Grundzüge einer theoretischen Linguistik [Reprint 2015 ed.] 9783110966640, 9783484730502

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Grundzüge einer theoretischen Linguistik [Reprint 2015 ed.]
 9783110966640, 9783484730502

Table of contents :
Vorwort der Übersetzer
Danksagungen
Einführung: Gustave Guillaume 1883-1960
Hinweise
Vorwort
Teil I: Problematik einer Sprachwissenschaft
1. Die Stellung der Linguistik unter den Wissenschaften
1.1. Der Gegenstand der Linguistik
1.2. Logik und Linguistik
2. Die Untersuchungsmethode
2.1. Die Beobachtung der Entitäten der Langue
2.2. Geistige Sichtbarkeit und Sagbarkeit
2.3. Die Intuition
2.4. Arbeitshypothese und Theorie
2.5. Der Beweis in der Wissenschaft
3. Gustave Guillaume und die linguistische Tradition
3.1. Die Universalgrammatik
3.2. Der Mißbrauch der Logik
3.3. Ein Fehler der historischen Grammatik
3.4. Die Langue und ihre Geschichte
3.5. Eine Lücke in der Saussureschen Analyse
3.6. Vergleichende Grammatik und Psycho- Systematik
4. Sprachwissenschaft und Theorie
4.1. Die Theorie: ein vollkommenes Verstehen
4.2. Die Langue ist eigentlich schon eine Theorie
4.3. Die Annahme einer Ordnung im Aufbau der Wissenschaft
Teil II: Von der Problematik zur Systematik
1. Das Postulat der Einfachheit
2. Die Psycho-Systematik: Definition und Methode
3. Psycho-Systematik und Psychomechanik
4. Partikularisierungs- und Generalisierungsbestrebungen beim Aufbau der Sprache
5. Das Gesetz der Nichtrückläufigkeit
6. System und Diachronie der Systeme
7. Der kontinuierliche Kausalvorgang der Sprache: Vorgeschlagenes und Umgewandeltes
8. Probleme der Repräsentation und Sprachzustände
9. Sprache und stilles Denken
Teil III: Signifikant und Signifikat
1. Ein grundsätzlicher Dualismus: das Physische und das Geistige
2. Das Bedeuten und die Beziehung Physismus/Mentalismus
3. Verinnerlichung und Veräußerlichung in der Sprache
4. Die Angemessenheit des Signifikanten in Bezug auf das Signifikat
5. Die expressive Zulänglichkeit: das Gesetz der Psycho-Semiologie
6. Gegenseitige Anpassung des Psychischen und des Physischen
7. Negative Morphologie (der Nullartikel)
Teil IV: Der Sprechakt
1. Der Charakter des Sprechakts
2. Der Sprechakt und seine operative Chronologie
3. Das Festgewordene und das Improvisierte in der Sprache: Ausdruck und Expressivität
4. Die Stellung des Satzes in der Sprache
5. Potentialitätseinheiten und Aktualisierungseinheiten: das Wort und der Satz
6. Die Priorität der Langue: ihr vorrausschauender Charakter
7. Vom Denkbaren zum Gedachten: Langue und Rede
8. Die Allgemeingültigkeit der Beziehung: Repräsentation/Ausdruck
9. Der bedingende Charakter der Langue
Teil V: Sprache und System
1. Der systematische Charakter der Sprache
1.1. Ein jedem System innewohnendes Gesetz
1.2. Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung der Sprachsysteme
1.3. Die Langue als System von Systemen
1.4. Das Festgewordene und das Nicht-Festgewordene in der Sprache
1.5. System und Nicht-System in der Sprache
1.6. Über den geschichtlichen Zusammenhang und die Erneuerung der Systeme
2. Der systematische Charakter des Wortes
2.1. Die Entdeckung des Systems: eine passende Untersuchungsmethode
2.2. Die Genese des Wortes: Substanz und Form
2.3. Prozesse des Wortbaus: Unterscheidung und Kategorisierung
2.4. Der Mechanismus des Wortbaus in den indo-europäischen Sprachen
2.5. Morphologie und Genese des Wortes
2.6. Ein Strukturoperator: der binäre Grundtensor
2.7. Die Rolle der Inzidenz bei der Bestimmung der Wortkategorien
2.8. Interne Inzidenz und externe Inzidenz
2.9. Das Wortsystem und das Artikelsystem
2.10. Potentialität und Realität in der Sprache
Teil VI: Denken und Sprache
1. Sprache und Operativität
2. Das operative Substratum eines jeden Sprachsystems
3. Sprache und Sagbarkeit: vom Unsagbaren zum Sagbaren
4. Strukturstadien der Sprache und die Geschichte des menschlichen Begriffsvermögens
5. Die humanisierende Funktion der Sprache: Linguistik und Anthropologie
6. Die Sprache als Mittel zum Abbau geistiger Turbulenz
7. Die Eigenart der menschlichen Luzidität
8. Die gegenseitige Begründung von Denken und Sprache
9. Das »Gemeindenken« und das gelehrte Denken
Epilog
1. Sprache und wissenschaftliche Neugier
2. Sprache, Mathematik und Linguistik
3. Die Sprache, der Mensch und das Universum
4. Sprache und »Gemeindenken«
Wortregister deutsch/französisch
Bibliographie

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Grundzüge einer theoretischen Linguistik

Gustave Guillaume

Grundzüge einer theoretischen Linguistik Aus dem Französischen übersetzt von Christine Hunger-Tessier, Berthold Mader und Joseph Pattee

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Titel der Originalausgabe: Principes de linguistique théorique de Gustave Guillaume Recueil de textes inédits préparé en collaboration sous la direction de Roch Valin Les Presses de l'Université Laval, Québec et Klincksieck, Paris, 1973 ISBN 2-7637-6639-0

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Guillaume, Gustave: Grundzüge einer theoretischen Linguistik / Gustave Guillaume. Aus dem Franz. übers, von Christine Hunger-Tessier .... - Tübingen: Niemeyer, 2000 Einheitssacht.: Principes de linguistique théorique ISBN 3-484-73050-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Übersetzer

IX

Danksagungen

XI

Einführung: Gustave Guillaume 1883-1960

XIII

Hinweise

XXI

Vorwort

1

Teil I: Problematik einer Sprachwissenschaft 1. Die Stellung der Linguistik unter den Wissenschaften 1.1. Der Gegenstand der Linguistik

9 9 9

1.2. Logik und Linguistik

10

2. Die Untersuchungsmethode 2.1. Die Beobachtung der Entitäten der Langue 2.2. Geistige Sichtbarkeit und Sagbarkeit 2.3. Die Intuition 2.4. Arbeitshypothese und Theorie 2.5. Der Beweis in der Wissenschaft 3. Gustave Guillaume und die linguistische Tradition 3.1. Die Universalgrammatik 3.2. Der Mißbrauch der Logik 3.3. Ein Fehler der historischen Grammatik 3.4. Die Langue und ihre Geschichte 3.5. Eine LUcke in der Saussureschen Analyse 3.6. Vergleichende Grammatik und Psycho-Systematik 4. Sprachwissenschaft und Theorie 4.1. Die Theorie: ein vollkommenes Verstehen 4.2. Die Langue ist eigentlich schon eine Theorie 4.3. Die Annahme einer Ordnung im Aufbau der Wissenschaft

12 12 13 15 17 19 20 20 21 23 25 27 31 34 34 36 37

Teil II: Von der Problematik zur Systematik

39

1. Das Postulat der Einfachheit

39

2. Die Psycho-Systematik: Definition und Methode 3. Psycho-Systematik und Psychomechanik

40 41

4. Partikularisierungs- und Generalisierungsbestrebungen beim Aufbau der Sprache

43

VI

5. Das Gesetz der Nichtrückläufigkeit 6. System und Diachronie der Systeme 7. Der kontinuierliche Kausalvorgang der Sprache: Vorgeschlagenes und Umgewandeltes

45 46

8. Probleme der Repräsentation und Sprachzustände

55

9. Sprache und stilles Denken

56

Teil III: Signifikant und Signifikat 1. Ein grundsätzlicher Dualismus: das Physische und das Geistige

57 57

2. Das Bedeuten und die Beziehung Physismus/Mentalismus 3. Verinnerlichung und Veräußerlichung in der Sprache

58 59

4. 5. 6. 7.

60 61 63 64

Die Angemessenheit des Signifikanten in Bezug auf das Signifikat Die expressive Zulänglichkeit: das Gesetz der Psycho-Semiologie Gegenseitige Anpassung des Psychischen und des Physischen Negative Morphologie (der Nullartikel)

53

Teil IV: Der Sprechakt

65

1. Der Charakter des Sprechakts 2. Der Sprechakt und seine operative Chronologie 3. Das Festgewordene und das Improvisierte in der Sprache: Ausdruck und Expressivität

65 68

4. Die Stellung des Satzes in der Sprache 5. Potentialitätseinheiten und Aktualisierungseinheiten: das Wort und der Satz 6. Die Priorität der Langue: ihr vorausschauender Charakter 7. Vom Denkbaren zum Gedachten: Langue und Rede 8. Die Allgemeingültigkeit der Beziehung: Repräsentation/Ausdruck

74 75 76 78 80

9. Der bedingende Charakter der Langue

83

Teil V: Sprache und System 1. Der systematische Charakter der Sprache

87 87

1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.

Ein jedem System innewohnendes Gesetz Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung der Sprachsysteme Die Langue als System von Systemen Das Festgewordene und das Nicht-Festgewordene in der Sprache . . . . System und Nicht-System in der Sprache Über den geschichtlichen Zusammenhang und die Erneuerung der Systeme 2. Der systematische Charakter des Wortes 2.1. Die Entdeckung des Systems: eine passende Untersuchungsmethode . 2.2. Die Genese des Wortes: Substanz und Form 2.3. Prozesse des Wortbaus: Unterscheidung und Kategorisierung

70

87 87 88 89 90 91 93 93 94 97

vu 2.4. Der Mechanismus des Wortbaus in den indo-europäischen Sprachen . 98 2.5. Morphologie und Genese des Wortes

100

2.6. Ein Strukturoperator: der binäre Grundtensor

102

2.7. Die Rolle der Inzidenz bei der Bestimmung der Wortkategorien . . . .

103

2.8. Interne Inzidenz und exteme Inzidenz

105

2.9. Das Wortsystem und das Anikelsystem

107

2.10. Potentialität und Realität in der Sprache

112

Teil VI: Denken und Sprache

115

1. Sprache und Operativität

115

2. Das operative Substratum eines jeden Sprachsystems

116

3. Sprache und Sagbarkeit: vom Unsagbaren zum Sagbaren

117

4. Strukturstadien der Sprache und die Geschichte des menschlichen Begriffsvermögens

120

5. Die humanisierende Funktion der Sprache: Linguistik und Anthropologie

121

6. Die Sprache als Mittel zum Abbau geistiger Turbulenz

126

7. Die Eigenart der menschlichen Luzidität

126

8. Die gegenseitige Begründung von Denken und Sprache

128

9. Das »Gemeindenken« und das gelehrte Denken

129

Epilog

131

1. Sprache und wissenschaftliche Neugier

131

2. Sprache, Mathematik und Linguistik

133

3. Die Sprachc, der Mensch und das Universum

135

4. Sprache und »Gemeindenken«

141

Wortregister deutsch/französisch

147

Bibliographie

169

Vorwort der Übersetzer

Die vorliegende deutsche Ausgabe der Principes de linguistique théorique de Gustave Guillaume stellt einen ersten Versuch dar, dem deutschen Leser den Zugang zum Gedankengut eines der frühen, weniger bekannten, jedoch wichtigen französischen Strukturalisten zu erleichtem. Dieses Werk bietet eine Zusammenstellung von Texten aus Guillaumes Manuskripten seiner Vorlesungen an der École Pratique des Hautes Etudes in Paris. Die Texte wurden aufgrund ihrer Zugänglichkeit gewählt: Für ihr Verständnis bedarf es keiner besonderen Vorkenntnisse seiner Theorie. Die Tatsache, daß der Inhalt der Auszüge nicht allein für den Linguisten, sondern auch für Studierende anderer geisteswissenschaftlicher Fächer von generellem Interesse ist, steigert die Bedeutung des Werkes und damit auch seiner Ubersetzung. Die »Grundzüge« geben ein Panorama der weitreichenden und häufig herausfordernden Ideen eines der schöpferischsten Sprachwissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Zusammenstellung der Auszüge wie auch die Titel und Untertitel stammen von Roch Valin, dem Herausgebe- der französischen Fassung. Die Übersetzer haben sich um eine klare Begriffsbildung bemüht. In Zweifelsfällen wurde die englische Übersetzung Foundations for a Science of Language (1984) befragt; in einem Glossar sind die Guillaumschen Termini zur Überprüfung beigefügt. Wird auch einiges von der Ausdruckskraft Guillaumes in der Übersetzung verloren gegangen sein, haben sich die Übersetzer jedoch bemüht, seinen Stil zu respektieren und die in der Vorlage festgehaltenen Gedankengänge genauestens wiederzugeben. Um dem Leser den Einstieg in die Texte zu erleichtern, werden in der Einführung ein kurzer Uberblick über den wissenschaftlichen Werdegang des Autors und einige Hinweise zum Zugang dieser Texte gegeben.

Danksagungen

Die Übersetzer sind folgenden Kollegen und Freunden zu aufrichtigen Dank verpflichtet: Herrn Professor Roch Valin (Quebec), der ihnen während der Übersetzung mit seinem Rat zur Seite gestanden hat; den Herren Professoren Dr. Walter Hirtle (Quebec) und Dr. John Hewson (St. John's, Nfld), die ihnen ihre einleitenden Worte und Hinweise in Foundations of a Science of Language, John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia, 1984, zur Adaptierung für deutsche Leser zur Verfügung gestellt haben; Herrn Professor Dr. Gerhard Heibig (Leipzig) für seine Vorschläge zur deutschen Terminologie in mehreren Kapiteln; Herrn Thomas Skaletz (Krefeld), der sich einer eingehenden Durchsicht des Manuskripts annahm und Herrn Dr. Gerd Hilger (Köln) für seine stilistische Überarbeitung der Übersetzung. Besonders danken möchten wir Herrn Professor Dr. Peter Blumenthal (Stuttgart), der sich für die Veröffentlichung dieses Werks in Deutschland einsetzte, und nicht zuletzt Louise Veilleux (Fonds Gustave Guillaume, Quebec) für ihre unermüdliche Arbeit an der Herstellung des Textes, besonders der Schemata. Schließlich bedanken wir uns beim CRSH (Conseil de recherches en sciences humaines du Canada) für die der Überarbeitung unserer Arbeit gewährten Subvention.

Einführung: Gustave Guillaume 1883-1960 Ein hervorstechender Charakterzug Gustave Guillaumes als Linguist war die Unbeirrbarkeit, mit der er sein Ziel verfolgte. Schon in seinen frühesten Aufzeichnungen (1911) befaßte er sich mit dem »den Sprechakt leitenden Geist«, und noch in seiner Vorlesung vom 28. Januar 1960, kaum eine Woche vor seinem Tode, beschreibt er den Sprechakt als »eine Umwandlung des im denkenden Menschen vorhandenen, momentanen Gedankens in Sprache«, und die Sprache selbst als »einen Mechanismus, der Gedachtes in Gesagtes umwandelt«. Zwischen diesen beiden Aussagen liegt fast ein halbes Jahrhundert, angefüllt mit Untersuchungen, genauen Beobachtungen und tiefschürfenden Betrachtungen, die das unermüdliche Bemühen dokumentieren, die Beziehung zwischen Denken und Sprechen, zwischen Geist und Sprache, zu ergründen.

1. Das Problem der Polysemie Stark vereinfacht läßt sich Guillaumes Hauptziel im ersten Jahrzehnt seiner linguistischen Laufbahn anhand einer einzigen Frage charakterisieren: Woher stammen die verschiedenen kontextuellen Bedeutungen eines Morphems? Als junger Mann hatte Guillaume russische Einwanderer Französisch gelehrt und war, wie viele Fremdsprachenlehrer, mit dem Problem konfrontiert worden, die Mehrdeutigkeit der grammatischen Formen auf eine Grundbedeutung zu reduzieren. In dem Versuch, auf eine tiefere Ebene der Sprache vorzudringen, erkannte er bald, daß die Beziehung zwischen der »zugrundeliegenden« Bedeutung und den verschiedenartigen kontextuellen Bedeutungen dem Verhältnis einer potentiellen zur aktuellen Bedeutung entspricht. Diese Einsicht führte zu seinem ersten größeren Werk, einer eingehenden Untersuchung des Artikels im Französischen, Le problème de l'article et sa solution dans la langue française. Es erschien 1919 und ist Antoine Meillet gewidmet, auf dessen Betreiben er zehn Jahre zuvor das Studium der Sprachwissenschaft begonnen hatte. In späteren Jahren hat der Autor auf dieses Werk mit einer gewissen Herablassung zurückgeblickt und darüber bemerkt, es habe eine »an Banalität überwältigende« Idee beigesteuert, nämlich, »daß der Aktualität eine Potentialität zugrundeliegt.« Im Nachhinein mag diese Idee so augenfällig erscheinen, daß sie banal wirkt. Und doch behält die Tatsache weiterhin Gültigkeit, daß erst ein Linguist kommen mußte, der sie als Ausgangspunkt für seine

XIV Betrachtungen über die Sprache und daher als Grundlage für die Sprachwissenschaft annahm. In der Tat verbrachte Guillaume den Rest seines Lebens damit, die Sprache unter dem Blickwinkel des Verhältnisses potentieller und aktueller Beziehung zu erforschen. Guillaumes vorgenannte Untersuchung des Artikelsystems gewährt darüber hinaus wertvolle Einblicke in seine Auffassung der wissenschaftlichen Arbeitsweise und in sein lebenslängliches Bemühen, die Linguistik zu einer anerkannten, theoretischen Wissenschaft zu erheben. In dieser Arbeit ist wohl am besten zu erkennen, worauf Guillaume sich bezog, als er in späteren Jahren so häufig die Wichtigkeit der linguistischen Beobachtung betonte. Nicht nur müsse die Beobachtung so gründlich und umfassend wie möglich sein, sondern sie müsse sich auch, um vollständig zu sein, auf das Körperliche wie auf das Geistige, also die Form (das Zeichen in Guillaumes Terminologie) und die kontextuelle Bedeutung konzentrieren. In dieser Hinsicht ist Le problème de l'article als eine großangelegte Sammlung literarisch belegter Beispiele des Artikelgebrauchs, die nach kontextueller Nuance und Bedeutung klassifiziert sind, bis heute unübertroffen. Eine ähnlich gründliche Aufmerksamkeit widmet er in allen seinen Werken dem Studium von Fakten. Guillaume hat nie von der Wichtigkeit der Beobachtung in der Sprachwissenschaft gesprochen, ohne zugleich die Bedeutung der Reflexion über sie zu betonen. Überzeugt davon, daß die geistige Seite der Sprachrealität vornehmlich unbewußt ist und daher weit über das direkt Beobachtbare hinausgeht, hatte er erkannt, daß dieses Unbewußte nur durch Analysieren, durch Nachdenken über die beobachteten Fakten zu erreichen ist. Er sprach oft vom Sehen und Verstehen - den Resultaten des Beobachtens und Betrachtens oder vom Wahrnehmbaren und vom Vorstellbaren - ihren Objekten. Zwischen diesen, so unterstrich er, muß der Linguist ständig in seinem Bemühen pendeln, zu verstehen, was er sieht, und zu sehen, was er versteht. Die bemerkenswerteste Illustration seiner Ansicht, daß die Linguistik eine zweigleisige Wissenschaft ist, geht wohl aus der Tatsache hervor, daß er mehr als zwanzig Jahre damit verbracht hat, über das am Artikel Beobachtete nachzudenken, ehe er jene Theorie konzipierte, die ihm ermöglichte, das Beobachtete zu verstehen. Daß Guillaume so viel Zeit für die Theoretisierung des Artikels und die Rekonstruktion seines Systems benötigt hat, lag wohl an der Suche grundlegender Parameter zur Analyse, die er jedoch erst nach der Beobachtung des Verbs und anschließender Reflexion entdeckte.

2. Prozeß und Zeit Im zweiten Jahrzehnt seiner Karriere war Guillaume besonders mit einem Problem beschäftigt, das sich aus der Antwort auf seine erste Frage ergab: Wenn die

XV verschiedenen kontextuellen Bedeutungen eines Morphems als aktualisierte Bedeutungen einer einzigen potentiellen Bedeutung entstehen, woher kommt dann die potentielle Bedeutung? In seinem Bemühen, auf eine tiefere Ebene der Sprache vorzudringen, suchte er, die zugrundeliegenden Bedingungen jenes Aspektes der Sprache zu bestimmen, den er verstehen wollte. Erst 1927 gelangte Guillaume zu der Einsicht, die zum Grundstein für all sein späteres Theoretisieren wurde: Er erkannte, daß etwas potentiell ist, bevor es aktuell ist. Ein Gebrauch des französischen »Subjonctifs«, bei dem dieser in Opposition zum Indikativ steht, ließ ihn darüber nachdenken, wie das Mögliche und Wirkliche gedacht werden. Er entdeckte, daß der Sprecher einem im subjunctiven Modus als möglich dargestellten Geschehen den Vorrang geben muß, es irgendwie früher denken muß als ein im indikativen Modus als wirklich dargestelltes Geschehen. Und die einzige Zeit, in der er den »Subjonctif« als dem Indikativ vorrangehend annehmen konnte, war die »Denkzeit«, die der geistige Prozeß zur Repräsentation eines Verbes fordert. Diese Einsicht veranlaßte ihn, sich ein System der Modi als einen im wesentlichen einzigen, unbewußten Denkprozeß vorzustellen, der in verschiedenen aufeinanderfolgenden Momenten aufgehalten werden kann - wobei jede dieser Unterbrechungen eine formale (grammatische) Bedeutung entstehen läßt, die je einen Modus des französischen Verbs charakterisiert. Innerhalb der nächsten zwei Jahre erschien Guillaumes zweite große Untersuchung, Temps et Verbe. Dieser zweite Markstein besitzt zwar Bedeutung für die von ihm erstellten Systeme Aspekt, Modus und Tempus, seine größte Bedeutung jedoch besteht in dem ihnen zugrundeliegenden Untersuchungsprinzip der Operativ-Zeit. Ein grammatisches System ist für Guillaume im wesentlichen ein geistiger Mechanismus, der die verschiedenen bedeutungsreichen Konstituenten des Systems hervorbringt. Das heißt, jedes der Morpheme eines Systems entsteht in einem anderen Moment in diesem Denkprozeß als eine potentielle Bedeutung, die durch ihre relative Position in dem beteiligten Prozeß bestimmt wird. Folglich muß jedes Morphem je nach seiner Position, einer frühen oder späteren, auf der MikroZeitstrecke bestimmt werden, die von dem geistigen Prozeß für seine Entfaltung gefordert wird. Die »Denk-« oder Operativ-Zeit eines Systems (»Man braucht Zeil zum Denken wie man Zeit zum Gehen braucht«, pflegte Guillaume zu sagen) stellt den Parameter für ein jedes Sprachsystem dar, der dem Linguisten erlaubt, die »Begriffschronologie« der betroffenen Morpheme zu bestimmen und ihre jeweiligen potentiellen Bedeutungen als die Konsequenz ihrer Position - initial, medial oder final - innerhalb des Systems zu sehen. Deshalb läßt sich ab 1929 Guillaumes wissenschaftliches Werk durch das Motto »Denken muß operativ sein!« charakterisieren. »Alles in der Sprache ist Prozeß«, und, um eine jede sprachliche Entität zu verstehen, sei es der ganz besondere Gebrauch eines Morphems oder der allgemeinste eines Systems, muß man Guillaume zufolge zuerst ein Bild des Prozesses haben, der diese Entität zustande gebracht hat. Die Gewohnheit, operativ zu denken, war so tief in ihm verwurzelt,

XVI daB er zum Beispiel dazu neigte, den Terminus Morphologie durch Morphogenie und Morphogenese mit der Konnotation eines generativen Prozesses zu ersetzen. Für Guillaume wohnt die Sprache, selbst wenn wir sie nicht benutzen, als ein organisiertes Ensemble von möglichen Prozessen, als ein für den Denker/Sprecher zur Aktivierung bereites Programm, in den Tiefen unseres Geistes. Dank seiner beharrlichen Bemühungen, sich mehr auf das Operationale als auf das offensichtlichere Resultative zu konzentrieren, gelang es Guillaume, ein einheitliches Bild der Sprache zu erstellen. Das Erscheinen von Saussures Cours de linguistique générale im Jahre 1916 und die darin vorgeschlagene langue!paroleDichotomie hatte eine Polarisierung in der Sprachwissenschaft bewirkt. Guillaume hingegen stellte die Verbindung zwischen der potentiellen Seite der Sprache und der aktuellen Seite her, indem er die unbewußten morphogenetischen Prozesse, die das Wort produzieren, skizzierte und zeigte, daß ein Wort, »ein Miniaturkunstwerk« (um Sapirs treffende Beschreibung wiederaufzunehmen), vom Sprecher im Moment des Bedarfs zusammengebaut werden muß, bevor es im Satz eingesetzt werden kann. Indem er beschreiben konnte, wie ein Sprecher beim Ausführen eines Sprechakts vom System der Potentialitäten zu einem aktuellen Satz übergeht, vermied Guillaume das Dilemma jener, welche die Syntax eines Satzes zu theoretisieren versuchen, bevor sie die Wörter theoretisiert haben, die die Syntax erst ermöglichen. Er vermied auch das Dilemma jener, welche die Funktionen der Wörter analysieren, ohne zunächst die Wörter selbst analysiert zu haben. Durch seinen Parameter der Operativ-Zeit gelang es Guillaume, ein holistisches Bild der Sprache herzustellen. Diese Einsicht bedeutete insofern einen großen Forschritt, als sie die Linguistik zu einer theoretischen Wissenschaft erhob, und zwar selbst zu der Zeit, als sie vornehmlich auf die synchronische Perspektive beschränkt war.

3. Der Begriff »System« Guillaume hatte vorgeschlagen, daß die potentielle Bedeutung eines Morphems aus seiner Position im System resultierte. Diese Lösung brachte jedoch ein neues Problem mit sich: Woher kommt das System, welches das Morphem enthält? Wenn man zum Beispiel das System des französischen Verbs oder das System des französischen Artikels als unbewußte, geistige Komponenten der französischen Sprache als Realität annimmt, müssen die Bedingungen ausfindig gemacht werden, die derartige Systeme ermöglichen. Hier bot sich also die Möglichkeit, noch tiefer in die Sprache einzudringen, womit sich Guillaume im nächsten Jahrzehnt seiner Karriere auseinandersetzte. Nach der Veröffentlichung von Temps et Verbe richtete Guillaume seine Aufmerksamkeit auf den Übergang vom Potentiellen zum Aktuellen, vom System zum Satz, indem er sich vornehmlich mit der Untersuchung grammatischer Systeme

XVII innerhalb des Wortes befaßte, insbesondere mit jenen, die sich auf die Vorstellung der Zeit im Verb (die Chronogenese, wie er es nannte) beziehen. Dabei schloß er jedoch das Substantiv und seine formale Repräsentation des Raumes nicht aus. Die in dieser Phase entstandenen Artikel (zusammengestellt in Langage et science du langage) und auch seine Studie der lateinischen und griechischen Verbalsysteme {L'architectonique du temps dans les langues classiques) enthüllen einen Geist, der fähig war, unter den beobachtbaren Fakten des Gebrauchs die versteckten Systeme zu entdecken, das »Unsichtbare zu erkennen«, wie ein früher Rezensent es nannte. Sie zeigen auch einen Geist, der sich bemühte, eine noch tiefere sprachliche Ebene zu ergründen: eine Ebene, auf der alle individuellen grammatischen Systeme als besondere Fälle eines allgemeinen Repräsentationssystems betrachtet werden können. Er wollte beweisen, daß grammatische Systeme Inhaltssysteme sind und daß, in bezug auf die Grammatik, eine Sprache ein »System von Systemen« ist. Das führte ihn zur Suchc nach dem allgemeinsten System, dem der Redeteile, das den Mechanismus bereitstellt, der dem Wort zugrundeliegt. Dieses allumfassende System deutlich zu »kennen gelang Guillaume jedoch erst, als er den Mechanismus des transparentesten aller Wörter, des Artikels, erfaßt hatte. Im Jahre 1938 erhielt Guillaume die Stellung des Chargé de conférences an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris. Jede seiner Vorlesungen, die er dort in den nächsten 22 Jahren hielt, wurde sorgfältig niedergeschrieben und in Jahrbüchern aufgenommen. Einige Semester hindurch hat Guillaume wöchentlich mehr als eine Vorlesung gehalten, woraus sich über die Jahre mehrere »Reihen« ergaben, die hier Reihe A, B oder C benannt sind. Diese Vorlesungen, 800 insgesamt, bilden ein wöchentliches Protokoll vom Fortschritt seines Denkens und stellen damit ein unschätzbares wissenschaftliches Vermächtnis dar. Im Jahre 1941 gelang es Guillaume endlich, den geistigen Prozeß freizulegen, der dem Artikelsystem zugrundeliegt. Er besteht aus einer doppelten geistigen Bewegung, die erste, die vom größtmöglichen Umfang eines Begriffes zum kleinstmöglichen Umfang führt, und die zweite, die der ersten in der operativen »Denkzeit« folgt. Sie führt im Gegensatz zur ersten Bewegung vom kleinstmöglichen Umfang zum größtmöglichen. Jeder Bewegung des Systems entspricht ein Zeichen: Die erste, verengende Bewegung wird vom unbestimmten Artikel ausgedrückt, die zweite, die ausweitende Bewegung vom bestimmten Artikel. Dieser Psychomechanismus läßt sich mit Hilfe des folgenden bekannten Diagrammes darstellen:

XVIII

Die Entdeckung des Anikelsystems bedeutete einen wichtigen Durchbruch für Guillaume; sie gab ihm eine Darstellung der das System beinhaltenden geistigen Bewegung, aufgrund derer er die zahlreichen Gebrauchsformen des Artikels, die er seit Jahren beobachtet hatte, endlich erklären konnte. Nun mußte lediglich noch bestimmt werden, an welcher Stelle die Bewegung unterbrochen wurde, um die beobachtete quantitative Wirkung in der Rede hervorzubringen. Die Bedeutung dieses Mechanismus als eines wissenschaftlichen Marksteins geht jedoch weit über die Theorie des Artikels hinaus. In seinen Betrachtungen über die Form der in den Systemen enthaltenen Bewegungen erkannte Guillaume bald, daß dieser Mechanismus, den er binären Tensor nannte, die Darstellung einer jeden, auf Quantität beruhenden, veränderbaren Beziehung liefern konnte. Er verwendete ihn als Grundlage für das System des Numerus im Substantiv ebenso wie zur Illustration der im Verb enthaltenen Beziehung zwischen der Zeit als einer unendlichen Strecke und der Zeit als einer endlichen Strecke (dem Präsens). Auf der Ebene des Wortes erkannte er durch den binären Tensor, wie sich die partikularisierende lexikalische Bedeutung mit der generalisierenden grammatischen Bedeutung verbindet, um zum Redeteil und so zum Wort zu werden. Auf diese Art entdeckte er die Grundlage für seine Theorie des Wortes und damit seine Theorie der Redeteile. Weitere Betrachtungen über die Ähnlichkeit verschiedener Systeme hinsichtlich ihrer Form - ein Mechanismus, der aus einer sich verengenden, partikularisierenden Bewegung besteht, gefolgt von einer sich ausweitenden, generalisierenden Bewegung - , führten Guillaume in den folgenden Jahren zu einer Lösung seines Problems: Die grammatischen Systeme einer Sprache wie des Französischen, ganz gleich ob es sich dabei um besondere Subsysteme handelt wie das des Numerus im Substantiv, oder um generellere wie das des Substantivs selbst, beziehen ihre Form aus dem allgemeinsten System der Sprache, dem des Wortes. Auf diese Weise lernte er die Grammatik einer Sprache als System von Systemen zu sehen, in dem sich die Form des allgemeinen Systems des Wortes in jeder der untergeordneten Kategorien der Wörter (der Redeteile) wiederholt. In Anbetracht der generellsten Form einer Sprache postulierte Guillaume, daß dieser allumfassende Sprachmechanismus eine der grundlegenden Fähigkeiten des menschlichen Denkens widerspiegele: die

XIX Fähigkeit zu generalisieren und zu partikularisieren. In der Tat erkannte Guillaume, daß damit die Grenze zwischen Sprache und Denken erreicht war und daß er, wenn seine Überlegungen weiterhin in diese Richtung gingen, den Bereich der Sprachwissenschaft verlassen würde. Und doch erzeugte die ausgearbeitete Lösung ein neues Problem für den Linguisten: Wenn jedes untergeordnete grammatische System seine Form vom System des Wortes bezieht, woher kommt dann das System des Wortes?

4. Sprachtypologie Es ist bezeichnend für Guillaume, daß er auf den Aufwand jahrelangen Beobachtens und Betrachtens verzichtet hat, der nötig gewesen wäre, die gesamte Theorie der großen Systeme im Französischen - der Redeteile - detailgenau auszuarbeiten. Zufrieden mit der Tatsache, die Grundlage der Systeme erkannt zu haben, insbesondere als er die geistige Beziehung zwischen dem Nomen und dem Verb beschreiben konnte - richtete er statt dessen seine Aufmerksamkeit darauf, die systeminternen Bedingungen zu bestimmen, die in Wortsprachen wie dem Französischen und Lateinischen das Wort hervorbringen. Er erkannte bald, daß das Wort in allen indo-europäischen Sprachen die gleiche generelle Struktur hat, obwohl die Architektur der Subsysteme in jeder Sprache anders sein kann. Sobald er einen Eindruck von der geistigen Infrastruktur der indo-europäischen Sprachen, die das Wort notwendigerweise mit einem Redeteil versehen hervorbringen, gewonnen hatte, verfuhr er nach seiner üblichen Untersuchungsmethode, die darin besteht, von einem Resultat auf den davorliegenden Prozeß zurückzugehen, um herauszufinden, was diesen Typus der Wortstruktur verursacht hatte. Wie jedoch oben erwähnt, hatte Guillaume bereits die Grenzen der Sprache in seinen Untersuchungen des Sprechakts erreicht, und als er deshalb nicht tiefer in die Synchronie eindringen konnte, gelangt er zu einer neuen Auffassung. Ohne die Ablehnung der Ansicht, daß für den Sprecher einer indo-europäischen Sprache die Redeteil-Struktur der Ausgangspunkt ist (das heißt, das Potentielle, von dem aus er den Sprechakt in der Synchronie unternimmt), begann Guillaume, diese Struktur in diachroner Sicht als ein Resultat zu betrachten. Seine Einstellung führte ihn dazu, sieh mehr und mehr auf die Prozesse zu konzentrieren, die das Resultat bewirken, auf die Mittel, aufgrund derer der Mensch über Äonen hinweg das geistige Gebäude geschaffen hat, das ihm erlaubt, seine Gedanken mit Leichtigkeit zum Ausdruck zu bringen. Somit ließ Guillaume im letzten Jahrzehnt seines Lebens die besonderen grammatischen Systeme beiseite und wandte sich ihrer Glossogenie - dem progressiven Aufbau der großen Sprachstrukturen, wie sie von den heutigen Sprachen attestiert werden - und den Folgen zu, welche die neue Dimension der Untersuchung für die Sprachwissenschaft zeitigte.

XX Guillaume vermied es, den Worttypus, den er in den indo-europäischen Sprachen entdeckt hatte, auf andere Sprachen zu übertragen - aus diesem Grund benutzte er oft den Terminus vocable, der weniger mit indo-europäischen Konnotationen aufgeladen ist, und versuchte, den Baumechanismus, die Denkprozesse zu erkennen, die von der Vokabelbildung im Chinesischen, Arabischen, Baskischen usw. vorausgesetzt werden. Das Ergebnis ist eine der originellsten Sprachtheorien, die je entwickelt worden sind: die Theorie der glossogenischen Räume. Diese Theorie versucht zu erklären, wie der Mensch durch Jahrtausende hindurch die aufeinanderfolgenden geistigen Strukturen gebildet hat, die den heutigen verschiedenen Vokabeltypen zugrunde liegen. Weiterhin zeigt sie, wie jede allgemeine Struktur die Art und Weise bestimmt, in der die Architektur der Vokabeln in den einzelnen Sprachen verwirklicht wird und wie die Vokabeln als Konstituenten individueller Sätze eigentlich produziert werden. Kurz gesagt, versucht die Theorie der Glossogenie, die verschiedenen Sprachtypen aufgrund ihres Bauplan-Parameters zu unterscheiden und somit die Totalität der Sprache in der Diachronie wie auch in der Synchronie als ein einziges Phänomen wahrzunehmen. Guillaume widmete seine letzten Jahre nahezu ausschließlich der Theorie der glossogenischen Räume und den Bedingungen, welche die Linguistik aus der Phase der reinen Beschreibung des Gebrauchs hinführte zu einer erklärenden Wissenschaft, die imstande ist, die Natur der Sprache zu erhellen. Leider verstarb er, als er die Grundlagen zu diesem grandiosen wissenschaftlichen Gebäude geschaffen hatte. Seine eigentliche Leistung ist in den Entwürfen einer allgemeinen Sprachtheorie zu sehen - ein Grenzstein am vor uns liegenden Horizont - nicht in einer voll entwickelten Theorie. Natürlich beinhalten seine Schriften sorgfältig ausgearbeitete Lösungen für eine große Anzahl von Problemen wie auch zahllose Einsichten, die zur weiteren Beobachtung und zum Nachdenken anregen. Aber da jegliche wissenschaftliche Theorie, wie gut begründet sie auch immer sei, weiterentwickelt, korrigiert und schließlich überholt und hinter sich gelassen werden muß, so wird sich vielleicht die Methode, die er ab 1929 benutzt hat, um die versteckten Psychomechanismen der Sprache zu erforschen - die Analyse unter dem OperativZeit Aspekt - als sein wichtigstes Vermächtnis erweisen. Da sie bereits bedeutende Resultate erzielt hat und noch immer erzielt, stellt die Methode für jeden Linguisten eine Herausforderung dar, zumindest für jeden Linguisten, der - an der geistigen Natur der Sprache interessiert - , mit Guillaume der Überzeugung ist, daß die Sprache »ein Mechanismus zur Verwandlung des Gedachten in etwas Gesagtes« ist.

Hinweise Die Absicht dieser Hinweise besteht darin, den Leser mit den Termini und Ideen Guillaumes vertraut zu machen. Im allgemeinen betrachten jene, die seine Vorlesungen besucht haben, Guillaume als einen der bestechendsten und anregendsten Theoretiker, den die Sprachwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat. Seine Betrachtungen sowohl zur linguistischen Theorie als auch darüber, was Sprache ist und wie sie funktioniert, sind unverwechselbar. Deshalb sollte man darauf achten, Guillaume nicht mit der vorgefaßten Einstellung zu lesen, linguistische Theorie sei eine Art Technologie mit besonderen Argumentationsformen, bzw. eine Entsprechung des euklidschen Theorems. Theorie im Sinne Guillaumes beschäftigt sich mit dem Verstehen des nicht direkt Beobachtbaren (des zugrundeliegenden operationeilen Systems) anhand des »Unvermeidlichen« (anhand dessen, was sein muß), das im direkt Beobachtbaren enthalten ist. Für ihn sind Beobachtung und das dazugehörige Nachdenken von großer Bedeutung. Sein Standpunkt ist weder mechanistisch noch reduktionistisch und von daher von den traditionellen Anschauungen der Wissenschaftler des neunzehnten (oder siebzehnten) Jahrhunderts stark abweichend. Dieser Unterschied ist zu beachten, will man Guillaume gut verstehen und richtig einschätzen. Überdies liegt in einer Ubersetzung eine besondere Gefahr: Eine Sprache bezieht sich auf ihre eigene kulturelle Matrix, und diese bleibt selbst in einer Übersetzung fremd. Ein deutschsprachiger Leser, der mit der Psychologie Piagets, mit der Anthropologie von Lévi-Strauss oder der Phänomenologie von Merleau-Ponty vertraut ist, wird sich schnell in die Texte Guillaumes einlesen. Aber ein an die Skinnersche Psychologie, den kartesianischen Mechanismus Chomskys oder Wittgensteins Positivismus gewöhnter Leser wird wohl einen kulturellen Schock erleiden und nicht fähig (oder auch nicht willens) sein, sich der notwendigen Anpassung zu unterwerfen. Diese Gefahr sollte man immer vor Augen haben, denn in einer Veröffentlichung ausgewählter Texte wie dieser ist es möglich, daß eine Behauptung von den ihr zugrundeliegenden Beweisen getrennt auftritt und somit die Meinungsverschiedenheit darüber, wie eine wissenschaftliche Methode richtig funktionieren soll, noch verstärkt.

