Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik [Reprint 2010 ed.] 9783111356464, 9783484302495

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik [Reprint 2010 ed.]
 9783111356464, 9783484302495

Table of contents :
0. EINFÜHRUNG: "Forensische Linguistik"
0.1 Forschungs- und Praxisstand
0.2 Bereiche, Fragestellungen und Theorie-Elemente
0.3 Gliederung des Bandes
0.4 Literatur
Kapitel 1; ALLGEMEINE GRUNDLAGEN UND PROBLEMHORIZONTE DES BEREICHS "SPRACHE UND RECHT"
Fachsprachlichkeit in gerichtlichen Texten
Zur kontrastiven Deutung dysgrammatischer Systeme
Status und Erklärungspotential sprachlicher Fehler
Textanalytische Voraussetzungen forensischlinguistischer Gutachten
Kapitel 2: JURISTISCHES PRAXISFELD: GUTACHTEN ZUM "VERSTANDNISNACHWEIS" STRITTIGER WÖRTER UND ÄUSSERUNGEN
2.1 LINGUISTISCH-FORENSISCHE ANALYSE UND GUTACHTEN
Sprachexpertisen im Zivilprozeß
Zum juristischen Gebrauch linguistischer Kategorien
Alles ist Tatfrage des Einzelfalls - Oder: "Herr X bzw. seine Konkubine"
2.2 PHONETISCH-FORENSISCHE ANALYSE UND GUTACHTEN
French Analytic Procedures for the Determination of Disputed Utterances
Kapitel 3: JURISTISCH-KRIMINALISTISCHES PRAXISFELD: GUTACHTEN ALS HILFE BEI DER TATERERMITTLUNG
3.1 GRAPHOMETRISCH-FORENSISCHE ANALYSE: GERICHTLICHE SCHRIFTVERGLEICHUNG
Grundlagen und Methoden der forensischen Schriftuntersuchung
Forensische Linguistik und forensische Schriftuntersuchung - Zwei methodisch verwandte Disziplinen?
3.2 LINGUISTISCH-FORENSISCHE ANALYSE: TEXT-AUTORSCHAFTSNACHWEIS
XY...ungelöst. Zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik
Anregungen zu mehr Interdisziplinarität bei forensischen linguistischen Untersuchungen
Die linguistische Textanalyse aus kriminalistischer Sicht
Der Fall S. - Linguistische Gutachten in einem Mordprozeß
The Yorkshire Ripper Letters
Textanalyse im Ermittlungsverfahren. Die Bedeutung "Außersprachlicher Merkmale" am Beispiel eines realen Falles
Probleme der Täteridentifizierung anhand linguistischer Text- und Stimmvergleiche in der Hauptverhandlung
Tätertexte
Autorschafts-Ausschluss: Ein 'Liquet' und ein 'Non-Liquet'
3.3 PHONETISCH-FORENSISCHE ANALYSE: SPRECHERERKENNUNG
The Limitations of Auditory-Phonetic Speaker Identification
Stimmenvergleichsgutachten - Probleme und Methoden der forensischen Phonetik am Beispiel einer Fallstudie
Expert Evidence in a Scottish Sheriff Court
The Case of "J", an Early Example of Forensic Phonetics
"It's Rather Serious...". Early Speaker Identification
ANHANG
Abkürzungsverzeichnis
Anschriften der Autoren

Citation preview

Linguistische Arbeiten

249

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik Herausgegeben von Hannes Kniffka

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik / hrsg. von Hannes Kniffka. - Tübingen : Niemeyer, 1990 (Linguistische Arbeiten ; 249) NE: Kniffka, Hannes [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-30249-6

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihen-Druck GmbH, Darmstadt

INHALTSVERZEICHNIS

0.

