nach den bei nationalen „Einwendungen“ zu beachtenden Vorgaben richtet.12 Stellt man für Deutschland auf die Regeln des Rechtsbehelfsverfahrens ab, kann der Antrag dementsprechend schriftlich oder zur Niederschrift erklärt werden.13 In der Sache muss die den Antrag stellende Person der 1 Vgl. die Zusammenstellung in Anlage 2 zum BMF-Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461 (476). 2 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.2; vgl. jedoch FG Köln v. 14.4.2016 – 2 K 2402/13, EFG 2016, 1218. 3 FG Köln v. 14.4.2016 – 2 K 2809/13, EFG 2016, 1216 mit Anm. Hennigfeld; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 38. 4 Zutreffend FG Köln v. 14.4.2016 – 2 K 2809/13, EFG 2016, 1216; Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art 25 OECD-MA Rz. 38; Flüchter, ISR 2016, 311 (313). 5 Das BMF-Merkblatt v. 13.7.2006 stellt in Tz. 2.2.2 klar, dass für die Fristwahrung sowohl der Eingang beim örtlich zuständigen Finanzamt als auch beim BZSt genügt. 6 Vgl. FG Köln v. 14.4.2016 – 2 K 2809/13, EFG 2016, 1216. 7 OECD-Verrechnungspreisleitlinien, Tz. 4.49 Satz 5. 8 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.2.1. 9 Ebenso Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 87 f.; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 38; Schmitz in Strunk/Kaminski/Köhler, Art. 25 OECD-MA Rz. 29; Becker in Haase, Art. 25 OECD-MA Rz. 20. 10 So ausdrücklich BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.2.1 Satz 2. 11 MK Nr. 16 zu Art. 25. 12 MK Nr. 16 zu Art. 25. 13 Vgl. für das Einspruchsverfahren § 357 Abs. 1 Satz 1 AO.

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8.24

Kap. 8 Rz. 8.25

Internationale Verfahren

Auffassung sein, dass „Maßnahmen eines Vertragsstaates oder beider Vertragsstaaten für sie zu einer Besteuerung führen oder führen werden, die diesem Abkommen nicht entspricht“.1 Vor diesem Hintergrund muss im Rahmen des Antrags eine abkommenswidrige Besteuerung geltend gemacht werden.

8.25 Das Vorliegen einer Doppelbesteuerung muss hingegen nicht geltend gemacht werden.2 Es genügt bereits, dass die Besteuerung eines Vertragsstaates oder beider Vertragsstaaten einer Bestimmung des Abkommens unmittelbar widerspricht. Demzufolge kann auch dann eine abkommenswidrige Besteuerung durch einen der beiden Staaten gerügt werden, wenn der andere Staat sein Besteuerungsrecht gar nicht ausübt – beispielsweise weil dessen innerstaatliches Recht eine solche Besteuerung nicht vorsieht.3 Gleichwohl zielen in der Praxis die meisten Anträge auf die Beseitigung einer tatsächlichen Doppelbesteuerung ab.

8.26 Im Zeitpunkt der Antragstellung muss die gerügte abkommenswidrige Besteuerung noch nicht eingetreten sein. Es reicht aus, dass der Antragsteller rügt, dass die jeweiligen Maßnahmen zu einer abkommenswidrigen Besteuerung „führen werden“. Das Verständigungsverfahren kann demzufolge auch rein präventiv beantragt werden.4 Der Musterkommentar betont indes, dass das Risiko einer abkommenswidrigen Besteuerung in diesem Fall nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sein muss. Entscheidend hierbei sei die Sicht des Steuerpflichtigen.5 Diese müsse jedoch auf vertretbare und glaubhafte Tatsachen gestützt werden. Die nationalen Steuerbehörden sollten die Befassung mit dem Antrag nicht allein deswegen ablehnen, weil z. B. nach innerstaatlichen Beweisstandards eine solche Besteuerung nicht bewiesen sei.6 Vergleichsweise milde formuliert daher auch das BMF-Merkblatt, dass im Falle einer drohenden Doppelbesteuerung diese nicht nachgewiesen werden muss, es sei denn, dass das einschlägige Abkommen selbst einen entsprechenden Nachweis verlangt.7

8.27 Weitere verbindliche Inhaltsangaben sind weder nach Abkommensrecht noch von Seiten der deutschen Finanzverwaltung vorgesehen. Zur Beschleunigung des Verfahrens empfiehlt es sich jedoch, dass der Antrag bereits die folgenden Angaben enthält (Sollangaben):8

8.28 – Name, Anschrift (Sitz), Steuernummer und örtlich zuständiges Finanzamt des Abkommensberechtigten; – detaillierte Angaben zu den für den Fall relevanten Tatsachen und Umständen; – Angaben zu den vom Antrag betroffenen Besteuerungszeiträumen; – Kopien der Steuerbescheide, des Betriebsprüfungsberichts oder vergleichbarer Dokumente, die zu der behaupteten Doppelbesteuerung geführt haben sowie weiterer bedeutsamer Dokumente (z. B. Verträge, Anträge auf Erstattung/Ermäßigung ausländischer Quellensteuer);

1 2 3 4 5 6 7 8

Art. 25 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA. So ausdrücklich MK Nr. 13 zu Art. 25. Vgl. MK Nr. 13 zu Art. 25. Vgl. hierzu insbesondere Bär, S. 200 ff.; sowie Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 53 ff. MK Nr. 14 zu Art. 25. MK Nr. 14 zu Art. 25. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.3.1. Aufzählung nach BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.3.3.

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B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.31 Kap. 8

– detaillierte Angaben zu etwaigen außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren und etwaigen den Fall betreffenden Gerichtsurteilen im In- und Ausland; – in Fällen der Gewinnabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen und bei Betriebsstätten die Angaben und Unterlagen gem. Tz. 11.3.2 des BMF-Merkblatts; – eine Darlegung seitens des Abkommensberechtigten, inwiefern nach seiner Auffassung die Besteuerung im In- oder Ausland nicht dem Abkommen entspricht.

IV. Entscheidung über den Antrag 1. Innerstaatliches Vorprüfungsverfahren Wurde ein Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens gestellt, erfolgt die Prüfung der vorgenannten Zulässigkeitsvoraussetzungen im Rahmen eines behördeninternen Vorprüfungsverfahrens. Die zuständige Behörde – das BZSt – hat dabei vorrangig darüber zu entscheiden, ob dem Begehren bereits durch innerstaatliche Maßnahmen abgeholfen werden kann. Die entsprechende Abhilfeprüfung erfolgt von Amts wegen.1 Für den Fall, dass das BZSt die mit dem Antrag erfolgte Darlegung der abkommenswidrigen Besteuerung für begründet hält, unilateral aber nicht abhelfen möchte oder kann,2 leitet es das zwischenstaatliche Verfahren ein.

8.29

2. Anspruch auf Verfahrenseinleitung Fraglich ist, ob dem abkommensberechtigten Steuerpflichtigen ein Anspruch zusteht, wenn die vorgehend dargestellten Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Ob ein solcher Anspruch besteht, hängt maßgeblich vom konkreten Wortlaut der einschlägigen Verständigungsklausel ab. Einzelne Klauseln stellen die Verfahrenseinleitung in das Ermessen der Behörde, die über an Antrag zu entscheiden hat („kann“, so z. B. Art. 13 Abs. 2 DBA-Schweiz 1931/19593 sowie Art. 25 Abs. 2 DBA-Frankreich 19574). Entspricht die Verständigungsklausel jedoch dem Wortlaut des OECD-Musters5, besteht nach zutreffender Auffassung ein Anspruch auf Verfahrenseinleitung.6

8.30

Kommen die zuständigen Beamten des BZSt zu dem Ergebnis, dass der Rüge der abkommenswidrigen Besteuerung weder unilateral abgeholfen noch ein zwischenstaatliches Verständigungsverfahren eröffnet werden soll, unterrichtet das BZSt unverzüglich den Antragsteller so-

8.31

1 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.4.1. 2 Das BMF-Merkblatt macht die Verfahrenseinleitung davon abhängig, dass „die materiellen Voraussetzungen für das Verständigungsverfahren“ vorliegen (vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.4.3). Dies bedeutet, dass die Verwaltung die geltend gemachten Einwendungen für begründet hält, eine unilateraler Abhilfe aber ablehnt, vgl. im Einzelnen Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 127. 3 BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583. 4 FG Köln v. 14.4.2016 – 2 K 2402/13, EFG 2016, 1219. 5 Nach Art. 25 Abs. 2 Satz 1 OECD-MA „wird sich“ die zuständige Behörde „bemühen“. Es heißt nicht sie „kann“ oder „soll“ sich bemühen. 6 Zutreffend zuletzt FG Köln v. 14.4.2015 – 2 K 1205/15, EFG 2016, 115; instruktiv Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 127; ebenso bereits Mülhausen, S. 151; Gloria, S. 263 ff.; Leising, IStR 2002, 114 (118).

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Kap. 8 Rz. 8.32

Internationale Verfahren

wie die zuständige Landesfinanzverwaltung über die Entscheidung.1 Lehnt das BZSt auf diesem Wege den Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens ab, stellt sich die Frage, auf welchem Wege die Rechtmäßigkeit der behördlichen Ablehnung überprüft werden kann. Denkbar sind eine allgemeine Leistungsklage (§ 40 Abs. 1 3. Fall FGO) sowie eine Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 2. Fall FGO).

8.32 Bislang ist nicht höchstrichterlich geklärt, auf welchem prozessualen Weg der Steuerpflichtige die Verwaltung zur Durchführung eines Verständigungsverfahrens bewegen kann. Für die Klage auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens hat der BFH bislang offengelassen, welche der beiden Klagearten statthaft ist.2 Das Finanzgericht Köln hält ebenso wie das Finanzgericht Hamburg in diesen Fällen die allgemeine Leistungsklage für statthaft.3 Demgegenüber wird in der Literatur zum Teil die Verpflichtungsklage als die richtige Klageart angesehen.4 Dies ist v.a. für die Frage von Bedeutung, ob vor Klageerhebung ein Einspruchsverfahren durchgeführt werden muss. Ein solches Klageverfahren ist lediglich im Falle einer Verpflichtungsklage obligatorisch (vgl. § 44 Abs. 1 FGO, hierzu Rz. 3.474). Wäre hingegen die allgemeine Leistungsklage die richtige Klageart, könnte der Steuerpflichtige auf ein Einspruchsverfahren verzichten und unmittelbar klagen. Da die Frage bislang nicht höchstrichterlich geklärt ist, sollte auf ein Einspruchsverfahren aktuell nicht verzichtet werden.

V. Zwischenstaatliches Verständigungsverfahren 1. Einigungsbemühungen

8.33 Das eigentliche Verständigungsverfahren beginnt damit, dass die zuständige Behörde, an die sich der Antragsteller gewandt hat, an die zuständige Behörde des anderen Staates mit dem Ziel herantritt, eine Verständigung zu erreichen.5 Durch die Verständigung soll die abkommenswidrige Besteuerung vermieden werden (vgl. den Wortlaut von Abs. 2 Satz 1 a. E.). Beide Behörden sind gehalten, sich um eine Verständigung zu „bemühen“; es besteht jedoch – schon nach dem Wortlaut der meisten Verständigungsklauseln – keine Pflicht, eine Einigung zu erreichen.

8.34 Aus Art. 25 Abs. 4 MA folgt zunächst, dass die zuständigen nationalen Behörden unmittelbar miteinander verkehren können, ohne den diplomatischen Weg über das Außenministerium beschreiten zu müssen.6 Entsprechend können die zuständigen Behörden miteinander schriftlich, durch den Austausch von Abschriften, telefonisch sowie im direkten Gespräch miteinander kommunizieren.7 Der Sache nach handelt es sich bei der zwischenstaatlichen Kommuni1 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.4.3. 2 So ausdrücklich BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583. 3 FG Köln v. 14.4.2015 – 2 K 1205/15, EFG 2016, 115; FG Hamburg v. 13.7.2000 – V 2/97, IStR 2003, 391, rkr. 4 So z. B. Leising, IStR 2002, 114 (115 f.). Zwar handelt es sich bei dem begehrten zwischenstaatlichen Verständigungsverfahren nicht um einen Verwaltungsakt, der Voraussetzung für eine Verpflichtungsklage ist, sondern um Verwaltungsrealhandeln. Wird ein beantragtes Verwaltungsrealhandeln durch einen Verwaltungsakt abgelehnt, ist nach der nicht ganz einheitlichen Rechtsprechung eine Verpflichtungsklage statthaft (so z. B. für den Fall der abgelehnten Akteneinsicht: BFH v. 16.12.1987 – I R 66/84, BFH/NV 1988, 319; zustimmend z. B. Rößler, DStZ 1995, 349). 5 MK Nr. 37 Satz 1 zu Art. 25. 6 Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 181; Engler/Elbert in Vögele/Borstell/Engler, Rz. F 255. 7 MK Nr. 58 zu Art. 25.

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B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.37 Kap. 8

kation um Verhandlungen i. S. von Art. 33 Abs. 1 der UN-Charta, mit der Besonderheit, dass die im Abkommen definierten zuständigen Behörden unter Umgehung des normalen diplomatischen Verkehrs unmittelbar miteinander verhandeln können.1 Keinen unmittelbaren Behördenverkehr sehen dagegen die DBA Griechenland und Israel vor. Hier sind die Behörden gezwungen, den diplomatischen Weg über die Außenministerien zu beschreiten.2 Auch das DBA Frankreich nennt zwar nicht explizit den unmittelbaren Behördenverkehr. Nach Art. 25 Abs. 4 des DBA Frankreich kann indes eine Verständigung durch „mündliche Besprechung“ herbeigeführt werden, was zumindest eine konkludente Ermächtigung zum unmittelbaren Behördenverkehr beinhaltet.3 Weitere Regelungen hinsichtlich des Verfahrens trifft das Musterabkommen nicht. Auch das BMF-Merkblatt verweist lediglich darauf, dass sich der konkrete Verhandlungsablauf an den Verhältnissen des Einzelfalls und dem Gebot der Zweckmäßigkeit orientiert.4 2. Praktischer Ablauf in Deutschland Zuständig für die Durchführung der Verständigungen sind innerhalb des BZSt die Referate St III 1 und St III 3, wobei zumeist ein Referent für eine Gruppe oder einzelne bedeutende Länder zuständig ist. Mit Staaten, mit denen Deutschland intensive und umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen unterhält, finden im Regelfall zweimal jährlich Treffen der zuständigen Delegationen statt, bei weniger intensiven Wirtschaftsbeziehungen mindestens einmal jährlich.

8.35

Im Rahmen dieser Treffen werden die zu diesem Zeitpunkt anhängigen Verfahren bilateral erörtert. Dabei bemühen sich die Delegationen im Idealfall darum, jeden Einzelfall isoliert zu erörtern und einer individuellen, abkommenskonformen Verständigungslösung zuzuführen. Bis vor einigen Jahren wurden Verständigungsverfahren dadurch abgeschlossen, dass eine Vielzahl anhängiger Steuerfälle in einem „Gesamtpaket“ verhandelt und „en bloc“ zum Gegenstand einer einzelfallübergreifenden Verständigungslösung gemacht werden. Dem Vernehmen nach wurden solche einzelfallübergreifenden Verständigungslösungen häufig nicht nach den eigentlich einschlägigen Abkommensklauseln, sondern – im Rahmen eines zwischenstaatlichen Gebens und Nehmens – unter Berücksichtigung der jeweils betroffenen Steuervolumen ausgehandelt (Quid-pro-quo-Lösung). In diesen Fällen stand naturgemäß nicht die abkommensrechtliche Einzelfallgerechtigkeit im Vordergrund; vielmehr war ein solches Gesamtpaket durch fiskalische Erwägungen getrieben.5

8.36

Insbesondere der Musterkommentar der OECD verweist darauf, dass es eine Selbstverständlichkeit sei, dass sich die zuständigen Behörden in erster Linie an die Vorschriften ihres nationalen Steuerrechts und des Abkommens halten. Erst nachrangig sei eine von Rechtsprüfungen losgelöste Billigkeitsregelung zu suchen.6 Mit Blick auf den Grundsatz der Ge-

8.37

1 Mülhausen, S. 83, 117 f.; Gloria, S. 162 f.; sowie Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 3. 2 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 234. 3 Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 191 sowie Rz. 192 ff. mit umfangreichen Nachw. zu den einzelnen Klauseln der von Deutschland abgeschlossenen DBA. 4 Ein Überblick zu den in anderen Ländern erlassenen Richtlinien zur Durchführung des Verständigungsverfahrens findet sich bei Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 41 sowie Bär, S. 73 f. 5 Vgl. bereits Hendricks in Wassermeyer/Baumhoff, Rz. 10.21. 6 MK Nr. 38 zu Art. 25.

Hendricks

525

Kap. 8 Rz. 8.38

Internationale Verfahren

setzmäßigkeit der Verwaltung ist das vorgehend skizzierte Vorgehen der Verwaltungen auch seitens der Literatur erheblich kritisiert worden.1 Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass in der aktuellen Praxis die meisten beteiligten Staaten darum bemüht sein sollen, eine abkommenskonforme Besteuerung des jeweiligen Einzelfalls sicherzustellen. 3. Völkerrechtlicher Vertrag unter Zustimmungsvorbehalt

8.38 Können sich die betroffenen Staaten auf eine Lösung des konkreten Steuerfalles einigen, wird der Inhalt der Einigung im Allgemeinen schriftlich fixiert.2 Nach überwiegender Ansicht handelt es sich bei einer solchen Vereinbarung um einen völkerrechtlichen Vertrag i. S. von Art. 59 Abs. 2 GG.3 In der deutschen Verständigungspraxis wird die zwischenstaatliche Verständigungsvereinbarung in aller Regel mit einer Klausel verbunden, nach der die zwischenstaatliche Vereinbarung unter dem Vorbehalt steht, dass der Steuerpflichtige der Vereinbarung zustimmt4 und für verständigungskonforme Steuerbescheide einen Einspruchsverzicht erklärt.5 Ein entsprechender Zustimmungsvorbehalt ist Bestandteil der Vereinbarung über das Inkrafttreten der Verständigungsvereinbarung. Beide Erklärungen des Steuerpflichtigen müssen vorliegen, damit die Vereinbarung zwischenstaatliche Bindungswirkung entfaltet. 4. Dauer des Verfahrens

8.39 Die Länge des Verfahrens gehört zu den im Rahmen des Verständigungsverfahrens am meisten kritisierten Aspekten.6 So können die Komplexität mancher Verfahren wie auch Divergenzen hinsichtlich Verfahren, Rechtssystem und Aufzeichnungs- sowie Buchführungspflichten zwischen den betroffenen Staaten oftmals zu einer mehrjährigen Verfahrensdauer führen.7 Die OECD empfiehlt im Manual on Effective Mutual Agreement Procedures (MEMAP), dass ein erstes Positionspapier innerhalb von sechs Monaten nach Annahme des Antrags auf Verfahrenseinleitung erstellt werden soll. Die Antwort der beteiligten ausländischen Behörde solle dann innerhalb von sechs Monaten erfolgen und die entsprechende Einigung dann innerhalb von 24 Monaten ab Annahme des Verfahrens erreicht sein.8 Zur Beschleunigung des Verfahrens empfiehlt die OECD vorab im Rahmen eines persönlichen Kontaktes oder einer Telefonkonferenz zu klären, ob die intendierten Berichtigungen in dem anderen Staat Anlass zu Schwierigkeiten geben werden.9

1 So verweist etwa Bär, S. 209 darauf, dass die Art. 25 Abs. 1 und 2 MA keine Ermächtigungsgrundlage darstellen würden, die es der Finanzverwaltung erlaubten vom Abkommens- oder innerstaatlichen Recht abzuweichen. 2 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 3.4. 3 So bereits Mülhausen, S. 132; ebenso z. B. Gloria, S. 176 ff. (180); Kerath, Maßstäbe zur Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen, 1995, S. 237 f.; Bär, S. 237; Stiewe, Die verfahrensrechtliche Umsetzung internationaler Verständigungsvereinbarungen (§ 175a AO), 2011, S. 136 f.; Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 156 m. w. N. 4 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 3.4. 5 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 4.2; Drüen in FG Wassermeyer, 2015, Nr. 68 Rz. 19. 6 Zu dem von der OECD veröffentlichten Datenmaterial vgl. Strotkemper, IStR 2016, 479 ff. 7 Dies gilt insbesondere für Verrechnungspreissachverhalte, vgl. OECD, Verrechnungspreisrichtlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen, S. 167. 8 OECD MEMAP 3.9, MEMAP Annex 1. 9 OECD, Verrechnungspreisrichtlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen, S. 167.

526

Hendricks

B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.43 Kap. 8

Belastbares statistisches Datenmaterial hinsichtlich der tatsächlichen Dauer liegt seitens der OECD bisher nicht vor. Nach Angaben der OECD lag die durchschnittliche Verfahrensdauer der von den OECD-Mitgliedstaaten betriebenen Verständigungsverfahren in 2015 bei 20,47 Monaten (in 2014 bei 23,79 Monaten).1 Da bei der Berechnung dieses Durchschnittswertes lediglich die Staaten berücksichtigt wurden, die in ihren jährlichen Berichten Angaben zur Länge der Verfahren gemacht haben, zahlreiche Staaten hierzu aber keine Angaben machen, dürfte die tatsächliche durchschnittliche Verfahrensdauer in der Praxis deutlich länger sein. Die Idealvorgabe von zwei Jahren wird in der Praxis wohl nur in der Hälfte aller Fälle eingehalten.2 Die deutsche Verwaltung ist im Regelfall um eine schnelle Verfahrensabwicklung bemüht. Verfolgt auch der andere Staat einen entsprechenden Ansatz und ist der fragliche Sachverhalt gut dokumentiert, darf man davon ausgehen, dass das Verfahren innerhalb von 18 bis 24 Monaten nach Antragstellung abgeschlossen ist.3

8.40

5. Stellung des Antragstellers im Verfahren Positivrechtliche Regelungen zu der Frage, über welche Rechte der Antragsteller im Verständigungsverfahren verfügt, finden sich weder auf Abkommens- noch auf innerstaatlicher Ebene. An dem zwischenstaatlichen Verfahren selbst – einem „government-to-government-process“4 – ist der Antragsteller nicht direkt beteiligt. Er ist weder Verfahrensbeteiligter, noch hat er nach der Rechtsprechung einen durchsetzbaren Anspruch auf rechtliches Gehör.5 Nach Antragstellung hat der Steuerpflichtige dementsprechend keinen unmittelbaren Einfluss mehr auf den Ausgang des Verfahrens oder den Inhalt der Verständigung.6 In der Praxis kann der Steuerpflichtige die zwischenstaatliche Verständigung über den Inhalt seines Antrages jedoch maßgeblich beeinflussen. Insbesondere durch eine mit entsprechenden Beweismitteln unterlegte überzeugende Sachverhaltsdarstellung kann er verhindern, dass die involvierten Staaten ihre Verständigung auf einen unzutreffenden Sachverhalt stützen.

8.41

In der Praxis gewährt die Finanzverwaltung dem Steuerpflichtigen innerhalb des Verständigungsverfahrens lediglich Anhörungs- und Mitwirkungsrechte. Das BMF-Merkblatt sieht insoweit eine intendierte Ermessensentscheidung („soll“) des BZSt vor, so dass von einer Unterrichtung des Steuerpflichtigen über Stand und Fortgang des Verfahrens nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann.7 Der Steuerpflichtige kann ferner Anträge stellen, sich zu den für die Verständigung erheblichen Tatsachen und Rechtsfragen äußern sowie sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen.8

8.42

6. Zustimmungserklärung und Einspruchsverzicht Zwar ist der Steuerpflichtige in Bezug auf das zwischenstaatliche Verständigungsverfahren kein Verfahrensbeteiligter; im innerstaatlichen Besteuerungsverfahren ist er jedoch Beteiligter i. S. von § 78 AO und als solcher zur Mitwirkung verpflichtet. Gelingt es den zuständigen Behörden, unter Zustimmungsvorbehalt eine zwischenstaatliche Verständigungsverein1 2 3 4 5 6 7 8

Veröffentlicht unter www.oecd.org. So Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 119. So jedenfalls die bisherigen Erfahrungen des Verfassers. So die Bezeichnung von Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 149. Vgl. etwa BFH v. 26.5.1982 – I 15/78, BStBl. II 1982, S. 583 (585). Drüen in FG Wassermeyer, 2015, Nr. 68 Rz. 20; Decker, PIStB 2002, 193 (198). BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 3.3.1. Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 149 ff.

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527

8.43

Kap. 8 Rz. 8.44

Internationale Verfahren

barung zu schließen, wird der Steuerpflichtige durch das BZSt schriftlich über den Abschluss und den Inhalt der Vereinbarung informiert. Er wird aufgefordert, schriftlich sein Einverständnis mit der zwischenstaatlichen Verständigungsvereinbarung zu erklären. Zudem wird er aufgefordert, zu erklären, dass schwebende innerstaatliche Rechtsbehelfsverfahren mit der Umsetzung der Verständigungsvereinbarung ihre Erledigung finden. Weiter muss er nach § 354 Abs. 1a AO auf Einsprüche gegen zukünftige1 verständigungskonforme Steuerbescheide verzichten.2 Ist bereits ein Einspruchs- oder Klageverfahren anhängig, muss der Steuerpflichtige den Rechtsbehelf insoweit nach § 362 Abs. 1a AO, § 72 Abs. 1a FGO zurücknehmen. Gibt der Steuerpflichtige die geforderten Erklärungen ab, wird die Verständigungslösung zwischenstaatlich verbindlich.3

VI. Innerstaatliche Umsetzung der Verständigungsvereinbarung 1. Durchbrechung der Bestandskraft

8.44 Die Umsetzung einer zwischenstaatlich verbindlichen Verständigungsvereinbarung erfolgt nach dem Recht der beteiligten Staaten. Nach deutschem Recht kann die Verständigungsvereinbarung dabei unabhängig von der formellen Bestandskraft der jeweiligen Steuerbescheide umgesetzt werden (vgl. § 175a AO).4 Nach § 175a Satz 2 AO endet die Festsetzungsfrist insoweit nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Wirksamwerden der Verständigungsvereinbarung. Zugleich wird nach § 171 Abs. 3 AO der Ablauf der Festsetzungsfrist gehemmt, sofern gleichzeitig mit dem Antrag auf Einleitung des Verständigungsverfahrens auch die Änderung des Steuerbescheids beantragt wird.5 2. Verhältnis des Verständigungsverfahrens zu innerstaatlichen Rechtsbehelfen

8.45 Das Betreiben eines zwischenstaatlichen Verständigungsverfahrens und die Nutzung innerstaatlicher Rechtsbehelfsverfahren (Einspruch, Klage) schließen einander nicht aus. Weder nach den Bestimmungen der Abgabenordnung noch nach den abkommensrechtlichen Verständigungsklauseln ist es ausgeschlossen, dass der Steuerpflichtige von internationalen und innerstaatlichen Optionen parallel Gebrauch macht. Ausweislich der OECD-Kommentierung zu Art. 25 OECD-MA soll der Steuerpflichtige das Verständigungsverfahren durchführen können, ohne der „üblichen Rechtsmittel“ „beraubt“ zu werden.6 Vor diesem Hintergrund akzep-

1 Da gem. § 354 Abs. 1 Satz 1 AO eigentlich nur „nach Erlass des Verwaltungsaktes“ wirksam auf einen Einspruch verzichten kann, bestehen Zweifel, ob der im BMF-Merkblatt vorgesehene antizipierte Verzicht überhaupt wirksam ist, vgl. nur Werth in Beermann/Gosch, § 354 AO Rz. 9. § 354 Abs. 1a AO sollte dahingehend ergänzt werden, dass eine Verzichtserklärung nach dieser Vorschrift auch vor Erlass des jeweiligen Feststellungs- oder Steuerbescheides wirksam abgegeben werden kann. 2 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 4.2. 3 Grundlegend zur Frage der Bindungswirkung von Verständigungen Bär, S. 236 ff. 4 Ausführlich zur Anwendbarkeit weiterer Korrekturvorschriften zur Umsetzung zwischenstaatlicher Verständigungsvereinbarungen Stiewe, Die verfahrensrechtliche Umsetzung internationaler Verständigungsvereinbarungen (§ 175a AO), 2011, S. 177 ff. 5 So auch BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 4.1; ebenso OFD Magdeburg, Verfügung v. 11.2.2005 – S 0353-5-St 251, AO-Kartei ST § 175a AO Karte 1; Lühn, BB 2009, 412; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 268. 6 MK Nr. 7 zu Art. 25.

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B. Internationale Verständigungsverfahren

Rz. 8.50 Kap. 8

tiert es die deutsche Finanzverwaltung, wenn parallel zu einem Verständigungsverfahren nationale Rechtsbehelfsverfahren anhängig sind (vgl. im Einzelnen Rz. 8.112 ff.). Divergierende Entscheidungen in den parallel betriebenen Verfahren sollen jedoch vermieden werden. Haben die zuständigen Behörden eine Verständigungslösung entwickelt, muss sich der Steuerpflichtige entscheiden, welcher Rechtsbehelf endgültig zum Tragen kommen soll. Die zwischenstaatliche Verständigungslösung kann nur dann Bindungswirkung entfalten, wenn der Steuerpflichtige in diesem Punkt innerstaatlich auf Rechtsbehelfe verzichtet oder anhängige Rechtsbehelfe zurücknimmt. Erst ab diesem Moment muss sich der Steuerpflichtige also zwischen den einzelnen Optionen entscheiden.1

8.46

VII. Kosten und Gebühren des Verständigungsverfahrens In Deutschland ist eine Gebührenpflicht lediglich für besondere zukunftsbezogene Verständigungsverfahren im Bereich der Verrechnungspreise (sog. APA-Verfahren2) angeordnet (vgl. § 178a AO), mit der Folge, dass eine Gebührenpflicht des allgemeinen Verständigungsverfahrens zu verneinen ist.3 Auch die Verständigungsklauseln nach dem Vorbild von Art. 25 OECD-MA enthalten keine Regelung zu Kosten und Gebühren. In der Folge tragen die Vertragsstaaten die ihnen durch das Verständigungsverfahren entstandenen Kosten selbst; die dem Abkommensberechtigten entstandenen Kosten werden auch dann nicht erstattet, wenn durch das Verfahren eine ursprünglich abkommenswidrige Besteuerung beseitigt wurde.4

8.47

VIII. Scheitern einer zwischenstaatlichen Verständigung Da die Vertragsstaaten nach üblichen Verständigungsklauseln nicht verpflichtet sind, eine Einigung zu erzielen, kommt es vor, dass keine Einigung erzielt werden kann. Obwohl Verständigungsverfahren durch die deutsche Finanzverwaltung überdurchschnittlich ernsthaft und engagiert betrieben werden, enden dem Vernehmen nach auch ca. 10 % der Verfahren unter deutscher Beteiligung ohne Erfolg, d. h. die gerügte abkommenswidrige Besteuerung wird nicht durch das Verständigungsverfahren beseitigt.5

8.48

Im Idealfall besteht für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, im Anschluss an das gescheiterte Verständigungsverfahren ein Schiedsverfahren (Rz. 8.51 ff.) zu initiieren. Besteht diese Möglichkeit nicht oder wird die Durchführung eines (fakultativen) Schiedsverfahrens abgelehnt, ist zunächst zu prüfen, ob das Abkommen besondere Regeln über Konsequenzen bei einem Scheitern von Verständigungsverfahren bereithält.

8.49

Einige Protokolle zu DBA sehen vor, dass, wenn im Verständigungsverfahren keine Einigung über einen Qualifikations- oder Zurechnungskonflikt erzielt wird, eine Steueranrechnung

8.50

1 Dieser Zwang zur Wahl wird auch von der Musterkommentierung der OECD toleriert, vgl. MK Nr. 45 zu Art. 25. 2 Hierzu ausführlich Hendricks in Wassermeyer/Baumhoff, Rz. 10.75 ff. 3 Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 113. 4 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 9. 5 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 27.

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529

Kap. 8 Rz. 8.51

Internationale Verfahren

möglich ist.1 Im Übrigen kommen noch innerstaatliche Möglichkeiten in Betracht, in Deutschland etwa ein Abzug der ausländischen Steuer von den Einkünften (wie Werbungskosten/Betriebsausgaben) nach § 34c Abs. 6 Satz 6 i. V. m. Abs. 3 EStG.2 Ist auch dies nicht möglich, sollen die örtlichen Behörden prüfen, ob eine Doppelbesteuerung unter den Voraussetzungen des § 163 AO unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Unbilligkeit vermieden werden kann.3 Ein solcher Antrag ist in der Praxis nicht automatisch von Erfolg gekrönt. Die bisweilen restriktive Billigkeitspraxis wird u.a. damit begründet, dass bei einer großzügigen Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen die Gefahr bestünde, dass bei den behördlichen Verhandlungspartnern im Vertrauen auf unilaterale Billigkeitsmaßnahmen die Bereitschaft zu Konzessionen im Verständigungsverfahren zurückginge.4

C. Schiedsverfahren I. Allgemeines 1. Wachsende Bedeutung internationaler Schiedsverfahren

8.51 Wie dargestellt (Rz. 8.48) bietet auch ein internationales Verständigungsverfahren keine Gewähr dafür, dass eine einmal eingetretene Doppelbesteuerung zwingend beseitigt wird. Denn nach klassischen Verständigungsklauseln schulden die Vertragsstaaten lediglich das „Bemühen“, durch zwischenstaatliche Verständigung eine abkommenswidrige Besteuerung zu beseitigen (vgl. Art. 25 Abs. 2 Satz 1 OECD-MA). Mit Rücksicht auf die Schwächen klassischer Verständigungsverfahren ist es zu begrüßen, dass eine wachsende Zahl deutscher DBA zusätzlich zum Verständigungsverfahren die Durchführung eines Schiedsverfahrens vorsehen.5 2. Schiedsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen

8.52 Aktuell sieht lediglich eine Minderheit deutscher DBA die Durchführung obligatorischer Schiedsverfahren vor. Diese DBA orientieren sich inhaltlich im Wesentlichen an Art. 25 Abs. 5 OECD-MA. Nach diesen Klauseln ist für den Fall der erfolglosen Durchführung eines Verständigungsverfahrens die Durchführung eines zwischenstaatlichen Schiedsverfahrens geboten oder jedenfalls möglich. Das Schiedsverfahren zielt auf die Bereinigung des Besteuerungskonflikts durch einen Schiedsspruch ab.6 Sind die Vertragsstaaten im Fall des Scheiterns des Verständigungsverfahrens zur Anrufung eines Schiedsgerichts gezwungen, spricht man von einem obligatorischen Schiedsverfahren, entscheiden sie über ein solches Verfahren nach freiem Ermessen, handelt es sich um eine fakultative Schiedsklausel.7

1 Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 115, 136; Schmitz in Strunk/Kaminski/Köhler, Art. 25 OECD-MA Rz. 47; Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 159. 2 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 159. 3 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 8.2. 4 Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 136; Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 159. 5 Vgl. Art. 25 Abs. 5 OECD-MA. 6 Vgl. nur Herlinghaus, IStR 2010, 125 (129 f). 7 Grundlegend hierzu Züger, S. 31 ff. und 73 ff.

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Hendricks

C. Schiedsverfahren

Rz. 8.56 Kap. 8

3. Schiedsklauseln der EU-Schiedskonvention Gemessen an der Anzahl der Verfahren und den streitigen Volumina stellt das Übereinkommen Nr. 90/436/EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen vom 23. Juli 1990 (nachfolgend EU-Schiedskonvention) die mit Abstand praxiswichtigste Rechtsgrundlage dar.1 Das Übereinkommen wurde auf Grundlage von Art. 293 EG a. F. abgeschlossen und ist zum 1. Januar 1995 in Kraft getreten. Es handelt sich um einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der EG (nunmehr EU), der auf einen Vorschlag der Kommission aus dem Jahre 1976 für eine Richtlinie über Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung für den Fall der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen2 sowie auf das Weißbuch der Kommission über die Vollendung des Binnenmarkts von 19853 zurückgeht.4

8.53

Die EU-Schiedskonvention dient der Vermeidung sowie der Bereinigung internationaler Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Gewinnabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen sowie zwischen Betriebsstätten. Die materiell-rechtlichen Regelungen der Konvention entsprechen im Grundsatz den parallelen Gewinnabgrenzungsvorschriften in den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen (im Kern also den Regelungen in Art. 9 MA und Art. 7 Abs. 2 MA).5 Hiernach sind die Vertragsstaaten verpflichtet, sich bei der Gewinnabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen sowie zwischen Betriebsstätten am Fremdvergleichsgrundsatz zu orientieren (Art. 4 EU-Schiedskonvention).6

8.54

Besonders bedeutsam ist die Konvention vor allem wegen ihrer verfahrensrechtlichen Instrumente zur Bereinigung von Besteuerungskonflikten. Kommt es zu einer abkommenswidrigen Doppelbesteuerung und wird diese nicht durch unilaterale Maßnahmen oder ein zwischenstaatliches Verständigungsverfahren beseitigt, sind die betroffenen Staaten innerhalb bestimmter Fristen zur Durchführung eines konfliktbereinigenden Schiedsverfahrens verpflichtet (obligatorisches Schiedsverfahren).

8.55

Die Schiedskonvention galt zunächst für fünf Jahre vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 1999. Einige Monate vor dem Ablauf des ersten Fünfjahreszeitraums der Anwendung nahm der Rat ein Protokoll zur Änderung des Übereinkommens an, dem zufolge das Schiedsübereinkommen grundsätzlich automatisch um weitere fünf Jahre verlängert wird, wenn kein Vertragsstaat Einwände erhebt. Dieses Protokoll wurde zwar rechtzeitig unterzeichnet, aber erst 2004 von den letzten der (seinerzeit fünfzehn) Mitgliedstaaten ratifiziert, weshalb die Fortsetzung der Konvention am 1. November 2004 rückwirkend zum 1. Januar 2000 in Kraft trat.7

8.56

1 BStBl. I 1995, 166. 2 ABl. C 301 v. 21.12.1976. 3 Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1985. 4 Zur Historie vgl. im Einzelnen Baßler, Steuerliche Gewinnabgrenzung im Europäischen Binnenmarkt, 2011, S. 291 ff. 5 Krabbe in Wassermeyer, Art. 4 EU-SchÜ Rz. 1; Baßler, Steuerliche Gewinnabgrenzung im Europäischen Binnenmarkt, 2011, S. 300 f.; Alber, Schiedsverfahren im Internationalen Steuerrecht, 2010, S. 32 f. 6 Krabbe, IStR 1996, 5 (7); Krabbe in Wassermeyer, Vor. Art. 1 EU-SchÜ Rz. 4; Menck in Gosch/ Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 4 EU-SchÜ Rz. 2. 7 EU Joint Transfer Pricing Forum, Report on the re-entry into force of the arbitration convention. European Commission, Brussels, 30 May 2005, DOC.JTPF/019/REV5/2004/EN.

Hendricks

531

Kap. 8 Rz. 8.57

Internationale Verfahren

Seither gelten die Regelungen unbefristet. Neue Mitgliedstaaten sind der Konvention sukzessive1 beigetreten, so dass die Regelung auch im Verhältnis zu den letzten Beitrittsstaaten Anwendung findet.

8.57 Zwar enthält die EU-Schiedskonvention vergleichsweise ausführliche Regelungen zum Ablauf des Verfahrens; die Anwendung dieser Bestimmungen richtet sich in der Praxis aber auch nach dem vom Verrechnungspreisforum (Joint Transfer Pricing Forum – JTPF)2 entwickelten „Verhaltenskodex für die Durchführung des Schiedsübereinkommens“.3 Dieser Verhaltenskodex ist – wie sich schon aus seiner Präambel ergibt – nicht rechtlich verbindlich, sondern hat den Charakter einer politischen Absichtserklärung und damit von „soft law“.4 Gleichwohl hat sich auch das BMF in seinem Merkblatt zum Verständigungs- und Schiedsverfahren an dem Verhaltenskodex orientiert und dessen Vorgaben für die deutsche Praxis präzisiert.5 Bei offenen Zweifelsfragen bietet sich daneben ein Rückgriff auf die Mitteilungen der EU-Kommission sowie die Sitzungsprotokolle des Verrechnungspreisforums an.6

8.58 Mit Rücksicht darauf, dass die EU-Schiedskonvention gemessen an der Anzahl der Verfahren und den streitigen Volumina in der Praxis die wichtigste Rechtsgrundlage darstellt, wird nachfolgend dargestellt, wie Verfahren nach dieser Rechtsgrundlage abgewickelt werden.

1 Übereinkommen über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden, ABl. Nr. C 26 v. 31.1.1996, S. 1; Übereinkommen über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zu dem Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. Nr. C 160 v. 30.6.2005, S. 1; Akte über die Bedingungen des Beitritts der Bulgarischen Republik und Rumäniens und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, ABl. Nr. L 157 v. 21.6.2005, S. 1 sowie Beschluss des Rates 2008/492/EG vom 23.6.2008 über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Übereinkommen vom 23.7.1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. Nr. C 174 v. 3.7.2008, S. 1. Nähere Angaben zum Ratifizierungsprozess können auf der Homepage des Rates der EU unter http://www.consilium.europa.eu/policies/agreements/search-the-agreements-databa se?command=details&id=297&aid=2004119&lang=EN&doclang=EN eingesehen werden. 2 Beim Joint Transfer Pricing Forum handelt es sich um eine Sachverständigengruppe, die 2002 von der Europäischen Kommission eingesetzt wurde, um für die praktischen Probleme der Verrechnungspreisgestaltung innerhalb Europas pragmatische, nicht legislative Lösungen vorzuschlagen. Das Forum setzt sich aus einem Vertreter jedes Mitgliedstaates sowie Experten aus der Privatwirtschaft zusammen und wird von einem unabhängigen Vorsitzenden geleitet. Näheres zum Verrechnungspreisforum sowie den einzelnen erarbeiteten Stellungnahmen unter http://ec.euro pa.eu/taxation_customs/taxation/company_tax/transfer_pricing/forum/index_de.htm. 3 Überarbeiteter Verhaltenskodex zur wirksamen Durchführung des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 ff. 4 Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 301; vgl. im Einzelnen Bödefeld/Kuntschik, IStR 2010, 474 f. 5 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461. 6 Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268.

532

Hendricks

C. Schiedsverfahren

Rz. 8.62 Kap. 8

II. Verfahren nach der EU-Schiedskonvention 1. Verfahrensabschnitte im Überblick Das Verfahren nach dem EU-Schiedsübereinkommen untergliedert sich in verschiedene Verfahrensabschnitte, die jedoch nicht alle durchlaufen werden müssen. Eine Lösung des Besteuerungskonfliktes kann auf jeder einzelnen Stufe bewirkt werden.1 Im Einzelnen sind folgende (sieben) Verfahrensabschnitte zu unterscheiden:

8.59

1. Unterrichtung im Rahmen des Vorverfahrens (Art. 5 EU-Schiedskonvention, vgl. Rz. 8.62)

8.60

2. Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens (Art. 6 Abs. 1 EU-Schiedskonvention, vgl. Rz. 8.65 ff.) 3. Prüfung unilateraler Abhilfe (Art. 6 Abs. 2 EU-Schiedskonvention, vgl. Rz. 8.71) 4. Einleitung und Durchführung des zwischenstaatlichen Verständigungsverfahrens (Art. 6 Abs. 2 EU-Schiedskonvention, vgl. Rz. 8.72 ff.) 5. Einleitung und Durchführung des Schiedsverfahrens (Art. 7 ff. EU-Schiedskonvention, vgl. Rz. 8.81 ff.) 6. Nachgeschaltete Verständigung im Einigungsverfahren (Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 EUSchiedskonvention, vgl. Rz. 8.96 f.) 7. Erstarkung der Stellungnahme zum Schiedsspruch (Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 EUSchiedskonvention, vgl. Rz. 8.98) Die vorgehend dargestellte Unterteilung in sieben einzelne Abschnitte ist in der Sache zwar zutreffend und präzise; sie lässt das Verfahren nach der EU-Schiedskonvention jedoch kompliziert und unübersichtlich erscheinen. Vor diesem Hintergrund werden die einzelnen Abschnitte in Literatur und Praxis aus Gründen der Übersichtlichkeit häufig drei unterschiedlichen Verfahrensstufen („Phasen“) zugeordnet (Drei-Phasen-Einteilung): dem Vorverfahren (Phase I), dem Verständigungsverfahren (Phase II) und dem Schiedsverfahren (Phase III).

8.61

2. Vorverfahren Der dem Verständigungs- und Schiedsverfahren vorgeschaltete Verfahrensabschnitt wird überwiegend als „Vorverfahren“ bezeichnet.2 Sobald die Finanzverwaltung eines Vertragsstaats beabsichtigt, unter Berufung auf den Fremdvergleichsgrundsatz eine Gewinnberichtigung vorzunehmen, ist sie nach Art. 5 Unterabs. 1 EU-Schiedskonvention gehalten, das von der Berichtigung betroffene Unternehmen rechtzeitig von der beabsichtigten Maßnahme in Kenntnis zu setzen (Unterrichtungspflicht), damit dieses Unternehmen Gelegenheit hat, die betroffenen Unternehmen in den anderen Vertragsstaaten zu informieren. Die im anderen Vertragsstaat betroffenen Unternehmen sollen hierdurch wiederum in die Lage versetzt werden, die für sie zuständigen Finanzbehörden über die bevorstehende Gewinnkorrektur

1 Engler/Elbert in Vögele/Borstell/Engler, Rz. F 303. 2 Vgl. nur BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 10.1; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 278.