1. Langue/Sprache/Rede Die Übersetzung birgt ihre eigenen Schwierigkeiten. Ein grundlegendes Problem ist zum Beispiel die Tatsache, daß das Deutsche die französischen Termini langue

XXII und langage nicht unterscheidet, sondern beide unter Sprache zusammenfaßt. In unserer Fassung wurde langage mit Sprache übersetzt, und Langue wurde als technisches Lehnwort übernommen. Damit versuchen wir, die mit der traditionellen Terminologie verbundenen Konnotationen zu vermeiden (Das gilt auch für andere Guillaumesche Termini wie Signifikat und Signifikant.) Sprache ist das ganze Phänomen der Sprache, das sowohl die menschliche Sprache, Sprachsysteme, den Gebrauch der Sprache, die geschriebene Sprache, also jede Sprache einschließt. Sie ist offen, unbegrenzt und deshalb unergründbar, wie Saussure sagte: »...le tout du langage est inconnaissable«. Unter Langue verstehen wir mit Guillaume den systematischen Teil der Sprache, während wir discours - für Guillaume jegliche kohärente, artikulierte Sprache - mit Rede übersetzt haben. Diese grundlegende Unterscheidung von Guillaumes Langue und Rede ist sehr wichtig für das Verständnis seiner Theorie. Langue ist das System und Rede, das von der Anwendung und Ausnutzung des Systems Hervorgebrachte. Dabei handelt es sich um eine äußerst originelle Weise, ein prozeßartiges Modell aus der rein statischen Dichotomie Saussures zu entwickeln: Saussure verbindet beide anhand des Sprechakts, der seine eigene Zeit beinhaltet, wie in der folgenden Abbildung deutlich wird: Langue als Tätigkeit

Rede als Tätigkeit

Langue als Ganzes

Sprechakt Operativzeit

frRede als Ganzes

Abbildung 1

Da diese grundlegenden Begriffe schon häufig Verwirrung stifteten, soll eine konkrete Analogie bei der Klärung dieser Termini im Sinne Guillaumes behilflich sein. Dazu verwenden wir einen Kinderbaukasten (Meccano, Erector oder Lego) als Analogie für die Langue und die Gebilde (Häuser, Lastwagen, Brücken), die das Kind mit den Bausteinen konstruiert, als Analogie für die Rede, wie in Abbildung 2 gezeigt wird (die unmittelbar mit Abbildung 1 verglichen werden kann). Wahl aus dem

Einbau eines

Baukasten

Teils in das Modell

Abbildung 2

XXIII Diese Analogie zeigt, daß die Langue kein »Set« von Sätzen ist, sondern ein »Set« von paradigmatisch aufeinander bezogenen Teilen, die syntagmatisch in bedeutungsgebender Weise zu einer unendlichen Verschiedenheit von Sätzen zusammengebaut werden können. Ähnliche Ansichten findet man jedoch ohne die ausdrückliche Operativität bei Hjelmslev und Jakobson (letzterer unterscheidet zum Beispiel die paradigmatische von der syntagmatischen Achse der Sprache). Die Analogie illustriert auch die Bedeutung der Gedanken Saussures, als er sagte, der Satz gehört zur Parole und nicht zur Langue (Cours de linguistique générale 172). Das ist ein grundlegend anderer Standpunkt als der der Sprachwissenschaftler, die Sprache als ein »Set« von Sätzen definieren.

2. Semiologie/Psycho-Systematik/Psychomechanik Der Begriff sémiologie wird von Guillaume nicht im Saussureschen Sinne »einer semiotischen Wissenschaft« benutzt, sondern mehr Hjelmslevs Begriff des Ausdrucks entsprechend. (Denn für Hjelmslev steht Inhall eher dem Saussureschen Signifikat näher und ist daher Bedeutung; Ausdruck steht dem Saussureschen Signifikanten näher und ist daher das morphosyntaktische Mittel zur Übertragung des Inhalts). Da Guillaume den Terminus expression in seinem eigenen technischen Sinne gebraucht (siehe zum Beispiel Teil IV), konnten Hjelmslevs weit bekanntere Termini hier nicht benutzt werden. Deshalb haben wir den Begriff Semiologie verwendet, um sémiologie zu übersetzen. Mit diesem Begriff meinen wir »die Totalität der Zeichen (Saussures Signifikanten), die eine Sprache gebraucht.« Für Guillaume sind die grammatischen Systeme einer gegebenen Langue Inhaltssysteme, Systeme mit bedeutungsvollen Unterschieden, die die Semiologie mit ihren Unregelmäßigkeiten nur unvollständig wiedergibt. Dieser Standpunkt (der dem Hjelmslevs und Jakobsons entspricht), wird ausführlich in Teil III behandelt: Das Studium und die Analyse der Inhaltssysteme fällt in den Bereich der PsychoSystematik, weil sie notwendigerweise geistige Entitäten darstellen. Das Präfix Psycho- gebraucht Guillaume, um geistige Elemente zu identifizieren. Das Studium und die Analyse der mechanischen Prozesse des Sprechakts wie die Wahl der Lexeme, die Grammatikalisierung der Lexeme, das Funktionieren der Systeme und dergleichen werden unter dem Begriff Psychomechanik zusammengefaßt.

3. Synapse Guillaume verwendet den Terminus Synapse für einen motivierten Synkretismus, das heißt für zwei oder mehrere verschiedenartige, doch in gewisser Weise ähnliche

XXIV Elemente, die die gleiche Morphologie besitzen (zum Beispiel der Dativ und der Ablativ Plural in den lateinischen Substantivdeklinationen oder deutsche Verbformen wie ichler lernte, die sowohl zum Ausdruck des Präteritums als auch des Konjunktivs II dienen).

4. Das Erfassen Es ist eine Binsenwahrheit, daß 1+1 genau genommen nicht 2 ist, weil 2 eine weitere unterschiedliche Einheit ist, ein neues Erfassen, das die zwei ursprünglichen Einheiten ersetzt (zum Beispiel 1+1), indem es sie zu einem neuen Ganzen verschmilzt. Erfassen ist daher ein geistiges Ergreifen eines neuen, integralen Ganzen. Der Begriff Erfassen ist wichtig: Die Tatsache, daß es Ableitungen gibt, beweist deutlich, es gibt Etappen im sprachlichen Konstruktionsprozeß und dieser Prozeß wird so weit durchgeführt, wie es für den gewünschten Ausdruck notwendig ist. Abhängig vom Punkt, an dem der Prozeß unterbrochen wird, entsteht eine neues Erfassen. Es gibt drei universelle Arten des Erfassens, die allen Sprachen gemein sind: die der Wurzel, der grundlegenden lexikalischen Idee, die des Wortes oder der Vokabel (wie andersartig die Wörter verschiedener Sprachen auch sein mögen), und die des Satzes.

5. Bezugspunkt/Bezogenes/Inzidenz Guillaumes Syntax ist im wesentlichen eine Dependenzgrammatik, aber einer anderen Art als Tesnieres. Während letzterer seine Dependenz auf das Verb und seine Valenzen stützt, sieht Guillaume Dependenz als eine Angelegenheit der Inzidenz, wobei das lexikalisch Bezogene, wenn es seinen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst in einem anderen Element findet, eine syntaktische Beziehung gründet. So findet zum Beispiel gut in guter Wein seinen Bezugspunkt, seine Stütze, in Wein und schafft damit eine Beziehung externer Inzidenz ersten Grades. Ebenso findet sehr in sehr guter Wein seinen Bezugspunkt in guter und schafft somit eine Beziehung externa- Inzidenz zweiten Grades. Darin besteht die normale Rolle eines Adverbs im Satz. Den Keim zu dieser Idee, die jedoch nicht in diesem Sinne entwickelt wurde, kann man in Jespersens Unterscheidung von primary, secondary, tertiary words finden. (Im Sinne Guillaumes hat Jespersens secondary word externe Inzidenz ersten Grades und sein tertiary externe Inzidenz zweiten Grades.) Jespersens primary word, das den Grundpfeiler jedes derartigen Systems darstellt (von dem alle anderen abhängig sind), ist das Substantiv. Für Guillaume ist die Inzidenz des Substantivs nicht mehr extern, sondern intern (siehe Teil V), ein Merkmal, das dem Substantiv syntaktische Unabhängigkeit verleiht und ihm erlaubt, Bezugspunkt anderer (sekundärer) Elemente zu werden.

Vorwort

D i e Wissenschaft gründet sich auf die Intuition, daß die Erscheinungswelt von Verborgenem spricht, dessen Bild sie ist, das ihr jedoch nicht ähnelt. Eine Intuition: die scheinbare Unordnung der linguistischen Fakten birgt eine geheime, verborgene und wunderbare Ordnung - das Wort stammt nicht von mir: es ist von dem großen Meillet, der schrieb: »Die Sprache bildet ein System, in dem alles zusammenpaßt und das einen Plan von wunderbarer Genauigkeit hat«. Diese Einsicht war und ist immer der Leitgedanke der hier vorgenommenen Studien. Der Gegenstand meiner Forschungen: das System der Langue und den Plan ihrer Architektur zu entdecken. Ich lehre hier seit 1938 und die Hörer, die meinen Vorlesungen seit ihren Anfängen folgen, wissen, wie langwierig die Entdeckung dieser Architektur war und welche Mittel der Beobachtung und Analyse dazu ins Feld geführt werden mußten. Sie wissen von unseren lastenden Versuchen an Tagen, da nichts gelingen wollte - und solche gab es - und von dem gewissenhaften allmählichen Fortschreiten unserer Analyse an erfolgreicheren Tagen. In diesem Zusammenhang muß ich meinen ehemaligen Studenten für die Geduld danken, mit der sie mir gefolgt sind, als meine Anstrengungen nichts als ein blindes Tasten im dichten Nebel der Forschung war: Die ergiebigen Entdeckungen der guten Tage haben ihre Geduld belohnt. Auf die Dauer haben die Höhen und Tiefen meiner Forschung viel Klarheit gebracht, und die Tage liegen weit hinter mir, als ich nur vage, aber mit intuitiver Überzeugung wahrnahm, daß die Langue ein System ist, ohne zu wissen, wie das System von innen aussieht. Und es wäre eine recht lange, obgleich nicht sehr ruhmreiche Geschichte, wenn ich von meinen gelungenen und mißlungenen Anstrengungen auf dem Weg zur Entdeckung des Systeminneren berichtete. Die Idee und die Einsicht, daß die Langue ein System von Systemen ist, stellte sich sehr früh ein. Daraus ergab sich für meine Untersuchung eine gewisse Freiheit. Denn, indem ich vorübergehend die Idee eines allumfassenden integrierenden Systems beiseite ließ, konzentrierte ich mich auf bestimmte Subsysteme, deren semiologische Hülle einen sichtbaren Beweis ihrer Existenz erbrachten. Seltsamerweise und doch aus tiefgehenden Gründen, die ich nicht sofort erkannte, habe ich meine Aufmerksamkeit zuerst dem Artikelsystem gewidmet. Und wenn ich dabei an meine ersten Forschungen denke, erscheint mir das Wort System unpassend. Es war weniger das System als das Problem des Artikels, das mich beschäftigte.

2 Zunächst nahm ich an, und mit Recht - das Kompliment mache ich mir selbst - , daß das späte und innerhalb verschiedener Sprachen unabhängige Auftreten des Artikels die Lösung für ein latentes Problem darstellte. Das war wirklich keine besondere Erkenntnis, aber sie war nützlich, ja sogar unschätzbar. Und was habe ich hinter der Patentlösung, wie sie die Langue zutage legte, entdeckt? Das explizit dargelegte Problem. Wenn ich mir 36 Jahre danach das Buch anschaue, das ich damals geschrieben habe - es ist noch immer aktuell - , sehe ich darin hauptsächlich eine explizite Darlegung des Artikelproblems. Das Artikelproblem in seiner Uberwältigenden Banalität ist im wesentlichen folgendes: Unter dem Aktuellen verbirgt sich etwas Potentielles; deshalb existiert - wenn wir dem notwendigen Ablauf der hier betroffenen Banalitäten folgen - ein Element der Langue wie das Substantiv zunächst als Potentielles, bevor es als Aktuelles vorhanden ist. Auf diese Weise transportiert es der Sprecher in dem Moment, wenn er denkt oder spricht, vom Potentiellen zum Aktuellen. Dieser Transport bedeutet für den Sprecher notwendigerweise eine Übergangsoperation, und das Problem liegt darin, daß ihre Durchführung gelingen muß. Da sie notwendig ist, gelingt die Operation immer, aber um die Mittel hierfür herauszukristallisieren, hat es lange gebraucht. Lange Zeit waren die Mittel zum Gelingen dieser Operation linguistischen Kategorien überlassen, die schon mit anderen Funktional wie der des Numerus, des Kasus und des Genus belastet waren, wobei Numerus die Hauptrolle spielte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt entledigten sich diese Kategorien dann der Funktion, die für den Übergang des potentiellen Nomens zum aktualisierten Nomen verantwortlich ist. Konsequenz dieser Entledigung war die Entstehung der Artikelkategorie. Mein Buch über den Artikel, Le problème de l'article et sa solution dans la langue française, erlaubt keinen klaren Einblick in die Operation der Entledigung. Diese Einsicht ist mir erst viel später gekommen, als ich, mehr im Rahmen einer Systematik als einer Problematik der Sprache, dazu gebracht wurde, die jeweilige Position der beiden Kategorien, des Numerus und des Artikels, zu suchen und zu zeigen, daß letztere denselben Mechanismus reproduziert wie die erste. In diesem Moment ist mir schließlich klar geworden, was das Artikelsystem ist. Ich halte es für wichtig, zwischen diesen beiden Momenten der Entdeckung zu unterscheiden. Der erstgenannte gehört eher einer Problematik als einer PsychoSystematik der Sprache an. Die Problematik ist die folgende: Der Artikel existiert, er entsteht unabhängig in verschiedenen Sprachen - , ohne übernommen zu werden. Er ist deshalb eine Lösung zu einem Problem. Zu welchem Problem? Wie ich schon sagte, existiert das Substantiv im Geist des Sprechers als etwas Potentielles, bevor es als etwas Aktuelles vorhanden ist. Im übrigen beinhaltet diese besondere Problematik die schwierige Beziehung zwischen Langue und Rede. Die Langue existiert in uns als permanente Grundlage vor jedem Ausdrucksakt. Wenn ich rede, wenn ich mich ausdrücke, geschieht es

3 von der Langue aus; meine Worte, meine Rede, sind von Natur aus dem Augenblick verpflichtet; andererseits gehört die Langue in mir nicht dem Augenblick, sondern dem Permanenten an. Der Langue/Rede-Übergang ist deshalb ein generelles Problem, und das von mir erläuterte Artikelproblem ist lediglich ein besonderer Fall, der das Generelle treffend illustriert. Meine Hörer vergangener Jahre wissen von meinen Studien über das Problem des Übergangs von der Langue zur Rede, und so kann ich an ihre Erinnerung hinsichtlich dieses Themas appellieren. Ein großer Teil meiner Forschung konzentrierte sich auf das Gebiet jenes Übergangsphänomens, durch das die Rede aus der Langue erzeugt wird. Einige Jahre später, vielleicht nachdem sie mein Buch gelesen hatten, erkannten Kollegen die Wichtigkeit des Problems und sahen in der Totalität der Redeakte eine Aktualisierung dessen, was die Langue bereitstellt. Das Wort Aktualisierung wurde von mir vorgeschlagen und ständig verwendet, lange bevor Bally es aufgriff. Und nirgendwo ist die für die Produktion der Rede notwendige Aktualisierung der Langue besser erklärt und dargestellt als in meinem Werk über den Artikel. So war der Bereich meiner Studien lange Zeit der einer Problematik. Alles, was sich in der Rede abspielt, entspringt Problemen, die von der Langue aufgeworfen werden, ihrer Virtualität. Ohne mir dessen ganz bewußt zu sein, kam die Zeit (geleitet von wissenschaftlicher Intuition, die etwas Geheimnisvolles hat), wo ich die Problematik zugunsten der Systematik beiseite ließ und die Dinge von einem anderen Blickwinkel aus betrachtete. Nun galt es, nicht länger den Langue/RedeÜbergang zu untersuchen, sondern zu erkennen, was sich in der Langue bereits verwurzelt hatte; von einer Untersuchung der augenblicklichen Redewirkung, die der nicht-augenblicklichen, permanenten, vorkonstruierten Langue entstammt, konzentrierte ich mich auf die Wirkung des Geistes bei der Konstruktion der Langue selbst. Alle meine Studien der letzten Jahre hatten dieses Ziel. Anstelle der die Rede aufbauenden Ausdrucksakte untersuchte ich die die Langue aufbauenden Repräsentationsakte. Dieser Wechsel in meinem Forschungsstandpunkt vollzog sich etwa 1928. Temps et Verbe aus dem Jahre 1930, das den Beginn meiner Arbeit an den Repräsentationsakten darstellt, handelt von einem sehr aufschlußreichen Repräsentationsakt, von der Repräsentation der Zeit. Das Repräsentationssystem kann semiologisch durch die Konjugation des Verbs erkannt werden und stellt nichts anderes dar als die aufeinanderfolgenden Momente dieses bemerkenswerten Repräsentationsaktes. In Temps et Verbe findet sich bereits die Idee, daß die Zeit sich räumlich auf n Dimensionen aufbaut: Sie hat Tiefe, die von der Aufeinanderfolge der Modi repräsentiert wird, auch Breite und Höhe, die sich im Tempussystem manifestieren. In der Monographie gibt es eine Darstellung dieser Konstruktion der Zeit nach einem räumlichen Modell. Aber erst später, in meinem Unterricht, habe ich das Prinzip eingeführt, daß die Zeit selbst nicht darstellbar ist, und daß sich ihre

4 Repräsentation, sofern sie gegeben ist, auf räumliche Mittel gründet. Dementsprechend ist die Repräsentation der Zeit, in meinem Werk Chronogenese und Chronothese genannt - wobei letztere ein Querschnitt der vorgenannten darstellt - in der Tat eine Verräumlichung der Zeit. Es handelt sich hier um einen Prozeß, den der menschliche Geist in sich selbst durchfuhren oder nicht durchführen kann. Und da, wo er nicht durchgeführt wird, hat die von sich aus nicht darstellbare Zeit keine Repräsentation. Ich wiederhole, sie hat keine Repräsentation. Das heißt nicht, daß sie keine Existenz im menschlichen Denken hat, sondern daß sie lediglich als Erfahrung in unserem Geist existiert. Es ist folgendermaßen formuliert worden: Der menschliche Geist ist so geschaffen, daß er die Erfahrung der Zeit besitzt, jedoch keine Repräsentation von ihr (deshalb muß er diese Repräsentation, die eine Verräumlichung ist, erfinden, weil die Darstellbarkeit ausschließlich eine Eigenschaft des Raumes ist). Die Gründe dafür, daß die Darstellbarkeit dem Raum angehört, sind später erforscht worden; dieser Teil unserer Lehre ist unveröffentlicht. In meinem Buch L'architectonique du temps dans les langues classiques, das in Kopenhagen erschienen ist, wird die Verräumlichung der Zeit in den klassischen Sprachen, im Lateinischen und Altgriechischen, untersucht. Und diese Untersuchung ist viel gelungener als die in Temps et Verbe, obwohl beide Werke grundsätzlich übereinstimmen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß in Temps ei Verbe erkannt wurde, daß die Zeit wie der Raum auf n Dimensionen konstruiert wird, während in V architectonique du temps erläutert wird, wie die von sich selbst aus nicht darstellbare Zeit die Mittel der Repräsentation des Raumes übernimmt und in eine räumliche Repräsentation gekleidet ist, ohne die wir die Zeil nur als Erfahrung und demzufolge nicht eigentlich kennen würden. An diesem Punkt meiner Forschungsfortschritte wurde mir klar, daß die Langue entsteht durch die Umwandlung der Erfahrung, von der sich der Geist zu entfernen versucht, in eine Repräsentation, innerhalb derer sich der Geist einrichtet. Es kommt der Moment, wo die Erfahrung des Raumes bereits zur Repräsentation befördert worden ist, während die Zeit diese Beförderung noch nicht durchschritten hat. In solchen Sprachen ist die Zeit nicht repräsentiert, was bedeutet, daß sie nicht verräumlicht ist. Diese Sprachen haben keine Chronogenese und keine Konjugation. Ich habe die Verräumlichung der Zeit lange studiert, und ich konnte den Mechanismus darstellen, der allgemein betrachtet kein einfacher, sondern ein vielfacher ist. Es gibt eine dreigliedrige Verräumlichung der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) wie im Altgriechischen, im Lateinischen, in den romanischen Sprachen, und eine zweigliedrige Verräumlichung wie die der germanischen Sprachen (Vergangenheit/dehnbare Gegenwart). In meinen Werken habe ich die dreigliedrige Verräumlichung beschrieben und die zweigliedrige ein wenig vernachlässigt. Das liegt daran, daß ich erst kürzlich erkannte, woher der Unterschied stammt. In diesem Jahr werde ich Gelegenheit haben, darüber zu sprechen und zu zeigen, daß die Repräsentation der Zeit nur

5 deshalb eine andere ist, weil sich die Repräsentation des Raumes von ihr unterscheidet. Das Prinzip könnte folgendermaßen lauten: Entsprechend einer gewissen Repräsentation des Raumes, unserer Erfahrung des Raumes, sagen wir »A«, gibt es eine Repräsentation der Zeit, »A«, und entsprechend einer anderen Repräsentation des Raumes, »B«, gibt es eine Repräsentation der Zeit, »BV Die Beweisführung hierfür wird in einem neuen Beitrag zur Psycho-Systematik der Sprache erbracht werden. In den slawischen Sprachen wurde die Zeit auf originelle Art und Weise verräumlicht: sie haben die gleiche zweigliedrige Repräsentation wie die germanischen Sprachen, jedoch mit folgendem Unterschied: die Mittel der Verräumlichung der Zeit, in der sich das Verb befindet, sind von der Verräumlichung derZeit innerhalb des Verbs übernommen. Eine Abbildung wird helfen, die Ideen zu klären:

enthaltende Z e i t

A

enthaltene Zeit

B

enthaltende Zeit

Verb

Die Verräumlichung der Zeit im Verb, die Verräumlichung der enthaltenen Zeit, hilft bei der Verräumlichung der Zeit außerhalb des Verbs, der enthaltenden Zeit. Wie die germanischen Sprachen haben die slawischen Sprachen nur zwei Zeitstufen, die Vergangenheil und die dehnbare Gegenwart (Präsens), aber sie entwickelten ein Futurum, ohne auf ein Hilfsverb zurückzugreifen (es gibt keine Flexion des Futurums), indem sie Mittel von der Repräsentation des Aspekts, der Repräsentation der im Verb enthaltenen Zeit, der im Geschehen implizierten Zeit, übernommen haben. Manchmal habe ich die Zeitspanne bedauert, die ich in meiner linguistischen Laufbahn auf das Studium der Repräsentation der Zeit verwandt habe, zudem ich dabei das bedeutungsvollere Studium der allgemeinen Bedingungen für die Bestimmung der Systeme vernachlässigt habe. Damit begann ich erst, als ich entdeckte, daß sowohl die Numerus- und Artikelsysteme als auch die binäre Repräsentation des Universums (Raum-Universum/Zeit-Universum) - die Grundlage der Redeteile - sich auf den gleichen inneren Bildungsmechanismus gründen. Und das hat mich auf eine inzwischen hinreichend überprüfte Idee gebracht: Die Langue ist ein allumfassendes System zur Erfassung alles Denkbaren, ein System, das engere, verschiedenartig begrenzte Systeme in sich integriert, die alle dieselbe generelle Form wiederholen. Momentan beruhen meine Untersuchungen auf dieser

6 Einsicht: Die Langue ist ein allumfassendes System, dessen Inneres, hinsichtlich der generellen Formen, eine Wiederholung seines selbst ist. Unter der Langue verstehe ich daher ein System von Systemen, wobei sicher ist: Das allgemeine enthaltende System und die weniger allgemeinen, enthaltenen Systeme unterscheiden sich nicht in ihrer generellen Form; ihr Unterschied besteht in der Substanz oder den Grenzen. Schon im letzten Jahr habe ich die gesamte Psycho-Systematik der Langue von diesem Standpunkt aus umrissen, und die diesjährigen Untersuchungen werden sich in derselben Richtung fortsetzen. Die Studien haben mich erkennen lassen, in welchem Maße das integrierende System der Langue und seine integrierten Systeme voneinander abhängig sind. In diesem Moment beende ich ein Buch, das erhellt, wie sich die verschiedenen untereinander vernetzten und integrierten Systeme im allumfassenden System der Langue abgegrenzt und herauskristallisiert haben. Daß die Langue als Ganzes der Ursprung ihrer konstitutiven Teile ist, war einer der Leitgedanken, der mich zum Schreiben des Buches veranlaßte. Zuerst existierte das chaotische, nicht organisierte Ganze, und die Entwicklungsphase bestand darin, zu trennen, zu unterscheiden, zu organisieren und progressiv die Organisationsstruktur sichtbar werden zu lassen. Dies verleiht der Linguistik den Charakter einer unterscheidenden Wissenschaft, einer Wissenschaft, die mit Kontrasten arbeitet. »Man kann nur in Kontrasten denken«, das Prinzip werde ich dieses Jahr in meinen Untersuchungen häufig anwenden. Im Besonderen werden wir zeigen, daß der äußerste Kontrast jener von Raum und Zeit ist. Er ist entstanden, um das Denken möglich zu machen, wenn der Geist bei der Rückkehr zu seinem Ursprung an dieser Stelle den nicht denkbaren Nicht-Kontrast antrifft. Anhand dieses äußersten Kontrastes wird auch der Nicht-Kontrast der Repräsentation eines leeren Universums vermieden. Zum Schluß möchte ich meinen Hörem versichern, daß es nichts Diffuses in meinen Arbeiten gibt, keine tief versteckten, vagen Eindrücke, die einem zur Metaphysik tendierenden Geist entsprechen, einem Geist, der sich gern im Nebel der Metaphysik verliert. Eher handelt es sich um die Entdeckung der Realität - der wirklichen Realität - , die sich hinter der Realität der Erscheinungen verbirgt und deren Erscheinungen lediglich die äußere Hülle sind. Meine Studien besitzen eine strenge Schönheit, die eine größere Hörerzahl anziehen sollten, als sie es bisher vermocht haben. Das Interesse an diesen Studien ist nicht weit verbreitet, nicht weil sie etwa kritisiert worden wären, sondern weil sie nicht kritisiert worden sind, und das hat einen triftigen Grund: Niemand kann sie ehrlich kritisieren, ohne zunächst der rigorosen, schrittweise durchgeführten Demonstration gefolgt zu sein. Doch leider will man sich dieser Mühe nicht unterziehen. Wenn der Tag kommt, an dem sich viele Denker, die der Aufgabe gewachsen und analytisch begabt sind, der Korrektur schon getaner Arbeit widmen, wird die Linguistik eine Zukunft erblicken, deren Größe - ich bin so kühn, es zu sagen - bis jetzt nur teilweise und von sehr wenigen flüchtig wahrgenommen

7 wurde. Theoretiker wie ich bergen die Schwierigkeit, daß man die geordnete Reihenfolge der voraussetzenden Bedingungen der Sprachstruktur Schritt für Schritt mit mir zurückverfolgen muß, um meine Arbeit richtig zu verstehen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: entweder meine neuen Hörer - und das werden sie am besten selbst wissen - interessieren sich nur für die direkt beobachtbare Seite der Sprache; in diesem Fall langweile ich sie mit Dingen, auf die sie nicht neugierig und an denen sie folglich nicht interessiert sind (was mich in eine unangenehme Lage bringt); oder im Gegenteil, sie interessieren sich wirklich für das, was sich unter der Oberfläche dieses sprachlichen Äußeren verbirgt, und fragen sich, welcher Mechanismus - der des menschlichen Verstehens - sich in diesem Äußeren widerspiegelt; wenn das der Fall ist, dann werden die Untersuchungen, die wir an dieser Stelle gemeinsam beginnen, deren Aufmerksamkeit auf immer fesseln. Deshalb sollte sich jeder, ehe er mir einen Teil seiner Zeit einräumt, ganz ehrlich fragen, worin seine wirkliche Neugier besteht. Die Neugierigsten werden die Freunde von morgen sein. (Einführungsvorlesung des Vorlesungsjahres 1952-1953)

Teil I: Problematik einer Sprachwissenschaft

1. Die Stellung der Linguistik unter den Wissenschaften

1.1. Der Gegenstand der Linguistik Die abstrakteste Mathematik liefert dem Menschen Hilfen zur besseren Erkenntnis. Die fortgeschrittenste Linguistik kann ihm lediglich Erkenntnishilfen geben, die ihm bereits zur Verfügung stehen und die er nicht besser anwenden würde, wenn er sie kennte. Die Linguistik - die wissenschaftliche Untersuchung der Grammatik - verleiht dem Menschen keine neuen Kräfte. Sie erlaubt ihm lediglich, den Zustand und die Natur der geistigen Kraft besser zu verstehen, die er zu einer bestimmten Zeit besitzt, ohne daß dadurch diese Kraft im geringsten erhöht wird. Kurz gesagt, Linguist zu sein ist ohne Nutzen. Die Linguistik ist von allen Wissenschaften die unpragmatischste. Andererseits ist gerade sie es, die am ehesten zur Erkenntnis der Mittel führt, durch die es unserem Geist gelingt, seine eigenen Operationen zu erfassen. Aber, und ich wiederhole es noch einmal: Die Erkenntnis und die Unterscheidung dieser Mittel verbessert weder unsere Denkfähigkeit noch unsere Ausdrucksfähigkeit. Die Mittel, die die Langue uns zu diesem Zweck anbietet, sind nicht leichter anwendbar, weil wir sie kennen. Die Mühe, die wir uns geben, um sie zu entdecken, ist im Grunde nutzlos, da der Geist durch sie keine neuen Fähigkeiten gewinnt. Das einzige Ergebnis ist ein Verstehen der Mechanismen, anhand derer sich der Geist selbst erfassen kann. Dabei muß hervorgehoben werden, daß diese Mechanismen selbst nicht direkt beobachtbar sind, sondern nur durch die Langue, den einzigen Zeugen der Tätigkeit des Geistes, zum Ausdruck kommen. Die Literatur als Ganzes ist ein Denkmal, das durch die Kraft des Denkens errichtet wurde. Aus dieser Tätigkeit resultieren die literarischen Werke. Was die Kraft des Denkens selbst betrifft, das heißt die Fähigkeit des Geistes, die eigenen Bewegungen in sich zu erfassen, so ist die Langue der einzige Zeuge, der davon Zeugnis ablegt. Andere gibt es nicht. Und andere kann es nicht geben. Gerade das verleiht der Linguistik ihre spezielle Stellung in der Hierarchie der Wissenschaften. Sie ist eine Wissenschaft, deren Gegenstand ein ganz besonderer ist, weil er mit nichts auf der Welt vergleichbar ist. (Vorlesung vom 13. Januar 1944, Reihe A)

10 1.2. Logik und Linguistik Ich muß jetzt eine Frage beantworten, die mir ein Student gestellt hat, einer meiner liebenswürdigsten Quälgeister. Er will von mir wissen, welcher Unterschied zwischen Kohärenz und Logik besteht. Kohärenz ist in meiner Lehre über die Sprache eine anerkannte Eigenschaft; Logik dagegen ist eine Eigenschaft, die ich so gut wie nie in meinem Unterricht erwähne und meistens nur in so eingeschränkter Weise, daß praktisch die Logik auf die Kohärenz reduziert wird. Nur in einem bestimmten Fall habe ich von konstruktiver Logik gesprochen. Im Grunde ist die konstruktive Logik aber nichts anderes als der Zugang zur Kohärenz. Der Zuhörer, der mir in einem privaten Gespräch über Logik und Kohärenz Fragen stellte, glaubte erkannt zu haben, daß ich in meinem Unterricht die zunehmende Tendenz habe, die Endung -logie zu vermeiden, die ich mit Vorliebe durch die Endung -génie ersetze. Früher habe ich, wie jedermann, von Morphologie oder Ontologie der Sprache geredet. Heute spreche ich öfters, und das scheint mir angemessener, von Morphogénie und Ontogénie. Für mich bringt -logie eine implizite Referenz zur Logik mit sich, -génie jedoch ausschließlich eine implizite Referenz zur Kohärenz. Nun muß noch erklärt werden, welchen Unterschied ich zwischen Logik und Kohärenz sehe. Um jegliches Mißverständnis zu vermeiden, sei vorweggenommen, daß der Linguist sich nur für die Kohärenz der Sprache zu interessieren braucht; ihre Logik ist Sache des Philosophen. Der Linguist verfolgt den fortlaufenden kohärenten Entstehungsprozeß der Sprache, den er nie aus den Augen verliert. Die Geradlinigkeit der Logik spielt in seinen Untersuchungen eine geringe Rolle. Der Linguist ist ein kleiner Mann neben dem sehr großen Philosophen. Der Linguist befaßt sich mit den Ursachen der Dinge, wie sie in ihrer fortlaufenden, schrittweisen Entstehung zum Vorschein kommen. Gegenstand der Philosophie ist es, die Voraussetzungen der höchsten, nicht zu überbietenden Geradlinigkeit für diesen schrittweise fortlaufenden Prozeß zu entdecken. Logik ist die imaginäre Handhabe der Dinge, die Unebenheiten und Hindernisse nicht in Kauf zu nehmen braucht, welche die Dinge mit sich bringen, eben weil sie Dinge sind. In diesem Zusammenhang möchte ich Leibniz zitieren: »Die Dinge hindern einander, die Ideen nicht«. Daß die Dinge einander im Wege stehen, verhindert nicht, daß sie in der Vorstellung ordnungsgemäß behandelt werden können: Das ist eben Kohärenz. Daß die Ideen einander nicht im Wege stehen, erlaubt eine ordnungsgemäße Behandlung, wobei die Unebenheiten des Weges keine Rolle spielen. Alles wird vom Anfang bis zum Ende gemäß der besten Ökonomie behandelt. Um sich nicht dem üblichen Verbalismus auszusetzen, könnte man behaupten, daß Logik die Idee oder das Imaginäre der Geradlinigkeit ist. Keine Unebenheiten auf dem Weg zwischen Paris und Rom, keine Umwege, keine Abstecher, kein Umfahren der Hindemisse: die Reise geradeaus, die keine Abwechslung bietet. Logik: die Einfachheit, wie sie der Geist sich vorstellt. Ich

11 habe keine Ahnung, wie die Sprache genau aussehen würde, wenn sie nach diesem Muster gebaut wäre. Ich kann es nicht wissen, weil es so etwas eben nicht gibt. Dagegen weiß ich, daß die beobachtbare Sprache nicht diesem Muster folgt. Sie folgt dem Muster der Kohärenz, indem sie bei den Unebenheiten des Weges geistige, mündliche und schriftliche Fehlleistungen in Kauf nimmt. Die Kohärenz geht schrittweise ihren Weg; um vorwärts zu kommen, nimmt sie das Gelände so wie es ist, auch mit seinen Umwegen in Kauf. Der Weg, der in Serpentinen zum Gipfel des Berges führt, ist kohärent: er ist nicht logisch, obwohl er seine eigene Logik besitzt.1 Der logische Weg verliefe nicht in Serpentinen. Er kann in seiner gegebenen Geradlinigkeit nur eine Vorstellung sein. Der logische Weg existiert als solcher in der Vorstellung, und der Serpentinenweg verhält sich so, wie der logische Weg es täte, wenn es ihn wirklich gäbe. Nachdem man ein Stück kurvenreichen Weges in der Entwicklung der Sprache zurückgelegt hat und dabei die Dinge und ihre Hindernisse umgangen hat, kann man ihn dann stets als gerade betrachten. Und man kann erklären, daß man den Weg der Kohärenz eingeschlagen hat, selbst wenn dieser auf den Weg der Logik reduziert worden ist, dem man im Grunde nicht gefolgt ist. Letztlich ist das Ergebnis das gleiche, als wenn man den Weg der Logik eingeschlagen hätte.2 Die Dinge hindern einander, die Ideen nicht. Wenn man etwas verdinglicht, verfügt man nur über die Wege der Kohärenz; wenn man, ohne zu verdinglichen, »verideelicht«, dann hat man die Wege der Logik vor sich. Logik fordert den geraden Weg. Kohärenz fordert ein ordnungsgemäßes Vorwärtsgehen, das unabhängig von diesem geraden Weg ist, wo es keine Behinderung durch die Dinge mehr geben würde - was ohnehin nicht möglich ist. Ich muß mich bei meinen Zuhörern entschuldigen, daß ich mit diesen Überlegungen zum Bereich der Philosophie übergegangen bin und das Gebiet der Linguistik verlassen habe. Meine Erfolge als Linguist sind der Tatsache zu verdanken, daß ich mich immer auf die wirkliche Anordnung der Kohärenz konzentriert habe und nie die logische Ordnung in Betracht gezogen habe. (Vorlesung vom 6. Dezember 1956)

Am Rand: Man kann von einer Logik der Kohärenz sprechen; gemeint ist dann die Kohärenz als solche. Am Rand: Dieses »als wenn« muß die Theorie betonen: identisch in der Teleologie, unterschiedlich in der Entwicklung.