EINFÜHRUNG: "Forensische Linguistik"

0.1 0.2 0.3 0.4

Forschungs- und Praxisstand Bereiche, Fragestellungen und Theorie-Elemente Gliederung des Bandes' Literatur

l l 25 44 54

Kapitel 1; ALLGEMEINE GRUNDLAGEN UND PROBLEMHORIZONTE DES BEREICHS "SPRACHE UND RECHT"

57

Rudolf Wassermann Fachsprachlichkeit in gerichtlichen Texten

59

Günter Peuser Zur kontrastiven Deutung dysgrammatischer Systeme

75

Bernd Spillner Status und Erklärungspotential sprachlicher Fehler

97

Klaus Brinker Textanalytische Voraussetzungen forensischlinguistischer Gutachten

Kapitel 2: JURISTISCHES PRAXISFELD: GUTACHTEN ZUM "VERSTÄNDNISNACHWEIS" STRITTIGER WÖRTER UND ÄUSSERUNGEN

115

125

2.1 LINGUISTISCH-FORENSISCHE ANALYSE UND GUTACHTEN

Christian Ritter Sprachexpertisen im Zivilprozeß

127

Christian Stetter Zum juristischen Gebrauch linguistischer Kategorien

163

Hannes Kniffka Alles ist Tatfrage des Einzelfalls - Oder: "Herr X bzw. seine Konkubine"

189

2.2 PHONETISCH-FORENSISCHE ANALYSE UND GUTACHTEN

J. Peter French Analytic Procedures for the Determination of Disputed Utterances

201

VI

Kapitel 3: JURISTISCH-KRIMINALISTISCHES PRAXISFELD: GÜTACHTEN ALS HILFE BEI DER TATERERMITTLUNG

215

3.1 GRAPHOMETRISCH-FORENSISCHE ANALYSE: GERICHTLICHE SCHRIFTVERGLEICHUNG

Lothar Michel Grundlagen und Methoden der forensischen Schriftuntersuchung

217

Manfred Hecker Forensische Linguistik und forensische Schriftuntersuchung Zwei methodisch verwandte Disziplinen?

231

3.2 LINGUISTISCH-FORENSISCHE ANALYSE: TEXT-AUTORSCHAFTSNACHWEIS

Günther Grewendorf XY...ungelöst. Zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik

247

Anita Blum Anregungen zu mehr Interdisziplinarität bei forensischen linguistischen Untersuchungen

289

Wolfgang Steinke Die linguistische Textanalyse aus kriminalistischer Sicht

321

Dieter Cherubim Der Fall S. - Linguistische Gutachten in einem Mordprozeß

339

Jack Windsor Lewis The Yorkshire Ripper Letters

377

Alois Balzert Textanalyse im Ermittlungsverfahren. Die Bedeutung "Außersprachlicher Merkmale" am Beispiel eines realen Falles

389

Fritz Billner Probleme der Täteridentifizierung anhand linguistischer Text- und Stimmvergleiche in der Hauptverhandlung

399

Ulrich Engel Tätertexte

417

Hannes K n i f f k a Autorschafts-Ausschluss: Ein 'Liquet' und ein 'Non-Liquet 1

437

3.3 PHONETISCH-FORENSISCHE ANALYSE: SPRECHERERKENNUNG

Francis Nolan The Limitations of Auditory-Phonetic Speaker Identification

457

VII

Georg Heike Stimmenvergleichsgutachten - Probleme und Methoden der forensischen Phonetik am Beispiel einer Fallstudie