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533

8.62

Kap. 8 Rz. 8.63

Internationale Verfahren

zu informieren, letztendlich zu dem Zweck, dort zur Vermeidung der Doppelbesteuerung eine Gegenberichtigung zu erreichen.1

8.63 Die Berichtigungsabsicht ist im Regelfall das Ergebnis einer Außenprüfung, kann aber auch die Folge einer Prüfung im Veranlagungsverfahren sein.2 Im Rahmen des Vorverfahrens ist der jeweilige Vertragsstaat lediglich zur Unterrichtung über die beabsichtigte Gewinnkorrektur verpflichtet; kommt er seiner Unterrichtungspflicht nach, ist er nicht daran gehindert, die beabsichtigte Korrektur vorzunehmen (Art. 5 Unterabs. 2 EU-Schiedskonvention).3

8.64 Das Vorverfahren zielt auf eine konsensuale Vermeidung des drohenden Besteuerungskonfliktes ab. Stimmen die involvierten Unternehmen und die betroffenen Vertragsstaaten der beabsichtigen Berichtigung ebenso wie der Gegenberichtigung zu, wird ein Besteuerungskonflikt vermieden und die Durchführung eines Verständigungsverfahrens (oder gar eines Schiedsverfahrens) kann unterbleiben (Art. 5 Unterabs. 3 EU-Schiedskonvention).4 3. Beantragung eines Verständigungsverfahrens

8.65 Wird eine drohende oder eingetretene Doppelbesteuerung nicht bereits im Vorverfahren vermieden, kommt unter Beachtung von Art. 6 EU-Schiedskonvention die Durchführung eines Verständigungsverfahrens in Betracht. Die Durchführung eines solchen Verfahrens ist antragsgebunden. Erforderlich ist ein Antrag des betroffenen Unternehmens (vgl. Art. 6 Abs. 1 EU-Schiedskonvention). Der Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens ist bei der zuständigen Behörde des Staates zu stellen, dem das betroffene Unternehmen bzw. die betroffene Betriebsstätte zugehörig ist (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 EU-Schiedskonvention). Dies ist bei Antragstellung in Deutschland das BZSt in Bonn, auf das das BMF die Wahrnehmung der zuständigen Behörde für den Bereich der Verständigungs- und Schiedsverfahren nach den DBA und der EU-Schiedskonvention übertragen hat.5

8.66 Der Antrag ist fristgerecht zu stellen. Der Fall ist der zuständigen Behörde innerhalb von drei Jahren nach der „ersten Mitteilung der Maßnahme“6 zu unterbreiten, die eine abkommenswidrige Doppelbesteuerung herbeiführt oder zukünftig herbeiführen könnte (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EU-Schiedskonvention). Was in diesem Zusammenhang unter „Mitteilung“ zu verstehen ist, wird in der Konvention nicht näher bestimmt. Das BMF vertritt die Auffassung, dass die Frist erst mit Bekanntgabe des „ersten Bescheides“ beginnt, der „zu einer Doppelbesteuerung führt“.7 Die nach Art. 5 EU-Schiedskonvention erfolgte Unterrichtung über eine beabsichtigte Korrektur löst nach diesem Verständnis den Beginn der Frist noch

1 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 10.1; Krabbe in Wassermeyer, Art. 5 EU-SchÜ Rz. 1; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 278. 2 Krabbe in Wassermeyer, Art. 5 EU-SchÜ Rz. 2. 3 Erfolgt die Korrektur ohne die in Art. 5 EU-Schiedskonvention vorgesehene Unterrichtung, ist sie verfahrensfehlerhaft, vgl. Krabbe in Wassermeyer, Art. 5 EU-SchÜ Rz. 6 f. 4 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 10.2; Krabbe in Wassermeyer, Art. 5 EU-SchÜ Rz. 8; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 278. 5 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 4.1 und Tz. 11.1.3; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 282. 6 Die englischsprachige Fassung lautet insoweit „the first notification of the action“. 7 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.2.1; ebenso Krabbe in Wassermeyer, Art. 5 EU-SchÜ Rz. 9.

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C. Schiedsverfahren

Rz. 8.68 Kap. 8

nicht aus.1 Vielmehr kommt es auf den effektiven Eintritt der Doppelbesteuerung an, was auf Grundlage der in beiden Staaten ergangenen Bescheide zu beurteilen ist. Die Frist beginnt daher mit der Bekanntgabe des Steuerbescheides, durch welchen die internationale Doppelbesteuerung begründet wird.2 Für die Fristwahrung ist der Eingang des Antrags bei der zuständigen Behörde maßgeblich.3 Nach Ablauf dieser Frist ist der Antrag unzulässig;4 ein Anspruch auf Durchführung des Verständigungsverfahrens besteht dann nicht. Der Antrag kann grundsätzlich unabhängig von innerstaatlichen Rechtsbehelfen gestellt werden.5 Der Antrag ist daher unabhängig davon statthaft, ob innerstaatlich noch ein Rechtsbehelf anhängig ist oder der Rechtsweg noch nicht erschöpft ist.6 Die Frage des Verhältnisses zu innerstaatlichen Rechtsbehelfen ist von der Frage der Umsetzung einer etwaigen Verständigungsvereinbarung zu trennen. Das BMF verweist in seinem Merkblatt darauf, dass die Durchführung einer getroffenen Vereinbarung unter der Bedingung stehen kann, dass der Antragsteller antizipiert auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs verzichtet oder schwebende Rechtsbehelfsverfahren ihre Erledigung finden.7

8.67

Der Antrag muss zunächst darlegen, dass die in Art. 4 EU-Schiedskonvention genannten Grundsätze für eine Gewinnberichtigung (insbesondere der Fremdvergleichsgrundsatz) nicht beachtet wurden. Das BMF-Merkblatt enthält eine Reihe von Vorgaben, welche der Antragsteller bei Einreichung der Antragsschrift beachten sollte (Mindestinhalt der Antragsschrift).8 Hierzu zählen:

8.68

1. Name, Anschrift (Sitz), Steuernummer und örtlich zuständiges Finanzamt des antragstellenden Unternehmens des Vertragsstaats sowie der anderen Beteiligten an den betreffenden Geschäftsvorfällen; 2. detaillierte Angaben zu den für den Fall relevanten Tatsachen und Umständen (einschließlich Einzelheiten über die Beziehungen zwischen dem Unternehmen und den anderen Beteiligten an den betreffenden Geschäftsvorfällen); 3. Angaben zu den vom Antrag betroffenen Besteuerungszeiträumen; 4. Kopien der Steuerbescheide, des Betriebsprüfungsberichts oder vergleichbarer Dokumente, die zu der behaupteten Doppelbesteuerung geführt haben; 5. detaillierte Angaben zu etwaigen außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren, die das Unternehmen oder die anderen an den betreffenden Geschäftsvorfällen Beteiligten eingeleitet haben, sowie zu etwaigen den Fall betreffenden Gerichtsurteilen; 6. eine Darlegung seitens des Unternehmens, inwiefern nach seiner Auffassung die in Art. 4 der Schiedskonvention festgelegten Grundsätze nicht beachtet wurden; 1 So auch Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 6 EU-SchÜ Rz. 3. 2 Krabbe spricht insoweit zutreffend vom „letzten Steuerbescheid“, vgl. Krabbe, IStR 1996, 5 (8). 3 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.2.1. 4 Krabbe in Wassermeyer, Vor Art. 6 EU-SchÜ Rz. 9. 5 Art. 6 Abs. 1 Schiedsübereinkommen. 6 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.1.4 unter Verweis auf Tz. 2.1.5. 7 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 12.1.2 wonach Tz. 4 entsprechende Anwendung findet. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahme vgl. bereits BT-Drucks. 12/5071, 15. 8 Vgl. im Einzelnen BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.3.2. Die genannten Vorgaben sind nahezu wörtlich dem Verhaltenskodex entnommen.

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535

Kap. 8 Rz. 8.69

Internationale Verfahren

7. eine Zusage des Unternehmens, dass es so umfassend und so schnell wie möglich alle Nachfragen einer zuständigen Behörde beantworten und den zuständigen Behörden die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stellen wird.1

8.69 Zur Vermeidung von Verzögerungen sollte der Antrag in dreifacher Ausführung eingereicht werden.2

8.70 Über die vorgenannten Unterlagen und Angaben hinaus besteht das BZSt im Interesse einer effektiven und schnellen Bearbeitung des Antrages sowie zur Vermeidung zeitaufwändiger Rückfragen in aller Regel auf die Übermittlung weiterer Informationen. Anzugeben bzw. darzulegen sind3: 1. die Steuerjahre, für die das Verständigungsverfahren eingeleitet werden soll; 2. der Verfahrensstand – Datum des/der Bp-Bericht(e) (Bp-Bericht als Ablichtung beifügen) – Datum des/der Änderungsbescheids bzw. -bescheide) – Angaben zu Rechtsbehelfs- bzw. Klageverfahren sowie Aussetzung der Vollziehung; 3. die betroffenen Unternehmen – in Deutschland betroffene(s) Unternehmen bzw. Betriebsstätte Name(n): Adresse(n): ggf. gegründet oder umgewandelt, verschmolzen am – im anderen Staat/in anderen Staaten betroffene(s) Unternehmen bzw. Betriebsstätte(n) Name(n): Adresse(n): ggf. gegründet am oder umgewandelt, verschmolzen am; 4. das Beteiligungsverhältnis zwischen dem/den inländischen und dem/den ausländischen Unternehmen; 5. eine Beschreibung der Konzernstruktur und der Stellung des/der betroffenen inländischen und des/der ausländischen Unternehmen(s) im Konzern; 6. die wirtschaftliche Situation des Unternehmens/der Betriebsstätte in Deutschland – Gewinn-/Verlustsituation während des Korrekturzeitraums (Kopie der GuV-Rechnung und der Bilanzen beifügen), – Gewinn-/Verlustsituation vor/nach dem Korrekturzeitraum (Angaben sollten einen Überblick über einen angemessenen Zeitraum ergeben); 1 Das BZSt stellt auf seiner Internet-Homepage weiterführende Informationen zu den dem Antrag standardmäßig beizufügenden Unterlagen bereit, abrufbar unter http://www.bzst.de. 2 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.3.3. 3 Die Angaben können einem auf der Internetpräsenz des BZSt veröffentlichtem Fragebogen entnommen werden, vgl. http://www.bzst.de.

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C. Schiedsverfahren

Rz. 8.70 Kap. 8

Gewinn/Verlust Jahr(e)

Vor Verrechnungspreiskorrektur

Nach Verrechnungspreiskorrektur

7. die wirtschaftliche Situation des Unternehmens/der Betriebsstätte im Ausland (soweit bekannt) – Gewinn-/Verlustsituation während des Korrekturzeitraums, – Gewinn-/Verlustsituation vor/nach dem Korrekturzeitraum; Jahr(e)

Gewinn/Verlust

8. die Höhe der von der deutschen Bp vorgenommenen Korrekturen; Jahr(e)

Korrekturbetrag (Angabe der Währung)

9. die Art der Korrektur (verdeckte Gewinnausschüttung, Forderungen); 10. das Verrechnungspreisproblem (Angabe eines kurzen Stichworts, wie z. B. Dienstleistung im Konzern, Kostenumlage, Berechnung einer angemessenen Vergütung für das Produktions- oder Vertriebsunternehmen, Lizenzen, Zinsen etc.); 11. sowie Angaben zur Verrechnungspreisüberprüfung – Erläuterung des Unternehmensgegenstandes der betroffenen Unternehmen, – Erläuterung der Geschäftsbeziehungen zwischen den betroffenen Unternehmen (Verträge beifügen), – Beziehungen zu weiteren Konzerngesellschaften, die für die Bestimmung des Verrechnungspreises von Bedeutung sind (z. B. Lieferverhältnisse Großmutter, Mutter, Tochter), – Beschreibung der Funktionen und Risiken der betroffenen Unternehmen, – Beschreibung der vom Unternehmen angewandten Verrechnungspreismethode, – Angaben, inwiefern das Verrechnungspreisproblem auch in späteren Jahren fortbesteht; 12. im Falle von Rückfragen – Namen, Adressen, Telefonnummern des Ansprechpartners; 13. Anlagen – dem Bericht sind folgende Anlagen beizufügen: Kopie Bp-Bericht(e) für die betroffenen Zeiträume, Bilanzen und GuV-Rechnungen für die betroffenen Zeiträume. Hendricks

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Kap. 8 Rz. 8.71

Internationale Verfahren

4. Prüfung unilateraler Abhilfe

8.71 Auch ein fristgerechter, ordnungsgemäßer Antrag des Unternehmens führt nicht zwingend zur Einleitung eines zwischenstaatlichen Verständigungsverfahrens. Denn bevor die zuständige Behörde das Verständigungsverfahren einleitet, hat sie zu prüfen, ob sie gewillt und in der Lage ist, die gerügte abkommenswidrige Besteuerung bereits durch eigene unilaterale Maßnahmen zu beseitigen, um so eine befriedigende Lösung herbeizuführen (Art. 6 Abs. 2 EUSchiedskonvention). In diesen Fällen kommt es zu einer Streiterledigung im Abhilfeverfahren, ohne dass ein Verständigungsverfahren erforderlich wird.1 5. Einleitung eines Verständigungsverfahrens a) Anspruch auf Verfahrenseinleitung

8.72 Hat das Unternehmen einen fristgerechten, ordnungsgemäßen Antrag gestellt und kommt es nicht zu einer unilateralen Abhilfe, ist die zuständige Behörde zur Einleitung eines Verständigungsverfahrens verpflichtet.2 Für eine Pflicht zur Einleitung spricht bereits der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 EU-Schiedskonvention, wonach sich die zuständige Behörde um eine Lösung im Verständigungsverfahren bemühen „wird“.3 Die Pflicht lässt sich ohne weiteres auch aus Art. 8 Abs. 1 EU-Schiedskonvention ableiten, wonach diese Verpflichtung in bestimmten Fällen nicht besteht.4 Da die Bestimmungen der EU-Schiedskonvention den Interessen der Unternehmen dienen, steht der behördlichen Verpflichtung ein entsprechender Anspruch des Antragstellers gegenüber,5 den dieser mit einer Verpflichtungs- bzw. Leistungsklage durchsetzen kann. b) Empfindlich zu bestrafender Verstoß gegen steuerliche Vorschriften

8.73 Nach Art. 8 Abs. 1 EU-Schiedskonvention besteht kein Anspruch auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens, wenn durch Gerichts- oder Verwaltungsverfahren endgültig festgestellt ist, dass eines der beteiligten Unternehmen durch Handlungen, die unter Berufung auf den Fremdvergleichsgrundsatz zu einer Gewinnberichtigung geführt haben, einen „empfindlich zu bestrafenden Verstoß“ gegen steuerliche Vorschriften begangen hat. In diesen Fällen entscheidet die zuständige Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen über die Einleitung des Verständigungsverfahrens.6

8.74 Was unter einem „empfindlich zu bestrafenden Verstoß“ zu verstehen sein soll, ist in der EU-Schiedskonvention nicht geregelt. Die Vertragsstaaten haben ihr individuelles Verständ1 Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 6 EU-SchÜ Rz. 8. 2 So z. B. Krabbe in Wassermeyer, Vor. Art. 6 EU-SchÜ Rz. 15; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 303; Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268 (268 f.); Peters/Haverkamp, BB 2011, 1303 (1306). 3 Instruktiv zur Parallele beim Verständigungsverfahren nach klassischen DBA-Klauseln: Flüchter in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 124 ff. 4 Im Ergebnis ebenso Krabbe in Wassermeyer, Vor. Art. 6 EU-SchÜ Rz. 15; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 303; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 291; Bödefeld/ Kuntschik, IStR 2009, 268 (268 f.); im Ergebnis offensichtlich auch das BMF, vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.4.4 „leitet … ein“. 5 Ebenso Krabbe in Wassermeyer, Vor. Art. 6 EU-SchÜ Rz. 15; sowie Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECD-MA Rz. 303. 6 So zuletzt FG Köln v. 18.1.2017 – 2 K 930/13, EFG 2017, 715.

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Hendricks

C. Schiedsverfahren

Rz. 8.77 Kap. 8

nis in Einzelerklärungen konkretisiert. Für die Bundesrepublik Deutschland fällt hierunter „jeder Verstoß gegen die Steuergesetze, der mit Freiheitsstrafe, Geldstrafe oder Bußgeld geahndet wird“. Neben der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) kommen damit insbesondere die leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) und die Steuergefährdung in Betracht (§ 379 AO). Dagegen fallen Zuschläge („penalties“) nach § 162 Abs. 4 AO nicht unter diese Definition.1 Ist ein behördliches oder gerichtliches Verfahren, mit dem ein empfindlich zu bestrafender Verstoß gegen steuerliche Vorschriften festgestellt werden soll,2 noch anhängig, besteht zwar die Pflicht, das Verständigungsverfahren einzuleiten; das eingeleitete Verständigungsverfahren kann jedoch von den zuständigen Behörden „ausgesetzt“ werden. Während dieser Aussetzung werden keine Verfahrenshandlungen vorgenommen; verfahrensbezogene Fristen werden für die Dauer der Aussetzung gehemmt.3

8.75

c) Pflicht zur beschleunigten Antragsbearbeitung Liegen die Voraussetzungen für die Einleitung des zwischenstaatlichen Verständigungsverfahrens vor, ist die zuständige Behörde gehalten, den Antrag des Unternehmens schnell zu bearbeiten. Denn die Möglichkeiten, die gerügte Doppelbesteuerung im Rahmen eines Verständigungsverfahrens zu bereinigen, ist in zeitlicher Hinsicht begrenzt. Die Frist für eine solche Verständigungslösung läuft im Grundsatz bereits zwei Jahre nach dem Zeitpunkt ab, zu dem das betroffene Unternehmen den Fall der zuständigen Behörde vollständig unterbreitet hat (vgl. im Einzelnen Rz. 8.81). Schon um keine Zeit für eine mögliche Verständigung zu verschenken, besteht ein Zwang zur beschleunigten Antragsbearbeitung.4

8.76

6. Durchführung der zwischenstaatlichen Verständigung a) Zwischenstaatliche Einigungsbemühungen Wie bei den Verständigungsverfahren auf Basis von Doppelbesteuerungsabkommen (s. Rz. 8.11 ff.) zielt auch das Verständigungsverfahren nach der EU-Schiedskonvention darauf ab, durch zwischenstaatliche Verständigung die gerügte abkommenswidrige Doppelbesteuerung zu beseitigen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EU-Schiedskonvention). In diesem Sinne wird die Doppelbesteuerung als beseitigt betrachtet, wenn die Gewinne nur in einem Staat zur Besteuerung herangezogen werden oder die in einem Staat auf diese Gewinne zu erhebende Steuer um den Betrag verringert wird, der dem Betrag der Steuer entspricht, die in dem anderen Staat auf sie zu erheben ist (Art. 14 EU-Schiedskonvention). Auch wenn eine dem Art. 25 Abs. 4 OECD-MA entsprechende Vorschrift fehlt, nach welcher die zuständigen Behörden unter Ausschluss des diplomatischen Wegs unmittelbar miteinander verkehren können, finden die Verständigungsbemühungen in der Praxis im Rahmen eines unmittelbaren Verkehrs statt. Der EU-Verhaltenskodex empfiehlt sogar regelmäßige Treffen der Behördenvertreter.5

1 Krabbe in Wassermeyer, Art. 8 EU-SchÜ Rz. 2; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 285; Peters/Haverkamp, BB 2011, 1303 (1308). 2 Nach deutschem Verständnis also ein Straf- und Bußgeldverfahren. 3 Vgl. im Einzelnen Krabbe in Wassermeyer, Vor. Art. 8 EU-SchÜ Rz. 8. 4 Krabbe in Wassermeyer, Art. 7 EU-SchÜ Rz. 11. 5 Überarbeiteter Verhaltenskodex, ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 – 10, Tz. 6.4 lit. f.

Hendricks

539

8.77

Kap. 8 Rz. 8.78

Internationale Verfahren

b) Austausch von Positionspapieren

8.78 Die Verständigungsbemühungen beginnen mit dem Austausch sog. Positionspapiere. Die Positionspapiere beinhalten eine vollständige Beurteilung der Sach- und Rechtslage sowie einen konkreten Lösungsvorschlag. In der Regel haben sie folgenden Inhalt:1

8.79 – Bestätigung, dass der Fall innerhalb der nach Art. 6 Abs. 1 EU-Schiedskonvention genannten Frist unterbreitet wurde; – Mitteilung über den Beginn der Zwei-Jahres-Frist nach Art. 7 Abs. 1 EU-Schiedskonvention; – Darlegung des Falles durch den Antragsteller; – Beurteilung des Sachverhalts durch das BZSt, z. B. aus welchem Grund eine Doppelbesteuerung vorliegt oder wahrscheinlich eintreten könnte; – Vorschlag, wie der Fall im Hinblick auf die Beseitigung der Doppelbesteuerung gelöst werden könnte, einschließlich umfassender Erläuterung des Lösungsvorschlags; – vollständige Begründung der Steuerfestsetzung oder der Korrekturen; – Unterlagen von grundsätzlicher Bedeutung zur Darlegung des Standpunktes; – Liste aller weiteren Unterlagen, die bei der Vornahme der Korrektur verwendet wurden. c) Einigung unter Zustimmungsvorbehalt

8.80 Im Rahmen von Verständigungsverfahren nach der EU-Schiedskonvention gelingt es den betroffenen Staaten – wohl vor allem unter dem Druck eines drohenden Schiedsverfahrens – sehr häufig, sich auf eine gemeinsame Lösung zur Beseitigung der gerügten abkommenswidrigen Besteuerung zu einigen. Gelingt eine solche Verständigung, erfolgt ihre schriftliche Niederlegung nach denselben Grundsätzen,2 die auch beim Abschluss von Verständigungen nach Verständigungsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen gelten (vgl. Rz. 8.38). Auch hier wird der Inhalt der Einigung im Allgemeinen schriftlich fixiert, wenn sich die betroffenen Staaten auf eine Lösung des Steuerfalles einigen konnten.3 Ebenso erfolgt der schriftliche Abschluss regelmäßig unter dem Vorbehalt, dass der Steuerpflichtige der Vereinbarung zustimmt4 und für verständigungskonforme Steuerbescheide einen Einspruchsverzicht erklärt bzw. anhängige Einsprüche oder Klagen insoweit zurücknimmt (s. Rz. 8.38).5 Ein entsprechender Zustimmungsvorbehalt ist Bestandteil der zwischenstaatlichen Vereinbarung über das Inkrafttreten der Verständigungsvereinbarung. Beide Erklärungen des Steuerpflichtigen müssen vorliegen, damit die Vereinbarung zwischenstaatliche Bindungswirkung entfaltet (Rz. 8.38).

1 Vgl. im Einzelnen BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 12.2.1. 2 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 12.1.2 [Verweis auf die Bestimmungen zum allgemeinen Verständigungsverfahren]. 3 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 12.1.2 i. V. m. Tz. 3.4. 4 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 12.1.2 i. V. m. Tz. 3.4. 5 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 12.1.2 i. V. m. Tz. 4.2.

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Hendricks

C. Schiedsverfahren

Rz. 8.83 Kap. 8

7. Einleitung und Durchführung des Schiedsverfahrens a) Konstituierung eines Beratenden Ausschusses als Schiedsgericht Die zuständigen Finanzbehörden sind verpflichtet, als Schiedsgericht einen Beratenden Ausschuss („advisory commission“) einzusetzen, diesem den Fall vorzulegen und dessen Stellungnahme einzuholen, wenn das Verständigungsverfahren nicht innerhalb einer Frist von zwei Jahren zu einer einvernehmlichen Beseitigung der Doppelbesteuerung geführt hat (Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EU-Schiedskonvention). Mit Ablauf der Frist sind die betroffenen Staaten völkerrechtlich verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um den Beratenden Ausschuss einzusetzen. Ein Ermessen besteht nur unter den Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 1 EU-Schiedskonvention (vgl. Rz. 8.73 f.).1

8.81

b) Pflicht zur Konstituierung nach Ablauf der Zwei-Jahres-Frist Der Lauf der Zwei-Jahres-Frist beginnt mit der Unterbreitung des Falles nach Art. 6 Abs. 1 EU-Schiedskonvention (Rz. 8.65 ff.). Wird derselbe Fall auch der zuständigen Behörde des anderen beteiligten Vertragsstaats unterbreitet, beginnt die Frist mit dem zuerst gestellten Antrag.2 Nach dem EU-Verhaltenskodex3 und ihm folgend dem BMF-Merkblatt4 beginnt die Frist jedoch frühestens mit dem Ereignis, welches die Drei-Jahres-Frist i. S. von Art. 6 Abs. 1 EU-Schiedskonvention ausgelöst hat (also frühestens mit Erlass5 des Steuerbescheides, der zu der gerügten Doppelbesteuerung geführt hat, vgl. Rz. 8.66).

8.82

Der Lauf der Zwei-Jahres-Frist kann durch bestimmte Umstände beeinflusst werden. So können sich die zuständigen Behörden im Einvernehmen mit den beteiligten verbundenen Unternehmen auf einen abweichenden Lauf der Frist – im Regelfall auf eine längere Laufzeit6 – einigen (Art. 7 Abs. 4 EU-Schiedskonvention). In der Praxis wird hiervon häufiger Gebrauch gemacht.7 Unter bestimmten Umständen ist bei der Zwei-Jahres-Frist auch eine Anlaufhemmung zu beachten: Wird der Fall im Rahmen eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs bei einem nationalen Gericht anhängig gemacht, beginnt die Zwei-Jahres-Frist erst mit Rechtskraft der (letztinstanzlichen) Entscheidung zu laufen (Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 2 EU-Schiedskonvention).8 Schließlich wird der Lauf der Frist auch gehemmt, wenn das Verständigungsverfahren mit Rücksicht auf ein laufendes Ermittlungsverfahren nach Art. 8 Abs. 2 EU-Schiedskonvention ausgesetzt wird.9

8.83

1 2 3 4 5

6 7 8 9

Krabbe in Wassermeyer, Vor Art. 7 EU-SchÜ Rz. 2. Vgl. Krabbe in Wassermeyer, Art. 7 EU-SchÜ Rz. 5. Überarbeiteter Verhaltenskodex, ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, s. 1 – 10, Tz. 5 lit. b. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 13.1.2. Die Auffassung des BMF ist insoweit nicht ganz konsistent, als es für den Beginn der Frist nach Art. 6 Abs. 1 EU-Schiedskonvention auf die „Bekanntgabe“ des Steuerbescheides ankommen soll, während für Zwecke von Art. 7 Abs. 1 auf das (hiervon zu unterscheidende) Erlassdatum abgestellt wird, vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 11.2.1 sowie Tz. 13.1.2. Vgl. Krabbe in Wassermeyer, Art. 7 EU-SchÜ Rz. 18. Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268 (269) verweisen sogar darauf, dass bisweilen selbst auf die Zustimmung des Unternehmens verzichtet würde. Vgl. hierzu Krabbe in Wassermeyer, Art. 7 EU-SchÜ Rz. 6. Vgl. Krabbe in Wassermeyer, Vor Art. 8 EU-SchÜ Rz. 8; sowie Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 7 EU-SchÜ Rz. 4 ff.

Hendricks

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Kap. 8 Rz. 8.84

Internationale Verfahren

c) Zusammensetzung des Beratenden Ausschusses

8.84 Sofern die betroffenen Mitgliedstaaten nichts anderes vereinbaren, ergreift nach dem Verhaltenskodex der Mitgliedstaat, der die Maßnahme erlassen hat, die zu einer Doppelbesteuerung geführt hat, die Initiative zur Einsetzung des Beratenden Ausschusses und organisiert dessen Sitzungen.1 Der Beratende Ausschuss besteht grundsätzlich aus je zwei Vertretern der zuständigen Behörden, einer geraden Anzahl unabhängiger Personen2 sowie aus seinem Vorsitzenden (Art. 9 Abs. 1 EU-Schiedskonvention). Der Vorsitzende wird von den übrigen Mitgliedern des Ausschusses gewählt (Art. 9 Abs. 2 EU-Schiedskonvention). Der Beratende Ausschuss besteht demnach aus einer ungeraden Anzahl von Mitgliedern, so dass eine Mehrheitsentscheidung3 sichergestellt ist.4 Der Ausschuss wird durch ein Sekretariat unterstützt, das von dem Vertragsstaat gestellt wird, der die Einsetzung des Beratenden Ausschusses veranlasst hat, sofern die zuständigen Behörden der an dem Fall beteiligten Vertragsstaaten nichts anderes vereinbaren. Aus Gründen der Unabhängigkeit ist dieses Sekretariat dem Vorsitzenden des Beratenden Ausschusses unterstellt.5 Hinsichtlich der Einzelheiten zur Bestellung der Ausschussmitglieder wird auf Art. 9 EU-Schiedskonvention verwiesen. d) Sachaufklärung und Amtsermittlungsgrundsatz

8.85 Nach dem EU-Verhaltenskodex6 übermitteln die betroffenen Vertragsstaaten dem Beratenden Ausschuss vor seiner ersten Sitzung alle sachdienlichen Unterlagen und Informationen sowie vor allem sämtliche Dokumente, Berichte, Korrespondenz und Schlussfolgerungen aus dem Verständigungsverfahren. Auf diesem Wege werden dem Beratenden Ausschuss bereits zentrale Sachinformationen zur Verfügung gestellt.

8.86 Das Schiedsgericht ist nicht darauf beschränkt, Sachverhaltsinformationen auszuwerten, die ihm die Vertragsstaaten und die betroffenen Unternehmen von sich aus zur Verfügung stellen. Wie aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EU-Schiedskonvention geschlossen werden kann, ist der Ausschuss von Amts wegen zur eigenen Sachverhaltsaufklärung berechtigt und verpflichtet.7 Nach dieser Bestimmung sind die Unternehmen verpflichtet, jeder Aufforderung des Beratenden Ausschusses nachzukommen, mit welcher dieser die Übermittlung von Angaben, Beweismittel oder Schriftstücke anordnet. Einer entsprechenden Pflicht unterliegen die zuständigen Behörden der beteiligten Vertragsstaaten. Der Beratende Ausschuss kann die zuständigen Behörden der beteiligten Vertragsstaaten sogar verpflichten, Unterlagen oder Informationen zu beschaffen, die den jeweiligen Behörden bislang nicht vorliegen.8 In diesen Fäl1 Überarbeiteter Verhaltenskodex, ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 – 10, Tz. 7.2 lit. a. 2 Die unabhängigen Personen müssen aus einer Liste ausgewählt werden, die sämtliche von den Vertragsstaaten benannten unabhängigen Personen enthält. Zu diesem Zweck benennt jeder Vertragsstaat fünf Personen und unterrichtet hiervon den Generalsekretär des Rates der EU (vgl. Art. 9 Abs. 3 EU-Schiedskonvention). Die jeweils aktuelle Liste unabhängiger Personen ist auf der Internetseite des Rates der EU allgemein zugänglich. 3 Nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EU-Schiedskonvention entscheidet der Beratende Ausschuss in der Sache durch Mehrheitsentscheidung. 4 Krabbe, IStR 1996, 5 (8); Eicker/Stockburger, IWB Fach 11, EG Gruppe 2, S. 611, 668. 5 Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 13.2.2. 6 Überarbeiteter Verhaltenskodex ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 – 10, Tz. 7.2 lit. f. 7 Zutreffend Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 305; im Einzelnen auch Peters/Haverkamp, BB 2011, 1303 (1310). 8 Zutreffend z. B. Baßler, Steuerliche Gewinnabgrenzung im Europäischen Binnenmarkt, 2011, S. 329.

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Hendricks

C. Schiedsverfahren

Rz. 8.89 Kap. 8

len haben die Behörden von ihren innerstaatlichen Ermittlungsbefugnissen Gebrauch zu machen.1 Die Behörden der beteiligten Vertragsstaaten sind jedoch nicht verpflichtet, Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen, die von der normalen Verwaltungspraxis abweichen (Art. 10 Abs. 1 Satz 3 lit. a) EU-Schiedskonvention). Auch besteht keine Verpflichtung, Informationen zu erteilen, die im üblichen Verwaltungsverfahren des betroffenen Staates nicht beschafft werden können (Art. 10 Abs. 1 Satz 3 lit. b) EU-Schiedskonvention). Um eine effektive Sachverhaltsaufklärung zu ermöglichen, sind die betroffenen Unternehmen verpflichtet, auf Aufforderung des Beratenden Ausschusses vor diesem zu erscheinen (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 EU-Schiedskonvention). Führen Ermittlungsmaßnahmen gegenüber den betroffenen Unternehmen nicht zum Erfolg, ermächtigt die Konvention nicht zum Einsatz von Zwangsmitteln. In diesen Fällen wird der Ausschuss im Regelfall die zuständigen Behörden der beteiligten Vertragsstaaten zur Sachverhaltsaufklärung verpflichten, damit diese von ihren innerstaatlichen Ermittlungsbefugnissen – und damit auch von ihren innerstaatlichen Zwangsmitteln – Gebrauch machen können.2

8.87

e) Beweislastentscheidungen Die EU-Schiedskonvention trifft keine Regelungen zu der Frage, ob die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses auf der Grundlage von Beweislastverteilungsregeln ergehen kann. Der Umstand, dass der Ausschuss nach der Konvention innerhalb einer Frist von sechs Monaten sowohl zur Ermittlung des Sachverhaltes als auch zur Sachentscheidung in Form einer Stellungnahme verpflichtet ist, spricht dafür, dass eine Sachentscheidung trotz möglicher Aufklärungsdefizite ergehen soll, mit der Folge, dass eine Entscheidung auf Grundlage von Beweislastverteilungsregeln zulässig sein muss. Von einer solchen Beweislastentscheidung geht auch das Joint Transfer Pricing Forum aus.3 Dem ist nicht zuletzt deshalb zuzustimmen, weil auch im (sonstigen) Völkerprozessrecht der Grundsatz gilt, dass ein Verfahrensbeteiligter in Bezug auf eine Norm, auf die er sich beruft, die Folgen der Nichterweislichkeit der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen zu tragen hat.4 „Parteien“ des Schiedsverfahrens nach EUSchiedskonvention sind die jeweils betroffenen Vertragsstaaten. Vorbehaltlich etwaiger Mitwirkungspflichtverletzungen der betroffenen Unternehmen müssen diese Vertragsstaaten die Folgen von Aufklärungsdefiziten tragen.

8.88

In materiell-rechtlicher Hinsicht muss der Beratende Ausschuss seine Entscheidung auf Grundlage des Fremdvergleichsgrundsatzes treffen (vgl. Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 2 EUSchiedskonvention). Nach Art. 4 EU-Schiedskonvention ist eine Gewinnkorrektur zulässig, wenn die betroffenen Unternehmen ihre Gewinne nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprechend abgegrenzt haben. Bleibt ein Vertragsstaat vor dem Beratenden Ausschuss den Beweis schuldig, dass die betroffene Geschäftsbeziehung nicht dem Fremdvergleich entsprach, hat der Beratende Ausschuss mit Rücksicht auf die anzuwendenden Beweislastregeln eine Ent-

8.89

1 So zutreffend Krabbe in Wassermeyer, Art. 10 EU-SchÜ Rz. 4. 2 Vgl. Krabbe in Wassermeyer, Art. 10 EU-SchÜ Rz. 4. 3 Vgl. Rz. 49 des Kurzberichts über die vierte Sitzung des JTPF, DOC: JTPF/012/2003/DE; ebenso Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268 (272); Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 306; Peters/Haverkamp, BB 2011, 1303 (1309 f.); im Ergebnis ebenso Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 10 EU-SchÜ Rz. 9. 4 Ausführlich und grundlegend hierzu Benzing, Das Beweisrecht vor internationalen Gerichten und Schiedsgerichten in zwischenstaatlichen Streitigkeiten, 2010, S. 585 ff. (mit einer eingehenden Rechtsprechungsanalyse).

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Kap. 8 Rz. 8.90

Internationale Verfahren

scheidung zulasten dieses Vertragsstaates zu treffen. Damit liegt die Beweislast bei dem Vertragsstaat, der unter Berufung auf die fehlende Fremdüblichkeit der jeweiligen Geschäftsbeziehung das Einkommen des betroffenen Unternehmens erhöht hat.1 f) Prozessuale Stellung des Steuerpflichtigen

8.90 Das betroffene Unternehmen ist selbst nicht „Partei“ des Schiedsverfahrens. Auch hat das Unternehmen keinen Anspruch darauf, durch Beweisanträge das Sachaufklärungsprogramm des Beratenden Ausschusses zu beeinflussen.2 Es hat lediglich die Möglichkeit, die Erhebung bestimmter Beweise anzuregen (Beweisanregung). Auf Antrag eines beteiligten Unternehmens findet vor dem Beratenden Ausschuss eine Art mündliche Verhandlung statt. Dabei hat das Unternehmen Gelegenheit, die Sach- und Rechtslage aus seiner Sicht darzustellen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 EU-Schiedskonvention).3 Es kann sich hierbei durch einen Bevollmächtigten (z. B. Rechtsanwalt oder Steuerberater) vertreten lassen (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 EU-Schiedskonvention). Ein darüberhinausgehendes Recht zur Teilnahme an den Ausschusssitzungen wird – auch vom Joint Transfer Pricing Forum4 – abgelehnt.5 g) Entscheidung in Form einer Stellungnahme

8.91 Der Beratende Ausschuss ist nach der Konvention verpflichtet, eine Stellungnahme („opinion“) abzugeben, wie die gerügte Doppelbesteuerung beseitigt werden soll (vgl. Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1 EU-Schiedskonvention). Die Äußerung des Beratenden Ausschusses erfolgt in Form einer zunächst unverbindlichen Stellungnahme. Erst wenn sich die Vertragsstaaten nicht innerhalb von 6 Monaten nach Abgabe der Stellungnahme auf eine abweichende Art der Beseitigung der Doppelbesteuerung einigen, erstarkt die Stellungnahme zu einem für die Vertragsstaaten bindenden Schiedsspruch (vgl. Rz. 8.98). In materiell-rechtlicher Hinsicht ist der Inhalt dieser Stellungnahme durch die Konvention vorbestimmt: Der Ausschuss hat seiner Beurteilung die Bestimmungen von Art. 4 EU-Schiedskonvention zugrunde zu legen (Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 2 EU-Schiedskonvention). Entscheidungsmaßstab ist also der Fremdvergleichsgrundsatz.6 Eine Entscheidung „ex aequo et bono“ unter Ausblendung des Fremdvergleichsgrundsatzes ist damit ausgeschlossen.7 Für die Beschlussfassung über die Stellungnahme gilt das Mehrheitsprinzip. Es reicht die einfache Mehrheit aller Ausschussmitglieder (Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EU-Schiedskonvention).8

8.92 Auch für die Abgabe der Stellungnahme gilt der Beschleunigungsgrundsatz. Der Beratende Ausschuss hat die Stellungnahme binnen sechs Monaten abzugeben, nachdem er „befasst 1 So bereits Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268 (272). 2 In nationalen Gerichtsverfahren nach der FGO haben Steuerpflichtige in gewissem Umfang die Möglichkeit, das Sachaufklärungsprogramm durch geeignete Beweisanträge zu beeinflussen. vgl. hierzu Stalbold in Beermann/Gosch, § 76 FGO Rz. 26 ff. m. w. N. 3 Krabbe in Wassermeyer, Art. 10 EU-SchÜ Rz. 9. 4 Mitteilung der Kommission vom 23.4.2004, KOM (2004) 297 endgültig, 23. 5 Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268 (269) unter Hinweis auf den völkerrechtlichen Charakter des Verfahrens; im Ergebnis ebenso Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECDMA, Art. 10 EU-SchÜ Rz. 5. 6 Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 311; Krabbe in Wassermeyer, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 3; Peters/Haverkamp, BB 2011, 1303 (1309). 7 Zutreffend Krabbe in Wassermeyer, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 3; in diesem Sinne auch Menck in Gosch/ Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 3. 8 Vgl. Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 313.

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C. Schiedsverfahren

Rz. 8.95 Kap. 8

worden ist“ (Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 EU-Schiedskonvention). Die Frist wird überwiegend als Entscheidungsfrist verstanden: Unter dem Begriff „befasst“ („referred“) soll hiernach nicht jegliche Beschäftigung mit dem Streitfall zu verstehen sein, sondern Einstieg in die Sachbearbeitung. Auf Grundlage dieses Verständnisses soll die Frist nach dem überarbeiteten Verhaltenskodex1 und der deutschen Finanzverwaltung2 an dem Tag zu laufen beginnen, an dem der Ausschussvorsitzende bestätigt, dass die Ausschussmitglieder alle sachdienlichen Unterlagen und Informationen (vor allem sämtliche Dokumente, Berichte, Korrespondenz und Schlussfolgerungen aus dem Verständigungsverfahren) erhalten haben.3 Spätestens sechs Monate später hat der Ausschuss seine Stellungnahme abzugeben. Besondere Folgen für den Fall einer Fristüberschreitung sind nicht vorgesehen. Gibt der Ausschuss seine Stellungnahme erst nach Ablauf der Frist ab, so entfaltet sie dieselben Wirkungen wie eine rechtzeitig abgegebene Stellungnahme.4

8.93

Zu Form und Inhalt der Stellungnahme schweigt sich die EU-Schiedskonvention aus. Nach dem Verhaltenskodex soll die Stellungnahme Folgendes enthalten:5

8.94

a) die Namen der Mitglieder des Beratenden Ausschusses; b) den Antrag, der Folgendes beinhaltet: i) Namen und Anschriften der beteiligten Unternehmen; ii) die beteiligten zuständigen Behörden; iii) eine Beschreibung des dem streitigen Fall zugrunde liegenden Sachverhalts; iv) eine klare und eindeutige Darlegung, was der Antragsteller fordert; c) eine kurze Zusammenfassung des Verfahrens; d) die Argumente und Methoden, auf die sich die Entscheidung in der Stellungnahme stützt; e) die Stellungnahme; f) den Ort, an dem die Stellungnahme abgegeben wurde; g) den Zeitpunkt, zu dem die Stellungnahme abgegeben wurde; h) die Unterschriften der Mitglieder des Beratenden Ausschusses. Die eigentliche Stellungnahme (lit. e) sollte als Tenor eine Aussage darüber treffen, wie die Doppelbesteuerung unter Beachtung des Fremdvergleichsgrundsatzes beseitigt werden soll. Der Tenor der Stellungnahme sollte deutlich machen, inwieweit die streitbefangenen Gewinne dem einen Unternehmen(steil) oder dem anderen Unternehmen(steil) zuzurechnen sind und dementsprechend von den betroffenen Vertragsstaaten besteuert werden dürfen.6 Die 1 Überarbeiteter Verhaltenskodex, ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1–10, Tz. 7.3 lit. a. 2 Vgl. BMF, Merkblatt vom 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 13.2.2. 3 So z. B. auch Krabbe in Wassermeyer, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 2; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 310; in diese Richtung auch Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268 (269). 4 Zutreffend Krabbe in Wassermeyer, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 2. 5 Überarbeiteter Verhaltenskodex ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 – 10, Tz. 7.4; ebenso BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 13.5.3. 6 Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 2.

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8.95

Kap. 8 Rz. 8.96

Internationale Verfahren

Bekanntgabe der vollständigen Stellungnahme erfolgt nach dem Verhaltenskodex zunächst an die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten, welche dann den beteiligten Unternehmen eine Kopie der Stellungnahme übermitteln.1 8. Verständigungsvereinbarung oder Bindungswirkung der Stellungnahme a) Zweite Möglichkeit einer Verständigung

8.96 Die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses führt nicht zwingend zu einer Bindung der Vertragsstaaten. Die Stellungnahme entfaltet dann keine Bindung, wenn sich die betroffenen Vertragsstaaten innerhalb von sechs Monaten auf eine von der Stellungnahme abweichende Beseitigung der Doppelbesteuerung einigen (Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 EU-Schiedskonvention). Vor Ablauf der Frist können die Vertragsstaaten ihre zwischenstaatlichen Verständigungsbemühungen nach den Regeln über das Verständigungsverfahren (Rz. 8.34 f.) fortführen.2 Die Frist ist gewahrt, wenn vor Ablauf der Frist eine völkerrechtlich verbindliche Verständigungsvereinbarung zustande kommt.

8.97 Die Verständigungsvereinbarung muss inhaltlich zwei Anforderungen erfüllen: Sie muss einerseits i. S. von Art. 14 EU-Schiedskonvention für eine Beseitigung der Doppelbesteuerung sorgen; andererseits muss die Verständigung „auf Grundlage“ von Art. 4 EU-Schiedskonvention getroffen werden, also am Fremdvergleichsgrundsatz orientiert sein (Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 EU-Schiedskonvention). Da schon die Stellungnahme des Ausschusses den Fremdvergleichsgrundsatz berücksichtigen muss, kann sich die Abweichung der nachgeschalteten Verständigungslösung im Regelfall nur daraus ergeben, dass innerhalb vorhandener Bandbreiten eine abweichende Gewinnabgrenzung vorgenommen wird. Da eine von der Stellungnahme des Ausschusses abweichende Verständigungslösung regelmäßig für einen der Vertragsstaaten mit einem Steuereinnahmeverzicht verbunden sein wird, ist das Zustandekommen einer nachgeschalteten Verständigung in der Praxis eher unwahrscheinlich.3 b) Verbindlichkeit der Stellungnahme als Schiedsspruch

8.98 Die sechsmonatige Frist für die nachgeschaltete Verständigung beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Beratende Ausschuss seine Stellungnahme abgegeben hat. Eine Verlängerung der Frist ist ausgeschlossen.4 Kommt es innerhalb der Frist nicht zu einer zwischenstaatlichen Einigung, erstarkt die Stellungnahme zu einem für die Vertragsstaaten bindenden Schiedsspruch (Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 EU-Schiedskonvention), der dann zwingend durch Erlass entsprechender Steuerbescheide umzusetzen ist.5 Ein Rechtsmittel gegen den Schiedsspruch ist im Übereinkommen nicht vorgesehen.6 Auch die Anrufung des EuGH ist nicht möglich.7 1 Überarbeiteter Verhaltenskodex ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 – 10, Tz. 7.4. 2 Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 12 EU-SchÜ Rz. 1. 3 Zutreffend in diesem Sinne Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 317; Keerl, Internationale Verrechnungspreise in der globalisierten Wirtschaft, 2008, S. 308. 4 Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 12 EU-SchÜ Rz. 1. 5 Krabbe in Wassermeyer, Art. 12 EU-SchÜ Rz. 5; Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 12 EU-SchÜ Rz. 2 f.; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 315. 6 Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 315; Krabbe in Wassermeyer, Art. 12 EU-SchÜ Rz. 5. 7 Die Regelungen der EU-Schiedskonvention wurden letztendlich nicht als EG-Richtlinie sondern als multilateraler völkerrechtlicher Vertrag ins Leben gerufen, um sie der Rechtsprechungskom-

546

Hendricks

C. Schiedsverfahren

Rz. 8.100 Kap. 8

Mit Zustimmung der beteiligten Unternehmen können die zuständigen Behörden die Veröffentlichung des Schiedsspruchs in anonymisierter oder nicht anonymisierter Form vereinbaren (Art. 12 Abs. 2 EU-Schiedskonvention). Eine Veröffentlichung ist insbesondere dann wünschenswert, wenn der Schiedsspruch über den entschiedenen Einzelfall hinaus von grundsätzlicher Bedeutung ist.1 9. Innerstaatliche Umsetzung a) Durchbrechung der Bestandskraft Durch Art. 13 EU-Schiedskonvention ist bereits qua abkommensrechtlicher Regelung sichergestellt, dass eine Änderung der betroffenen Steuerbescheide in Folge eines Verständigungsoder Schiedsverfahrens auch dann noch möglich ist, wenn die betroffenen Steuerbescheide eigentlich bestandskräftig („endgültig“) sind. In Deutschland erfolgt die innerstaatliche Umsetzung nach Maßgabe von § 175a AO. Eine zwischenstaatliche Verständigungslösung oder eine zum Schiedsspruch erstarkte Stellungnahme können – unabhängig von der formellen Bestandskraft der jeweiligen Steuerbescheide – durch entsprechende Änderungsbescheide umgesetzt werden (vgl. § 175a AO).2 Nach § 175a Satz 2 AO endet die Festsetzungsfrist insoweit nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Wirksamwerden der Verständigungsvereinbarung.