12 2. Die Untersuchungsmethode

2.1. Die Beobachtung der Emitäten der Langue Die Methode, die ich in der Linguistik generell, und in allen Angelegenheiten des Geistes empfehle, ist die genaue Beobachtung des Konkreten, die durch den Impuls des gründlichen Nachdenkens noch genauer wird. Ich bin der Meinung, daB nur durch die Zusammensetzung dieser zwei Fähigkeiten des Geistes - Beobachtung und Nachdenken - das Universum besser verstanden werden kann. Obwohl wir notwendigerweise ständig mit ihm in Kontakt sind, haben wir zugleich die unschätzbare Fähigkeit, uns von ihm zu lösen, damit wir es besser in uns sehen und es besser den Anforderungen unseres Verstandes zugängig machen, die schließlich die Grenzen des menschlichen Geistes bestimmen. Im Fall der Linguistik ist das Universum, mit dem man in Kontakt tritt, ein innerliches: das Universum des Denkbaren, das aus unseren Repräsentationen besteht. Diese Interiorität macht die Beobachtung um so schwieriger, denn es ist schwer, mit Genauigkeit das zu erfassen, was in der Tiefe unseres Geistes vorgeht. Größtenteils stammt die Schwierigkeit daher, daß wir immer zu spät kommen, wenn wir beobachten wollen. Wenn wir einen Sprechakt beobachten wollen, gelingt es uns erst, nachdem dieser Akt vorbei ist, was bedeutet, daß wir den Akt, den Prozeß selbst, nicht beobachtet haben, sondern bloß sein Ergebnis. Das reicht nicht aus. Die Beobachtung eines Sprechaktes ist ohnehin schon sehr schwierig, zum Beispiel die Konstruktion eines Satzes; sie wird noch schwieriger, wenn es sich nicht nur um ein Faktum der Sprache handelt, sondern auch um ein Faktum der Langue. Was im Augenblick der Anwendung zustandekommt, im allgemeinen willentlich, ist ein Faktum der Sprache.3 Dabei weiß man vielleicht nicht genau, was man alles zustandegebracht hat, aber man ist sich mindestens bewußt, wozu die geistige Tätigkeit gedient hat. Ein Faktum der Langue ist etwas ganz anderes, weil es eine andere Stellung im Geist hat; es stellt einen psychischen Prozeß dar, der in einem unbestimmten vergangenen Moment abgelaufen ist, an den wir uns überhaupt nicht erinnern. Wer könnte sagen, wann und durch welche Denkvorgänge er die Unterscheidung zwischen Verb und Nomen gelernt hat, wann er die Unterscheidung zwischen Artikel und Pronomen, die zwischen den verschiedenen Artikelformen oder verschiedenen Tempusformen gelernt hat? All das in der Vergangenheit Erworbene ist nicht geschaffen, sondern ererbt. Davon hat der Sprecher keine Erinnerung gespeichert; wie und wann es erworben wurde, davon bleibt im Geiste des Sprechers keine Spur. Er bleibt diesen Fakten gegenüber in vollkommener

3

G. Guillaume wird später Faktum der Sprache (fail de langage) durch Faktum der Rede (fait de discours) ersetzen.

13

Unwissenheit. Deshalb blieben die Fakten der Langue auf immer geheimnisvoll und undurchdringlich ohne folgenden Sachverhalt: In der Langue selbst, in der Kollokation und Anordnung der konstituierenden Entitäten finden wir sichtbare Spuren von jenen Vorgängen, die vor unermeßlichen Zeiten abgelaufen sind und denen die sprachlichen Entitäten ihre Existenz verdanken. So besteht eine der Aufgaben des Linguisten darin, durch Nachdenken das Zustandekommen dieser Entitäten der Langue zu erforschen, die in allen uns bekannten fortgeschrittenen Sprachen in Form von Wörtern auftreten. Die große Lehre der historischen Grammatik, die mehrere Generationen von Wissenschaftlern fasziniert hat, besagt, daß die Entitäten der Langue weder eine konstante Natur, noch eine konstante Form aufweisen: Denn sie sind einer Veränderung in der Zeit unterworfen. Und man muß zugeben, daß das Wissen um diese Veränderung von höchstem Interesse ist. Um diese Veränderung, um all ihre Elemente und ihre Wirksamkeit genau zu beobachten, muß man dennoch gelernt haben, eine Entität der Langue in einem gewissen Augenblick ihrer Existenz zu beobachten, unabhängig von dem, was sie vorher gewesen sein könnte und danach werden wird. Die Beobachtung der Entitäten der Langue ist, bezogen auf einen Augenblick in ihrer Existenz, eben das, woraus die deskriptive Grammatik besteht. Die genaue Beobachtung einer Entität der Langue ist kein leichtes Unterfangen, selbst wenn man sie auf einen einzigen Augenblick ihrer Existenz beschränkt, und diese Arbeit verlangt eine Lehrzeit; eben die durchleben wir jetzt gemeinsam.

(Vorlesung vom 27. Januar 1944, Reihe A)

2.2. Geistige Sichtbarkeit und Sagbarkeil Eine Charakteristik da - Psycho-Systematik besagt, daß man nur Fortschritte machen kann, wenn man mit Schemata arbeitet. Es war Leibniz' Rat, in Abbildern zu denken. Es stellt sich die Frage, warum das so ist. Bequemlichkeit lautet die Antwort darauf. Ein Abbild kann ein System von Verhältnissen besser als Worte sichtbar machen. Und sobald man annimmt, wie Saussure, daß die Sprache ein System bildet, ist der Gebrauch von Schemata wünschenswert. Aber so triftig dieser Grund auch sein mag, er ist nicht der einzige. Wenn man etwas tiefer in die Materie dringt, entdeckt man - und diese Entdeckung ist wichtig - , daß die Ökonomie der Sprache darin besteht, die Mechanismen in Sagbarkeit zu Ubersetzen, deren Sichtbarkeit wir schon in uns selbst haben. Gerade diese Übersetzung macht die Ökonomie der Sprache aus. Tief in uns ist die Struktur der Langue eine geistige Sichtbarkeit, die die Sprache in geistige Sagbarkeit übersetzt, indem sie nur das Notwendige und Ausreichende beibehält. Sie übersetzt sie zunächst in mündliche und schriftliche Sagbarkeit und dann in ein aktuelles, gesprochenes oder geschriebenes Sagen. Es gibt folgende Schritte:

14 geistige Sichtbarkeit

I I

geistige Sagbarkeit

mündliche oder sdiriftliche Sagbarkeit

I

aktuelles Sagen das Gesagte (abschließend) Um die geistige Sichtbarkeit kümmert sich der Sprecher nicht, ihm genügt die Sagbarkeit, sie allein interessiert ihn. Der Sprecher weiß also nicht, daß es am Anfang, vor der von ihm benützten Sagbarkeit, eine geistige Sichtbarkeit gibt, deren Ubersetzung die geistige Sagbarkeit ist. Und diese Übersetzung kann wiederum in die geistige Sichtbarkeit zurückübersetzt werden. Die von der Psychomechanik benutzten Schemata sind genau diese Übersetzung. Sie sind nicht bloß ein Kunstgriff der Analyse. Ich würde sogar sagen, sie bilden eine tiefe Wirklichkeit ab. Das Schema der Kategorie des Artikels im Französischen Tension 1 u,

Tension 2 ,s2

(der Artikel un)

• u2 (der Artikel le)

- ist exakt die Rückübersetzung der geistigen Sagbarkeit, über die die menschliche Sprache in Ursichtbarkeit verfügt. Die Sprache selbst stellt eine ökonomische Übersetzung der Ursichtbarkeit dar. So ergibt sich eine Reihenfolge der Prozesse. Ich sehe in mir selber - mit den Augen des Geistes - einen strukturellen Mechanismus, die Ursichtbarkeit. Um diesen Mechanismus in der Sprache zu gebrauchen, muß ich ihn in geistige Sagbarkeit übersetzen, und von da an in mündliche und schriftliche Sagbarkeit, dann schließlich in ein aktuell gesprochenes oder geschriebenes Sagen. Diese Übersetzungen sind das Werk des Sprechers, der stets den Weg der größten Ökonomie wählt. Das Werk des Wissenschaftlers, des analysierenden Linguisten - rara avis - ist die Reihe der Gegen-Übersetzungen. Der Strukturalist muß wissen, wie man die physische (mündliche oder schriftliche) Sagbarkeit in geistige Sagbarkeit und die geistige Sagbaikeit in anfangliche geistige Sichtbarkeit (ich suche eben ein Wort für den ersten Augenblick des Phänomens) übersetzt. Die Untersuchung, die ich in dieser Vorlesung durchführe - sie umfaßt die ganze Struktur der Sprache - , ist eine Rückübersetzung in Sichtbarkeit von der

15 Sagbarkeit, die in der Sprache durch eine Übersetzung der Ursichtbarkeit produziert wurde. Wir haben es hier mit der überaus wichtigen Opposition zwischen den Kräften der Verinnerlichung und der Veräußerlichung zu tun. Die erstgenannten führen zur Sichtbarkeit der geistigen Hauptprozesse zurück, die letzteren setzen die innere Sichtbarkeit in äußere Sagbarkeil um. Die wissenschaftliche Aufgabe der strukturellen Linguistik ist die Rückübersetzung der Sagbarkeit, dem einzigen, dessen sich der Sprecher bewußt ist, in Sichtbarkeit, deren er sich nicht bewußt ist, obwohl sie tief in ihm ihren Platz hat. Das entspricht genau unserer Vorgehensweise. Daher die Schemata, auf die wir in unserer Arbeit unmöglich verzichten können.

(Vorlesung vom 17. Januar 1957)

2.3. Die Intuition Über die Intuition: »Wir erfassen die Wahrheit nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen; mit dem Herzen lernen wir die Grundprinzipien kennen und vergeblich setzt sich der Verstand, der dabei keine Rolle spielt, diesen entgegen. Es sind die Kenntnisse des Herzens und des Instinkts, die der Verstand als Stütze, als Grundlage für seine Redeaklivitäten braucht«. Der moderne Wissenschaftler gibt nicht vor, zu verstehen, worin die Intuition besteht und unter welchen Bedingungen sie aktiv sein kann. Die Definitionen, die er davon gibt, bleiben meist negativ. Mathematische Wahrheiten, sagt er, seien weder Konsequenzen experimenteller Fakten, noch Ergebnisse logischer Konstruktionen und Schlußfolgerungen. Sie setzen also eine Art der Wahrnehmung voraus, die weder mit der Erfahrung der Sinne noch mit dem Verstand zu verwechseln ist. Wir sind uns manchmal bewußt, fügt der Wissenschaftler hinzu, daß wir diese Art der Wahrnehmung im Prozeß der Entdeckung gebrauchen und wir stellen fest, daß sie gar keine Ähnlichkeit mit demonstrativem Wissen hat. Indem wir uns die Mühe geben, diese Art der Wahrnehmung zu isolieren, gelingt es uns, einige ihrer Charakteristika herauszustellen; trotzdem müssen wir zugeben, daß diese Art der Wahrnehmung geheimnisvoll bleibt und der Mathematiker, indem er sie als wirklich betrachtet, dem Philosophen eher eine Frage stellt, als dabei ihm hilft, eine Antwort zu finden. Die Intuition: das ist das unvermeidliche Credo, das keiner Beweisführung bedarf. Ihre historische Veränderlichkeit hängt davon ab, wie weit der Mensch sich von seiner ursprünglichen Primitivität entfernt hat. Das unvermeidliche Credo von den aufeinanderfolgenden Generationen. Das Credo des sehr primitiven Menschen. Das Credo des modernen Wissenschaftlers. Die Unsicherheiten des Credos. Der Dichter würde sagen: Ariadne fehlt

16 mir und ich habe ihren Faden nicht. Und mein dunkler Hunger - dunkel wegen eines Übermaßes an Klarheit, die herabfällt - auf das Licht des Tages. Das Credo wird auf die menschlichen Werke projiziert: auf die Kunst, die Poesie, die Religionen und zuletzt - genauer betrachtet zuerst - auf die Sprache. Dieses unvermeidliche Credo, das meines Erachtens der menschlichen Intuition zugrunde liegt, prägt sich, besser als sonst irgendwo, in der menschlichen Sprache aus. Ich möchte gewiß nicht behaupten, daß ich das Geheimnis der Intuition aufklären kann. Trotzdem verftlge ich als Linguist, als Strukturalist, als PsychoSystematiker der Sprache, als Beobachter der Psycho-Semiologie, über die beste Voraussetzung, die man für die Untersuchung der Intuition und der feinen Mechanik haben kann, die wir instinktiv benutzen und die ich intuitioneile Mechanik nenne. Diese Mechanik ist der Operator der Struktur der Sprachen, welche eine treue Widerspiegelung ihrer Tätigkeit ist. Sämtliche Operationen der intuitionellen Mechanik erfolgen unbewußt. Unbewußtsein und Intuition gleichen sich in hohem Maße. Die Strukturen der Sprachen zeigen, daß die bezeugten Operationen wirksam sind und sie beweisen ohne Zweifel, daß es in uns Aktivitäten gibt, Uber die wir wiederum keine bewußte Kontrolle haben. Ihr Ziel ist nicht die Steigerung unserer Kenntnisse, wohl aber unserer Luzidität, ohne die der Erwerb des Wissens unmöglich wäre. Ich kann die Tatsache nicht übersehen, daß die Operationen der intuitionellen Mechanik im engen Zusammenhang mit dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb stehen. In diesem Fall handelt es sich um die menschliche Denkfähigkeit, die es selbst unter schlechtesten Bedingungen zu erhalten und zu schützen gilt. Ich sehe in der Intuition, in ihren Operationen motu proprio, die sich glücklicherweise in den Strukturen der Sprachen widerspiegeln, eine Folge von Operationen zum Erhalt der Denkfähigkeit, die gerade durch dieses Vorgehen des Geistes oft in Gefahr gerät. Denn der Geist pflegt sich sozusagen auf das zu stürzen, was ihn unter Kontrolle hielte, würden eben diese Schutzmaßnahmen nicht ständig gelingen. Etwas faszinierend Vielsagendes liegt in diesen Worten. Hier sieht man, wie der menschliche Geist dem eigenen Selbsterhaltungstrieb unterworfen ist, das heißt der Erhaltung seiner Luzidität. Nebenbei bemerkt ist es interessant, daß man zwischen Menschen unterscheiden kann, die viel wissen und Menschen, die eine sehr große Luzidität besitzen. Es kommt vor, daß einer beides hat, und das muß ein wahrer Segen sein; aber noch großartiger und wichtiger ist die Tatsache, daß ein mit kleinem Wissen ausgestatteter Mensch eine große Luzidität haben kann. Napoleon hat sich, als Denker, des öfteren mit dem Zusammentreffen von Wissen und Luzidität beschäftigt, und regelmäßig hat er letzterer eine größere Rolle als dem Wissen zugesprochen. Diese von ihm in allem gesuchte und über alles geschätzte höhere Luzidität nennt er in napoleonischem Stil das richtige Gefühl für die Dinge.

17

Der menschliche Geist läuft Gefahr, bei der Begegnung mit dem Unendlichen seine Luzidität zu verlieren. In diesem Augenblick muß er in sich, in extremis, sozusagen, eine Anastase, eine Wiederbelebung der schwindenden Luzidität hervorrufen. Der in dieser Hinsicht außerordentlich privilegierte Linguist kann die in die Struktur der Sprache eingeprägte Anastase wie ein beobachtbares Geschehen verfolgen. (Vorlesung vom 14. Februar 1957)

2.4. Arbeitshypothese

und Theorie

Koch kann man werden, als Küchenchef kommt man zur Welt. Ebenso kann man, nach meiner persönlichen Erfahrung, Historiker werden, aber man kommt als Theoretiker zur Welt. Ob gut oder schlecht, ich bin als Theoretiker geboren. Das Verlockende des Theoretisierens liegt für mich darin, daß es ein Sehen der Fakten durch ein Verstehen der Fakten ersetzt, welches zu einem Sehen höherer Ordnung führt, 4 zur Ordnung des Verstehens selbst. Für mich ist Verstehen ein minimales Theoretisieren. Ein maximales Verstehen ist eine gute Theorie.5 Eine Theorie, vielmehr jede Theorie, muß den Fakten entsprechen. Die Konfrontation mit den Fakten ist der kritische Augenblick für eine Theorie. Es genügt aber durchaus nicht, daß eine Theorie den Fakten entspricht, damit sie als richtig gilt. Denn eine Theorie kann aus den Fakten konstruiert werden, um sie zu erklären. Um dieselben Fakten zu erklären, kommt es vor, daß andere Theorien konstruiert werden, deren Unterschiede zuweilen so unvereinbar sind, daß sie einander ausschließen. Eine Theorie aus den Fakten zu konstruieren, um die Fakten zu erklären, bedeutet einerseits, das Faktum, das Beispiel, an die Stelle des Protagonisten zu setzen und zum anderen an die Stelle des Antagonisten.® So werden Theorien konstruiert, deren Grundlage sogenannte Arbeitshypothesen7 sind. Im Schema:

4

5

6 7

Variante: Für mich ersetzt die Theorie ein Sehen, das dem Bereich der direkten Beobachtung angehört, durch ein höheres Sehen, das dem Bereich des Verstehens angehön. Fußnote: Wenn es sich um die Langue handelt, muß sorgfältig unterschieden werden zwischen der Theorie, die man aus ihr machen kann und der Theorie, die sie ist. Darüber notiert: Dem Faktum werden damit zwei Funktionen zugeschrieben. Am Rand vermerkt: Meillet wollte nicht, daß man abergläubisch daran hängt.

18 die erdachte Theorie

die beobachteten Fakten

(Arbeitshypothese')

die beweiserbringenden Fakten, für deren Beweis die Theorie konstruiert wurde

Die Kreisbewegung führt von den beobachteten Fakten zurück zu den beobachteten Fakten über eine Hypothese, die die Fakten erklärt. Das beobachtete Faktum ist sowohl Protagonist als auch Antagonist. Theorien dieser Art haben keinen großen Wert in der Linguistik. Man kann eine hohe Anzahl solcher Theorien für dieselben Fakten konstruieren. Deshalb habe ich mich als Theoretiker unwillkürlich - ob gut oder nicht sei dahingestellt - immer geweigert, solche Theorien zu ersinnen. Um Gültigkeit zu erlangen, muß die Theorie, der Superlativ des Verstehens, aus meiner Sicht folgende Bedingungen erfüllen: Natürlich muß sie den Fakten in der Rolle des Antagonisten entsprechen, aber sie darf sich nicht auf ein Faktum, sondern muß sich auf eine absolute und unvermeidliche Notwendigkeit gründen. Und sie muß von absoluter Notwendigkeit zu absoluter Notwendigkeit voranschreiten, bis sie zu den Fakten gelangt. Da - Protagonist der Theorie ist dann eine absolute Forderung, die von Anfang an in Betracht gezogen wurde, und der Antagonist ist das Faktum, zu dein man gelangt, wenn die Theorie »ihren Gang genommen hat«,' wie der Apostel sagt. Dieser Ablauf10 einer Theorie ist nicht immer möglich. Ich halte ihn in der Linguistik für möglich und generell in allen Bereichen, die psychisch konstruiert werden. Das trifft genau für die Langue und die Sprache überhaupt zu. Beide sind zunächst gedanklich konstruiert, bevor sie mit Zeichen versehen werden. Das Schema einer brauchbaren linguistischen Theorie ist linear. Darin sehe ich eine Grundforderung. Das Unvermeidliche



die antagonistischen Fakten1

(in der Position des Protagonisten und der elementaren Intuition so nah wie möglich)

8

' 10

'1

(am Ende des Cursus)

Am Rand: Arbeitshypothesen vermehren die Zahl der Theorien und der Theoretiker. Am Rand: Es ist ratsam, angemessen, daß sie sich erschöpft. Durchgestrichen: Diese formelle Konfiguration. Dieser Satz steht am Rande des Manuskripts.

19 Die Gültigkeit einer Theorie hängt in diesem Fall von zweierlei ab: zum einen von ihrer anfänglichen Bindung an das Unvermeidliche - das bedeutet schon viel, selbst wenn es wenig impliziert - und andererseits von ihrer Übereinstimmung mit den Fakten. 12 Anders ausgedrückt: Hier haben wir die doppelte Probe eines richtigen Anfangs- und eines Zielpunktes, der die Richtigkeit des Anfangspunktes bestätigt. Ich möchte betonen, daß eine gute Methode eine Theorie durch eigene Beweggründe, durch eigene Mittel zu den Fakten und zu dem auf diesen Fakten beruhenden Beweis kommen läßt. Der Weg, den die Theorie gewählt hat, wird von ihrem Ausgangspunkt und von jedem weiteren Fortschritt bestimmt. Eine Theorie ruft sozusagen die geistige Schöpfung der Fakten hervor, denen sie sich annähert. Falls in dem Augenblick, wenn die Theorie in ihrem schrittweisen Vorgehen gerade auf die sie interessierenden Fakten stößt und diese Fakten auf eine Weise dargestellt wären, die dem begonnenen theoretischen Prozeß fremd ist und ihn in keiner Weise berücksichtigt, dann würden Fehler, Entgleisungen und Katastrophen entstehen. Man muß einer Theorie gestatten, die einmal begonnene Erklärung zu Ende zu führen. Es sollte vermieden werden, die ab einem bestimmten Ausgangspunkt eingeleitete Erklärung plötzlich durch eine Erklärung zu ersetzen, die gar nichts mit dem von ihr gewählten Anfang zu tun hat. Meillet, der immer das richtige Wort fand, nannte das den Takt »de la docilite provisoire«. Man muß einer Theorie die Chance geben, sich den Fakten erfolgreich zu stellen.

(Vorlesung vom 7. Februar 1957)

2.5. Der Beweis in der

Wissenschaft

Anfang des letzten Jahrhunderts war man geneigt zu glauben, oder hatte, wenn man so will, instinktiv das Gefühl, die Langue beruhe auf Unterschieden metaphysischen Charakters, und dieses Gefühl von der zugrundeliegenden Natur der Langue war sicherlich nicht falsch. Weil die damaligen Linguisten-Philosophen die genaue Beobachtung der Fakten nicht mit der richtigen Dosis gedanklicher Vertiefung zu verbinden wußten, sahen sie leider nicht deutlich, woraus das metaphysische Gerüst der Sprache bestand. Und da sie die wirkliche Substanz der Sprache nicht entdeckt hatten, verloren sie sich in den Wolken und konnten dort nichts anderes als Luft erschüttern. Die geistig Anspruchsvolleren, die einen festen Boden vorzogen, wurden dessen bald müde und brachten mit ihren begründeten Kritiken Standpunkte in Verruf, die eigentlich auf einer richtigen Annahme beruhten. Ihr einziger Fehler bestand darin, daß sie deren Richtigkeit nicht unwiderlegbar beweisen konnten. »Die Wissenschaft lebt nicht von Wahrheiten, wohl aber von Beweisen«. Dieser

'2

In einer Fußnote steht: Und der Verlauf von einem zum anderen.

20 Gedanke Meillets paßt hier exakt; trotzdem dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß der menschliche Geist so beschaffen ist - besonders bei jenen, deren Wahmehmungsschärfe am stärksten entwickelt ist - , daß er die Wahrheit oft sehr viel früher wahrnimmt, als er Beweise dafür erbringen kann. Die Wissenschaft lebt von Beweisen, nicht von unbewiesenen Wahrheiten, das ist offensichtlich; doch außerhalb der Wissenschaft, die zu beweisen in der Lage ist, gibt es einen Voizustand der Wissenschaft, eine Art Vor-Wissenschaft. Ihre Eigenschaft besteht gerade darin, daß sie das Wahre von weitem begreift, aus einer solchen Entfernung, daß der Beweis in diesem Augenblick noch nicht zugänglich ist. Man wird mir vielleicht vorwerfen, daß ich etwas derartiges sage. Ich spreche davon, weil man von mir überzeugende Beweise in Fällen verlangt, die mich persönlich überhaupt nicht interessieren. In Fällen, wo das Wesen der Dinge erst langsam den Beweis vollständig zutagetreten läßt. Um diese Fälle richtig zu beurteilen, muß man die Fähigkeit bestimmter Menschen berücksichtigen, die die Wahrheit nicht nur schon dann wahrnehmen, bevor ein Beweis Uberhaupt eingebracht werden kann, sondern selbst unter den dafür ungünstigsten Bedingungen, das heißt in Fällen, wo der Beweis kaum zu erbringen ist. Ich fühle mich berechtigt, so zu sprechen, weil es mir bis jetzt immer gelungen ist, einen gültigen Beweis meiner theoretischen Ansichten zu erbringen, selbst wenn er nicht vollständig war. Es ist nicht zu verleugnen, daß ich oft die Wahrheit erahnt habe, lange bevor ich sie beweisen konnte. Ich habe auch schon erlebt, daß ich plötzlich den Beweis für eine Wahrheit gefunden habe, die ich nicht einmal geahnt hatte. In der Tat ist es mir meistens so ergangen. Ich sehe zunächst den Beweis, dann erst die Wahrheit. Darin besteht die Veranlagung meines Geistes. (Vorlesung vom 3. Februar 1944, Reihe B)

3. Gustave Guillaume und die linguistische Tradition

3.1. Die

Universalgrammatik

Die im achtzehnten Jahrhundert so geschätzte Universalgrammatik, auf die man unglücklicherweise seit der Rehabilitierung der deskriptiven Grammatik von Ferdinand de Saussure zurückgreift, verrannte sich immer mehr in einen grundlegenden Irrtum, nämlich im Strukturzustand sehr fortgeschrittener Sprachen Beweise dafür zu erkennen, daß gewisse, dem menschlichen Geist notwendige Unterscheidungen angeboren sind. Man behauptete ohne echten Beweis, diese Unterscheidungen seien dem Geiste unentbehrlich. Aber ein zeitlich und räumlich erweitertes Studium der menschlichen Sprache, das heißt der Sprachen der Welt,

21 deren Existenz bewiesen ist - es gibt mehrere Tausend dieser Art hat gezeigt, daß die obenerwähnten Unterschiede, die man als allgemein und unentbehrlich betrachtet hatte, zum Beispiel die von Verb und Nomen, nicht in allen Sprachen existieren. Vielmehr gehören sie in der von uns erkannten Form zu einer sehr kleinen Anzahl von fortgeschrittenen Sprachen. In meinem Unterricht über das System des Wortes - über die Psycho-Systematik des Wortes - wurde gezeigt, daß das Wort, wie es sich im Französischen und in den europäischen Sprachen im allgemeinen findet, ein Spätprodukt der Sprachentwicklung ist. Es gibt Sprachen, zahlreiche Sprachen, in denen das Wort etwas ganz anderes ist als das, was wir unter diesem Terminus verstehen. Deshalb ist es falsch - was vorgekommen ist - , das chinesische und das französische Wort als formal identisch zu betrachten. Die syntaktischen Vergleiche, die auf dem Postulat einer formalen Identität zwischen dem chinesischen und dem französischen Wort beruhen, haben keine Gültigkeit. Ein syntaktischer Vergleich ist nur gültig und annehmbar zwischen Sprachen, deren Wortsysteme ähnlich sind, oder zwischen Sprachen, in denen das Wort mindestens den gleichen Bildungsprinzipien unterworfen ist. Dieses Prinzip wird oft aus den Augen verloren und leider ständig verletzt. Daß sich die Fakten der Universalgrammatik in dem Maße der Beobachtung entziehen, wie diese sich erweitert und vertieft, bedeutet keineswegs, daß die Fakten gar nicht existieren. Ihre Unsichtbarkeit macht nur klar, daß die Fakten der Universalgrammatik dort zu suchen sind, wo sie wirklich sind. Dieser Punkt wurde bis jetzt vernachlässigt. In den letzten Jahren wurden nicht sehr große, jedoch spürbare Fortschritte - unsere Lehre trägt vielleicht ein wenig die Verantwortung dafür - auf vielen Ebenen in dieser früher unbekannten, ja sogar völlig verkannten Richtung gemacht.

(Vorlesung vom 21. November 1947, Reihe C)

3.2. Der Mißbrauch der Logik Das Thema, das ich jetzt kurz behandeln möchte, bezieht sich auf die Analyse, die Logiker vom Redeteil Verb in seinem prädikativen Gebrauch durchgeführt haben. Sie lehrten, daß ein Verb in der Funktion eines Prädikats im Kopf des Sprechers aus der Behauptung der Existenz des Subjekts und einer Ergänzung dazu besteht. In ich gehe sollte man analytisch ich bin gehend verstehen. Und so wäre es mit allen Verbai. Meine Zuhörer, zumindest diejenigen, die meine Denkweise kennen, ahnen, daß mir diese Erklärung völlig überflüssig, ja sogar falsch erscheint. Mag diese Analyse auch logisch sein, befindet sie sich doch vollkommen außerhalb der Realität der Langue. Wenn man er geht sagt und nicht er ist gehend, denkt man logischerweise eigentlich er geht und man hat nicht den Eindruck, daß das Verb besser erfaßt oder logischer analysiert wäre, sagte man periphrastisch: er ist gehend.

22 Die durch dieses kleine, belanglose Problem der logischen Analyse aufgeworfene Frage ist deshalb interessant, weil sie die Aufmerksamkeit auf den möglichen semantischen Inhalt der verbalen Kategorie lenkt. Die Kategorie des Verbs entsteht in einer Sprache wie der französischen dadurch, daß die totale Semantese des Verbs ihren Bezugspunkt in der Ordinal-Person sucht. Wie in einigen Sprachen geschehen, ist es möglich, einen anderen Standpunkt zu wählen: In ihnen wird das Verb, unabhängig von seiner besonderen lexikalischen Natur, einfach auf das Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem allgemeinen Begriff des Verbs reduziert. Begreiflicherweise gäbe es in einer derart konstituierten Sprache sehr wenige Verben: Man hätte nur so viele Verben wie Verhaltensweisen des Subjekts gegenüber dem allgemeinen Begriff des Verbs. Daraus folgt, daß die Kategorie des Verbs, auf eine geringe Anzahl sehr abstrakter Verben (von denen unsere Hilfsverben eine Ahnung geben könnten) reduzierbar wäre. Das Verb wäre eine nahezu ganz formelle Kategorie, die nur einen geringen Teil der Semantese, den allgemeinsten Teil, einschließen würde; alles andere bliebe dem Bereich des Nomens überlassen." Das wäre für das Französische zutreffend, wenn wir, anstatt das Verb zu bilden, wie wir es tun, ohne uns einer angeblich analytischen und logischen Periphrase zu bedienen, regelmäßig je suis marchant statt je marche sagen würden. Die verbale Kategorie reduzierte sich ipso facto auf das Verb être und alle anderen Verben wären, in einer adjektivischen Form, in die nominale Kategorie abgewandert. Gerade das hat die französische Sprache nie erwogen. Das Französische neigt immer dazu, die Semantese unter die zwei Kategorien (die nominale und die verbale) gleichmäßig zu verteilen. Wenn also die Logiker uns vorschlagen, je marche mit Hilfe der Periphrase je suis marchant zu analysieren, verschieben sie nur die Semantese, und sie ordnen ihr eine linguistische Stelle zu: Diese ist mit der Systematik - ich würde fast sagen mit der Logik des Französischen - unvereinbar. Diese Sprache hat sich daher auch geweigert, sie anzunehmen. Ohne sich darüber ganz im Klaren zu sein, denken die Logiker offensichtlich, die richtige Stelle der Semantese befände sich im nominalen Bereich und die logische Analyse des Verbs bestünde, aus unerklärlichen Gründen, darin, sie dorthin zurückzuführen. Natürlich wäre es logisch, die ganze Semantese der Langue auf der Seite des Nomens zu haben und das Verb auf den Bezugswortstatus zu reduzieren, den es zur Einführung der Semantese in den verbalen Bereich in der Rede braucht. Aber genau so logisch, wenn nicht noch logischer ist es, die Semantese in den beiden Bereichen - dem des Nomens und dem des Verbs - gleichmäßig unterzubringen. Dieses hat unter anderem den Vorteil, daß man in jeder Kategorie eine Semantese vorfindet, die der eigenen Natur besser entspricht. Außerdem wird die inhaltlich recht aufwendige

13

Gustave Guillaume erwähnt das Baskische als eine dieser Sprachen in seinen Leçons de Linguistique, 194S-1949b, Seite 79ff.

23 Operation vermieden, in der Rede nominale Elemente wie das Partizip ständig aus dem Bereich des Verbs in den des Nomens zu überführen. Schließlich müßten diese Elemente dann für den notwendigen verbalen, extra-nominalen Rahmen Stützverben finden. Aus diesen Bemerkungen ergibt sich zwangsläufig folgende Schlußfolgerung: Die Aufspaltung des Verbs in ein Verb, das einerseits die Existenz des Subjekts ausdrückt und andererseits durch eine extra-verbale, als Prädikat fungierende Form ergänzt wird, ist eine Spielerei ohne jeglichen intellektiven Wert; sie weist auch für das Französische eine Mißachtung der eigentlichen Systemwahl der Sprache auf. Eines der systematischen Ziele des Französischen ist zweifellos die gleichmäßig verteilte Darstellung der Semantese in beiden entgegengesetzten Bereichen der Langue, dem verbalen und dem nominalen Bereich. Diese gleichmäßige Darstellung der Semantese in beiden Bereichen der Langue entspricht der Logik des Französischen, die, wie die ererbte Logik des Lateinischen, eine Logik der Symmetrie ist.14 Das Wort »Logik« hat in der linguistischen Systematisierung so gut wie keine Bedeutung; das gerade benutzte Wort »Symmetrie« hat dagegen viel größere Bedeutung, wie ich so oft zeigen konnte. Ein weiteres Mal werde ich es, anhand der erstmalig von mir unternommenen detaillierten Untersuchung des Systems der Verbformen des Französischen zeigen, die vom Lateinischen eine große Symmetrie erhallen haben. Diese Symmetrie ist außerhalb der romanischen Sprachen nicht vorhanden.

(Vorlesung vom 27. Januar 1944, Reihe A)

3.3. Ein Fehler der historischen

Grammatik

Man ist bestimmt nicht zu streng in seinem Urteil, wenn man denkt, die historische Grammatik habe sich zu ausschließlich mit der Entwicklung der historisch überlieferten Elemente auseinandergesetzt und wenig Interesse gezeigt für die festgewordenen Beziehungen zwischen den im Lauf der Zeit entstandenen und aus systematischen Gründen erhaltenen Elementen. Der allzu große Mangel an Interesse für die festgewordenen systematischen Beziehungen zwischen den historisch überlieferten Elementen gibt den Grund für die lange Illusion der historischen Grammatik, bezüglich der Sprache, alles erklären zu können, während sie in Wirklichkeit gar nichts erklärt hat. Sie hat nur - was nicht unwichtig ist - Dinge erzählt, die in der Sprache stattgefunden haben. Die

14

Im Text durchgestrichen: So etwas wie eine Logik, die der vielfältigen inneren Organisation der Sprachen transzendent wäre, existiert nicht, sondern es gibt so viele Logiken wie Sprachen.

24 traditionelle historische Grammatik ist zunächst eine Erzählung. Ab dem Zeitpunkt, da man einen Sprachzustand beschreiben will, verläßt man die historische Erzählung und muß die Fakten unter dem Gesichtspunkt eines systematischen Verhältnisses betrachten. Und zwar als ein Verhältnis, das im Augenblick, im Statischen, zwischen willkürlichen historischen Elementen systematisiert ist. Diese Elemente sind irrational, werden aber durch eine Integration in das System der Langue rationalisiert. Da die historische Grammatik nur oder fast nur die zufälligen Elemente in Betracht zieht, sind ihre Erklärungen meistens unwirksam. Nehmen wir ein Beispiel, damit der Mangel deutlich wird: das Beispiel des kleinen Wortes, das in der Grammatik Artikel genannt wird. Die historische Grammatik lehrt im Kapitel über den Artikel, daß er aus dem lateinischen Demonstrativum stammt, dessen demonstrativer Sinn allmählich verblaßt ist, und daß er ein regelmäßig das Nomen einführendes Zeichen geworden ist. Vom Wert des Zeichens, von der Rolle, die es erfüllt, von seiner psychischen Notwendigkeit wird nichts oder fast nichts gesagt, und was gesagt wird, ist oft irrelevant. Man sieht im Artikel einen Begleiter des Nomens - und damit verläßt die historische Grammatik gleich ihre eigene Achse und nähert sich der systematischen Grammatik. Daher die übernommenen Termini, »bestimmter Artikel« und »unbestimmter Artikel«. Ein Nomen, dem der Artikel der vorangestellt ist, wäre dann bestimmt; hingegen wäre ein Nomen, dem der Artikel ein vorangestellt ist, dann unbestimmt. Nichts ist ungenauer. Man könnte sogar sagen: nichtssagender. Spiel mit Wörtern, die man kritiklos übernommen hat, die aber nichts Reelles decken. Sie sagen auch nichts über den Psychismus, dem der Artikel seine Existenz verdankt, über seine »raison d'être« aus. Mangels einer solchen ausreichenden Erklärung - und jede, die die Existenz des Artikels nicht begründen kann, ist unzureichend - wird man dazu verleitet, einfach die Gewohnheit als augenscheinlichen Grund für den regelmäßigen Gebrauch des Artikels anzugeben. Man muß im Lauf der Geschichte die Gewohnheit entwickelt haben, den Artikel vor das Substantiv zu setzen, und diese Gewohnheit muß sich verbreitet haben. Anders gesagt, ist der frühen Gewohnheit - denn es war auch eine Gewohnheit, keinen Artikel vor das Nomen zu setzen - eine neue entgegengesetzte Gewohnheit gefolgt. Aber manches von der alten Gewohnheit scheint sich erhalten zu haben. Daher gibt es in der Rede viele artikellose Substantive. Man sollte aber derartigen Erklärungen wenig Interesse schenken. Ihre Unzulänglichkeit irritiert. Einige Grammatiker haben das Problem der Natur des Artikels beiseite gelassen und sich eher auf die nebensächliche Tatsache konzentriert, daß der Artikel mit seiner variablen Morphologie ein semiologisches Indiz für das Genus ist. Das gilt für Nomen, die diesbezüglich sonst kein erkennbares Zeichen haben, zum Beispiel le fauteuil, la chaise. Die Unzulänglichkeit dieser Erklärungen ist peinlich. Und es ist erstaunlich, daß sie ständig angeführt werden, und zwar nicht nur in den für Kinder bestimmten Grammatiken, sondern auch in Werken, die ein weit anspruchsvolleres Ziel haben. Die Tatsache, daß diese keinesweg erhellenden

25 Erklärungen in Wirklichkeit immer wieder und überall vorgebracht werden, rührt daher, daß sich die Grammatiker hartnäckig dagegen wehren, sich mit anderem als der Achse der historisch überlieferten Elemente zu beschäftigen, wobei sie die Achse der systematischen Beziehungen vollkommen ignorieren. Die Gewohnheit, den Artikel anzuwenden, ist ein Element der geschichtlichen Entwicklung und hätte als bloßes Element nicht unbedingt beibehalten werden müssen. Man hätte sich nicht also daran zu gewöhnen brauchen. Wenn die Gewohnheit beibehalten wurde, den Artikel dem Nomen voranzustellen, so gerade deshalb, weil sie gewissen Anforderungen einer Beziehung zu entsprechen schien, die einen Stellenwert, einen wichtigen Stellenwert im System der Langue gefunden hatte. Das wirkliche Problem ist demnach, im System der Langue zu entdecken, was die bleibende Rolle des Artikels dem Nomen gegenüber, nämlich die des einführenden Elementes, rechtfertigt. Wenn das Problem des Artikels so gestellt wird, zeigt sich darin grundlegend eine bislang unbekannte Neugier, die den Sprachhistorikem meist fremd geblieben ist, weil sie ihr Augenmerk ausschließlich auf die einzelnen Fakten der historischen Entwicklung gerichtet haben.