481

Graham Trengove Expert Evidence in a Scottish Sheriff Court

491

John R. Baldwin The Case of "J", an Early Example of Forensic Phonetics

503

Stanley Ellis "It's Rather Serious

515

". Early Speaker Identification

ANHANG

523

Abkürzungsverzeichnis

525

Anschriften der Autoren

526

IX

Vorwort

Der vorliegende Band müßte eigentlich "Texte zu Praxis und Theorie . . . " heißen; diese Formel gibt es im Deutschen aber wie den Ausdruck "Stand der Praxis" nicht. Der Band möchte nämlich, ausgehend von konkreter Gutachtenund Gutachterpraxis, die Linguisten und ihre nächsten Nachbarn in den letzten Jahren und Jahrzehnten in (oder pro) foro geleistet haben, zur Konsolidierung "forensischer Linguistik" , eines zu konstituierenden Teilfachs der Angewandten Linguistik, beitragen. Die Ziele sind, notgedrungen, bescheiden: Es soll 1) auf eine weitgehend "im Verborgenen blühende" Aktivität von Linguisten oder sich linguistisch Betätigenden a u f merksam gemacht werden 2) erstmalig (zumindest im deutschsprachigen Raum) der Gesamtbereich linguistisch-forensischer Gutachtenerstellung exemplarisch DOKUMENTIERT werden 3) Linguistisches (und einschlägiges nachbarwissenschaftliches) ERFAHRUNGSWISSEN zusammengetragen, (selbst-) kritisch beleuchtet und ausgetauscht werden - mit anderen Gutachtern, Fachkollegen, anderen forensischen Hilfswissenschaften u n d , vor allem, im Praxisfeld tätigen Juristen, Kriminalisten u . a . Gutachten in gerichtlichen Auseinandersetzungen sind seit mindestens 40 Jahren in linguistischen Universitätsinstituten geübte Praxis - und zugleich Stiefkind der Forschung. Von den eigenen Fachkollegen kaum zur Kenntnis genommen, wenn nicht ignoriert. In anderen Fächern und bei den "Abnehmern" weitgehend unbekannt. So bestand (und besteht z . T . ) die groteske Situation: Hier anspruchsvolle "Finger- und

Trockenübungen" z . B . über philologische Autorbestimmung, Bedeutungsbeschreibung, Sprechaktanalyse usw. Dort "real life"- Gutachten zu Verbalinjurien, Widerruf und anonymen Erpresserbriefen usw.- z . T . auf dem Niveau nebenamtlich tätiger pensionierter "Sprachpfleger" oder IHK-Sachverständiger, die keine sprachwissenschaftliche Ausbildung haben. Linguistische Gutachter teilen mit denen anderer Fächer die Eigenschaft, sich äußerst ungern "in die Karten gucken" zu lassen. Die Rede ist von seriösen Gutachtern. Wenn aber die Gutachtenerstellung und das linguistische Teilfach auf solide (re) Füße gestellt werden sollen, muß man sich nicht nur in die Karten gucken lassen, sondern die KARTEN OFFEN AUF DEN TISCH legen und auch bereit sein, die "Spielregeln" zu diskutieren. Dazu gehört u . a . viel Redlichkeit und Mut. Die Linguistik, insbesondere die Hochschullinguistik, muß sich aber dieser Aufgabe stellen und die Herausforderung annehmen, wenn das Feld nicht noch mehr als bisher schon Scharlatanen und Kurpfuschern überlassen werden soll. Dies wäre (und war) dem Fach abträglich. Der Band w i r f t mehr Fragen a u f , als er beantwortet. Er enthält insgesamt mehr diskutable als gesicherte Ergebnisse. Dies ist aber genau seine wichtigste Aufgabe: eine Bestandsaufnahme des status quo und ein Auf-den-Weg-Bringen der Diskussion. Dabei sollte man nicht zu "linguozentrisch" sein. Wenn Leute, die sich mit linguistisch-forensischen Gutachten beschäftigen, beschäftigen wollen oder müssen, einige Denkanstöße und eigenen "Handlungsbedarf" daraus entnähmen, wäre ich mit dem Ergebnis schon zufrieden.