8.99

b) Verhältnis zu gerichtlich bestätigten Steuerbescheiden Die Durchführung eines Verständigungs- und Schiedsverfahrens ist im Grundsatz auch dann zugelassen, wenn die Steuerfestsetzung durch Gerichtsentscheidung bestätigt und hierdurch verfahrensrechtlich endgültig geworden ist.3 Hiervon macht allerdings Art. 7 Abs. 3 EUSchiedskonvention für das Schiedsverfahren eine Ausnahme, soweit nach dem innerstaatlichen Recht eines Vertragsstaats eine Abweichung von Gerichtsentscheidungen nicht möglich ist. In diesen Fällen ist das Schlichtungsverfahren nur zugelassen, wenn zuvor auf das Rechtsmittel verzichtet oder es zurückgenommen worden ist. Nach dem innerstaatlichen Recht zahlreicher EU-Mitgliedstaaten dürfen ihre Finanzbehörden nicht von den Entscheidungen staatlicher Gerichte abweichen.4 Die deutsche Finanzverwaltung geht davon aus, dass eine solche Einschränkung nicht in Deutschland gilt, da gem. § 110 Abs. 2 FGO i. V. m. § 175a AO auch Steuerbescheide geändert werden könnten, deren Rechtmäßigkeit rechtskräftig gerichtlich bestätigt worden ist.5 Basierend auf diesem Verständnis können in Folge eines Verständigungs- oder Schiedsverfahrens auch Steuerbescheide geändert werden, die durch die Entscheidung eines Finanzgerichts oder des BFH bestätigt worden sind.

1 2 3 4 5

petenz des EuGH zu entziehen, vgl. nur Knobbe-Keuk, EuZW 1992, 336 (337); Saß, DB 1991, 984. Ähnlich Krabbe in Wassermeyer, Art. 12 EU-SchÜ Rz. 7. Ausführlich zur Anwendbarkeit weiterer Korrekturvorschriften zur Umsetzung zwischenstaatlicher Verständigungsvereinbarungen Stiewe, Die verfahrensrechtliche Umsetzung internationaler Verständigungsvereinbarungen (§ 175a AO), 2011, S. 177 ff. Vgl. Krabbe in Wassermeyer, Art. 13 EU-SchÜ Rz. 2. Eine derartige „Änderungssperre“ besteht in Belgien, Frankreich, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik sowie in Großbritannien, vgl. die entsprechenden Erklärungen zu Art. 7 EU-Schiedskonvention. Vgl. BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 13.1.4.

Hendricks

547

8.100

Kap. 8 Rz. 8.101

Internationale Verfahren

10. Kosten und Gebühren a) Verständigungsverfahren

8.101 Für das Verständigungsverfahren enthält die EU-Schiedskonvention keine Regelung über die Kostentragung, mit der Folge, dass die Beteiligten des zwischenstaatlichen Verfahrens – also die betroffenen Vertragsstaaten – die in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten selbst tragen. Eine nationale Gebührenregelung, nach der die Finanzbehörden ihren Aufwand (nach dem Vorbild von § 178a AO) den Steuerpflichtigen pauschal oder konkretisiert weiterbelasten, fehlt nicht nur in Deutschland; sie ist international unüblich.1 Die antragsgemäße Durchführung des Verständigungsverfahrens löst also grundsätzlich keine staatlichen Gebühren aus. Umgekehrt existiert aber auch keine Regelung, nach welcher die betroffenen Unternehmen entstandene eigene Kosten (z.B. die Vergütung ihres steuerlichen Beraters) erstatten lassen können.2 Im Ergebnis trägt daher jeder Staat und jedes verfahrensbeteiligte Unternehmen seine Kosten – unabhängig von deren Höhe – selbst (Prinzip der Eigentragung). b) Schiedsverfahren

8.102 Das Prinzip der Eigentragung gilt im Grundsatz auch für das Schiedsverfahren: das Verfahren löst weder Verfahrensgebühren aus noch besteht ein Erstattungsanspruch für entstandene eigene Kosten. Lediglich zu den Kosten des Beratenden Ausschusses enthält die EU-Schiedskonvention eine Regelung: Nach Art. 11 Abs. 3 EU-Schiedskonvention sind die Kosten des Verfahrens des Beratenden Ausschusses, mit Ausnahme der den verbundenen Unternehmen entstehenden Kosten, zu gleichen Teilen von den beteiligten Vertragsstaaten zu tragen. Zu diesen Kosten gehören die allgemeinen Verfahrenskosten sowie die Honorare und Auslagen der unabhängigen Personen.3 Zu den allgemeinen Verfahrenskosten zählen sämtliche Kosten, die durch die unmittelbare Tätigkeit des Ausschusses ausgelöst werden (z. B. die Kosten für Schreibkräfte und Schreibmaterial, Reisekosten und Vergütungen für Dolmetscher, unter Umständen auch die Kosten für Sachverständige4). Nach dem überarbeiteten Verhaltenskodex beträgt das Honorar für eine unabhängige Person 1000 Euro pro Sitzungstag des Beratenden Ausschusses; der Vorsitzende erhält ein Honorar, das 10 % über dem der anderen unabhängigen Personen liegt.5 Die genannten Honorare gelten nicht, wenn sich die Mitgliedstaaten zuvor auf eine abweichende Vergütung einigen.6 11. Durchführung multilateraler Verfahren

8.103 Gerade wenn eine Geschäftsbeziehung beurteilt werden muss, die Bestandteil einer sich über mehr als zwei Staaten erstreckenden Liefer- oder Leistungskette ist, kann sich ein bilaterales Verfahren nach der EU-Schiedskonvention als untauglich herausstellen: Denn bei einer Liefer- oder Leistungskette kann die in einem Staat erfolgte Korrektur (z. B. in Folge einer Abhilfe

1 Vgl. die Zusammenstellung zu den „user fees“ bei http://www.oecd.org/ctp/dispute/countrymap profiles.htm. 2 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 14.1 i. V. m. Tz. 9; Liebchen in Schönfeld/Ditz, Art. 25 OECD-MA Rz. 319. 3 Vgl. überarbeiteter Verhaltenskodex, ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1 – 10, Tz. 7.3 lit. e; ebenso BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 14.2. 4 Krabbe in Wassermeyer, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 9. 5 Vgl. überarbeiteter Verhaltenskodex, ABl. Nr. C 322 v. 30.12.2009, S. 1–10, Tz. 7.3 lit. f. 6 Vgl. Krabbe in Wassermeyer, Art. 11 EU-SchÜ Rz. 8.

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D. Abwägung zwischen den verschiedenen verfahrensrechtlichen Optionen

Rz. 8.106 Kap. 8

oder auf Grund einer Entscheidung des Beratenden Ausschusses) zu einer Doppelbesteuerung im Verhältnis zu einem dritten (nicht am Verfahren beteiligten) Staat führen.1 Es liegt auf der Hand, dass es keinen Sinn macht, dieses Problem dadurch lösen zu wollen, die durch das eine – bilaterale – Verfahren begründete Doppelbesteuerung durch die anschließende Durchführung eines weiteren – bilateralen – Verfahrens zu beseitigen.2 Vielmehr macht es Sinn, Staaten und Unternehmen, deren Interessen bei der Beseitigung der Doppelbesteuerung fraglichen Geschäftsbeziehung berührt sein könnten, möglichst früh an dem Ursprungsverfahren nach der EU-Schiedskonvention zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob die Konvention zwingend auf die Durchführung bilateraler Verfahren beschränkt ist oder ob auch mehr als zwei Staaten (und Unternehmen) beteiligt werden können. Auf den ersten Blick scheint die EU-Schiedskonvention ausschließlich auf bilaterale Verfahren zugeschnitten.3 Jedoch folgt aus Art. 6 Abs. 2 EUSchiedskonvention, dass auch multilaterale Verfahren durchgeführt werden können. Hiernach hat sich die zuständige Behörde des angerufenen Vertragsstaates zu bemühen, „den Fall durch Verständigung mit der zuständigen Behörde eines jeden anderen Vertragsstaates“ zu regeln. Die Einleitung und Durchführung eines Verständigungsverfahrens kann daher auch multilateral erfolgen4.5

8.104

12. Bewertung der EU-Schiedskonvention Die EU-Schiedskonvention hat sich in der Praxis nachhaltig bewährt. Sie hat sich bewährt, obwohl das eigentliche Schiedsverfahren nur ganz selten eingeleitet wird. Allein die Existenz des obligatorischen Schiedsverfahrens erhöht die Bereitschaft der Vertreter der involvierten Vertragsstaaten, bereits in den vorgeschalteten Verfahrensabschnitten eine sachgerechte Lösung zur Vermeidung der gerügten Doppelbesteuerung zu finden. Um die Sache nicht vor dem Beratenden Ausschuss verhandeln zu müssen – und damit letztendlich aus der Hand zu geben – beseitigen die Staaten im Regelfall spätestens im Rahmen des Verständigungsverfahrens recht schnell die gerügte Doppelbesteuerung.

8.105

D. Abwägung zwischen den verschiedenen verfahrensrechtlichen Optionen I. Überblick über die einzelnen Optionen Ist es zu einer Doppelbesteuerung gekommen, stehen dem Steuerpflichtigen in der Regel verschiedene verfahrensrechtliche Instrumente zur Verfügung, mit denen er sich um die Bereinigung des Besteuerungskonflikts bemühen kann. Nahezu immer besteht die Möglichkeit, von innerstaatlichen Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen. So kann in Deutschland im An-

1 Vgl. Eigelshoven/Wolff in Lüdicke (Hrsg.), Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts, 2012, S. 138 f. mit einem Beispielsfall. 2 Zutreffend Eigelshoven/Wolff, in Lüdicke (Hrsg.), Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts, 2012, S. 138 f. 3 Vgl. Becker, IStR 2007, 592 (594). 4 Ebenso Bödefeld/Kuntschik, IStR 2010, 474 (475); Menck in Gosch/Kroppen/Grotherr, Anhang C zu Art. 25 OECD-MA, Art. 6 EU-SchÜ Rz. 12; i.E. ebenso Eigelshoven/Wolff in Lüdicke (Hrsg.), Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts, 2012, S. 138 f. 5 Hierzu vertiefend Hendricks in Wassermeyer/Baumhoff, Rz. 10.66 m. w. N.

Hendricks

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8.106

Kap. 8 Rz. 8.107

Internationale Verfahren

schluss an ein Einspruchsverfahren der nationale Rechtsweg vor einem Finanzgericht beschritten werden.

8.107 – Daneben besteht im Regelfall die Option, unter Berufung auf das einschlägige Doppelbesteuerungsabkommen ein internationales Verständigungsverfahren zu initiieren (Rz. 8.11 ff.). – Für den Fall, dass das Verständigungsverfahren scheitert, sehen einige wenige der von Deutschland abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen die Durchführung eines fakultativen oder obligatorischen Schiedsverfahrens zur Beseitigung der Doppelbesteuerung vor (Rz. 8.51 ff.). – Für den Bereich der Verrechnungspreise sowie der Betriebsstättengewinnabgrenzung können abkommensberechtigte Steuerpflichtige schließlich noch die Durchführung eines mehrstufigen Verfahrens nach der EU-Schiedskonvention beanspruchen (Rz. 8.59 ff.).

8.108 Die dargestellten Optionen bestehen in der Praxis – soweit überhaupt einschlägig – regelmäßig nebeneinander. Dies gilt auch dann, wenn ein Verständigungs- bzw. Schiedsverfahren sowohl nach dem einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommen als auch nach der EUSchiedskonvention beantragt werden kann. Die deutsche Finanzverwaltung geht von einem Wahlrecht aus, das es dem Steuerpflichtigen erlaubt, sich entweder auf die eine oder auf die andere Rechtsgrundlage zu beziehen.1 Auch die herrschende Literatur geht von einem Nebeneinander der verschiedenen Optionen aus.2

II. Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren 8.109 Über den Einsatz der jeweiligen Instrumente ist unter Berücksichtigung ihrer Vor- und Nachteile im Einzelfall zu entscheiden. Der Vorteil eines innerstaatlichen Rechtsbehelfsverfahrens liegt regelmäßig darin, dass der Steuerpflichtige als Kläger über starke prozessuale Mitwirkungsrechte verfügt. So bestimmt er mit seinen Sachanträgen das gerichtliche Streitprogramm; überdies kann er im Einzelfall durch Beweisanträge aktiv auf die Sachaufklärung einwirken. Für das Beschreiten des nationalen Rechtswegs kann im Einzelfall sprechen, dass insoweit die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides möglich ist. Im Falle des Obsiegens steht dem Kläger überdies ein Kostenerstattungsanspruch zu. Nachteilig kann sich hingegen auswirken, dass die Beschreitung des nationalen Rechtswegs immer nur die Besteuerung des betroffenen Staates beeinflussen kann. Das Verfahren bleibt einseitig national. Ein anderer Staat ist an den Ausgang des Klageverfahrens nicht gebunden, mit der Folge, dass eine eingetretene Doppelbesteuerung nach Abschluss des innerstaatlichen Gerichtsverfahrens u. U. bestehen bleibt.

8.110 Demgegenüber bindet eine in einem internationalen Verständigungsverfahren erreichte Verständigungslösung alle an diesem Verfahren beteiligten Staaten. Dies könnte für die regelmäßige Einleitung eines Verständigungsverfahrens sprechen. Allerdings besteht bei Verständigungsverfahren auf Basis klassischer Verständigungsklauseln kein Einigungszwang, so dass auch hier die Gefahr besteht, dass die Doppelbesteuerung nicht beseitigt wird. Überdies 1 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1 und Tz. 11.1.1. 2 Vgl. z.B. Drüen in FG Wassermeyer, 2015, Nr. 68 Rz. 31; Lehner in Vogel/Lehner, Art. 25 OECDMA Rz. 301; Krabbe in Wassermeyer, Art. 6 EU-SchÜ Rz. 6; Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 452 f.; Peters/Haverkamp, WB 2011, 1305; a. A. lediglich Kempf/Gelsdorf, IStR 2012, 333 ff.

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Hendricks

D. Abwägung zwischen den verschiedenen verfahrensrechtlichen Optionen

Rz. 8.113 Kap. 8

ist die Dauer von Verständigungsverfahren schwer prognostizierbar. Überlange Verfahren können im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden. Anders als bei internationalen Verständigungsverfahren kommt es infolge eines internationalen Schiedsverfahrens regelmäßig zur Beseitigung der Doppelbesteuerung. Auch zwingen die einschlägigen Rechtsgrundlagen die betroffenen Staaten regelmäßig in ein verfahrensrechtliches „Korsett“, welches das Verfahren in zeitlicher Hinsicht überschaubar und planbar macht. Wie beim Verständigungsverfahren löst das Schiedsverfahren im Regelfall keine staatlichen Gebühren aus. Nachteilig ist jedoch, dass auch hier die Beteiligtenstellung des Steuerpflichtigen sehr schwach ausgeprägt ist. Die Einwirkungsmöglichkeiten auf Verfahrensablauf und Inhalt der schiedsgerichtlichen Entscheidung sind begrenzt.

8.111

III. Abwägungskriterien für die Praxis Im Regelfall können die dargestellten Verfahren parallel initiiert werden. So ist es möglich, parallel zu einem Einspruchs- oder Klageverfahren einen Antrag auf Durchführung eines Verständigungs- oder Schiedsverfahrens zu stellen.1 Allerdings besteht die deutsche Finanzverwaltung darauf, dass nur eines der genannten Verfahren aktiv betrieben wird. So entfaltet die deutsche Verwaltung nur dann zwischenstaatliche Verständigungsbemühungen, wenn das Einspruchs- oder Klageverfahren mit Zustimmung des Steuerpflichtigen ruhend gestellt wurde.

8.112

Für den Einsatz der unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Optionen sind folgende Grundsätze zu beachten:

8.113

– Ist eine Aussetzung der Vollziehung gewünscht, ist – zumindest in Deutschland – ein Einspruch bzw. eine Klage unabdingbar (vgl. § 361 Abs. 1 AO). Eine Aussetzung der Vollziehung kommt auch dann in Betracht, wenn das Einspruchs- bzw. Klageverfahren mit Zustimmung des Steuerpflichtigen ruhend gestellt wurde.2 – Sind die Erfolgsaussichten eines nationalen Klageverfahrens besonders gut (bspw. weil der Steuerbescheid evident gegen gefestigte Rechtsprechung verstößt), sollte das nationale Klageverfahren aktiv betrieben werden. Denn im Falle des Obsiegens steht dem Steuerpflichtigen – anders als bei Verständigungs- oder Schiedsverfahren – ein Kostenerstattungsanspruch zu. Der Steuerpflichtige muss sich also nicht „auf eigene Kosten“ um die Beseitigung der abkommenswidrigen Besteuerung bemühen. – Ist das Ergebnis eines nationalen Klageverfahrens hingegen schwer zu prognostizieren, sollte der Steuerpflichtige zur Abwehr einer internationalen Doppelbesteuerung im Regelfall3 das Verständigungs- bzw. Schiedsverfahren aktiv betreiben, da das Ergebnis dieser Verfahren nicht einseitig bleibt, sondern in beiden Vertragsstaaten Bindungswirkung entfaltet. Gerade wenn die einschlägigen Rechtsgrundlagen die Durchführung eines Schiedsverfah-

1 BMF, Merkblatt v. 13.7.2006, BStBl. I 2006, 461, Tz. 2.1.5. 2 Das Ruhen des Einspruchsverfahrens mit Zustimmung des Einspruchsführers erfolgt auf Grundlage von § 363 Abs. 2 Satz 1 AO. Ein Ruhen des Klageverfahrens setzt die Zustimmung von Kläger und Beklagtem voraus (vgl. § 155 FGO i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO). 3 Dies gilt freilich nicht, wenn Verständigungsverfahren im Verhältnis zum betroffenen Staat regelmäßig ohne Erfolg bleiben und eine obligatorische Schiedsklausel nicht existiert.

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Kap. 8 Rz. 8.113

Internationale Verfahren

rens vorsehen, ist dieser Weg zu wählen. Soweit möglich ist grundsätzlich die Einleitung eines Verfahrens nach der EU-Schiedskonvention zu empfehlen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die fragliche Geschäftsbeziehung unmittelbar oder mittelbar in mehr als zwei Staaten von Bedeutung ist; die EU-Schiedskonvention bietet insoweit den Vorteil, dass eine sachgerechte Lösung auch in einem multilateralen Verfahren angestrebt werden kann (vgl. Rz. 8.103 f.).

552

Hendricks

Kapitel 9 Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren f) Einziehungsverfügung (§ 314 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Erzwingungshaft (§ 284 Abs. 8 AO) . . . . . . . . . . . . h) Kontenpfändung . . . . . . . . . . . . . i) Leistungsgebot (§ 254 Abs. 1 AO) j) Pfändung beweglicher Sachen . . k) Pfändung von Forderungen und anderen Vermögensrechten. . . . . l) Vermögensauskunft des Vollstreckungsschuldners. . . . . . . . . . m)Verwertung von Pfandsachen (§ 297 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . n) Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung. . . . . . . . . . . .

A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9.1

II. Aufteilungsbescheid . . . . . . . . . . . . .

9.7

III. Einstweilige Einstellung der Vollstreckung 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unbilligkeit der Vollstreckung . . . . . 3. Rechtsfolgen und Rechtsschutz . . . .

9.10 9.13 9.20

IV. Aussetzung der Verwertung . . . . . . .

9.23

V. Pfändungsmaßnahmen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutz und Anträge im Vollstreckungsverfahren a) Aufteilungsbescheid . . . . . . . . . . b) Auskunftserteilung im Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . c) Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung. . . . . . . . . . . . . d) Einstweilige Einstellung der Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . e) Eintragung in das Schuldnerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9.25 9.27

B. Rechtsschutz im Insolvenzverfahren

9.32

I. Insolvenzantrag des Finanzamtes. . .

9.35 9.37 9.39

II. 1. 2. 3. 4.

Eröffnung des Insolvenzverfahrens Unterbrechung des Verfahrens. . . . . Stellung des Insolvenzverwalters . . . Aufnahme des Verfahrens. . . . . . . . . Anmeldung der Forderung zur Insolvenztabelle. . . . . . . . . . . . . . . . .

9.40 9.42 9.45 9.46 9.48 9.49 9.51 9.52 9.54

9.56 9.61 9.68 9.71 9.75

A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren Literatur: Balmes, Rettungsanker: Vollstreckungsaufschub, AO-StB 2002, 65; Bartone, Forderungspfändung und Übermaßverbot, AO-StB 2002, 307; Bartone, Einstweilige Einstellung der Vollstreckung nach § 258 AO, AO-StB 2016, 224; Bilsdorfer, Vollstreckungsschutz während eines laufenden Aussetzungsverfahrens, FR 2000, 708; Carlé, Einstweiliger Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren, AO-StB 2004, 232; Carlé, Die Vermögensauskunft kritisch betrachtet, AO-StB 2013, 347; Hagemann, Die Durchführung des Vermögensauskunftsverfahrens durch die Vollstreckungsbehörde, KKZ 2013, 121 und 148; Lemaire, Pfändungsschutz bei Forderungspfändung, AO-StB 2004, 227; Lindwurm, Rechtsschutz des Vollstreckungsschuldners gegen Anträge des Finanzamts an das Amtsgericht, DStZ 2002, 135; Loschelder, Wenn die Vollstreckung wegen Steuerschulden droht, AO-StB 2001, 281; Loschelder, Der Vollziehungsbeamte vor der Tür, AO-StB 2002, 62; Obermair, Stundung, Vollstreckungsaufschub, Insolvenzantrag, BB 2006, 582; Seikel, Vorläufiger Rechtsschutz bei Vollstreckungsmaßnahmen, BB 1991, 1165.

I. Allgemeines Rechtsgrundlage für die Vollstreckung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis sind die §§ 249 ff. AO. Im Vollstreckungsverfahren nach der Abgabenordnung besteht keine dem

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553

9.1

Kap. 9 Rz. 9.2

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

§ 757 ZPO entsprechende Verpflichtung zur Vorlage eines Titels.1 Wer eine Steuer oder Nebenabgabe an das Finanzamt schuldet, kann sich bei Nichtzahlung langfristig allerdings nicht gegen eine Vollstreckung schützen. Wird eine konkrete Vollstreckungsmaßnahme aufgehoben, weil sie ggf. rechtswidrig ist, wird sie durch eine andere rechtmäßige Vollstreckungsmaßnahme ersetzt.

9.2 Der Rechtsschutz wird im Regelfall nur gem. § 258 AO durch Vollstreckungsschutz gewährt, wenn die Vollstreckung unbillig ist.

9.3 Ausgangspunkt ist bei Rechtsbehelfen im Vollstreckungsverfahren immer die Rechtswidrigkeit einzelner Vollstreckungsmaßnahmen, ihre Anordnung und Aufrechterhaltung sowie die Art und Weise der Durchführung der Vollstreckung2 und nicht die Rechtmäßigkeit der festgesetzten und beizutreibenden Steuer. Mit Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit des zu Grunde liegenden Steuer- oder Haftungsbescheids, dessentwegen vollstreckt wird, ist der Vollstreckungsschuldner grundsätzlich ausgeschlossen. Hiergegen kann sich der Vollstreckungsschuldner nach § 256 AO nur mit den außerhalb des Vollstreckungsverfahrens hierfür zugelassenen Rechtsbehelfen, also Einspruch und Klage, wenden.

9.4 Die Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahme muss im Einzelnen dargelegt und nachgewiesen werden.3

9.5 Als Einwendungen kommen z. B. in Betracht: – Fehlen der Vollstreckungsvoraussetzungen des § 254 AO4 (also: kein wirksamer Verwaltungsakt5, keine Fälligkeit, kein Leistungsgebot6), – Einwand des Erlöschens (mit entsprechenden Nachweisen! – vgl. § 257 Abs. 1 Nr. 3 AO), – Verbot der Überpfändung (§ 281 Abs. 2 AO), – Verbot der sog. zwecklosen Pfändung (§ 281 Abs. 3 AO), – Pfändung unpfändbarer Sachen (§ 295 AO i. V. m. §§ 811 ff. ZPO), – Unbilligkeit der Pfändung (§ 258 AO).

9.6 Die Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO ist im Steuerrecht nicht zulässig.7

II. Aufteilungsbescheid Literatur: Eich, Die Aufteilung einer Gesamtschuld, AO-StB 2004, 335; Hagen, Aufteilung einer Gesamtschuld, NWB 2005, 1545.

9.7 Wird gegen Gesamtschuldner vollstreckt, weil sie zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden sind (Zusammenveranlagung von Ehegatten), so bietet es sich zunächst an, 1 2 3 4 5 6 7

BFH v. 30.1.2009 – VII B 235/08, BFH/NV 2009, 1077. BFH v. 13.7.2006 – VII B 284/05, juris. BFH v. 19.11.2002 – VII B 129/02, BFH/NV 2003, 334. BFH v. 22.10.2002 – VII R 56/00, BStBl. II 2003, 109. BFH v. 21.12.2001 – VII R 24/01, BFH/NV 2002, 660. BFH v. 4.8.2006 – VII B 251/05, BFH/NV 2006, 2227. BFH v. 1.8.2002 – VII B 352/00, BFH/NV 2002, 1547.

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A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren

Rz. 9.11 Kap. 9

zur Beschränkung der Vollstreckung einen Antrag nach § 268 AO auf Erteilung eines Aufteilungsbescheids zu stellen. Den Aufteilungsmaßstab i. S. von § 270 Satz 1 AO bildet das Verhältnis der bei einer Einzelveranlagung der beiden Ehegatten von jedem Steuerschuldner zu zahlenden Einkommensteuer. Insoweit ist eine fiktive Einzelveranlagung durchzuführen.1 Das Verhältnis dieser unter Berücksichtigung der Einkommensteuer-Grundtabelle fiktiv errechneten Steuerbeträge ist der Aufteilung der Gesamtschuld zu Grunde zu legen.2 Der Ansatz, die rückständige Steuerschuld nach dem Verhältnis der Einkünfte aufzuteilen, wurde vom Gesetzgeber bewusst nicht gewählt, weil dieses Verfahren den Gesamtschuldner mit dem niedrigeren Einkommen benachteiligt hätte; denn dieser wäre dann für einen höheren Betrag als bei einer Einzelveranlagung in Anspruch genommen worden.3

9.8

Der Aufteilungsbescheid ist ein Verwaltungsakt. Gegen den Aufteilungsbescheid sind der Einspruch und sodann die Anfechtungsklage gegeben. Wendet sich nur einer der Gesamtschuldner gegen den Aufteilungsbescheid, so ist der andere Gesamtschuldner zum Verfahren hinzuzuziehen bzw. notwendig beizuladen (s. Rz. 2.225 ff. und Rz. 3.789 ff.). Zur Begründung des Einspruchs oder der Klage können nur Einwendungen gegen die Art der Aufteilung erhoben werden; Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung selbst sind unzulässig (§ 270 Satz 2 AO). Da der Aufteilungsbescheid nicht vollziehbar ist, ist ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung unzulässig.4

9.9

III. Einstweilige Einstellung der Vollstreckung 1. Vorüberlegungen Zunächst sollte geprüft werden, ob die Vollstreckung nach § 257 AO einzustellen oder zu beschränken ist. Nach dieser Vorschrift ist die Vollstreckung einzustellen oder zu beschränken, sobald

9.10

– die Vollstreckbarkeitsvoraussetzungen des § 251 Abs. 1 AO weggefallen sind (Nr. 1), – der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben wird (Nr. 2), – der Anspruch auf die Leistung erloschen ist (Nr. 3), z. B. durch Zahlung, Verjährung, Aufrechnung oder Erlass (§ 47 AO), – die Leistung gestundet worden ist (Nr. 4). Vorab sollte ferner überprüft werden, ob sich der Vollstreckungsschuldner gegen die Vollstreckung insgesamt oder gegen eine einzelne Pfändungsmaßnahme (z. B. wegen Rechtswidrigkeit der Kontenpfändung) wenden will. Im letzteren Fall muss nämlich gegen die einzelne Pfändungsmaßnahme Einspruch eingelegt und ggf. ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt werden. Dies sollte auch deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Der häufig gestellte

1 Vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 270 AO Rz. 2. 2 BFH v. 9.8.2004 – VI S 4/04, BFH/NV 2004, 1624 m. w. N.; Müller-Eiselt in HHSp, § 270 AO Rz. 4 ff.; Zeller-Müller in Beermann/Gosch, § 270 AO Rz. 5 mit Berechnungsbeispiel. 3 Vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 270 AO Rz. 1. 4 Vgl. für alle Drüen in Tipke/Kruse, § 279 AO Rz. 8 m. w. N.

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9.11

Kap. 9 Rz. 9.12

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

Antrag auf „sofortige Aufhebung der getroffenen Vollstreckungsmaßnahmen“ kann normalerweise nicht als Einspruch gegen die einzelne Pfändungsmaßnahme ausgelegt werden.1

9.12 Wenn die Voraussetzungen des § 257 AO nicht vorliegen und auch keine spezielleren Vorschriften (z. B. § 297 AO für eine Aussetzung der Verwertung (s. Rz. 9.23 f.) in Betracht kommen, besteht für den Vollstreckungsschuldner immer noch die Möglichkeit, einen Antrag nach § 258 AO zu stellen, um Vollstreckungsaufschub zu erlangen.2 Soweit die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist, kann die Vollstreckungsbehörde diese dann gem. § 258 AO – einstweilen einstellen oder – beschränken oder – eine Vollstreckungsmaßnahme aufheben. 2. Unbilligkeit der Vollstreckung

9.13 Eine einstweilige Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung setzt gem. § 258 AO voraus, dass die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist.

9.14 Unbilligkeit liegt dann vor, wenn die Vollstreckung oder eine einzelne Vollstreckungsmaßnahme dem Vollstreckungsschuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würden, der durch kurzzeitiges Zuwarten oder durch eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden kann.3 Dabei sind Nachteile, die üblicherweise mit der Vollstreckung oder der einzelnen Vollstreckungsmaßnahme verbunden sind, nicht als „Unbilligkeit“ i. S. des § 258 AO anzusehen.4 Dies gilt auch für den Fall, dass die Ablehnung des Vollstreckungsaufschubes die Gefahr einer Insolvenz erhöht.5

9.15 Vollstreckungsaufschub ist nur bei einer vorübergehenden Notlage zu gewähren, die nicht die Einziehung der Forderung als solche, sondern lediglich die Art und Weise sowie den Umfang oder den Zeitpunkt ihrer Vollstreckung als unbillig erscheinen lässt.6 Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kommt daher nur in Betracht, wenn zu erwarten ist, dass die Finanzbehörde in absehbarer Zeit – auch ohne die angegriffene Vollstreckungsmaßnahme – befriedigt werden kann.7 Dies bedeutet nach der Rechtsprechung ein Zuwarten der Finanzbehörde über einen kurzfristigen Zeitraum von etwa sechs, in Ausnahmefällen bis zu maximal zwölf Monaten.8

1 Vgl. BFH v. 26.6.1990 – VII B 161/89, BFH/NV 1991, 393. 2 Vgl. hierzu vor allem Bartone, AO-StB 2016, 224. 3 BFH v. 18.11.2010 – XI B 56/10, BFH/NV 2011, 199; v. 21.4.2009 – I B 178/08, BFH/NV 2009, 1596. 4 BFH v. 31.5.2005 – VII R 62/04, BFH/NV 2005, 1743; v. 7.10.1992 – VII R 92/92, BFH/NV 1993, 513; vgl. auch Bartone, AO-StB 2016, 224. 5 BFH v. 31.5.2005 – VII R 62/04, BFH/NV 2005, 1743. 6 BFH v. 10.3.2016 – III R 2/15, BStBl. II 2016, 508 unter Berufung auf BFH v. 14.5.1987 – X R 26/81, BFH/NV 1988, 411. 7 BFH v. 7.10.1993 – VII R 92/92, BFH/NV 1993, 513. 8 BFH v. 5.10.2001 – VII B 15/01, BFH/NV 2002, 160; FG Berlin v. 21.9.2004 – 7 K 7295/04, EFG 2005, 9, bestätigt durch BFH v. 31.5.2005 – VII R 62/04, BFH/NV 2005, 1743, allerdings ohne Festlegung, was „kurzfristiges Zuwarten“ ist; FG Köln v. 19.2.2014 – 13 V 228/14, EFG 2014, 1017; v. 16.3.2012 – 15 V 20/12, EFG 2012, 1715 m. w. N.; zu längerer Frist bei Sonderfall mit Gefahr für Leben oder Gesundheit vgl. BFH-Beschluss v. 28.9.2006 – V B 71/05, juris.

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A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren

Rz. 9.17 Kap. 9

Als Umstände, die zu einer unbilligen Härte führen können, kommen insbesondere in Betracht:1

9.16

– wenn den Steueransprüchen aufrechenbare Gegenansprüche gegenüberstehen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehen und in absehbarer Zeit fällig werden,2 – wenn Erlass- oder Stundungsantrag gestellt worden ist und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit der beantragten Stundung oder dem beantragten Erlass zu rechnen ist,3 – das Anbieten von Ratenzahlungen durch den Vollstreckungsschuldner, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, dass der Vollstreckungsschuldner seine Zusage einhalten wird, und wenn nach der Höhe der angebotenen Raten mit einer zügigen und kurzfristigen Tilgung der Steuerschuld gerechnet werden kann.4 Von einem absehbaren Zeitraum kann jedenfalls dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn der dem Finanzamt unterbreitete Tilgungsvorschlag eine vollständige Begleichung der Steuerrückstände erst nach mehreren Jahren erwarten lässt,5 – vorübergehende Bedrohung der wirtschaftlichen oder persönlichen Existenz des Steuerpflichtigen, z. B. durch Verlust des Arbeitsplatzes oder durch verzögerte Zahlungen der öffentlichen Hand,6 wenn diese Nachteile durch Ratenzahlungen vermieden werden können, – Vorliegen von ausreichenden, jederzeit verwertbaren Sicherheiten,7 – in Ausnahmefällen Krankheit, falls im Einzelfall bei Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen von Gläubiger und Schuldner die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall wesentlich schwerer wiegen als die Gläubigerinteressen. Insoweit ist geklärt, dass eine längerfristige Einstellung der Vollstreckung ausnahmsweise dann in Betracht kommt, wenn die betreffende Vollstreckungsmaßnahme im konkreten Fall geeignet ist, Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Vollstreckungsschuldners auszulösen.8 Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der der Vollstreckung zugrundeliegenden Steuerbescheide vermögen im Allgemeinen keine Unbilligkeit i. S. des § 258 AO zu begründen. Dies wird in der Praxis häufig verkannt. Diese Einwendungen sind außerhalb des Vollstreckungsverfahrens mit den hierfür zugelassenen Rechtsbehelfen (Einspruch gegen den Steuerbescheid und Antrag auf Aussetzung der Vollziehung) zu verfolgen (§ 256 AO). Die Verwaltung ist grundsätzlich berechtigt, auch aus noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheiden zu vollstrecken, soweit ihre Vollziehung nicht ausgesetzt ist (§ 251 Abs. 1 AO). 1 Vgl. dazu im Einzelnen Loose in Tipke/Kruse, § 258 AO Rz. 6; Bartone, AO/StB 2016, 224. 2 BFH v. 28.8.2008 – VII B 233/07, BFH/NV 2008, 1991. 3 BFH v. 15.1.2003 – V S 17/02, BFH/NV 2003, 738 m. w. N.; v. 20.7.2000 – VII B 47/00, BFH/NV 2001, 313. 4 BFH v. 11.12.2007 – VII R 52/06, BFH/NV 2008, 749. 5 BFH v. 21.4.2009 – I B 178/08; BFH/NV 2009, 1596; v. 12.12.2005 – VIII R 63/04, BFH/NV 2006, 900 m. w. N. 6 Bartone, AO-StB 2016, 224 m. w. N.; Loose in Tipke/Kruse, § 258 AO Rz. 6. 7 Neumann in Beermann/Gosch, § 258 AO Rz. 15. 8 BVerfG v. 3.10.1979 – 1 BvR 614/79, BVerfGE 52, 214; BFH v. 8.7.2004 – VII B 35/04, BFH/NV 2004, 1621; v. 8.10.1998 – VII B 2/98, BFH/NV 1999, 443.

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9.17

Kap. 9 Rz. 9.18

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

9.18 Die für eine vorläufige Einstellung der Vollstreckung vorzutragenden Umstände müssen vorübergehender Natur sein. Hierauf sollten der Steuerpflichtige und sein Berater unbedingt achten. Beim Anerbieten von Ratenzahlungen müssen in jedem Fall konkrete Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden, dass die Steuerschulden in absehbarer Zeit durch freiwillige Leistungen des Schuldners zurückgeführt werden können.

9.19 Der bloße Hinweis auf die mit jeder Einleitung eines Insolvenzverfahrens drohende Vernichtung von wirtschaftlichen Existenzen und Arbeitsplätzen reicht zur substantiierten Darlegung außergewöhnlicher und damit die Unbilligkeit der Vollstreckungsmaßnahme i. S. von § 258 AO begründender Umstände nicht aus.1 3. Rechtsfolgen und Rechtsschutz

9.20 Sofern eine Unbilligkeit im vorgenannten Sinne vorliegt, kann die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung einstweilen einstellen oder beschränken oder eine Vollstreckungsmaßnahme aufheben. Die Entscheidung ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dabei wird die Behörde berücksichtigen, dass eine Einstellung der Vollstreckung nur dann in Betracht kommt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Steuerschulden innerhalt eines absehbaren Zeitraums zurückgeführt werden können. Die Erfolgsaussichten eines Antrags sind insbesondere hoch, wenn der Vollstreckungsschuldner werthaltige Sicherheiten anbieten kann und eine Teilzahlung anbietet bzw. leistet und wenn im Zusammenhang damit eine Ratenzahlung angeboten wird, aufgrund derer die Schuld binnen sechs Monaten voraussichtlich beglichen wird.2

9.21 Wird der beantragte Vollstreckungsaufschub oder die begehrte Vollstreckungsbeschränkung nicht gewährt, kann gegen die ablehnende Entscheidung Einspruch eingelegt und – sofern dieser erfolglos bleibt – Verpflichtungsklage erhoben werden.3 Da es sich bei der Entscheidung über die Gewährung von Vollstreckungsaufschub um eine Ermessensentscheidung handelt, überprüft das Gericht nach § 102 FGO lediglich, ob die Behörde einen Ermessensfehler (Ermessensfehlgebrauch oder -überschreitung oder -nichtgebrauch) gemacht hat. Das Finanzgericht darf seine Ermessenerwägungen nicht an die Stelle derjenigen des Finanzamts setzen. Daher hat der Kläger nur einen Anspruch auf ermessenfehlerfreie Neubescheidung, es sei denn, es liegt eine Ermessenreduzierung auf null vor.

9.22 Als Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes kommt ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Finanzgericht (§ 114 FGO) in Betracht (s. Rz. 3.1255). Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Vollstreckungsschuldner zuvor einen erfolglosen Antrag nach § 258 AO bei der Vollstreckungsbehörde gestellt hat.4 Der Vollstreckungsschuldner bzw. Antragsteller hat in diesem Fall einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Ein Anordnungsanspruch in diesem Sinn kann der Anspruch nach § 258 AO auf Vollstreckungsaufschub wegen Unbilligkeit sein.5 Eine Unbilligkeit i. S. des § 258 AO ist nur gegeben, wenn die Vollstreckung oder eine einzelne Vollstreckungsmaßnahme dem Vollstreckungsschuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würde, der durch kurzfristiges Zu1 2 3 4

BFH v. 31.5.2005 – VII R 62/04, BFH/NV 2005, 1743. Bartone, AO-StB 2016, 224. Vgl. dazu auch Bartone, AO-StB 2016, 224. BFH v. 21.9.1989 – IX B 88/89, BFH/NV 1990, 253; Loose in Tipke/Kruse, § 258 AO Rz. 13; Bartone, AO-StB 2016, 224. 5 BFH v. 15.1.2003 – V S 17/02, BFH/NV 2003, 738.

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A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren

Rz. 9.26 Kap. 9

warten oder durch eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden könnte. Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn die Vollstreckung mit schwerwiegenden Nachteilen für den Vollstreckungsschuldner verbunden ist, z. B. seine wirtschaftliche oder persönliche Existenz dadurch bedroht wird.1

IV. Aussetzung der Verwertung Nach § 297 AO kann die Vollstreckungsbehörde die Verwertung gepfändeter Sachen unter Anordnung von Zahlungsfristen zeitweilig aussetzen, wenn die alsbaldige Verwertung unbillig wäre. § 297 AO ist eine besondere Ausgestaltung des § 258 AO speziell für die Verwertung. Im Unterschied zu § 258 AO setzt § 297 AO voraus, dass die alsbaldige Verwertung unbillig ist. Ist die Verwertung schlechthin unbillig, ist die Pfändungsmaßnahme nach § 258 AO aufzuheben.

9.23

Lehnt die Finanzbehörde den Antrag auf Aussetzung der Verwertung ab, so ist hiergegen der Einspruch und nach abschlägiger Einspruchsentscheidung die Verpflichtungsklage gegeben. Als Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes kommt ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Finanzgericht (§ 114 FGO) in Betracht.2

9.24

V. Pfändungsmaßnahmen 1. Allgemeines Nahezu alle Pfändungsmaßnahmen sind als Verwaltungsakte zu qualifizieren. Verwaltungsakte sind danach bei der Vollstreckung in das bewegliche Vermögen,

9.25

– die Pfändung einer beweglichen Sache, – die Pfändungs- und Einziehungsverfügung bei der Forderungspfändung; bei der Vollstreckung in das unbewegliche Vermögen – der Antrag der Finanzamts (Vollstreckungsbehörde) an das Grundbuchamt auf Eintragung einer Sicherungshypothek, weil er die nach § 322 Abs. 3 Satz 2 AO erforderliche Bestätigung enthält, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Vollstreckung vorliegen,3 – der Antrag des Finanzamts auf Zwangsversteigerung eines Grundstücks,4 Problematisch erweist sich in der Praxis häufig, dass der Verwaltungsaktcharakter einer solchen Maßnahme nicht rechtzeitig erkannt wird und diese Maßnahme dann bestandskräftig wird. Gegen solche Maßnahmen ist der Einspruch und anschließend die Anfechtungsklage und als vorläufiger Rechtsschutz die Aussetzung der Vollziehung (s. Rz. 3.811 und 9.54 f.) gegeben.

1 BFH v. 15.1.2003 – V S 17/02, BFH/NV 2003, 738. 2 Vgl. BFH v. 26.6.1990 – VII B 161/89, BFH/NV 1991, 393. 3 BFH v. 21.8.2008 – VII B 243/07, BFH/NV 2008, 1990; v. 17.10.1989 – VII R77/88, BStBl. II 1990, 44; v. 15.12.1992 – VII B 132/92, BFH/NV 1993, 711. 4 BFH v. 21.8.2008 – VII B 243/07, BFH/NV 2008, 1990; v. 25.1.1988 – VII B 85/87, BStBl. II 1988, 566.

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9.26

Kap. 9 Rz. 9.27

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

2. Rechtsschutz und Anträge im Vollstreckungsverfahren a) Aufteilungsbescheid

9.27 Der Aufteilungsbescheid dient der Beschränkung der Vollstreckung bei Gesamtschuldnern (s. Rz. 3.265).

9.28 Weigert sich die Finanzbehörde, überhaupt einen Aufteilungsbescheid zu erlassen, kommt eine Verpflichtungsklage in Betracht: Antrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, über die rückständigen Steuerbeträge einen Aufteilungsbescheid zu erlassen.

9.29 Wenn die durchführte Aufteilung unrichtig ist, muss gegen den Aufteilungsbescheid Einspruch und anschließend Anfechtungsklage erhoben werden: Klageantrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … den Aufteilungsbescheid vom … dahin gehend zu ändern, dass …

9.30 Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Aufteilungsbescheides ist unzulässig, da der Aufteilungsbescheid kein vollziehbarer Verwaltungsakt ist.1 Vollzogen wird der zugrundeliegende Verwaltungsakt (z. B. der Einkommensteuerbescheid). Vollstreckungsmaßnahmen dürfen nach § 277 AO nur insoweit durchgeführt werden, als dies zur Sicherung des Anspruchs erforderlich ist.

9.31 In der Praxis können in dem Rechtsbehelfsverfahren nur Einwendungen gegen die Art der Aufteilung und die damit verbundenen Vollstreckungsbeschränkungen geltend gemacht werden, nicht aber Einwendungen gegen die zu Grunde liegende Steuerfestsetzung (§ 270 Satz 2 AO). b) Auskunftserteilung im Vollstreckungsverfahren

9.32 Die Aufforderung an den Vollstreckungsschuldner, die zur Geltendmachung einer gepfändeten Forderung notwendige Auskunft zu erteilen und die über die Forderung vorhandenen Urkunden herauszugeben (§ 315 Abs. 2 Satz 1 AO), ist ein Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch und der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angegriffen werden kann. Klageantrag: Es wird beantragt, die Aufforderung zur Auskunftserteilung und zur Vorlage von Urkunden vom …, die ablehnende Verfügung vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, die Aufforderung zur Auskunftserteilung und zur Vorlage von Urkunden vom … in Form der Einspruchsentscheidung vom … von der Vollziehung auszusetzen.

9.33 Zur Begründung der Klage und des Aussetzungsantrags kann im Wesentlichen nur vorgetragen werden, dass die begehrte Auskunft und die Vorlage der Urkunden zur Geltendmachung der Forderung nicht notwendig sind. Einwendungen gegen die Einziehungsverfügung müssen gegen diese Verfügung vorgebracht werden, Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung selbst gegen die entsprechenden Steuerbescheide. 1 Ebenso Drüen in Tipke/Kruse, § 279 AO Rz. 8 m. w. N.

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A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren

Rz. 9.37 Kap. 9

Der Vollstreckungsschuldner hat auf Verlangen der Vollstreckungsbehörde ggf. eine eidesstattliche Versicherung über den Verbleib von Urkunden abzugeben (§ 315 Abs. 3 Satz 1 AO) und auch die von ihm zu erteilenden Auskünfte durch eidesstattliche Versicherung zu erhärten (§ 315 Abs. 2 Satz 2 AO). Auch die Aufforderung zur Abgabe der entsprechenden eidesstattlichen Versicherung ist ein Verwaltungsakt. Für die Klage gegen einen solchen Bescheid gelten deshalb die o. g. Grundsätze entsprechend.