(Vorlesung vom 13. Februar 1948, Reihe C)

3.4. Die Langue und ihre Geschichte Ich möchte jetzt ausdrücklich zur Diskussion Stellung nehmen, die seit 1916, seit der Erscheinung der Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft von Saussure, über die Möglichkeit geführt wird, ja die Notwendigkeit, die Diachronie - das heißt die historische Betrachtungsweise - aus der deskriptiven Grammatik zu eliminieren. Für F. de Saussure ist die Langue in jedem Augenblick eine Synchronie von Beziehungen, ein bestehendes System, das die Ursachen seiner Existenz in sich selbst, in den eigenen Gesetzen des Zusammenfügens findet. Der enorme Wahrheitsgehalt dieses Standpunktes hat der Saussureschen Lehre große, allseitige Zustimmung gesichert. Man hat klar und eindeutig gespürt, daß der Sprecher sein Sprachsystem geistig als etwas Beständiges besitzt und zwar ausschließlich in seinem gegenwärtigen Zustand, unabhängig von irgendwelchen überholten, vergangenen und veränderten Sprachstufen. Auf diese große Zustimmung reagierten sachkundige Linguisten bald mit einer gewissen Zurückhaltung dem Werk gegenüber. In der Praxis entstand die Schwierigkeit, eine deskriptive Grammatik zu entwickeln, die nur auf der Synchronie beruhte, ohne den geringsten Rückgriff auf die Diachronie, auf die Geschichte. Es gibt wichtige Fälle, in denen dieser Rückgriff auf die Diachronie vermieden werden kann, zum Beispiel in bezug auf die Frage nach der Vorstellung der Zeit in den verschiedensten Sprachen; aber es gibt andere Fälle, wo es

26 unvermeidlich ist, auf die Diachronie zurückzugreifen, will man den Fakten mit Genauigkeit gerecht werden. Da stellt sich natürlich die Frage, warum gewisse grammatikalische Probleme die diachronische Betrachtungsweise verlangen und andere nicht; für diese ist es sogar vorteilhaft, frühere Entwicklungsstufen auszuschließen. Es gibt in den Sprachen Dinge, die am besten zu erklären sind, indem sie nur in ihrem jetzigen Zustand betrachtet werden und nicht durch den Rückgriff auf die alten, vergangenen Zustände. Die Antwort auf die eben gestellte Frage ist nicht einfach. Eine genaue Untersuchung zeigt uns, daß zwischen zweierlei Problemen unterschieden werden muß: einmal den Problemen, für die eine vollkommene Lösung gefunden wurde und die sich danach unabhängig von der Lösung wiederholen und jenen, die sich wiederholen, während sie sich im Lösungsprozeß befinden. Im ersten Fall bedürfen die Probleme, gerade weil sie ihre historische Vergangenheit überwunden haben, einer Erklärung, die gar nicht historisch sein muß. Im zweiten Fall müssen hingegen die von einer noch nicht überwundenen Vergangenheit abhängigen Probleme teilweise durch Gründe erklärt werden, die in der Geschichte zu suchen sind. Anders gesagt, gibt es Probleme, die weit genug von vergangenen Lösungen entfernt sind, so daß sie von innen, in sich selbst, betrachtet werden können, ohne auf die früher gefundenen Lösungen zurückzugreifen, die die Probleme deutlicher gezeigt haben. Aber diese Autonomie erreichen nicht alle Probleme. Eine gewisse Anzahl von Problemen haben die alten Lösungen nicht wirklich überwunden, so daß sie bei ihrem Wiederauftreten nicht unabhängig von der Vergangenheit sind. Wenn man also die linguistischen Fakten betrachtet, die diesen Problemen entsprechen, ist ihre unvollständige Loslösung von der historischen Vergangenheit, von der Diachronie, zu berücksichtigen. Damit die Erklärung der Wirklichkeit entspricht, muß sie in diesen Fällen bis zu einem gewissen Grad historisch bleiben. Übrigens braucht der Linguist bei der Beschreibung einer Sprache die historische Erklärung nicht einzubeziehen, wenn es sich bei den betrachteten Fakten um die Lösung von Problemen handelt, die die alten Lösungen völlig überwunden haben. Er wird im Gegenteil, soweit es nötig ist, die historische Erklärung einbeziehen müssen, wenn die betrachteten Fakten die Lösung von Problemen darstellen, die ihre alten Lösungen unvollständig überwunden haben und daher nicht wirklich von diesen unabhängig sind. Ich halte es für nützlich, all dies zu erwähnen, um die Skrupel jener (und es gibt sie) zu beseitigen, die sich von der Saussureschen Lehre überzeugt den Vorwurf machen, die Fakten der Langue nicht auf rein deskriptive Weise erklären zu können, ohne gelegentlich die historische Grammatik in geringem Maße einzubeziehen. (Vorlesung vom 11. Dezember 1941, Reihe A)

27 3.5. Eine Lücke in der Saussureschen

Analyse

Ein Verdienst besonderer Art kommt F. de Saussures Optimismus in den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft zu - wie einige schon vor uns bemerkt haben. Als dieses Werk, das vor dreißig Jahren (die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft stammen aus dem Jahre 1916) erschienen ist, sogleich berühmt wurde, war die offizielle linguistische Lehre wesentlich historischer Art. Man erwartete von der Geschichte und dem Umstand, dank der vergleichenden Grammatik in der Zeit zurückgehen zu können, daß sie alles erklärt. Das war natürlich eine Illusion, wie a priori schon nach sorgfältiger Überlegung hätte festgestellt werden können. Als die Grundfragen erschienen, war diese Illusion noch immer die unerschütterliche Überzeugung der meisten, wenn nicht aller Philologen und Linguisten. Um die Wissenschaft stand es durchaus schlecht, und niemand konnte oder wollte aufgrund des allgemein eingenommenen Standpunktes ihre Unzulänglichkeit sehen. Die wissenschaftliche Lage verschlechterte sich aufgrund der Tatsache, daß sich die Aufmerksamkeit der Linguisten fast ausschließlich dem Sprechen widmete und deshalb der Langue fem blieb, die etwas ganz anderes ist. Es fiel F. de Saussure zu, diese Situation zu klären. Unter den Fehlern dieser Zeit lasse ich jenen beiseite, der darin besteht, die Denkprozesse, die die momentane Konstruktion der Rede hervorbringen, nicht von denen der Konstruktion der Langue zu unterscheiden und nicht als verschieden und heterogen zu betrachten. Dieser mit ernsten Konsequenzen behaftete Fehler wurde, selbst als das Buch von Saussure die erwartete Wirkung und den allgemeinen Erfolg gezeitigt hatte, weiterhin begangen. Der Erfolg des Buches war eigentlich theoretisch und beruhte auf Saussures Ruf. Die allgemeinen Ideen von Saussure wurden angenommen, ihre Richtigkeit wurde auch anerkannt und bewundert, aber es wurde praktisch kaum etwas an den linguistischen Untersuchungsmethoden geändert. Und die wenigen Versuche, einen Sprachzustand von einem rein statischen Standpunkt zu erklären, das heißt, der Saussureschen Terminologie zufolge in der Synchronie, waren aus verschiedenen Gründen nicht wirklich erfolgreich. Meine Bemerkungen über den Stand der Wissenschaft zur Zeit der Veröffentlichung des Buches von Saussure zeigen, wie notwendig der Versuch war, ihn richtigzustellen. Wenn ein solcher Versuch aber wirksam sein sollte, mußte er von einem schon berühmten, der wissenschaftlichen Welt vertrauten Meister kommen. Wäre er von einem weniger bekannten, mit all seiner Wissenschaft im Dunkel gebliebenen Mann gekommen wäre, hätte sie, selbst prägnant formuliert, nicht den geringsten Eindruck gemacht und wäre nicht bemerkt worden. Es genügt nicht, daß die wichtigen Dinge gesagt werden, sie müssen auch von einer wichtigen Person gesagt werden. Die wichtigen Personen wären weise, ließen sie sich nur über wichtige Dinge aus. Was auch immer die Ursache sei, der Ruf des Autors hat in dem uns interessierenden Fall der Sache großartig gedient. Aber dieser Sache wäre weniger

28 gedient worden, hätte F. de Saussure - so revolutionär er im Grund auch immer gewesen sein mag - in seiner Argumentation nicht dafür gesorgt, nur Ideen vorzubringen, die mit den seinerzeit vorherrschenden Ideen verträglich waren. Diese Mäßigung im Angriff und sein ständiges Bemühen, nicht auf jeder Seite des Buches die Opposition gegen die neuen Ideen zu vergrößern, hat man Saussures Opportunismus zugeschrieben. Sicherlich gibt es Dinge, die der Meister hätte sagen können, nur war der Augenblick nicht reif dazu, insbesondere wenn man ein wohlgesinntes Publikum antreffen wollte. Es ist vielleicht nicht ganz nutzlos, die genaue Natur von Saussures Opportunismus zu untersuchen, auf dessen Existenz ich sehr früh gestoßen bin, auf den jedoch auch andere hingewiesen haben. F. de Saussure unterscheidet Sprache, Langue und Sprechen, und er stellt die für ihn wesentliche Formel auf: Sprache = Langue + Sprechen

Diese Formel ist folgendermaßen zu interpretieren: Die Sprache ist das Ganze, das Integrale einer Aufeinanderfolge, die sich von der Langue zum Sprechen bewegt, das heißt von der ständig in uns potentiell anwesenden Langue zu dem effektiv vorübergehend in uns anwesenden Sprechen. Dies ist meine Interpretation, man findet sie nicht im Buch von F. de Saussure. Doch selbst warn sie nirgendwo explizit erscheint, ist sie überall impliziert. Sie ist im Buch etwas Implizites, wenn man es als Ganzes betrachtet. Die Tatsache, daß man die tiefergehende Erklärung gerade implizit beibehalten hat, ist eben ein Zeichen von Opportunismus. Und das Buch verdankt ihm, wenn nicht einen größeren Erfolg, mindestens einen weniger großen Widerstand gegen die neue Lehre. Die Sprache ist ja, wie F. de Saussure gezeigt hat, ein Ganzes, das aus zwei Komponenten besteht: aus der Langue und dem Sprechen. Bevor man die Saussuresche Gleichung mit kritischen Augen betrachtet, können wir sie so darstellen:

Sprache

• Sprechen + Langue

Diese Darstellung beantwortet die grundlegende, hier aufgeworfene Frage und legt dabei gleichzeitig die Mängel der Saussureschen Formel zutage. Sprache = Langue + Sprechen

29 Ein Faktor, den die Saussuresche Formel außer acht läßt, der jedoch in allen linguistischen Fragen stets berücksichtigt werden muß, ist der Zeitfaktor. Die Sprache beinhaltet als Ganzes, als Integral, eine sukzessive Abfolge: die des Übergangs von der Langue - im Sprecher permanent anwesend (also außerhalb jeglicher Augenblicklichkeit) - zum Sprechen, das im Sprecher nur momentan anwesend ist und zwar durch mehr oder weniger große Zeitabstände getrennt. Von dieser das Problem komplizierenden Abfolge spricht Saussures Buch nicht. Wenn Saussure davon gesprochen hätte, wäre er zu einer komplexeren, einer wahrhaftigeren Auffassung der Dinge gekommen, die jedoch den historischen Linguisten mit ihrer natürlichen Tendenz zur Vereinfachung mißfallen hätte. Die Vereinfachung besteht darin, daß keine andere Erklärung als die diakronische gesucht wird, die historische Konsequenzen durch Vorhergegangenes erklärt. Vorhergegangenes

I

(festgestellt, bewiesen)

regelmäßige Entwicklung

(beobachtet)

darauffolgendes

(durch die Entwicklung erzeugt; ebenfalls festgestellt und bewiesen)

Ergebnis

Danach ist bloß das gleiche geistige Schema anzuwenden, indem man entweder in der Richtung des Ursprungs zurückgeht oder, im Gegenteil, indem man vom Ursprung in Richtung historischer Entwicklung voranschreitet. Die einzig wirkliche Schwierigkeit der Methode besteht darin, zwischen dem Vorhergegangenen und dem Darauffolgenden einen Zeitabstand festzulegen, der eine regelmäßige, unterscheidende Entwicklung beinhaltet. Die Historiker haben im allgemeinen wohl eingesehen, daß eine Verkleinerung dieses Abstandes der Strenge der Methode dienen würde. Eine regelmäßige Entwicklung - eine Regelmäßigkeit, der man fälschlicherweise den Namen Gesetz verleiht - ist als solche (regelmäßige) nur gültig zwischen engen Grenzen. In den historischen Abhandlungen geschieht es oft - daher rühren viele Schwierigkeiten - , daß die fraglichen Grenzen schlecht gewählt werden. Man sollte hinzufügen, daß die Wahl dieser Grenzen von nichts anderem abhängig ist als der richtigen Beobachtung des Historikers. Sie wird von nichts anderem bestimmt. Nach dieser kritischen Betrachtung der geistigen Muster historischer Grammatiker komme ich auf die Saussuresche Formel mit den drei Elementen zurück: Sprache, Langue und Sprechen. Wenn man den Faktor sukzessive Abfolge zwischen Langue und Sprechen einfügt, gestaltet sich das Verhältnis wie folgt:

30 • Sprechen f

Sprache J

Langue

Der Sprecher findet in sich die zur Anwendung bereite Langue, dadurch spricht er. Er geht von der Langue zum Sprechen über. Hier aber stößt die Theorie auf ein Hindernis. Es ist wahr, daß der Sprecher im Augenblick des Ausdrucks von der Langue zum Sprechen übergeht, das heißt von der Langue zum momentanen, effektiven Sprechen, das gehört wird und physische Existenz besitzt. Aber der Übergang von der Langue zum Sprechen ist, ohne daß Saussure es erwähnt hätte, eigentlich ein Übergang vom virtuellen Sprechen, das mit dem Psychismus in der Langue untrennbar verbunden ist, zum aktuellen, effektiven und physischen Sprechen. Das virtuelle Sprechen, das mit der Langue verbunden und ein innerer Teil von ihr ist, ist ein nicht-physisches, stummes Sprechen, weil die Einheiten der Langue geistiger Art sind. Es ist einfach, die Wirklichkeit dieses nicht-physischen Sprechens festzustellen. Jeder Begriff in der Langue bringt eine Idee des sinntragenden Lautes oder der Laute mit, jedoch nur die Idee dieser Laute, nicht ihre Wirklichkeit. Es folgt daher - und das ist der Grundsatz der Phonologie, einer Teilwissenschaft der Linguistik - , daß das virtuelle Sprechen als Teil der Langue etwas anderes ist als das gesprochene Sprechen, das dessen Verkörperlichung ist. Und hier stoßen wir auf das uns bekannte Verhältnis: Vielfältigkeit auf der Seite der Aktualität und relative Einheit auf der Seite der Potentialität. Im Gegensatz zum virtuellen Sprechen, dessen bedingender Faktor seine Einheit ist, steht die ungeheure Vielfältigkeit des gesprochenen Sprechens, das abhängig vom Sprecher auch gemäß der Sprechumstände immer anders ist. Wenn man das soeben Gesagte berücksichtigt, wird das Saussuresche Schema zwar komplizierter, aber genauer:

Rede

aktualisiertes Sprechen (verkörpertes physisches Sprechen)

Sprache

dazugehörender Psychismus

Î

virtuelles Sprechen Langue

(nicht-physisches Sprechen) dazugehörender Psychismus

Aus der Abbildung geht hervor, daß die in der Sprache enthaltene sukzessive Abfolge von der Langue zur Rede reicht. In der Langue wie in der Rede gibt es eine

31 Verbindung und eine Kongruenz zwischen dem Physischen und dem Psychischen. Es gibt jedoch Unterschiede, die unbedingt zu erwähnen und zu betonen sind. In der Langue - auf der Ebene der Langue - ist die Verbindung Psychismus-Sprechen ein geistiges Verhältnis, aus dem das Physische, das Sprechen an sich, nicht ausbrechen kann. Auf der Ebene der Langue ist das Sprechen ein Psychismus seiner selbst, eine geistige Vorstellung seines physischen Daseins. In der Rede - auf der Ebene der Rede - sehen die Dinge anders aus. Die Verbindung Psychismus-Sprechen bleibt wie in der Langue eine geistige Verbindung, aber das Physische, also das Sprechen an sich, erscheint als effektiv verkörpert, demzufolge nicht mehr in seinem geistigen Ausgangszustand. Auf der Ebene der Rede hat sich das Sprechen verkörpert und verwirklicht: Es existiert physisch und ist nicht mehr nur eine geistige Vorstellung seiner selbst. Es hebt diese ursprüngliche geistige Vorstellung nicht auf, sondern verwirklicht sie und gibt ihr eine wahrnehmbare, für die Veräußerlichung der Sprache notwendige Materialität. Somit kann man erkennen und verstehen, daß die Existenz des Sprechens auf der tiefen Ebene der Langue etwas anderes bedeutet als auf der oberflächlichen Ebene der Rede. Nicht-physisch auf der Ebene der Langue wird das Sprechen physisch bei seiner Veräußerlichung auf der Ebene der Rede. Diese Umwandlung ist die einzige, die im Sprechakt zu berücksichtigen ist, wenn es sich um das Sprechen handelt, das in der Sprache den Signifikanten darstellt. (Vorlesung vom 20. Februar 1948, Reihe C)

3.6. Vergleichende

Grammatik und

Psycho-Systematik

Ich werde versuchen zu zeigen, wie der Übergang von der semiologischen Beobachtung der traditionellen vergleichenden Grammatik zur psycho-systematischen einer zukünftigen vergleichenden Grammatik vollzogen werden soll. Sie wird W e g e für die Zukunft eröffnen, auf denen die Forscher von morgen kühn voranschreiten werden. 15 Um dies zu demonstrieren, gehe ich nicht von Phonemen aus, sondern von einem Sprachzustand, in dem die Langue schon aus völlig konstruierten Wörtern besteht. Dieser Zustand läßt die Wörter des zweiten Sprachraums 16 hinter sich. Ein Merkmal dies«- Wörter - das übrigens nicht für alle gilt - ist, daß ihre Bildung sich

15

Am Rand: Jede Wissenschaft bringt die Möglichkeil des Beobachtens mit sich. Ich glaube, man wird eines Tages erkennen, daß ich die Fähigkeit zur Beobachtung in der Linguistik beträchtlich geschärft habe.

16

Dieser Terminus bezeichnet in der unveröffentlichten Theorie der glossogenischen Räume (vgl. Legons de linguistique

¡956-1957)

modernen semitischen Sprachen eigen ist

die Sprachen, deren Typologie den alten und

32 nicht ganz in der Langue vollzieht, sondern während des Obergangs - während des Transitus - von der Langue zur Rede. Die indo-europäischen Sprachen zeigen schon zur frühesten Zeit gewisse Züge, die das Studium von Sprachen, deren Wortkonstruktion bereits in der Langue vollendet ist, sehr erleichtem. In diesen Sprachen wird die Morphologie des Stammes hinzugefügt, indem man eins neben das andere stellt. Das kann folgendermaßen verbildlicht werden: Stamm + Morphologie



Redeteil

Die hinzugefügte, in ihrer Wirkung verallgemeinernde Morphologie trägt den ganzen Inhalt des Wortes bis zum Redeteil, bis zur Enduniversalisierung. So dargestellt ist diese Wortzusammensetzung in den indo-europäischen Sprachen psycho-systematisch charakterisiert, doch am Anfang war die Beobachtung von Seiten des Linguisten semiologisch. Wie ich vor etwa einem halben Jahrhundert den Zusammenhang erkannte zwischen der semiologischen Beobachtung (wie man sie in der vergleichenden Grammatik findet) und der psycho-systematischen Beobachtung, der ich bald darauf mein Leben widmen sollte, werde ich gleich erklären. Nehmen wir die bekannte Entsprechung zwischen folgenden Wörtern: avestisch sanskrit armenisch englisch albanisch deutsch russisch griechisch lateinisch gotisch irisch

barami bhàrâmi berem bear birni gebären beru pherô fero baira berim

»ich trage« »ich trage« »ich trage« »tragen« »ihr bringt« »uagen Ins das Kind zur Welt kommt« »ich nehme« »ich trage« »ich trage« »ich trage« »ich trage«

Diese Entsprechungen führen uns die bemerkenswerte Tatsache vor Augen, daß in allen oben erwähnten Wörtern der axiale Konsonant r erhalten blieb, der die Funktion erfüllt, den Stamm von der nachgestellten Morphologie zu trennen. Diese Morphologie stellt eine strukturelle Veränderung des Stammes dar. Der axiale Konsonant trennt die notionelle Ideation, die die phonematische Grundgruppe *bher mit sich bringt, von einer transnotionellen Ideation. Die transnotionelle Ideation stammt gleichzeitig - je nach Sprache in unterschiedlichem Maße - sowohl aus dem Ererbten wie aus der Rekonstruktion nicht nur seiner semiologischen und physischen Komponente, sondern auch seiner geistigen und nicht-physischen Komponente. Diese Bemerkung führt zur gesonderten Untersuchung eines Bereichs, der in der transnotionellen Ideation als psycho-systematischer geistiger Aufbau und Wiederaufbau betrachtet wird. Und sie hilft auch, die Verbindung zwischen dem geistigen

33 psycho-sysiematischen Aufbau und den zu seinem Ausdruck in der Langue angeordneten Zeichen zu bewahren. Anders ausgedrückt dienen diese Zeichen aufgrund ihrer physischen Natur zur Veräußerlichung der nicht-physischen Interiorität eines morphologischen Systems. Die Untersuchung läßt sich in jeder indo-europäischen Sprache erfolgreich durchführen. Auf dem Gebiet der Semiologie bringt sie regelmäßig die Wichtigkeit des axialen Konsonanten in der strukturellen Semiologie des Verbs - und sogar außerhalb des Verbs - zum Vorschein. Der Fortbestand dieses Konsonanten in den obenangeführten Wortentsprechungen beruht auf seiner wichtigen Funktion. Deshalb habe ich beim Studium der vergleichenden und jeder anderen Grammatik dem axialen Konsonanten von Anfang an besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Daraus resultierten eine Reihe interessanter Entdeckungen. Ich habe vom semiologischen Standpunkt aus beweisen können, daß die ganze Konjugation des französischen Verbs von der Verarbeitung des axialen Konsonanten abhängt. Dieser tritt überall zwischen dem Stamm und den hörbaren Endungen auf. Der axiale Konsonant darf vor der hörbaren Endung nicht ausfallen. Wo er zu verschwinden droht, wird der im System notwendige axiale Konsonant überall wiederhergestellt. Hier einige Beispiele: Der axiale Konsonant tritt als r im Infinitiv lire auf; dagegen ist seine Anwesenheit außerhalb der futurischen Formen des Verbes nicht gesichert. Vor hörbaren Endungen ist der axiale Konsonant aus systematisch phonologischen Gründen als s wiedergegeben: nous lisons, ils lisent, ils lisaient. In rendre wird der axiale Konsonant in der ganzen Konjugation bewahrt. Die Regelmäßigkeit ist perfekt. In prendre wird der axiale Konsonant zwar im Infinitiv erhalten, nicht aber in den Formen der Konjugation. Es wird nicht nous prendons konjuguiert, obwohl ich schon ein Kind diese Form habe aussprechen hören, und zwar aus seiner eigenen geistigen Sprechfähigkeit heraus. Denn ich wußte, es hatte sie ja noch nie gehört. Ich habe andere sagen hören, wobei sie den axialen Konsonanten bewahren: mouru, il est mouru. Diese kindlichen Fehler verraten die Arbeit des Kindes, im Gehörten die Bauprozesse der Langue wiederzufinden. Es ist eine Arbeit eines Wahrsagers. Das Kind besitzt die Sprache, wenn es ihren Baumechanismus erfaßt hat und ihn zu gebrauchen weiß, und wenn es, um sich dessen zu bedienen, erkannt hat, daß dieser Baumechanismus an einen nicht-physischen geistigen Mechanismus, an die Langue selbst, gebunden ist. Die Zeichen dienen nur dazu, ihre Inhaltseite zu veräußerlichen. Es ist wichtig zu beachten, daß die Sprache nichts Physisches eindringen läßt, außer den Zeichen, die der Veräußerlichung des nicht-physischen Mentalismus dienen. Mit Ausnahme der Zeichen ist in der Sprache alles nicht-physisch und qualitativ, daher die Reduzierung der Beziehung Universum/Mensch, deren begrenzende Pole physische Größen, zu ihrem nicht-physischen Gegenstück, das heißt der für die Struktur der Langue fundamentalen Beziehung Universal/Singular hervorrufen...

34 Die Entdeckung der Funktion des axialen Konsonanten und der Konsequenzen seiner standigen Wiederherstellung haben mir Zugang zu einer geschickt organisierten Semiologie gewährt, die mir erlaubt, ohne zu große Anstrengung das von ihr veräußerlichte Psycho-Systematische zu erkennen. Mit ihm liefen sie der physisch nicht existenten geistigen Sagbarkeit eine physische Sagbarkeit für die Veräußerlichung. Sobald ich diesen, meinen, Weg eingeschlagen hatte - »Auf diesem Weg wird Sie wohl niemand stören« pflegte mir ein ehemaliger Kollege zu sagen - , mußte ich mich nur von den Fakten leiten lassen, die mich nicht nur die Dinge sehen, sondern auch verstehen ließen. Die Psycho-Semiologie neigt dazu, die Psycho-Systematik erfolgreich widerzuspiegeln. In dieser Hinsicht sind die am weitesten entwickelten Sprachen zu bemerkenswerten Resultaten gekommen. Bei genauer Betrachtung der PsychoSemiologie entdeckt man das von ihm verdeckte Psycho-Systematische. In diesem Punkt ist die Psycho-Systematik wesentlich einträglicher, denn sie leistet mehr als die einfache Beschreibung der wahrnehmbaren Erscheinungen. Es gibt in den Sprachen zwei Uhrwerke: das Psycho-Systematische, das ausschließlich das im Geiste Konstruierte, also die Langue betrifft, und das PsychoSemiologische, dessen Grundzüge von der vergleichenden Grammatik gelehrt werden, nichts anderes. Denn man erkennt nur dann, wie das psycho-semiologische Uhrwerk in Wirklichkeit funktioniert, wenn man das darunterliegende psychosystematische Uhrwerk deutlich sieht, weil die Rolle der Semiologie lediglich eine physische Widerspiegelung der tief darunterliegenden Psycho-Systematik ist. Umgekehrt ist das psycho-systematische Uhrwerk nur dann gut zu erkennen, wenn man das psycho-semiologische Uhrwerk sieht, das ersteres verdeckt. Was wir von dem einen lernen, hilft uns, das andere zu verstehen. (Vorlesung vom 21. März 1957)

4. Sprachwissenschaft und Theorie

4.1. Die Theorie: ein vollkommenes

Verstehen

Ich habe soeben das Wort Theorie verwendet. In meiner Lehre bedeutet Theoretisieren ein vollkommenes Verstehen. Die Theorie ist der Superlativ des Verstehens. Daraus entspringt die Notwendigkeit dem, was man von den Dingen verstanden hat, die Form einer Theorie zu verleihen. Die Ingenieure sind erst mit dem Verständnis der von ihnen behandelten Fakten zufrieden, wenn sie dazu eine Theorie geschaffen haben, die sich meist auf die Mathematik stützt. Oft sind Linguisten Theorien gegenüber sehr mißtrauisch. Sie sehen in ihnen eine

35 unzulässige Tendenz, sich ins Abstrakte zu versteigen, in die Fiktion des Abstrakten, gleichzeitig die vertrauten Horizonte des Konkreten zu verlassen, in denen der wissenschaftliche Zweifel verbannt ist. Ihnen ist entfallen, daß das Konkrete sichtbar, aber nicht verständlich ist. Selbst minimales Verstehen (so gering es immer auch sei) fordert abstraktes Denken. Man könnte behaupten, daß es kein Sehen ohne ein geringstes Verstehen gibt, woraus folgt, daß das durchdringende Sehen, das Sehen in seinem vollsten Ausmaß, dasjenige ist, das aus wirkungsvollem häufig unvermittelt eintretendem Verstehen entspringt. Es sollte das ständige Bemühen des Linguisten sein, nach den Einsichten zu suchen, die in diesem tiefen Verstehen verwurzelt sind. Die Grundfragen der (¡¡¡gemeinen Sprachwissenschaft von F. de Saussure lehren mit Recht - übrigens ohne es zu beweisen - , daß die Sprache ein System ist. Ein System existiert nur für denjenigen, der es versteht. Für den, der es nicht versteht, weil sich ihm nur die sichtbaren Bestandteile in der direkten Beobachtung offenbaren, existiert das System nicht.17 Ein auf direkte Beobachtung bedachter Linguist, der fest entschlossen ist, alles durch Beobachtung zu sehen, und der dabei sorgfältig vermeidet, das Sehen der Beobachtung durch ein Sehen des Verstehens zu ersetzen, würde den Eindruck bekommen - einen Eindruck, der gewisse Leute gerade wegen seines immensen Ausmaßes anspricht daß die Langue eine ungeheure Unordnung, ein ungeheures Nicht-System beinhaltet. In diesem Nicht-System ist der Geist völlig verloren, und es ist töricht, dann überhaupt einen Weg suchen zu wollen, da die Natur der Unordnung jegliches Verstehen ausschließt. Das mit der Zeit in der Linguistik endlich erreichte Sehen des Verstehens setzt ein wiederholtes Hin und Her vom Sehen zum Verstehen, vom Verstehen zum Sehen und vom Sehen zum Verstehen voraus. Die Bewegung ist die eines Pendels und könnte so dargestellt werden: Sehen 1

Verstehen 1

Sehen 2

Verstehen 2

Sehen 3

Verstehen 3

Sehen 4

Verstehen 4

17

Zwischen den Zeilen: Es ist möglich, Systemen zu begegnen, ohne sie als solche zu erkennen.

36 und so weiter, bis ins Unendliche. So gibt es vom Sehen 1 bis zum Sehen 4 keinen Unterschied, was die Materialität der gesehenen Sachen betrifft, aber einen Unterschied im Verstehen, das vom Sehen hervorgevorrufen wird, und im darauffolgenden Sehen des Verstehens. Die Legende von Newtons Apfel ist in dieser Hinsicht lehrreich. Ein jeder hatte Äpfel fallen sehen und ein wenig verstanden, warum Äpfel fallen. Bei Newton wurde dieses Wenig an Verstehen auf einmal ein großes Verstehen, und das sich daraus ergebende Sehen des Verstehens ist der Mechanismus der universalen Schwerkraft. Dieses Sehen ist Jedoch fähig, zu einem neuen und größeren Verstehen zu gelangen, das selbst dem Newtonschen Sehen überlegen sein kann. So schreitet die Wissenschaft voran. Das ist ihre einzige Möglichkeit, sich zu entwickeln. Das Sehen als Erfahrung wird erst dann wirksam, wenn diese Erfahrung als Sehen ein neues Verstehen hervorbringt. Die wissenschaftliche Tätigkeit ist in extenso ein Hin- und Herpendeln vom Sehen zu einem das Sehen transzendierenden Verstehen und von diesem Verstehen zu einem Sehen auf der gleichen Ebene. Man kann, ohne zu Ubertreiben, der traditionellen Linguistik die übermäßige Tendenz vorwerfen, beim Sehen der Beobachtung verweilen zu wollen, ohne sich zu bemühen, es durch ein großes, weitreichendes Sehen des Verstehens zu ersetzen. Diese Tendenz der Linguistik", die dazu führt, mehr sehen als verstehen zu wollen, hat bewirkt, daß die linguistischen Forschungen eher auf die Konsequenzen als auf die Bedingungen gerichtet sind. Deshalb werden mit Beharrlichkeit - ich hätte beinahe gesagt mit Hartnäckigkeit - die Ausdrucksakte untersucht und die davorliegenden Repräsentationsakte fast gänzlich vernachlässigt. (Vorlesung vom 29. November 1956)

4.2. Die Langue ist eigentlich schon eine Theorie Die zweite Vorlesung am Donnerstag, die bedauerlicherweise weniger besucht ist, (bedauerlicherweise, weil sie von den beiden die geeignetere ist, Interesse an der Linguistik zu wecken) ist meine Forschungsvorlesung. Dort habe ich die verschiedenen Wege aufgezeichnet, die meine Gedanken, zuweilen ohne sichere Orientierung, gegangen sind, um die unter den verschiedenen Erscheinungen der Sprachen versteckte Wahrheit der Dinge zu entdecken. Die bisherigen Ergebnisse in den unterschiedlichsten Bereichen der Sprache beweisen, daß diese Wahrheit an sich eine Ordnung ist. Sie ist eine Ordnung, weil die Langue eigentlich schon eine Theorie ist, also ein Phänomen, das sich zur Theoretisierung eignet. Man weiß

Am Rand: Eine Tendenz, die ständig gewachsen ist.

37 vielleicht nicht hinreichend, was eine Theorie ist. Eine Theorie ist nichts anderes als das Wissen von der Subordinierung einer großen Anzahl besonderer Fakten unter eine kleine Anzahl allgemeiner, vorherrschender Fakten, die sogar nicht größer als eins sein kann. Und genau dies macht eine Sprache eigentlich aus: All die besonderen, willkürlichen, aus dem Zufall geborenen Fakten, denen sie scheinbar ihre Existenz verdankt, bleiben, ohne daß man es zuerst einmal ahnt, von einer kleinen Anzahl allgemeiner, vorherrschender Fakten abhängig. Obwohl sich diese viel schwieriger erkennen lassen als die besonderen Fakten, sind die allgemeinen Fakten jedoch die strukturell wesentlichen, diejenigen also, die man zuerst kennen sollte; aber weil sie a priori kaum sichtbar sind, werden sie generell am längsten übersehen. In der historischen vergleichenden Grammatik wäre die Gruppierung der besonderen Fakten ganz anders, hätte man ein klares Bild der wenigen vorherrschenden Fakten, die die anderen beherrschen. Man könnte fast behaupten, klänge die Formulierung nicht so komisch, daß sich der Geist das System der Langue durch Selbsttheoretisierung, durch eine Art natürliche Theoretisierung, gegeben hat. Die Theorien, die der Geist auf natürliche Weise von sich selbst aufgebaut hat, haben keine Entsprechung in der Rede, obwohl sie dort widergespiegelt werden können; dort sollte man sie also nicht suchen; sie sind auf einem tieferen Niveau im Geist geprägt, in der Langue. Die vorherrschenden Fakten, von denen die Zahl der besonderen Fakten abhängt, die eine Sprache ausmachen, sind nicht sehr zahlreich, und man stellt fest, daß sie von Epoche zu Epoche immer die gleichen sind, vorausgesetzt, man geht behutsam vor und wechselt nicht die linguistische Ebene.

4.3. Die Annahme einer Ordnung im Aufbau der

Wissenschaft

Diese Art von Systematik wird durch die Formen der germanischen Sprachen gut illustriert. Aber der Entwurf, den diese Formen widerspiegeln, ist auf der tiefsten Ebene des Geistes, im Unbewußten, verankert: Die Sprecher einer germanischen Sprache besitzen ihn, leben und gebrauchen ihn, er ist nahezu organisch in ihnen. Dennoch man kann nicht sagen, daß sie den Entwurf kennen. Sie sind sich seiner nicht bewußt. Sie brauchen ihn nicht bewußt zu kennen, um ihn zu nutzen. Die Aufgabe des Linguisten und des Grammatikers (also unsere jetzige Aufgabe) besteht darin, diesen Entwurf, dieses systematische Schema wiederzufinden. Dazu lassen wir uns von der sorgfältigen Beobachtung der Fakten leiten - von der Beobachtung der Welt wie sie dem Geist erscheint - und zugestandenermaßen außerdem, von der Annahme, daß es eine noch zu entdeckende Ordnung unter den Fakten gibt. Diese beharrliche intuitive Annahme sehr ungewissen psychischen Ursprungs ist der große Stimulus der wissenschaftlichen Forschung. Dort, wo die Annahme nicht vorhanden ist, schläft sie ein. Aber sobald sich der Geist in der

38 wissenschaftlichen Forschung mit der An und Weise des Aufbaus des Universums befaßt, ist er gezwungen, sich mit Repräsentationen des Universums auszurüsten, die bestimmte ästhetische Bedingungen erfüllen. Wenn man, wie hier, ein spezifisches Tempussystem untersucht, wird man von dem Gedanken geleitet, daß es darin eine angenehm zu betrachtende Ordnung gibt - und die Erfahrung zeigt, daß diesbezüglich kein Irrtum vorliegt. Sobald der Geist die Ordnung nur voraussetzt, bemüht er sich, ihr Prinzip zu entdecken; einmal entdeckt oder einfach kurz erblickt oder geahnt, benutzt der Geist dieses Prinzip, um das Gebäude, für das er sich interessiert, Teil für Teil zusammenzufügen. Er macht das in der Hoffnung, die Kohärenz des Gebäudes, an die er glaubt, sowohl analytisch als auch synthetisch zu erfassen. Ohne diesen im menschlichen Geist verwurzelten Glauben, daß das Universum letzten Endes kohärent ist, gäbe es keine aktive, kontinuierliche wissenschaftliche Forschung. Die Wissenschaft beginnt mit der analytischen Entdeckung eines Universums voller Geheimnisse. Diese offenbaren sich weder bei einem ersten Kontakt noch lassen sie sich durch einfache, direkte Beobachtung erschließen. (Vorlesung vom 16. Dezember 1943, Reihe B)

Teil II: Von der Problematik zur Systematik

1. Das Postulat der Einfachheit Eine in hohem Maße linguistische Neugierde, eine besondere Neugierde, gestattet nicht, nur das historisch Uberlieferte zu berücksichtigen, sondern sie befaßt sich mit dem Erkennen der Natur jener Denkvorgänge, welche die Grundlage und das Gerüst für den Aufbau der Langue bilden. Offenkundig handelt es sich hierbei um ein Kernproblem der strukturellen Linguistik. Man darf annehmen, daß die grundlegenden Vorgänge, aus denen die Langue ihre Struktur ableitet, äußerst vielschichtig sind. Sollte sich diese Hypothese bewahrheiten, dann wäre die Langue ohne geringste Einbuße ihres systematischen Charakters, ein unwahrscheinlich dichtes System von geradezu ausufernder Kompliziertheit. Dann müßte dargelegt werden (und eine Erklärung wäre in diesem Falle sogar zwingend), daß der Geist eines jeden einzelnen, also auch der des einfachsten Menschen, die Fähigkeit besitzt, ein äußerst kompliziertes, sofort abrufbereites und stets verfügbares System in sich selbst zu wahren. Ein System, dessen natürliche Entwicklung keineswegs zur Vereinfachung neigt. Eine andere Hypothese erscheint a priori plausibler. Sie besagt, daß die grundlegenden Vorgänge, auf denen die Struktur der Langue beruht, nicht etwa überaus zahlreich, verschiedenartig und von ausufernder Kompliziertheit sind, sondern daß es sich im Gegenteil um ganz wenige Vorgänge handelt, die sich im wesentlichen nur geringfügig voneinander unterscheiden und sich erstaunlich ähneln. Das würde auch erklären, warum die Struktur der Langue leicht zu beherrschen ist, und warum selbst der einfachste Mensch eine Sprache erlernen kann. Diese Frage, so betone ich nochmal, stellt ein Kernproblem der strukturellen Linguistik dar. Folglich hat mich die Frage nach den grundlegenden Vorgängen der Langue mehrere Jahre lang beschäftigt. Schließlich bin ich aufgrund langer Beobachtung und angestrengten Nachdenkens zu der Überzeugung gelangt, daß die grundlegenden Vorgänge der Langue im Kern nur aus äußerst einfachen und wenigen Vorgängen besteht, die sich ständig am Ort ihrer eigenen Ergebnisse wiederholen und deren Eigenschaft es ist, genau diese Vorgänge bereitzustellen, aus denen das menschliche Denken seine Kraft herleitet. Die grundlegenden Vorgänge, denen das menschliche Denken seine Kraft verdankt, sind exakt die gleichen, aus denen die Langue ihre grundsätzliche Struktur ableitet. Berücksichtigt man das

40 soeben Dargelegte, bedeutet das eigentlich nichts anderes, als daß die Beziehungen, die beim Aufbau der Langue zwischen dem historisch Uberlieferten stattgefunden haben und stattfinden, von den grundlegenden Denkvorgängen bestimmt werden. Sie zielen darauf ab, die Potentialität zu vermehren, das heißt, sie verleihen dem Denken mehr Substanz. Es sind also diejenigen Vorgänge, denen das Denken seine eigene operative Kraft verdankt. Während der Entdeckung der grundlegenden Vorgänge der Langue (genau so habe ich zu einem bestimmten Zeitpunkt meiner wissenschaftlichen Laufbahn das Problem gesehen), konnte eine Frage nicht ausbleiben, die ich mir konsequenterweise auch gestellt habe: Welche grundlegenden Vorgänge sind für das Denken notwendig, damit es operativ wird? Notwendig insofern, als daß seine Kraft sofort verschwinden würde, wenn man sie ihm entzöge. Nachdem ich mir also diese Frage gestellt hatte, sah ich mich dazu veranlaßt, Forschungen in verschiedene Richtungen zu betreiben, um eine wissenschaftliche Antwort darauf zu finden. Recht bald kam mir der Gedanke, daß die grundlegenden Vorgänge, auf denen die Struktur der Langue beruht, vom Mechanismus der Extension herrühren und sich entweder in Richtung des immer Umfassenderen und schließlich des Universalen entwickeln oder aber im gegenteiligen Sinn ihrer selbst, in Richtung des immer Engeren und schließlich des Singularen. Diesen Gedanken, dessen überraschende Eleganz mich regelrecht faszinierte, hielt ich fest (der Forscher ist ja bei seinen Untersuchungen auch um eine elegante Darstellungsweise bemüht, die er seinen eigenen, sich bildenden Gedanken zuschreibt) und nahm mir vor, seine angenommene Exaktheit mittels einer methodischen Untersuchung der wichtigen Fakten der Langue zu überprüfen. Das Ergebnis meiner Prüfung bestand darin, daß die Tatsachen - weit davon entfernt, die Idee zu widerlegen (die Idee, daß die grundlegenden und äußerst einfachen Vorgänge der Langue Teil des Mechanismus der Extension sind und als solche auf die Extension zu oder von ihr wegstreben) - sie eigentlich bestätigten. Diesen überzeugenden Beweis erbringt nicht nur das historisch früh Überlieferte, wie das an der Systematik des Wortes Beteiligte, sondern auch das historisch Späte, wie das Aufkommen des Artikels in den entwickelten Sprachen. (Vorlesung vom 29. Februar 1948, Reihe C)

2. Die Psycho-Systematik: Definition und Methode Die ständig hier getroffene Unterscheidung von Langue und Rede erlaubt einen weit besseren Blick auf die linguistischen Fakten, als der üblicherweise in der traditionellen Grammatik vorherrschende.