XI

Die gebotene "Interdisziplinarität" der Perspektive - die noch eigens zu thematisieren sein wird - bringt es mit sich, daß die herausgeberische Einflußnahme auf ein Minimum beschränkt wurde. Ich habe nur dort um Umformulierung gebeten, wo größere Verständnisschwierigkeiten bestanden. Nicht dagegen dort, wo Aussagen oder Argumentationen über andere Fachgebiete vorliegen ( z . B . von Juristen über linguistische, von Linguisten über juristische Sachverhalte), die (so) problematisch bzw. nicht haltbar sind. Auch dies gehört m . E . zur Dokumentation der "herrschenden Meinung" und ist einfach zusammenzufassen: Wir (Linguisten) als Gutachter wissen v i e l zu wenig über Inhalte, Gepflogenheiten, "Denkweisen", auch sogenannte "Binsenwahrheiten" von Juristen und auch umgekehrt. Auch in diesem "interdisziplinären" Sinne möchte der Band einen Beitrag leisten. Ich habe sehr vielen zu danken, ohne deren tätige Hilfe der Band nicht zustandegekommen wäre. In erster Linie denjenigen, die einen Aufsatz beigetragen haben. Ebenso denjenigen, die aus terminlichen Gründen keinen Beitrag schreiben konnten, mir aber durch wertvolle Informationen und Tips weitergeholfen haben. Wer wann wo worüber ein Gutachten erstellt hat, ist eine Information, die man nicht auf der Straße findet (und die auch leider immer noch nicht z . B . im BKA verfügbar ist, wie es scheint). Namentlich möchte ich Eve Clark,Stanford, David Crystal,Bangor, Hans-Günther Tillmann, München, Jack Windsor-Lewis, Leeds und vor allem Judith Levi, Evanston/Ill., herzlich danken, die mir zahlreiche Anregungen für die Kontaktherstellung gegeben haben. Judith Levi auch für einen brieflichen Bericht über ihre eigene Gutachtertätigkeit in den USA.

XII

Schließlich danke ich den Herausgebern der "Linguistischen Arbeiten", namentlich Heinz Vater, Köln, für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe und meiner Frau sowie Monika Esser und Otto Esser, Köln, und Miriam Eckert, Bonn, für ihre Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlage.

Bonn, im März 1990

Hannes K n i f f k a

0. Einführung: "Forensische Linguistik 1

0.1 Forschungs- und Praxisstand

0.1.1 Gegenwärtige Situation B e g r i f f , Konzeption und wissenschaftlicher Statue "forensischer Linguistik" sind unklar und umstritten, vor allem aber weithin unbekannt. In der Wissenschaft wie in diversen Praxisfeidern und auch in der Öffentlichkeit. Im folgenden sei schlaglichtartig die gegenwärtige Situation und auch die "Entwicklung" gekennzeichnet. Hochschullinguisten, auch solche, die nie ein Gerichtsgutachten geschrieben oder gesehen haben, haben nicht selten eine geringe oder zu geringe Meinung von den Möglichkeiten und Leistungen ihres Fachs im "forensischen" Praxisfeld. Einige lehnen sie in Bausch und Bogen ab oder negieren sogar die Möglichkeit einer sinnvollen forensisch-linguistischen Betätigung - wohl in beiden Fällen aus Unkenntnis. In der Öffentlichkeit und in den Teilen von Kriminalistik, Justiz und Anwaltschaft, die in ihrer beruflichen Praxis "am Rande" von forensisch-linguistischen Gutachten Kenntnis bekommen haben, herrscht dagegen nicht selten eine ÜBERTRIEBENE Vorstellung von den Möglichkeiten und Leistungen, manchmal geradezu ein Wunschdenken. Manche halten die Linguistik im Ernst für eine Art "Geheimwaffe" z.B. für die Autorermittlung im kriminalistischen Kontext. Der Linguist als jemand, der den Täter beim Wort/Schöpf nimmt und schlüssig überführt - eine zeitweise auch in der Presse gehandelte Vorstellung. Sie ist wirklichkeitsfremd, unseriös und wissenschaftlich unverantwortlich.

Einen solchen Aussagewert und eine solche Beweisfunktion hab e n linguistische Gutachten a l l e i n natürlich niemals. Aus einem einfachen Grund (und mehreren komplexen Gegebenheiten des Fachs Linguistik): Der Gegenstand Sprache ist nicht so beschaffen. Er taugt nicht für 1:1-Zuordnungen wie, wo, wann, mit wem auch immer. KNIFFKA 1981,598: "Es gibt keine 'idiolektalen Fingerabdrücke', und wenn es sie gäbe, hätte die Linguistik kaum eine Möglichkeit, sie exakt