9.34

c) Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung Wird die Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung nach § 257 AO begehrt, so erstrebt der Steuerpflichtige einen ihn begünstigenden Verwaltungsakt. Er muss deshalb, sofern sein Antrag und sein Einspruch erfolglos bleiben, eine Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Bescheides über die Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung erheben.

9.35

Klageantrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, die Vollstreckung aus dem Einkommensteuerbescheid … vom … einzustellen (bzw.: dergestalt zu beschränken, dass …). Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die Vollstreckung aus dem Einkommensteuerbescheid … vom … einzustellen (bzw. dergestalt einzuschränken, dass …).1

Zur Begründung der Klage und des Antrags auf einstweilige Anordnung muss im Einzelnen dargelegt werden, dass die Voraussetzungen des § 257 AO für eine Einstellung bzw. Einschränkung der Vollstreckung vorliegen; s. Rz. 9.10 f.

9.36

d) Einstweilige Einstellung der Vollstreckung Begehrt der Steuerpflichtige die einstweilige Einstellung der Vollstreckung nach § 258 AO, so erstrebt er ebenfalls einen ihn begünstigenden Verwaltungsakt. Er muss deshalb, sofern sein Antrag und sein Einspruch erfolglos bleiben, Verpflichtungsklage erheben. Im Unterschied zur Einstellung der Vollstreckung nach § 257 AO handelt es sich bei der einstweiligen Einstellung jedoch um eine Ermessensentscheidung. Daraus folgt: Das Gericht kann das Finanzamt nur dann zur einstweiligen Einstellung der Vollstreckung verurteilen, wenn das Ermessen des Finanzamts auf null reduziert ist, d. h. jede andere Entscheidung als die Einstellung rechtswidrig wäre. Im Übrigen kann das Gericht das Finanzamt lediglich verurteilen, den Steuerpflichtigen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Deshalb empfiehlt sich in der Regel folgender Klageantrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten zu verpflichten, die einstweilige Einstellung der Vollstreckung für rückständige Steuerschulden aus den Steuerbescheiden … vom … auszusprechen, hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, den Antrag des Klägers auf einstweilige Einstellung der Vollstreckung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die einstweilige Einstellung der Vollstreckung aus den Steuerbescheiden … vom … auszusprechen. 1 BFH v. 15.1.2003 – V S 17/02, BFH/NV 2003, 236; FG München v. 29.8.2016 – 10 V 1871/16, juris.

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9.37

Kap. 9 Rz. 9.38

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

9.38 Mit der Klage und dem Antrag auf einstweilige Anordnung kann nur geltend gemacht werden, dass die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist (vgl. Rz. 9.13 ff.). Zu den Einzelheiten betreffend das Ersuchen um die Anordnung der Erzwingungshaft s. unter Rz. 9.42 ff. e) Eintragung in das Schuldnerverzeichnis

9.39 Die Anordnung der Eintragung des Vollstreckungsschuldners in das Schuldnerverzeichnis gem. § 284 Abs. 9 AO, die im Ermessen des Finanzamts steht, ist ein Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch und anschließender Anfechtungsklage angefochten werden kann. Da Einspruch und Klage nach § 284 Abs. 6 Satz 3 AO keine aufschiebende Wirkung haben, kann einstweiliger Rechtsschutz nur über eine Aussetzung der Vollziehung erreicht werden. Klageantrag: Es wird beantragt, die Anordnung vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben,1 hilfsweise, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz: Es wird beantragt, die Vollziehung der Anordnung auf Eintragung in der Schuldnerverzeichnis vom … bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.

f) Einziehungsverfügung (§ 314 AO)

9.40 Die Einziehungsverfügung ist ein Verwaltungsakt, gegen die sich sowohl der Vollstreckungsschuldner als auch der Drittgläubiger mit dem Einspruch wenden können. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren ist die Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage gegeben. Einstweiliger Rechtsschutz wird durch Aussetzung der Vollziehung gewährt.2 Klageantrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung die Einziehungsverfügung des Beklagten vom … aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, die Einziehungsverfügung des Antragsgegners vom … in Form der Einspruchsentscheidung vom … von der Vollziehung auszusetzen.

9.41 Die Einziehungsverfügung wird in der Praxis vielfach mit der Pfändungsverfügung verbunden (s. auch Rz. 9.45), beide sind aber gleichwohl selbständig anfechtbare Verwaltungsakte, die in einem solchen Fall lediglich äußerlich zusammengefasst sind. Deshalb müssen beide Verfügungen gesondert mit dem Einspruch und der Anfechtungsklage angefochten werden. Die Klage gegen die Einziehungsverfügung und der entsprechende Antrag auf Aussetzung der Vollziehung können im Wesentlichen nur darauf gestützt werden, dass die Voraussetzungen für eine Einziehungsverfügung nicht gegeben sind (z. B. weil eine Pfändungsverfügung unterblieben ist) bzw. dass die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen des § 254 AO nicht vorliegen. g) Erzwingungshaft (§ 284 Abs. 8 AO)

9.42 Das im Ermessen der Vollstreckungsbehörde stehende Ersuchen an das Amtsgericht, die Haft zur Erzwingung der eidesstattlichen Versicherung zur Bekräftigung der Vermögensaus1 Nur bei einer Ermessensreduzierung auf null. 2 Vgl. dazu Loose in Tipke/Kruse, § 314 AO Rz. 16; FG Baden-Württemberg v. 11.2.2013 – 3 V 3819/11, juris.

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A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren

Rz. 9.45 Kap. 9

kunft anzuordnen (§ 284 Abs. 8 AO), ist ein Verwaltungsakt, der zu seiner Wirksamkeit auch dem Vollstreckungsschuldner bekanntzugeben ist und gegen den nach der Rechtsprechung der Einspruch gegeben ist.1 Das Ersuchen kann deshalb – nach erfolglosem Einspruchsverfahren – mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angegriffen werden. Klageantrag: Es wird beantragt, das Ersuchen des Beklagten vom …, die Haft zur Erzwingung der eidesstattlichen Versicherung anzuordnen, und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, das Ersuchen des Antragsgegners vom …, die Haft zur Erzwingung der Abgabe der Vermögensauskunft anzuordnen, von der Vollziehung auszusetzen.2

Die Klagebegründung und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung können im Wesentlichen nur darauf gestützt werden, dass die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (§ 254 AO) bzw. die besonderen Voraussetzungen des § 284 Abs. 8 AO für das Ersuchen nicht vorliegen (z. B. ausreichende Entschuldigung für das Nichterscheinen u. Ä.).

9.43

Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Haftbefehl vom Amtsgericht noch nicht erlassen worden ist. Zur Überprüfung des Haftbefehls ist nach § 567 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 793 ZPO die sofortige Beschwerde gegeben. Gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist die Rechtsbeschwerde an den BGH statthaft, sofern das Beschwerdegericht diese zugelassen hat.3 Den Anforderungen an die in Art. 19 Abs. 4 GG festgelegte Rechtsweggarantie ist damit Genüge getan.4

9.44

h) Kontenpfändung Die Fälle der Kontenpfändung werden häufig an die Finanzgerichte herangetragen. In diesen Fällen sollten der Vollstreckungsschuldner bzw. sein Berater genau überlegen, welches Rechtsschutzziel erreicht werden soll: ob „nur“ die Aufhebung der Kontenpfändung als solcher oder aber die Einstellung der Vollstreckung insgesamt. Im letzteren Fall müsste zunächst erst einmal ein Antrag auf endgültige oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung beim Finanzamt gestellt werden, was aber normalerweise nicht der Fall ist. Vielmehr werden in diesen Fällen zumeist nur Argumente vorgetragen, die die Rechtmäßigkeit der Pfändung betreffen (z. B. unverhältnismäßige Maßnahme, Ermessensfehler5). Wird aber lediglich die Kontenpfändung angegriffen, sind die Anfechtung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung durch Einspruch und anschließende Anfechtungsklage und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der richtige Rechtsbehelf. Klageantrag: Es wird beantragt, die Pfändungsverfügung und Einziehungsverfügung vom … betr. das Konto Nr. … bei der X-Bank und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben.

1 So BFH v. 11.12.1984 – VII B 41/84, BStBl. II 1985, 197; ebenso Müller-Eiselt in HHSp, § 284 AO Rz. 69 mit Darstellung der unterschiedlichen Auffassungen; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 284 AO Rz. 22 m. w. N. unter Darstellung des Streitstands. 2 Vgl. BFH v. 25.11.1997 – VII B 188/97, BStBl. II 1998, 227; v. 25.1.1998 – VII B 85/87, BStBl. II 1998, 566. 3 BFH v. 25.10.2004 – VII B 108/04, BFH/NV 2005, 659; vgl. Müller-Eiselt in HHSp, § 284 AO Rz. 77. 4 BFH v. 25.10.2004 – VII B 108/04, BFH/NV 2005, 659. 5 Vgl. dazu BFH v. 16.7.2007 – VII B 338/06, BFH/NV 2007, 2229.

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9.45

Kap. 9 Rz. 9.46

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz: Es wird beantragt, die Vollziehung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom … betr. das Konto Nr. … bei der X-Bank auszusetzen und das Konto freizugeben.

i) Leistungsgebot (§ 254 Abs. 1 AO)

9.46 Das Leistungsgebot ist noch keine Maßnahme der Zwangsvollstreckung, sondern Voraussetzung für den Beginn der Vollstreckung. Es handelt sich um einen Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch bzw. nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angefochten werden kann. Antrag: Es wird beantragt, das Leistungsgebot vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, das Leistungsgebot vom … in Höhe von … (oder: in voller Höhe) von der Vollziehung auszusetzen.

9.47 Mit der Klage und dem Aussetzungsantrag können nur das Leistungsgebot angegriffen werden, nicht auch die Rechtmäßigkeit des dem Leistungsgebot zu Grunde liegenden Bescheides (vgl. § 256 AO). Es muss eine selbständige Beschwer durch das Leistungsgebot geltend gemacht werden; andernfalls ist der Rechtsbehelf unzulässig.1 j) Pfändung beweglicher Sachen

9.48 Bei der Pfändung von beweglichen Sachen (§ 286 AO) handelt es sich um Verwaltungsakte. Die Pfändungen sind deshalb mit Einspruch und Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angreifbar. Antrag: Es wird beantragt, die Pfändung der … (Bezeichnung der gepfändeten Sachen) lt. Pfändungsniederschrift vom … und die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, die Pfändung der … (Bezeichnung der gepfändeten Sachen) lt. Pfändungsniederschrift vom … von der Vollziehung auszusetzen.

k) Pfändung von Forderungen und anderen Vermögensrechten

9.49 Bei der Pfändungsverfügung, die sich gem. §§ 309, 321 AO auf die Pfändung von Forderungen und anderen Vermögensrechten bezieht, z. B. Kontenpfändung, handelt es sich ebenfalls um einen Verwaltungsakt, der mit Einspruch und Klage angefochten werden kann (s. auch Rz. 9.45). Antrag: Es wird beantragt, die Pfändungsverfügung vom … betr. die gegen den X bestehende Forderung … sowie die Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, die Pfändungsverfügung vom … betr. die gegen den X bestehende Forderung … von der Vollziehung auszusetzen.

9.50 Neben der Pfändungsverfügung sollte auch die gleichzeitig ergangene Einziehungsverfügung angefochten werden (s. auch Rz. 9.40 f.).

1 BFH v. 13.11.2002 – I R 90/01, BFH/NV 2003, 397; vgl. dazu auch Jatzke in HHSp, § 254 AO Rz. 51.

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A. Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren

Rz. 9.54 Kap. 9

l) Vermögensauskunft des Vollstreckungsschuldners Die Anordnung zur Abgabe der Vermögensauskunft (§ 284 Abs. 1 AO) ist ebenso wie die Anordnung der Eintragung in das Schuldnerverzeichnis ein Verwaltungsakt (s. auch Rz. 9.45). Nach erfolglosem Einspruchsverfahren kann die Anordnung mit der Anfechtungsklage in Form der Aufhebungsklage angegriffen werden. Der Einspruch gegen die Anordnung der Abgabe der Vermögensauskunft hat keine aufschiebende Wirkung (§ 284 Abs. 6 Satz 3 AO). Deshalb kommt insoweit ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung in Betracht.

9.51

Klageantrag: Es wird beantragt, die Anordnung zur Abgabe der Vermögensauskunft vom … und die Einspruchsentscheidung vom … ersatzlos aufzuheben. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: die Vollziehung der Anordnung zur Abgabe der Vermögensauskunft vom … bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.

m) Verwertung von Pfandsachen (§ 297 AO) Der Vollstreckungsschuldner kann gem. § 297 AO die zeitweilige Aussetzung der Verwertung gepfändeter Sachen verlangen, wenn die alsbaldige Verwertung unbillig wäre. Es handelt sich um einen speziellen Vollstreckungsaufschub (s. Rz. 9.23 f.). Die Aussetzung ist ein begünstigender Verwaltungsakt, die Ablehnung des Antrags ist mit dem Einspruch angreifbar. Will der Vollstreckungsschuldner im Klagewege vorgehen, ist richtige Klageart die Verpflichtungsklage. Die Aussetzung der Verwertung nach § 297 AO ist eine Ermessensentscheidung. Daraus folgt: Das Gericht kann das Finanzamt nur dann zur Aussetzung der Verwertung verurteilen, wenn das Ermessen auf null reduziert ist, d.h. jede andere Entscheidung als die Aussetzung der Verwertung rechtswidrig ist. Im Übrigen kann das Gericht das Finanzamt lediglich verurteilen, den Vollstreckungsschuldner unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Deshalb empfiehlt es sich, in der Regel folgenden zweistufigen Antrag zu stellen:

9.52

Klageantrag: Es wird beantragt, unter Aufhebung der ablehnenden Verfügung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … den Beklagten für verpflichtet zu erklären, gegen Einräumung einer Zahlungsfrist bis zum … die Verwertung folgender am … gepfändeter Sachen (Aufzählung der gepfändeten Sachen) zeitweilig bis zum … auszusetzen, hilfsweise, den Beklagten für verpflichtet zu erklären, den Antrag des Klägers auf zeitweilige Aussetzung der Verwertung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung für verpflichtet zu erklären, gegen Einräumung einer Zahlungsfrist bis zum … die Verwertung folgender am … gepfändeter Sachen (Aufzählung der gepfändeten Sachen) zeitweilig bis zum … auszusetzen.

Mit der Klage und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann nur geltend gemacht werden, dass die alsbaldige Verwertung unbillig wäre, weil der Vollstreckungsschuldner kurzfristig in der Lage ist, die Steuerschuld zu begleichen.

9.53

n) Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung Der auf dem Wege des Amtshilfeersuchens gestellte Antrag des Finanzamts an das Vollstreckungsgericht auf Anordnung der Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung von Grundbesitz ist in der Regel als Verwaltungsakt anzusehen. Das ist zumindest dann der Fall, wenn der Antrag die Feststellung enthält, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die VollstreSchaumburg

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9.54

Kap. 9 Rz. 9.55

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

ckung vorliegen.1 Denn das Finanzamt als Vollstreckungsbehörde hat die Verantwortung dafür zu tragen, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung vorliegen. Das Vollstreckungsgericht darf nicht prüfen, ob die der Vollstreckung zu Grunde liegende Forderung vollstreckbar ist und ob die Voraussetzungen vorliegen, die gegeben sein müssen, um Steueransprüche durch Vollstreckung in das unbewegliche Vermögen beitreiben zu können.2 Das bedeutet, dass solche Anträge mit dem Einspruch und der Anfechtungsklage angreifbar sind. Das Gleiche gilt für den Antrag des Finanzamts als Vollstreckungsgläubiger auf Eintragung einer Zwangshypothek.3 Klageantrag: Es wird beantragt, den Antrag des Beklagten an das Vollstreckungsgericht vom … betr. die Anordnung der Zwangsversteigerung über das Grundstück … (genaue Bezeichnung) sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben. (oder: betr. die Eintragung einer Sicherungshypothek auf das Grundstück … (genaue Bezeichnung) aufzuheben). Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz: Es wird beantragt, den Antrag des Antraggegners vom … betr. die Anordnung der Zwangsversteigerung über das Grundstück … (genaue Bezeichnung) von der Vollziehung auszusetzen.

9.55 Neben den steuerverfahrensrechtlichen Mitteln ist zusätzlich an die Rechtsschutzmöglichkeiten nach dem ZVG zu denken. Nach § 30a ZVG kann an das Vollstreckungsgericht – also nicht an das Finanzgericht – ein Antrag gestellt werden, die Zwangsversteigerung einstweilen, für höchstens sechs Monate, einzustellen. Dieser Antrag ist nach § 30b ZVG binnen zwei Wochen nach Zustellung der Verfügung, in welcher der Schuldner auf das Recht zur Stellung des Einstellungsantrags, den Fristbeginn und die Rechtsfolgen eines fruchtlosen Fristablaufs hingewiesen wird, zu stellen. Dieser Hinweis wird regelmäßig zugleich mit dem Beschluss über die Anordnung der Zwangsversteigerung zugestellt. Nach § 30b Abs. 3 ZVG ist gegen den Beschluss über die Ablehnung eines Aufschubs die sofortige Beschwerde gegeben. Nach § 74a Abs. 5 ZVG ist schließlich die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss über die Wertfestsetzung (Verkehrswert eines Grundstücks) zulässig, wenn der festgesetzte Wert zu niedrig sein sollte. Diese Möglichkeit sollte nicht unterschätzt werden, weil der vom Vollstreckungsgericht festgesetzte Wert des Grundstücks Bedeutung für das Meistgebot (die sog. 7/10-Grenze nach § 74b ZVG sowie die sog. 5/10-Grenze nach § 85a Abs. 1 ZVG) hat.

B. Rechtsschutz im Insolvenzverfahren Literatur: Bartone, Auswirkungen des Insolvenzverfahrens auf das Besteuerungsverfahren, AO-StB 2002, 22; Bartone, Auswirkungen des Insolvenzverfahrens auf das finanzgerichtliche Verfahren, AOStB 2007, 49; Bartone, Die Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters in der Insolvenz des Steuerpflichtigen, AO-StB 2014, 247; Carlé, Einleitung des Insolvenzverfahrens durch die Finanzverwaltung, AO-StB 2002, 428; Fu, Rechtsschutz gegen Insolvenzanträge des Finanzamts, DStR 2010, 1411; Hölzle, Das Steuerberatungsmandat in der Insolvenz des Mandanten – Mandatsfragen im Vorfeld der Insolvenz, im vorläufigen und im eröffneten Insolvenzverfahren, DStR 2003, 2075; Jäger, Eröffnung eines Insolvenzverfahrens während eines Finanzgerichtsverfahrens, DStR 2008, 1272; Leipold, Insolvenz von Beteiligten während eines finanzgerichtlichen Verfahrens unter besonderer 1 So Loose in Tipke/Kruse, § 322 AO Rz. 35 f. 2 So ausdrücklich BFH v. 25.1.1988 – VII B 85/87, BStBl. II 1988, 566; v. 21.8.2008 – VII B 243/07, BFH/NV 2008, 1990. 3 BFH v. 30.8.2010 – VII B 83/10, BFH/NV 2010, 2298; v. 15.12.1992 – VII B 131/92, BFH/NV 1993, 460.

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B. Rechtsschutz im Insolvenzverfahren

Rz. 9.58 Kap. 9

Berücksichtigung von Personengesellschaften, DStZ 2012, 103; Roth, Insolvenzsteuerrecht, 2. Aufl. Köln 2015; Schmittmann, Einstweiliger Rechtsschutz gegen Insolvenzanträge der Finanzverwaltung unter besonderer Berücksichtigung des Rechtswegs in FS Haarmeyer, 2013, S. 289; Uhländer, Aktuelle Zweifelsfragen zum Steuerverfahren in der Insolvenz, AO-StB 2002, 83; Werth, Rechtsschutz gegen Insolvenzanträge des Finanzamts, AO-StB 2007, 210.

I. Insolvenzantrag des Finanzamtes Der an das Amtsgericht gerichtete Antrag des Finanzamtes auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist kein Verwaltungsakt1, sondern eine reine Prozesshandlung, durch die eine gerichtliche Entscheidung, nämlich die Eröffnung des Insolvenzverfahrens angestrebt wird.2 Damit ist die richtige Klageart die allgemeine Leistungsklage auf Rücknahme des Antrags,3 für die kein Vorverfahren erforderlich ist. Das Rechtsschutzbedürfnis für ein solches finanzgerichtliches Verfahren besteht solange, bis das Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschlossen oder den Eröffnungsantrag des FA mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse rechtskräftig abgelehnt hat.4 Da der Insolvenzantrag des Finanzamts eine Ermessensentscheidung darstellt, hat das Finanzgericht nur einen eingeschränkten Überprüfungsspielraum (§ 102 FGO).5

9.56

Vorläufiger Rechtsschutz gegen einen Insolvenzantrag des Finanzamtes kann nur in Form der einstweiligen Anordnung nach § 114 FGO erlangt werden.6 Der entsprechende Antrag muss wie folgt lauten:

9.57

Antrag: Es wird beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den beim Amtsgericht AG gestellten Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des S zurückzunehmen.

Der Vollstreckungsschuldner muss in diesem Fall das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds darlegen und glaubhaft machen (s. Rz. 3.1268 und 3.1272); allerdings dürfen im Hinblick auf die einschneidenden Folgen eines Insolvenzantragsverfahrens – Vertrauensverlust, Diskreditierung im Wirtschaftskreisen als Reflexe des Antrags auf Insolvenzeröffnung – insoweit keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.7 Dabei kann ein Anordnungsanspruch beispielsweise gegeben sein8, wenn – kein Grund für eine Insolvenzeröffnung vorliegt, – das Finanzamt von seinem Ermessen keinen oder fehlerhaft Gebrauch gemacht hat,9

1 BFH v. 31.8.2011 – VII B 59/11, BFH/NV 2011, 2105; v. 28.2.2011 – VII B 224/10, BFH/NV 2011, 763; v. 26.2.2007 – VII B 98/06, BFH/NV 2007, 1270; Jatzke in HHSp, § 251 AO Rz. 101; Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 18. 2 Vgl. dazu Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 3.403. 3 Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 22 m. w. N. 4 BFH v. 31.8.2011 – VII B 59/11, BFH/NV 2011, 2105. 5 S. hierzu BFH v. 26.2.2007 – VII B 98/96, BFH/NV 2007, 1270. 6 BFH v. 12.8.2011 – VII B 159/10, BFH/NV 2011, 2104; v. 28.2.2011 – VII B 224/10, BFH/NV 2011, 763; v. 26.4.1988 – VII B 176/87, BFH/NV 1988, 762. 7 Vgl. hierzu ausführlich Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 3.408. 8 Vgl. hierzu die ausführliche Aufzählung bei Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 3.405 mit Hinweisen auf die Rspr. 9 BFH v. 1.2.2005 – VII B 180/04, BFH/NV 2005, 1002 m. w. N.

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9.58

Kap. 9 Rz. 9.59

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

– das Finanzamt insolvenzzweckwidrige Ziele (z. B. Druckmittel oder sonstige sachfremde Erwägungen) verfolgt,1 – das Finanzamt vom Schuldner angebotene Sicherheiten nicht angenommen hat, – keine kostendeckende Masse vorhanden ist,2 – der Antrag unverhältnismäßig ist,3 etwa weil weniger belastende Maßnahmen in Betracht kommen.

9.59 Gegen eine ablehnende Entscheidung des Finanzgerichts steht dem Vollstreckungsschuldner nach § 128 Abs. 3 FGO die Beschwerde zu, wenn das Finanzgericht diese in seinem Beschluss zugelassen hat. Eine Beschwerdezulassung durch den BFH findet nicht statt (s. Rz. 3.1284).

9.60 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens scheidet eine Rücknahme des Insolvenzantrags aus (§ 13 Abs. 2 InsO).4 Ein zu diesem Zeitpunkt anhängiges finanzgerichtliches Verfahren ist dann an sich in der Hauptsache erledigt; jedoch wird dadurch nicht zugleich die eingetretene Unterbrechung des finanzgerichtlichen Verfahrens beendet.5 Das Verfahren ist dann in den Registern des Gerichts zu löschen, wenn es nicht von den Parteien aufgenommen wird.6

II. Eröffnung des Insolvenzverfahrens 1. Unterbrechung des Verfahrens

9.61 Wird über das Vermögen des Schuldners ein Insolvenzverfahren eröffnet, so wird das finanzgerichtliche Klageverfahren, soweit es die Insolvenzmasse (§§ 35 f. InsO) betrifft, nach § 155 FGO i. V. m. § 240 ZPO immer unterbrochen.7 D. h., das Verfahren darf bis zum Abschluss des Insolvenzverfahrens oder bis zu dessen Aufnahme nach den insolvenzrechtlichen Vorschriften nicht weiter betrieben werden.8 Die Insolvenzmasse ist gem. § 35 Abs. 1 InsO das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt. Für das Steuerrecht sind damit Verfahren betroffen, die die Höhe der zur Tabelle anzumeldenden Steuerforderungen beeinflussen können.9

9.62 Die Unterbrechung des Verfahrens hat die Wirkung, dass gem. § 155 FGO i. V. m. § 249 Abs. 1 ZPO der Lauf einer jeden Frist aufhört und nach Beendigung der Unterbrechung die volle Frist von neuem zu laufen beginnt. Ferner sind nach § 155 FGO i. V. m. § 249 Abs. 2 ZPO die während der Unterbrechung von einem Beteiligten in Ansehung der Hauptsache vorgenommenen Prozesshandlungen dem anderen Beteiligten gegenüber ohne rechtliche Wirkung. Auch das Gericht darf keine Prozesshandlungen vornehmen. Insbesondere darf auch kein 1 2 3 4 5 6 7 8 9

BFH v. 28.2.2011 – VII B 224/10, BFH/NV 2011, 763. BFH v. 2.12.2005 – VII R 63/04, BFH/NV 2006, 900. BFH v. 14.5.2013 – VII R 36/12, BFH/NV 2013, 1905. Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 3.410 m. w. N. Vgl. dazu BFH v. 14.5.2013 – X B 134/12, BStBl. II 2013, 585 unter Aufgabe seiner früheren Rspr. v. 23.6.2008 – VIII B 12/08, BFH/NV 2008, 1691; v. 10.11.2010 – IV B 11/09, BFH/NV 2011, 649 und IV B 18/09, BFH/NV 2011, 650. Vgl. dazu BFH v. 23.9.2015 – V B 159/14, BFH/NV 2016, 60. BFH v. 15.3.2007 – III B 178/05, BFH/NV 2007, 1178; Bartone, AO-StB 2014, 247. BFH v. 26.7.2006 – X S 43/05, BStBl. II 2007, 55. BFH v. 13.5.2009 – XI R 63/07, BStBl. II 2010, 11.

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B. Rechtsschutz im Insolvenzverfahren

Rz. 9.67 Kap. 9

Urteil ergehen.1 Hat das Finanzgericht in Unkenntnis eines Insolvenzverfahrens ein Urteil erlassen, ist dieses nach ständiger Rechtsprechung den Beteiligten gegenüber unwirksam.2 Es kann mit einer auf den Verfahrensmangel gestützten Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen werden.3 Im Beschwerdeverfahren wird das Urteil entsprechend § 116 Abs. 6 FGO aufgehoben.4 Der Rechtsstreit ist sodann weiter beim Finanzgericht anhängig. Vorstehendes gilt auch für das Einspruchsverfahren; § 240 ZPO ist hier entsprechend anzuwenden.5

9.63

Das Verfahren betreffend die Aussetzung der Vollziehung wird durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht unterbrochen. Vielmehr wird ein entsprechender Antrag, der noch nicht beschieden ist, unzulässig.6 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entfällt nämlich das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, weil im Insolvenzverfahren eine Vollstreckung, die durch eine Aussetzung der Vollziehung gerade verhindert werden soll, gem. § 89 Abs. 1 InsO nicht zulässig ist.

9.64

Das bloße Insolvenzeröffnungsverfahren führt in der Regel nicht zu einem allgemeinen Verfügungsverbot, sondern nur zu einer Verfügungsbeschränkung in Form eines Zustimmungsvorbehalts des vorläufigen Insolvenzverwalters für Verfügungen des Schuldners (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt., § 22 Abs. 2 InsO). Allerdings tritt die Unterbrechung des Verfahrens schon im Insolvenzeröffnungsverfahren ein, wenn vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Insolvenzgericht dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird und ein sog. „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Schuldnervermögen gem. §§ 21 Abs. 2 Nr. 2, 22 Abs. 1 InsO bestellt wird.7 Wird dagegen zur vorläufigen Sicherung ein „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt (§ 22 Abs. 2 InsO), tritt keine Unterbrechung des Verfahrens ein, auch wenn ein Zustimmungsvorbehalt gem. § 21 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. InsO angeordnet wurde.8

9.65

Die durch § 240 ZPO angeordnete Unterbrechung des von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Beteiligten betroffenen Prozesses dient u. a. dem Zweck, dem Insolvenzverwalter, der mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens anstelle des Insolvenzschuldners die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen erlangt, genügend Zeit zu geben, sich mit dem Prozessgegenstand zu befassen und zu entscheiden, ob es im Interesse der Masse sinnvoll ist, das vom Insolvenzschuldner eingeleitete Einspruchs- oder Klageverfahren fortzuführen.9

9.66

Die hierzu notwendigen Erkenntnisse kann er durch Akteneinsicht gewinnen10. Dem Insolvenzverwalter, der nach § 80 Abs. 1 InsO i. V. m. § 34 Abs. 3 und 1 AO die steuerlichen

9.67

1 BFH v. 9.2.2015 – VII B 104/13, BFH/NV 2015, 858. 2 BFH v. 24.5.2016 – IX B 36/16, BFH/NV 2016, 1304; v. 31.5.2007 – IV B 127/06, BFH/NV 2007, 1908; v. 30.9.2004 – IV B 42/03, BFH/NV 2005, 365. 3 BFH v. 24.5.2016 – IX B 36/16, BFH/NV 2016, 1304. 4 BFH v. 24.5.2016 – IX B 36/16, BFH/NV 2016, 1304. 5 BFH v. 24.8.2005 – VIII R 14/02, BStBl. II 2005, 246; Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 42 m. w. N. 6 BFH v. 27.11.1974 – I R 185/73, BStBl. II 1975, 208. 7 § 155 FGO i. V. m. § 240 Satz 2 ZPO; BFH v. 22.1.2003 – V B 122/02, BFH/NV 2003, 645. 8 Vgl. dazu Bartone, AO-StB 2016, 247 m. w. N. 9 Greger in Zöller, § 240 ZPO Rz. 1. 10 BFH v. 28.3.2007 – III B 10/07, BFH/NV 2007, 1182.

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Kap. 9 Rz. 9.68

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

Pflichten des Insolvenzschuldners (Steuerpflichtigen) zu erfüllen hat, steht das Recht zu, dass das Finanzamt über seinen im Besteuerung- bzw. Einspruchsverfahren gestellten Antrag auf Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet.1 Das Akteneinsichts- und Auskunftsrecht des Insolvenzverwalters gegenüber dem Finanzamt reicht aber grundsätzlich nicht weiter als das zunächst dem Insolvenzschuldner (Steuerpflichtigen) zustehende Akteneinsichts- und Auskunftsrecht.2 Das Akteneinsichtsrecht nach § 78 FGO (s. Rz. 3.713 ff.) steht ihm aber bereits vor Aufnahme des Prozesses zu.3 2. Stellung des Insolvenzverwalters

9.68 Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens lässt die Rechtsstellung des Insolvenzschuldners als Steuerschuldner an sich unberührt.4 Allerdings hat sie gem. § 117 Abs. 1 InsO das Erlöschen einer vom Schuldner erteilten Vollmacht, die sich auf das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen bezieht, zur Folge. Damit erlischt im finanzgerichtlichen Verfahren die dem Steuerberater oder Rechtsanwalt erteilte Prozessvollmacht. Zugleich erlischt der mit diesen Personen abgeschlossene Geschäftsbesorgungsvertrag, sofern nicht Gefahr im Verzug ist (§§ 116 Satz 1, 115 Abs. 1 InsO).

9.69 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verliert der Insolvenzschuldner nach § 80 Abs. 1 InsO ferner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen, soweit es zur Insolvenzmasse gehört. Er kann als Insolvenzschuldner für und gegen die Masse nicht wirksam handeln, mithin auch keinen masserelevanten Prozess führen. Er verliert damit auch das Recht, seine Rechte im eigenen Namen als richtiger Beteiligter vor dem Finanzgericht geltend zu machen. Die Prozessführungsbefugnis obliegt allein dem Insolvenzverwalter.5 Der Insolvenzschuldner ist allerdings als prozessführungsbefugt anzusehen, wenn er mit der Klage geltend macht, dass der Anspruch insolvenzfrei sei.6

9.70 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht das Verwaltungs- und Verfügungsrecht betr. die Insolvenzmasse auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Er ist als Beteiligter kraft Amtes im Hauptsacheverfahren prozessführungsbefugt und führt den Rechtsstreit im eigenen Namen. Dabei macht er die Rechte des Insolvenzschuldners im eigenen Namen geltend.7 Der Insolvenzverwalter ist damit verfahrensrechtlich kraft gesetzlichen Beteiligtenwechsels Beteiligter des anhängigen Einspruchs- oder Klageverfahrens.8 Wird der Insolvenzschuldner dennoch – etwa in der irrigen Annahme einer eigenen Prozessführungsbefugnis – in einem vom Insolvenzverwalter aufgenommenen Prozess tätig, so ist er durch Beschluss des Finanzgerichts aus dem Prozess zu weisen.9

1 BFH v. 15.9.2010 – II B 4/10, BFH/NV 2011, 2. 2 BFH v. 19.3.2013 – II R 17/11, BStBl. II 2013, 639 m. w. N. 3 BFH v. 23.5.2000 – IX S 5/00, BFH/NV 2000, 1134; v. 13.11.2003 – V B 131/01, BFH/NV 2004, 642. 4 Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 41. 5 BFH v. 10.3.2014 – X S 50/13 (PKH), BFH/NV 2014, 890. 6 FG Köln v. 21.4.2011 – 6 K 1598/07, EFG 2011, 1844. 7 Vgl. dazu vor allem Bartone, AO-StB 2016, 247. 8 BFH v. 28.3.2007 – III B 10/07, BFH/NV 2007, 1182 unter Berufung auf BGH v. 16.1.1997 – IX ZR 220/96, NJW 1997, 1445. 9 BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573.

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B. Rechtsschutz im Insolvenzverfahren

Rz. 9.75 Kap. 9

3. Aufnahme des Verfahrens Nach § 85 Abs. 1 InsO können zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Schuldner anhängig gemachte Rechtsstreitigkeiten über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen vom Insolvenzverwalter aufgenommen werden. Die Aufnahme erfolgt durch einfache Erklärung gegenüber dem Finanzamt Die Aufnahme eines anhängigen finanzgerichtlichen Verfahrens erfolgt gem. § 155 FGO i. V. m. § 250 ZPO durch die Zustellung eines Schriftsatzes. Allerdings handelt es sich dabei um Verfahrensvorschriften, deren Verletzung nach rügeloser Einlassung des Gegners geheilt ist (§ 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO).

9.71

Durch die Aufnahmeerklärung endet die Unterbrechung des Verfahrens und etwaige Fristen beginnen gem. § 249 Abs. 1 ZPO neu zu laufen.

9.72

Lehnt der Insolvenzverwalter die Aufnahme des Rechtsstreits ab, so können gem. § 85 Abs. 2 InsO sowohl der Insolvenzschuldner als auch das Finanzamt den Rechtsstreit aufnehmen.1 Die Freigabe eines streitbefangenen Massegegenstandes bedeutet regelmäßig, dass der Insolvenzverwalter die Aufnahme des Verfahrens ablehnt.2

9.73

Voraussetzung für die Aufnahmebefugnis des Schuldners ist jedoch das Vorliegen eines Aktivprozesses. Dieser bedeutet, dass der Schuldner einen Anspruch verfolgt, der zur Insolvenzmasse gehört und im Falle seines Obsiegens die zur Verteilung anstehende Masse vergrößern würde. Entscheidend ist dabei allein, ob in dem anhängigen Rechtsstreit über eine Pflicht zu einer Leistung gestritten wird, die in die Masse zu gelangen hat.3 Führt ein Prozess dagegen zu einer Verringerung der Masse, liegt ein Passivprozess vor, der nur unter den Voraussetzungen des § 86 InsO aufgenommen werden kann.

9.74

Beispiel: Das Finanzamt nahm den S mit Haftungsbescheid gem. §§ 34, 69 AO als Haftungsschuldner in Anspruch. Der Einspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen. Der Betrag ist noch nicht bezahlt. Während des Klageverfahrens vor dem Finanzgericht wurde über das Vermögen des S das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt, der den Rechtsstreit nicht aufnehmen wollte. Daraufhin erklärt S, dass er den Rechtsstreit nunmehr aufnehmen wolle. Eine Aufnahme durch den S ist hier nicht möglich. Es handelt sich nämlich nicht um einen Aktivprozess, sondern um einen Passivprozess zur Schuldenmasse, da das Finanzamt eine Insolvenzforderung, nämlich einen unerfüllten Haftungsanspruch nach §§ 34, 69 AO und somit ein Recht zu Lasten der Insolvenzmasse geltend macht, das der S bestreitet. Eine Aufnahmebefugnis des S nach § 85 Abs. 2 InsO kommt damit nicht in Betracht.4

4. Anmeldung der Forderung zur Insolvenztabelle Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis, die gem. § 174 InsO als Insolvenzforderungen zur Eintragung in die Tabelle anzumelden sind, dürfen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von den Finanzämtern nicht mehr festgesetzt werden. Ein dennoch erlassener Steuerbescheid ist unwirksam.5 Die Insolvenzgläubiger können gem. § 87 InsO ihre Forderungen nämlich nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren geltend machen. Um keine 1 BFH v. 20.10.2003 – V B 67/03, BFH/NV 2004, 349; Bartone, AO-StB 2004, 145. 2 BFH v. 16.9.2015 – XI R 47/13, BFH/NV 2016, 428 unter Berufung auf MünchKommInsO/Schumacher, § 85 InsO Rz. 23 m. w. N.; BGH v. 24.7.2003 – IX ZR 333/00, ZInsO 2003, 943. 3 BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573; BGH v. 14.4.2005 – IX ZR 221/04, ZIP 2005, 952 m. w. N.; vgl. dazu auch Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 52 – 53. 4 BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573. 5 BFH v. 18.12.2002 – I R 33/01, BStBl. II 2003, 630.

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9.75

Kap. 9 Rz. 9.76

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

Rechtsnachteile zu erleiden, müssen sie somit ihre im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensansprüche gegen den Insolvenzschuldner nach den Vorschriften der §§ 174 ff. InsO verfolgen. Das Finanzamt hat also seine Insolvenzforderungen gem. §§ 174 Abs. 1 Satz 1, 175 Satz 1 InsO beim Insolvenzverwalter zur Eintragung in die Insolvenztabelle anzumelden. Die Anmeldefrist ergibt sich aus dem Eröffnungsbeschluss und beträgt mindestens zwei Wochen und höchstens drei Monate (§ 28 Abs. 1 InsO). Nach § 177 Abs. 1 InsO sind allerdings auch die Forderungen zu berücksichtigen, die später angemeldet werden

9.76 Im Prüfungstermin werden die angemeldeten Forderungen – so auch die Forderungen des Finanzamts – geprüft (§ 176 InsO). Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob die Forderung durch einen Widerspruch bestritten wird oder nicht: – Wird der Anmeldung lediglich durch den Insolvenzschuldner widersprochen, so steht dieser Widerspruch der Feststellung der Forderung nicht entgegen (§ 178 Abs. 1 Satz 3 InsO); der Widerspruch ist allerdings in die Tabelle einzutragen (§ 178 Abs. 2 Satz 2 InsO). Der Widerspruch des Insolvenzschuldners ist nur von Bedeutung für die Zeit nach Beendigung des Insolvenzverfahrens. Nach § 251 Abs. 2 Satz 2 AO i. V. m. § 201 Abs. 2 InsO ist die sofortige Vollstreckung gegen den Schuldner nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens bei einem Widerspruch des Schuldners ggf. beschränkt. Deshalb eröffnet § 184 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 185 Satz 2 InsO dem Finanzamt die Möglichkeit, das Einspruchsverfahren gegen den Schuldner fortzusetzen und eine Einspruchsentscheidung mit feststellendem Inhalt gegen den Schuldner zu erlassen, um den Widerspruch zu beseitigen oder das von Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingeleitete Klageverfahren mit dem Schuldner als Beteiligtem neben dem Insolvenzverwalter fortzusetzen. Der Schuldner selbst kann den Rechtsstreit nicht aufnehmen, da es sich regelmäßig um einen sog. Passivprozess handelt und ihm hierfür das Rechtsschutzbedürfnis fehlt (s. dazu Rz. 9.74). – Ist noch kein Steuerbescheid vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangen, so erfolgt die Anmeldung der Steuerforderung durch das Finanzamt zur Insolvenztabelle. Wird weder vom Insolvenzverwalter noch von einem Insolvenzgläubiger Widerspruch erhoben, gilt eine Forderung gem. § 178 Abs. 3 InsO als rechtskräftig festgestellt. Die Eintragung der festgestellten Forderung in die Tabelle im Rahmen des Insolvenzverfahrens wirkt letztlich wie eine Steuerfestsetzung, weil die Finanzbehörde die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach Beendigung des Insolvenzverfahrens aufgrund der Eintragung wie aus einem rechtskräftigen Urteil vollstrecken kann (§ 201 Abs. 2 InsO).1 – Wird die angemeldete Forderung vom Insolvenzverwalter bestritten oder widerspricht ein anderer Insolvenzgläubiger der Feststellung, so ist die Finanzbehörde gem. § 251 Abs. 3 AO berechtigt, das Bestehen einer auf einem Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis beruhenden und im Prüfungstermin geltend gemachten, aber vom Insolvenzverwalter bestrittenen Insolvenzforderung durch besonderen Feststellungsbescheid festzustellen. Dieser an den Insolvenzverwalter oder gegen den widersprechenden Gläubiger zu richtende Feststellungsbescheid kann mit dem Einspruch und der Klage vor dem Finanzgericht angefochten und daraufhin überprüft werden, ob die angemeldete, jedoch bestrittene Forderung besteht und ob die angemeldete mit der festgestellten Forderung übereinstimmt.2 In-

1 Vgl. BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573; FG Berlin v. 17.3.2006 – 2 B 7048/04, EFG 2006, 1227; Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 64 m. w. N. 2 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 67 ff.

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Schaumburg

B. Rechtsschutz im Insolvenzverfahren

Rz. 9.78 Kap. 9

soweit handelt es sich um eine normale Anfechtungsklage. Der Klageantrag muss deshalb lauten: Klageantrag: Es wird beantragt, unter Änderung des Feststellungsbescheids vom … und Aufhebung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung den festgestellten Betrag auf … Euro herabzusetzen.

– War die Steuerforderung vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Steuerbescheid festgesetzt, ist dieser aber noch anfechtbar, so kann der Widersprechende Einwendungen gem. § 179 Abs. 2 InsO verfolgen, wenn er erklärt, das unterbrochene Verfahren aufnehmen zu wollen. In diesem Fall ist das Rechtsbehelfsverfahren bzw. ein anhängiges Klageverfahren fortzuführen, so dass es an der Erforderlichkeit für den Erlass eines weiteren Feststellungsbescheides fehlt. Die Rechtmäßigkeit der Steuerforderung als Insolvenzforderung ist im Einspruchs- bzw. Klageverfahren zu klären.1 Nach Aufnahme des Rechtsstreits wandelt sich das Anfechtungsverfahren kraft Gesetzes um in ein Insolvenz-Feststellungsverfahren. Gegenstand dieses Verfahrens ist nicht die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides, sondern die Beseitigung des Widerspruchs durch Feststellung der im Prüfungstermin geltend gemachten Forderung zur Tabelle.2 Der veränderten Prozesssituation (§§ 180, 183 InsO) haben die Beteiligten durch eine Umstellung ihrer Anträge Rechnung zu tragen. Klageantrag: Es wird beantragt, festzustellen, dass der Widerspruch gegen die Feststellung der im Prüfungstermin geltend gemachten Forderung begründet ist.

Nimmt der die Forderung Bestreitende das Verfahren aber nicht auf, so ist das Finanzamt berechtigt, auch in diesem Fall die von ihm zur Insolvenztabelle angemeldete Forderung nach Grund, Höhe und Rang durch Feststellungsbescheid gem. § 251 Abs. 3 AO festzustellen.3 Durch die Rechtskraftwirkung des festgestellten Steueranspruchs ist ein bei Insolvenzeröffnung bereits anhängiges finanzgerichtliches Verfahren in der Hauptsache erledigt4 jedoch wird dadurch nicht zugleich die eingetretene Unterbrechung des finanzgerichtlichen Verfahrens beendet.5 Das Verfahren ist dann in den Registern des Gerichts zu löschen, wenn es von den Parteien nicht aufgenommen wird.6

9.77

In der finanzgerichtlichen Praxis werden die Insolvenzfälle häufig wie folgt behandelt: Wird das Verfahren durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen, so erscheint es zweckmäßig, das Verfahren in den Registern des Gerichts zu löschen, wenn aufgrund einer Anfrage beim Insolvenzverwalter mit einer Aufnahme des Verfahrens gegenwärtig nicht zu rechnen ist. Über die Löschung des Verfahrens in den Registern erhalten die Beteiligten vom Gericht eine Mitteilung. Es handelt sich hierbei um einen rein verwaltungstechnischen Vorgang ohne rechtliche Auswirkungen. Die Löschung des Verfahrens in den Registern hindert dessen Fortsetzung nach Beendigung der Unterbrechung

9.78

1 2 3 4 5

BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573. BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573; MünchKommInsO/Breuer, § 87 InsO Rz. 21. Ebenso problematisierend und ausführlich Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 3.300 ff. BFH v. 7.3.2006 – VII R 11/05, BStBl. II 2006, 573. Vgl. dazu BFH v. 14.5.2013 – X B 134/12, BStBl. II 2013, 585 unter Aufgabe seiner früheren Rspr. v. 23.6.2008 – VIII B 12/08, BFH/NV 2008, 1691; v. 10.11.2010 – IV B 11/09, BFH/NV 2011, 649 und IV B 18/09, BFH/NV 2011, 650. 6 Vgl. dazu BFH v. 23.9.2015 – V B 159/14, BFH/NV 2016, 60.