41 Die Langue ist das in uns Festgewordene, das den Ausgangspunkt und die Mittel für die Rede zur Verfügung stellt. Sobald der Sprechakt in Gang kommt und sogar schon in dem Moment, wo er vorbereitet wird, trifft er die Langue in uns vorgebildet an. Im Ganzen ist die Langue ein großes Werk, das nach einem allgemeinen Gesetz gebaut ist: nach dem Gesetz der Kohärenz der einzelnen Teile im Ganzen. Und dieses große konstruierte Werk, das aufgrund seiner Kohärenz ein System bildet, spaltet sich, wie uns die Erfahrung zeigt, in viele, in sich wiederum kohärente Teile auf. Die Teile bilden ein integrierendes Gesamtwerk integrierter Systeme. Diese integrierten Teilsysteme sind übrigens, wie alle Systeme, hinsichtlich ihrer konstitutiven Teile integrierend; sie bilden eine eigene Einheit, die aas jedem Einzelnen ein exakt analysierbares Ganzes macht. So ist zum Beispiel das System des Substantivs im Französischen ein Ganzes, ebenso das System des Verbs. Der Linguist1 der Langue hat die Aufgabe, die großen Sprachsysteme, das heißt, das vorgebildete Gesamtsystem, wie es in den tiefsten Tiefen des Denkens vorhanden ist, zu rekonstruieren, bevor er bewußt auf eine der Formen zurückgreift, die es enthält. Die Erfahrung zeigt, daß die Langue ein System von Systemen ist. Diese Rekonstitution der Systeme, aus denen sich die Langue zusammensetzt, bildet einen eigenen und neuen Zweig der Sprachwissenschaft; ich nenne ihn Psycho-Systematik. Er besitzt eine ihm eigene Technik, die noch verbessert wird und der ich den Namen Linguistik der Positionen gegeben habe. Das wesentliche dieser Technik besteht darin, sich jedes linguistische Phänomen unter dem grundlegenden Blickpunkt seiner longitudinalen Entwicklung vorzustellen und es genau so zu analysieren, wie es auch das Denken selbst tut, nämlich mittels transversaler Schnitte auf der longitudinalen Entwicklungslinie. Welches Problem auch immer behandelt werden soll, die eben dargelegte Technik bleibt die gleiche. Das ins Auge gefaßte linguistische Phänomen wird durch eine die longitudinale Entwicklung bezeichnende vektorielle Linie dargestellt. Analytisch wird diese Entwicklung erfaßt, indem auf der für das gesamte Phänomen representativen vektoriellen Linie transversale, anders ausgedrückt unterbrechende Querschnitte, angebracht werden. (Vorlesung vom 9. Januar 1948, Reihe C)

3. Psycho-Systematik und Psychomechanik Mit der Frage nach der engen Verbindung von Sprache und Denken haben sich die Philosophen nahezu vergeblich beschäftigt. Einige haben Denken und Sprache

Guillaumc unterscheidet zwischen dem Linguisten der Langue und dem Linguisten der Rede.

42 näh«- bestimmt und untrennbar miteinander verknüpft. Die Wahrheit sieht in diesem Fall jedoch deutlich anders aus. Um sie in Gänze zu begreifen, muß man unterscheiden zwischen dem eigentlichen Denken und seiner Fähigkeit, sich selbst zu erfassen. Diese beiden sind unterschiedlicher Natur; sie dürfen nicht verwechselt werden. Die Sprache ist vom Denken ganz und gar unabhängig, obgleich sie dazu neigt, sich mit der Fähigkeit des Denkens zu identifizieren, seine innere Aktivität zu erfassen, wie auch immer sie geartet sei. Das Denken ist keinerlei Zwang unterworfen, es ist absolut frei, unendlich in seiner aktiven Entwicklung, doch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, sich selbst zu erfassen, sind systematisch, geordnet und zahlenmäßig begrenzt. Die Sprache bietet uns mit ihrer Struktur ein getreues Abbild davon. Das, was der aufmerksame Beobachter in der Sprache entdeckt, sind genau die Mechanismen, die der Geist gebraucht, um sich selbst zu erfassen. Diese Mechanismen gehören einer Systematik an, deren Studium einen neuen Zweig der Linguistik begründet und den ich Psycho-Systematik der Sprache (psycho-systématique du langage) nenne. Die Psycho-Systematik untersucht nicht die Beziehungen zwischen Sprache und Denken, sondern die fest umrissen en und konstruierten Mechanismen, mit denen sich das Denken selbst erfaßt: Es handelt sich dabei um die Mechanismen, von denen uns die Sprache ein getreues Abbild liefert. Das ist einleuchtend, denn eine aste notwendige Bedingung für einen Ausdrucksakt besteht darin, daß das Denken die Fähigkeit zum Erfassen seiner eigenen Aktivität erworben hat. Ohne die Fähigkeit des Denkens, sich selbst zu erfassen, ist ein Sich-Ausdrück en nicht möglich. Wenn man folglich alles genau in Betracht zieht, so scheint die Sprache die Gesamtheit der Mittel zu sein, die das Denken in sich selbst systematisiert und entwickelt hat. Ziel des Denkens ist es, sich ständig selbst die Möglichkeit zu einem schnellen und klaren, allenfalls sogar unmittelbaren Erfassen von dem zu geben, was sich in ihm entwickelt, ganz gleich welchen Inhalts oder welcher Art diese Entwicklung ist. Die Untersuchung des formalen, psycho-systematischen Teils der Sprache führt uns nicht etwa, wie zu Unrecht vermutet wurde, zu einer Erkenntnis vom Denken und seinem inneren Ablauf, sondern zu einer Erkenntnis anderer Art, nämlich zur Erkenntnis der Mittel, die das Denken im Laufe der Zeit erfunden hat, um ein gleichsam sofortiges Erfassen von dem, was in ihm vorgeht, zu ermöglichen. Die Mittel, die das Denken besitzt, um seine wie auch immer geartete Aktivität zu erfassen (ich werde an anderer Stelle noch darauf zurückkommen), sind also mechanischer Art. Es handelt sich hierbei um die Psychomechanismen, deren konstruktives Prinzip das schnelle Erfassen fördert, es systematisiert und durch eine bessere Organisation gewährleistet. (Vorlesung vom 28. November 1947, Reihe C)

43 4. Partikularisierungs- und Generalisierungsbestrebungen beim Aufbau der Sprache Gegenstand meiner Untersuchungen waren in dieser Abfolge: die linguistische Zeit, ihr Ausdruck und ihre Repräsentation, die Theorie der Redeteile, die Theorie des Wortes, die besondere Theorie des Substantivs, und die der Hilfsverben. Bei allen Studien galt als erklärte oder nicht erklärte Richtschnur die für mich immer wichtiger werdende Unterscheidung zwischen dem Bestreben nach Potentialität, das die Langue hervorbringt, und dem Bestreben nach Aktualisierung, das die Rede hervorbringt. Ich bin heute davon überzeugt, daß die Unterscheidung dieser beiden Bestrebungen die gesamte Sprachwissenschaft beherrscht. Es handelt sich dabei um heterogene Richtungen, die aber dennoch etwas Gemeinsames haben: Die eine - das Bestreben nach Aktualisierung - übernimmt das, was die andere - das Bestreben nach Potentialität - als Ergebnis hervorbringen konnte. Dieses Zusammenspiel ist lediglich ein pragmatisches Einvernehmen hinsichtlich der Nützlichkeit und verhindert keineswegs, daß das Bestreben nach Potentialität auf Denkvorgänge zurückgreift, die von einem gänzlich anderen Gehalt sind als jene, auf die sich das Bestreben nach Aktualisierung gründet. Die vom Bestreben nach Potentialität geforderten Denkvorgänge sind nicht sehr zahlreich, dafür aber grundlegend: Es sind exakt diejenigen, denen das Denken seine Kraft verdankt. Der wichtigste und elementarste Vorgang besteht in der doppelten Bewegung des Geistes in die Richtung des Singularen und des Universalen, das bedeutet allgemeiner ausgedrückt, in einer sich verengenden und einer sich ausweitenden Bewegung. Die Erfahrung zeigt, daß alle Strukturen der Langue auf dieser doppelten Bewegung zwischen den Grenzen des engen Singularen einerseits und dem weiten Universalen andererseits beruhen. Tatsächlich stößt man auf diese doppelte Bewegung überall unter äußeren Erscheinungen, die meist nur ein schwacher Deckmantel für sie sind. So erscheint sie grundlegend und ganz sichtbar bei der Kategorie des Numerus und der Kategorie des Artikels. Wenngleich sie ein wenig verdeckt ist durch den eng verbundenen Vorgang der Verräumlichung der Zeit, wird sie ebenso im gesamten Verb-Zeit-System deutlich: beim ständigen Hin und Her zwischen weitem und engem Zeitraum und zwischen dem engen Zeitraum, dem Präsens, und den ausgedehnten Zeiträumen der vergangenen und zukünftigen Zeitstufen. Anders ausgedrückt: es besteht eine Wechselbewegung zwischen der Zeit als Endlichkeit und der Zeit als Unendlichkeit. Die gleiche doppelte Bewegung bildet auch die Grundlage der gesamten Systematik des Wortes, und die mit der Theorie des Wortes verbundene Theorie der Redeteile trägt ebenfalls Züge davon. Schließlich (und das ist derzeit Thema meiner zweiten Donnerstagsvorlesung) scheint auch der Unterschied zwischen Substantiv und Verb, der im Grunde zwischen dem Raum-Universum und dem Zeit-Universum angesiedelt ist, seinen Ursprung in der Aufeinanderfolge zu haben, durch die der

44 Geist von einer Unendlichkeit des Anfangs zur Endlichkeit und von der Endlichkeit zu einer letzten Unendlichkeit gelangt. Die Unendlichkeit des Anfangs ist der Raum, die Unendlichkeit des Endes ist die Zeit. Die Unterscheidung zwischen Zeit und Raum ist nicht etwa, wie man denken könnte, eine Unterscheidung der Universalgrammatik, sondern ein Unterscheidungsmerkmal innerhalb einer Einzelgrammatik: In der Tat gibt es viele Sprachen, in denen Zeit und Raum Uberhaupt nicht getrennt werden. Die Existenz der Kategorie des Artikels ist ebenfalls ein Faktum der Einzelgrammatik, denn es gibt Sprachen, die keine Artikel besitzen. Desgleichen ist die Vorstellung der Zeit ein Faktum der Einzelgrammatik, denn sie ist von einem Idiom zum anderen verschieden. So läßt sich beobachten, daß nach und nach alles, wovon angenommen wurde, daß es zur Universalgrammatik gehöre, ihr doch nicht entspricht und wieder der Einzelgrammatik zugeordnet wird. Aber was zählt nach so vielen Streichungen noch zur Universalgrammatik? Sicherlich nur wenig, doch das Bleibende ist von unvergleichlicher Bedeutung. Die zwei wichtigsten Fakten sind folgende: 1. Die Sprache besteht aus einem Bestreben nach Potentialität, dessen Realisierung die Langue ist, und aus einem Bestreben nach Aktualisierung, dessen Realisierung die Rede ist; 2. Um die Langue zu konstruieren, greift das Bestreben nach Potentialität auf Vorgänge eigener Art zurück, also auf Potentialisierungsvorgänge, das heißt, auf solch überaus grundlegende Vorgänge, denen das Denken seine Kraft verdankt. Die Denkvorgänge, denen der menschliche Geist seine Kraft verdankt, sind dieselben, mit denen er auch die Langue bildet, denn die Konstruktion der Langue ist der eigentliche Zweck des Bestrebens nach Potentialität. Unter den Potentialisierungsvorgängen, von denen die Sprache ihre Struktur bezieht, muß man der im menschlichen Geist sich ereignenden Aufeinanderfolge der generalisierenden Bewegung (die den Geist im Gegensatz zum Singularen in Richtung des Universalen trägt) und der partikularisierenden Bewegung (die ihn im Gegensatz zum Universalen zum Singularen bringt) größte Wichtigkeit zusprechen. Generell ausgedrückt (und im Sinne einer Formel, die man wie in der Mathematik als kanonische Formel bezeichnen könnte): zum Weitesten als dem Gegenpol des Engsten, oder aber zum Engsten, als dem Gegenpol des Weitesten. Noch allgemeiner formuliert, sollte hier das Prinzip, das zur höchsten Sphäre der Universalgrammatik gehört, hervorgehoben werden: Demnach läßt das im Aufbau der Langue begriffene Denken seine konstruktive Handlung zwischen zwei Grenzen ablaufen (diese ergeben sich abhängig von dem zu lösenden Problem von selbst) und gestattet sich zwischen diesen Grenzen eine freie Bewegung in beide Richtungen. (Vorlesung vom 13. Februar 1948, Reihe C)

45 5. Das Gesetz der Nichtrückläufigkeit Hier muß ein anderes wichtiges Prinzip erwähnt werden: Jede wie auch immer geartete Beziehung A/B, die durch einen Erkenntnisakt in der Langue etabliert werden soll, unterliegt der Bedingung der Ganzheit. Damit aber die Bedingung der Ganzheit erfüllt wird, braucht man eine Bewegung in beide Richtungen in Form einer »additiven« Darstellung, die nicht zum Ausgangspunkt zurückführt. Das besagt das überaus wichtige Gesetz der Nichtrückläufigkeit. Eine Darstellung folgender Art muß also vermieden werden: A

B = 1/2 Beziehung

Ebenfalls eine Darstellung, A, A

2

-B,

B,

die zum Ausgangspunkt zurückführt - zur Ausgangsposition - und die Beziehung annuliert: A

=O A

Man muß eine additive, aufeinanderfolgende Bewegung annehmen, A,

die ohne Rückläufigkeit, ohne an den Anfang zurückzukommen, die beiden Strecken Ä h und BA addiert. Es gilt festzuhalten, daß diese Darstellung der Dinge eine zeitliche und keine räumliche ist. Man nehme zum Beispiel die Strecke Paris-Versailles und zurück. Räumlich betrachtet bringt mich die Rückfahrt nach Paris, also zum Ausgangspunkt, zurück. Die Rückkehrposition ist mit der Ausgangsposition identisch. Zeitlich betrachtet dauert die Fahrt n-Minuten, die Rückkehrposition ist nicht mehr dieselbe wie die Ausgangsposition. Es handelt sich um zwei verschiedene Positionen. Hier handelt es sich um eine neue und nicht mehr erneuerbare Position. Im Raum ist eine Rückkehr möglich, in der Zeit nicht.

46 Diese Zeitgebundenheit ist der Struktur der Sprachen eigen. Wir haben also einen Ausgangspunkt vom Singularen oder vom Universalen (die Extension hat als zwingende Grenzen das Singulare und das Universale) und folgerichtig als Strecke in beide Richtungen entweder:

1)

•Ii, ü,

oder aber: 2)

U, -

(Vorlesung vom 4. Januar 1952, Reihe B)

6. System und Diachronie der Systeme Ich habe bisher mehrmals das Wort System verwendet. Es ist ein Wort, das bei allen Linguisten nicht den gleichen Stellenwert besitzt, sondern sie vielmehr in zwei Lager aufspaltet. Es steht hoch im Kurs bei denjenigen - und ihre Anzahl wächst die der Meinung sind, daß die Linguistik eines Tages in der Lage sein wird, sich aufgrund einer genauen, stets verbesserten und zutreffenderen Beobachtung der Fakten und eines gründlicheren Nachdenkens als eine theoretische Wissenschaft zu konstituieren. Im Gegensatz dazu wird das Wort System geringschätzig und äußerst reserviert von jenen meiner Kollegen aufgenommen, die heutzutage ungerechtfertigterweise befürchten, die Linguistik könne wieder in die Fehler der alten Universalgrammatik verfallen. Sie glauben daher, der Sprachwissenschaft das Recht verwehren zu müssen, mehr zu tun als lediglich zu beschreiben oder zu klassifizieren, wie es seit der Entdeckung des Sanskrits im späten 18. Jahrhundert der Fall war. Seit jenem Zeitpunkt löst die historische und vergleichende Grammatik die Universalgrammatik ab, und die experimentelle Methode tritt an die Stelle der deduktiven Methode. Ich möchte an dieser Stelle gleich betonen, daß dies ein äußerst glücklicher Wendepunkt war. Indem die Linguistik zu einer sich auf die Komparatistik stutzenden, geographischen und historischen Wissenschaft wurde, ist sie den einzig richtigen und erfolgreichen Weg gegangen. Der einzige danach begangene Fehler lag im Hang zu einem übertriebenen Positivismus, ein starkes Mißtrauen gegen die abstrakte Reflexion, und daher die Unterschätzung dessen, was ein solcher Einbezug

47 der Reflexion im günstigen Augenblick an Möglichkeiten und Schärfe zur Beobachtung der Realität beitragen kann. Die nun seit mehr als hundert Jahren gelehrte traditionelle historische und vergleichende Linguistik hat sich nur auf »Fakten« konzentriert, nachdem sie ihr Vertrauen in theoretische Überlegungen verloren hatte, da diese sie vom rechten Weg abgebracht hätten. Ehe recht unerwartete und eigenartige Folge dieses Mißtrauens bestand dann aber darin, daß viele Fakten, sogar die wichtigsten, von ihr übersehen wurden, wie wir im Laufe unserer Studien noch feststellen werden. Die Fakten, auf die die traditionelle Linguistik ihr Augenmerk richtete, waren stets die sichtbarsten, die ohne größere gedankliche Anstrengung der direkten Beobachtung zugänglich waren. Es gibt aber noch andere, nicht weniger wirksame und nicht weniger wirkliche Fakten - in da- Tat sind sie wirksamer und wirklicher - , die jedoch, weil nicht unmittelbar sichtbar, durch direkte Beobachtung nicht erreichbar sind. Diese mehr oder weniger verborgenen Fakten sind von der traditionellen historischai und vergleichenden Linguistik lange Zeit übersehen worden. Erst jetzt beginnt sie, auch diese Fakten allmählich zu entdecken. Meine Arbeit hat einige dieser Fakten ans Licht gebracht. Die Periode des übertriebenen Positivismus, der aus der Linguistik eine Wissenschaft gemacht hat, ist vorbei. Wäre sie in der gleichen Richtung fortgefahren, hätte sie riskiert, eine Ansammlung von Fakten zu werden, die ein Erfassen des Gesamtmechanismus und ein Begreifen der konstituierenden Gesetze unmöglich macht. Viele Linguisten führen heute Untersuchungen durch, um den versteckten Fakten der Sprachgeschichte auf die Spur zu kommen. Bemerkenswert daran ist, daß all diese Fakten bereits seit ihrem Ursprung allgemeine Fakten des Denkens sind, das heißt, dem menschlichen Denken inhärent. Obwohl die Sprachen im Ganzen auf den ersten Blick gesehen eher auf besonderen und konkreten Fakten zu beruhen scheinen, hängen die besonderen Fakten immer von allgemeinen und daher selbständigen und herrschenden Fakten ab und sind diesen unterworfen. Gerade diese Fakten sind von den Linguisten nicht zur Kenntnis genommen worden. Ganz gleich, um welchen Bereich der Wissenschaft es sich handelt, eine Theorie ist nie etwas anderes als eine Beziehung, die zwischen einem allgemeinen Faktum (oder der kleinstmöglichen Anzahl allgemeiner Fakten) und den davon abhängigen besonderen Fakten hergestellt wird. Sie ist die Bestätigung der Vorherrschaft eines Faktums über andere. Ist diese Beziehung - der Vorherrschaft einerseits und der Abhängigkeit andererseits - erst einmal erkannt, läßt sie sich immer besser ergründen. In der Tat kann diese Beziehung nach längerem Überlegen und genauerer Untersuchung eine ganz andere sein, als man zunächst angenommen hatte. Die Theorie muß dann revidiert werden. Theorien sind unstabil, weil die Arbeit an der Entdeckung der Abhängigkeit des Besonderen vom Allgemeinen nie beendet ist und nie beendet sein kann.

48 So kann sich zum Beispiel ein allgemeines Faktum, von dem zunächst eine Menge besonderer miteinander verbundener Fakten abhängig schienen, plötzlich selbst als ein besonderes Faktum herausstellen, das noch allgemeineren Fakten untergeordnet ist, was bis dahin übersehen wurde. Die Unbeständigkeit der Theorien sollte aber nicht als etwas Negatives ausgelegt werden. Sie ist nur ein deutlicher Ausdruck ihrer Fähigkeit, sich ständig weiterzuentwickeln und von neuen Gegebenheiten zu profitieren, welche die Beobachtung und die nicht minder wichtige, innerhalb der Linguistik jedoch zu stark vernachlässigte abstrakte Reflexion liefern, sei sie der Form nach mathematisch oder nicht. An der Spitze da - Hierarchie stehen die Wissenschaften, denen es gelungen ist, aufmerksame Beobachtung konkreter Fakten mit abstrakter Spekulation in einem ausgewogenem Verhältnis zu verbinden. Die Linguistik hat natürlich größere Schwierigkeiten, ihre Theorien zu definieren, als andere beobachtende Wissenschaften. Das hängt damit zusammen, daß in der physischen Welt zwischen den sichtbaren, besonderen, untergeordneten Fakten und den allgemeinen, verborgenen, übergeordneten Fakten eine stabile Beziehung besteht, ganz gleich, ob man sie entdeckt hat oder nicht. In der Sprache hingegen unterliegt die gleiche Beziehung einer ständigen Erneuerung. Eine linguistische Theorie hat es also besonders schwer, zu einer ganz und gar allgemeinen Theorie zu werden. Sie kann nur einen gewissen momentanen Zustand der sich ständig etablierenden, aber gleichzeitig sich unaufhörlich modifizierenden Beziehung, zwischen den zufälligen, besonderen Fakten einer Sprache und den allgemeinen, übergeordneten Fakten darstellen, welche die anderen unterordnen. Diese ständig sich verändernde, tatsächliche und objektive Beziehung in der Langue selbst - die in Wirklichkeit nichts anderes ist als das Sprachsystem - zwischen den besonderen, bestimmten Fakten und den allgemeinen, bestimmenden Fakten, erschwert es der Linguistik, eine Theorie zu entwickeln. Aber wenn man alledem noch hinzufügt, daß diese Beziehung möglicherweise ungenau beobachtet worden ist, wird klar, welche Schwierigkeiten mit der Entwicklung einer allgemeinen Sprachtheorie verbunden sind. Wenn der Physiker die äußere Welt studiert, steht ein Wissenschaftler, der ziemlich

genauer

Beobachtung

fähig

ist,

einem

stabilen,

universalen,

unveränderlichen System gegenüber. Das einzig Schlimme, was dem Physiker passieren kann, ist, daß er das von ihm beobachtete System mißversteht. Mit der Linguistik verhält es sich anders: Die inhärente Veränderlichkeit des Systems erschwert eine genaue Beobachtung. Diese Schwierigkeit wird besonders deutlich, wenn es sich um eine große Zeitspanne handelt (und ein Theoretiker, der nach dem Allgemeinen strebt, kann nicht darauf verzichten), denn das Untersuchungsobjekt ist dann nicht mehr ein System, sondern die systematische Abfolge mehrerer Systeme, die einander in der Zeit ablösen und sich gegenseitig ersetzen. Das vom Physiker untersuchte System der äußeren Welt ist konstant, objektiv, ganz gleich, ob er eine klare oder unklare Kenntnis davon hat.

49 Da das System der Langue, das der Linguist untersucht, objektiv veränderlich, unstabil ist, sollte eine linguistische Theorie in Form einer historischen Theorie dargestellt werden. Der linguistische Theoretiker ist daher zwangsläufig auch ein Historiker. (Verglichen mit dem Historiker des mehr oder weniger zufällig Sichtbaren ist er vor allem Historiker des notwendig Unsichtbaren). So wird der Theoretiker durch die Natur seines Objekts zum Historiker der allgemeinsten, verborgenen Fakten. Der nicht theoretisierende Historiker nimmt nur die augenfälligsten Fakten wahr: jene, die im Bereich des direkt Beobachtbaren liegen, das heißt, nur die besonderen und zufälligen Fakten. Eine der aktuellen Aufgaben der Linguistik ist es, innerhalb der Sprachen die verschiedenen Systeme zu identifizieren - die aufbauenden Teile eines jeden Systems von Systemen - und weiterhin zwischen den erkannten Systemen das Abhängigkeitsverhältnis aufzuzeigen, welches im günstigsten Fall ein historisches ist. Wenn jedoch aufgrund nicht vorhandener oder fehlender Dokumente die historische Verkettung nicht bestimmbar ist, so ist sie eine zwingende, notwendige Verkettung, die sich auf außersoziale und einfach menschliche Faktoren gründet. Einen Gesichtspunkt darf man bei der Untersuchung der Sprachsysteme jeglicher Sprache niemals aus den Augen verlieren: Während der innere Zustand einer Sprache zwar stets auf ein von der Vergangenheit übermitteltes Erbe zurückgeht, wird dieses jedoch von Augenblick zu Augenblick vom menschlichen Denken ständig, seinen eigenen Bedürfnissen, oder wenn man so will, seinen Gesetzen entsprechend, strukturiert. Und diese Gesetze werden immer deutlicher durch die Auseinandersetzung mit diesem Erbe. Die Sprache ist von Augenblick zu Augenblick beides, ein Erbe der Vergangenheit und eine menschliche Gestaltung, die das erhaltene Erbe transzendiert. Bei genauer Überlegung stößt man auch hier wieder auf die berühmt gewordene Unterscheidung zwischen Diachronie und Synchronie, die Ferdinand de Saussure in seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft eingeführt hat. Ich benutze hier andere Worte, um unsere Erkenntnis der Dinge zu vertiefen. Die diachronische Linguistik erfaßt die Dinge im Längsschnitt der Zeit; diese verändert, stört, bringt die Dinge durcheinander und würde sie vernichten, wenn nicht eine entgegengesetzte, ordnende Kraft eingriffe. Die synchrone Linguistik erfaßt die Dinge durch Querschnitte, nicht in ihrer longitudinalen, abbauenden Bewegung, sondern in der entgegengesetzten, aufbauenden oder systematisierenden Bewegung. Diese bestimmt die Beziehungen zwischen den Dingen, indem sie sie den am tiefsten verwurzelten Gesetzen des menschlichen Denkens unterwirft. Die zwei dominanten Bilder bei Saussure sind zum einen die dahinfließende Zeit und zum anderen der Augenblick, der anhält und festlegt. Die folgende schematische Darstellung ist eine Abbildung seiner Vorstellung:

50

Augenblick 1 Augenblick 2 Augenblick 3 Augenblick 4

Dies ist eine durchdringende, doch im vorliegenden Fall zu allgemeine Verstellung. Dom die Systematisierung, die sich bei Saussure auf die festgelegten Augenblicke im longitudinalen Fortschreiten der Zeit bezieht, ist nicht augenblicklich; sie benötigte, benötigt noch und wird, weil sie sich ja ständig ändert, Zeit benötigen, genau wie der gegenläufige Prozeß des Abbaus, von dem die Systematisierung ausgeht. In der Sprache vollzieht sich der systematische Aufbau auf dem Abbau, den eine Sprache von Augenblick zu Augenblick erbt. In der Tat geht es hier um zwei entgegengesetzte, aber sich begegnende Kräfte, die eine abfallend und abbauend, und die andere ansteigend und aufbauend. Das aufgebaute System entsteht, wenn die abfallende Kraft des Abbaus von der ansteigenden, aufbauenden Kraft aufgehalten wird. Eine treffende Darstellung des Zusammenwirkens der abbauenden und der aufbauenden Diachronie wäre die folgende:

u

'Sa c -C cJ n

c o

«0

5

CM U 'S 2 -C «

S

systematische

-o c u 3

Synchronie

& 9 «

Das Aufgebaute - das System - erscheint am Ende der ansteigenden Bewegung, wo es ein relatives (astatisches) Gleichgewicht zwischen den beiden Antrieben gibt. Über dieses Bild und das komplexe Wechselspiel, das darin zum Ausdruck kommt, könnte man viel nachdenken. Von den beiden Impulsen, also dem abfallenden Abbau und dem ansteigenden Aufbau scheint der erste konstant im

51 Vorteil zu sein. Tatsächlich werden einmal erreichte Sprachzustände ständig wieder aufgegeben. Aber der Vorteil, der den abbauenden Impulsen eingebaut wird, ist eigentlich ein illusorischer. Denn ein erreichter Sprachzustand wird nur aufgegeben, um sich erneut und vollständiger der ansteigenden aufbauenden Kraft zu unterwerfen. Diese Kraft ist um so wirksamer, je später sie in der Sprachgeschichte auf die abfallende abbauende Kraft stößt. Daraus folgt, daß die aufbauende Kraft wenig zu tun hat, wenn die abbauende Kraft wenig getan hat. Die Geschichte bestätigt diesen Tatbestand. Die großen linguistischen Systematisierungen und die großen Umwälzungen gehen Hand in Hand. Dies ist übrigens auch der Grund dafür, daß die Systematisierung entwickelter Sprachen der Systematisierung weniger entwickelter, älterer oder konservativerer Sprachen in gewissen analytischen Eigenschaften überlegen ist. Es ist bedauerlich, daß ein so genialer Mensch wie F. de Saussure nicht versucht war, dem Gedanken nachzugehen, daß jedes synchronische System aus einem vorhergehenden, genauso geschlossenen, wenn auch anders gearteten System hervorgeht; deshalb bleibt seine Vorstellung vom Wechselspiel der in den Sprachaufbau verwickelten Kräfte unvollständig. Hätte er sich mit diesem durch Beobachtungsergebnisse bestätigten Gedanken beschäftigt, dann hätte er zugeben müssen, daß es nicht nur eine Diachronie gibt, sondern zwei. Die eine ist konkrete Geschichte der allein und unabhängig von dem System, dessen integraler Bestandteil sie sind, losgelöst betrachteten linguistischen Fakten; die andere ist eine Diachronie, eine Geschichte, der Systeme: eine Diachronie der Synchronien. Denn, und hier weiche ich von Saussures Gedankengängen ab, man hat es nie nur mit einem System zu tun, sondern in dem Moment, wo ein System entstanden ist, beginnt es sich auch schon zu erneuern. In den meisten Fällen ist diese Erneuerung jedoch so sehr in ihrem Anfangsstadium begriffen, daß das System festgelegt, an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden und somit beschrieben werden kann, als sei es stabil. Aus meiner Sicht müßte diese Diachronie der synchronischen Zustände den allgemeinen Rahmen der Sprachgeschichte bilden. Die von den historischen Grammatiken vermittelten Vorstellungen sind, falls überhaupt vorhanden, unvollständig, weil sie die Geschichte des Systems als sprachliche Einheit - das ist zwar etwas Abstraktes, aber dennoch durchaus Wirkliches - gar nicht erwähnen oder nicht einmal erkannt haben. Die besonderen Fakten einer Sprache bilden in jedem Augenblick ein System. Diese Fakten ändern sich. Sie können sich ändern, ohne daß dabei das System verändert wird. Zahlreiche phonetische oder semantische Änderungen können im Inneren eines Systems stattfinden, ohne auch nur im geringsten seinen Mechanismus zu verändern. So haben beispielsweise einige Sprachen ihren Wortschatz geändert, ohne das System auch nur geringfügig zu ändern. Man könnte Französisch sprechen und sich dabei englischer Wörter bedienen, wie es in snobistischen Kreisen zuweilen sogar geschieht. Die Änderungen, die in einem

52 solchen Fall vorgenommen werden, sind äußerst gering, wenn nicht gleich null. Die bedeutendsten und interessantesten Veränderungen sind jene, die eine systematische Veränderung auslösen oder begleiten. In solchen Fällen ist es wichtig - dabei darf die Geschichte der konkreten besonderen Fakten nicht aus den Augen verloren werden - , die abstrakte Geschichte des Systems selbst zu erkennen, das heißt, nicht die Geschichte seiner materiellen Bestandteile, sondern die Geschichte der zwischen ihnen errichteten Beziehungen. Anders ausgedrückt: nicht die Geschichte der miteinander verbundenen Dinge, sondern die ihrer Verbindung oder Kohärenz. In der traditionellen historischen Grammatik wird dieser Geschichte kein fester oder kaum nennenswerter Platz eingeräumt; man darf ihr also nicht etwa den Vorwurf Saussures machen, daß sie zu ausschließlich historisch sei, sondern im Gegenteil, daß sie es nicht in ausreichendem Maße ist. Um vollständig zu sein, müßte die historische Grammatik zahlreiche Kapitel über die Geschichte der grammatischen Systeme enthalten, statt sich nahezu ausschließlich der individuellen Geschichte der Formen zu widmen, auf denen diese Systeme aufgebaut sind. Im übrigen wird ja die Geschichte der das System aufbauenden Formen durch die der Systeme selbst, als abstrakte Entitäten, die aufzeigen, wie die bestehenden Formen zusammenhängen, erhellt. Und der echte Sprachhistoriker wäre demnach, wie schon gesagt, derjenige, der beides sehen könnte, die konkreten Veränderungen, welche die Formen betreffen und die abstrakten, weniger sichtbaren Veränderungen, die das System betreffen, das in seiner Existenz aus diesen nach den ewigen Gesetzen des menschlichen Denkens zusammengefügten Formen besteht. Ich wünschte, ich könnte die Sprachgeschichte anhand eines Schemas aufzeigen, das sowohl isolierte Formen als auch Formensysteme und ihren genauen Entwicklungsgang darstellt. Das ist jedoch nicht einfach. Dazu müßten zunächst einmal Regeln aufgestellt werden, die alle Arten von Veränderungen der systembildenden Formen betreffen können. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Erstellung repräsentativer Schemata muß ich mich damit begnügen, sie in der gewöhnlichen Art und Weise, das heißt, mit Worten zu beschreiben. Einerseits kann ein System unverändert bestehen bleiben, wenn es sich um Formen handelt, die lediglich seine äußere Gestalt verändern. Das kommt häufig vor. Solange es dabei bleibt, hat nicht das System eine Geschichte, sondern nur seine Teile. Andererseits kann sich das System verändern, ohne daß die Formen dabei ihre äußere Gestalt modifizieren. Es genügt dann bereits, daß sie ihre Position innerhalb des Systems wechseln. Fast jeder Stellungswechsel einer Form innerhalb eines Systems fällt mit einer bedeutenden Systemveränderung zusammen. So hat zum Beispiel das Spanische vom Lateinischen die Verbalformen auf -ra geerbt, denen dort aber bald eine andere systematische Position als im Lateinischen innewohnte. Wichtig ist hier der Positionswechsel, und um dies richtig begreifen zu können, muß man einen klaren Einblick in den Wandlungsprozeß des Systems gewonnen haben. Man muß also seine systematische Diachronie oder einfacher

53 gesagt, die Geschichte des Abstrakten, des nicht direkt Beobachtbaren, eben des Systems, ausfindig gemacht haben. Es kann auch geschehen, was allerdings selten ist, daß eine Form innerhalb eines Systems die Position einer anderen einnimmt, die dann wiederum genau die Position derjenigen Form übernimmt, die sie ersetzt. In einem solchen Fall verändert sich das abstrakte System nicht. Die Veränderung, die sich hier auf die Ebene des konkreten Ausdrucks beschränkt, ist in Wirklichkeit gleich null. Es fehlt mir heute die Zeil, all die möglichen Fälle und jene, die aus der Überlappung verschiedener Fälle hervorgehen, aufzuzeigen. Als wichtigstes Ergebnis gilt festzuhalten, daß es innerhalb der Sprache zum einen Veränderungen gibt, die keinerlei Auswirkung auf das System haben, also systemunabhängig sind, zum anderen aber Veränderungen, die das System modifizieren. Diese beiden Arten von Veränderungen dürfen weder verwechselt, noch in einer guten historischen Grammatik an derselben Stelle behandelt werden. Die lange Erfahrung mit verwickelten linguistischen Problemen hat mir gezeigt, daß die Veränderung der Dinge innerhalb der Sprache nicht mit Genauigkeit dargestellt werden kann, sofem man unterhalb der sichtbaren Modifikationen, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nicht die tiefgreifenden Veränderungen im Sprachsystem selbst erkennt. Um beispielsweise genau zu begreifen, wie sich das Verb vom Lateinischen zum Französischen verändert hat,, muß man in klaren Linien das lateinische Verbalsystem aufzeigen und ihm das französische gegenüberstellen können. Dann ist die Systemumwandlung erkennbar und seine Geschichte anhand der sichtbareren Geschichte der einzelnen Teile nachvollziehbar. (Vorlesung vom 11. November 1943, Reihe A)

7. Der kontinuierliche Kausalvorgang der Sprache: Vorgeschlagenes und Umgewandeltes Der Kausalvorgang der Sprache ist kontinuierlich. Er ist ein ständig wirksamer kausativer Mechanismus der Systematisierung, die uns zu allererst ein in sich selbst systematisiertes Gefüge liefert, das ich konstruiertes Causatum, nennen werde. Der kausative Mechanismus wirkt in diesem Gefüge weiter, verändert es mit der Zeit und bewirkt somit ein konstruiertes Causatunx,. Die im Inneren des Causatumj weiterwirkende Systematik bewirkt wiederum eine Entwicklung, die ihrerseits ein konstruiertes Causatumj «zeugt. In diesem wirkt der kausative Mechanismus weiter und bringt schließlich ein konstruiertes Causatum4 hervor. Dieses verhält sich genau wie die vor ihm konstruierten Causata. Auf diese Weise geht der Kausalvorgang von konstruiertem Causatum zu konstruiertem Causatum unendlich weiter -

54 unendlich bedeutet hier, solange die Möglichkeit besteht, in dieser Weise ein konstruiertes Causatum zu bilden, das sich von dem vorhergehenden unterscheidet. Die Möglichkeit stetig erneuerter Differenzierung nimmt nicht zu, sondern ab: Der

Differenzierungsprozeß

verlangsamt

sich.

Es handelt

sich

um

eine

asymptotische Annäherung an eine Grenze, an der auf die Möglichkeit der Differenzierung die Unmöglichkeit zu differenzieren folgen würde. Mit anderen Worten: Die Differenzierung der konstruierten Causata verlangsamt sich bis zur unmittelbaren Grenze der Auslöschung, ohne diese aber direkt zu erreichen. Während der Annäherung an diese Grenze wird die Möglichkeit zur Differenzierung zwar aufrechterhalten, doch ist die Wahrscheinlichkeit einer Differenzierung gering. Die im Französischen gegenwärtig wirksame Differenzierung durch aufeinanderfolgende konstruierte Causata vollzieht sich langsam: es ist die Bewegung einer Form, die eine beträchtliche Verlangsamung der Differenzierung mit sich bringt.