Es bedarf keiner linguistischen Ausbildung, keines kriminalistischen Sachverstands, um dies augenfällig zu machen. Diese Überschätzung beruht also auch auf Unkenntnis. Freilich sind auch einige "Experten" als linguistische Gutachter und, vor allem, als Marktschreier über ihre Aktivität tätig geworden, die für dieses verworrene Bild mitverantwortlich, z.T. maßgeblich verantwortlich sind. Diese Publizität, dieser Presserummel hat dem Bild der Linguistik in der Öffentlichkeit im allgemeinen, dem der "forensischen Linguistik" im besonderen nicht unmaßgeblich geschadet (vgl. die Glosse in DIE ZEIT Nr.46 vom 11. Nov. 1988, S. 57 "Eine Sternstunde für die Linguistik. Aus dem Staub.") Daß es in der Schar der Vertreter und der Gutachter eines Fachs schwarze Schafe gibt, und daß auch seriöse Gutachter Fehler machen, wird man der Linguistik wie allen anderen forensisch tätigen Wissenschaften (Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Graphometrie usw.) zubilligen müssen, ohne damit a l l e Gutachter oder das Fach selbst zu diskreditieren. Es ist unerträglich, in welchem Ausmaß einige wenige unseriöse Gutachten in einigen "spektakulären" Fällen die forensische Linguistik in die Öffentlichkeit und, vor allem, in die Schlagzeilen gebracht haben. Während aber andere, etabliertere forensische Hilfsdisziplinen wie z . B . die Schriftver-

gleichung derartige Erscheinungen letztlich unbeschadet und souverän meistern (vgl. MICHEL 1984 zur A f f ä r e der "HitlerTagebücher"), tut sich die Linguistik offenbar schwerer damit. Dies beruht natürlich auf der "Neuheit" dieses Zweiges der Angewandten Linguistik und der vergleichsweise geringen "forensischen" Etabliertheit und Erfahrung. Aber auch darauf, mit welcher vornehmen akademischen Zurückhaltung - im Klartext: mit welchem unvertretbaren Desinteresse - weite Teile des Fachs Anwendungen in der "realen Welt" hierzulande begegnen. Weite Teile des Fachs unterscheiden sich im Prinzip kaum von der Öffentlichkeit, wie es scheint: Hier wie dort herrschen Informationsdefizite, Halbwahrheiten und Klischees. Die wichtigsten sind (auch noch im Jahre 1990): - Forensische Linguistik ist (einzig und allein) linguistische Hilfe bei der Täterermittlung - Forensische Linguistik steht und f ä l l t mit dem Nachweis "materieller" (Einzel-)Merkmale für einzelne Sprecher - Forensische Linguistik ist, bestenfalls, ein windiges Jonglieren mit statistisch aufgemachten Sprachdaten im Stile von Winkeladvokaten - Wenn die forensische Linguistik schon nicht in der Lage ist, "idiolektale Fingerabdrücke" oder wenigstens hiebund stichfeste Angaben für die Zuordnung von Sprachprodukten bzw. Sprechweisen zu Einzelsprechern und z . B . auch einer "Bedeutung" zu einem Wort(gebrauch) verfügbar zu machen - warum braucht man dann überhaupt eine solche Wissenschaft? Wieso begnügt man sich nicht mit seiner eigenen Auffassung vom Sprachgebrauch ("unverbildeter Durchschnittsleser.." ist man ja ohnehin)? Warum sind Linguisten nicht einfach Z e u ge n bei Gericht, wie andere Zeugen auch?

- Was ist das überhaupt für eine Wissenschaft, deren Vertreter sich (NB: hoffentlich) weigern, exakte Prozentzahlen z . B . für die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Sprecher X als Autor eines Textes in Frage kommt, anzugeben? - Forensische Linguistik wird als forensische Hilfswissenschaft so gut wie ausschließlich gemessen (und als legitimiert erachtet) an der Zahl der Fälle eines "liquet", n i c h t a n d e r Zahl eines linguistischen "non-liquet", die mindestens ebenso wichtig ist. Ich h o f f e , der vorliegende Band wird zur Beantwortung dieser Fragen und Korrektur einiger Auffassungen beitragen.