Schaumburg

573

Kap. 9 Rz. 9.79

Rechtsschutz im Vollstreckungs- und Insolvenzverfahren

durch eine spätere Aufnahme des Verfahrens oder durch Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht.1

9.79 In der Praxis kommt es häufig vor, dass nur über das Vermögen eines von zusammenveranlagten und gemeinsam klagenden Ehegatten das Insolvenzverfahren eröffnet wird. In diesem Fall ist die Abtrennung und Fortführung des von dem anderen Ehegatten geführten Verfahrens zulässig und im Hinblick auf den unterschiedlichen Verfahrensfortgang auch zweckmäßig.2 Eine Löschung des Verfahrens des anderen Ehegatten in den Registern kommt in diesen Fällen der subjektiven Klagehäufung nicht in Betracht.

1 BFH v. 22.2.2007 – IX B 186/04, BFH/NV 2007, 1514 unter Berufung auf BFH v. 16.9.1991 – VII B 46/91, BFH/NV 1992, 400 m. w. N. 2 BFH v. 23.8.2007 – X B 130/06, BFH/NV 2007, 2320.

574

Schaumburg

Kapitel 10 Kosten des Rechtsstreits A. Allgemeines I. Kostengrundentscheidung . . . . . . . .

10.1

II. Überblick über die Kosten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.3

B. Kostentatbestände I. Verfahren vor dem Finanzgericht 1. Gerichtskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gebührentatbestände. . . . . . . . . . b) Kostenansatz nach Verfahrensabschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorfälligkeitsgebühr anlässlich der Klageerhebung . . . . . . . . . . . . 2. Außergerichtliche Kosten . . . . . . . . . a) Gebührentatbestände. . . . . . . . . . b) Kostenfestsetzung nach Verfahrensabschluss . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Verfahren vor dem Bundesfinanzhof 1. Gerichtskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Außergerichtliche Kosten . . . . . . . . .

10.28 10.30

C. Streitwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.32

D. Prozesskostenhilfe 10.8 10.9 10.10 10.19 10.22 10.25

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.41

II. Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hinreichende Erfolgsaussichten. . . . 2. Rechtsverfolgung nicht mutwillig . .

10.45 10.46 10.48

III. Persönliche Voraussetzungen . . . . . .

10.49

IV. Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.57

10.27

Literatur: Balmes/Felten, Kosten des Steuerstreits, DStZ 2010, 454; Bartone, Das neue Gerichtskostengesetz in der Beratungspraxis, AO-StB 2005, 22; Dellner, Auswirkungen des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes auf das finanzgerichtliche Verfahren, DStZ 2004, 647; Just, Die Erhebung der Vorfälligkeitsgebühr bei den Finanzgerichten, DStR 2014, 2481; Just, Kostenrecht im Finanzgerichtsprozess, DStR Beihefter 2008 zu Nr 40, 69; Mack, Kosten im FG-Verfahren, AO-StB 2002, 321; Müller, Streitwertermittlung nach dem neuen § 52 Abs. 3 S. 2 GKG, BB 2013, 2519; Weigel, Fallstricke und die Erledigungen im Prozesskostenhilfeverfahren, AO-StB 2013, 19.

A. Allgemeines I. Kostengrundentscheidung Wird ein finanzgerichtliches Verfahren (z. B. ein Klageverfahren oder ein Revisionsverfahren) durch Urteil oder Beschluss beendet, hat das Gericht bei dieser Gelegenheit im Rahmen der sog. Kostengrundentscheidung darüber zu bestimmen, wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Im Rahmen der Kostengrundentscheidung wird in einem ersten Schritt dem Grunde nach darüber entschieden, wen die Kosten des abgeschlossenen Verfahrens treffen. Die Kostengrundentscheidung bildet die Basis für die hieran anknüpfende Erhebung der Gerichtskosten (s. Rz. 10.8 ff.) sowie für die Kostenfestsetzung bzgl. der den Beteiligten zu erstattenden Aufwendungen (s. Rz. 10.22 ff.).1

10.1

Inhaltlich gelten für die Kostengrundentscheidung, durch die über die Kostentragung entschieden wird, folgende Grundsätze:

10.2

– Der nach dem endgültigen Ergebnis des Verfahrens unterlegene Beteiligte trägt grundsätzlich die Kosten des Verfahrens (§ 135 Abs. 1 FGO). Derjenige, der ohne Erfolg ein ge1 Brandis in Tipke/Kruse, vor §§ 135 ff. FGO Rz. 3; Schwarz in HHSp, § 143 FGO Rz. 5.

Hendricks

575

Kap. 10 Rz. 10.3

Kosten des Rechtsstreits

richtliches Verfahren verursacht hat, soll auch die Verfahrenskosten tragen. Auf den Grund des Unterliegens kommt es nicht an.1 – Bei teilweisem Obsiegen und teilweisem Unterliegen der Beteiligten werden die Kosten verhältnismäßig geteilt oder können gegeneinander aufgehoben werden (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Regelung ist Ausdruck der vom Gesetzgeber für den Bereich des gerichtlichen Kostenrechts vorgenommenen Konkretisierung des allgemeinen und insbesondere in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gerechtigkeitsgebots.2 Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last (§ 136 Abs. 1 Satz 2 FGO). Einem Beteiligten können die Kosten auch insgesamt auferlegt werden, wenn der andere Beteiligte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist (§ 136 Abs. 1 Satz 3 FGO). – Trotz Obsiegens können einem Beteiligten die Kosten auferlegt werden, wenn er Tatsachen oder Beweismittel schuldhaft verspätet vorgebracht hat oder wenn ihn sonst ein Verschulden an der Entstehung von Verfahrenskosten trifft (§ 137 FGO). – Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen (§ 136 Abs. 2 FGO). Der Regelung liegt die Erwägung zugrunde, dass der Beteiligte, der einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf vollständig zurücknimmt, dies nur tut, wenn er keine Erfolgsaussichten mehr sieht.3 Gleiches gilt für denjenigen, der durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Kosten verursacht (§ 136 Abs. 3 FGO).

II. Überblick über die Kosten des Verfahrens 10.3 Zu den Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens gehören die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens (§ 139 Abs. 1 FGO). Gem. § 139 Abs. 2 FGO sind die Aufwendungen der Finanzbehörden nicht zu erstatten.

10.4 Auf die Gerichtskosten findet das Gerichtskostengesetz (GKG) Anwendung. Dies ergibt sich aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

10.5 Von besonderer Bedeutung für das finanzgerichtliche Verfahren sind zunächst folgende allgemeine Regelungen des Gerichtskostengesetzes: – Gem. § 1 Abs. 1 GKG werden Kosten nur erhoben, wenn sie im Gerichtskostengesetz ausdrücklich vorgesehen sind („nach diesem Gesetz“). Das Gerichtskostengesetz ist daher als abschließende Regelung zu verstehen. Aus Vorschriften anderer Kostenordnungen kann eine Gebührenpflicht nicht abgeleitet werden.4 – Durch unrichtige Sachbehandlung entstandene Kosten werden nicht erhoben. Das Gleiche gilt für Auslagen, die durch eine von Amts wegen veranlasste Verlegung des Termins oder Vertagung einer Verhandlung entstanden sind (§ 21 Abs. 1 GKG). Als unrichtige Sachbehandlung kommen nur erkennbare, offensichtliche Versehen oder materielle Ver1 Schwarz in HHSp, § 135 FGO Rz. 20 mit Beispielen. 2 Brandt in Beermann/Gosch, § 137 FGO Rz. 2; FG Baden-Württemberg v. 22.10.2002 – 1 K 163/01, EFG 2003, 178. 3 Schwarz in HHSp, § 136 FGO Rz. 26. 4 Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 27.

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Hendricks

B. Kostentatbestände

Rz. 10.8 Kap. 10

stöße gegen eindeutige Rechtsnormen des materiellen oder formellen Rechts in Betracht.1 Beispiel: Das Gericht ordnet durch Beschluss eine Beweisaufnahme an und führt die Beweisaufnahme durch. In der mündlichen Verhandlung stellt sich heraus, dass die Klage wegen mangelnder Klagebefugnis als unzulässig abzuweisen ist. In diesem Fall dürfen die Kosten für die Beweisaufnahme nicht erhoben werden, da sie durch eine unrichtige Sachbehandlung durch das Gericht veranlasst worden sind.2

Von der Erhebung von Gerichtskosten kann nach zutreffender Auffassung auch dann abgesehen werden, wenn das Finanzgericht eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt hat.3 Keine unrichtige Sachbehandlung liegt hingegen vor, wenn das Gericht mehrere bei ihm anhängige Verfahren desselben Klägers nicht verbindet, auch wenn dies zur Entstehung geringerer Gerichtsgebühren geführt hätte.4

10.6

– Für die Höhe der Gebühr ist maßgeblich der Wert des Streitgegenstandes. Dies ergibt sich aus § 3 Abs. 1 GKG (zum Streitwert vgl. Rz. 10.32).

10.7

– Wird ein Antrag zurückgenommen, kann im Einzelfall von der Erhebung von Kosten abgesehen werden, wenn der Antrag auf unverschuldeter Unkenntnis der tatsächlichen oder rechtlichen Umstände beruhte (§ 21 Abs. 1 Satz 3 GKG).

B. Kostentatbestände I. Verfahren vor dem Finanzgericht 1. Gerichtskosten Die im finanzgerichtlichen Verfahren entstehenden Gerichtskosten setzen sich gem. § 1 Abs. 1 a. E. GKG aus Gebühren und Auslagen zusammen. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Gerichtskosten nur dann erhoben werden, wenn diese der Klägerseite auferlegt werden (etwa weil diese im Verfahren ganz oder teilweise unterlegen ist, § 135 Abs. 1 FGO). Finanzbehörden sind von der Verpflichtung, Gerichtskosten zu tragen gem. § 2 Abs. 1 GKG befreit. Die Befreiungsvorschrift beruht darauf, dass der Bund und die Länder als Träger der Justizhoheit den Aufwand für die Errichtung und Unterhaltung der Gerichtsorganisation zu tragen haben.5 Mit der Befreiung soll der mit der Abrechnung verbundene (unnötige) Verwaltungsaufwand vermieden werden.6

1 BFH v. 21.6.2012 – X E 3/12, BFH/NV 2012, 1618; v. 24.11.2000 – VI E 2/00, BFH/NV 2001, 623 und v. 4.2.2000 – II E 3/99, II E 4/99, BFH/NV 2000, 964. 2 Zu einem ähnlichen Fall vgl. BFH v. 5.10.1999 – VII R 25/98, BFH/NV 2000, 235. 3 BFH v. 9.11.2000 – VI B 11/99, BFH/NV 2001, 480; ebenso z. B. Brandt in Beermann/Gosch, § 143 FGO Rz. 71; a. A. hingegen BFH v. 21.3.2012 – VII E 9/12, BFH/NV 2012, 1317. 4 BFH v. 13.9.2012 – X E 5/12, BFH/NV 2013, 386; v. 13.6.2000 – VIII E 4/00, BFH/NV 2000, 1238. 5 Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 133. 6 Vgl. Zimmermann in Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, § 2 GKG Rz. 1.

Hendricks

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10.8

Kap. 10 Rz. 10.9

Kosten des Rechtsstreits

a) Gebührentatbestände

10.9 Welche Gebühren bei einem finanzgerichtlichen Verfahren entstehen können, ist im Einzelnen im Kostenverzeichnis festgelegt. Das Kostenverzeichnis ist als Anlage 1 zum Gerichtskostengesetz Bestandteil der gesetzlichen Kostenregelungen. Im Einzelnen sind folgende Gebührentatbestände im finanzgerichtlichen Verfahren von Bedeutung: – Mit der Anbringung der Klage entsteht eine allgemeine Verfahrensgebühr. Sie beläuft sich auf das Vierfache der Gebühr nach § 34 GKG (Nr. 6110 des Kostenverzeichnisses). Die vierfache Gebühr wird gem. § 6 Abs. 1 Nr. 5 GKG bereits mit der Einreichung der Klageschrift fällig, bemisst sich mit Rücksicht auf § 52 Abs. 5 GKG im Regelfall jedoch zunächst auf Basis des Mindeststreitwertes von 1.500 Euro1 (vgl. hierzu Rz. 10.37 f.). Erst für die endgültige Abrechnung der allgemeinen Verfahrensgebühr ist der tatsächliche Streitwert maßgebend (vgl. Rz. 10.32 ff.). – Ausnahmsweise vermindert sich die – vierfache – allgemeine Verfahrensgebühr, auf eine zweifache Gebühr, wenn der Kläger die Klage vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung zurücknimmt. Findet keine mündliche Verhandlung statt, vermindert sich die vierfache Gebühr auf eine zweifache Gebühr, wenn der Kläger die Klage zurücknimmt, bevor das Urteil oder der Gerichtsbescheid (gerichtsintern) an die Geschäftsstelle übermittelt wird. Dies gilt auch, wenn statt der Klagerücknahme der Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt erklärt wird und ein entsprechender Kostenbeschluss nach § 138 FGO ergeht (vgl. im Einzelnen Nr. 6111 des Kostenverzeichnisses). – Bei Anträgen auf Aussetzung der Vollziehung und auf einstweilige Anordnung entstehen Verfahrensgebühren in Höhe einer zweifachen Gebühr (Nr. 6210 Kostenverzeichnis). Allerdings ist dabei regelmäßig von einem Streitwert in Höhe von pauschal 10 v. H. des Streitwertes der Hauptsache auszugehen2 (vgl. Rz. 10.39 f.). – Wird das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch Rücknahme des Antrags erledigt, so ermäßigt sich die Verfahrensgebühr auf das 0,75-fache einer Gebühr, wenn die Rücknahme vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung oder, wenn eine solche nicht stattfindet, vor Ablauf des Tages, an dem der Aussetzungs- oder Anordnungsbeschluss der Geschäftsstelle übermittelt wird (Nr. 6211 Kostenverzeichnis). Wird das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für in der Hauptsache erledigt erklärt, tritt die Gebührenermäßigung ein, es sei denn, dass bereits ein Beschluss vorausgegangen ist (Nr. 6211 Kostenverzeichnis). – Das GKG sieht in § 38 unter bestimmten Voraussetzungen eine sog. Verzögerungsgebühr vor. Sie kommt in Betracht, wenn durch Verschulden eines Beteiligten oder seines Vertreters die Vertagung einer mündlichen Verhandlung notwendig wird oder wenn die Erledigung des Rechtsstreits durch nachträgliches Vorbringen von Angriffs- oder Verteidigungsmitteln, Beweismitteln oder Beweiseinreden verzögert wurde.3 Die Entscheidung trifft das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen durch besonderen Beschluss, der zu begründen ist. Der Beschluss zur Erhebung der Verzögerungsgebühr kann in jeder Lage des Verfahrens – also bereits vor Erlass der Kostengrundentscheidung – ergehen.4 Zuvor ist dem betroffenen

1 Vgl. § 52 Abs. 4 GKG. 2 BFH v. 27.3.2000 – VII B 223/99, BFH/NV 2000, 1220; Brandis in Tipke/Kruse, vor §§ 135 ff. FGO Rz. 165. 3 Vgl. im Einzelnen Zimmermann in Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, § 38 GKG Rz. 2 ff. 4 BFH v. 7.1.2007 – VIII B 157/06, BFH/NV 2007, 931.

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Hendricks

B. Kostentatbestände

Rz. 10.14 Kap. 10

Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern.1 Die Höhe der Verzögerungsgebühr wird vom Gericht bestimmt (Nr. 6600 Kostenverzeichnis). b) Kostenansatz nach Verfahrensabschluss Die Gerichtskosten werden durch Übermittlung einer Kostenrechnung erhoben (Kostenansatz, vgl. § 19 GKG). Der Kostenansatz wird von Beamten des gehobenen oder des mittleren Justizdienstes oder vergleichbaren Angestellten vorgenommen (§ 1 KostVfg)2. Die Kostenrechnung führt die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) unter Hinweis auf die angewendete Vorschrift auf. Sie enthält ferner den Namen der vom Kostenbeamten festgestellten Kostenschuldner (§ 7 Abs. 1 KostVfg). Die Kostenrechnung ist ein Verwaltungsakt.3 Dem Kostenbeamten steht bei der Kostenfestsetzung kein Ermessensspielraum zu; er darf die Kosten deshalb nicht z. B. aus Billigkeitsgründen niedriger festsetzen.4

10.10

Die Kosten sind gem. § 13 Abs. 1 KostVfg festzusetzen, sobald sie fällig geworden sind. Die Fälligkeit tritt im finanzgerichtlichen Verfahren für den Gerichtskostenvorschuss (vgl. Rz. 10.19) mit der Einreichung der Klage- oder Antragsschrift (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 GKG) ein, im Übrigen erst mit der unbedingten Entscheidung des Gerichts über die Kosten (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 GKG). Dabei muss die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung nicht abgewartet werden.5 Wird das Verfahren durch Rücknahme des Rechtsbehelfs oder Erledigung beendet, werden die Gerichtsgebühren mit Rücknahme oder Erledigung fällig (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 GKG).

10.11

Der in der Kostenrechnung enthaltene Kostenansatz kann im Verwaltungswege vom Kostenbeamten gem. § 19 Abs. 5 GKG berichtigt werden, und zwar solange noch keine gerichtliche Entscheidung ergangen ist.

10.12

Gegen den Kostenansatz bzw. die Kostenrechnung kann gem. § 66 Abs. 1 Satz 1 GKG Erinnerung eingelegt werden. Berechtigt zur Einlegung der Erinnerung ist der sog. Kostenschuldner, der in der Kostenrechnung benannt ist. Kostenschuldner ist für den Kostenvorschuss der Kläger bzw. Antragsteller (vgl. § 22 GKG), in den übrigen Fällen derjenige, dem durch die gerichtliche Entscheidung die Kosten auferlegt worden sind (§ 29 GKG). Die Erinnerung ist gem. § 66 Abs. 5 GKG schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle bei dem Gericht einzulegen, das über die Erinnerung zu entscheiden hat.

10.13

Eine Frist für die Erinnerung ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt; eine zeitliche Begrenzung ergibt sich aber aus den Verjährungsvorschriften. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GKG verjähren Ansprüche auf Zahlung von Kosten in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Verfahren durch rechtskräftige Entscheidung über die Kosten, durch Vergleich oder in sonstiger Weise beendet ist.6 Eine nach Eintritt der Verjährung eingelegte Erinnerung kann keinen Erfolg haben.

10.14

1 So ausdrücklich BFH v. 3.6.1969 – VI B 3/69, BStBl. II 1969, 550; ebenso Brandis in Tipke/Kruse, vor §§ 135 ff. FGO Rz. 52. 2 Kostenverfügung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz v. 6.3.2014 – RB5 – 5607 – R3 131/2014. 3 Zimmermann in Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, § 19 GKG Rz. 2. 4 BFH v. 25.7.1989 – VII E 6/89, BFH/NV 1990, 185. 5 Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 128c. 6 Vgl. BFH v. 31.1.2014 – X E 8/13, BFH/NV 2014, 867.

Hendricks

579

Kap. 10 Rz. 10.15

Kosten des Rechtsstreits

10.15 Die Erinnerung hat gem. § 66 Abs. 7 Satz 1 GKG keine aufschiebende Wirkung; d. h. die Kostenrechnung muss trotz Einlegung einer Erinnerung beglichen werden, andernfalls drohen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der Gerichtskasse. Allerdings kann das Gericht auf entsprechenden Antrag oder von Amts wegen die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

10.16 Der Kostenbeamte kann der Erinnerung abhelfen, wenn er die Einwendungen des Kostenschuldners für begründet erachtet; andernfalls legt er die Erinnerung dem zuständigen Senat zur Entscheidung vor. Der Senat entscheidet gem. § 66 Abs. 6 Satz 1 GKG grundsätzlich durch den Einzelrichter. Der Einzelrichter kann das Verfahren allerdings dem Senat übertragen, wenn die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder grundsätzliche Bedeutung hat (§ 66 Abs. 6 Satz 2 GKG). Das Gericht überprüft die Rechtmäßigkeit der Kostenrechnung in vollem Umfang, also auch über die vom Kostenschuldner erhobenen Einwendungen hinaus. Nach neuer Rechtsprechung gilt im Erinnerungsverfahren der Grundsatz des Verbots der reformatio in peius nicht, d. h. der Kostenansatz darf auch zum Nachteil des Erinnerungsführers abgeändert werden.1 Die Entscheidung des Gerichts ergeht durch begründeten Beschluss, gegen den gem. § 128 Abs. 4 FGO keine Beschwerde zum BFH gegeben ist.2

10.17 Die Entscheidung über die Erinnerung ergeht selbst gerichtsgebührenfrei; es werden allerdings auch keine Kosten erstattet (§ 66 Abs. 8 GKG).

10.18 Überblick über die Gerichtskostenhöhe: Die nachfolgende Tabelle soll beispielhaft einen Überblick über die Höhe der Gerichtsgebühren für bestimmte ausgewählte Streitwerte geben. Der vorletzten Spalte können die Gerichtskosten entnommen werden, die im Rahmen eines vollständigen Klageverfahrens entstehen. In der letzten Spalte sind die Gerichtskosten im Falle der Klagerücknahme oder bei einer Erledigung des Verfahrens aufgelistet (vgl. Rz. 10.9). Streitwert in einfache Gebühr allg. Verfahrensgebühr für ein Höhe von nach § 34 GKG vollständiges Klageverfahren (in Euro) (in Euro) (in Euro)

ermäßigte Verfahrensgebühr Gebühr bei Klagerücknahme oder Erledigung (in Euro)

1.500

71

284

142

5.000

146

584

292

10.000

241

964

482

50.000

546

2.184

1.092

100.000

1.026

4.104

2.052

150.000

1.386

5.544

2.772

200.000

1.746

6.984

3.492

250.000

2.104

8.416

4.208

300.000

2.462

9.848

4.924

1 FG Hamburg v. 14.8.2013 – 3 KO 156/13, EFG 2013, 1961; FG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.7.2011 – 3 Ko 1137/11, EFG 2012, 551; zustimmend zu dieser Rspr. Reuß, EFG 2013, 1961; a. A. noch BFH v. 6.6.1989 – X E 3/88, BFH/NV 1990, 184. 2 BFH v. 2.10.2014 – X B 94/14, BFH/NV 2015, 218.

580

Hendricks

B. Kostentatbestände

Streitwert in einfache Gebühr allg. Verfahrensgebühr für ein Höhe von nach § 34 GKG vollständiges Klageverfahren (in Euro) (in Euro) (in Euro)

Rz. 10.21 Kap. 10

ermäßigte Verfahrensgebühr Gebühr bei Klagerücknahme oder Erledigung (in Euro)

500.000

3.536

14.144

7.072

1.000.000

5.336

21.344

10.672

1.500.000

7.136

28.544

14.272

2.000.000

8.936

35.744

17.872

2.500.000

10.736

42.944

21.472

3.000.000

12.536

50.144

25.072

5.000.000

19.736

78.944

39.472

10.000.000

37.736

150.944

75.472

30.000.000

109.736

438.944

219.472

c) Vorfälligkeitsgebühr anlässlich der Klageerhebung Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 GKG wird in Prozessverfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit mit Einreichung der Klageschrift die allgemeine Verfahrensgebühr fällig. Nach dem Gesetz hängt das Tätigwerden des Finanzgerichts (d. h. insbesondere die Zustellung der Klage an den Beklagten) – anders als z. B. bei einem Vorschuss für zivilgerichtliche Klagen – nicht davon ab, ob und ggf. wann die Verfahrensgebühr gezahlt wird. Da die Gebühr bereits vor Abschluss des Verfahrens entsteht aber auch kein Vorschuss im vorgenannten Sinne ist, wird sie überwiegend als „Vorfälligkeitsgebühr“ bezeichnet.1

10.19

Der maßgebende Wert für die Ermittlung der Gebühr ist nach § 52 Abs. 5 GKG zu bestimmen. Maßgebend wäre eigentlich der im Rahmen einer Streitwertfestsetzung ermittelte Streitwert. Da jedoch im Finanzgerichtprozess keine Streitwertfestsetzung erfolgt (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 3 GKG), ist die Vorfälligkeitsgebühr nach den anderen in § 52 Abs. 5 GKG bestimmten Kriterien zu ermitteln. Betrifft das Begehren des Klägers bei Klageerhebung eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt und ergibt sich der Betrag unmittelbar aus den gerichtlichen Verfahrensakten, so ist dieser Betrag maßgebend. Folgt der Betrag jedoch weder aus dem Klageerhebungsschriftsatz noch unmittelbar aus den Akten (beispielsweise weil die Klage – wie häufig – zunächst ohne die Benennung eines konkreten Betrages erhoben wird), bemisst sich die Vorfälligkeitsgebühr nach dem Mindestwert i. S. von § 52 Abs. 4 Nr. 1 GKG (vgl. § 52 Abs. 5 a. E. GKG).2 Ist die Klage bereits ihrer Art nach nicht unmittelbar auf eine Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt gerichtet (wie z. B. bei der Anfechtung von Feststellungsbescheiden), bemisst sich die Vorfälligkeitsgebühr automatisch nach dem Mindeststreitwert.3

10.20

Ist eine Klage unmittelbar auf eine Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt gerichtet, sollte bei der Klageerhebung zwar der Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnet werden

10.21

1 Just, DStR 2014, 2481. 2 Vgl. Just, DStR 2014, 2481. 3 So BFH v. 19.7.2016 – IV E 2/16, BFH/NV 2016, 1582.

Hendricks

581

Kap. 10 Rz. 10.22

Kosten des Rechtsstreits

(vgl. Rz. 3.27); von der Bezifferung des streitigen Betrages sollte mit Rücksicht auf § 52 Abs. 5 GKG verzichtet werden, damit sich die Vorfälligkeitsgebühr automatisch nach dem Mindestwert i. S. von § 52 Abs. 4 Nr. 1 GKG bemisst. Soweit sich die Vorfälligkeitsgebühr – wie im Regelfall – nach dem Mindeststreitwert bemisst, also 1.500 Euro beträgt (§ 52 Abs. 4 Nr. 1 GKG), entsteht eine Vorfälligkeitsgebühr von 284 Euro (71 Euro × 4).1

2. Außergerichtliche Kosten

10.22 Zu den gem. § 139 Abs. 1 FGO erstattungsfähigen Kosten gehören auch die außergerichtlichen Kosten. Sie setzen sich zusammen aus den persönlichen eigenen Auslagen, die dem Kläger in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verfahren entstanden sind, und den Gebühren und Auslagen für einen Prozessbevollmächtigten.

10.23 Zu den erstattungsfähigen Kosten gehören nur diejenigen Aufwendungen, die als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig anzusehen sind. Dazu rechnen Reisekosten (etwa zum Gericht) sowie ein etwaiger Verdienstausfall, der nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) ermittelt wird.2

10.24 Auch die Gebühren eines Prozessbevollmächtigten sind Bestandteil der außergerichtlichen Kosten. Sie richten sich nach dem Streitwert. Dabei sind nach § 23 Abs. 1 Satz 1 RVG bei der Bemessung des Streitwerts für das gerichtliche Verfahren die Wertvorschriften für die Gerichtsgebühren heranzuziehen. Das bedeutet, dass die Streitwerte für die Gerichtsgebühren und die Gebühren der Prozessbevollmächtigten (Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer) identisch sind. Es gilt also auch hier ein Mindeststreitwert von 1.500 Euro.3 a) Gebührentatbestände

10.25 Im finanzgerichtlichen Verfahren kommen gem. Nr. 3200 ff. des Vergütungsverzeichnisses (Anlage 1 zum RVG) folgende Gebühren in Betracht: – Verfahrensgebühr (Nr. 3200 Vergütungsverzeichnis): Die allgemeine Verfahrensgebühr beträgt das 1,6-fache der Gebühr nach § 13 RVG. Sie entsteht, sobald der Bevollmächtigte in dem Verfahren tätig geworden ist. Für die Höhe der Gebühr ist nicht entscheidend, in welchem Umfang der Bevollmächtigte tätig geworden ist. Mit dieser Pauschalgebühr sind sämtliche Tätigkeiten abgegolten, es sei denn, es ist für eine bestimmte Tätigkeit eine besondere Gebühr vorgesehen, z. B. Teilnahme an einer Verhandlung oder Erörterung (Terminsgebühr), Mitwirkung bei einer Erledigung (Erledigungsgebühr). – Terminsgebühr (Nr. 3202 Vergütungsverzeichnis): Die Terminsgebühr beträgt das 1,2-fache der Gebühr nach § 13 RVG. Sie erhält der Prozessbevollmächtigte für die Vertretung in einem Erörterungstermin (vgl. Rz. 3.734 ff.), Beweistermin oder in einer mündlichen Verhandlung. Sie entsteht auch, wenn das Gericht im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (vgl. Rz. 3.805 ff.). Sie entsteht unabhängig von der Zahl der einzelnen Termine in jedem Rechtszug nur einmal.4 Eine Terminsgebühr kann auch durch eine Telefon- oder Videokonferenzverhandlung ausgelöst werden, denn das Ge1 2 3 4

Brandis in Tipke/Kruse, vor §§ 135 ff. FGO Rz. 21; Steinhauff, AO-StB 2015, 82 (83). Vgl. Stapperfend in Gräber, § 139 FGO Rz. 10; Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 28. BFH v. 29.9.2010 – VI S 6/10, BFH/NV 2011, 57. Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 92.

582

Hendricks

B. Kostentatbestände

Rz. 10.26 Kap. 10

setz sieht keine bestimmte Form vor, in der der Termin stattfinden muss. Daher ist es nicht erforderlich, dass beide Beteiligte bei der Besprechung im selben Raum körperlich anwesend sein müssen. Angesichts der modernen Telekommunikationsmittel und deren Berücksichtigung in den Prozessordnungen (vgl. insbesondere § 91a FGO) kann eine Besprechung daher auch mittels Video- und Telefonkonferenz stattfinden.1 – Erledigungsgebühr (Nr. 1002 Vergütungsverzeichnis): Die Erledigungsgebühr entsteht, wenn sich die Rechtssache ganz oder teilweise durch Mitwirkung des Prozessbevollmächtigten erledigt. Sie beträgt das 1,5-fache der Gebühr nach § 13 RVG. Die Erledigungsgebühr ist allerdings keine reine Erfolgsgebühr für eine allgemein auf die Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit. Deshalb reicht das allgemeine Betreiben des Klageverfahrens für ihre Entstehung nicht aus, da insoweit schon die allgemeine Verfahrensgebühr anfällt. Wegen der geforderten anwaltlichen Mitwirkung ist eine über die Begründung der Klage hinausgehende Verfahrensförderung mit dem Ziel der Erledigung der Rechtssache erforderlich. Es muss sich um eine besondere, über die allgemeine Prozessführung hinausgehende, auf die Herbeiführung der Erledigung gerichtete nicht nur unwesentliche Tätigkeit handeln.2 Unwesentlich ist eine Mitwirkung z.B., wenn dem Antrag des Klägers zu mindestens 90 % entsprochen wurde.3 Die Erledigungsgebühr kann auch neben der Terminsgebühr anfallen.4 – Gesetzlich vorgesehene Gebühren und Auslagen eines Bevollmächtigten im Vorverfahren sind nach § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO erstattungsfähig, wenn das Gericht die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig erklärt. Im Hinblick auf die Kompliziertheit des Steuerrechts wird einem entsprechenden Antrag in aller Regel vom Gericht entsprochen.5 Dabei gilt der Mindeststreitwert im Vorverfahren nur für Rechtsanwälte, nicht für Steuerberater.6 – Besonderheiten: Tritt ein Rechtsanwalt oder Steuerberater in eigener Sache auf, sind ihm gem. § 155 FGO i. V. m. § 91 Abs. 2 Satz 3 ZPO die gesetzlichen Gebühren und Auslagen ebenfalls zu erstatten. Wird der Prozessbevollmächtigte in derselben Angelegenheit für mehrere Auftraggeber tätig (z. B. für zusammen veranlagte Eheleute bei einer Klage gegen einen Einkommensteuerbescheid), erhält er gem. § 7 Abs. 1 RVG die Gebühren nur einmal. Allerdings erhöhen sich die Gebühren um jeweils 0,3. Dabei dürfen mehrere Erhöhungen einen Gebührensatz von 2,0 nicht überschreiten. Zu den erstattungsfähigen Kosten gehört auch die Umsatzsteuer auf die Vergütung des Bevollmächtigten. Sie ist allerdings gem. § 155 FGO i. V. m. § 104 Abs. 2 Satz 3 ZPO bei der Kostenfestsetzung nur zu berücksichtigen, wenn der Antragsteller die Erklärung abgibt, dass er die Umsatzsteuer nicht als Vorsteuer abziehen kann. Für Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften sind im finanzgerichtlichen Verfahren die für Rechtsanwälte geltenden Vorschriften des RVG sinngemäß anwendbar (§ 45 StBGebV). Dies gilt allerdings nicht für das außergerichtliche Vorverfahren. Hier richten sich die Gebühren eines Steuerberaters nach der StBGebV und weichen deshalb von den Gebühren eines Rechtsanwalts ab.7 1 So auch FG des Saarlandes v. 14.11.2005 – 2 S 335/05, EFG 2006, 926. 2 BFH v. 12.2.2007 – III B 140/06, BFH/NV 2007, 1109; FG Baden-Württemberg v. 27.8.2007 – 8 KO 1/07, EFG 2007, 1972. 3 FG Köln v. 28.6.2004 – 10 KO 1603/044, EFG 2004, 1642. 4 FG des Saarlandes v. 14.11.2005 – 2 S 335/05, EFG 2006, 926. 5 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 130. 6 FG Köln v. 26.2.2007 – 10 KO 1308/06, EFG 2007, 953. 7 Wegen der Einzelheiten vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 134 ff., 144 ff.

Hendricks

583

10.26

Kap. 10 Rz. 10.27

Kosten des Rechtsstreits

b) Kostenfestsetzung nach Verfahrensabschluss

10.27 Soweit die beklagte Behörde auf Basis der Kostengrundentscheidung (vgl. Rz. 10.1 f.) die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, gilt dies auch für die außergerichtlichen Kosten. Die von der beklagten Behörde zu erstattenden Kosten werden gem. § 149 Abs. 1 FGO auf Antrag vom Urkundsbeamten des Gerichts durch Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzt. Gegen diesen Beschluss können die Beteiligten gem. § 149 Abs. 2 FGO Erinnerung einlegen, und zwar innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Zustellung des Kostenfestsetzungsbeschlusses.1 Hilft der Urkundsbeamte der Erinnerung nicht ab, so entscheidet das Gericht durch unanfechtbaren Beschluss. Hier gilt indes der Grundsatz der reformatio in peius, d. h. der Kostenfestsetzungsbeschluss darf nicht zum Nachteil des Erinnerungsführers geändert werden.2

II. Verfahren vor dem Bundesfinanzhof 1. Gerichtskosten

10.28 Für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren entsteht eine zweifache Gebühr, wenn die Beschwerde als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen wird (Nr. 6500 Kostenverzeichnis zum GKG).3 Das Verfahren löst lediglich eine einfache Gebühr aus, wenn die Beschwerde zurückgenommen wird4 oder das Verfahren durch anderweitige Erledigung beendet wird (Nr. 6501 Kostenverzeichnis). Hat die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg, löst das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren keine Gerichtsgebühren aus.5

10.29 Für das Revisionsverfahren fällt im Grundsatz eine fünffache Gebühr an (Nr. 6120 Kostenverzeichnis). Sie wird fällig mit Einreichung der Revisionsschrift (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 GKG), auch wenn die Revision nicht statthaft ist oder der Revisionskläger dem Vertretungszwang (§ 62 Abs. 4 FGO) nicht genügt.6 Wird die Revision zurückgenommen, bevor die Schrift zur Begründung der Revision bei Gericht eingegangen ist, so ermäßigt sich die allgemeine Verfahrensgebühr auf eine einfache Gebühr (Nr. 6121 Kostenverzeichnis). Erfolgt die Rücknahme hingegen erst vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung oder, wenn eine solche nicht stattfindet, vor Ablauf des Tages, an dem das Urteil, der Gerichtsbescheid oder der Beschluss in der Hauptsache der Geschäftsstelle übermittelt wird, so ermäßigt sich die Verfahrensgebühr auf eine dreifache Gebühr. Das Gleiche gilt in den Fällen, in denen der Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt erklärt wird, es sei denn, dass bereits ein Urteil, ein Gerichtsbescheid oder ein Beschluss in der Hauptsache vorausgegangen ist (Nr. 6122 Kostenverzeichnis).7 2. Außergerichtliche Kosten

10.30 Wegen des vor dem BFH geltenden Vertretungszwangs (vgl. Rz. 4.4) fallen regelmäßig Kosten für Prozessbevollmächtigte an. Hier beträgt die allgemeine Verfahrensgebühr (vgl. Rz. 10.25) 1 Brandis in Tipke/Kruse, § 149 FGO Rz. 18. 2 Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt v. 1.8.2014 – 5 KO 803/14, EFG 2014, 1989; Brandt in Beermann/Gosch, § 149 FGO Rz. 103. 3 Vgl. BFH v. 15.7.2003 – VII E 13/03, BFH/NV 2003, 1593. 4 Eine Rücknahme liegt jedoch auch gebührenrechtlich nicht vor, wenn der Beschwerdeführer lediglich auf die Begründung einer bereits eingelegten Beschwerde verzichtet, vgl. BFH v. 18.1.2017 – IV S 8/16, BFH/NV 2017, 479. 5 Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 57. 6 BFH v. 13.8.2003 – I E 1/03, BFH/NV 2003, 1605. 7 Vgl. Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 48.

584

Hendricks

C. Streitwert

Rz. 10.34 Kap. 10

das 1,6-fache der Gebühr nach § 13 RVG (vgl. gem. Nr. 3206 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG). Bei vorzeitiger Beendigung des Auftrags reduziert sich die Vergütung auf das 1,1-fache der Gebühr nach § 13 RVG (vgl. Nr. 3207 des Vergütungsverzeichnisses).1 Die Terminsgebühr (vgl. Rz. 10.25) beläuft sich auf das 1,5-fache der Gebühr nach § 13 RVG (Nr. 3210 des Vergütungsverzeichnisses). Zu beachten ist, dass die Gebühr auch dann entsteht, wenn „nach § 79a Abs. 2, § 90a oder § 94a FGO“2 durch Gerichtsbescheid entschieden wird. Damit soll die Terminsgebühr – unabhängig davon, ob tatsächlich eine mündliche Verhandlung stattfindet – auch dann anfallen, wenn prozessual eine mündliche Verhandlung erzwungen werden könnte.3 Wird nach Erlass eines Gerichtsbescheides fristgerecht mündliche Verhandlung beantragt, entfällt allerdings die Terminsgebühr wegen der Wirkung dieses Antrags (vgl. Rz. 3.1080) rückwirkend. Hier löst aber die sich anschließende mündliche Verhandlung die Terminsgebühr wieder aus.4

10.31

C. Streitwert Für die Höhe der Gebühren ist der Wert des Streitgegenstandes, der Streitwert maßgebend. Dies ergibt sich aus § 3 GKG. Für jeden Gebührentatbestand ist der Streitwert zugrunde zu legen, den das Verfahren im Zeitpunkt der Verwirklichung des Gebührentatbestandes hat.5

10.32

Maßgebend für den Streitwert ist zunächst einmal der Antrag des Klägers: Betrifft sein Antrag eine bezifferte Geldleistung – wie regelmäßig im finanzgerichtlichen Verfahren – ist gem. § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG deren Höhe maßgebend. Der Antrag ist in diesem Sinne ausreichend beziffert, wenn der Kläger beantragt, die Steuer auf einen bestimmten Betrag festzusetzen oder die im angefochtenen Bescheid festgesetzte Steuer um einen bestimmten Betrag zu mindern.

10.33

Fehlt es an den Voraussetzungen des § 52 Abs. 3 GKG, d. h. ist kein bezifferter Antrag gestellt, ist der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers ergebenden Bedeutung der Sache zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Diese Regelung kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn Streitgegenstand ein Verwaltungsakt ist, der nicht auf eine bezifferte Geldleistung gerichtet ist. Hierzu rechnen insbesondere Feststellungsbescheide. Auf der Grundlage des in § 52 Abs. 1 GKG eingeräumten und an der Bedeutung der Sache auszurichtenden Ermessens sind nach ständiger Rechtsprechung des BFH für Verfahren der gesonderten und einheitlichen Gewinnfeststellung pauschalierende Regelsätze anzusetzen, die die einkommensteuerlichen Auswirkungen der streitigen Feststellung lediglich typisierend berücksichtigen. Dabei ist der Streitwert grundsätzlich mit 25 v. H. des streitigen Gewinns zu bemessen.6 Die tatsächlichen einkommensteuerlichen Auswirkungen bei den einzelnen Gesellschaftern werden grundsätzlich nicht ermittelt.7 Wird über die Höhe des in einem Gewinnfeststellungsbescheid zu erfas-

10.34

1 Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 94. 2 So Abs. 2 der Anmerkung zu Nr. 3207 des Vergütungsverzeichnisses; die Anmerkung kommt durch den Verweis in Nr. 3210 des Vergütungsverzeichnisses zu Anwendung. 3 Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 93; a. A. Stapperfend in Gräber, § 139 FGO Rz. 65. 4 So auch Brandis in Tipke/Kruse, § 139 FGO Rz. 93. 5 So bereits BFH v. 15.11.1967 – IV R 311/62, BStBl. II 1968, 534; ebenso Brandt in Beermann/ Gosch, § 139 FGO Rz. 71. 6 BFH v. 14.4.2016 – IV E 1/16, BFH/NV 2016, 1066; v. 29.11.2012 – IV E 7/12, BFH/NV 2013, 403. 7 BFH v. 18.10.2012 – IV S 17/12, BFH/NV 2012, 248; v. 29.2.2012 – IV E 1/12, BFH/NV 2012, 1153.

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Kap. 10 Rz. 10.35

Kosten des Rechtsstreits

senden Veräußerungsgewinns gestritten, ist im Regelfall von 15 % des streitigen Betrags auszugehen; bei sehr hohen (streitigen) Veräußerungsgewinnen ist der Prozentsatz in angemessenem Umfang anzuheben.1

10.35 Der Streitwert bemisst sich nicht nach dem vollständigen geldwerten Interesse, welches der Klage zu Grunde liegt. Vielmehr ist der Streitwertberechnung grundsätzlich nur der Steuerbetrag zugrunde zu legen, um den unmittelbar gestritten wurde. Mittelbare steuerliche Auswirkungen bleiben außer Betracht, auch Auswirkungen auf Veranlagungszeiträume, die dem Streitjahr vor- oder nachgelagert sind.2

10.36 Bietet der bisherige Sach- und Streitstand für eine Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist gem. § 52 Abs. 2 GKG von einem Streitwert von 5.000 Euro auszugehen (sog. Auffangstreitwert).

10.37 Grundsätzlich wird also der Streitwert aufgrund der im Verfahren gestellten Sachanträge des Klägers berechnet, wobei in der Regel der weitestgehende Antrag maßgebend ist. Entscheidend für den Streitwert ist das unmittelbare finanzielle Interesse des Klägers an dem Ausgang des Rechtsstreits. Das bedeutet: Entscheidend kommt es auf die erstrebte Änderung der Steuerfestsetzung für den betreffenden Veranlagungszeitraum an. Beispiel 1: Will der Steuerpflichtige mit seiner Klage die ersatzlose Aufhebung eines Steuerbescheides erreichen, so beträgt der Streitwert die volle festgesetzte Steuer.3 Beispiel 2: Wendet sich der Kläger gegen einen Berichtigungsbescheid, der zu seinen Ungunsten erlassen wurde, so ist als Streitwert die Differenz zwischen der im Berichtigungsbescheid festgesetzten Steuer und der ursprünglichen Steuer anzusehen.4 Beispiel 3: Begehrt der Kläger mit seiner Klage gegen einen Einkommensteuerbescheid eine Herabsetzung der Einkommensteuer, so errechnet sich der Streitwert aus dem Unterschied zwischen beantragter und vom Finanzamt festgesetzter Einkommensteuer.5 Beispiel 4: Bei Verfahren über die Höhe oder die Verteilung des einheitlich und gesondert festgestellten Gewinns ist grundsätzlich für die Höhe des Streitwerts die Auswirkung auf die Einkommensteuer zugrunde zu legen. Aus Vereinfachungsgründen wird diese Auswirkung jedoch nicht individuell ausgerechnet, sondern im Regelfall mit pauschal 25 % des streitigen Gewinns angesetzt.

10.38 Soweit nicht Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer (i. S. von § 155 Satz 2 FGO) oder Verfahren in Kindergeldangelegenheiten betroffen sind, liegt der Mindeststreitwert finanzgerichtlicher Verfahren bei 1.500 Euro (§ 55 Abs. 4 Nr. 1 GKG).6 Der Mindeststreitwert gilt jedoch nicht für Verfahren zur Erreichung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 114 FGO oder § 69 FGO, da die einschlägige Streitwertbestimmung nur auf § 52 Abs. 1 und 2 GKG, nicht aber auf § 52 Abs. 4 Nr. 1 GKG verweist (§ 53 Abs. 2 FGO).7

1 BFH v. 6.4.2016 – IV E 9/15, BFH/NV 2016, 1063; v. 17.11.2011 – IV S 15/10, BFH/NV 2012, 246; v. 14.2.2007 – IV E 3/06, BFH/NV 2007, 1155. 2 BFH v. 28.3.2012 – VIII E 2/12, BFH/NV 2012, 1318; v. 8.7.1999 – VIII E 1/99, BFH/NV 1999, 1630. 3 Vgl. BFH v. 10.9.1986 – II E 2/86, BFH/NV 1987, 802; Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 252. 4 So auch Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 278. 5 Vgl. BFH v. 20.9.2010 – V R 2/09, BFH/NV 2011, 302. 6 Schwarz in HHSp, § 139 FGO Rz. 232. 7 BFH v. 14.12.2007 – IX E 17/07, BStBl. II 2008, 199.

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Hendricks

D. Prozesskostenhilfe

Rz. 10.44 Kap. 10

Der Streitwert ist auch nach oben hin begrenzt. Es kann maximal ein Streitwert von 30 Mio. Euro zugrunde gelegt werden (Maximalstreitwert, vgl. § 39 Abs. 2 GKG).1 In finanzgerichtlichen Verfahren über die Aussetzung oder die Aufhebung der Vollziehung ist der Höchstwert in der Weise zu berücksichtigen, dass der zunächst aufgrund der Bedeutung der Rechtssache ermittelte und sodann auf 10 % ermäßigte Steuerbetrag diesen Höchstwert nicht überschreiten darf.2

10.39

Im Jahr 2009 haben die Präsidenten der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland einen „Streitwertkatalog für die Finanzgerichtsbarkeit“3 beschlossen, der seither regelmäßig aktualisiert wird. Der Katalog enthält eine Zusammenstellung der finanzgerichtlichen Rechtsprechung zur Streitwertbestimmung. Er kann in der Praxis als Orientierung und Argumentationshilfe genutzt werden, besitzt allerdings weder für die gerichtlichen Kostenbeamten noch für die nach § 149 Abs. 4 FGO zur Entscheidung über Erinnerungen gegen Streitwertfestsetzungen angerufenen Gerichte Verbindlichkeit.4

10.40

D. Prozesskostenhilfe I. Allgemeines Kann der Kläger wegen seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen, so kann ihm auf seinen Antrag hin Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Für Prozesskostenhilfe betreffend finanzgerichtliche Verfahren gelten gem. § 142 Abs. 1 FGO die Vorschriften der Zivilprozessordnung sinngemäß, und zwar die §§ 114 ff. ZPO.