Die Möglichkeit

zur Differenzierung besteht zwar weiterhin, die

Wahrscheinlichkeit dazu wird jedoch immer geringer. Diese Beziehung von möglich/wahrscheinlich findet man in der Morphologie des Neufranzösischen. In einem Schöna könnte man die Glossogenie folgendermaßen darstellen: C steht für den ursprünglichen kausativen Mechanismus, kC,, kC 2 , und kC 3 für die aufeinanderfolgenden konstruierten Causata und der griechische Buchstabe A bezeichnet das differenzierende Verfahren. C

•[kC,]

»• [ k C J I A kC,

• I

[ kC, ] I AkC2 I



[kC„, ] I AkCn.2l

Bei C 2 handelt es sich um ein differenzierendes Verfahren A von kC,, bei kC, um ein differenzierendes Verfahren Ä von kC 2 usw. (Das muß nicht weiter ausgeführt werden). Die Verkettung einander folgender konstruierter Causata besteht demnach, von einem Augenblick zum nächsten, aus einem Wechsel von einem früheren Vorgeschlagenen in ein darauf folgendes Umgewandeltes. Auf diese Weise ergibt sich eine glossogenetische sukzessive Abfolge, deren allgemeine Progression folgendermaßen verläuft, p steht hierbei für das Vorgeschlagene und p', für das sich daraus ergebene Umgewandelte [pl

[p'l

und auf das Französische angewandt: Ipl

Altfranzösisch

[p'l

Neufranzösisch

(Vorgeschlagenes

(Umgewandelles

für das Umgewandelle p')

des Vorgeschlagenen p)

55 Daraus leiten sich für den Linguisten, der sich mit dem Französischen beschäftigt und darüber hinaus mit dem Werden von Sprache allgemein, zwei mögliche Untersuchungsmethoden ab: eine nicht-retrospektive, die nur das Umgewandelte untersucht und eine retrospektive Methode, die sich in ihrer Beobachtung vom Umgewandelten ausgehend zum Vorgeschlagenen zurückbewegt. Die erste Methode führt zu einem Überblick über den gegenwärtigen Stand der französischen Sprache, die zweite zu einem vergleichenden Uberblick über den aktuellen und den vorausgegangenen Stand des Altfranzösischen, das heißt, zu einem vergleichenden Überblick über das Umgewandelte p' und das Vorgeschlagene p. Das Altfranzösische ist das Vorgeschlagene, das Neufranzösische, das Umgewandelte; gleichermaßen kann das heutige Französische im Vorgriff als das Vorgeschlagene für ein zukünftiges, aber als solches noch nicht erfolgtes Umgewandeltes betrachtet werden. Mit Hilfe eines Schemas läßt sich die Gestalt des Phänomens folgendermaßen aufzeigen: Vorgeschlagenes

—•

Umgewandeltes \ Vorgeschlagenes

—•

Umgewandeltes \ Vorgeschlagenes

—>•

Umgewandeltes \ Vorgeschlagenes

Die Basis der Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft bildet die von Saussure getroffene Unterscheidung von Synchronie und Diachronie. Die mit Hilfe dieser griechischen Termini getroffene Unterscheidung ist nichts anderes als die zwischen einer Untersuchung der Sprache, die sich auf das Umgewandelte beschränkt und einer erweiterten, die einen Vergleich mit dem Vorgeschlagenen einbezieht. Beschränkt sich die Untersuchung auf das Umgewandelte, wählt man die Synchronie. Wird die Untersuchung auch auf das Vorgeschlagene ausgedehnt, wählt man die Diachronie. Altfranzösisch ist das Vorgeschlagene des Neufranzösischen, welches wiederum das Umgewandelte dieses Vorgeschlagenen ist. (Vorlesung vom 15. Januar 1959)

8. Probleme der Repräsentation und Sprachzustände In der Linguistik stellt die bereits erworbene Lösung dem Geist stets Probleme. Eine linguistische Lösung, das heißt, jeglicher Sprachzustand, hat immer diese doppelte

56 Kernsequenz: Einerseits müssen die Probleme der Repräsentation, die sich dem Geist stellen, gelöst werden, andererseits werden sie dem Geist mit Hilfe der gewonnenen Lösungen erneut gestellt. Die Probleme der Repräsentation sind nie endgültig gelöst: In der Linguistik ist eine Lösung nicht nur eine Lösung, sie ist außerdem eine Neuformulierung des bereits gelösten Problems. Dies erklärt die Unendlichkeit des linguistischen Werdens. Eine noch so elegante oder gelungene Lösung bringt eine neue Problemstellung mit sich und fordert einen erneuten Lösungsversuch. Und dieser Prozeß setzt sich ins Unendliche fort. (Vorlesung vom 5. Dezember 1947, Reihe C)

9. Sprache und stilles Denken In diesem Zusammenhang möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen besonderen Punkt lenken: In der Langue ist nämlich nicht nur vorhanden, was für das unmittelbar vor dem sprachlichen Ausdruck stehende Denken notwendig ist, sondern auch das, was man als das für das stille Denken Notwendige bezeichnen könnte. Es ist außerhalb des effektiven Sprechaktes damit beschäftigt, sich selbst zu überprüfen und dabei nach den besten Mitteln zu suchen, das zu erfassen, was in ihm vorgeht. Es ist falsch, den Bau der Langue allzu eng mit dem zu verbinden, was während des Sprechaktes stattfindet; die Wahrheit ist, so glaube ich - und für meine Lehre ist das grundlegend daß sich die Langue natürlich in uns durch Ausübung bildet, aber auch außerhalb der Ausübung, während des tiefen unaufhörlichen Nachsinnens, das endlos im Geiste denkender Menschen (und das sind eigentlich alle oder zumindest der größere Teil von ihnen) vor sich geht. Ich glaube, der tiefste Teil der Langue entspringt viel stärker dem unaufhörlichen Nachsinnen des menschlichen Geistes als der direkten Ausübung des Sprechaktes, die in zahlreichen Fällen Dinge auf den Plan ruft, die vom Geist bereits außerhalb des Sprechaktes entdeckt wurden. Der Geist sammelt sich dort, wo er sich auf sich selbst besinnt. Die in unserem Studium großer linguistischer Systeme so sichtbare metaphysische Seite der Sprachen ist zum Teil Ausdruck einer unaufhörlichen Denkarbeit, die weit über die relativ kurzen Momente hinausrcicht, in denen wir unsere angeborene Sprechfähigkeit tatsächlich ausüben. (Vorlesung vom 3. Februar 1944, Reihe B)

Teil III: Signifikant und Signifikat

1. Ein grundsätzlicher Dualismus: das Physische und das Geistige Wir erklären etwas so, wie wir es verstanden haben. Wir verstehen etwas so, wie wir es haben beobachten können. Das wiederum heißt, daß wir eigentlich nur das erklären können, was wir beobachtet haben. In der Sprachwissenschaft muß nun allerdings die Beobachtung, um vollständig zu sein, beides, sowohl das physisch Sichtbare - also das unmittelbar Sichtbare - als auch das geistig Sichtbare und somit nicht-physisch Sichtbare, das unter dem physisch sichtbaren Teil der Sprache sichtbar ist, einbeziehen. Von allen in der Sprache und der Wissenschaft, die Sprache als Beobachtungsobjekt hat, existierenden Beziehungen und Korrelationen ist die Beziehung zwischen dem Physischen und dem Geistigen die wichtigste und die am stärksten vernachlässigte (das heißt, diejenige, die am wenigsten berücksichtigt worden ist). Die Sprache verkörperlicht, wenn ich so sagen darf, das Geistige. In der Sprache verlangt das Geistige nach dem Physischen, um sinnlich wahrnehmbar zu werden, sei es visuell oder auditiv. Das geschieht, indem das Geistige auf ein sensorielles Mittel zurückgreift, dessen begrenzte Rolle darin besteht, eine v erkörperl ich te Wiedergabe des Geistigen zu liefern. Diese Wiedergabe wird natürlich nie ein vollkommen getreues Abbild des geistigen Originals sein, das es wiederzugeben versucht. Im Laufe ihrer langen strukturellen und architektonischen Geschichte stellt die menschliche Sprache in ihrem fortgesetzten kausalen Werden eine beständige Suche nach optimaler Wiedergabe dar. Ich habe soeben optimal gesagt. Darunter soll verstanden werden: das Bestmögliche, was von der Sprache in Anbetracht eines bestimmten Entwicklungszustandes zu einer bestimmten Epoche und in einer bestimmten Gesellschaft erreicht werden kann. Ein Optimum, nach welchem bestenfalls nur noch das Unmögliche kommen kann, ist unvorstellbar. Es entschwindet in der Feme, und die Grenze seiner Flucht ist der Augenblick, mit dem sich die Analytiker möglicherweise nicht ausreichend befaßt haben, der Augenblick nämlich, in dem eine bessere Wiedergabe, obwohl noch möglich, ganz und gar nicht wahrscheinlich, ja äußerst unwahrscheinlich ist. (Vorlesung vom 22. Januar 1959)

58 2. Das Bedeuten und die Beziehung Physismus/Mentalismus Meine Beobachtung der Synapsen1 innerhalb einer Deklination stützt sich auf den Grundsatz, daß jene Fälle einer Deklination flüchtige Eindrücke beinhalten, die an Zeichen gebunden sind, welche als diesen Eindrücken entsprechend betrachtet werden. Diese Eindrücke besitzen eine starke Ballungskraft, die sie befähigt, sich geistig unter Zeichen zu gruppieren, die ihre geistige Kombination zum Ausdruck bringen. Ich neige dazu, mir die Bildung der Langue nicht in Form einer linearen etymologischen Ableitung vorzustellen, sondern eher als eine ständige Zusammenballung flüchtiger Eindrücke, gebunden an formative Elemente, die sich agglutinieren, um die physische Entsprechung der geistigen Zusammenballung zu produzieren. Auf der geistigen Seite sehe ich die Wörter einer Sprache als eine Sammlung von mehr oder minder flüchtigen Eindrücken mit einer Ballungskraft, die sie zusammenschweißt, und auf der physischen Seite sehe ich sie als eine Sammlung entsprechender formativer Elemente, denen die Eindrücke zugeordnet sind. Die Entwicklungslinie, die zur Konstruktion der Vokabel2 verfolgt wird, hat nichts mit jener gemein, die für die etymologischen Wissenschaften spezifisch ist. Die Etymologie schildert die historische Genese der Wörter nicht als eine Linie, auf der Gruppierungen, das heißt, Verschmelzungen aufeinanderfolgender, flüchtiger, gedanklicher Eindrücke stattfinden, die an formative Elemente, ihre physischen Entsprechungen, gebunden sind. Sie führt die Genese zurück auf eine Linie, auf der ein Wort durch einfache Ableitung aus dem anderen hervorzugehen scheint. Dies führt zu den bereits erwähnten Schwierigkeiten hinsichtlich der Erklärung sowohl der geistigen Herleitung der Bedeutungen als auch der physischen Herleitung der stattgefundenen phonetischen Veränderungen. Die beiden Entwicklungslinien bleiben nämlich spekulativer, als gemeinhin angenommen. Die traditionelle vergleichende Grammatik hat nahezu ausschließlich den Physismus der Wörter betrachtet. Nicht beachtet wird die in der Struktur und Architektur der menschlichen Sprache ausschlaggebende Beziehung von Physismus und Mentalismus. Veränderungen dieser nicht beobachteten Beziehung sind mangels notwendigen Scharfblicks daher auch nicht erkannt worden. Man muß nur ein wenig über dieses Thema nachdenken, um zu erkennen, daß eine vergleichende historische Grammatik möglich wäre, die sowohl die veränderten physischen Erscheinungsformen untersucht als auch die veränderte Beziehung zwischen diesen physischen Erscheinungsformen und dem ihnen zugrundeliegenden geistigen Aspekt. Das ist, für die Linguisten, die kühn genug sind, neue Wege zu gehen, die vergleichende Grammatik von morgen.

2

Guillaume definiert Synapse als den Zusammenfall von Formen, hinter dem sich eine Bedeutungsähnlichkeit auf dem Niveau der Langue verbirgt. Unter Vokabel versteht Guillaume jegliche Einheit der Langue, die nur in den indoeuropäischen Sprachen dem Wort entspricht.

59 Seltsamerweise scheinen jedoch alle gegenwärtigen Bemühungen diese vergleichende Grammatik hinauszuzögern. Obwohl das Bedeuten die notwendige charakteristische Eigenschaft der Sprache ist, gibt man sich große Mühe, nur das Physische zu berücksichtigen, das ja bedeutungslos bleibt, wenn es nicht etwas Geistiges beinhaltet, was die Voraussetzung für das Bedeuten bildet. Einzig geeigneter Standpunkt für eine sinnvole Untersuchung der Sprache ist jener, der überall in ihr die dyadische Beziehung Physisches/Geistiges erkennt, und der ermöglicht, seine Verteilung unter den Teildyaden Physisches/Geistiges zu verfolgen. (Davon sind die Redeteile im Französischen die wichtigsten, das heißt, die allgemeinsten). Die strukturelle und architektonische Sprachgeschichte ist zu jeder Zeit ein Bericht über die Verteilung der dyadischen Beziehung Physisches/ Geistiges unter Teildyaden - eine sine qua non Bedingung für die Existenz einer Sprache - , von denen jede wiederum ein System innerhalb des Gesamtsystems, der Langue, bildet. Jegliche Langue scheint also ein System darzustellen, das der Bedingung des Einsseins genügt und eine gewisse Anzahl an Teilsystemen in sich birgt. Das Gesamtsystem zeichnet sich dadurch aus, daß es selbst nicht in einem größeren System enthalten ist und auch keine äußere Gestalt hat. Eine Langue scheint sich weiterhin aus Subsystemen zusammenzusetzen, die in jedem Teilsystem enthalten sind. Im Französischen gibt es das Nominal- und das Verbalsystem; innerhalb des Nominalsystems gibt es die Subsysteme des Substantivs und des Adjektivs und innerhalb des Verbalsystems die Subsysteme der unpersönlichen (paranominalen) und der persönlichen Konstruktionen. Um einen vollständigen Überblick über eine gegebene Langue zu erhalten, muß man vom systematischen Ganzen nach innen, zu den Systemen und Subsystemen, gehen und ihre geistige Verkettung darin verstehen, das heißt, wie sie in ihren entsprechenden physischen Verkettungen zum Ausdruck gelangt. Bei jeder beobachteten Sprache ist es Aufgabe des Linguisten, sich von den Systemen zu den Subsystemen durchzuarbeiten, ohne jemals dabei den gemeinsamen Zusammenhang der Bewegungen und Bewegungsformen, der sie alle bestimmt, aus den Augen zu verlieren. (Vorlesung vom 22. Januar 1959)

3. Verinnerlichung und Veräußerlichung in der Sprache Bis heute hat sich die Linguistik zu sehr den physischen Mitteln der Veräußerlichung der Sprache und nicht genügend der Beobachtung des Nicht-Physischen, der geistigen Mittel der Verinnerlichung, gewidmet (diese zwei Arten von Mitteln entwickeln sich äquipollent in entgegengesetzter Richtung). Das war ein Fehler.

60 Die Symphyse der beiden Mittel, die bei einem normalen Sprecher nie gestört, bei einem pathologischen Sprecher aber unterschiedlich stark gestört sein kann, hat nie die volle Aufmerksamkeit der Linguisten gefunden. Es handelt sich um einen Mechanismus, den sie als solchen ignoriert haben. Noch kein Linguist hat sich gesagt: »Der Sprache, die ich unter physischen Zeichen veräußert sehe, entspricht eine durch geistige Mittel verinnerlichte Sprache«. Anders gesagt, bestand der Fehler der traditionellen Linguistik darin, nicht gesehen zu haben (und zwar mit dem geistigen Auge, mit dem Auge des Verstehens), daß jeder kleinste Schritt in Richtung einer Verinnerlichung einen ebensolchen Schritt zu einer Veräußerlichung verlangt, und dadurch klärt uns unser Wissen über die Mittel der Veräußerlichung der Sprache darüber auf, welche die geistigen, verinnerlichenden Mittel waren. Dank dieser Symphyse kann dann eine wahrhafte Sprachwissenschaft aufgebaut werden. Das beständige Ziel dieser Vorlesungen bleibt die Suche bzw. die Aufdeckung der unter den Mitteln der Veräußerlichung versteckten entsprechenden Mittel der Verinnerlichung. Die Mittel der Veräußerlichung bilden für denjenigen, der weiß, wie man sie hinterfragt, bis sie eine Antwort hergeben, gewissermaßen einen Spiegel. Dazu möchte ich folgendes unterstreichen: Jedesmal, wenn ich im Französischen auf ein Zeichen (ein Mittel der Veräußerlichung), beispielsweise den Artikel, stoße, muß ich mich fragen, von welcher Verinnerlichung er veräußernder Vermittler ist. Der Vorgang der Verinnerlichung ist ausschließlich geistiger Natur, der Vorgang der Veräußerlichung hingegen eine Umwandlung vom Geistigen ins Physische. Die gleiche Formulierung könnte man gebrauchen, ohne auch nur das Geringste daran zu ändern, um jegliches linguistische Faktum zu beschreiben, das beobachtbar, folglich mit Mitteln der Veräußerlichung ausgestattet ist. (Vorlesung vom 28. November 1957)

4. Die Angemessenheit des Signifikanten3 in Bezug auf das Signifikat Die Beziehung Signifikant/Signifikat: ein umfangreiches Thema. Es handelt sich um eine Beziehung der Angemessenheit. Ein Gesetz: die Angemessenheit wird nie übermäßig stark sein. Die zwei Arten der Angemessenheit:

Selbst von dem Augenblick an, wo G. Guillaume sich dafür entscheidet, im Rückgriff auf die traditionelle Linguistik wieder das W o n Zeichen für Saussures Signifikanten zu setzen, geschieht es, daß er, wie hier, gelegentlich noch die Terminologie Saussures verwendet.

61 a) die materielle b) die formale Wir hätten es mit materieller Angemessenheit zu tun, wenn der Signifikant, ganz von sich aus - aufgrund seiner Materialität - , Träger eines Signifikats wäre. Eine linguistische Konvention wäre nicht nötig. Die Konstruktion der Sprachen ist nicht in dieser Richtung verlaufen. Die Angemessenheit des Signifikanten in Bezug auf das Signifikat beruht nicht auf der Materialität des ersten, sondern auf ganz anders gearteten Bedingungen der Anpassung. Ein Problem der Psycho-Semiologie: Eine Idee kann für sich selbst keinen passenden Signifikanten erfinden, aber sie kann innerhalb der schon bestehenden Semiologie einen Signifikanten entdecken, der auf sie übertragen werden kann; da der Signifikant nicht ausdrücklich für die Idee gedacht war, paßt er nur dann, wenn er seine alte Angemessenheit aufgibt. So entwickeln sich die Dinge. Dies ist der Grund für die Beliebigkeit des linguistischen Signifikanten. Seine Erfindung bringt einen Verlust an Angemessenheit mit sich: Ehe neue Angemessenheit gründet sich auf diesen Verlust. (Vorlesung vom 22. Februar 1952, Reihe B)

5. Die expressive Zulänglichkcit: das Gesetz der Psycho-Semiologie Innerhalb des scmiologischen Systems herrscht Freiheit. Alle Mittel sind erlaubt und zutreffend, sofem es ihnen gelingt, auch nur Geringfügiges zu bedeuten. Das einzige Gesetz im Aufbau der Semiologie ist das der Zulänglichkeit. Bei der Wahl der Mittel besteht die größte Freiheit, solange diese Mittel nur zulänglich sind. Dies erklärt zum Beispiel die Vielfalt der Verbkonjugationen und die große Zahl von Verben mit offensichtlich unregelmäßiger Konjugation. Die Vielfalt und die offensichtlichen Anomalien sind ein Ergebnis der in der Semiologie vorherrschenden Freiheit - Freiheit deshalb, weil von den semiologischen Mitteln, was auch immer sie sein mögen, nichts weiter verlangt wird, als »etwas hinreichend zu bedeuten«. Im Bereich der Semiologie ist demnach mit eigenartigen und unerwarteten Verbindungen bedeutungstragender Mittel zu rechnen. Die Semiologie konfrontiert uns überall mit einer reichen Vielfalt neuerfundener Zusammenstellungen. Betrachtet man nun die Semiologie aus der Vogelperspektive, in ihrem historischen Zusammenhang, so zeigt sie sich als eine fortgesetzte Suche nach immer ausgiebiger anwendbaren Ausdrucksmitteln. Diejenigen, die einen engeren Umfang besitzen, werden durch extensivere ersetzt, die in einem weiteren linguistischen Umfeld angewandt werden können.

62 Dieses Ersetzen verhindert jedoch nicht, daß weniger extensive semiologische Mittel neben den extensiveren überleben. Das Überleben von Mitteln, deren Anwendungsbreite als ungenügend betrachtet wird, (und die deshalb ihre produktive Kraft in der Langue verloren haben), kommt durch die sogenannten starken Formen zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu sind die schwachen Formen jene, die sich diese produktive Kraft in der Langue erhalten haben. Innerhalb des psychischen Systems sieht es anders aus; hier geht es nicht mehr um die Signifikanten, die theoretisch so verschiedenartig und heterogen wie möglich sein können, solange sie nur hinreichend etwas bedeuten, sondern um das Signifikat, das auf der formalen Ebene der Langue so gut wie möglich eine fundamentale Einheit und daher eine systematische Kohärenz erworben haben muß. Im geistigen Bereich ist die systematische Einheit schon weit vor der entsprechenden Einheit im semiologischen Bereich erlangt worden. So hat in der Verbalkategorie des Französischen das Zeit-Verb-System zur Darstellung der Zeit im geistigen Bereich eine Einheit erreicht, die als perfekt bezeichnet werden kann. Geistig gesehen gibt es keine Vielzahl von Systemen im verbalen Bereich, von denen jedes einen gewissen Anteil der Verbalkategorie beansprucht, wie es in den weniger entwickelten Sprachen der Fall ist, sondern es gibt ein einziges System, das die gesamte Verbalkategorie umfaßt und nichts außerhalb davon, das heißt, nichts aus einem anderen System. Obgleich die Tendenz zu einer größeren systematischen Kohärenz im Bereich der Semiologie sehr stark ist, fehlt dort noch viel, bis die gleiche Einheit erreicht ist. So gibt es noch verschiedene Semiologien, die im Verbalsystem ersatzweise nebeneinander tätig sind. Daher auch die Vielfalt der Konjugationen sowie die zahlreichen Unregelmäßigkeiten, die aus dieser Vielfalt hervorgehen.4 All das, was die semiologische Systematisierung von der psychischen Systematisierung unterscheidet, wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die bestmögliche Kohärenz das herrschende Gesetz in der psychischen Systematisierung ist, während in der semiologischen Systematisierung das Gesetz der besten expressiven Zulänglichkeit herrscht. In der Semiologie ist der Anspruch auf Kohärenz zweitrangig: Kohärenz kann immer ohne Verlust geopfert werden, wenn nur die expressive Zulänglichkeit davon profitiert.

A

Gestrichen: Beispielsweise neben dem »prétérit défini« der Konjugation auf er : je marchai, tu marchas, il marcha, nous marchâmes, vous marchâtes, ils marchèrent, greifen die anderen Konjugationen für ihre Entwicklung auf formative Elemente verschiedenen Ursprungs zurück; in der nicht-dominierenden Konjugation mit offenem -r gibt es die »prétérits définis« auf -i oder -u, deren Konjugation hinsichtlich der gewählten Mittel einen größeren Hang zur Vereinheitlichung zeigt Man vergleiche die Konjugation auf -a, in der nur die doppelte Person (vgl. Fußnote 5, S. 63) thematisch ist: march-a-(s)mes, march-a(s)tes mit der für alle Personen thematischen Konjugation von vouloir: voul-u-s, voul-u-s, voul-ut, voul-u(s)mes, voul-u-(s)tes, voul-u-rent. Das semiologische System ist in allen Sprachen sehr frei.

63 Ich sollte noch erwähnen, daß sich die Kohärenz sogar in der Semiologie entwickelt. Das rührt aber nicht unmittelbar von der Semiologie und ihren eigenen, ganz anderen Anforderungen her, sondern hat seinen Grund darin, daß die Semiologie sich nach der geistigen Seite ausrichten und diese hinreichend wiedergeben muß, um wirksam werden zu können. Dabei zeigt sie die Tendenz, die dort vorgefundene Kohärenz bis zu einem gewissen Grad widerzuspiegeln. (Vorlesung vom 19. Dezember 1947, Reihe C)

6. Gegenseitige Anpassung des Psychischen und des Physischen Ein Sprachwissenschaftler verfolgt gern die Einzelheiten der kleinen, systematisch konstruierten Fakten der Langue, da sie das allgemeine Gesetz der ständig zwischen den physischen und psychischen Teilen der Sprachstruktur aufrechterhaltenen Kongruenz in prägnanter Weise verdeutlichen. Gewiß beruht die gesamte Organisation, die ganze innere Fügung des grammatischen Systems der französischen Verben, auf lautlichen, physischen Variationen, die sich unmittelbar durch das phonetische System erklären lassen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, daß diese phonetischen Variationen stets von Phänomenen psychischer Art begleitet waren, deren ganzes Wesen bzw. deren wesentliche Natur die mehr oder weniger zufällige Anpassung des Physischen an das Psychische verdeutlicht. Diese Anpassung beruht mehr oder weniger auf Gegenseitigkeit: In vielen Fällen erlaubt es der Zufall der phonetischen Konstruktion, sich fast unmittelbar der psychischen Konstruktion anzupassen. Genau darum geht es bei der Beziehung von »Imparfait« und »Conditionnel«. In anderen Fällen jedoch, wo man dem geschichtlichen Ursprung mehr verhaftet bleibt - wo sich die Dinge eher entwickelt haben, als daß sie neu gebildet worden wären - ist eine sehr feine und subtile Anpassung der psychischen an die physische, das heißt, an die lautliche Konstruktion zu beobachten. Dies ist der Fall bei marchèrent. Die psychische Bildung dieser Form hat es verstanden, ohne in irgendeiner Weise ihr eigenes Ziel aufzugeben, sich ihr fremden phonetischen Variationen anzugleichen, und es ist ihr schließlich gelungen, sich mit Hilfe der vom Zufall gebotenen Möglichkeiten die tiefe Symmetrie des Futurs und des Aorists in einem Fall zu verdeutlichen, wo es praktisch unmöglich schien, dieses sichtbar zu machen. Nur in den eindeutigen Fällen der doppelten Person 5 bleibt die Symmetrie von Aorist und Futur unmarkiert. Dieser Umstand kann natürlich recht gut, und zwar phonetisch, erklärt werden; aber auch hier stößt man bei der Analyse wieder auf den Prozeß der Anpassung des Psychischen an das

Mit »doppelte Person« bezeichnet Guillaumc eine grammatische Person, die zwei oder mehrere Personen verschiedenen Ranges umfaßt (die 1. und 2. Person Plural).

64 Physische. Die doppelte Person ist im Französischen, und generell in jeder anderen Sprache, mit ihren eigenen Existenzbedingungen, eine Sache für sich. Man kann bei ihr nicht die für die einfache Person geltenden Nonnen anwenden. (Vorlesung vom 16. April 1942, Reihe A)

7. Negative Morphologie (der Nullartikel) Sollte eines Tages die Geschichte des Nullartikels des Französischen geschrieben werden, dann wird man erkennen, daß er vor allem ein Artikel negativer Morphologie ist, sozusagen ein kritischer Artikel. Er ist ein Artikel, der in einem gegebenen Fall einen expressiven Mangel der anderen Artikel aufspürt und sie ersetzt; weniger, um zu sagen, was er zu sagen hat - was ja nichts ist, da er eine Abwesenheit darstellt - , als zu verhindern, daß etwas gesagt wird, was die anderen Artikel in dem gegebenen Fall in unpassender Weise sagen würden. Ich habe schon immer den Eindruck gehabt, daß man dem Vorhandensein einer negativen Morphologie - wenn nicht sogar Syntax - , die sich weniger auf die Faszination des Geistes für eine bestimmte Form als auf eine Abneigung gegen andere Formen gründet, nie genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat. Und meine inzwischen recht weit vorgedrungenen Studien haben mich flüchtig erkennen lassai, daß es Sprachen gibt, in denen die Morphologie eher negativ als positiv ist; der expressive Wert einer Form bestimmt sich bei ihnen weniger aus dem, was sie bedeutet, als aus dem, was sie alles nicht bedeuten will. Dieser Eindruck einer vornehmlich negativen Morphologie hat sich bei mir während des Studiums des Verbs in den semitischen Sprachen verfestigt. In diesen Sprachen wird zum Beispiel sehr selten die positive Angabe einer Zeit gemacht; diese Sprachen haben nämlich keine, die der unseren entspräche (das heißt, wirkliche Zeitangaben): Allerdings trifft man hier ständig die Tatsache des Nichtausdrucks einer zeitlichen Situation, die mit dem, was man eigentlich sagen will, nicht übereinstimmt. Aufgrund der unablässigen Bemühung, eine Nichtübereinstimmung zu vermeiden, wird schließlich eine Übereinstimmung erreicht: die Übereinstimmung als Resultat der vermiedenen Nichtübereinstimmung. Der Nullartikel ist nicht nur interessant aufgrund seiner systematischen Beschaffenheit - was vollkommen ausreichen würde, ihm als einer sprachlichen Entität genaueste Aufmerksamkeit zu widmen - , sondern er ist auch insofern interessant, als er uns die günstige Gelegenheit bietet, den sehr verwickelten Gang der soeben besprochenen, negativen, vornehmlich kritischen Morphologie einer modernen Sprache zu verfolgen. Negative Morphologie ist in allen Sprachen zu finden, doch in einigen wenigen wird sie besonders begünstigt. (Vorlesung vom 18. Dezember 1941, Reihe A)

Teil IV: Der Sprechakt

1. Der Charakter des Sprechakts Ein Sprechakt beginnt eigentlich nicht mit dem Aussenden von Wörtern, die das Denken ausdrücken sollen, sondern er beginnt mit einem früheren, bedingenden Vorgang, nämlich dann, wenn der ausdrucksuchende Gedanke sich an die Langue wendet, an die stets vorhandenen Mittel des Geistes. Die Tatsache, daß die Langue standiger Besitz ist, befreit uns auch davon, jedesmal, wenn wir etwas sagen wollen, behelfsmäßige Ausdrucksmittel ausdenken zu müssen. Und es darf nie aus den Augen verloren werden, daß dies die wichtigste Funktion jeder Sprache ist. Es ist aber äußerst schwierig, ja unmöglich für uns, das Geheimnis des Mechanismus völlig zu durchdringen, mittels welchem sich der Geist an die Langue wendet und eine sofortige Antwort erhält. Wenn wir klar beobachten könnten, was in uns selbst in den dem Sprechakt unmittelbar vorausgehenden Augenblicken vor sich geht, die in einem gewissen Sinn dessen Vorbereitungs- oder Spannungsphase darstellen, auf die dann, um die Terminologie Bergsons einer ganz allgemeingehaltenen Theorie zu benutzen, das auslösende Moment und die Eingabephase folgen, dann wäre unser Geist in der Lage, das zu erkennen, was sich in seinen tiefsten Tiefen abspielt. Wir wären dadurch im Besitz äußerst wichtiger linguistischer Erkenntnisse, die uns bis jetzt noch verschlossen sind, und eine Vielzahl von ungelösten und höchst umstrittenen Problemen wäre dann für uns so einfach zu erklären, wie es für uns einfach ist, unsere Gedanken durch das Sprechen auszudrücken. Wir haben keinen - zumindest keinen direkten - Zugang zu den Denkvorgängen, die in uns den Sprechakt auslösen, und deshalb bleibt uns der wesentliche Teil dieses Aktes verborgen. Beim Sprechakt handelt es sich um einen Akt, von dem wir nur die letzten Augenblicke beobachten können: Die ersten Augenblicke, in denen sich ein Kontakt zwischen dem sich Ausdruck suchenden Denken und der Langue, des Geistes ständigen Besitzes, bildet, sind keine direkt beobachtbaren Augenblicke, und von ihnen kann nur erfaßt werden, was eine analytische Interpretation der späteren Momente zuläßt. Diese Interpretation geht einmal aus von der Untersuchung dessen, was während der Rede geschieht, und zum anderen von dem, was sich in der Langue in Form von Semantemen, Morphemen und Systemen niedergeschlagen hat. Semanteme und Morpheme sind sprachliche Entitäten, die die traditionelle Sprachwissenschaft zu untersuchen weiß. Der Grund hierfür beruht auf der

66 Tatsache, daß dies in gewissem Sinn körperliche Wesen sind, die in der Langue durch einen Signifikanten vertreten sind. Seine Rolle ist es, diese körperlichen Wesen, wenn nötig, in die Rede einzubringen. Der Sprechakt in den fortgeschritteneren Sprachen, die ihn von vielen Dingen entlastet und dadurch vereinfacht und beschleunigt haben, besteht vornehmlich darin, die für den Ausdruck notwendigen Semanteme und Morpheme von der Langue in die Rede zu transportieren. Dieses Transportieren setzt voraus, daß die Semanteme und Morpheme in der Langue einen Signifikanten haben, das heißt, eine lautliche Vorstellung, die mit ihrer Bedeutung, der geistigen Entität, dem Signifikat, verbunden ist. Die allgemeine Aufgabe der Morpheme besteht darin, unterschiedlich große Reihen von Semantemen zusammenzufassen. Von der traditionellen Linguistik wird nicht berücksichtigt, daß die Morpheme ein wesentlicher Bestandteil von Systemen sind. Bevor das im Reden begriffene Denken das passende Morphem wählen kann, muß es dieses in seinem System, in dem das Morphem durch seine Stellung seine Bedeutung erhält, »sehen«. So setzt zum Beispiel der Gebrauch einer einzigen Verbalform ein schnelles Abrufen des gesamten verbalen Konjugationssystems voraus. Dieses schnell abgerufene Konjugationssystem - der Vorgang vollzieht sich so schnell und liegt so tief, daß er uns in keiner Weise bewußt wird - breitet gleichermaßen alle in ihm enthaltenen, integrierten Formen aus, also, alle Formen, die der Geist mittels eines früheren Definitionsaktes angesammelt hat. Und zwischen all diesen im System angeordneten Formen, die sozusagen neben einander und unter einander stehen, falls es sich um ein dreidimensionales System handelt, wählt das im Reden begriffene Denken für seine augenblicklichen Belange die passendsten von ihnen aus. Dadurch wird das, was ausgedrückt werden soll, genau und treffend wiedergegeben. Und weniger angemessene Formen werden beiseite gelassen. Das System stellt alle seine Formen zusammen in einer Weise bereit, die uns mit einem einzigen Blick einen synoptischen Überblick erlaubt. Die Auswahl einer Form unter all den anderen des Systems verlangt - wie jede andere sprachliche Operation - Zeit: eine konkrete, erlebte, sehr kurze, aber reale Zeit. Und diese Zeit kann durch die Qualität des Systems, dem die Formen angehören, stark verkürzt werden. Allgemein läßt sich behaupten, daß die Schnelligkeit, mit der die der Rede angemessenste Form gewählt wird, vom Konstruktionsstand des Systems und den Positionen abhängt, die die verschiedenen Formen innehaben - Positionen, welche die wesentliche Bedeutung einer jeden Form bestimmen. Ein System mit elegant angelegten Positionen, die in einem konstruktiven Akt aufeinander folgen, erleichtert das Aufspüren der vom Sprechakt der Rede geforderten Form. Es macht das Aufspüren schneller und sicherer. Wenn das System schlecht konstruiert oder ungenügend entwickelt wäre, oder wenn es in seiner Gesamtheit nicht einen einzigen Integrationsakt der es bildenden Formen darstellte, würde die Suche nach der mit der augenblicklichen Redeabsicht

67 im Einklang stehenden Form mehr Zeit beanspruchen und letzten Endes nicht diesselbe Beschaffenheit und Angemessenheit haben. Gäbe es kein System, das die in der Langue enthaltenen Formen integriert, so wäre das Aufspüren der passendsten Form nicht nur schwierig, sondern unmöglich, denn im System - und nur im System - haben die Formen eine eigene Bedeutung, die sie für diesen oder jenen von der Rede geforderten, besonderen kontextuellen Gebrauch prädestiniert. Es wäre ein Fehler - und viele Linguisten haben ihn schon beinahe oder sogar tatsächlich begangen - , würde man erklären, die Formen an sich hätten keine Bedeutung, sondern ihre Bedeutung bestimme sich allein durch ihren Gebrauch in der Rede. Wer so argumentiert, unterstellt, daß etwas, was aus sich selbst heraus nichts bedeutet, in einem Kontext etwas bedeuten könnte. Eine solche Argumentation ist nicht schlüssig: Wie kann der Geist die Bedeutung von etwas gebrauchen, was keine Bedeutung hat? Eine Bedeutung kann erst angewandt werden, wenn eine gewisse Grundbedeutung vorhanden ist; eine Bedeutung Null hat keine möglichen Anwendungen. Was sich im System auf der Nullstufe befindet, ist die kontextuelle Bedeutung der Form; erst in der Rede und nirgendwo anders wird diese Bedeutung bestimmt. Im Gegensatz dazu steht die systemische Bedeutung auf der höchsten Stufe. Diese Bedeutung besteht schon vor der kontextuellen, und zwar deshalb, weil jede Form im System einen ganz eigenen Augenblick seines psychischen Aufbaus darstellt, genauer gesagt, des einzigartigen, homogenen Definitionsaktes, den das System darstellt. So stellt zum Beispiel im Zeitsystem jede der es bildenden Formen, also Modus oder Tempus, einen Teil eines homogenen Akts - den architektonischen Aufbau des Zeit-Bildes - dar. Jede Form bezeichnet einen gewissen Augenblick, dessen Entfernung von den anderen Momenten innerhalb des konstruktiven Aktes durch die Aufeinanderfolge der Formen im System bestimmt wird. Es kann nicht deutlich genug betont werden, daß die systemische Bedeutung einer Form in der Langue vollständig vorhanden ist, während die kontextuelle Bedeutung noch gänzlich erworben werden muß. Die Rolle der Langue besteht darin, der Rede durch die im System ausgestellten Formen die Möglichkeit einer mehr oder weniger großen Auswahl an kontextuellen Bedeutungen zu bieten. Jede systemische Bedeutung ermöglicht eine gewisse Anzahl kontextueller Bedeutungen in der Rede. Bis heute hat sich die Grammatik fast ausschließlich mit den kontextuellen Bedeutungen der Formen befaßt, und sie hat vollständig, oder nahezu vollständig, die systemischen Bedeutungen vernachlässigt: dies ist ein Gesichtspunkt, der nie berücksichtigt wurde. Ein Gesichtspunkt, dessen Vorhandensein und Bedeutung von der Mehrzahl meiner Kollegen ignoriert wurde. Der wirkliche Grund, warum die Grammatik nicht berücksichtigt hat, daß die Formen vor ihrer kontextuellen Bedeutung in der Rede eine systemische Bedeutung in der Langue besitzen, besteht darin, daß die Linguistik die Systeme an sich ignoriert hat. Innerhalb der Formenhierarchie - die vom Singularen ausgeht und zum Universalen strebt - ist

68 die Sprachwissenschaft bei den Morphemen stehengeblieben, die vollständige Reihen von Semantemen eingegliedert haben; sie ist nicht bis zur höheren Ebene derjenigen Systeme vorgedrungen, die vollständige Reihen mehr oder minder weit verstreuter Morpheme eingegliedert und in sich aufgenommen haben. Von dieser Stagnation der Linguistik an einem Punkt, wo die Hälfte ihrer Möglichkeiten ungenutzt bleibt, rührt ihr reichlich enttäuschender Charakter - der ihr auch von hervorragenden Geistern bisweilen vorgeworfen wurde - , denn nachdem uns die Linguistik so viele großartige Erfolge hinsichtlich der Entwicklungsabfolge in der Zeit und der Entdeckung der Ursprünge beschert hat, konnte sie uns sehr wenig Uber die wirkliche Natur der Langue und die wesentlichen Gesetze ihrer Herausbildung im Geiste lehren. Ich bin ganz und gar davon überzeugt, daß die Sprachwissenschaft nur beherzt den Weg gehen sollte, der ihr beim Studium der Systeme offen steht, um den Charakter einer unvollständigen Wissenschaft abzulegen, die Fragen psychischer Ordnung beiseite läßt (Fragen, die eine fordernde und aufgeklärte Kritik immer an sie stellen wird). Denn sie wird ihrem Auftrag nie gerecht werden, wenn sie diesen Fragen nicht nachgeht. Die Beobachtung lehrt, daß alle bedeutsamen Fragen, die die Linguistik bisher nicht untersuchen wollte, das Studium der Systeme betreffen. Es ist daher folgerichtig, daß die dringende, augenblickliche Aufgabe der Sprachwissenschaft darin besteht, ihre Forschungen in die hier eingeschlagene Richtung zu lenken. Das heißt, bevor man die kontextuelle Bedeutung einer Form untersucht, sollte das System zunächst einmal sorgfältig rekonstruiert werden, dessen integrierender Bestandteil sie ist, und von dem sie ihre wesentliche Bedeutung herleitet. Diese Bedeutung existiert vor jeglicher kontextuellen Bedeutung in der Rede bereits im Geiste, ohne daß wir uns darüber sofort klar werden könnten, da wir keinen direkten Zugang zu diesen tiefverankerten Vorgängen haben. (Vorlesung vom 27. April 1944, Reihe A)

2. Der Sprechakt und seine operative Chronologie In seiner Gesamtheit betrachtet besteht der Sprechakt aus einer inneren Chronologie, die in großen Linien das Gesamtsystem widerspiegelt. Diese Chronologie läßt sich in zwei Phasen gliedern: A. Eine Anfangsphase der Potentialität, die von den formativen Elementen eines Wortes bis zum konstruierten Wort reicht. B. Eine Endphase der Aktualisierung, die vom Wort zum Satz reicht, das heißt, von der Potentialitätseinheit zur Aktualisierungseinheit (im Französischen demnach von den Wörtern zu den wiedergegebenen Gedanken).