0.1.2 Historische Anmerkungen Linguistische Gutachten und Gutachtertätigkeit im forensischen Bereich gibt es seit Jahrzehnten. Nicht erst seit kurzem, wie einige neuere Arbeiten suggerieren. Gerichte und sonstige ö f f e n t l i c h e Institutionen, Anwälte usw. haben immer wieder akademisch und außerakademisch tätige Philologen und Sprachwissenschaftler um gutachterlichen Rat gebeten und z.T. auch o f f i z i e l l als Sachverständige bestellt. Wenn auch die Gesamtzahl dieser Gutachten, gemessen an der Zahl der Fälle, in denen "Sprachverhalte" strittig und linguistischer Rat hilfreich gewesen wäre, relativ klein sein wird, muß doch mit einer nicht unbeträchtlichen "Dunkelziffer" gerechnet werden: Nirgendwo liegen m . W . verläßliche Angaben oder gar systematische Erhebungen vor. Offenbar bestand auch kein besonderes Bedürfnis, Daten darüber zu publizieren oder zu lesen. Das Sprachwissenschaftliche Institut der Universität Bonn und insbesondere die von G.HÄNDLER geleitete "Zentralstelle für Terminologieforschung und praktische Sprachfragen" hat

seit den frühen fünfziger Jahren zahlreiche Gutachten erstellt - und die Erstellung von anderen noch häufiger abgelehnt (wie ich aus teilnehmender Beobachtung als H i l f s k r a f t seit 1962 an der Zentralstelle w e i ß ) . Günther Kandier verfaßte teils im Gefolge, teils in der Kritik von Leo Weisgerber (der selbst ein Sachverständigen-Gutachten zum Begriff "Hausstand" fertigte) diverse linguistische Gutachten im Bereich des Wettbewerbs- und des Warenzeichenrechts, z . B . ein sehr ausführliches zur inhaltlichen Geltung des Begriffs "Mittelstand" sowie zu "Krokant" u . a . Es ist bezeichnend, daß Kandier nirgendwo eine systematische Analyse der linguistischen Gutachten- und Gutachter-Problematik vorgenommen hat. Er hat jedoch immer wieder, in Seminaren wie in seiner Zeitschrift "Sprachforum", die eigentlich ein ideales Forum für diese Thematik gewesen wäre "kasuistisch" darauf Bezug genommen. Die Kasuistik seiner Gutachten diente dabei zur Illustration methodologischer Probleme der (Angewandten) Linguistik, nicht etwa umgekehrt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich, soweit ich sehe, an der Gesamtsituation wenig geändert. Noch immer gilt im allgemeinen: Mit den Fragen und Fragestellungen, die Gegenstand linguistischer Gutachten sind, und mit der Problematik linguistischer Gutachten selbst beschäftigt man sich dann und nur dann, wenn man ein Gutachten schreibt bzw. schreiben muß. Bei mir selbst war das Anfang der 70er Jahre zunächst nicht anders (vgl.u. in diesem Band). In einem längeren Aufsatz (KNIFFKA 1981) habe ich jedoch eine genauere Bestandsaufnahme meiner eigenen Gutachtertätigkeit und eine erste heuristische Klassifikation linguistisch-forensischer Gutachten insgesamt zu geben versucht, verbunden mit kritischer Reflexion des interdisziplinären Status und des Praxisfeld - Verhältnisses zwischen Linguisten und Juristen in dieser Hinsicht.