10.41

Prozesskostenhilfe wird gem. § 119 ZPO für jede Instanz gesondert gewährt. Für jede Instanz ist deshalb ein gesonderter Antrag erforderlich, der bei dem Gericht zu stellen ist, bei dem der Rechtsstreit anhängig ist oder anhängig gemacht werden soll.5

10.42

Prozesskostenhilfe kann nicht nur für Verfahren vor den Finanzgerichten, sondern auch für Verfahren vor dem BFH (Beschwerde einschließlich Nichtzulassungsbeschwerde, Revision) beantragt und gewährt werden. Dabei unterliegt der Antrag nicht dem beim BFH grundsätzlich geltenden Vertretungszwang.6 Ein PKH-Antrag für ein Beschwerdeverfahren vor dem BFH kann allerdings nach Ansicht des BFH ebenso beim Finanzgericht angebracht werden, weil auch das Finanzgericht Prozessgericht i. S. des § 117 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist.7

10.43

Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hat zur Folge, dass

10.44

– der Kläger, soweit nichts anderes bestimmt ist, von der Zahlung rückständiger und entstehender Gerichtskosten zunächst befreit ist und 1 2 3 4

So ausdrücklich BFH v. 28.4.2006 – I E 1/06, BFH/NV 2006, 1674. BFH v. 6.9.2012 – VII E 12/12, BFH/NV 2013, 211. Veröffentlicht RVGreport 2010, 48 sowie auf der Internetpräsenz der meisten Finanzgerichte. BFH v. 7.3.2016 – VII E 1/16, BFH/NV 2016, 1039; Sächsisches FG v. 30.5.2011 – 3 Ko 489/11, juris; ebenso Brandt in Beermann/Gosch, § 139 FGO Rz. 80. 5 Brandis in Tipke/Kruse, § 142 FGO Rz. 25; BFH v. 17.11.2008 – VII S 21/08 (PKH), BFH/NV 2009, 605. 6 BFH v. 20.10.2003 – VI S 4/03 (PKH), BFH/NV 2004, 356. 7 BFH v. 16.5.2003 – V S 4/03 (PKH), BFH/NV 2003, 1339.

Hendricks

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Kap. 10 Rz. 10.45

Kosten des Rechtsstreits

– dem Kläger ein Steuerberater oder Rechtsanwalt beigeordnet werden kann, der von der Staatskasse zu bezahlen ist.

II. Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung 10.45 Voraussetzung für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist als Erstes, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig ist und eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht (§ 114 ZPO). 1. Hinreichende Erfolgsaussichten

10.46 Hinreichende Erfolgsaussichten bestehen dann, wenn bei summarischer Prüfung die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als aussichtslos erscheint, also eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ein vollständiges oder zumindest teilweises Obsiegen des Steuerpflichtigen besteht.1 Hiervon ist auszugehen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Steuerpflichtigen aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist.2 Die Erfolgsaussichten sind in der Regel selbst dann als für die Gewährung von Prozesskostenhilfe hinreichend anzusehen, wenn die Gründe für und gegen einen Erfolg als gleichwertig zu bewerten sind;3 eine abschließende Prüfung darf bei der Abwägung nicht vorgenommen werden.4 Hinreichende Erfolgsaussichten sind auch dann gegeben, wenn der Rechtsstreit schwierige Rechtsfragen aufwirft, die erst im Revisionsverfahren abschließend zu klären sind.5

10.47 Eine Beweiserhebung findet im Prozesskostenhilfeverfahren im Grundsatz nicht statt.6 Bei Zweifeln an den für einen Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren maßgeblichen Tatsachen ist Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn das Gericht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Es darf allerdings im Prozesskostenhilfeverfahren das Ergebnis einer Zeugenvernehmung nicht vorwegnehmen. Ausnahmen von diesem Grundsatz kommen nur in engen Grenzen in Betracht, nämlich insbesondere wenn das angebotene Beweismittel von vornherein völlig ungeeignet ist, so dass eine Beweiserhebung im Hauptsacheverfahren, selbst wenn sie beantragt würde, nicht in Betracht käme, oder wenn nach Lage der Dinge das Ergebnis der Beweiserhebung – ausnahmsweise – mit einiger Sicherheit im Vorhinein feststeht, z. B. weil ein Zeuge bereits im Verwaltungsverfahren eingehend vernommen worden ist.7 Insoweit ist eine „Beweisantizipation“ in gewissem Rahmen zulässig.8

1 BFH v. 2.9.2003 – X S 2/03 (PKH), BFH/NV 2004, 342. 2 BFH v. 12.4.1994 – VII B 39/94, BFH/NV 1995, 62 und v. 5.2.1993 – VIII B 103/92, BFH/NV 1993, 351; Stapperfend in Gräber, § 142 FGO Rz. 39. 3 BFH v. 24.9.2013 – III S 21/13 (PKH), BFH/NV 2014, 43. 4 BFH v. 30.7.2004 – XI S 20/03 (PKH), BFH/NV 2005, 216; Brandis in Tipke/Kruse, § 142 FGO Rz. 45. 5 BFH v. 17.1.2006 – VIII S 6/05 (PKH), BFH/NV 2006, 801. 6 BFH v. 6.12.2000 – VI B 99/00, BFH/NV 2001, 787. 7 BFH v. 31.8.2000 – VII B 181/00, BFH/NV 2001, 318. 8 Überzeugend Brandis in Tipke/Kruse, § 142 FGO Rz. 46 mit Rspr.-Nachweisen.

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Hendricks

D. Prozesskostenhilfe

Rz. 10.53 Kap. 10

2. Rechtsverfolgung nicht mutwillig Trotz gegebener Erfolgsaussichten des betroffenen Verfahrens ist Prozesskostenhilfe zu versagen, wenn die Rechtsverfolgung mutwillig ist. Mutwillig ist die Rechtsverfolgung, wenn ein Beteiligter, der keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung absehen würde (§ 114 Abs. 2 ZPO), weil das Verfahren auch im Falle des Obsiegens keine nützlichen Effekte mit sich bringt. So ist ein auf einen Verfahrensmangel gestütztes Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren trotz gegebener Erfolgsaussichten mutwillig, wenn feststeht, dass es nach einer Zurückverweisung im zweiten Rechtsgang ausschließlich zu einer Abweisung der Klage kommen kann.1 Prozesskostenhilfe ist in diesen Fällen zu versagen.2

10.48

III. Persönliche Voraussetzungen Weitere Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist, dass der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

10.49

Zu den Kosten der Prozessführung zählen die rückständigen und die voraussichtlich noch entstehenden Kosten (vgl. § 122 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Dazu gehören die Gerichtskosten und die Vergütung für einen Prozessbevollmächtigten. Insoweit ist das gesamte Prozesskostenrisiko zu berücksichtigen.3

10.50

Zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen i. S. des § 114 Satz 1 ZPO gehören die Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten (vgl. § 117 Abs. 2 ZPO). Anhand dieser Merkmale hat das Gericht zu prüfen, ob der Antragsteller außerstande ist, die Prozesskosten ganz oder teilweise zu tragen.

10.51

Bei der Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers ist in erster Linie vom Einkommen i. S. des § 115 ZPO auszugehen. Zum Einkommen gehören gem. § 115 Abs. 1 Satz 2 ZPO alle Einkünfte aus Geld oder Geldeswert. Mit dieser Definition folgt das PKH-Recht nicht dem (engen) steuerrechtlichen Einkommensbegriff des § 2 Abs. 4 EStG, sondern lehnt sich vielmehr an die weiter gefasste Begriffsbestimmung des Sozialhilferechts an.4 Ist das monatliche Einkommen schwankend, so ist das Einkommen aufgrund eines repräsentativen Durchschnitts zu ermitteln.5

10.52

Da das Einkommen dem Antragsteller zur freien Verfügung stehen muss – nur dann kann er hieraus ggf. auch die Prozesskosten bezahlen –, sieht § 115 Abs. 1 ZPO bestimmte Abzüge vor.6 So sind vom Brutto-Einkommen neben Lohnsteuer, Pflichtbeiträgen zur Sozialversicherung, notwendigen Erwerbsaufwendungen und den Kosten für Unterkunft und Heizung auch ein pauschalierter Betrag für den Lebensunterhalt des Antragstellers und seines Ehegatten/Le-

10.53

1 BFH v. 25.2.2016 – X S 23/15 (PKH), BFH/NV 2016, 945. 2 Vgl. BFH v. 24.3.2014 X S 4/14 (PKH), BFH/NV 2014, 1067. 3 Vgl. BFH v. 10.5.2005 – III S 9/05 (PKH), BFH/NV 2005, 1611; v. 12.5.1982 – II B 76/81, BStBl. II 1982, 598; Schwarz in HHSp, § 142 FGO Rz. 50. 4 BFH v. 13.6.2006 – VI S 9/05 (PKH), BFH/NV 2006, 1690; Schoenfeld in Beermann/Gosch, § 142 FGO Rz. 60. 5 BFH v. 18.2.1992 – VII B 244/91, BFH/NV 1992, 691; Brandis in Tipke/Kruse, § 142 FGO Rz. 36. 6 Vgl. im Einzelnen Schoenfeld in Beermann/Gosch, § 142 FGO Rz. 67 ff.

Hendricks

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Kap. 10 Rz. 10.54

Kosten des Rechtsstreits

benspartners sowie weitere gesetzlich geschuldete Unterhaltsleistungen abzuziehen (§ 115 Abs. 1 Nrn. 1–3 ZPO). Außerdem können weitere Beträge abgezogen werden, wenn dies mit Rücksicht auf besondere Belastungen angemessen ist (§ 115 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). So kann z. B. die Belastung aus einem Darlehen berücksichtigt werden, wenn dieses zur Finanzierung eines PKW aufgenommen wurde, der für Fahrten zur Arbeitsstätte eingesetzt wird.1

10.54 Die Bedürftigkeit eines Verfahrensbeteiligten ist nicht nur nach seinen Einkommensverhältnissen, sondern auch danach zu beurteilen, ob er im Rahmen des Zumutbaren die zur Prozessführung erforderlichen Kosten unter Einsatz seines gesamten verwertbaren Vermögens aufbringen kann (§ 115 Abs. 3 ZPO). Zum Vermögen gehört das gesamte verwertbare Vermögen, also auch Bargeld, Grundvermögen, Sparguthaben, Wertpapiervermögen.2 Soweit die Verwertung aus bestimmten Gründen nicht oder nur schwer möglich sein sollte, muss der Antragsteller sich auf die Inanspruchnahme eines Kredits verweisen lassen.3 Besitzt der PKH begehrende Prozessbeteiligte einsatzpflichtiges Vermögen, so stellt eine Kreditaufnahme auf der Grundlage dieses Vermögens eine zumutbare (Teil-)Verwertung dieses Vermögens dar.4

10.55 Die Frage der Zumutbarkeit des Einsatzes des eigenen Vermögens ist grundsätzlich in entsprechender Anwendung von § 90 SGB XII zu beurteilen (§ 115 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Diese Vorschrift enthält in Abs. 2 Nrn. 1-9 einen Katalog nicht verwertbarer Gegenstände, sog. Schonvermögen.5 Hierzu rechnet z.B. Vermögen, das aus öffentlichen Mitteln zum Aufbau oder zur Sicherung einer Lebensgrundlage oder zur Gründung eines Hausstandes erbracht wird, Kapital einschließlich Erträge, das der zusätzlichen Altersvorsorge dient und dessen Ansammlung staatlich gefördert wurde, angemessener Hausrat, Gegenstände, die für die Aufnahme oder Fortsetzung der Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit unentbehrlich sind, sowie ein angemessenes Hausgrundstück.6

10.56 Eine inländische juristische Person oder beteiligungsfähige Vereinigung7 erhält nach § 142 Abs. 1 FGO i. V. m. § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO nur dann Prozesskostenhilfe, wenn die Kosten weder von ihr noch von den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und wenn die Unterlassung der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde. Auch eine Erbengemeinschaft, die gegen einen an sie gerichteten Umsatzsteuerbescheid klagt, gehört zu den in § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO bezeichneten inländischen parteifähigen Vereinigungen; sie muss deshalb im Verfahren wegen Prozesskostenhilfe darlegen, aus welchen Gründen die Unterlassung der erstrebten Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde.8 In diesem Sinne sind allgemeine Interessen berührt, wenn die Antragstellerin ohne die Prozesskostenhilfe gehindert würde, eine der Allgemeinheit dienende Aufgabe zu erfüllen, oder wenn die Entscheidung größere Kreise der Bevölkerung oder das Wirtschaftsleben berührt

1 BFH v. 23.10.2000 – VI S 16/00, BFH/NV 2001, 469; vgl. zur Berechnung des Einkommens auch BFH v. 1.8.2000 – VII S 37/99, BFH/NV 2001, 457. 2 BFH v. 18.9.1997 – VIII B 37/97, BFH/NV 1998, 490 und v. 2.5.1988 – IV B 99/86, BFH/NV 1989, 123; vgl. auch Brandis in Tipke/Kruse, § 142 FGO Rz. 32 ff. 3 Zutreffend Schwarz in HHSp, § 142 FGO Rz. 81a m. N. 4 BFH v. 26.1.2001 – VI B 277/99, BFH/NV 2001, 809. 5 BFH v. 23.11.2011 – III S 28/10 (PKH), BFH/NV 2012, 429. 6 Vgl. Schwarz in HHSp, § 142 FGO Rz. 84. 7 Zur Beteiligtenfähigkeit einer Vereinigung im Rahmen finanzgerichtlicher Verfahren vgl. Spindler in HHSp, § 57 FGO Rz. 10 ff. 8 BFH v. 21.11.2000 – V B 143/00, BFH/NV 2001, 618.

590

Hendricks

D. Prozesskostenhilfe

Rz. 10.61 Kap. 10

und soziale Wirkungen hat oder haben könnte.1 Dies ist z. B. der Fall, wenn von der Durchführung des Prozesses die Existenz eines Unternehmens abhängt, an dessen Erhaltung wegen der großen Zahl der dort beschäftigten Arbeitnehmer ein allgemeines Interesse besteht.2 Gleiches gilt für die Klage einer in Liquidation befindlichen GmbH, die im Obsiegensfalle eine größere Zahl von Gläubigern befriedigen könnte.3

IV. Verfahren Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist beim Finanzgericht oder für Verfahren vor dem BFH bei diesem oder ebenfalls beim Finanzgericht zu stellen. Er ist dort schriftlich oder mündlich zur Niederschrift bei der Geschäftsstelle vorzubringen.

10.57

In dem Antrag ist das Streitverhältnis unter Angabe der Beweismittel darzustellen. Dem Antrag sind eine Erklärung des Antragstellers über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen (§ 117 ZPO), und zwar nach Maßgabe der Prozesskostenhilfeformularverordnung (PKHFV) v. 6.1.20144 unter Verwendung des amtlichen Formulars.5

10.58

Das Gericht muss aus dem Vorbringen des Antragstellers ersehen können, ob und in welchem Umfang die beabsichtigte Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat. Insoweit muss der Antragsteller seiner Darlegungspflicht nachkommen.6 Bei lediglich teilweisen Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Rechtsverfolgung kann Prozesskostenhilfe auch nur anteilig gewährt werden.7

10.59

Das Antragsformular muss sorgfältig ausgefüllt werden. Werden zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen keine Angaben zu den „Einnahmen“ gemacht und die Frage nach den „sonstigen Vermögenswerten“ nicht beantwortet, kann keine Prozesskostenhilfe gewährt werden. Dasselbe gilt, wenn sich die Angaben im Erklärungsvordruck und die diesem beigefügten Anlagen widersprechen.8 Wird für das Revisionsverfahren Prozesskostenhilfe beantragt, kann es genügen, wenn der Antragsteller auf die im Klageverfahren abgegebene Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Bezug nimmt und versichert, dass sich die Verhältnisse insoweit nicht geändert haben.9

10.60

Die Entscheidung über einen Prozesskostenantrag wird vom Gericht ohne mündliche Verhandlung durch „Beschluss“ getroffen. Neben der Ablehnung oder der Bewilligung des Antrages kann ein Beschluss in diesem Verfahren abzielen auf10

10.61

– die Festsetzung der monatlichen Raten und des aus dem Vermögen zu zahlenden Betrags (§ 120 Abs. 1 Satz 1 ZPO),

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

BGH v. 20.12.1989 – VIII ZR 139/89, DB 1990, 678; Weigel, AO-StB 2013, 19 (21). Weigel, AO-StB 2013, 19 (21). BGH v. 24.10.1990 – VIII ZR 87/90, NJW 1991, 703. BGBl. I 2014, 34. Nach der Rechtsprechung des BFH verpflichtet die Verordnung nur natürliche Personen zur Nutzung des Formulars, vgl. BFH v. 13.10.2014 – V S 28/14 (PKH), BFH/NV 2015, 218. BFH v. 8.11.2000 – X S 5/00, BFH/NV 2001, 614. BFH v. 24.10.2000 – VI B 14/99, BFH/NV 2001, 469. BFH v. 17.1.2001 – XI B 76 – 78/00, BFH/NV 2001, 803. BFH v. 17.8.2000 – VI S 29/99, BFH/NV 2001, 193. Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 142 FGO Rz. 51.

Hendricks

591

Kap. 10 Rz. 10.62

Kosten des Rechtsstreits

– die Festsetzung von Zahlungen betr. den späteren Fortfall von Belastungen (§ 120 Abs. 1 Satz 2 ZPO), – die Entscheidung über die vorläufige Einstellung der Zahlungen (§ 120 Abs. 3 ZPO), – die Änderung der zu leistenden Zahlungen (§ 120a ZPO), – die Beiordnung eines Verfahrensbevollmächtigten (z. B. eines Rechtsanwalts oder eines Steuerberaters (§ 121 ZPO; § 142 Abs. 2 FGO).1

10.62 Gegen die Ablehnung einer beantragten Prozesskostenhilfe ist die Beschwerde nicht gegeben, da diese durch § 128 Abs. 2 FGO ausdrücklich ausgeschlossen ist. Ein ablehnender Beschluss wird also mit seiner Bekanntgabe formell rechtskräftig.2

10.63 Nach einer Ablehnung kann ein Prozesskostenhilfeantrag erneut gestellt werden, weil Entscheidungen hierüber nicht in materielle Rechtskraft erwachsen.3 Da die Gerichte allerdings in derselben Sache grundsätzlich nicht mehrfach bemüht werden sollen, erfordert eine solche Wiederholung ein besonderes Rechtsschutzinteresse. Dieses ist nur dann gegeben, wenn das erneute Begehren auf neue Gründe gestützt wird. Dabei sind neue Gründe nur solche, die in entscheidungserheblicher (tatsächlicher oder rechtlicher) Hinsicht die Sache in „einem neuen Licht“ erscheinen lassen.4

10.64 Prozesskostenhilfe kann auch rückwirkend für eine bereits abgewiesene Klage bewilligt werden, wenn sie vor der Entscheidung in der Hauptsache beantragt worden war und der Antrag bei summarischer Beurteilung hätte Erfolg haben müssen.5

1 2 3 4 5

Vgl. im Einzelnen Schoenfeld in Beermann/Gosch, § 142 FGO Rz. 207 ff. Bartone, AO-StB 2009, 150 (153). BFH v. 28.7.2015 – V S 20/15 (PKH), BFH/NV 2015, 1435. BFH v. 26.10.1995 – X B 126/95, BFH/NV 1996, 257. BFH v. 28.8.2000 – V B 133/00, BFH/NV 2000, 1497.

592

Hendricks

Kapitel 11 Musterschriftsätze

M 1 Vorsorgliche Einspruchseinlegung zur Fristwahrung

11.1

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzamt F St.-Nr. …/…/… Eheleute A Einkommensteuerbescheid 00 vom …, hier eingegangen am … Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit lege ich für meine Mandanten gegen den o.g. Einkommensteuerbescheid vorsorglich Einspruch ein. Begründung folgt. Mit freundlichen Grüßen … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

Schaumburg

593

Kap. 11 Rz. 11.2

Musterschriftsätze

11.2 M 2 Verspätete Einspruchseinlegung – Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzamt F St.-Nr. …/…/…

Eheleute A

Einkommensteuerbescheid 00… vom …, hier eingegangen am … Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit lege ich für meine Mandanten gegen den o.g. Einkommensteuerbescheid vorsorglich Einspruch ein. Es wird beantragt, den Einkommensteuerbescheid 00 … vom … unter Berücksichtigung zusätzlicher Werbungskosten bei den Einkünften aus … in Höhe von … a zu ändern. Zugleich wird beantragt, wegen Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. I. Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung II. Es folgen die Ausführungen zum Sachverhalt und zur rechtlichen Beurteilung. Mit freundlichen Grüßen … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Kopie des Fristenkontrollbuchs und des Postausgangsbuchs 2. Eidesstattliche Versicherung von …

594

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.3 Kap. 11

M 3 Einspruchseinlegung mit Begründung und AdV-Antrag

11.3

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzamt F Eheleute A – St.-Nr. …/…/… Einkommensteuerbescheid 00… vom …, hier eingegangen am … Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit lege ich für meine Mandanten gegen den o.g. Einkommensteuerbescheid Einspruch ein. Es wird beantragt, 1. den Einkommensteuerbescheid 00 … vom … unter Berücksichtigung von … bei den Einkünften aus … in Höhe von … a zu ändern, 2. die Vollziehung des angefochtenen Bescheids bis zum Ergehen des Änderungsbescheids in voller Höhe (oder: entsprechend) auszusetzen. Begründung I. Schilderung des Sachverhalts II. Rechtliche Ausführungen Mit freundlichen Grüßen … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

Schaumburg

595

Kap. 11 Rz. 11.4

Musterschriftsätze

11.4 M 4 Klageerhebung Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht F Klage der Eheleute A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer 00 Im Namen meiner Mandanten erhebe ich Klage gegen das Finanzamt F. Die Klage richtet sich gegen den Einkommensteuerbescheid 00 vom … in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom … Mit der Klage verfolgen die Kläger das bereits im Einspruchsverfahren verfolgte Begehren weiter. Anträge und Begründung werden bis zum … nachgereicht. … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des ESt.-Bescheids vom … 4. Kopie der Einspruchsentscheidung vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

596

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.5 Kap. 11

M 5 Aufhebungsklage

11.5

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer 00 Im Namen meines Mandanten erhebe ich unter Beifügung einer auf mich lautender Prozessvollmacht Klage gegen das Finanzamt K-Stadt und werde voraussichtlich beantragen, 1. den Einkommensteuerbescheid 00 vom … und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,2 4. das Urteil wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären,3 5. im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.4 Begründung I. Sachverhalt II. Rechtliche Würdigung Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Prozessvollmacht5 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des ESt.-Bescheids vom … 4. Kopie der Einspruchsentscheidung vom … 1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt. 3 Dieser Antrag wird des Öfteren gestellt, ist aber nicht erforderlich. 4 Über die Zulassung der Revision entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte. 5 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

597

Kap. 11 Rz. 11.6

Musterschriftsätze

11.6 M 6 Aufhebungsklage – Aufhebung der Einspruchsentscheidung Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom … betreffend Einkommensteuer 00… Im Namen meines Mandanten erhebe ich Klage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. die Einspruchsentscheidung des Finanzamts F vom … betreffend die Einkommensteuerveranlagung 00 aufzuheben, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,2 4. das Urteil wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären.3 Begründung Es folgen Ausführungen zu einem Verfahrensfehler im Einspruchsverfahren… Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Prozessvollmacht4 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des ESt.-Bescheids vom … 4. Kopie der Einspruchsentscheidung vom …

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt; vgl. dazu Rz. 10.27. 3 Dieser Antrag wird des Öfteren gestellt, ist aber nicht erforderlich. 4 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

598

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.7 Kap. 11

M 7 Änderungsklage – Herabsetzung der Einkommensteuer

11.7

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht K K-Stadt Klage der Frau A

– Klägerin

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer 00 Im Namen meiner Mandantin erhebe ich Klage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. den Einkommensteuerbescheid 00 vom … in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom … zu ändern und die Einkommensteuer auf … a herabzusetzen, (oder: die Einkommensteuer 00 unter Berücksichtigung weiterer Aufwendungen in Höhe von … a herabzusetzen), 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,2 4. das Urteil wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären,3 5. im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.4 Begründung … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt; vgl. dazu Rz. 10.27. 3 Dieser Antrag wird des Öfteren gestellt, ist aber nicht erforderlich. 4 Über die Zulassung der Revision entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

Schaumburg

599

Kap. 11 Rz. 11.7

Musterschriftsätze

Anlagen: 1. Prozessvollmacht1 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des Einkommensteuerbescheids vom … 4. Kopie der Einspruchsentscheidung vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

600

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.8 Kap. 11

M 8 Verpflichtungsklage – Erlass eines Änderungsbescheids

11.8

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage Herrn A

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Ablehnung der Berichtigung des Einkommensteuerbescheids 00 Im Namen meines Mandanten erhebe ich Klage gegen das Finanzamt Fund werde voraussichtlich beantragen, 1. den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 00 vom … zu ändern und die Einkommensteuer auf … a herabzusetzen (oder: die Einkommensteuer 00 unter Berücksichtigung weiterer Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von … Euro herabzusetzen), 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,2 4. im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.3 Begründung Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt; vgl. dazu Rz. 10.27. 3 Über die Zulassung der Revision entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

Schaumburg

601

Kap. 11 Rz. 11.8

Musterschriftsätze

Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des Einkommensteuerbescheids vom … 4. Kopie der ablehnenden Verfügung vom … 5. Kopie der Einspruchsentscheidung vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

602

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.9 Kap. 11

M 9 Verpflichtungsklage – Erlass von Steuern

11.9

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F – St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Erlass von Einkommensteuer 00

– Beklagter

Im Namen meines Mandanten erhebe ich Klage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … zu verpflichten, dem Kläger die Einkommensteuer 00 in Höhe von … a zu erlassen, hilfsweise, den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … zu verpflichten, den Erlassantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.2 Begründung … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt; vgl. dazu Rz. 10.27.

Schaumburg

603

Kap. 11 Rz. 11.9

Musterschriftsätze

Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des Einkommensteuerbescheids vom … 4. Kopie der ablehnenden Verfügung vom … 5. Kopie der Einspruchsentscheidung vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

604

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.10 Kap. 11

M 10 Allgemeine Leistungsklage

11.10

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage Des A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … wegen … (z. B.) Rückzahlung von doppelt entrichteter Einkommensteuer 00 Im Namen meines Mandanten erhebe ich Klage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger … a zu zahlen, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.1 Begründung … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Vollmacht2 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des Abrechnungsbescheids vom …

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

605

Kap. 11 Rz. 11.11

Musterschriftsätze

11.11 M 11 Feststellungsklage – Feststellung der Nichtigkeit eines Bescheids Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … wegen Feststellung der Nichtigkeit des …-bescheids 00 vom … Im Namen meines Mandanten erhebe ich Klage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. festzustellen, dass der …-bescheid 00 vom … nichtig ist, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.2 Begründung … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Vollmacht3 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des … –bescheids 00 vom …

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Über die Zulassung der Revision entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte. 3 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

606

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.12 Kap. 11

M 12 Fortsetzungsfeststellungsklage

11.12

Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Klage der Frau A, Wohnanschrift

– Klägerin

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen …-bescheid 00 vom … werde ich nunmehr voraussichtlich beantragen, 1. festzustellen, dass der aufgehobene …-bescheid 00 vom … rechtswidrig war, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.2 Begründung … Da sich der angefochtene Bescheid 00 durch Änderungsbescheid vom erledigt hat, sieht sich der Kläger gezwungen, nunmehr in Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO zu beantragen, festzustellen, dass der erledigte Bescheid rechtswidrig war… – wird ausgeführt –. … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt; vgl. dazu Rz. 10.27.

Schaumburg

607

Kap. 11 Rz. 11.13

Musterschriftsätze

11.13 M 13 Sprungklage bei Anfechtungsklage Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Sprungklage des Herrn A, Büroanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … wegen Einkommensteuer-Änderungsbescheid 00 vom … Im Namen meines Mandanten erhebe ich Sprungklage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. den Einkommensteuerbescheid 00 vom … zu ändern und die Einkommensteuer auf … a herabzusetzen, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.2 Begründung I. Sachverhalt: … – wird ausgeführt. II. Rechtsausführungen … – wird ausgeführt. III. Da der Sachverhalt unstreitig ist und zwischen dem Kläger und dem Beklagten lediglich unterschiedliche Rechtsauffassungen bestehen, ist die Durchführung eines Einspruchsverfahrens entbehrlich. Der Beklagte wird deshalb gebeten, die Zustimmung zur Sprungklage fristgerecht zu erteilen. … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Über die Zulassung der Revision entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

608

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.13 Kap. 11

Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des Einkommensteuer-Änderungsbescheids vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

609

Kap. 11 Rz. 11.14

Musterschriftsätze

11.14 M 14 Untätigkeitsklage Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Untätigkeitsklage des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuerbescheid 00 vom … Im Namen meines Mandanten erhebe ich Untätigkeitsklage gegen das Finanzamt F und werde voraussichtlich beantragen, 1. unter Änderung des Einkommensteuerbescheids 00 vom … die Einkommensteuer 00 auf …,– a herabzusetzen. 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.2 4. im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.3 Begründung I. Gegen den Einkommensteuerbescheid 00 vom … wurde fristgerecht am … Einspruch eingelegt. Bis heute liegt eine Einspruchsentscheidung des Finanzamts nicht vor. Da über sechs Monate seit der Einspruchseinlegung vergangen und Gründe für eine Verzögerung nicht ersichtlich sind, ist Untätigkeitsklage geboten. II. Wie bereits in der Einspruchsbegründung, auf die Bezug genommen wird, ausführlich dargelegt wurde, ist der Einkommensteuerbescheid 00 vom… rechtswidrig … … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Dieser Antrag sollte spätestens im Kostenfestsetzungsverfahren gestellt werden. Es handelt sich dabei um einen Beschluss des erkennenden Spruchkörpers, der normalerweise nicht im Urteil erfolgt; vgl. dazu Rz. 10.27. 3 Über die Zulassung der Revision entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

610

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.14 Kap. 11

Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift der Klage 3. Kopie des Einkommensteuerbescheids vom … 4. Kopie des Einspruchsschreibens vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

611

Kap. 11 Rz. 11.15

Musterschriftsätze

11.15 M 15 Aussetzung (Aufhebung) der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheids Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Antrag auf Aussetzung (Aufhebung) der Vollziehung des Herrn A, Wohnanschrift

– Antragsteller

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Antragsgegner

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … betr. den Einkommensteuerbescheid 200… vom … Im Namen meines Mandanten beantrage ich unter Beifügung auf mich lautender Prozessvollmacht, 1. die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 00 vom … in Höhe eines Teilbetrages von …Euro auszusetzen (aufzuheben), 2. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. für den Fall des Unterliegens die Beschwerde zuzulassen.2 Begründung I. Sachverhalt … Über den gegen den Einkommensteuerbescheid 00 vom … eingelegten Einspruch vom … hat der Antragsgegner noch nicht entschieden. II. Die Voraussetzungen für die Anrufung des Gerichts sind gegeben: Den zusammen mit dem Einspruch gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung hat der Antragsgegner durch Bescheid vom … abgelehnt mit der Begründung, … III. Rechtsausführungen … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Über die Zulassung der Beschwerde entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

612

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.15 Kap. 11

Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift des Antrags 3. Kopie des Einkommensteuerbescheids 200… vom … 4. Kopie der ablehnenden Aussetzungsverfügung vom … 5. Kopie des Einspruchsschreibens vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

613

Kap. 11 Rz. 11.16

Musterschriftsätze

11.16 M 16 Einstweilige Anordnung – Einstweilige Einstellung der Vollstreckung Steuerberater S, Büroanschrift An das Finanzgericht G Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Herrn A, Wohnanschrift

– Antragsteller

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Antragsgegner

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Vollstreckung Im Namen meines Mandanten beantrage ich 1. dem Antragsteller durch einstweilige Anordnung zu untersagen, bis zur Entscheidung über die Klage vom … aus den Bescheiden vom …. zu vollstrecken, 2. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. im Unterliegensfalle die Beschwerde zuzulassen.2 Begründung I. Die Klage wegen …. ist beim Finanzgericht G unter dem Aktenzeichen … anhängig. Mit Klageerhebung hat der Antragsteller einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO gestellt, nachdem der Antragsgegner einen entsprechenden Antrag zurückgewiesen hatte. Über den Antrag, der das Aktenzeichen … trägt, ist noch nicht entschieden. Mit Schreiben vom … hat der Antragsgegner dem Antragsteller eine letzte Zahlungsfrist von einer Woche gesetzt und angekündigt, nach fruchtlosem Ablauf der Frist seien Beitreibungsmaßnahmen unvermeidlich; ein Vollstreckungsaufschub komme nicht in Betracht. II. Die beantragte einstweilige Einstellung der Vollstreckung ist geboten, weil der Antragsteller sonst bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ohne gerichtlichen Rechtsschutz sein würde; zumal der Antragsteller nicht abzusehen vermag, wann das Gericht über seinen Aussetzungsantrag entscheiden wird. Es liegt ein Anordnungsgrund vor, … – wird näher ausgeführt –. Außerdem besteht ein Anordnungsanspruch. – wird näher ausgeführt –. … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Über die Zulassung der Beschwerde entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

614

Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.16 Kap. 11

Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift des Antrags 3. Kopie des Schreibens des Antraggegners vom …

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

615

Kap. 11 Rz. 11.17

Musterschriftsätze

11.17 M 17 Einstweilige Anordnung gegen Insolvenzantrag des Finanzamts Steuerberater S, Wohnanschrift An das Finanzgericht G Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Herrn A, Wohnanschrift

– Antragsteller

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt G

– Antragsteller

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Insolvenzantrag an das Amtsgericht X vom … Im Namen meines Mandanten beantrage ich, 1. das Insolvenzverfahren einstweilen einzustellen, 2. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 3. im Unterliegensfalle die Beschwerde zuzulassen.2 Begründung Der Antragsteller hat gegen den Antrag des Antragsgegners auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit Schriftsatz vom gleichen Tage Klage erhoben. Wegen der Einzelheiten wird auf die Begründung in der Klageschrift verwiesen. Der Antrag wird wie folgt begründet: I. Es besteht ein Anordnungsanspruch gemäß § 114 Abs. 3 FGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. – Ein Insolvenzgrund ist nicht gegeben. Der Antragsteller ist nicht zahlungsunfähig und hat seine Zahlungen nicht eingestellt … Eine Überschuldung liegt nicht vor … – wird ausgeführt –. Oder: – Der Insolvenzantrag ist rechtsmissbräuchlich erfolgt. Er wurde vom Antragsgegner lediglich gestellt, um den Antragsteller unter Druck zu setzen … – wird ausgeführt –. Oder: – Dem Antrag fehlt das Rechtsschutzinteresse. Bei der angemeldeten Forderung handelt es sich um eine Kleinforderung, so dass der Antrag unverhältnismäßig ist … – wird ausgeführt –. Oder: – Der Antragsgegner hat bei der Stellung des Insolvenzantrags das ihm obliegende Ermessen nicht (oder fehlerhaft) ausgeübt … – wird ausgeführt –.

1 Hierüber entscheidet das Gericht von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag an sich nicht erforderlich ist. 2 Über die Zulassung der Beschwerde entscheidet das Gericht in jedem Fall von Amts wegen, so dass dieser Antrag nur eine Anregung ist, die dann aber auch begründet werden sollte.

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Schaumburg

Musterschriftsätze

Rz. 11.17 Kap. 11

Oder: – Der Antragsteller verfügt über folgende Sicherheiten, aus denen der Antragsgegner sich gemäß § 327 AO befriedigen kann: … – wird ausgeführt –. II. Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor, weil durch die mit einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens verbundenen Nachteile nicht mehr rückgängig zu machen sind. … – wird näher ausgeführt –. … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Vollmacht1 2. Abschrift des Antrags 3. Abschrift der Klageschrift vom … 4. … (weitere Anlagen je nach Argumentation)

1 Die Prozessvollmacht muss nur noch auf Anforderung vorgelegt werden. Allerdings empfiehlt es sich, diese von vorneherein beizufügen. S. Rz. 3.396.

Schaumburg

617

Kap. 11 Rz. 11.18

Musterschriftsätze

11.18 M 18 Einlegung der Revision (ohne Begründung) Steuerberater S, Büroanschrift An den Bundesfinanzhof Ismaninger Str. 109 81675 München Revision des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger und Revisionskläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt G

– Beklagter und Revisionsbeklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer … lege ich namens und im Auftrag des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts … (Aktenzeichen …), der Klägerseite zugestellt am …, Revision ein. Die Vorinstanz hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO)/ wegen Divergenz zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Eine Abschrift des Urteils sowie eine auf den Unterzeichner ausgestellte Vollmacht sind als Anlage beigefügt. Antrag und Revisionsbegründung folgen in einem besonderen Schriftsatz. Ich beantrage bereits jetzt, die Revisionsbegründungsfrist bis zum … zu verlängern, weil … Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Abschrift der Revisionserhebung 2. Abschrift des erstinstanzlichen Urteils 3. Vollmacht

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Hendricks

Musterschriftsätze

Rz. 11.19 Kap. 11

M 19 Revisionsbegründung

11.19

Steuerberater S, Büroanschrift An den Bundesfinanzhof Ismaninger Str. 109 81675 München In dem Revisionsverfahren (Aktenzeichen …) des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger und Revisionskläger

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt G

– Beklagter und Revisionsbeklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer … beantrage ich namens und im Auftrag des Klägers, 1. das Urteil des Finanzgerichts vom … (Aktenzeichen …) aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid vom … in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahingehend abzuändern, dass bei der Steuerfestsetzung weitere Aufwendungen in Höhe von … a berücksichtigt werden, 2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,1 und begründe die von mir am … eingelegte Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts … vom … (Aktenzeichen …) wie folgt: Begründung Die Beteiligten streiten über die Frage, ob … I. Streitgegenständlicher Sachverhalt Unter Beachtung der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (§ 118 Abs. 2 FGO) stellt sich der relevante Sachverhalt im Kern wie folgt dar: …2 II. Zutreffende steuerliche Würdigung Bei zutreffender Würdigung des vorgehend dargestellten Sachverhalts sind die streitgegenständlichen Aufwendungen steuermindernd zu berücksichtigen. …3

1 Hierüber entscheidet der BFH von Amts wegen, so dass ein entsprechender Antrag aus verfahrensrechtlicher Sicht nicht erforderlich ist. 2 An dieser Stelle ist der streitgegenständliche Sachverhalt darzustellen. Bei der Darstellung ist die Bindung des BFH an die tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts (§ 118 Abs. 2 FGO) zu beachten, vgl. Rz. 4.10, Rz. 4.37 sowie Rz. 4.53 ff. 3 An dieser Stelle empfiehlt sich eine in sich geschlossene Darstellung der zutreffenden steuerlichen Würdigung des streitgegenständlichen Sachverhaltes, ohne dass hierbei eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Vorinstanz erfolgt.

Hendricks

619

Kap. 11 Rz. 11.19

Musterschriftsätze

III. Entscheidung der Vorinstanz verletzt Bundesrecht Das angefochtene Urteil der Vorinstanz vom … verstößt gegen § … und verletzt damit Bundesrecht. …1 IV. Entscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht Das angefochtene Urteil der Vorinstanz beruht auf der Verletzung von Bundesrecht. …2 Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 An dieser Stelle ist darzulegen, dass die (abweichende) Auffassung der Vorinstanz eine Verletzung von Bundesrecht darstellt. Die Revision ist nur zulässig, wenn sich die Revisionsbegründungsschrift mit den Argumenten der Vorinstanz auseinandersetzt, vgl. Rz. 4.44 ff. 2 Im Rahmen der Revisionsbegründung ist darzulegen, dass das Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht, dass also die Verletzung von Bundesrecht für das von der Vorinstanz gefundene Ergebnis kausal wurde. Soweit Anlass besteht, ist auch darzulegen, warum die Entscheidung der Vorinstanz sich ungeachtet der Verletzung von Bundesrecht auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 126 Abs. 4 FGO), vgl. Rz. 4.52.

620

Hendricks

Musterschriftsätze

Rz. 11.20 Kap. 11

M 20 Einlegung Nichtzulassungsbeschwerde

11.20

Steuerberater S, Büroanschrift An den Bundesfinanzhof Ismaninger Str. 109 81675 München Nichtzulassungsbeschwerde des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger und Beschwerdeführer

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt G

– Beklagter und Beschwerdegegner

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer … namens und im Auftrag des Klägers lege ich hiermit Nichtzulassungsbeschwerde ein gegen das Urteil des Finanzgerichts … vom …, Aktenzeichen: …, der Klägerseite zugestellt am …. Eine Abschrift des Urteils sowie eine auf den Unterzeichner ausgestellte Vollmacht sind als Anlage beigefügt. Ich beantrage bereits jetzt, die Beschwerdebegründungsfrist um einen Monat bis zum … zu verlängern, weil …. Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift) Anlagen: 1. Abschrift der Beschwerdeerhebung 2. Abschrift des erstinstanzlichen Urteils 3. Vollmacht

Hendricks

621

Kap. 11 Rz. 11.21

Musterschriftsätze

11.21 M 21 Nichtzulassungsbeschwerdebegründung Steuerberater S, Büroanschrift An den Bundesfinanzhof Ismaninger Str. 109 81675 München In dem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (Aktenzeichen …) des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger und Beschwerdeführer

Bevollmächtigter: Steuerberater S, Büroanschrift gegen Finanzamt G

– Beklagter und Beschwerdegegner

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer … begründe ich die am …, gegen das Urteil des … Senats des Finanzgerichts … vom (Aktenzeichen: …) eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wie folgt: Begründung Die Revision ist zuzulassen, weil der Sache grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 116 FGO i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 116 FGO i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO kommt einer Rechtsache nach der ständigen Rechtsprechung des BFH zu, wenn eine für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage (dazu nachfolgend II.) in einem zukünftigen Revisionsverfahren klärungsbedürftig (dazu nachfolgend III.) sowie klärungsfähig und entscheidungserheblich (dazu unter IV.) ist. Schließlich muss es sich um eine Rechtsfrage von allgemeinem Interesse handeln (dazu unter V.). I. Hintergrund der erstinstanzlichen Auseinandersetzung und streitgegenständlicher Sachverhalt Die Beteiligten streiten über die Frage, ob … Unter Beachtung der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (§ 118 Abs. 2 FGO) stellt sich der relevante Sachverhalt im Kern wie folgt dar: …1 II. Formulierung der Rechtsfrage Auf Basis des von der Vorinstanz festgestellten Sachverhaltes ist die Rechtsfrage zu klären, ob …2

1 An dieser Stelle ist der streitgegenständliche Sachverhalt darzustellen. Bei der Darstellung ist die Bindung des BFH an die tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts (§ 118 Abs. 2 FGO) zu beachten, vgl. Rz. 4.157. Dabei kann die Darstellung des Sachverhaltes auf die Umstände verkürzt werden, die für die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung relevant sind. 2 Hier ist die Rechtsfrage zu formulieren, für welche die grundsätzliche Bedeutung dargelegt werden soll, vgl. Rz. 4.161.

622

Hendricks

Musterschriftsätze

Rz. 11.21 Kap. 11

III. Rechtsfrage ist klärungsbedürftig Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig sein. Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind (so zuletzt BFH v. 21.9.2016 – VI B 34/16, BFH/NV 2017, 26). Dies ist vorliegend der Fall. …1 IV. Rechtsfrage ist klärungsfähig und entscheidungserheblich Weitere Voraussetzung für eine grundsätzliche Bedeutung ist, dass die Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren überhaupt klärungsfähig ist. Ferner muss die Rechtsfrage für den Streitfall auch entscheidungserheblich sein. Dies ist vorliegend der Fall. …2 V. Rechtsfrage von allgemeinem Interesse Damit der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt, muss an der Klärung der vorgenannten Rechtsfrage ein allgemeines Interesse bestehen (vgl. nur BFH v. 14.12.2012 – I B 50/11, BFH/NV 2012, 920). Die Bedeutung darf sich gerade nicht in der Entscheidung des konkreten Einzelfalls erschöpfen (BFH v. 21.9.2011 – XI B 24/11, BFH/NV 2012, 277). Gemessen an diesen Vorgaben handelt es sich um eine Rechtsfrage von allgemeinem Interesse. …3 VI. Antrag Aus den dargestellten Gründen beantrage ich namens und im Auftrag des Klägers, die Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts vom … (Aktenzeichen …) wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 116 FGO i.V. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Steuerberater S (eigenhändige Unterschrift)

1 Zu diesem Punkt vgl. Rz. 4.162. Es empfiehlt sich eine strukturierte Darstellung der Rechtsprechung bzw. Literatur zur der aufgeworfenen Rechtsfrage. 2 Zu diesem Punkt vgl. Rz. 4.163. 3 Zu diesem Punkt vgl. Rz. 4.164.

Hendricks

623

Kap. 11 Rz. 11.22

Musterschriftsätze

11.22 M 22 Verfassungsbeschwerde Rechtsanwalt R, Büroanschrift An das Bundesverfassungsgericht Schlossbezirk 3 76131 Karlsruhe Verfassungsbeschwerde des Herrn A, Wohnanschrift Bevollmächtigter:

Rechtsanwalt1

– Beschwerdeführer R, Büroanschrift

1. unmittelbar gegen2 a) das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 1.3.2005, VIII R 25/02, b) das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 25.9.2003, Az: IV 229/2992, c) den Einkommensteuerbescheid 1999 …, vom …, und die bestätigende Einspruchsentscheidung des Finanzamts … vom …, 2. mittelbar gegen § 17 Abs. 1 Satz 1 und 4 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I S. 402). Im Namen meines Mandanten erhebe ich unter Beifügung einer auf mich lautenden Vollmacht3 Verfassungsbeschwerde und beantrage zu erkennen4: 1. § 17 Absatz 1 Satz 4 in Verbindung mit § 52 Absatz 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24.3.1999 (Bundesgesetzblatt I Seite 402) verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und ist nichtig, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind und die entweder – bei einer Veräußerung bis zu diesem Zeitpunkt – nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder – bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes – sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können. 2. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 1.3.2005 – VIII R 25/02 wird aufgehoben. Das Verfahren wird an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen. 3. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

1 Anders als vor dem BFH ist eine Vertretung durch einen Steuerberater nicht möglich. Der Beschwerdeführer muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer der in § 22 Abs. 1 BVerfGG genannten Hochschulen vertreten lassen, vgl. Rz. 6.38. 2 Die Formulierung des Gegenstands der Verfassungsbeschwerde sowie die Anträge ist angelehnt an BVerfG, Beschluss v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BStBl. II 2011, 86. 3 Die Vollmacht ist in der besonderen Form des § 22 Abs. 2 BVerfGG zu erteilen; sie muss sich ausdrücklich auf das konkrete Verfassungsbeschwerdeverfahren beziehen, vgl. Rz. 6.38. 4 Die Anträge sollten sich an dem vom Gericht angestrebten Tenor orientieren.