69 Während also die Denkvorgänge der zweiten Phase, B, vom Sprecher bewußt beobachtet werden können, lassen sich die viel tiefer liegenden Denkvorgänge der Phase A keineswegs bewußt beobachten. Eine bewußte Beobachtung erfolgt zu spät, als daß sie diese wahrnehmen könnte, nämlich zu einem Zeitpunkt, da sie im Geist bereits zum Vollendeten, Vergangenen gehören. Anders ausgedrückt: Verglichen mit den im Geist des Sprechers bereits konstruierten Wörtern ist der Satz - in da- Psychomechanik der Sprache - ein Werk, das noch errichtet werden muß. Somit stellen die Wörter, zeitlich gesehen, vollendete, vergangene, überholte Konstruktionen dar, während sich die Sätze als mögliche Werke verstehen, die errichtet werden können. Mutatis mutandis stoßen wir hier auf den Unterschied von Vollendetem und Unvollendetem oder, auf den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die obigen Ausführungen verdeutlichen die komplexe Gestalt der linguistischen Fakten. Die Komplexität, die ich eben erläutert habe, indem ich auf eine ihrer interessantesten Seiten hingewiesen habe, kann, wenn man sich an meine soeben dargelegten Punkte hält, in dem folgenden einprägsamen Schema zusammengefaßt werden:

-O / o ÖÄ •u E

Ebene des Aktuellen Erzeugung des Salzes (Aktualisierangseinheit)

vorübergehend

3

satzbildender Denkvorgang

Erzeugung des Potentiellen Ebene des Wortes (Potenlialitätseinheil)

3E nicht vorübergehend

wonbildender Denkvorgang

Einer der Fehler bzw. Ungeschicklichkeiten der Grammatiker bestand darin, nicht deutlich genug zwischen den Denkvorgängen unterschieden zu haben, die auf der Ebene des Potentiellen mit der Erzeugung einer Potentialitätseinheit enden - in unseren entwickelten Sprachen stellt das ein Wort dar - und den leichter erfaßbaren Denkvorgängen, die später, und nur für einen Augenblick, auf der Ebene des

70 Aktuellen mit der Erzeugung eines Satzes enden, das heißt, mit einem begrenzten Stück Rede, deren Erzeugung und Begrenzung den Bedingungen der Langue unterworfen sind. Oder mit anderen Worten: Diese Bedingungen gehören zu den auf der Ebene des Potentiellen vorherbestimmten Denkvorgängen. (Vorlesung vom 21. November 1947, Reihe C)

3. Das Festgewordene und das Improvisierte in der Sprache: Ausdruck und Expressivität Das Festgewordene, auf das die Sprache - der Sprechakt - zurückgreift, ist die Langue. Da, wo das Festgewordene aus irgendeinem Grund versagt, bedient sich der Sprechakt, insofern das Versagen überhaupt spürbar ist, zunächst einmal Mitteln der gleichen Art, die rein expressiver Natur sind und nicht durch unterschiedliche Zeichen zu Begriffsunterschieden führen. Denn mit unterschiedlichen Zeichen Begriffsunterschiede herzustellen heißt, etwas Permanentes zu konstruieren: eine Langue. Solange sich das Denken ohne Rückgriff auf das Festgewordene mit den alleinigen Mitteln der Sprachimprovisation ausdrückt, ist es nicht nötig, mit Hilfe verschiedener Zeichen die Verschiedenheit der Begriffe herzustellen. Man sieht also, daß die Sprache in ihrer Gesamtheit auf zwei Arten von Mitteln zurückgreift: - auf diejenigen, die spät im Sprechakt ins Spiel kommen; sie gehören zum Improvisierten, - auf diejenigen, die früh im Sprechakt ins Spiel kommen; sie gehören zum Festgewordenen. Nun beruht aber die allgemeine Geschichte der Sprache auf einem psychischen Prozeß, der darauf hinausläuft, immer weniger auf die improvisierten Mittel zurückzugreifen. Je mehr die Langue an Vor-Konstruiertem liefern kann, um so weniger muß während des Sprechakts improvisiert werden. Das einzige, was der Improvisation Raum läßt, ist der Gebrauch und nicht etwa der ganze Gebrauch, sondern nur, was einmalig und flüchtig ist, denn alles was allgemein und systematisch im Gebrauch ist, unterliegt dem festgewordenen System. Ganz zu Anfang, als es noch keine festgewordene Langue gab, mußte der Sprechakt alles leisten und alles mit seinen eigenen Mitteln ausdrücken, die ganz anders waren als die des Festgewordenen. Die Expressivität bildete damals seine einzige und reichlich unzureichende Quelle. Man kann dies mehr oder weniger mit einem Menschen vergleichen, der seine Gedanken einem anderen Menschen, dessen Sprache er nicht beherrscht, übermitteln muß, und der festellt, daß er unversehens

71 auf die recht prekären Mittel der improvisierten Sprache zurückgreifen muß. Aber j e weiter sich die Sprache im Verlauf ihrer allgemeinen Geschichte von den Ursprüngen entfernte, um so mehr übernahm das festgewordene System einen Teil der Aufgabe des Sprechakts und verringerte dabei entsprechend den Anteil des Improvisierten. Dieser vom Improvisierten geforderte Anteil ist nicht verschwunden, aber statt sich mit dem Inhalt des Sprechaktes selbst zu belasten, der in unseren Sprachen für seine Umsetzung auf die Möglichkeiten der Langue zurückgreifen kann, befaßt er sich nur noch mit den expressiven Modalitäten, diesen Inhalt auszudrücken, sofern die Langue mit ihren festgewordenen Mitteln dafür nicht ausreicht. Ein wesentliches Charakteristikum der Rede in unseren entwickelten Sprachen besteht darin, daß der vom Improvisierten geforderte Teil im Vergleich zu dem, was vom Festgewordenen (von der Langue) verlangt wird, gering ist. Jene Forderungen, denen die Langue gerecht wird, nennen wir in unserer Terminologie den Ausdruck. Jene Forderungen, denen die Langue nicht gerecht wird, und die daher der Sprechakt behelfsmäßig mit seinen eigenen Mitteln aus dem Bereich des Improvisierten übernehmen muß, sind das, was wir Expressivität nennen. Wie ich bereits des öfteren betont habe, kann der Sprechakt im ganzen gesehen auf folgende Formel gebracht werden: Ausdruck + Kxpressivital = 1

Es wird daran erinnert, daß der Ausdruck ein Rückgriff auf das Festgewordene ist und die Expressivität der Rückgriff auf das Improvisierte, indem die dem Sprechakt eigenen Mittel dem Bereich des Improvisierten (Nicht-Festgewordenen) und die der Langue eigenen Mittel dem Bereich des Nicht-Improvisierten, also dem Festgewordenen, angehören. Die allokutive Art des Sprechens gehört im allgemeinen zum Improvisierten. Es gibt tausend Arten, mit den gleichen Worten die einfachsten Dinge zu sagen. Die Art, jemanden anzureden, was die Expressivität des Sprechakts ausmacht, wird dem ausgedrückten Inhalt hinzugefügt, der mit Hilfe der festgewordenen Mittel der Langue wiedergegeben wird. In gewissen Sprachen kann die Expressivität im Sprechakt die Bedeutung, die für die Expressivität besonders anfällige Wörter in der Rede haben können, ganz beachtlich verändern. Man denke nur an die Vielfalt von Sinn und Wert in einigen Wörtern mancher südlicher Sprachen, vor allem des Spanischen. Die dem Ausdruck reichlich hinzugefügte Expressivität ist überaus wichtig. Dies wird besonders deutlich in dem spanischen Wort quiero dessen Sinnesvielfalt unbegrenzt ist. Die Gleichung: Ausdruck + Expressivität = 1

72 ist von großer Wichtigkeit, wenn es darum geht, die Vorgänge der Syntax zu verstehen. Die Syntax gewinnt das, was die Expressivität zugunsten des Ausdrucks verliert. Der Ausdruck stellt dann fast das Ganze dar. Im Gegensatz dazu erleidet die Syntax einen Verlust dessen, was die Expressivität zugunsten des Ausdrucks hinzugewinnt. Mit einem Mindestmaß an Expressivität und einer sehr entwickelten Syntax kann man sagen: Heute abend findet in der Oper eine Galavorstellung statt. Mit mehr Expressivität und einer verbal eingeschränkten Syntax: Heute abend große Galavorstellung in der Oper. Allgemein läßt sich behaupten, daß das, was in unseren Sprachen an Expressivität gewinnt, an Ausdruck, das heißt also, an Syntax, verliert. Verblose Sätze, von denen es zahllose Beispiele und zahllose verschiedene Arten gibt, sind Sätze, in denen die Expressivität die normalerweise vom Verb eingebrachte syntaktische Entwicklung ersetzt. Eine bis zum letzten ausgenutzte Expressivität kann aus einem einzigen Wort einen Satz machen. Zum Beispiel: Ruhe! Tafel! Sobald aber die Expressivität entfällt, gibt es keinen Satz mehr. Die Ausrufe Ruhe! Tafel! werden deshalb als Sätze empfunden, weil zu den gebrauchten Wörtern ein wesentliches expressives Momentum hinzugekommen ist. Ohne dieses würde das Wort nicht als Satz empfunden werden. Die Gleichung: Ausdruck + Expressivität = 1

erlaubt alle Variationen, von einem Minimum an Expressivität zugunsten des Ausdrucks bis zu einem Maximum an Expressivität zum Nachteil des Ausdrucks; denn was an Expressivität gewonnen wird, geht an Ausdruck verloren und umgekehrt. Der Ausruf ist ein extremer Fall dieser Variation in der Sprache: er stellt eine Expressivität dar, die den Ausdruck gewissermaßen absorbiert oder ganz abgeschafft hat. Ein Ausruf ist ein Satz, dessen dynamische Kraft nicht im Verb liegt, sondern in der bis zum Maximum entfalteten Expressivität. In der Psychomechanik der Sprache ist die expressive Kraft eine veränderliche Größe, die in jeder emsthaften Untersuchung genauestens berücksichtigt werden muß. Grundsätzlich ergänzt die expressive Kraft den Ausdruck, das heißt, daß die Expressivität in jedem Fall das ausgleicht, was der Ausdruck im Hinblick auf die Redeabsicht nicht hat liefern können. Und um der Redeabsicht gerecht zu werden, erleichtert die expressive Kraft in ihrer Entfaltung den Ausdruck um ein Zuviel, das ihn schwerfällig machen würde. Diese Verminderung des Ausdrucks wird durch die Zunahme der Expressivität ausgeglichen. Die eben dargelegte, umgekehrte Beziehung von Ausdruck und Expressivität ist ein tiefgreifendes Faktum der Universalgrammatik. Am Anfang, zur Zeit der improvisierten Sprache, war die Expressivität alles und der Ausdruck nichts. Heutzutage zählt in der Sprache der gebildeten Kreise, die Wert auf das gepflegte

73 Wort legen, die Expressivität nichts und der Ausdruck alles. Dagegen benachteiligt die Volks- oder Umgangssprache den Ausdruck zum Vorteil der Expressivität... In der allgemeinen Sprachgeschichte ist die Expressivität primär und der Ausdruck sekundär. Deshalb wird jede Sprache zu einem gegebenen Zeitpunkt von einem gewissen Verlust an Expressivität charakterisiert. Dieser Verlust wird immer durch einen entsprechenden Gewinn an Ausdruck ausgeglichen, denn die Expressivität an sich hängt vom Improvisierten ab und der Ausdruck von dem in der Langue Festgewordenen. Übrigens wäre es ebenso richtig zu sagen, daß jede existierende Sprache zu einer gegebenen Zeit von der Entwicklung reicherer Ausdrucksmittel charakterisiert wird, was gleichzeitig den Anspruch an die Mittel der Expressivität reduziert. In der zeitlichen Abfolge des Sprechakts treten die Mittel der Expressivität erst später auf. Sie entwickeln sich im Laufe des eigentlichen Sprechaktes, mit dem sie vollständig und untrennbar verschmolzen sind. Die Ausdrucksmittel existieren bereits, vor-eingeschrieben in der Langue, im festgewordenen Teil der Sprache, bevor der Sprechakt zustande kommt. Sie stehen deshalb stets gebrauchsfertig zur Verfügung. Ganz allgemein kann man sagen, daß der Ausdruck in unseren Sprachen die Expressivität gewissermaßen »absorbiert«. Durch häufigen Gebrauch werden die Mittel der Expressivität in der Sprache systematisch erfaßt und aufgenommen und werden als Ausdrucksmittel fest. Sobald ein Mittel der Expressivität fest wird, zählt es zu den Mitteln der Langue, das heißt, zu den Ausdrucksmitteln. Es ist oft schwierig, genau zu ermessen, in welchem Maße diese Mittel in der Langue festgeworden sind und in welchem Maße sie noch von der Improvisierung abhängen. Die vollständige Zugehörigkeit zur Langue ist erreicht, sobald die Begriffe entsprechende Zeichen entwickelt haben. Die Zugehörigkeit zur Langue ist weniger vollständig da, wo das Festgewordene in der Langue die Art darstellt, Zeichen zu gebrauchen. Die Art und Weise, Zeichen zu gebrauchen, die von den Zeichen selbst vermittelt wird und die ebenso sehr Teil der Langue ist wie die Zeichen, ist jedoch streng geregelt. Es handelt sich hier um die Syntax des Ausdrucks, zu der sich die Syntax der Expressivität gesellt - eine weniger festgewordene Syntax, obwohl sie als beständiger Gegenspieler zur ersteren geschaffen wurde. In dem Satz Er hat sie geliebt hat die Ausdruckssyntax Vorrang, während Geliebt hat er sie eher auf der Syntax der Expressivität beruht. Das, was man grammatische Wortstellung nennt, ist vollkommen festgeworden und gehört zur Ausdruckssyntax; diese Anordnung wird nicht befolgt, wenn sich der Sprecher der gegensätzlichen Syntax der Expressivität bedient. Man muß deshalb die Syntax der Expressivität unterschlagen, will man behaupten, daß es in einer Sprache wie dem Französischen eine genau festgelegte grammatische Wortfolge gibt. Es ist eher ein Problem der Doktrin als der Theorie, festzustellen, bis zu welchem Grade die Syntax der Expressivität in der Langue festgeworden ist in

74 Fällen, wo sie, mangels einer vollkommen festgewordenen Syntax, als Ersatz fungiert. Die Langue setzt sich in ihrer Gesamtheit aus allem zusammen, was festgeworden ist. Abo- es muß dem Umstand Rechnung getragen werden, daß es innerhalb des Festgewordenen graduelle Unterschiede gibt, und je fester etwas geworden ist, um so tiefer befindet es sich in der Langue, während weniger Festgewordenes sich auf einer oberflächlicheren Ebene befindet. Das gänzlich Festgewordene ist Uberall und immer das, was die geringste Expressivität besitzt. Deshalb veranlaßt die Suche nach Expressivität den Sprecher ständig, mehr oder weniger vor den tief verankerten, banalen, festgewordenen Mitteln der Langue zu fliehen. Durch häufigen Gebrauch werden dann die neuen Mittel als Mittel der Langue etabliert und erhöhen somit deren Mittel, indem sie das bereits Festgewordene komplexer gestalten. (Vorlesung vom 7. Mai 1948, Reihe C)

4. Die Stellung des Satzes in der Sprache Ein oft betonter Grundsatz meines Unterrichts besteht darin, daß der Ausdruck vcm etwas bereits Repräsentiertem ausgeht. Das ist eine Konstante, die nicht die Ontogenese der Sprache charakterisiert, sondern ihre Praxeogenese. Der gegenwärtige Konstruktionszustand unserer modernen Sprachen macht es uns leicht, die Richtigkeit dieses Grundsatzes zu überprüfen. Es genügt dabei, zu untersuchen, was in uns selbst, in unserer geistigen Erfahrung vorgeht. Wenn wir etwas zu sagen haben - und in der Linguistik kommt man immer wieder auf das Sagen, das beständige Ziel der Sprache, zurück - , dann suchen wir in dem stets in uns vorhandenen Repräsentierten die entsprechenden Wörter, um es zu sagen, und die Wörter fallen uns in manchen Fällen leichter ein als in anderen. »Das, was man gut erfaßt«, schrieb ein argumentierfreudiger Dichter, »stellt sich klar dar, und die Wörter, mit denen man es sagen kann, kommen dann leicht«. Boileau zweifelt nicht daran - auch ich nicht - , daß wir auf Wörter, das heißt, Potentialitätseinheiten zurückgreifen, um Sätze, also, Aktualisierungseinheiten der Rede, zu bilden, die Teil des Ausdrucks sind. Indem wir untersuchen, was in uns vorgeht, sehen wir, daß es so ist. Gelehrte hätten es damit bewenden lassen können, und sie wären dazu angesichts unseres gegenwärtigen Entwicklungszustandes der Sprache durchaus berechtigt gewesen, die sprachliche Wirklichkeit danach zu beurteilen, wie sie sich ihnen darstellt. Das haben sie jedoch nicht getan. Sondern sie haben, wie Molieres Arzt, alles geändert, indem sie die gesamte beobachtbare geistige Physiologie verworfen und die Idee als verbindlich erklärt haben, der Mensch denke in Sätzen

75 und man brauche sich um die Wörter nicht zu kümmern. Darauf bestanden sie, allerdings ist es ihnen nicht gelungen, die Sprache ohne die darin enthaltenen Wörter zu lehren. Der Satz sei, so wurde gelehrt, die einzige sprachliche Realität. Ganz im Widerspruch zu dieser Auffassung muß man jedoch, um die Sätze zu konstruieren, die das aussagen sollen, was man sagen will, nach wie vor in sich selbst die bereits vorkonstruierten Wörter suchen. Und Reden ist ja genau das. Den Satz als eine sprachliche Realität darstellen und damit die Dinge in ihrem Endpunkt aufnehmen - also in ihrer Wirkung und nicht in der Ursache - heißt eigenartigerweise, zurückzugehen in die lang vergangene Zeit, nur einen Schritt weit entfernt von der Primitivität, als die Sprache innerhalb des ersten glossogenischen Raums (der einzige, der damals zur Verfügung stand) handeln mußte, um etwas vorzustellen und auszudrücken. In diesem Stadium gab es daher eine gewisse Interferenz zwischen dem Ausdrucksakt und dem Repräsentationsakt. (Vorlesung vom 30. Dezember 1956)

5. Potentialitätseinheiten und Aktualisierungseinheiten: das Wort und der Satz Ein sehr alter Grundsatz meiner Lehre lautet, der Ausdruck geht vom Repräsentierten aus. Das Repräsentierte steckt in der Langue, das heißt, die Langue besteht aus Repräsentationsakten, von denen jeder durch eine Potentialitätseinheit, Wort genannt, dargestellt wird. Das Ausgedrückte ist die Rede: die Rede besteht aus Ausdrucksakten, von denen jeder bei Beendigung eine Aktualisierungseinheit, Satz genannt, ergibt. In den uns geläufigen Sprachen ist der Satz keine agglutinierende, sondern eine gruppierende Zusammenfügung von Potentialitätseinheiten. Diese Einheiten, die aus einer lexikalischen Substanz und aus einer grammatischen Form bestehen, sind das Resultat eines momentanen lexikalischen Erfassens, das dem phrastischen Erfassen vorausgeht. Dieses lexikalische Erfassen bewirkt und ergibt das Wort. Das erste formale Erfassen, das lexikalische Erfassen, ist sowohl gruppierend als auch agglutinierend. Die formativen Grundelemente, die vom Grunderfassen erreicht werden, gruppieren und agglutinieren sich darin: Ihnen wird eine erste Form gegeben, aus der die Potentialitätseinheiten der Sprache hervorgehen. Das zweite formale Erfassen, das phrastische Erfassen, das den Satz, die Aktualisierungseinheit hervorbringt, in der Potentialitätseinheiten zusammengefügt werden, gruppiert lediglich. 1 Das phrastische Erfassen, das auf sein proprium

Neben diesem Satz als Randbemerkung: Ein allgemeines Gesetz der Sprache.

76 zurückgeführt wird, kommt nach dem lexikalischen Erfassen ins Spiel und besteht vornehmlich darin, die der lexikalischen Substanz des Wortes im früheren lexikalischen Erfassen aufgezwungenen, festgewordenen Formen unter einer Form zusammenzufassen, die selbst nicht aufs Festwerden abzielt. Aus dem lexikalischen Erfassen ergeben sich die Wörter

Der

Mensch

ist

sterblich

welche Potentialitätseinheiten in der Langue sind. Aus dem phrastischen Erfassen, einem Zusammenfügen der Potentialitätseinheiten, ergibt sich der Satz Der Mensch ist sterblich. Die Langue ist folglich die Summe der substantiellen lexikalischen Erfassungsakte, die der menschliche Geist in sich selbst vollzieht. Die Anzahl der lexikalischen Erfassungsakte ist begrenzt: Sie wäre in einem Wörterbuch enthalten, in dem kein Wort der Sprache fehlen würde. In jedem einzelnen von uns ist das die Summe der Wörter, die wir besitzen. Bei der Rede handelt es sich um die Summe all jener phrastischen Erfassungsakte, die Erfassungsakte von Potentialitätseinheiten sind. Die Anzahl der phrastischen Erfassungsakte ist nicht begrenzt; deshalb kann man wohl ein Wörterbuch mit den in der Langue enthaltenen Wörtern erstellen, aber ein »Sätzebuch«, das durch die Wahl und den Gebrauch dieser Wörter ermöglicht wird, läßt sich nicht erstellen. Eine Eigenart der Langue besteht darin, daß sie ein Festgewordenes ist; eine Eigenart der Rede besteht darin, daß sie ein Nicht-Festgewordenes ist. In der Rede manifestiert sich die Freiheit, die dem Festgewordenen widerspricht. Ein Satz, der sich im Geist festsetz und dort nicht mehr nur vorübergehende Erscheinung ist, wird zu einem Wort in der Langue. Im Französischen gibt es ein paar kleine Sätze, die durch ihr Festwaden zu Wörtern wurden: on-dit, qu'en dira-t-on, m'as-tu vu usw. In den alten und archaischen Sprachen wie dem Sanskrit stößt man auf lange Sätze, die durch ein Festwerden und Schwinden des Charakters des Vorübergehens entstanden sind und auf den Stand von Substantiven verkürzt wurden, wobei sie besondere Bedingungen der Verbindung bzw. Verschmelzung der formativen Elemente implizieren. (Vorlesung vom 29. November 1956)

6. Die Priorität der Langue: ihr vorausschauender Charakter Es ist keine natürliche Neigung des Geistes, in sich zu gehen, um zu erfahren, was es mit unserer ererbten Sprache - unserer Muttersprache - wirklich auf sich hat. Die

77 natürliche Neigung des Geistes ist es, die Langue zu benutzen, um einen Gedanken auszudrücken, den man einem Gegenüber mitteilen oder ganz einfach sich selbst verständlicher machen will. So muß man gewissermaßen das Denken in die umgekehrte Richtung seiner natürlichen Veranlagung lenken, um sein Augenmerk auf die geistigen Operationen zu richten, die beim Aufbau der Langue maßgeblich waren und nie mit der Rede verwechselt werden dürfen. Die Rede ist das Ergebnis einer beabsichtigten Aktualisierung: Einen Redeakt unternehmen, heißt ganz eindeutig handeln, also, eine Wirkung bei jemandem erzielen wollen. Ohne eine derartige Absicht gibt es keine Rede; die Gedanken »schweigen« sozusagen. Dieses »Schweigen« bedeutet aber nicht etwa einen NichtBesitz der Langue, sondern nur, daß sich die Langue im Augenblick in der Tiefe des Geistes ausruht, da wo sie wohnt, wo sie sich jederzeit vollständig konstruiert vorfindet und bereit ist, uns sofort die Dienste zu leisten, die wir von ihr erwarten, weil wir sie besitzen. Eine in der Linguistik nie aus den Augen zu verlierende Tatsache ist, daß die Langue in uns in ihrer Gesamtheit vorhanden ist, selbst wenn wir nicht sprechen und nicht einmal die Absicht dazu haben. Die Langue geht aufgrund ihrer Definition dem Sprechakt voraus. Der Sprechakt ordnet sich ein zwischen der Langue - die in uns aufgebaut und unser Erbteil ist, das wir nach der Geburt von denen, die mit uns leben, erhalten haben und der Rede, die jederzeit willentlich mit den Mitteln bewerkstelligt werden kann, die uns die Langue permanent zur Verfügung stellt. Abstrakt, aber genau betrachtet, sollte man sich die Langue als etwas vorstellen, das auf einer liefen Ebene unseres Geistes, auf der Ebene des Potentiellen angesiedelt ist, während die Rede nicht tief genug sitzt, um mehr als nur momentan zu sein - sie hat keine Beständigkeit. Im Gegenteil besteht die Rede aus einer Konstruktion, die wir im Augenblick und unter dem Zwang der Notwendigkeit schaffen, nämlich dann, wenn wir etwas zu sagen haben. Deshalb gehört die Rede zur Ebene des Aktuellen. Analytisch gesehen werden Langue und Rede im Geist nicht zur selben Zeit gebildet. Die Langue stellt in uns das Vergangene, das Vollendete dar. Die Rede hingegen vollbringen wir aktuell mit den Mitteln, die uns die festgewordene Langue zur Verfügung stellt, deren Erwerb exakt dem Aufbau unseres Geistes entspricht. Dieser unterschiedliche Stellenwert von Langue und Rede in unserem Geist der es fertiggebracht hat, die Langue in sich selbst zu schaffen und der sie gebraucht, um die Rede zu konstruieren, sofern es dem Augenblick nützlich ist darf man nicht aus den Augen verlieren, wenn man sich mit einem linguistischen Problem beschäftigt. Es läßt uns verstehen, was das Denken von der Langue erwartet, und auch, was es von der Rede erwartet. Von der Langue erwartet der Geist die Fähigkeit und Gewandtheit des Ausdrucks, von der Rede nichts anderes als eine geschickte Anwendung des von der Langue zur Verfügung gestellten Potentiellen.

78 Um dem Geist die Fähigkeit und Gewandtheit des Ausdrucks bereitzustellen, muß die Langue systematisch sämtliche Fälle vorhersehen, in denen der Ausdruck erscheinen kann, seien sie auch noch so verschieden. Man kann daher die Langue mit Recht als ein vorausschauendes System betrachten, das in der Tiefe des Geistes festgeworden ist. (Vorlesung vom 13. Januar 1944, Reihe A)

7. Vom Denkbaren zum Gedachten: Langue und Rede Die geschichtlichen Elemente der Langue befinden sich in der Position der Materie, und die Langue selbst befindet sich ihnen gegenüber in der Position der Form. Die Langue ist die Form des Verhältnisses, das diese überlieferten Elemente untereinander hergestellt haben. Die Langue besteht nur als Form. Wäre sie nicht die Summe der zwischen den überlieferten Elementen festgewordenen Beziehungen, existierte sie nicht. Überlieferte Elemente, die nicht als von Ordnungs- und Systembeziehungen umgeben «faßt wären, ergäben keine Langue. Man könnte sich ihrer nicht bedienen, um sein Denken auszudrücken. Denn der Ausdruck des Denkens verlangt von der Langue eine vorausschauende allgemeine Repräsentation des Denkbaren, in anderen Worten einen Repräsentationsstand von der Vorstellung des Universums. Eine einfache, aber wichtige Unterscheidung, die hier gemacht werden muß, besteht zwischen dem Denkbaren und dem Gedachten. Der Ausdruck bezieht sich auf das Gedachte: Was man ausdrückt, ist das, was man gedacht hat. Und der Ort des Ausdrucks ist die Rede. In der Rede stößt man auf das Gedachte als Ausdruck. Die Repräsentation bezieht sich andererseits ausschließlich auf das Denkbare. Die Repräsentation teilt es auf, untergliedert es, gibt ihm einen inneren Aufbau, kurzum: Sie systematisiert es, und das Ergebnis dieser zahlreichen Operationen, die übrigens alle systematischer Natur sind, ist die Langue. Die Probleme der Repräsentation werden in der Langue gelöst, während Probleme des Ausdrucks, die anders geartet sind, der Rede überlassen werden. Der Unterschied in der Art beruht im wesentlichen auf der Tatsache, daß die Materie für die Rede - die Materie des Ausdrucks - das Gedachte ist, während die Materie für die Langue - die Materie der Repräsentation - das Denkbare ist. Die Rede ist eine vom Gedachten für den Ausdruck gewählte Form, die Langue eine vom Denkbaren für die Repräsentation gewählte. Die mir innewohnende Langue, aus der ich Gewandtheit und Stärke des Ausdrucks schöpfe, ist eine alles umfassende Repräsentation des Denkbaren, das einer gewissen inneren Systematisierung unterliegt. Sie bietet dem Sprecher ein vollständiges und sofortiges Bild ohne ins Detail reichende Diskontinuität, ein

79 Gesamtbild von allem, was sich denken läßt, das aber, da es denkbar - und nur denkbar - ist, noch nicht gedacht ist. Anders verhält es sich mit der Rede. Ihr Auftreten setzt voraus, daß der Sprecher - das aktiv denkende Subjekt also - vorübergehend Gedachtes konstruiert hat, indem er auf das ihm ständig in seinem Geist zur Verfügung stehende Denkbare zurückgreift, das in seinem Geist als ein von der Langue intern systematisiertes Ganzes vorgestellt wird. Der vom Denkbaren ausgehende Aufbau des Gedachten ist eine Operation, die sowohl von der Rede vorausgesetzt als auch von ihr impliziert wird. Nun bestehen jedoch zwischen dem Gedachten und dem Denkbaren, zwischen dem Gedachten, das für den Augenblick bestimmt ist, und dem Denkbaren, das nur der Repräsentation dient, fundamentale Unterschiede. Das Denkbare ist die Gesamtheit aller möglichen Gedanken, es ist eine Gesamtpotentialität. Das Denkbare muß im voraus jeden Gedanken möglich machen, den ein Sprecher tatsächlich erzeugen wollen könnte. In der Praxis muß die Langue, die das Denkbare in systematischer Form festhält, in der Lage sein, den Ausdruck eines jeglichen Gedankens zu ermöglichen. Die Langue ist der einzige Integrator der Potentialität, diese Eigenschaft ist nirgends sonst anzutreffen. Die nur Gedachtes implizierende Rede wird aus dem Denkbaren konstruiert, sie schließt aber nie mehr als einen kleinen Ausschnitt dessen ein, was das Denkbare an sich gestatten würde. Denn vektoriell gesehen - eine vektorielle Darstellung ist in der Linguistik oft nützlich - kann das Denkbare zu jeglichem Gedanken beliebiger Natur führen, während das Gedachte, obwohl es vom Denkbaren hergeleitet wird, alles Denkbare hinter sich gelassen und davon nur einen Teil, den angemessenen, benutzt hat. Wir haben daher beim Übergang von der Repräsentation, der Langue, zum Gedachten des Ausdrucks, der Rede, einen Ubergang vom Integralen zum Differentialen, von der Gesamtheit der Potentialität - die dem Geist unmittelbar zur Verfügung steht - zum aktualisierten Teil, der nur für einen kurzen Moment des Bedarfs geschaffen wird und diesem unterworfen bleibt. Die Beziehung zwischen der Gesamtheit der Potentialität, der Langue, und den aktualisierten Teilen, der Rede, wird von allen empfunden. Jederman begreift auf Anhieb, daß das Gedachte begrenzter ist als das Denkbare und daß das, was man gedacht hat, was man denkt und was man denken wird, nie dem Denkbaren gleich sein kann. Dieses integriert unbedingt, als Potentialität, alles, was gedacht wird, wie groß dieses durch Multiplikation auch immer sein wird. Vertieft man sich ein wenig stärker in das Thema der Beziehung Denkbares/Gedachtes, so stellt man fest, daß das Gedachte im Gegensatz zum Denkbaren, das im Geist eine Integrale, die Langue, besitzt, keine derartige Integrale hat. Wer könnte auch in seinem Geist alles Gedachte, das unendlich weitergeht, behalten und integrieren? Denn die Menschen haben gedacht und werden auch weiter denken.

80 Aber so weit und so tief man auch denkt, verläßt man mit seinen tatsächlichen Gedanken nie das potentiell Denkbare. Die voneinander verschiedenen Gedanken folgen aufeinander im Ausdruck, ohne in ihrer Verschiedenheit je den Bereich des Denkbaren zu verlassen, der sie auf der Ebene der Repräsentation potentiell integriert. Als Potentialität ist die Langue eine Integrale ihrer unbegrenzten aktuellen Unterschiede. Der Gehalt der Langue, der dem Geist unmittelbar zur Verfügung steht, setzt sich aus der Totalität des Denkbaren zusammen, das nicht im Zustand des Ausdrucks, sondern im Zustand der systematisierten Repräsentation dargestellt wird. Und der Gehalt einer jeden Rede ist ein Teil des Denkbaren, das differenziert und vom Rest abgehoben - der Produktion des aktuell Gedachten dient. Im menschlichen Geist wird das Gedachte differenziert, während das Denkbare integriert wird. Die beiden gegensätzlichen Charakteristika betreffen jeweils die Rede und die Langue. In der Rede erscheinen augenblickliche, einzelne, voneinander verschiedene Gedanken, von denen erwartet wird, daß sie verschieden und nicht identisch sind. In der Langue erscheint nichts, alles ist, und zwar mit einem Mal gegeben. Und dieses mit einem Mal Gegebene ist das Denkbare - das intern organisierte, systematisierte Denkbare. In meiner allgemeinen Theorie, die ich hier entwickle, lege ich besonderen Wert auf die Unterscheidung von Ausdruck und Repräsentation. Die Langue an sich drückt nichts aus: Sie stellt vor, sie ist Repräsentation. Der Ausdruck befindet sich nur in der Rede; diese drückt mit den von der Repräsentation zur Verfügung gestellten Mitteln etwas bereits Repräsentiertes aus. In der Sprachwissenschaft und der Grammatik gab es zahlreiche Verwirrungen, weil man den Unterschied zwischen dem Ausdruck als allgemeinem Faktum der Rede und der Repräsentation als allgemeinem Faktum der Langue nicht präzis genug herausgearbeitet hatte. (Vorlesung vom 12. März 1948, Reihe C)

8. Die Allgemeingültigkeit der Beziehung: Repräsentation/Ausdruck Das Thema dieser Vorlesung - Repräsentation und Ausdruck im grammatikalischen System der französischen Sprache - ist an sich schon von großer Bedeutung, aber es deckt überdies ein allgemeines menschliches und soziales Faktum auf. Das menschliche Faktum besteht aus der Beziehung Repräsentation/Ausdruck selbst. Dieses Faktum ist, linguistisch gesehen, zu allen Zeiten, in allen Epochen, in allen Gesellschaftsordnungen und allen Gesellschaftsschichten vorhanden. Das wiederum heißt, daß sich die gesprochene Sprache überall und immer vor das Problem des Gleichgewichts zwischen Repräsentation und Ausdruck gestellt sieht.

81 Sie muß mit Hilfe von Repräsentationsakten die Langue und mit Hilfe von Ausdrucksakten die Rede bilden. Wenn es eine menschliche Sprache geben soll, so ist die Beziehung zwischen Repräsentation und Ausdruck eine absolut notwendige, menschliche Beziehung. Aber das Zustandekommen dieser Beziehung - wobei jeder ihrer notwendigen Bedingungen (Repräsentation/ Ausdruck) eine gewisse Proportion zugeteilt wird ist ein soziales Faktum. Da man sich bisher intensiv der sozialen Seite der Sprache gewidmet und die menschliche Komponente reichlich vernachlässigt hat, halte ich es für nützlich, auf diese Unterscheidung etwas näher einzugehen. Eine Sprache wie das Französische hat zwischen der Repräsentation und dem Ausdruck ein gewisses Gleichgewicht das Gleichgewicht des Französischen - erreicht. Sie hat also ihre eigene Art, folgende Gleichung zu lösen: Repräsentation + Ausdruck = 1

Die Zahl 1 steht für das Ganze, das heißt, die gesamte gesprochene Sprache. Ich möchte an dieser Stelle gleich feststellen, daß das Französische als hochentwickelte Sprache das Problem elegant gelöst hat. Diese elegante Lösung ist hier das soziale Faktum. Aber das Problem selbst und die Notwendigkeit, es aufzuwerfen, wenn nicht gar zu lösen, ist das menschliche Faktum. Das menschliche Prinzip lautet: Es ist nur möglich, das auszudrücken, was man sich zunächst vorgestellt hat. Die Notwendigkeit der Repräsentation vor dem Ausdruck ist universeller Natur in Raum und Zeit. Sie ist ein subsoziales Faktum. Dem sozialen Faktum entspricht eine gewisse gegenseitige Relativität von Repräsentation und Ausdruck, die je nach Alter verschieden ist. Es wäre auch ein soziales Faktum, wenn man überhaupt keine Repräsentation hätte - wenn man an die Stelle der Repräsentation eine Stufe der gesprochenen Sprache setzen würde, welche die fehlende Repräsentation durch die Erfahrung ersetzte. In anderen Worten: Es wäre ein soziales Faktum, wenn man das, was man ausdrücken will, auf der Grundlage einer Beziehung folgender Art wiedergäbe: Repräsentation = 0

I [

+ Ausdruck = 1

Erfahrung = X

Folgt man dieser Hypothese - die Repräsentation bildet ja die Langue - , müßte man ohne festgewordene Langue sprechen, also direkt von der Erfahrung der Dinge ausgehen. Dies wäre genau die Situation eines Tieres. Es gäbe dann zwar eine Sprache, aber keine gesprochene, menschliche Sprache. Der Augenblick des Übergangs vom Tierischen zum Menschlichen ist dort angesiedelt, wo die

82 Repräsentation zur Grundlage des Ausdrucks wird, und deshalb die einfache Erfahrung hinter sich läßt. Der Mensch trägt den Keim der Repräsentation in sich. So sind alle großen gedanklichen Entwicklungen ein Fortschritt in der Repräsentation. Die Grundlage der Arithmetik ist eine Repräsentation, die auf des Maischen Erfahrung der Zahl fußt. Die Algebra ist eine höhere Repräsentation, die von der numerischen Repräsentation ausgeht. Der Fortschritt wird auf einer Kurve eingetragen, die aus einer Abkehr von der Erfahrung besteht. Die Repräsentation kann sowohl mit Gewinn als auch mit Verlust die Erfahrung ersetzen. So verstanden ist der Fortschritt ein menschliches Faktum, doch von dran Augenblick an, wo sich eine bestimmte gegenseitige Relativität von Repräsentation und Ausdruck bildet, handelt es sich um ein soziales Faktum. Anders ausgedrückt: stellt sich das menschliche Faktum dergestalt dar: Repräsentation

(= x)

Ausdruck

(= y)

=1

und das soziale Faktum in dieser Weise: Repräsentation

( - a)

+

Ausdruck

(= a')

Es muß betont werden, daß in dem Bereich, der uns hier beschäftigt, der soziale Faktor nur im Lichte des menschlichen Faktors erklärt werden kann. Ehe man zu bestimmen versucht, welche Proportionen innerhalb einer Sprache der Repräsentation und dem Ausdruck zugeteilt sind, muß man wissen, daß die gesprochene Sprache die Summe der beiden ist. Vor kurzem, als ich die Sprache vom Blickpunkt des Sozialen aus betrachtete, sagte ich, daß die Langue das in uns Festgewordene und die Rede das Nicht-Festgewordene ist. Die Rede kommt nur zustande, weil nicht alles festgeworden ist. Wenn der festgewordene Teil die gesamte Sprache umfaßte, wäre ich stumm; alles wäre gesagt, es gäbe nichts mehr zu sagen. Die Beziehung Repräsentation

(= 1)

+

Ausdruck

(= 0)

ist eine Unmöglichkeit, etwas Erdachtes. Aber wie viele solcher erdachten Beziehungen ist sie der Argumentation als Grenze nützlich.