624

Hendricks

Musterschriftsätze

Rz. 11.22 Kap. 11

Begründung Verfassungsbeschwerde1

Die betrifft die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass Gewinne aus der privaten Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften nach § 17 Abs. 1 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I S. 402) der Einkommensteuer unterworfen sind, insbesondere soweit sich die damit einhergehende Absenkung der Beteiligungsgrenze von mehr als 25 % auf mindestens 10 % auch auf nach altem Recht bestehende Beteiligungsverhältnisse bezieht. I. Hintergrund der Auseinandersetzung, streitgegenständlicher Sachverhalt und Verfahrensgang2 Das Einkommensteuergesetz unterscheidet nach § 2 Abs. 2 EStG zwischen Gewinneinkunftsarten und Überschusseinkunftsarten. Im Rahmen der Gewinneinkunftsarten, zu denen die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit zählen, unterliegt der Wertzuwachs bei den zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsgütern der Besteuerung zum Zeitpunkt ihrer Realisierung insbesondere in Gestalt eines Veräußerungsgewinns. Bei den Überschusseinkunftsarten, zu denen die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung sowie „sonstige Einkünfte“ gehören, gilt das für die Einkünfteerzielung eingesetzte Vermögen als Privatvermögen. Wertsteigerungen des Privatvermögens bleiben grundsätzlich auch im Fall einer Veräußerung einkommensteuerfrei, wenn nicht das Einkommensteuergesetz die Besteuerung „privater“ Veräußerungsgewinne besonders vorsieht. Nach der bis zum 31.12.1998 geltenden Rechtslage war das für die Gewinne aus der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen an einer Kapitalgesellschaft der Fall, die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 und 4 EStG a.F. als Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Einkommensteuer unterlagen, wenn der Steuerpflichtige innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung – das heißt zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb dieses Zeitraums – zu mehr als 25 % beteiligt war. In der für das Streitjahr maßgeblichen Fassung lauten die einschlägigen Vorschriften des Einkommensteuergesetzes: …3 Der Beschwerdeführer ist seit 1984 an der O-GmbH beteiligt. Er hielt seine Beteiligungen aus ertragsteuerlicher Sicht im Privatvermögen. Bis zum 29.12.1998 war er am Stammkapital der O-GmbH von zuletzt 750.000 DM mit 75.000 DM (10 v.H.) beteiligt …4 Durch Bescheid vom … setzte das Finanzamt … gegenüber dem Beschwerdeführer für die Einkommensteuer und den Solidaritätszuschlag für das Jahr 1999 fest. Dabei wurde ein Gewinn aus der Veräußerung der der Beteiligung an der O-GmbH in Höhe von … steuererhöhend berücksichtigt.

1 Die nachfolgende Begründung ist angelehnt an BVerfG, Beschluss v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BStBl. II 2011, 86. 2 Der Verfassungsbeschwerde sollten alle zum Verständnis des Verfahrensganges sowie des Rechtsschutzbegehrens erforderlichen Dokumente – insbesondere die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt – als Anlage beigefügt werden. Dabei genügt es nicht, in der Beschwerdeschrift insoweit lediglich auf die Anlagen zu verweisen. Die Beschwerdeschrift sollte eine aus sich heraus verständliche Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts aller beigefügten Anlagen enthalten. Daher sind die angegriffenen staatlichen Maßnahmen in ihrem Kontext geordnet darzustellen. 3 Darstellung der einschlägigen gesetzlichen Regelung (gegebenenfalls in ihrem Kontext). 4 Darstellung des streitgegenständlichen Sachverhalts.

Hendricks

625

Kap. 11 Rz. 11.22

Musterschriftsätze

Gegen die Steuerfestsetzung legte der Beschwerdeführer Einspruch ein und machte geltend, …1 Gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung vom … erhob der Beschwerdeführer Klage vor dem Finanzgericht …. Zur Begründung …. Gegen das ablehnende Urteil des Finanzgerichts legte der Beschwerdeführer Revision ein und machte wiederum geltend, …. Der BFH wies die Revision mit Urteil vom … als unbegründet zurück. … II. Zulässigkeit2 Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig… Sie wurde erst nach Erschöpfung des Rechtsweges erhoben (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). … Die Verfassungsbeschwerde wurde auch fristgerecht erhoben (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). … II. Begründetheit3 Soweit beim Beschwerdeführer Wertsteigerungen besteuert wurden, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind, liegt ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes vor. Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte „ins Werk gesetzt“ worden sind (vgl. BVerfGE 45, 142 (167 f.); 63, 343 (356 f.); 72, 200 (242); 97, 67 (78 f.)). Die Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten (vgl. BVerfGE 30, 272 (285); 63, 343 (357); 72, 200 (257 f.); 97, 67 (78); 105, 17 (37); 114, 258 (300 f.)). … Gemessen an diesen Grundsätzen muss eine Besteuerung von Wertsteigerungen unterbleiben, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind. Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen vor (§ 93a BVerfGG).4 … Rechtsanwalt R (eigenhändige Unterschrift)

1 Im Rahmen der Darstellung der Prozessgeschichte sollten die einzelnen Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen referierend dargestellt werden. 2 Die Beschwerdeschrift sollte in der gebotenen Kürze darlegen, dass die Zulässigkeitsanforderungen gewahrt sind. Soweit Anlass besteht, können die Ausführungen auch breiteren Raum einnehmen (beispielsweise zu der Frage, weshalb eine Anhörungsrüge im konkreten Fall nicht geboten war, vgl. Rz. 5.29 ff.). 3 Die Beschwerdeschrift sollte in der gebotenen Kürze darlegen, dass die Zulässigkeitsanforderungen gewahrt sind. Soweit Anlass besteht, können die Ausführungen auch breiteren Raum einnehmen (beispielsweise zu der Frage, weshalb eine Anhörungsrüge im konkreten Fall nicht geboten war, vgl. Rz. 5.29 ff.). 4 Die Verfassungsbeschwerde muss gem. § 93a Abs. 1 BVerfGG vom BVerfG zur Entscheidung angenommen werden (vgl. Rz. 6.39 ff.). Die Erfolgsaussichten der Beschwerde werden verbessert, wenn in der Beschwerdeschrift dargelegt wird, dass die Annahmevoraussetzungen erfüllt sind.

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Hendricks

Musterschriftsätze

Rz. 11.22 Kap. 11

Anlagen: 1. Zwei beglaubigte Abschriften der Beschwerdeschrift 2. Einkommensteuerbescheid …, vom …, 3. Einspruchsentscheidung vom …, 4. Urteil des Finanzgerichts … vom …, Aktenzeichen …, 5. Urteil des Bundesfinanzhofs vom …, Aktenzeichen …, 6. Vollmacht i. S. d. § 22 Abs. 2 BVerfGG

Hendricks

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Kap. 11 Rz. 11.23

Musterschriftsätze

11.23 M 23 Schriftliche Erklärung in einem Vorabentscheidungsverfahren1 Rechtsanwalt R, Büroanschrift An den Gerichtshof der Europäischen Union – Kanzlei – L-2925 Luxemburg In der Rechtssache C-…/… Vorabentscheidungsverfahren des Finanzgerichts …, im Verfahren mit dem dortigen Aktenzeichen …, des Herrn A, Wohnanschrift

– Kläger

Bevollmächtigter: Rechtsanwalt R., Büroanschrift gegen Finanzamt F

– Beklagter

St.-Nr.: … RBL-Nr.: … wegen Einkommensteuer 00 gibt der Kläger, vertreten durch Herrn Rechtsanwalt R, gem. Art. 23 Abs. 2 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs folgende Schriftliche Erklärungen ab: I. Sachverhalt II. Rechtsausführungen A. Zur Zulässigkeit2 B. Zu den Vorlagefragen 1. Zur ersten Frage 2. Zur ersten Frage Rechtsanwalt R (eigenhändige Unterschrift)

1 Nach Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 3. Aufl. 2015, S. 202. 2 Ausführungen zur Zulässigkeit sollten nur dann erfolgen, wenn dazu Anlass besteht.

628

Hendricks

Stichwortverzeichnis Bearbeiterin: Ruth Sterzinger Die Zahlen verweisen auf die Randziffern.

ABC der Klagebefugnis

3.436 ff. ABC der Klagemöglichkeiten 3.207 ABC der Wiedereinsetzung 3.548 ff. Abgabe der Steuererklärung 3.99 Abgabenangelegenheiten 2.20; 3.305, 3.308 Abhilfebescheid 2.218 ff., 2.230 – Teilabhilfebescheid 2.254 ff. – Vollabhilfebescheid 2.218 ff. Ablehnung eines Antrags durch die Finanzbehörde 3.1324 ff. Ablehnungsgründe wegen Befangenheit 3.858 ff. Abrechnungsbescheid 3.1172 f. Abschrift 3.703, 3.725 ff., 3.749 Absoluter Revisionsgrund 3.858 ff., 3.862 ff.; 4.67 ff. – Befangenheit 3. 858 ff., 3.862 ff.; 4.67, 4.71 – Besetzungsfehler des Gerichts 3.1296 ff.; 4.68 ff. – Entscheidungsgründe fehlen 3.1400; 4.84 ff. – Öffentlichkeit des Verfahrens 3.1349 ff., 4.81 ff. – rechtliches Gehör 3.901 ff., 3.1391 ff.; 4.72 ff. – ausgeschlossener/befangener Richter 3.1307 ff.; 4.71 – Tatbestand fehlt 3.1400 ff. – mangelhafte Vertretung 4.78 ff. Abwendung wesentlicher Nachteile 3.1207 ff. Abwesenheit wegen Urlaubs-/Geschäftsreise 3.551 ff. Akteneinsicht 3.713 ff. – Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke, Abschriften 3.725 ff. – des Beigeladenen 3.715 – Einsichtnahme 3.713 ff. – elektronisch geführte Akten 3.724 – Gerichtsakten 3.716 ff. – des Insolvenzverwalters 9.67 – Ort der Einsichtnahme 3.721 ff. – Rechtsbehelfe 3.728 ff. Aktenvorlage 3.708 ff. Allgemeine Erfahrungssätze 3.931 Allgemeine Leistungsklage 3.178 ff. – Muster 11.10 – Rechtsschutzbedürfnis 3.179 Allgemeinkundige Tatsache 3.931

Allgemeinverfügung 2.258 f. Amtsermittlungsprinzip 3.635 ff.; siehe auch Untersuchungsgrundsatz Amtshaftungsanspruch 2.326 ff. Änderung der Prozesslage 3.614 Änderung des Geschäftsverteilungsplans 4.69 f. Änderung eines Aussetzungsbeschlusses 3.1249 ff. – Änderung der Umstände 3.1250 – Nichtgeltendmachen von Umständen 3.1254 Änderungsbescheid 2.67, 2.218 ff.; 3.207 ff., 3.747 ff. – Einspruchsverfahren 2.218 ff. – Erledigung des Einspruchsverfahrens 2.218 ff. – Erledigung der Hauptsache 3.751 ff. – Fortsetzung des Verfahrens 3.747 ff. – Gegenstand des Einspruchsverfahrens 2.221 ff. – Klagerücknahme 3.755 – Übersendung einer Abschrift 3.749 – Verböserung 2.224 – Vollabhilfebescheid 2.218 ff. Änderungsklage 3.172 ff. – Muster Einkommensteuerherabsetzung 11.7 Änderung zu Ungunsten 2.16, 2.160 ff. Anfechtungsklage 3.160, 3.166 ff. – Änderungsklage 3.172 ff., Muster 11.10 – Aufhebungsklage 3.169 f.; 9.29 ff., Muster 11.13 – Klagebegehren 3.96 ff., 3.129 f. – Muster 11.13 Angefochtene Entscheidung, Bezeichnung 3.111 ff. Anhörungsrüge 5.1 ff. – Begründetheit 5.23 – Form, Frist und Inhalt 5.15 ff. – Verfahren 5.24 ff. – Verhältnis zur Verfassungsbeschwerde 5.29 ff. – Zulässigkeit 5.10 ff. Anordnung einer Außenprüfung 3.1172 Anordnungsanspruch 3.1265 ff. Anordnungsgrund 3.1269 ff. Anschlussrevision 4.92 ff. – Akzessorietät 4.101 – Begründung 4.98 ff.

629

Stichwortverzeichnis – selbständige A. 4.93 – Statthaftigkeit 4.92 – unselbständige A. 4.94 ff. Anspruch auf rechtliches Gehör siehe Rechtliches Gehör Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung siehe einstweilige Anordnung Antrag auf Fristverlängerung 2.99; 3.106 ff., 3.199 Antrag auf schlichte Änderung 2.294 ff. Antrag auf Verständigungsverfahren 8.16 ff., 8.41 f. – Entscheidung über Antrag 8.29 ff. Antragsgemäße Änderung 2.218 Arbeitsüberlastung des Bevollmächtigten 3.556, Arrest, dinglicher 3.488 f. Äußerung von Rechtsansichten 3.859 Äußerungsrecht der Beteiligten 5.6 ff. Aufhebung des Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung 3.1041 Aufhebung der Vollziehung 3.1152 ff.; siehe auch Aussetzung der Vollziehung Aufhebung und Zurückverweisung 3.1045 ff. Aufhebungsklage 3.169 f. – Anfechtungsklage 3.160, 3.166 ff. – Muster Einkommensteuerbescheid 11.5 – Muster Einspruchsentscheidung 11.6 – Muster Herabsetzung der Einkommensteuer 11.7 – Nichtigkeit 3.170 Auflage 3.211 Aufrechnungserklärung 3.1173 Aufrechterhaltung der Ordnung 3.911 ff. Aufruf der Sache 3.872 Aufschiebende Wirkung 3.1152 ff.; 10.15 Aufsichtsbeschwerde 2.314 ff. – Adressat 2.314 – Bescheidungsanspruch 2.319 Aufteilungsbescheid 9.7 ff., 9.27 ff. Aufwendungen der Finanzbehörden 10.3 Augenscheinnahme 3.939 ff. Ausdrucke 3.725 ff. Ausfertigungen 3.725 ff. Ausgeschiedener Gesellschafter – Beiladung 3.1314 ff. – Einspruchsbefugnis 2.62 – Klagebefugnis 3.1315 Auskunftsersuchen 3.212 Auskunftsverweigerungsrecht 3.963 ff. Auslagen 10.3 ff., 10.8, 10.22 ff., 10.25 Ausland – erweiterte Mitwirkungspflicht 3.650 – Sachaufklärungspflicht des Gerichts 3.649 ff. – Videokonferenz 3.981

630

– Zeuge 3.650, 3.928 f., 3.982 Auslegung des Gemeinschaftsrechts 7.8, 7.33 Auslegung revisiblen Rechts 4.49 Auslegungsregeln 4.49 ff., 4.56 ff. Ausschließung von Gerichtspersonen 3.858 ff., 3.862 ff. – absoluter Revisionsgrund 3.858 ff. Ausschluss der Öffentlichkeit 3.1351 ff. – Verfahrensmangel 3.1349 ff. Ausschlussfrist – Anfechtbarkeit 2.188 – Anhörungsrüge 5.15 ff. – Bezeichnung des Klagebegehrens 3.104 ff. – Ermessensentscheidung 2.181, 2.187 – Fristbemessung 2.182 – Fristverlängerung 2.187 – gesetzliche Ausschlussfrist 2.99 – nach § 364b AO 2.181 ff. – nach § 79b FGO 2.184 – nachträgliche Klageerweiterung 3.123 ff. – Präklusion 2.189 ff.; 3.679 – Rechtmäßigkeit 2.184 ff. – Verlängerung 2.99 – Vorlage von Urkunden 2.181 ff. – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 2.187; 3.541 ff. Außerordentliche Beschwerde 4.195 ff. Aussetzung des Verfahrens 2.199 ff.; 3.760 ff., 3.1379 – Einspruchsverfahren 2.199 ff. – Ermessen 2.199 ff.; 3.761 – Folgebescheid 3.762 – Grundlagenbescheid 3.762 – Klageverfahren 3.760 ff. – bei Musterverfahren vor dem BFH/BVerfG 3.763 ff. – unterlassene A. 3.1379 ff. Aussetzung der Verwertung 9.52 f., 9.54 f. Aussetzung der Vollziehung 2.18 f., 2.269 ff.; 3.1152 ff. – Ablehnung eines Antrags durch die Finanzbehörde 3.1184 ff. – Änderung des Beschlusses 3.1249 ff. – angefochtener Verwaltungsakt 3.1175 ff. – Antrag 3.1156, 3.1161 ff., 3.1238 – Aussetzungszinsen 3.1224 ff. – Bedeutung 3.1152 ff. – Befristung 3.1188 f. – Beschwerde 3.1245 – Beweislast 3.1183, 3.1185 – besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen 3.1180 ff. – drohende Vollstreckung 3.1180, 3.1195 ff. – Einspruch 2.19, 2.269 ff.

Stichwortverzeichnis – – – – – –

Ermessen 3.1210 ff. ernstliche Zweifel 3.1196 ff. Feststellungslast 3.1242 Folgebescheid 3.1228 ff. Grundlagenbescheid 3.1228 ff. keine zeitnahe Entscheidung der Finanzbehörde 3.1180 ff., 3.1192 ff. – Klage auf A. unzulässig 3.1244 – Muster 11.15 f. – negativer Feststellungsbescheid 3.1235 – präsente Beweismittel 3.1168, 3.1240 – Rechtsbehelf 3.1245 ff. – Rechtsfolgen 3.1218 ff. – Rechtsschutzbedürfnis 3.1178 f. – Sachverhaltsermittlung 3.1241 – schlichter Änderungsantrag 2.298 – Sicherheitsleistung 3.1212 ff. – unbillige Härte 3.1207 ff. – Verfahren 3.129 ff. – Verlustfeststellungsbescheid 3.1233 f. – vollziehbarer Verwaltungsakt 3.1171 – Widerrufsvorbehalt 3.1191 – Zinsen 2.283 ff.; 3.1157, 3.1224 ff. – Zweifel, ernstliche 3.1196 ff. – Zulassung der Beschwerde 3.1243 ff. Aussetzungszinsen 3.1224 ff. Auszüge 3.725 ff.

Befangenheit

3.858 ff., 3.862 ff., 3.1309 ff.; 4.67, 4.71 Befristung 3.1180 ff., 3.1192 ff. – angemessene Frist 3.1193 – einer Vollziehungsaussetzung 3.1188 Begründetheitsprüfung 2.150 ff. Begründungsfrist – Nichtzulassungsbeschwerde 4.131 ff. – Revision 4.27 ff. – Verlängerung 4.28 ff.; 4.131 Behörde – Bezeichnung 3.81 ff. – Handlungsfähigkeit 2.75 – Wahrung der Klagefrist 3.532 Beiladung 3.781 ff., 3.1311 ff. – besondere Beiladung auf Antrag des Finanzamts 3.794 ff. – Bundesfinanzhof 4.8 – einfache Beiladung 3.786 ff. – Heilung 3.801 – Massenverfahren 3.803 ff. – notwendige Beiladung 2.225 ff.; 3.789 ff., 3.1311 ff.; 4.8 – Rechtsfolgen 3.782 – unterlassene Beiladung 3.800 ff., 3.1311 ff. – Verfahren 3.797 ff.

– Verfahrensbeteiligter 3.782 – Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung 3.1364 – Zweck 3.781 Beklagter – Bezeichnung 3.81 ff. – fehlerhafte Bezeichnung 3.87 – Organisationsakt 3.84 – Wechsel der Zuständigkeit 3.84 – Wohnsitzwechsel des Steuerpflichtigen 3.84 Beratender Ausschuss 8.81 ff. Berichterstatter 3.625 ff.; 4.14, 4.109; 7.12 – Aufgaben 3.625 – Beweisaufnahme 3.629 – Gerichtsbescheid 3.632 – konsentierter Einzelrichter 3.633 – Vorbereitung der mündlichen Verhandlung 3.627 ff. Berichtigungsanträge – Tatbestandsberichtigung 3.111 ff., 3.1400 ff. – Urteilsberichtigung 3.1101 ff. – Urteilsergänzung 3.1117 ff. Berichtigungsbescheid 3.214 Berufsrechtliche Streitigkeiten 3.334 Beschleunigung des Verfahrens 2.181 ff.; 3.657 ff.; 3.663 ff., 3.667 ff., 3.675 ff., 3.679 ff.; siehe auch Fristsetzung Beschwer 2.11; 2.37 ff. – ABC der Klagebefugnis 3.436 ff. – Begriff 2.38 – Einspruch 2.37 ff. – Ermessensfehler 2.39 – Geltendmachung 2.50 ff. – Steuerschuld auf Null 2.41, 2.45 – Tenor 2.44 f. – Unterlassung 2.42 ff. – Verwaltungsakt 2.42 ff. – Wegfall 2.57 f., 2.151 Beschwerde 4.195 ff. – Abhilfe 4.214 ff. – Aussetzung der Vollziehung 3.1245 ff.; 4.200, 4.213 – aufschiebende Wirkung 4.212 – außerordentliche B. 4.204 – Einlegung 4.207 ff. – einstweilige Anordnung 3.1245, 4.200 – Frist 4.207 – Inhalt der Beschwerdeschrift 4.210 – Statthaftigkeit 4.195 ff. – Verfahren 4.214 ff. – Vertretungszwang 4.209 Besetzung – des Gerichts 4.69 f. – der Senate 3.604 ff.

631

Stichwortverzeichnis Besetzungsfehler 4.69 f. Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen – Aussetzung der Vollziehung 3.1180 ff. Besorgnis der Befangenheit siehe Befangenheit Bestandskraft 2.67, 2.155, 2.241, 2.245, 2.254, 2.300, 2.308, 2.313; 8.44 Besteuerungsgrundlagen 2.8 f., 2.69 – Anfechtbarkeit 3.6 ff., 3.1070 – Bindungswirkung 2.69; 3.1070 – tatsächliche Verständigung 3.741 Beteiligtenfähigkeit 2.73 ff.; 3.345 ff. – Beginn und Ende 3.352 ff. – Begriff 3.348 f. – juristische Person 3.357 ff. – Sachentscheidungsvoraussetzung 3.348 – Steuerrechtsfähigkeit 3.349 f. Beteiligtenvernehmung 3.951 Beteiligungsmangel 3.1311 ff. Betriebsprüfung 3.215 ff. Bevollmächtigter siehe auch Prozessbevollmächtigter – Erlöschen der Vollmacht 2.81 – Vollmacht 2.77 ff.; 3.385 ff., 3.381 ff. – Zustellung 2.85 Bevollmächtigter für das Vorverfahren 2.77 ff.; 10.24 Beweisantrag 3.923 ff. – Ablehnung 3.924 – Ermessen 3.923 – präsenter Zeuge 3.650 – Rüge 3.926 – Übergehen eines Beweisantrags 3.926, 3.1324 ff. – unsubstantiierter Beweisantrag 3.924 – Unterlassen gebotener Beweiserhebung 3.1327 ff. – Zurückweisung 3.925 Beweisaufnahme 3.917 ff. – Augenschein 3.939 ff. – beauftragter Richter 3.918 – Beteiligtenvernehmung 3.951 – Beweisantrag 3.923 ff. – beweisbedürftige Tatsachen 3.923 ff. – Beweisbeschluss 3.920 ff. – Beweismittel 3.937 ff., 3.1168 – Durchführung 3.954 ff. – Fehler bei B. 3.1328 f. – gerichtseigene Prüfungsbeamte 3.950 – Sachverständige 3.943 ff. – Urkunden 3.947 ff. – Zeugen 3.942 Beweisbedürftige Tatsachen 3.923 ff. Beweisbeschluss 3.920 ff.

632

Beweisergebnisse anderer Gerichtsverfahren 3.646 Beweiserhebung siehe Beweisaufnahme Beweisverfahren, selbständiges 3.1085 ff. Beweislast 3.696 ff. Beweiswürdigung 3.1330 ff.; 4.58 Bezeichnung des Beklagten 3.81 ff. Bezeichnung des Klägers 3.75 f. Bilanzansatz 3.441 Bindungswirkung 2.67 ff.; 3.6, 3.10, 3.1228 Briefbeförderung – Verzögerung 3.577 Bundesfinanzhof 1.12 ff., 1.15 ff.; 4.1 ff. – Beschwerdeverfahren 4.195 ff. – Bindungswirkung einer Rückverweisung 3.1395 ff. – Nichtzulassungsbeschwerde 4.124 ff. – Revisionsverfahren 4.9 ff. – Verfahren vor dem – 1.12 ff., 1.15 ff.; 4.1 ff. – vertretungsberechtigte Person 4.4 – Vertretungszwang 4.4 ff. Bundesrecht 4.2, 4.48 ff. Bundesverfassungsgericht 1.18 ff., 6.1 ff. – Bedeutung des B. 6.1 ff. – einstweiliger Rechtsschutz 6.65 ff. – konkrete Normenkontrolle 6.54 ff. – Organisation des B. 6.1 ff. – Rechtswegerschöpfung 6.11 ff. – Verfassungsbeschwerde 6.6 ff. – Zulässigkeitsvoraussetzungen 6.11 ff. Büroorganisation 3.557 ff. – Büropersonal 3.558 – Fristenkontrollbuch 3.558 f. – Postausgang 3.562 – Wiedervorlagefrist 3.563 Büropersonal 3.557 ff. Büroversehen 3.557 ff., 3.590

Checkliste Mängel im Verfahren

3.1295 ff. Computerabsturz 3.566 Computerfax 2.14, 2.92; 3.47; 4.20, 4.126

Datenzugriff

3.230 Denkgesetze 4.51, 4.56, 4.58 Dienstaufsichtsbeschwerde 2.314 ff. Divergenzrevision 4.142 ff. Doppelbesteuerung, internationale 1.23 ff., 8.1 ff. Doppelbesteuerungsabkommen 2.247 – Verständigungs- oder Schiedsverfahren 2.247 Dreitagevermutung 2.117; 3.522 Dritte 3.18, 3.435 Drohende Vollstreckung 3.1195

Stichwortverzeichnis

E-Mail

2.14, 2.92; 3.48 ff., 3.705 ff. Ehegatte 2.51; 3.437 – Aufteilungsbescheid 9.7 – Einspruch 2.51 – Insolvenzverfahren 9.79 – Klagebefugnis 3.437, 3.470 – Prozesskostenhilfe 10.53 – Zeugnisverweigerungsrecht 3.964 Ehrenamtlicher Richter 3.851, 3.856 Eidesstattliche Versicherung 3.592 Eidliche Vernehmung 3.1094 ff. Einfache Beiladung 3.786 ff. Eingangsstempel 3.529 ff. – Eingangstag 3.532 Einheitlicher Feststellungsbescheid siehe Feststellungsbescheid Einheitswertbescheid 3.231 ff. Einkommensteuerbescheid 3.235 ff., 3.438 ff.; 9.7 – Steuerfestsetzung auf Null 2.45; 3.444 ff. Einschränkung – der Beschwerdemöglichkeiten 4.185 – der Einspruchsmöglichkeiten 2.67 ff. – des Lebensstandards 3.1207 – des Revisionsantrags 4.40 – der Vollmacht 2.78 – der Vollstreckung 9.7, 9.11 f., 9.13 ff. Einspruch 2.4 ff. – Änderungsbescheid 2.67, 2.218 ff. – Änderungsbescheid während des Verfahrens 2.218 ff. – Ausschluss des Einspruchs in besonderen Fällen 2.28 ff. – Ausschlussfrist 2.181 ff. – Aussetzung des Verfahrens 2.199 ff. – Befugnis siehe unter Einspruchsbefugnis – Begründetheit 2.150 ff. – Beschwer 2.11, 2.37 ff. – Beteiligtenfähigkeit 2.73 ff. – Bindungswirkung anderer Verwaltungsakte 2.67 ff. – Ehegatte 2.51 – Einspruchsentscheidung 2.250 ff.; siehe auch Einspruchsentscheidung – einstweiliger Rechtsschutz 2.18 f. – Erörterung des Sach- und Rechtsstandes 2.171 ff. – Folgebescheid 2.69 ff. – Form 2.89 f. – Frist 2.12 ff., 2.98 ff. – Grundlagenbescheid 2.69 – Handlungsfähigkeit 2.75 f. – Inhalt 2.94 ff. – Muster 11.1

– – – – – – – – – – – – – –

Muster Aussetzung der Vollziehung 11.3 Rechtsschutzbedürfnis 2.140 ff. Rücknahme 2.233 ff. Ruhen des Verfahrens 2.201 ff. Statthaftigkeit 2.20 ff., 2.28 ff. Stillstand des Verfahrens 2.196 ff. Untätigkeitseinspruch 2.24 ff. Verböserung 2.16, 2.160 ff. verspäteter Einspruch 2.127 Vertretung 2.77 ff. Verzicht 2.129 ff. Verzinsung 2.283 ff. vorläufiger Rechtsschutz 2.269 ff. vorsorgliche Einlegung zur Fristwahrung 2.14, Muster 11.1 – Muster 11.1, 11.2, 11.3 – Vorüberlegungen 2.4 ff. – Wiedereinsetzung 2.121 ff.; Muster 11.2 – Zulässigkeit 2.20 ff., 2.144 – Zuständigkeit 2.33 ff. – Zuständigkeitswechsel 2.34 ff. – Zweckmäßigkeit 2.16 Einspruchsbefugnis 2.59 ff. – Rechtsnachfolge 2.63 ff. – mehrere Personen 2.60 Einspruchsentscheidung 2.250 ff.; 3.447 ff. – Abschluss des Verfahrens 2.250 ff. – Allgemeinverfügung 2.258 f. – Teil – E. 2.254 ff. Einspruchsfrist 2.12 ff., 2.98 ff. – Beginn 2.100 – Bekanntgabe 2.98, 2.100, 2.102 – Dauer 2.98 – Fristenberechnung 2.112 ff. – Rechtsbehelfsbelehrung 2.109 ff. – Steueranmeldung 2.105 – Untätigkeitseinspruch 2.108 – Versäumung 2.127 f. – Vorsorgliche Einspruchseinlegung zur Fristwahrung Muster 11.1 – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 2.121 ff. Einspruchsverfahren 1.3 f. – Änderungsbescheid 2.218 ff. – Aussetzung 2.199 ff. – Beteiligter 2.73 f. – Hinzuziehung 2.225 ff. – Kosten 2.260 ff. – Rücknahme des Einspruchs 2.233 ff. – Ruhen 2.201 ff. – Stillstand 2.196 ff. – Unterbrechung 2.215 ff. – Verwaltungsakt 2.20 ff. Einspruchsverzicht 2.129 ff.

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Stichwortverzeichnis Einstellung von Vollstreckungsnahmen 2.18; 2.269; 3.1152 ff. Einstweilige Anordnung 3.1255 ff.; 6.65 ff.; 9.24; 10.9 – Anordnungsanspruch 3.1265 ff. – Anordnungsgrund 3.1269 ff. – Antrag 3.1260 f. – Muster 11.16 – Inhalt 3.1277 ff. – Insolvenzantrag des Finanzamts 9.56 ff.; Muster 11.17 – Rechtsbehelf 3.1282 ff. – Sonderfälle 3.1285 – Subsidiarität 3.1256 – Verfahren 3.1274 ff. Einstweilige Aussetzung der Vollziehung 2.18 f., 2.269 ff.; 3.1152 ff. Einstweilige Einstellung der Vollstreckung 2.18 f., 2.269 ff.; 3.1152 ff.; 9.10 ff., 9.24, 9.37 ff.; Muster 11.16 Einstweiliger Rechtsschutz 6.65 ff. Einstweilige Regelung 3.1152 ff. Einzelrechtsnachfolge 2.65 Einzelrichter 3.611 ff. – konsentierter Richter 3.611, 3.617, 3.623 – Rückübertragung 3.614 f. – Übertragung 3.612 f. – unzulässige Entscheidung durch E. 3.1304 ff. Elektronisches Dokument 3.48 ff., 3.705 Elektronischer Rechtsverkehr 3.49 ff., 3.705 ff. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung 3.1334 ff. Entscheidungserhebliche Tatsache 3.1400 ff.; 4.45 Entscheidungsgründe 3.1052 ff., 3.1400 ff. – Fehlen 3.1400 ff.; 4.84 ff. – Frist zum Absetzen 3.1018 f., 3.1020 ff., 3.1404 Entscheidungsprogramm, gesetzliches 3.1366 ff. Erben 3.449 Erbengemeinschaft – Klagebefugnis 3.449 – Prozesskostenhilfe 10.56 Erfahrungssätze, allgemeine 3.931; 4.56, 4.58 Erledigung der Hauptsache 3.751 ff.; 10.9, 10.25 Erledigung des Rechtsstreits 3.741, 3.751 ff.; 4.121 ff.; 10.9, 10.25 Erledigungserklärung 3.741, 3.751 ff.; 4.121 ff., 4.191 ff. – übereinstimmende 3.741; 4.121, 4.191; 7.25 – einseitige 3.752; 4.122 f., 4.193 Ermessen 3.413 ff., 3.450, 3.761, 3.1075, 3.1210 ff.; 4.220; 9.20, 9.42

634

– – – –

billiges Ermessen 3.413 ff. Erörterung durch Finanzamt 2.171 ff. Verfahren nach billigem Ermessen 3.413 ff. Zurückweisung verspäteten Vorbringens 3.687 f. Ermessensentscheidung 3.413 ff., 3.450; 4.220 – Aussetzung der Verwertung 9.52 – Aussetzung des Verfahrens 2.199 ff., 3.761 – Einfache Beiladung 3.781 ff. – Einstweilige Einstellung der Vollstreckung 3.1210 f.; 9.52 – Insolvenzantrag 9.56 – Videokonferenz 3.975 Ernstliche Zweifel 3.1196 ff. – Aussetzung der Vollziehung 2.18 f., 2.269 ff.; 3.1196 ff. Eröffnung des Insolvenzverfahrens 9.56 ff. Erörterung des Sach- und Rechtsstandes 2.171 ff.; 3.734 ff. – Ablehnung des Antrags 2.176 – Antrag 2.173 – Ermessen 2.175 – telefonische Erörterung 2.180 – vor dem Berichterstatter siehe Erörterungstermin Erörterungstermin 3.734 ff.; 10.25 – Befriedungsfunktion 3.735 – beiderseitige Erledigungserklärungen 3.741 ff. – Öffentlichkeit eingeschränkt 3.736 – Ort 3.734 ff. – Protokoll 3.746 – tatsächliche Verständigung 3.741 – Videokonferenz 3.736 – Vorschlag zur Erledigung 3.739 Erstattung – von außergerichtlichen Kosten 10.3, 10.22 ff., 10.30 f. Erteilung von Abschriften 3.725 f. Erweiterte Mitwirkungspflicht – Auslandsbeziehungen 3.650 Europäischer Gerichtshof 1.21; 7.1 ff. – Amtssprache 7.16 – Anwaltszwang 7.15 – Bedeutung des EuGH 7.1 ff. – Berichterstatter 7.12 – Besetzung 7.10 ff. – Bindungswirkung 7.33 – Dispositionsmaxime 7.25 – beiderseitige Erledigungserklärungen 7.25 – Frist zur Stellungnahme 7.32 – Generalanwalt 7.13 ff. – Klagerecht 7.9 – Klagerücknahme 7.25

Stichwortverzeichnis – Nichtigkeitsklage 7.5 – Prozessvertreter 7.14 – Rechtsschutzmöglichkeiten bei Nichtvorlage 7.27 ff. – Spruchkörper 7.10 ff. – Untätigkeitsklage 7.6 – Verfahrensablauf 7.32 ff. – Verfahrenssprache 7.16 ff. – Verhältnis von Ausgangs- und Vorlageverfahren 7.24 – Vertragsverletzungsverfahren 7.4 – Vertretungszwang 7.14 f. – Vorabentscheidungsverfahren 7.7, 7.20 ff. – Vorlageberechtigung und -verpflichtung 7.22 ff. Existenzbedrohung 3.1207 ff.

Fälligkeit 9.5; 10.11 Fehlen der Entscheidungsgründe 3.1400 ff.; 4.84 ff. – Begründungserleichterung 4.87 – Verkündung 3.1018 f., 3.1020 ff., 3.1404; 4.88 Fernschreiben 2.92; 4.20, 4.126 Festlegung des Beginns/Orts einer Außenprüfung 3.1172 Festsetzung des Streitwerts 4.201 Festsetzung einer zu niedrigen Steuer 3.444 ff. Feststellungsbescheid 2.9, 2.53, 2.65; 3.239 ff., 3.418 ff., 3.453 – Einspruchsbefugnis 2.53; 2.65 – Gesellschaft 3.419 ff. – Klagebefugnis 3.418 ff. – Klagebevollmächtigter 3.427 ff. – Klageerweiterung 3.123 ff. – Liquidation 3.423 – negativer F. 3.1235 – selbständig anfechtbare Feststellungen 2.155 Feststellungsbescheid mit dinglicher Wirkung 2.65 – Einspruchsbefugnis 2.65 Feststellungsinteresse 3.188 ff. – Sachentscheidungsvoraussetzung 3.188 Feststellungsklage 3.180 ff. – Antrag 3.120, 3.136 ff. – Feststellungsinteresse 3.188 ff. – Fortsetzungsfeststellungsklage 3.193 ff. – keine Frist 3.182 – Muster 11.11: Nichtigkeitsfeststellung – Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes 3.180, 3.185 ff. – Rechtsverhältnis 3.180, 3.183 f. – Subsidiarität 3.191 f. – Vorläufiger Rechtsschutz 3.1152 ff. Feststellungslast 3.696 ff.

– Beweis des ersten Anscheins 3.699 Finanzbehörde 2.1 ff Finanzgericht 1.5 ff.; 3.304 ff. – Abgrenzung Strafgerichte 3.312 ff. – Abgrenzung Zivilgericht/Arbeitsgericht 3.324 ff. – Bindungswirkung einer rückverweisenden BFH-Entscheidung 3.1395 ff. – weitere Zuständigkeit 3.332 ff. Folgebescheid 2.9, 2.53; 3.247 ff. – Aussetzung der Vollziehung 3.1228 ff. Form der Klage 3.30 ff. – Computerfax 3.47 – E-Mail 3.48 ff. – Schriftform 3.30 ff., 3.42 ff. (Sonderfälle) – Telefax 3.43 ff., 3.65 f. Fortbildung des Rechts 4.139 ff. Fortsetzung des Verfahrens 2.209 ff.; 3.772, 3.749 Fortsetzungsfeststellungsklage 3.193 ff. – berechtigtes Interesse 3.197 – Erledigung vor Klageerhebung 3.193, 3.201 – Fristverlängerung 3.199 – Muster 11.12 – Rehabilitierungsinteresse 3.198 – Schadensersatzanspruch 3.198 – Verwertungsverbot 3.200 – Wiederholungsgefahr 3.198 f. Fragerecht 3.908 ff. – Beweisaufnahme 3.959 – mündliche Verhandlung 3.908 ff. – Zeuge 3.959 – Zeugnisverweigerungsrecht 3.963 ff. – Zurückweisung von Fragen 3.909 Fristen – Anhörungsrüge 5.15 ff. – Berechnung 3.568 – Beschwerde 4.207 – Einspruchsfrist 2.12 ff., 2.98 ff. – Erinnerung 10.14; 10.27 – Klagefrist 3.514 ff. – Ladungsfristen 3.781 ff. – Nichtzulassungsbeschwerde 4.127, 4.131 ff. – Revision 4.17 f., 4.27 ff. – Schriftsatznachlass 3.895 – Stellungnahme vor dem EuGH 7.32 – bei verkündetem Urteil 3.1018 f. – bei zugestelltem Urteil 3.1020 ff. – Urteilsergänzung 3.1117 ff. – Verfassungsbeschwerde 6.28 ff. – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 3.541 ff.; 4.17, 4.26 Fristenkontrollbuch 3.558 ff. Fristenkontrolle 3.557 ff.

635

Stichwortverzeichnis Fristsetzung – Bezeichnung von Beweismitteln 3.676 ff. – Bezeichnung des Klagebegehrens 3.104 ff. – Einspruchsverfahren 2.181 ff.; 3.690 ff. – Fristverlängerung 2.187 f.; 3.106 ff. – Präklusion 2.189 ff.; 3.663 ff., 3.667 ff., 3.675 ff. 3.679 ff. – zum allgemeinen Tatsachenvortrag 3.668 ff. – zur Bezeichnung des Klagebegehrens 3.104 ff.

Gebühren Verständigungsverfahren 8.47 Gebührentatbestände 10.9, 10.25 Gegenstand des Klagebegehrens 3.96 ff. Gegenvorstellung 2.309 ff. Gehör, rechtliches 2.167 f.; 3.901 ff.; 3.1385 ff.; 4.72 ff.; 5.4 ff.; 6.1 Gerichtsakten – Akteneinsicht 3.716 ff. – Fotokopien 3.725 ff. Gerichtsbescheid 3.622 ff., 3.1074 ff. – durch den Bundesfinanzhof 4.119 – Ermessensentscheidung 3.1075 – mündliche Verhandlung 3.622, 3.1074 – Rechtsschutzmöglichkeit 3.1077 – trotz Verfahrensunterbrechung 3.1375 ff. – Zulassung der Revision 3.1077, 3.1084 Gerichtseigener Prüfungsbeamter 3.950 Gerichtskosten 10.1 ff. – Finanzgericht 10.8 ff. – Prozesskostenhilfe 10.41 ff. – Vorfälligkeitsgebühr 10.19 ff. Gerichtskundige Tatsachen 3.931; 4.56 Gerichtsverfahrensrecht 3.1292 Geringer Ermittlungsaufwand 3.686 Gesamtrechtsnachfolge 2.64, 2.138; 3.449 Geschäftsfähigkeit 3.349 f. Geschäftsmäßige Hilfeleistung in Steuersachen 2.83; 3.379; 4.4 Geschäftsverteilung 3.847 ff. Geschäftsverteilungsplan 3.847 ff.; 4.69 f. Gesetzlicher Richter 3.847 ff., 3.1296 ff.; 4.68 ff. – Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit 3.858 ff., 3.862 ff.; 4.67, 4.71 – Ausschluss von der Ausübung des Richteramts 3.855 ff. – fehlerhafte Besetzung des Spruchkörpers 3.1301 ff. – Geschäftsverteilungsplan 3.847 ff. – Mitwirkung eines ausgeschlossenen/abgelehnten Richters 3.1307 ff. – unzulässige Entscheidung durch Einzelrichter 3.1304 ff. – unzuständiges Gericht 3.1297 – unzuständiger Spruchkörper 3.1298 ff. 636

Gewerbesteuer(mess)bescheid 3.251 ff., 3.452 Gewinnfeststellungsbescheid siehe Feststellungsbescheid Gewohnheitsrecht 4.49 Glaubhaftmachung – Fristen 3.585 – Mittel 3.1168 – Vorläufiger Rechtsschutz 3.1168 – Wiedereinsetzung 2.123; 3.585, 3.589 ff., 3.592 Greifbare Gesetzwidrigkeit 3.615; 4.172 ff. – Übertragung auf Einzelrichter 3.615 Grunderwerbsteuer 3.253 Grundlagenbescheid 3.254, 3.1228 – Aussetzung der Vollziehung 3.1228 – Bindungswirkung 3.6 f., 3.19, 3.1228 – Einspruchsbefugnis 2.69 Grundsätzliche Bedeutung 4.134, 4.136 ff., 4.160 ff. – Einzelrichter 3.615 – Verfassungsbeschwerde 6.40 ff. Grundsteuermessbescheid 3.255 Güteverfahren 3.1096 ff.

Haftungsbescheid 3.256, 3.454 – Klagebegehren 3.102 – Klagebefugnis 3.454 f. Handlungsfähigkeit 2.75 f. Haupt- und Hilfsantrag 3.127 Hauptsacheerledigung 3.751 ff. – Erklärung 3.751 ff.; 4.121 ff. – Kostenentscheidung 4.121; 10.9, 10.25 Herabsetzung der Steuer 3.1042 ff. Hilfeleistung in Steuersachen 2.83; 3.463; 4.4 Hilfsantrag siehe Haupt- und Hilfsantrag Hilfsperson des Klägers 3.569 f. Hinweis – des Finanzamts 2.163 f. – rechtliches Gehör 3.901 ff. – Verböserung 2.16, 2.160 ff. Hinzuziehung 2.225 ff. – einfache Hinzuziehung 2.225 – Heilung unterlassener Hinzuziehung 2.232; 3.801 – Massenverfahren 2.225; 3.803 ff. – notwendige Hinzuziehung 2.225 – Rechte des Hinzugezogenen 2.228 ff. – Verwaltungsakt 2.228 Insolvenzverfahren – – – –

9.56 ff. Aktivprozess 9.74 Anmeldung von Forderungen 9.75 ff. Antrag auf Eröffnung 9.56 ff. Aufnahme des Verfahrens 9.71 ff.

Stichwortverzeichnis – – – – – – –

Ehegatten 9.79 Eröffnung 9.61 ff. Insolvenz-Feststellungsverfahren 9.76 Klage gegen Insolvenantrag 3.257 Löschung in den Registern 9.79 Stellung des Insolvenzverwalters 9.68 ff. Unterbrechung des Verfahrens 2.215; 3.774; 9.61 ff. – vorläufiger Rechtsschutz 9.57 Interessenverbände 3.456 f. Internationale Verfahren 8.1 ff. – Abwägung zwischen den verfahrensrechtlichen Optionen 8.106 ff. – Doppelbesteuerung 1.23 ff.; 8.1 ff. – Schiedsverfahren 8.8 ff., 8.51 ff., 8.59 ff. – Verständigungsvereinbarung 8.44 ff. – Verständigungsverfahren 8.4 ff., 8.11 ff., 8.33 ff.; siehe Verständigungsverfahren – Notwendigkeit 8.4 ff. Irrtum 3.571 ff.

Juristische Person – – – –

Beteiligtenfähigkeit 3.357 ff. Prozessbevollmächtigte 3.381 Prozesskostenhilfe 10.56 Unterschrift 3.31

Klage – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

ABC der Klagebefugnis 3.436 ff. ABC der Klagemöglichkeiten 3.207 ff. Amtsermittlungsprinzip 3.635 ff. auf Aussetzung der Vollziehung unzulässig 3.1244 Bezeichnung des Beklagten 3.81 ff. Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung 3.111 ff. Bezeichnung des Klägers 3.75 ff. vor dem Bundesfinanzhof 1.12 ff., 4.1 ff. Durchführung des Verfahrens 3.604 ff. finanzgerichtliche – 1.5 ff. Form 3.25 ff., 3.30 ff. Fortsetzungsfeststellungsklage 3.193 ff. Inhalt 3.27, 3.93 ff. gegen Insolvenantrag 3.257 Klageantrag 3.118 ff. Klagearten siehe unter Klagearten Klageerhebung siehe Klageerhebung Klagefrist siehe Klagefrist Parteivernehmung 3.952 f. Sprungklage 3.476 ff. unmissverständlicher Wille zur Klageerhebung 3.68 Untätigkeitsklage 3.490 ff. vorsorgliche Klageerhebung 3.69

– Ziel der Klage 3.5 ff. – Zulässigkeitsvoraussetzungen 3.304 ff. – Zweckmäßigkeit 3.12 ff. Klageantrag 3.118 ff. – Anfechtungsklage 3.129 f. – Bindung des Gerichts 3.1366 ff. – Erweiterung des Antrags 3.123 ff.; 4.39 f. – Feststellungsklage 3.120, 3.136 ff. – Formulierung 3.119 f. – Klagebegehren 3.98 – Klageverbindung 3.127 f. – Leistungsklage 3.120, 3.135 – Muster 11.4 – Streitwert 10.32 ff. – Untätigkeitsklage 3.499 ff. – Verpflichtungsklage 3.120, 3.131 ff. Klagearten 3.158 ff. – Allgemeine Leistungsklage 3.162, 3.178 f.; Muster 11.10 – Änderungsklage 3.172 ff., Muster 11.7 – Anfechtungsklage 3.160, 3.166 ff.; Muster 11.13 – Aufhebungsklage 3.169 f.; Muster 11.5, 11.6 – Aussetzung der Vollziehung 3.1152 ff. – Europäischer Gerichtshof 7.3 ff. – Feststellungsklage 3.163, 3.180 ff.; Muster 11.11 – Fortsetzungsfeststellungsklage 3.193 ff.; Muster 11.12 – Sprungklage bei Anfechtungsklage Muster 11.13 – Verpflichtungsklage 3.161, 3.176 f.; Muster 11.8, 11.9 – Zusammenfassung mehrerer Klagen 3.164 Klage auf Aussetzung der Vollziehung 3.1244 Klagebefugnis 3.407 ff. – ABC der Klagebefugnis 3.436 ff. – Allgemeines 3.407 ff. – Drittanfechtungsrecht 3.435 – Ehegatten 3.437 ff. – Einkommensteuerbescheid 3.438 ff. – Ermessensentscheidungen 3.413 ff. – Feststellungsbescheid 3.418 ff. – Rechtsverletzung 3.407 f., 3.409 ff., 3.416 ff. – sachliche Grenzen 3.471 Klagebegehren 3.396 ff., 3.499 – Ausschlussfrist 3.104 ff. – Bindung des Gerichts 3.96 ff., 3.1031 ff. Klagebegründung 3.142 ff. – Angabe von Beweismitteln 3.144 f. – Rechtsausführungen 3.147 Klageerhebung – Adressat 3.57 ff. – allgemeine Vorüberlegungen 3.1 ff.

637

Stichwortverzeichnis – Bedingung 3.69 ff. – Erhebung per Computerfax 3.47 – Erhebung per E-Mail 3.48 ff., 3.66 – Erhebung zur Niederschrift 3.25, 3.63 – Klageziel 3.4, 3.5 ff. – Kostenrisiko 3.19 – Telebrief 3.42 – Telefax 3.43 ff., 3.65 f. – Telegramm 3.42 – Verfahrenshandlung 3.68 ff. – Zweckmäßigkeit 3.12 ff. Klageerweiterung 3.123; 4.39 f. Klagefrist 3.514 ff. – Anbringung bei der Behörde 3.532 – Bekanntgabe 3.516 ff. – Berechnung 3.534 ff. – Dauer 3.515 – Nachtbriefkasten 3.529 – Rechtsbehelfsbelehrung 3.525 ff. – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 3.70, 3.541 ff. Klagerücknahme 3.755 ff. – Kosten 3.756 Klageverbindung 3.127 f. Klageziel 3.4, 3.5 ff. Kompensation 3.17 Konkrete Normenkontrolle 6.54 ff. – Entscheidung 6.61 ff. – Verfahren 6.54 ff. Konkurrentenklage 3.259 f. Konsentierter Richter 3.633 Kontenabruf 3.261 Kontenpfändung 3.1172, 9.45 Kopie 3.703 ff. Korrektur – des Urteilstenors 3.1398 ff. – des Verfahrens (Nichtigkeits- und Restitutionsklage) 3.1137 ff., 3.1140 ff. – des Verwaltungsakts 2.151 Kosten – außergerichtliche Kosten 2.260; 10.3, 10.22 ff., 10.25, 10.30 f. – Bundesfinanzhofsverfahren 10.28 ff. – Einspruchsverfahren 2.260 ff. – Erinnerung 10.13 ff., 10.27 – Erledigung der Hauptsache 4.121 f.; 10.9, 10.25 – Europäischer Gerichtshof 7.32 – Finanzgerichtsverfahren 10.8 ff. – Gerichtskosten 10.3 ff. – Kindergeldfestsetzungen 2.263 – Kosten des Vorverfahrens 2.260 ff.; 10.3, 10.22 ff., 10.25 – Kostenfestsetzung 10.1, 10.10 ff.

638

– Kostengrundentscheidung 10.1 ff. – Kostentragung 2.260; 10.1 ff. – Kostenverzeichnis 10.9 – Prozesskostenhilfe 10.41 ff. – Schiedsverfahren 8.102 – Streitwert 10.32 ff. – unrichtige Sachbehandlung 10.5 – Verständigungsverfahren 8.47, 8.101 Kostenrisiko 3.19 Kostenstreitwert 10.32 ff. Kostentatbestand 10.8 ff. – Antrag auf Aussetzung der Vollziehung 10.9 – Antrag auf einstweilige Anordnung 10.9 – Erledigungsgebühr 10.9, 10.25 – Finanzgericht 10.8 ff. – Gerichtskostenvorschuss 10.19 – Klageerhebung 10.9 – Klagerücknahme 10.8 – Terminsgebühr 10.25 – Verfahrensgebühr 10.9, 10.25 – Verzögerungsgebühr 10.9 – vierfache Gebühr 10.9 – Vorfälligkeitsgebühr 10.19 Kostentragung 10.1 Kostenverzeichnis 10.18 Krankheit 3.574 ff. Kreditaufnahme 10.54

Ladung 3.734 ff., 3.781 ff., 3.812 ff. – Erörterungstermin 2.171 ff.; 3.734, 3.738 – Ladungsfrist 3.813 f. – Mandatsniederlegung 3.402 – ordnungsgemäße L. 3.734 ff. – Terminsänderung 3.820 ff. Ladungsfrist 3.813 f. – Abkürzung 3.818 – Nichteinhaltung 3.816 Leistungsklage, allgemeine 3.178 ff. – Muster 11.10 Lohnsteuernachforderungsbescheid 3.1172 Mandatsniederlegung

3.402 Mängel im finanzgerichtlichen Verfahren 3.1290 ff. – Beteiligungsmängel 3.1311 ff. – bei der Durchführung der mündlichen Verhandlung 3.1333 ff. – Gerichtsverfahrensrecht 3.1292 – Rüge 3.1293 – Sachaufklärungsmängel 3.1321 ff. – bei der Überzeugungsbildung 3.1366 ff. – Verletzung des Anspruchs auf gesetzlichen Richter 3.1296 ff. Mangelhafte Vertretung 4.78 ff.

Stichwortverzeichnis Massenverfahren 2.48, 2.141, 2.166; 3.803 ff. Mitteilungen, rufgefährdende 3.262 Mitwirkungspflichten 3.649 ff. – Behörde 3.651 ff. – Steuerpflichtiger 3.649 ff. Moderne Kommunikationsmittel 2.92 Multilaterale Verfahren 8.103 ff. Mündliche Verhandlung 3.805 ff., 3.871 ff. – Ablauf 3.871 ff. – Anträge 3.885 – Bedeutung 3.805 ff. – Beratung 3.890 f. – Beweisaufnahme 3.917 ff. – Ende 3.990 ff. – Entscheidung 3.890, 3.990 ff. – Eröffnung 3.871 ff. – Erörterung der Streitsache 3.884 – Europäischer Gerichtshof 7.32 – Fragerecht 3.908 ff. – gesetzlicher Richter 3.847 ff. – Ladung 3.812 ff., 3.1340 ff. – Öffentlichkeit 3.837 ff., 3.1349 ff.; 4.81 ff. – Ordnung der Sitzung 3.911 ff. – Plädoyer 3.881 ff. – rechtliches Gehör 3.901 ff. – Sachvortrag des Berichterstatters 3.877 ff. – Schließung der mündlichen Verhandlung 3.888 ff. – Sitzungspolizei 3.911 ff. – Terminbestimmung 3.808 ff. – Terminsänderung 3.820 ff. – Terminsgebühr 10.25 – Urteilsverkündung 3.995 ff. – Verhandlungsprotokoll 3.983 ff. – Verletzung der Pflicht zur Durchführung 3.1334 ff. – versagte Verlegung des Termins 3.1344 ff. – Verzicht 3.997 ff.; 4.115 – Videokonferenz 3.974 ff. – Wiedereröffnung 3.892 ff. Musterverfahren – Aussetzung des Klageverfahrens 3.763 f. – Erledigung durch Allgemeinverfügung 2.207 f. – Ruhen 2.203 – Teilentscheidung 2.141, 2.206 – vorläufiger Bescheid 2.48, 2.143

Nachtbriefkasten

3.529 f. Nachweis der Bevollmächtigung 3.391 ff. Nebenbestimmung – Beschwer 2.47 – Vorbehalt der Nachprüfung 3.282 – Vorläufigkeit 3.285

– Widerrufsvorbehalt 3.291 Nebenintervention 3.435 Negativer Feststellungsbescheid – Aussetzung der Vollziehung 3.1235 f., 3.1286 Neunzigzwei-Dreiundneunzigeins-Falle 6.20 f. Nichtabhilfe der Beschwerde 4.215 ff. Nichtförmliche Rechtsbehelfe 2.292 ff. – Antrag auf schlichte Änderung 2.294 ff. – Aufsichtsbeschwerde 2.314 ff. – Gegenvorstellung 2.309 ff. – Petition 2.303 ff. Nichtigkeit 3.160, 3.170 Nichtigkeitsklage 3.1137 ff.; 7.5 Nichtvorlage zum Europäischen Gerichtshof 7.27 ff. Nichtzulassungsbeschwerde 1.15 ff.; 4.124 ff.; 7.28 – Ausschlussfrist 4.127 – Begründung 4.130 ff. – Begründungsfrist 4.131 ff. – Entscheidung 4.186 ff. – Erledigungserklärungen 4.191 ff. – formelle Voraussetzungen 4.126 ff. – Fortbildung des Rechts 4.134, 4.139 ff., 4.165 – Frist 4.127 – grundsätzliche Bedeutung 4.134, 4.136 ff., 4.160 ff. – greifbare Gesetzeswidrigkeit 4.172 ff. – Muster Einlegung 11.20 – Muster Begründung 11.21 – Rücknahme 4.190 – schriftliche Einlegung 4.126 – Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung 4.134, 4.142 ff., 4.166 ff. – Verfahren 4.182 ff., 4.190 ff. – Verfahrensmangel 4.134, 4.147 ff., 4.176 ff. – Vertretungszwang 4.128 – Zulassungsgründe, Darlegung 4.155 ff. – Zurückverweisung 4.188 Niederlegung des Mandats 3.402 Niederschrift – Anhörungsrüge 5.15 ff. – Antrag auf einstweilige Anordnung 3.1260 – Antrag auf Prozesskostenhilfe 10.57 – Beweisaufnahme 3.983, 3.1352 ff. – Beweiskraft 3.985, 3.1352 – Einlegung der Beschwerde 4.207 – Einspruch 2.89 – Einspruchsverzicht 2.133 – Erörterungstermin 3.746 – Klageerhebung 3.63 – mündliche Verhandlung 3.983 – Protokollberichtigung 3.988 – Rücknahme des Einspruchs 2.236

639

Stichwortverzeichnis Notwendige Beiladung 3.789 ff., 3.1311 ff.; siehe auch Beiladung

Objektive Beweislast

3.696 ff., 3.1183, 3.1185 Offenbare Unrichtigkeit 3.1101 ff. Öffentlichkeit 3.837 ff.; 4.81 ff. – absoluter Revisionsgrund 3.846; 4.81 ff. – Ausschluss 3.838 ff., 3.1351 – Saalöffentlichkeit 3.838, 3.1350 – Verfahrensmangel 3.846, 3.1349 ff.; 4.81 ff. – Verkündung des Urteils 3.837, 3.842 – Videokonferenz 3.974 ff. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit 3.306 ff. Ordnungsgeld – gegen Beteiligten 3.913 – gegen Sachverständigen 3.913 – gegen Zeugen 3.913 Ordnungshaft 3.912 Ordnungsmittel 3.911 ff.

Parteifähige Vereinigung – Prozesskostenhilfe 10.56 Parteivernehmung 3.952 f. Personengesellschaft 3.360 – Beendigung 3.362 – Beteiligtenfähigkeit 3.360 ff. – notwendige Beiladung 3.1313 ff. Petition 2.303 ff. – Adressat 2.305 – Bescheidungsanspruch 2.307 Pfändung – Auskunftserteilung 9.32 ff. – beweglicher Sachen 3.266; 9.25 ff., 9.48 ff. – Einstellung der Vollstreckung 9.35 – Einwendungen 9.11 – Forderung 3.462, 3.1172; 9.27 – Kontopf. 3.1172 – Rechtsschutz 9.27 ff. – Verwertung von Pfandsachen 9.52 ff. – Zwangsversteigerung und –verwaltung 3.1172; 9.54 f. Pfändungsgläubiger 3.462 Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung 3.635 ff.; 4.53 ff. Postausgangsbuch 3.562 Postulationsfähigkeit 3.375; 4.4, 4.6 Postverkehr 3.577 f. Präklusion 2.189 ff.; 3.679 ff. Präsente Beweismittel 3.937, 3.1168, 3.1240 Präsenter Zeuge 3.650 Präsidium 3.604 Protokoll 3.983 ff., 3.1352 f. – Berichtigung 3.988 f. – Beweisantrag 3.984 640

– Beweiskraft 3.985 ff. – Inhalt 3.983 ff. – Mängel 3.1352 f. – Unterschrift 3.987 Protokollberichtigung 3.988 Prozessbevollmächtigter 3.378 ff. – Person des Bevollmächtigten 3.379 ff. – Prozessvollmacht 3.385 ff., 3.391 ff. – Verhinderung 3.827 Prozesserklärung – Auslegung 3.121 ff. – Erledigung der Hauptsache 3.751 ff. – Insolvenzverwalter 9.70 – Klagerücknahme 3.755 Prozessfähigkeit 3.370 ff. – Sachurteilsvoraussetzung 3.370 – Verlust 3.374, 3.404 Prozessführungsbefugnis – Insolvenzverwalter 9.70 – Vollbeendigung einer Personengesellschaft 3.423 ff. Prozessfürsorgepflicht 3.639 Prozesskostenhilfe 3.579; 10.41 ff. – amtlicher Vordruck 10.58, 10.60 – Beweiserhebung 10.47 – hinreichende Erfolgsaussichten 10.45 ff. – juristische Person 10.56 – Klagefrist 3.579 – keine Mutwilligkeit 10.48 – persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse 10.49 ff., 10.60 – rückwirkende Bewilligung 10.64 – Schonvermögen 10.55 – Vereinigung 10.56 – Verfahren 10.57 ff. Prozessökonomie 3.702, 3.781 Prozessstandschaft – Klagebefugnis 3.420 Prozessvollmacht 3.385 ff.; siehe auch Vollmacht – Einreichung 3.391 ff. – Erlöschen 3.399 ff. – Erteilung 3.388 – Generalvollmacht 3.389 – Insolvenzverfahren 9.70, 9.71 ff. – Tod des Klägers 3.404 – Umfang 3.389 – Widerruf 3.400 Prüfungsbeamte, gerichtseigene 3.950 Prüfungskompetenz der Finanzbehörde 2.157

Rechenfehler

3.1101 Rechtliches Gehör 3.901 ff.; 4.72 ff. – Akteneinsicht 3.713 ff. – Anhörungsrüge 5.4 ff.

Stichwortverzeichnis – – – – –

Äußerungsrecht des Beteiligten 3.1386 Beteiligtenvernehmung 3.1386 Beweisaufnahme 3.901 ff. gerichtliche Beachtungspflicht 3.1391 ff. Bindungswirkung einer rückverweisenden BFH-Entscheidung 3.1395 ff. – Ladungsfrist 3.1340 ff. – Mißachtung der gerichtlichen Informationsund Unterrichtungspflicht 3.1387 ff. – mündliche Verhandlung 3.1344 ff. – Rüge 4.72 ff. – Terminsverlegung 3.1354; 4.73 – Überraschungsentscheidung 3.1390, 4.74 – Verböserungshinweis 2.167 f. – Verfahrensmangel 3.1354 ff.; 4.72 ff. – Vertagung 3.1354 ff. – Videokonferenz 3.974 Rechtsanwendungsfehler – qualifizierter 4.51 f. Rechtsbehelfsbelehrung – Einspruchsfrist 2.98, 2.250 – Klagefrist 3.525 ff. Rechtsfehler 4.51 f. Rechtsfortbildung 4.139 ff. Rechtskraft – Beiladung 3.788, 3.800 – Hemmung durch Nichtzulassungsbeschwerde 4.183 – Klagerücknahme 3.755 Rechtsmittelbelehrung 3.525 ff. Rechtsnorm – Feststellungsklage 3.473 – Revisionsbegründung 4.48 ff. – Übersehen 4.51 – Verfassungsmäßigkeit 2.203; 3.473 Rechtsschutzbedürfnis, 3.472 ff. – AdV-Antrag 3.1178 f. – Einspruchsverfahren 2.140 ff. – Feststellungsklage 3.472 ff. – Insolvenzverfahren 9.56 ff. – Musterfahren beim Bundesverfassungsgericht 2.203 – Nichtzulassungsbeschwerde 4.134 – Prozesskostenhilfeantrag 10.63 – Urteilsberichtigung 3.1101 ff. – Verfassungswidrigkeit einer Norm 3.473 Rechtsschutz im Insolvenzverfahren 9.56 ff.; siehe auch Insolvenzverfahren Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren 9.1 ff., 9.20 ff. – Aufteilungsbescheid 9.7 ff., 9.27 ff. – Aussetzung der Verwertung 9.23 f. – einstweilige Einstellung der Vollstreckung 3.1210 f.; 9.10 ff., 9.35, 9.37

– Einziehungsverfügung 9.40 f. – Erzwingungshaft 9.42 f. – Kontenpfändung 9.45 – Leistungsgebot 9.46 – Pfändungsmaßnahmen 9.25 ff., 9.48 ff. – Schuldnerverzeichnis 9.39 – Vermögensauskunft 9.51 – Verpflichtungsklage 9.28 – Vollstreckungsgegenklage unzulässig 9.6 Rechtsschutzinteresse siehe Rechtsschutzbedürfnis Rechtsunkenntnis 4.51, 4.56, 4.58 Rechtsverhältnis – Beiladung 3.786 ff., 3.789 ff., 3.794 ff. – Feststellungsklage 3.790 ff. Rechtsverletzung – Geltendmachung 3.407 f., 3.409 ff., 3.416 ff. – Klageerhebung 3. 407 f., 3.409 ff., 3.416 ff. – Revisionsbegründung 4.48 ff., 4.59 ff. – Rüge 4.48 ff.; 4.59 Rechtsweg 3.304 ff. – Abgrenzung zu den Strafgerichten 3.312 ff. – Akteneinsicht 3.315 f. – Bundesverfassungsgericht, zum 6.11 f., 6.17 ff. – öffentlich-rechtliche Streitigkeit 3.306 ff. Regelungsanordnung – einstweilige Anordnung 3.1264 ff. Restitutionsklage 3.1137, 3.1140 ff. Revision 1.12 ff; 4.9 ff. – absoluter Revisionsgrund 4.67 ff. – Anschlussrevision 4.92 ff. – Antrag 4.32 ff. – Begründung 4.27 ff. – Begründungsfrist 4.27 ff. – Bindung an tatsächliche Feststellungen 4.53 ff. – Einlegung 4.16 ff. – Erledigungserklärungen 4.121 f. – Erwiderung 4.89 ff. – Form 4.19 ff. – Frist 4.17 f. – Gegenstand 4.12 ff. – Gerichtsbescheid 4.13 – Gründe 4.41 ff., 4.48 ff. – Inhalt 4.19 ff. – Mindestanforderungen 4.44 ff. – Muster Einlegung 11.18 – Muster Begründung 11.19 – Rechtsverletzung 4.48 ff., 4.59 ff. – Revisionsantrag 4.32 ff. – Revisionserwiderung 4.89 ff. – Revisionsgründe 4.48 ff., 4.67 ff. – Rücknahme 4.120

641

Stichwortverzeichnis – – – – – – – – – –

Schriftform 4.19 ff. Verfahren 4.103 ff. Verfahrensablauf 4.103 ff., 4.120 ff. Verfahrensfehler 4.59 ff. Vertretungszwang 4.4 ff., 4.19 Zulassung 4.15 ff. Zulassungserfordernis 4.15 ff. Zulassungsgründe 4.48 ff., 4.67 ff. Zurückverweisung durch Beschluss 4.117 Zurückverweisung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung 4.117 Richter, gesetzlicher 3.847 ff., 3.1296 ff.; 4.68 ff., 4.71 ff. Rücknahme des Einspruchs 2.233 ff. – Erklärung 2.235 ff. – Form 2.234, 2.235 ff. – Frist 2.233, 2.239 – Teilrücknahme 2.245 ff. – Verböserung 2.16, 2.260 ff. – Vollmacht 2.235 – Widerruf 2.238 – Wirkungen 2.240 – Zeitpunkt 2.233, 2.239 Rücknahme der Klage siehe Klagerücknahme Rügerecht 3.1293; 4.48, 4.59 – Anhörungsrüge 5.1 ff. – mangelnde Sachaufklärung 4.84 ff. – rechtliches Gehör 4.72 ff. – unterlassene Beweisaufnahme 3.1293; 3.1327 ff. – Verfahrensmangel 3.1293; 4.59 ff. – Verzicht 4.65 f. Ruhen des Verfahrens 2.203 ff.; 3.770 ff. – Allgemeinverfügung 2.207 f. – Antrag 2.209 ff.; 3.770 – Fortsetzung des Verfahrens 2.209 ff.; 3.772 – Musterverfahren 2.203 ff. – Rechtsbehelfe 2.212 ff. – Zustimmung 2.201; 3.770 – Zweckmäßigkeitsgründe 2.201 f.

Sachantrag 4.32 ff. Sachaufklärungsmängel 3.1321 ff. – Übergehen eines Beweisantrages 3.1324 ff. – Unterlassen gebotener Beweiserhebung 3.1327 ff. Sachaufsichtsbeschwerde 2.314 ff. Sachentscheidungsvoraussetzungen 3.330 – Beteiligtenfähigkeit 3.348 – Feststellungsinteresse 3.188 – Verkennen von S. 3.1370 ff. – Vollmacht 3.385 Sachverhalt – Aufklärung siehe Sachverhaltsaufklärung 642

– – – – – – – – – –

Auslandsbezug 3.649 ff. Bindung des BFH an Feststellungen 4.53 ff. Ermittlung 3.635 ff., 3.638 ff. Ermittlung mit geringem Aufwand 3.652 ff. Erörterungstermin 3.734 ff. tatsächliche Verständigung 3.741 unklarer S. 4.57 unrichtiger 3.1197 unvollständiger 3.1197 Vernehmung eines Zeugen im Ausland 3.650, 3.928 f. Sachverhaltsaufklärung 3.649 ff.; 4.53 ff. Sachverständigengutachten 3.943 ff. Sachverständige 3.943 ff. Saldierung 2.16, 2.253; 3.15 f. – schlichter Änderungsantrag 2.294 ff. – Teilrücknahme 2.248 Säumniszuschläge 3.1173 Schadensersatzansprüche, zivilrechtliche 2.326 ff. Schätzungsbescheide 3.99 Schiedsverfahren – Bindungswirkung der Stellungahme 8.96 – Durchführung multilateraler Verfahren 8.103 f. – Einleitung und Durchführung 8.81 ff. – innerstaatliche Umsetzung 8.99 ff. – internationale S. 8.8 ff., 8.51 ff. – Gebühren und Kosten 8.102 – Prüfung unilateraler Abhilfe 8.71 – Schiedskonvention der EU 8.53 ff., 8.59 ff. – Verfahren nach EU-Schiedskonvention 8.59 ff. – Verständigungsvereinbarung 8.96 ff. – Verständigungsverfahren 8.65 ff., 8.72 ff., 8.77 ff. – Vorverfahren 8.62 ff. Schlichte Änderung 2.294 ff. Schreibfehler 3.1101 Schriftform 2.89; 3.30 ff. – Computerfax 3.47 – Einspruch 2.89 f. – E-Mail 2.92; 3.48 ff. – Erklärung zur Niederschrift 2.91; 3.25, 3.63 – Telebrief 2.92; 3.42 – Telefax 2.92; 3.43 – Telegramm 2.92; 3.42 – Unterschrift 2.90; 3.31 ff. – Vertreter 3.32 Schriftliches Verfahren siehe Verzicht auf mündliche Verhandlung Schriftsätze 3.30 ff., 3.42 ff., 3.627 Selbständiges Beweisverfahren 3.1085 ff. Senat 3.604 ff.

Stichwortverzeichnis Senatsinterner Geschäftsverteilungsplan 3.604 Sicherheitsleistung 3.1212 ff. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung 4.142 ff. – Divergenzrevision 4.142 ff. – Grundsatzrevision 4.136 ff. Sicherungsanordnung 3.1264 ff. Signaturgesetz 3.705 ff. Sitzungsniederschrift 3.746, 3.983 ff. Sitzungspolizei 3.911 ff. Sitzungsprotokoll 3.983 ff. Sonstige Leistungsklage 3.178 ff. – Muster 11.10 Spruchkörper – Bundesfinanzhof 4.1 – Bundesverfassungsgericht 6.3 ff. – Europäischer Gerichtshof 7.10 ff. – fehlerhafte Besetzung des S. 3.1301 ff. – Finanzgericht 3.604 ff. – unzuständiger S. 3.1298 ff. Sprungklage 3.476 ff. – Ablehnung der Zustimmung 3.482 – mehrere Berechtigte 3.478 – und Einspruch 3.486 f. – Muster 11.13 – Nichtannahme durch das Gericht 3.484 f. – kein Vorverfahren 3.476 – Zustimmung der Finanzbehörde 3.476 ff., 3.479 ff. Staatshaftungsanspruch 7.31 Statthaftigkeit – Anschlussrevision 4.92 ff. – Einspruch 2.20 ff. Steueranmeldung 2.105 ff., 2.132 – Einspruchsfrist 2.105 ff. Steuerberater 3.379, 3.463; 4.4; 10.24 ff. Steuerberatungsangelegenheiten 3.379 Steuerberatungsgesellschaft 3.379; 4.4; 10.26 Steuerbevollmächtigter 3.379; 4.4; 10.24 ff. Steuerfahndungsakten 3.315 ff. Steuerfahndung 3.312 ff. Steuerfestsetzung auf Null 2.45, 3.444 ff. Steuerrechtsfähigkeit 2.73; 3.349 f. Steuerstraf- und Bußgeldverfahren – Abgrenzung 3.312 ff. – Akteneinsicht 3.315 Stillstand des Verfahrens 2.196 ff.; 3.759 ff. – Aussetzung 2.199 ff.; 3.760 ff. – Ruhen 2.201 ff.; 3.770 ff. – Unterbrechung 2.215 ff.; 3.773 ff., 3.1374 Strafgerichte 3.312 ff. Streitgegenstand 3.93 ff. – Saldierung 3.94 – Teilurteil 3.1068 ff.

– Untätigkeitsklage 3.490 ff. Streitwert 10.7; 10.32 ff. – bezifferte Geldleistung 10.33 – finanzielles Interesse 10.34 ff. Subsidiarität der Feststellungsklage 3.137

Tatbestand eines Urteils 3.1400 Tatbestandsberichtigung 3.1111 ff. – Berichtigungsbeschluss 3.1114 – Rechtschutzinteresse 3.1112 Tatsächliche Feststellung 4.53 ff. Tatsächliche Verständigung – Erörterungstermin 2.171 ff.; 3.741 Teiländerungsbescheid 3.752 Teilanfechtung 2.155 Teilbarkeit des Streitgegenstands 3.1069 Teilbestandskraft 2.155, 2.254 ff. Teilurteil 3.1068 ff. – Ermessen 3.1072 – Teilbarkeit des Streitgegenstands 3.1069 Telebrief 2.92; 3.42 Telefax 2.12 ff., 2.92; 3.43 ff.; 3.523, 3.531, 3.580 ff. – Betriebsstörung 3.566 – Telegramm 2.92; 3.42 Tenor 3.1398 ff.; 4.37; 7.32 Terminsänderung 3.820 ff. Terminsverlegung 3.820 ff., 3.1344 ff.; 4.73, 4.77 Termin zur mündlichen Verhandlung 3.808 ff., 3.1344 Testamentsvollstrecker 3.464 Tod eines Beteiligten 3.775 ff. Ton-, Fernseh- und Rundfunkaufnahmen 3.838 Trennung von Verfahren 3.1068 ff. Übereinstimmende Erledigungserklärungen 3.741, 4.121, 4.191 Überlanges Gerichtsverfahren 3.1128 ff. Überraschungsentscheidung 3.1390; 4.74 Übertragung auf Einzelrichter 3.611 ff. – Rückübertragung 3.614 – Übertragung 3.612 Umkehr der Beweislast 3.701 Umsatzsteuer-Jahresbescheid – Gegenstand des Einspruchsverfahrens 2.224 Umsatzsteuerbescheid 3.263, 3.465 Umsatzsteuererstattung 3.1287 Umzug 2.34 f., 3.84 Unbillige Härte 3.1207 ff.; 9.16 Ungebühr 3.913 Unselbständige Nebenbestimmung – Beschwer 3.282 – Vorbehalt der Nachprüfung 3.282 – Vorläufigkeitsvermerk 3.285

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Stichwortverzeichnis Untätigkeitseinspruch 2.24 ff., 2.108; 3.505 ff. Untätigkeitsklage 2.27; 3.264, 3.490 ff., 7.6 – angemessene Frist 3.490, 3.493 ff. – Klageantrag und –begehren 3.499 ff. – Mitteilung eines zureichenden Grundes 3.490, 3.496 – Muster 11.14 – Streitgegenstand 3.499 – Voraussetzungen 3.492 ff., 3.505 ff. Unterbrechung des Verfahrens 2.215; 3.773 ff. – Eröffnung des Insolvenzverfahrens 3.774; 9.61 ff. – Tod der Partei 3.773, 3.775 ff. – Urteil trotz U. 3.1374 ff. – Verlust der Prozessfähigkeit 3.773 Unterschrift – Schriftform 2.90; 3.31 ff., 3.42 ff. Untersuchungsgrundsatz 3.635 ff. – Begrenzung 3.642 – Beweisanträge 3.635 – Beweisergebnisse anderer Verfahren 3.646 – Beweislast 3.696 ff. – Bundesfinanzhof 3.636 – Finanzgericht 3.636 – fehlende Klagebegründung 3.642 – Mitwirkungspflichten 3.642, 3.649 ff. – Verletzung der Aufklärungspflicht 3.641 ff. – Zurückweisung verspäteten Vorbringens 3.657 ff. Urkunde 3.947 ff. Urkundenbeweis 3.659 ff., 3.947 ff. – aus anderen Gerichtsverfahren 3.646 Urlaubsabwesenheit – Wiedereinsetzung 3.551 ff. Urteil 3.1011 ff. – Bindung an das Klagebegehren 3.1031 ff. – Entscheidungsgrundlagen 3.1024 ff. – Darstellung der Entscheidungsgründe 3.1400 – Frist zum Absetzen 3.1404 – Inhalt 3.1017 – richterliche Überzeugungsbildung 3.1029 f., 3.1384 f. – schriftliche Abfassung 3.1016 ff. – Tenor 3.1398 ff. – trotz Unterbrechung des Verfahrens 3.1374 – Unterschrift 3.1016 – unzulässiges Prozessurteil 3.1372 f. – unzulässiges Sachurteil 3.1370 f. – Urteilsausspruch 3.1036 ff. – Urteilsgrundlage 3.1024 ff., 3.1384 – Verkündung 3.1012 – Zustellung 3.1013 Urteilsberichtigung 3.1101 ff. – Beschwerde 3.1107

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– Kanzleiversehen 3.1110 – mechanischer Fehler 3.1101 – offenbare Unrichtigkeit 3.1101 ff. – von Amts wegen 3.1106 Urteilsergänzung 3.1117 ff. – Antrag 3.1119 – Frist 3.1119, 3.1121 Urteilsformel 3.1036 ff. Urteilsverkündung 3.1012 ff.; 4.83; 7.32

Verböserung 2.16, 2.160 ff.; 3.15 ff. – Begriff 2.162 – Hinweis 2.165 ff. – rechtliches Gehör 2.167 f. – Saldierung 3.15 ff. Verbot der Schlechterstellung siehe Verböserung Vereidigter Buchprüfer 3.379 Verfahren nach billigem Ermessen 3.1005 ff. Verfahrensdauer 3.13 f. Verfahrensfehler 4.59 ff.; siehe auch Mängel im finanzgerichtlichen Verfahren Verfahrensgegenstand 3.113 ff. – Rechtsbehelfsentscheidung 3.113 Verfahrensmangel 3.1290 ff.; 4.59 ff., 4.147 ff.; siehe auch Mängel im finanzgerichtlichen Verfahren Verfahrensökonomie – Ruhen des Einspruchsverfahrens 2.201 ff. Verfahrensrevision 4.59 ff., 4.147 ff. Verfahrenstrennung 3.1068 ff. Verfahrensverbindung 3.127 ff. Verfahren vor dem Bundesfinanzhof 4.103 ff., 4.120 ff. Verfassungsbeschwerde 6.6 ff. – Annahme zur Entscheidung 6.39 ff., 6.45 ff. – Anwaltszwang, beschränkter 6.37 – außerordentlicher Rechtsbehelf 6.10 – Begründungsanforderung 6.27, 6.31 ff. – Beschwerdefähigkeit und –befugnis 6.13 ff. – Entscheidung des BVerfG 6.39 ff. – Form 6.28 ff. – Frist 6.28 ff. – konkrete Normenkontrolle 6.54 ff. – gegen Nichtvorlage zum EuGH 7.29 – Muster 11.22 – Rechtsweg 6.11 f., 6.17 ff. – Subsidiarität 5.29 ff.; 6.22 ff. – Verfahrensdauer 6.52 f. – Verhältnis zur Anhörungsrüge 5.29 ff. – Vertretung 6.37 f. – Zulässigkeitsvoraussetzungen 6.11 ff. Verfassungsmäßigkeit – Aussetzung des Verfahrens 3.473

Stichwortverzeichnis – Rechtsschutzbedürfnis 2.48 – Rüge bei Einspruch 2.48, 2.143; 2.203 Verhandlungsprotokoll 3.983 ff. Verkündung 3.1012; 4.83; 7.32 Verletzung der Aufklärungspflicht 3.1321 ff.; 4.53 ff. Verletzung des Bundesrechts 4.48 ff. – Abgrenzung zum absoluten Revisionsgrund 4.67 Verletzung des rechtlichen Gehörs 3.901 ff., 3.1391 ff.; 4.72 ff.; siehe auch Rechtliches Gehör – Anhörungsrüge 5.4 ff. – Nichtverlegung eines Termins 4.73, 3.1344 ff. – Rügeverzicht 4.72 ff. – überraschende Entscheidung 3.1390; 4.74 Verletzung von Landesrecht 4.48 Verletzung von Verfahrensvorschriften 4.51 ff., 4.59 ff. Verlustfeststellungsbescheid 2.46; 3.1233, 3.1285 – Aussetzung der Vollziehung 3.1233 Vernehmung – Beteiligtenvernehmung 3.951 – eidliche Vernehmung 3.1094 ff. – Zeugenvernehmung 3.955 ff. – Zeugnisverweigerungsrecht 3.963 ff. Verpflichtungsklage 3.161, 3.176 ff. – ABC der Klagemöglichkeiten 3.207 – keine zusätzliche Anfechtungsklage 3.177 – Klagefrist 3.515 – Muster 11.8: Erlass eines Änderungsbescheides – Muster 11.9: Ablehnung eines Erlassantrags Verschulden 3.541 ff. – einfache Fahrlässigkeit 3.541 – von Hilfspersonen 3.543 ff. – des (Prozess)bevollmächtigten 2.84; 2.122; 3.546 f. Verschulden des Prozessbevollmächtigten 3.543 ff. Verspätetes Vorbringen 2.121 ff.; 3.541 ff. Verständigungsverfahren, internationale – Ablauf 8.12 ff. – Abwägung zwischen den verfahrensrechtlichen Optionen 8.106 ff. – Antrag auf Einleitung 8.16 ff. – Durchführungsbestimmungen 8.11 – Entscheidung über Antrag 8.29 ff. – Gebühren und Kosten des Verfahrens 8.47, 8.101 – Rechtsgrundlagen 8.11 – Scheitern einer zwischenstaatlichen Verständigung 8.48 ff.

– Überblick 8.4 ff., 8.8 ff. – innerstaatliche Umsetzung der Verständigungsvereinbarung 8.44 ff. Verständigungsverfahren, zwischenstaatliche 8.33 ff. – Scheitern einer zwischenstaatlichen Verständigung 8.48 ff. Vertagung 3.1354 ff. Vertragsauslegung 4.56, 4.58 Vertragsverletzungsverfahren 7.4 Vertrauen in die Rechtsprechung 4.145 Vertretung im Einspruchsverfahren 2.77 ff. Vertretungsberechtigte Person 2.77 ff.; 3.357 ff., 3.360 ff.; 4.4 ff. Vertretungszwang – Bundesfinanzhof 3.375; 4.4 ff. – Europäischer Gerichtshof 7.14 – Finanzgericht 3.375 Verwaltungsakt 2.20 ff. – Änderungsbescheid 2.162, 2.222 – Beschwer 2.11, 2.20 ff., 2.37 ff. – fehlerhafte Bekanntgabe 3.185 – Feststellungsinteresse 3.187 – Nichtigkeit 3.185 Verwaltungsvorschrift 3.411, 3.413 ff.; 4.49 ff. Verweisung siehe Zurückverweisung Verwertung gepfändeter Sachen – Aussetzung 9.23 f. Verzicht auf Beweiserhebung 3.921 Verzicht auf Einspruch 2.129 ff. Verzicht auf mündliche Verhandlung 3.997 ff. Verzinsung 2.283 ff.; 3.1157 ff. Verzögerungsrüge 3.1133 Videokonferenz 3.974 ff. – Ermessensentscheidung 3.975 – Erörterungstermin 3.979 – mündliche Verhandlung 3.974 – technischer Defekt 3.977 – Videovernehmung 3.980 – Zuschaltung aus dem Ausland 3.981 Videovernehmung 3.980 Vollbeendigung einer Gesellschaft 3.777 Vollmacht 2.78 ff.; 3.385 ff. – Einreichung 3.391 ff. – Erlöschen 2.81 ff.; 3.399 ff. – Erteilung 2.78; 3.388 – Form 2.78, 2.88; 3.388 – Inhalt 2.78 ff.; 3.389 – Mangel 3.387 – Sachentscheidungsvoraussetzung 3.385 – Vorlage der Vollmachtsurkunde 2.78; 3.391 ff. Vollstreckung 3.1210 f. – drohende V. 3.1195

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Stichwortverzeichnis – einstweilige Einstellung der V. 3.1210 f.; 9.10 ff., 9.20 ff. – Rechtsschutz 9.1 ff., 9.20 ff. – Unbilligkeit 9.13 ff. Vollstreckungsaufschub 3.1210 f. Vollstreckungsmaßname 2.18, 2.269 ff.; 3.265 ff., 3.1172 Vollziehbarer Verwaltungsakt 3.1171 ff. Vorabentscheidungsverfahren 7.7 ff., 7.20 ff. – Amtssprache 7.16 – Muster Erklärung 11.23 – Prozessvertreter 7.14 – Verfahrensablauf 7.32 ff. – Vorabentscheidungsersuchen 7.7, 7.20 ff. – Vorlageberechtigung und –verpflichtung 7.22 ff. Vorauszahlungsbescheid 2.224 Vorbehalt der Nachprüfung 3.282 ff., 3.466 Vorbereitende Schriftsätze 3.702 ff. – Abschriften 3.703 – elektronisches Dokument 3.705 Vorbereitendes Verfahren 3.627, 3.631, 3.702 Vorfälligkeitsgebühr 3.19; 10.19 ff. Vorlage der Prozessvollmacht 3.385 ff. – Einreichung der Vollmacht 3.391 ff. – Erlöschen der Vollmacht 3.399 ff. – Umfang 3.389 f. Vorlage von Urkunden 3.659 ff. 3.947 ff.; 9.32 ff. – Beweisaufnahme 3.917 ff. – Bezugnahme 3.703 – Fristsetzung zur Vorlage 2.181 ff.; 3.659 ff. – Glaubhaftmachung 3.592 – präsente Beweismittel 3.1168, 3.124 Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof 7.27 ff. Vorläufige Regelung 3.285 ff.; 3.1234, 3.1236 Vorläufiger Rechtsschutz 2.269 ff.; 3.1150 ff.; 9.27 ff. – Antrag beim Finanzgericht 2.277 ff.; 3.1156 ff. – Aussetzung der Vollziehung 3.1152 ff.; siehe Aussetzung der Vollziehung – Einspruch 2.269 ff. – Glaubhaftmachung 3.1168 – Verfahren 2.277 ff. – Voraussetzungen 2.276, 3.1151 – Zinsanspruch 2.283 ff. Vorläufigkeit 3.467 Vorläufigkeitsvermerk 3.285 ff.; 3.467 Vorschlag zur Erledigung des Rechtsstreits 3.739 Vorsitzender 3.619 ff.

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Vorverfahren 3.474 ff. – Ausnahmen 3.476 ff. – Sachentscheidungsvoraussetzung 3.475 ff.

Wesentliche Verfahrensmängel

3.1290 ff.; 4.59 ff., 4.72 ff., 4.147 ff.; siehe auch Mängel im finanzgerichtlichen Verfahren Widerruf – Prozessvollmacht 3.400 – eines begünstigten Verwaltungsaktes 3.1172 Widerrufsvorbehalt 3.1191 Wiederaufnahme des Verfahrens 3.1137 ff. – Nichtigkeitsklage 3.1137 ff. – Restitutionsklage 3.1137, 3.1140 ff. – Zuständigkeit 3.1145 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 2.121 ff.; 3.541 ff.; 4.17, 4.26; 6.30 – ABC der Wiedereinsetzung 3.548 ff. – Antrag 2.123; 3.541 ff., 3.584 – Muster 11.2 – Antragsfrist 2.125; 3.587 ff. – Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe 2.123; 3.585, 3.589 ff., 3.592 – Verfahren 3.584 ff. – Verschulden 2.122; 3.541 ff., 3.546 Wiedereinsetzungsgründe 2.125; 3.541 ff., 3.548 ff. Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung 3.892 ff., 3.1361 ff. Wiedervorlagefrist 3.563 Wirtschaftliche Existenz 3.1207 ff. Wirtschaftsprüfer 3.394; 4.4 Wirtschaftsprüfungsgesellschaft 3.394; 4.4

Zahlungsverjährung

3.14 Zeuge 3.942, 9.55 ff. – Videovernehmung 3.980 Zeugenvernehmung 3.955 ff. Zeugnisverweigerungsrecht 3.963 ff. Zinsbescheid 3.100 Zinsen 3.1157 ff., 3.1224 ff. Zulässigkeit der Klage 3.304 ff. – allgemeine Voraussetzungen 3.304 ff. – Beteiligtenfähigkeit 3.345 ff. – Finanzrechtsweg 3.304 ff., 3.336 ff. – Klagebefugnis 3.407 ff. – Klagefrist 3.514 ff. – Postulationsfähigkeit 3.375 ff. – Prozessfähigkeit 3.370 ff. – Rechtsschutzinteresse 3.409 ff. – Rechtsweg 3.304 ff. – Vorverfahren 3.474 f., 3.476 ff. – Zwischenurteil 3.1058 ff. Zulassung der Beschwerde 4.200

Stichwortverzeichnis Zulassung der Revision – Form 4.15, 4.126 ff. – Urteil 4.15 – Bundesfinanzhof 4.106 ff. Zurückverweisung – durch Bundesfinanzhof 4.117 f., 4.188 – durch Finanzgericht 3.1045 ff. Zurückweisung verspäteten Vorbringens 3.657 ff. – Ausschluss 3.679 ff. – Beschleunigung des Verfahrens 3.657 ff. – Entschuldigung der Verspätung 3.684 ff., 3.684 – Ermessen 3.687 – Fristsetzung im Einspruchsverfahren 3.690 ff. – ordnungsgemäßes Verhalten des Gerichts 3.687 – Verfügung 3.662, 3.663 ff. – Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits 3.682 – Voraussetzungen 3.663 ff. Zusammenveranlagung – Klagebefugnis 3.437

– Zuständigkeit für Einspruch 2.20 ff. Zuständigkeitswechsel – Einspruch 2.34 ff. Zustellung – Urteil 3.1013 f. Zustellungsvollmacht 2.85 – Einspruchsfrist 2.114 ff. Zustimmung bei Sprungklage – Ablehnung 3.479 ff. – Sprungklage 3.476 ff. – vor Klageerhebung 3.486 f. Zwangsgeld – Fortsetzungsfeststellungsklage 3.199 Zwangsversteigerung 3.1172; 9.54 f. Zweckmäßigkeit – Einspruch 2.16 f. – Klage 3.12 ff. Zweifel, ernstliche 3.1196 ff. Zwischenurteil 3.1058 ff. – Grundurteil 3.1058 ff. – Sachdienlichkeit 3.1062 – Widerspruchsrecht 3.1063 – Zulässigkeit der Klage 3.1064 ff.

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