83 Eine andere Unmöglichkeit - diesmal eher grundsätzlich als endgültig - wäre die Beziehung Repräsentation

(= 0)

+

Ausdruck

(= 1 )

Ohne eine festgewordene Langue zu sprechen, ohne die Repräsentationen der Langue, wäre ein qualvoller Zustand, eine tierische Pein, von der uns die menschliche, sozial entwickelte Repräsentation erlöst. Meine Zuhörer erkennen wohl die Bedeutung, die den hier aufgeworfenen Fragen für viele Bereiche, einschließlich der Pathologie zukommt. Einige Studien Uber die Aphasie führen, wenn sie gut angelegt sind, zu dem Gedanken, einige aphasische Erscheinungen - man muß hier vorsichtig sein - seien im Wesentlichen eine Störung der Repräsentation und oft sogar nur eines Teils der Repräsentation, die verschwunden ist oder langsam verblaßt. Es gibt Lücken - und zwar systematische Lücken - in der Repräsentation und daher auch systematische Aphasien. In bestimmten Fällen der Aphasie gibt es zum Beispiel weiterhin die Möglichkeit, in zufriedenstellendem Maße Adjektive zu bilden, während die Bildung von Substantiven nicht mehr möglich ist. Daher entstand der pathologische Zwang, das Denken (das im wesentlichen nicht behindert war) ohne die Möglichkeit eines Substantives als Bezugspunkt durch Adjektive und Verben wiederzugeben. (Vorlesung vom 23. November 1951, Reihe B)

9. Der bedingende Charakter der Langue Jedes grammatische Paradigma, eine Konjugation zum Beispiel, führt uns eine nicht allzu große Anzahl von formalen Fällen der Repräsentation vor Augen. Jeder Form, jedem formalen Fall, entspricht genau eine Repräsentation. Ihre Einzigartigkeit ist absolut; diese eine Repräsentation hat jedoch ihre Einzigartigkeit nach einem inneren Mechanismus ersonnen, der es erlaubt, von der einen Repräsentation ausgehend tausend verschiedene Gebrauchswerte zu aktualisieren, deren Verschiedenartigkeit bis zur Bedeutung des Gegenteils reichen kann. Um den Sachverhalt deutlicher zu machen, nehme ich als Beispiel das »imparfait« des Indikativs in der französischen Sprache. Das »imparfait« stellt ein sich ereignendes Geschehen vor, das bereits bis zu einem gewissen Grade vollendet ist:

84 vollendeter Teil

+

perspektivischer Teil

= 1

(positiv)

In dieser Formel für das «imparfait« ist die Beziehung vollendet/perspektiv nicht quantifiziert und in der Rede hat der Sprecher freie Wahlmöglichkeit innerhalb der erlaubten Vielfalt. Diese Wahlmöglichkeit erlaubt es, das Quantum an Vollendetem nach Belieben zu erhöhen oder zu reduzieren. Daher die »imparfaits«, die einen großen vollendeten Teil aufzeigen, der eine gewisse Dauer aufzeigt (wie bei Pierre marchait), und die »imparfaits«, die dem Perspektivischen einen kleinen vollendeten Teil gegenüberstellen, der überhaupt noch keine Dauer aufzeigt (wie bei Le lendemain, Pierre arrivait). Hier bringt arrivait die Idee des Plötzlichen, von etwas mit sich, das den normalen Lauf der Dinge unterbricht und Unerwartetes ankündigt. Wenn ich arriva gesagt hätte, gäbe es keine Ankündigung, da dieses nicht perspektivisch, sondern aperspektivisch ist. In der Tat ist das »prétérit défini« arriva eine Form, deren Gehalt in extenso eine Vollendung ohne vollendeten Teil darstellt. Eine Erzählung im »prétérit défini« ruft eine Reihe von Vollendungen hervor. Dort, wo die Vollendung mit einem vollendeten Teil vorgestellt wird, und sei er auch noch so klein, wird das »imparfait« gebraucht. So haben wir für das »imparfait« eine unveränderliche Bedingung der Repräsentation, die lautet: vollendeter Teil (nach Belieben groß oder klein)

+

perspektivischer Teil

=1

Selbst wenn das Vollendete aufs Äußerste reduziert ist, bleibt es doch in der Repräsentation bestehen, obwohl seine Existenz so unbedeutend ist, daß hier ein »imparfait« gebraucht wird, das mit dem »prétérit défini« fast auf gleicher Stufe steht, und die beiden wären grammatisch oder zumindest stilistisch austauschbar. Ich kann also je nach Belieben sagen: Le lendemain, Pierre arrivait und Le lendemain, Pierre arriva. Der Unterschied ist verschwindend gering. Es gibt demzufolge, hinsichtlich der Repräsentation, eine formale Bedingung: vollendeter Teil (positiv)

+

perspektivischer Teil

Den Ausdruck betreffend haben wir die Freiheit, das Vollendete nach Belieben zu vermehren. In der Langue legt das »imparfait« seine absolute Bedingung für die Repräsentation fest. In der Rede erlaubt die respektierte Bedingung vollkommene Freiheit innerhalb der gesetzten Grenzen; dem »imparfait« ist alles erlaubt, außer die Bedingungen zu überschreiten, deren Bild es widerspiegelt. Diese Bedingung etabliert die Anwesenheit eines vollendeten Teils, der dem perspektivischen

85 vorausgeht, allerdings nicht, die Menge an Vollendetem, die dem perspektivischen Teil vorausgeht. Dies ist in der Langue nicht vorgegeben, und wir wissen, daß das Nicht-Festgewordene zur Rede gehört. Das heißt nichts anderes, als daß aufeinander folgen: -

das »imparfait« der Langue, das aus einer beliebigen Menge an Vollendetem +

-

Perspektivischem besteht, und das »imparfait« der Rede, das aus einer gegebenen Menge an Vollendetem + Perspektivischem besteht.

Daher gibt es zwei Arten, das »imparfait« zu untersuchen. Zum einen nur in der Rede, im gesprochenen Satz. In diesem Fall handelt es sich nicht um einen Wert des »imparfait«, sondern um tausend, und es wäre vergebliche Mühe, die tausend auf einen von ihnen, den wir als grundlegend betrachten, zurückführen zu wollen; wir würden dann nämlich unweigerlich in der Feststellung von Unterschieden untergehen (In der Tat, je besser wir die Unterschiede, die bis zum Äußersten gehen können, erkennten, um so schneller würden wir uns verlieren). Andererseits kann man jedoch das »imparfait« zunächst in der Langue untersuchen, um die unveränderliche, systematische Bedingung, die es dort vorstellt, zu entdecken, das heißt: vollendeter Teil

+

perspektivischer Teil

(ohne Quantifizierung)

um es dann später in der Rede zu analysieren, wo sich alle möglichen Quantifizierungen des vollendeten Teils ganz frei bilden mit all den verschiedenen expressiven Wirkungen, die diese quantitativen Variationen mit sich bringen. Die Form2 wird von der Langue zur Verfügung gestellt. Die quantitativen Variationen, die sie in ihren Grenzen erlaubt, sind der Rede vorbehalten. Sie sind nicht fest geworden. Sie sind frei, genau wie die Rede selbst. Allein ihre Form wird in der Langue etabliert - eine Form, die das »imparfait« nicht verletzen darf und auch dann nicht verletzt, wenn es alle Mengen an Vollendetem durchläuft, die die geforderte formale Anwesenheit vom Vollendeten im »imparfait« zuläßt. Ich habe mich eines einfachen Sachverhaltes bedient, um anschaulich darzustellen, was das Faktum der Langue (die formale, festgewordene Repräsentation), vom Faktum der Rede unterscheidet (von dem freien Funktionieren des Festgewordenen). Das festgewordene Element verletzt seine Grenzen nie, läßt der Rede jedoch alle Freiheit, innerhalb der gesetzten Grenzen zu operieren. (Vorlesung vom 23. November 1951, Reihe B)

Guillaume gebraucht Form hier wie überall im Sinne der grammatischen oder »formalen« Bedeutung im Gegensatz zu Materie, der lexikalischen oder »materiellen« Bedeutung. Aus diesem Grunde werden seine Untersuchungen auch grammatische Semantik genannt

Teil V: Sprache und System

1. Der systematische Charakter der Sprache

7.7. Ein jedem System innewohnendes

Gesetz

Jedes System ist notwendigerweise beides: eine Einheit, kraft des herrschenden Gesetzes, und eine Vielfältigkeit, kraft der in ihm enthaltenen Positionen. Es gibt kein System, das nur aus einem Element besteht. Seiner Natur und Definition nach ist ein System binär Es muß mindestens zwei Elemente enthalten, um überhaupt ein System zu sein. (Vorlesung vom 7. Dezember 1951, Reihe B)

7.2. Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung der Sprachsysteme Systeme sind Entitäten der Langue, die genau so wirklich sind, wie die Formen, die sie darstellen, und wenn sie, trotz ihrer Wichtigkeit, bis jetzt noch nicht untersucht worden sind, liegt das einzig daran, daß es sich dabei um abstrakte Realitäten handelt. Systeme haben nichts mit der direkt wahrnehmbaren materiellen Realität einer sprachlichen Entität zu tun, sondern mit der abstrakteren Realität der systemischen Verbindungen zwischen einer Anzahl von Entitäten der Langue, die gemeinsam den Ausdruck einer bestimmten Anzahl komplizierter Beziehungen möglich machen. Diese Beziehungen sind dem doppelten Gesetz der Kohärenz und der gegenseitigen Relativität unterworfen, an das sich alle Sprachen bei der Konstruktion ihrer Systeme halten. Es ist verständlich, daß abstrakte Entitäten reiner Beziehungen weniger der Untersuchung zugänglich sind als konkrete Entitäten, die eine andere Art Existenz haben als die in der Ordnung bestehende, die der Geist unbewußt seinen eigenen Repräsentationen auferlegt. Man sollte hinzufügen, daß uns die Untersuchung von Systemen keineswegs von der Betrachtung der Fakten entfernt, sondern dazu führt, den Begriff des linguistischen Faktums dahingehend zu erweitem, daß die systematische Abhängigkeit zweier oder mehrerer Formen genauso als ein Faktum betrachtet wird wie die Existenz der Formen an sich. (Vorlesung vom 10. Februar 1944, Reihe A)

88 1.3. Die Langue als System von Systemen Jede Sprache ist als Ganzes betrachtet ein umfassendes, streng kohärentes System, das aus mehreren, untereinander durch Beziehungen systematischer Abhängigkeit verbundenen Systemen besteht. Diese wiederum bilden ein systematisches Ganzes miteinander. Da dies generell so ist, und da die psycho-systematische Linguistik besonders die abstrakten Entitäten der Langue - die rein relationalen Entitäten, die Systeme konstituieren - untersucht, stellt sich das Problem der Identifizierung der verschiedenen Teilsysteme, aus denen das allumfassende System einer Langue besteht. Denn dieses allumfassende System ist eigentlich nichts weiter als die gegenseitige, relative Systematisierung der sich in ihm differenzierenden Teilsysteme. Die Langue ist ein systematisches, alles Denkbare umfassendes Ganzes, das aus Systemen besteht, von denen jedes einen bestimmten Teil des Denkbaren abdeckt. Diese Teilsysteme haben eine natürliche Tendenz zur Individualisierung, und sie heben sich innerhalb des ausgedehnteren umfassenden Ganzen, der Langue, als Ganzes ab. Ihre Individualisierung zu einem Ganzen innerhalb des Ganzen, dessen Teile sie sind, vollzieht sich mehr oder weniger scharf abgrenzend; der Linguist als Theoretiker darf nie vergessen, daß trotz der eben erwähnten Tendenz der verschiedenen Systeme einer Sprache zur Individualisierung diese gleichfalls zu einer permanenten Verbindung miteinander tendieren, was einen fast unmerklichen Übergang von einem zum anderen System erlaubt. Eine Langue ist eine antinomische Konstruktion, die immer nach entgegengesetzten Zielen strebt. Wenn ein Satz, zum Beispiel, eine Bedeutung haben soll, so müssen die Wörter unterscheidbar sein, und doch muß diese Unterscheidbarkeit für einen kurzen Moment aufgehoben werden. In ihrer internen Struktur strebt jede Sprache als ein integrierendes System danach, sich über eine Anzahl von integrierten Systemen zu verteilen, von denen jedes ein unterscheidbares Ganzes innerhalb des umfassenden Ganzen darstellt. Gleichzeitig jedoch tendiert eine entgegengesetzte Triebkraft dahin, die integrierten Systeme so eng wie möglich zusammenzuhalten. Die beiden antinomischen Tendenzen - die eine zur Trennung der Systeme und ihrer Identifizierung als Ganzes, die andere zur Aufrechterhaltung einer engen und fast ununterbrochenen Verbindung zwischen ihnen - streben ständig nach einem befriedigenden Ausgleich. Dieser Ausgleich wird im allgemeinen von hochentwickelten Sprachen, insbesondere den Sprachen fortgeschrittener Zivilisationen, auf elegante Art erreicht. (Vorlesung vom 2. März 1944, Reihe B)

89 1.4. Das Festgewordene und das Nicht-Fest gewordene in der Sprache Die Methodik betreffend gründet sich die Psycho-Systematik auf das Prinzip welches sowohl ein Prinzip der Struktur als auch der Analyse ist - , daß sich der Geist nur seiner selbst bewußt werden kann, indem er seine eigene Tätigkeit durch Querschnitte unterbricht. Dieses Prinzip gilt für jede formale Struktur im Sprachsystem, das heißt, für alle Formen, die durch ein Wechselspiel innerhalb eines geschlossenen Systems auf verschiedene Ideen übertragbar sind. Nehmen wir zum Beispiel die Formen der Verbkonjugation: Sie stellen ein geschlossenes System dar, und der Sprecher, der in einem Augenblick das ganze System erfaßt, wählt aus der finiten Anzahl von darin enthaltenen Formen jene, die am besten seiner Redeabsicht entspricht, also dem, was er auszudrücken gedenkt. Er wählt aus einer finiten und nicht sehr großen Anzahl an Formen auf diese Weise, daß angenommen man nimmt der Reihe nach eine Form nach der anderen bald der Moment kommt, da man wieder auf eine bereits gewählte Form zurückkommen muß. Man kann sagen, daß die Altemanz in einem geschlossenen Kreislauf abläuft. Unter Linguisten ist immer wieder die Frage diskutiert worden, ob eine Langue ein System ist oder nicht. Diese Frage ist dann beantwortet, wenn wir den Grundsatz anerkennen, daß es ein System gibt, in dem sich die Formen innerhalb eines geschlossenen Kreislaufes abwechseln, und daß es dort keines gibt, wo die Formen im festgewordenen Teil der Langue in einem offenen Kreislauf alternieren. Ein Beispiel dafür ist das Numerussystem in Sprachen mit zwei Numeri, dem Singular und dem Plural. Ein weiteres ist das Genussystem im Französischen, das zwei Genera, maskulin und feminin zählt. Dieses sind Systeme, weil die Wechselbeziehung der Formen - es sind ihrer nur zwei - in einem geschlossenen Kreislauf abläuft. Aus diesem Grund bilden zum Beispiel die Fälle der lateinischen Deklination ein System. Im Gegensatz dazu gibt es dort, wo die Begriffe mit anderen in einem offenen Kreislauf ausgetauscht werden können, kein System. Das ist der Fall bei den einzelnen Begriffen, die den Inhalt der Redeteile ausmachen. Sie können untereinander ausgetauscht werden, ohne daß sich das Feld der Austauschbarkeit ausdrücklich schließt. In die Substantivform kann ich eine große Anzahl von Begriffen eintragen und diese Anzahl ungehindert erhöhen, ohne auf irgendwelche in intellectu vorgestellte Grenzen zu stoßen. Anders verhält es sich mit den Redeteilen selbst. Ihre Anzahl ist finit, sehr gering, und sie alternieren in einem geschlossenen Kreis. Sie bilden ein System. Mit dieser Erklärung, die uns beides, das System und das Nicht-System, das Freie und das Nicht-Freie, im festgewordenen Teil der Sprache verdeutlicht, sind die endlos sich wiederholenden Auseinandersetzungen über dieses Thema meines Erachtens beigelegt. Als wir in unserer letzten Vorlesung das Verfahren der geistigen Querschnitte anwandten, haben wir die Beziehung Denken > Sprache, das Objekt der

90 Sprachwissenschaft, in zwei Teile zerlegt: in den festgewordenen Teil, den wir Langue nennen, und den nicht-festgewordenen Teil, den wir Rede nennen. Dazu muß sogleich gesagt werden: Systeme existieren nur im festgewordenen Teil der Sprache; niemand wende ein, daß der der Rede angehörige Satz trotzdem ein System ist; denn das System des Satzes ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der Langue. Es ist nicht das System, sondern der Gebrauch des Systems, der gemeinsam mit der freien, momentanen Wahl der durch den Satz zum Ausdruck zu bringenden Ideen den Satz ausmacht. Diese freie Wahl ist nicht systematisch bedingt, und selbst, wenn die durch den Satz zum Ausdruck gebrachten systematischen Voraussetzungen aus einer finiten Anzahl von systematischen Bedingungen besteht, (die nicht erhöht werden kann), bietet die Anwendung des Systems eine viel größere Anzahl an Konsequenzen und Kombinationen. Zur Rede gehört also nur die Anwendung des Systems, sofern sie frei ist. Und die Grenzen sind hier immer leicht zu ziehen: Das System legt seine Anwendung fest, und die Anwendung verfestigt sich als System.

(Vorlesung vom 6. Dezember 1951, Reihe A)

1.5. System und Nicht-System in der Sprache Die Langue, die jeweils die Totalität des Festgewordenen darstellt, besitzt die wichtige Eigenschaft, daß sich beide, Freiheit und Gesetz, Nicht-System und System, gegenüberstehen, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Das Festgewordene enthält zwei systematisch verteilte Tendenzen: die eine führt zum offenen Kreislauf der Ideation,1 und andere zum geschlossenen Kreislauf der Ideation. Das Festgewordene, der systematische Teil der Sprache, ist in loto systematisch, doch das Systematische beinhaltet sowohl das frei Festgewordene, das nichtsystematisch ist und in offenen Kreisläufen existiert, als auch das Festwerden des Nicht-Freien, das systematisch ist und in geschlossenen Kreisläufen existiert. Das Freie, Nicht-Systematische, funktioniert im Rahmen des Nicht-Freien, Systematischen. Beim Systematischen, Nicht-Freien, handelt es sich um eine bereits vollendete Systematisierung, beim Nicht-Systematischen, Freien, um eine noch nicht vollendete Systematisierung. Die Morphologie einer Sprache ist Ausdruck der darin festgewordenen, geschlossenen Kreisläufe der Ideation. Gibt es nur offene Kreisläufe der Ideation, hat die Sprache keine Morphologie. Um das Ganze besser zu verstehen, nehmen wir an, das Französische enthielte nichts als besondere Begriffe, wobei einer frei mit dem anderen ausgetauscht

Unter Ideation versteht Guillaume sowohl die Entstehung von Begriffen als auch deren Form.

91 werden könnte: Dann wäre es eine Sprache ohne Morphologie. Aber das ist nicht der Fall. In der Sprache haben sich als Folge ihrer Struktur geschlossene Kreisläufe der Ideation mit austauschbaren Begriffen entwickelt, die sämtlich die gleiche allgemeine Bedingung der Beweglichkeit erfüllen. Diese Reihen sind die Systeme in der Sprache, die in den gewöhnlichen Grammatiken durch Paradigmen dargestellt werden. Besser gesagt schafft die Langue in sich, innerhalb einer nicht freien, systematisch bestimmten Ideation, eine freie Ideation, deren bedingende Faktoren nicht feststehen, die also systematisch unbestimmt bleiben. Die nicht-freie, systematische Ideation funktioniert dann in einem geschlossenen Kreislauf, das heißt, in einem Kreislauf von Formen, die innerhalb desselben linguistischen Feldes transportierbar sind (Der Sprecher muß zwischen verschiedenen Formen finiter Anzahl wählen: zum Beispiel 3 Modi, 2 Aspekte, 15 Verbalformen). Wo es sich um die Materie handelt, ist es notwendig, unter den verschieden Formen ihrer Erfassung zu wählen. Die nicht-systematische, freie, in einem offenen Kreislauf funktionierende begriffliche oder notionelle Ideation ist die negativ systematisierte, freie Tätigkeit des Geistes, die sich nicht auf das Gesetz dieser Tätigkeit bezieht (die Begriffsschöpfung kennt keine Gesetze), sondern auf das Gesetz einer sekundären geistigen Tätigkeit, die nicht in der Begriffsschöpfung besteht: Es ist die Tätigkeit, die der Geist innerhalb seiner selbst durchführt, um seine eigene Tätigkeit zu erfassen. So gibt es einerseits die nicht-systematische, freie Tätigkeit, welche die freien Ideen produziert, zum anderen die systematische Tätigkeit, die das Produzierte erfaßt. Deshalb müssen in der Struktur der Langue zwei im Geiste wohnende Tätigkeiten unterschieden werden: die Tätigkeit des Geistes in seinem Wirken und die Tätigkeit des Geistes im Erfassen seines eigenen Wirkens. Die Systematisierung befindet sich nicht aufseiten des Geistes in seiner Tätigkeit des Wirkens, sondern auf Seiten des Erfassens seines eigenen Wirkens. Denn, es darf nicht aus den Augen verloren werden, daß der Geist seine eigene Existenz nur insofern wahrnehmen kann, als er sich selbst erfassen und dadurch die verschiedenen Momente seiner internen Tätigkeit unterscheiden kann. Das Erfassen seiner selbst fällt mit der Repräsentation zusammen: Es ist die Repräsentation. (Vorlesung vom 30. November 1951, Reihe B)

1.6. Uber den geschichtlichen Zusammenhang und die Erneuerung der Systeme Ein Aspekt der geschichtlichen Entwicklung des raum-zeitlichen Systems in den indo-europäischen Sprachen muß noch näher erklärt werden. Die Einrichtung eines Systems beruht auf den dem menschlichen Geist innewohnenden grundlegenden Prinzipien. Wenn das System einmal festgeworden ist, setzt es sich fort, indem es

92 die Folgen produziert, die sich aus seiner Natur ergeben und die sich in einem gegebenen Zeitraum bis zu einem gewissen Grad entwickeln - bis zum äußersten Grad - , wenn die Entwicklung in eine sprachlich ruhige Periode fällt. Ein System, dem es gegeben ist, diesem Entwicklungsmuster bis zu seiner Vollendung zu folgen, kann historischen Umständen unterworfen werden, die dieser Entwicklung im Wege stehen und es zerstören, wodurch es etwas Vergangenes, Überholtes, und, durch den Verlust seiner geistigen Bedeutung, etwas Aufgehobenes wird. Beim Wiederaufbau kann sich der Geist nicht an dieses verfallene Vergangene wenden. In Abwesenheit einer anderen Grundlage muß er wieder von vom mit den Bauprinzipien anfangen, die tief im Unterbewußtsein eingetragen sind und von denen der Geist, dank vorhergehender Konstruktionen, ein relativ klares Bild hat und gleichzeitig eine gewisse Erfahrung der schöpferischen Möglichkeiten, die sich aus einer geschickten Interpretation dieser Prinzipien ergeben können. Um die Geschichte der von den indo-europäischen Sprachen nacheinander übernommenen Systeme richtig zu verstehen, muß notwendigerweise bedacht werden, daß der Verfall eines festgewordenen Systems mit der Rückkehr zu einer Situation verbunden ist, die das vorher Aufgebaute nicht berücksichtigt, sondern in einer Art Neuanfang besteht Er ist eine Rückkehr des Geistes zu den grundlegenden Denk-Prinzipien, die schon vielfach bei vorhergehenden Systematisierungen Anwendung gefunden haben. Die geistige Aufhebung von bereits Konstruiertem - eine Aufhebung, die in manchen Fällen fast total ist, - kompliziert die Geschichte der Systeme. Sie bringt Neuanfänge in Konstruktionen von Systemen mit sich, die in der Vergangenheit häufig unternommen und oft erfolgreich durchgeführt worden sind. Daraus erklärt sich, wie besonders schwierig es unter diesen Bedingungen ist, aus der Untersuchung der Systeme eine genaue Idee ihres geschichtlichen Zusammenhangs zu gewinnen. Dieser wird, genau genommen, jedesmal unterbrochen, wenn der Wiederaufbau eines Systems die Rückkehr zu den ursprünglichen Prinzipien mit sich bringt, auf die schon am Uranfang Bezug genommen wurde. Je nach Sprache stellt die auf den grundlegenden Prinzipien errichtete Konstruktion eine mehr oder weniger beachtliche Entwicklung dieser Prinzipien dar, auf die man immer wieder zurückgreifen muß, wenn das zuvor erstellte System nicht weiterbestehen kann, und möglicherweise ist ihre Entwicklungsstufe der beste Anhaltspunkt für ihr relatives geschichtliches Alter. (Vorlesung vom 27. Januar 1944, Reihe B)

93 2. Der systematische Charakter des Wortes

2.1. Die Entdeckung des Systems: eine passende

Untersuchungsmethode

In jeder Sprache bildet das Wort ein System. Mit der Aufdeckung dieses Systems, das heißt, des Baumechanismus des Wortes, befaßt sich die Psycho-Systematik der Sprache dank ihrer besonderen Technik, die Linguistik der Positionen genannt wird. Eine Untersuchung des Baumechanismus des Wortes in den indo-europäischen Sprachen vermittelt uns eine Idee von der Methode, die eigens von diesem neuen Zweig der Sprachwissenschaft entwickelt wurde. Bei der Methode handelt es sich in der Tat immer um eine sozusagen vektorielle Darstellung eines linguistischen Phänomens. Sein Dynamismus wird als ein Vektor dargestellt, der dann anhand aufeinanderfolgender Querschnitte intern untersucht werden kann. Diese Querschnitte markieren auf dem Vektor eingenommene Positionen, daher der Name Linguistik der Positionen, um die von der PsychoSystematik ständig benutzte Methode zu bezeichnen. Durch das Positions-Verfahren ist es uns gelungen, das System des Wortes, nicht nur in den indo-europäischen Sprachen zu entdecken, sondern in allen Sprachen der Welt. Wo immer dieses Verfahren Anwendung findet, zeitigt es bemerkenswerte Resultate und hat das Verdienst großer Einheitlichkeit. Indem ich mich auf die Erkenntnis früherer Überlegungen stützte, daß im Falle des Wortes in hochentwickelten Sprachen die grundlegenden geistigen Operationen, die Universalisierung und die Singularisierung, im ständigen Wechsel miteinander sind, habe ich festgestellt, daß in den uns vertrautesten Sprachen das Wort zunächst auf einer Partikularisierung beruht, der eine abschließende Universalisierung folgt. Diese Bewegung wird anhand der folgenden vektoriellen Linien illustriert: Partikularisierung

Universalisierung



Das Schema stellt die Tätigkeit des Geistes dar, der diese anhand des einzigen ihm zur Verfügung stehenden Mittels erfaßt, nämlich durch Querschnitte auf der vektoriellen Linie. Ein erster Querschnitt zur einsetzenden partikularisierenden Bewegung ergibt die Wortbasis. Die darauffolgenden Querschnitte in der zweiten, universalisierenden Bewegung ergeben die Vektorformen, 2 die an die Wortbasis angefügt werden. Schließlich liefert ein letzter Querschnitt die Wortklasse. Das

Eine Diskussion der Vektorformen befindet sich an späterer Stelle, unter »Der Mechanismus der Wortkonstruktion in den indo-europäischen Sprachen« und unter »Morphologie und das Werden des Wortes«.

94 folgende Schema zeigt deutlich, worum es sich bei der Linguistik der Positionen im wesentlichen handelt: Partikularisierung

1. Querschnitt (Resultat: materieller Teil des Wortes)



Universalisierung

—TT

aufeinanderfolgende transmaterielle Querschnitte (Resultat: Vektorfoimen)

1"

letzter QuerschniU (Resultat: Redeteil)

Es gibt kein linguistisches Problem, das nicht in dem Moment geklärt werden kann - und meist in einer höchst erstaunlichen Art - , wo es in einer von diesem besonderen analytischen Verfahren, der Linguistik der Positionen, erlaubten Weise erfaßt wird. Bei der Anwendung dieses einheitlichen Positions-Verfahrens - ich wiederhole - stellt sich als größte Schwierigkeit die Entdeckung der ursprünglichen Vektorform des zur Untersuchung stehenden Phänomens. Im Falle des Wortes mußte man zum Beispiel zunächst erkannt haben, daß das Wort in den fortgeschrittenen Sprachen für seine Konstruktion auf einen doppelten Prozeß, den der Partikularisierung und den der Generalisierung zurückgreift. Das Endergebnis oder die Vervollständigung des Wortes ist immer dem generalisierenden Denkvorgang überlassen, der dem Wort als letzter seine allgemeine Form verleiht: die der Wortklasse. Ist die ursprüngliche Vektorform des Phänomens einmal gefunden, stellt das weitere keine großen Schwierigkeiten dar: Was die verschiedenen Querschnitte auf dem Vektor der untersuchten sprachlichen Entität eingebracht haben, läßt sich recht einfach entdecken. (Vorlesung vom 12. Dezember 1947, Reihe C)

2.2. Die Genese des Wortes: Substanz und Form Bislang noch nicht erkannt worden ist die Tatsache, daß die Beziehung zwischen Substanz und Form die einer Ordnung ist, die einer Folge, und nichts weiter. Die Substanz wird von einer ersten Bewegung des Geistes erzeugt, die wegstrebt von einer ihrer Anfangsgrenzen, dem Singularen oder dem Universalen; und die grammatische Form ist ein Produkt der zweiten, zurück zum Ausgangspunkt führenden Bewegung des Geistes. Daraus folgt, daß die Form eine Universalisierung bedingt, und zwar in jeder Sprache, die bei der Erzeugung ihrer Vokabeln vom Universalen ausgeht, von dem sie sich weit genug entfernt, um den

95 gewünschten Grad an Panikularisierung der Bedeutung zu erreichen, und dann wieder zum Universalen zurückkehrt. S o ist es bei den entwickelten, uns am vertrautesten Sprachen. Unser Geist, der eine gewisse Abstraktionskraft erreicht hat, nimmt seinen Ausgangspunkt im Universalen und wendet sich zum Singularen, hält unterwegs an der Stelle an, die dem Grad der beabsichtigten Partikularisierung entspricht und kehrt zurück zum Universalen. Diese Umkehr zum Universalen bringt die Form hervor. Die erste Bewegung, vom Universalen zum Singularen, ergibt die Substanz. Dies läßt sich in einem Schema 3 folgendermaßen darstellen:

das Singulare

Substanz

das Universale

Form

Die Überlagerung der beiden gerichteten Bewegungen ist in jedem deutschen'' Lexem, wahrnehmbar und so direkt überprüfbar. Nehmen wir zum Beispiel das Semantem Ding in einem ganz allgemeinen Sinn. Hinsichtlich seiner Substanz stellt es eine minimale Bewegung weg vom Universalen mit darauffolgender Umkehr zum Ausgangspunkt dar (was der Form entspricht). In einem Schema:

das Singulare

Ding

das Universale Substanz

Form

In den folgenden drei Schemata handelt es sich eigenanigerweise nur um Bewegungen; die systematische Anordnung ihres Erscheinens wird nicht in der Operativ-Zeil gezeigt. Der vorangehende Abschniu »Die Entdeckung des Systems: eine passende Untersuchungsmethode«, zeigt, daß die zweite Operation (= Form) so zu verstehen ist, daß sie an dem Punkt ausgelöst wird, wo die erste unterbrochen oder erfaßt wird. A

Guillaume gebraucht hier Beispiele aus dem Französischen.

% Für ein weniger allgemeines Wort wie Mensch, zum Beispiel, sähe das Schema folgendermaßen aus: das Singulare

Mensch

das Universale

Form

Die erste Substanz erzeugende Bewegung verleiht dem Wort in unseren Sprachen seinen Bedeutungsgehalt; die Form erzeugende Bewegung gibt dem Wort in finem sein Merkmal als Redeteil. Der Redeteil ist im Wort eine integrierende, das Wort schließende Universalisierung, die in allen Fällen - denn die Universalisierung hat ihre unüberschreitbare Grenze erreicht - eine Gegenüberstellung der Universal-Sicht mit sich selbst darstellt. Man kommt somit an die unüberschreitbare Endgrenze der universalisierenden Bewegung, die keine Fortsetzung hat, mit der sie kontrastiert werden kann. Es bleibt also nur die Möglichkeit, die Universal-Sicht mit sich selbst zu konfrontieren, ohne sie ihrer Universalität zu berauben. Das Ergebnis ist eine eigenartige Dichotomie der Universal-Sicht, die im Geiste die Form zweier antinomischer Universalien annimmt: das Raum-Universum und das ZeitUniversum. Für meine neuen Hörer komme ich noch einmal auf die dieser Dichotomie zugrundeliegenden, schöpferischen Denkbewegungen zurück. Die Wörter in unserer Sprache, die als eine Konsequenz zu der die Form generierenden Bewegung, die sie zum Universalen, wo der Prozeß begonnen hat, zurückführt, enden entweder im Zeit-Universum oder im Raum-Universum. Wenn sie im Raum-Universum enden, sind es Nomen, wenn sie im Zeit-Universum enden, sind es Verben. Wenn sie im Zeit-Universum enden, nehmen sie die Merkmale der zur Zeit gehörigen Repräsentationskategorien an, das heißt, Modus, Tempus, die Ordinal-Person (die Person, die dekliniert wird und den Rang wechseln kann). Diese Repräsentationskategorien - Modus, Tempus und Ordinal-Person - sind die offensichtlichen Bestimmungskategorien des Verbs. Im Falle, wo die Wörter im Raum-Universum enden, nehmen sie die Merkmale der zum Raum gehörigen Repräsentationskategorien an, das heißt, die nicht-ordinale (die besprochene) dritte Person, Numerus, Genus und Kasus (der im voraus die Funktion oder die

97 Funktionen anzeigt, die das Wort im Satz ohne Zuhilfenahme einer Präposition haben kann) (Vorlesung vom 25. November 1943, Reihe A)

2.3. Prozesse des Wortbaus: Unterscheidung

undKategorisierung

Alle Sprachen haben ab einem bestimmten Moment ihrer Entwicklung Uberall dahin gestrebt, den Unterschied zwischen Nomen und Verb formal und kategorial immer mehr hervorzuheben. Die linguistische Unterscheidung zwischen Nomen und Verb ist eng verknüpft mit der noologischen Unterscheidung zwischen Zeit und Raum. Selbst wenn diese Frage ein tiefgreifendes Thema der allgemeinen Linguistik ist, soll sie hier doch kurz erläutert werden. Jedes Lexem ist das Resultat zweier entgegengesetzten Finalitäten zustrebenden Denkvorgängen: einer unterscheidenden und einer kategorisierenden Bewegung. Die erste, die unterscheidende Bewegung, zielt auf eine Abstraktion des Singularen vom Universalen und befähigt damit das Lexem, seine individuelle Identität zu erlangen. Die Individualisierung des Lexems ist eine Funktion der abstrahierenden Bewegung, die das Singulare aus dem Universalen herauslöst. Sollte der Geist Schwierigkeiten haben, diese erste Operation durchzuführen, - eine derartige Hypothese darf auf dem allgemeinsten Niveau der Linguistik nicht übersehen werden - dann könnte das Lexem wohl kaum seine Individualisierung eneichen. Sollten solche Schwierigkeiten anfänglich je bestanden haben, sind sie immer sehr früh überwunden worden, und die Wörterbücher unserer Sprachen bezeugen die Kraft des menschlichen Geistes, von der Universalität alles Denkbaren die Ideen zu abstrahieren, die er individuell betrachten möchte. Das Singulare aus dem Universalen zu abstrahieren, eine Idee aus der Masse aller denkbaren Ideen durch Abstraktion zu unterscheiden, um sie genau zu betrachten, ist deshalb eine Operation, die der menschliche Geist jetzt leicht und wirksam durchzuführen weiß. Auf den Unterscheidungsprozeß folgt in unseren Sprachen automatisch ein gegenläufiger Prozeß, der in seiner Art sein Spiegelbild ist. Das Besondere wird jetzt dem Universalen, von dem es zunächst abstrahiert wurde, wieder zurückgegeben. Diese zweite Bewegung ist weder ein Unterscheidungsprozeß zur Individualisierung des Lexems, noch eine der Anti-Diskriminierung zur EntIndividualisiening, um das Getane wieder aufzuheben, sondern ein Prozeß anderer Art: Ein Prozeß der Kategorisierung, der dem Lexem all seine erlangte Individualität beläßt und gleichzeitig darauf zielt, im Geist eine Kategorisierung hervorzurufen, die so allgemein, so nicht-partikular wie möglich ist. Diese Kategorisierung kommt im Redeteil zum Ausdruck. Um zu dieser Kategorisierung zu gelangen, die ihrem Zweck entsprechend so allgemein, so nicht-partikular wie möglich sein muß, wird das Universale nicht dem

98 Besonderen gegenübergestellt, sondern sich selbst, dem Universalen. Es geht darum, das Universale sich selbst in zwei verschiedenen, sich einander ausschließenden (antinomischen) Kategorisiemngsweisen gegenüberzustellen. Die beiden antinomischen Kaiegorisierungsweisen des Universums sind Raum und Zeit. Obwohl die größten Denker sich oft mit diesem Problem auseinandergesetzt haben, bleibt die geistige Genese der beiden Kategorisierungsweisen ein durchaus mysteriöser Prozeß. Dementsprechend kann man das Verb als ein Wort definieren, das seine Vollendung in der Zeit findet und das Nomen als ein Wort, das seine Vollendung außerhalb der Zeil, im Raum findet (wobei Raum all das ist, was nicht Zeit ist). Jedes Lexem ist in einer entwickelten Sprache also ein Begriff, der durch einen Unterscheidungsprozeß vom Universalen abstrahiert und durch einen kategorisierenden Prozeß, der den absondernden Prozeß jedoch nicht aufhebt (und das ist ein wichtiger Punkt), dem Universalen zurückgegeben wird. Folglich hat man als geistigen Ursprung des Wortes ein vollständiges Universum, welches das zu abstrahierende Besondere enthält und als geistiges Ende des Wortes ein leeres Universum, dem alles Besondere entzogen worden ist. Das volle, ursprüngliche Universum wird innerlich durch das in ihm enthaltene Besondere aufgegliedert. Das Enduniversum läßt sich auf Grund seiner Leere an Begriffen nur in Beziehung zu sich selbst ausdrücken. Diese unter rein formalen Bedingungen vorgenommene Spezifizierung, die im Hinblick auf die Vorstellung des Universums als leer an spezifizierbarer Substanz zu bezeichnen ist, wird durch Abstraktion des Universalen vom Universalen zum Raum-Zeit-Kontrast. Auf diesem beruht im wesentlichen die Trennung von Nomen und Verb. (Vorlesung vom 19. Februar 1942, Reihe A)

2.4. Der Mechanismus des Wortbaus in den indo-europäischen

Sprachen

... Diese Gesetze beruhen darauf, daß die Partikularisierung und die Generalisierung im ersten und materiellen Teil des Wortes aufeinander einwirken, ohne daß in dem ersten, materiellen Teil des Wortes die Generalisierung je bis zu ihrem Ende gelangt, also ein Ganzes im Universalen werden könnte. In der Tat entwickelt sich unter der Partikularisierung im ersten, materiellen Teil des Wortes eine Universalisierung, die so weit wie möglich getrieben wird, aber notwendigerweise geringer bleibt als die Partikularisierung, innerhalb derer sie sich entwickelt. Wenn nämlich beide gleich würden, höbe sich die Partikularisierung selbst auf: Die Wortbasis verlöre ihre Existenz. Die dem Bau des ersten, materiellen Teils des Wortes entsprechende Formel, die man bei der zur Diskussion stehenden Frage immer bedenken sollte, lautet:

99 Partikularisierung

=1

zugrundeliegende Universalisierung

= 1- q

Anders gesagt muß die Universalisierung unter der Partikularisierung immer und überall die folgende Bedingung erfüllen: Universalisierung