Wie auch die philologischen Bemühungen insbesondere schwedischer Kollegen (vgl. J.SVARTVIK 1968) und seine eigene Analyse im Falle des Eisenbahnattentäters "Monsieur X", über die Dietrich Jöns berichtet hat (JÖNS 1982) , hat dies kein nennenswertes Echo in der Linguistik gefunden. Statt der erh o f f t e n und ansatzweise skizzierten Konsequenzen für eine linguistische "Grundlagenforschung" in diesem forensischen Bereich hat man, insbesondere die "Systemlinguistik", dies gern als eine Art Alibi für die Nützlichkeit linguistischer Ausbildung rekrutiert. Generationen von Teilnehmern linguistischer Grundkurse an der Universität Köln haben als angehende Germanisten vom "Konkubine"-Gutachten (s.u. in diesem Band) gehört bzw. sich selbst in der Erstellung von Gutachten dieser Art geübt. Das Ergebnis war ähnlich wie oben: Für die Ausbildung in germanistischer Linguistik hatten diese Bemühungen (gegebenenfalls) eine positive Wirkung. Für die Beschäftigung mit Gutachten selbst brachten sie so gut wie nichts. Freilich gab es auch Konsequenzen - vor allem aus dem Praxisfeld: Während einer langen Auslandstätigkeit haben mich diverse Anfragen (vor allem von Prozeßparteien) erreicht. Dies besagt: Es gibt offensichtlich einen großen Bedarf an linguistischer Expertise z . B . hinsichtlich Straftatbeständen wie "Beleidigung", "Üble Nachrede" u . a . , aber auch z . B . zum "Widerruf", Urheberrecht u.a.Die Zahl der gerichtsanhängigen Verfahren dieser Bereiche ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Auf einen Bericht der ADAC-Zeitschrift "Motorwelt" über die Unterschiedlichkeit des Strafmaßes bei Verbalinjurien (und auch non-verbalem Verhalten) in Bayern, um deren Urteile ich gebeten hatte, erhielt ich von der Redaktion Hunderte von Urteilen aus einem einzigen Jahr allein aus Bayern. Hier sei eine Anmerkung gestattet: Es liegt mir und diesem Band keineswegs daran, eine Art "Boom" der forensischen Lin-

guistik oder "Umsatzsteigerung" linguistischer Gutachten zu initiieren. Dem Fach tut im Gegenteil eine Periode der Ruhe und Konsolidierung gut. Wenn aber ein großer Bedarf des Praxisfelds und ein echtes "öffentliches Interesse" besteht, wäre die Hochschullinguistik nicht nur schlecht beraten, dieses nicht zu befriedigen, sondern ist m . E . geradezu verpflichtet, sich einzubringen.

0.1.3 Konferenzen zur "forensischen Linguistik" Das Bundeskriminalamt veranstaltete Anfang Dezember 1988 ein Symposium "Forensischer Linguistischer Textvergleich" (vgl. BKA 1989), offenbar ( u . a . ) motiviert durch eine in der Presse ausgetragene Kontroverse mit R.DROMMEL und dessen unqualifizierten Angriffen. Es ist hier weder der Ort noch lohnend, darauf einzugehen. Die Angelegenheit ist auch hinreichend bekannt. Lohnender wäre schon eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Expertisen dieses Gutachters. Eine davon, die ich gesehen habe, hat mit den mir bekannten Standards linguistischer Analyse wenig zu tun und steht stellenweise in krassem Gegensatz zu ihnen. Auch darauf kann hier nicht eingegangen werden. Das BKA-Symposium zur forensischen Linguistik war unbestreitbar wert- und sinnvoll. Man könnte natürlich, wie immer, fragen: Warum erst so spät? Noch mehr allerdings ist die Frage gerechtfertigt und dringlich, was aus den dort geäußerten Wünschen, Arbeitsvorhaben und Absichtserklärungen geworden ist bis jetzt - nach fast eineinhalb Jahren. Die Frage der Errichtung eines Thesaurus für vorliegende Gutachten und ihre systematische Auswertung, die Frage des Oberlassens von Daten aus konkreten "Fällen" u s w . , die von Linguisten ebenso wie konkrete Vorschläge für eine kontinuierliche Kooperation im kleineren Rahmen gemacht wurden - zu

alledem liegt (mir jedenfalls) vor.

bis heute keine Information

Es wäre wissenschaftlich wie forschungspolitisch sehr zu bedauern, wenn sich irgendjemand, der mit Gutachten befaßt ist, gleichsam "forensisch-linguistisch autark" fühlte. Kontinuierlichen Gedankenaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis aus Kostengründen zu beschränken, wäre Sparen an der falschen Stelle. Ein voller Erfolg war nach dem Eindruck aller Beteiligten das "SEMINAR ON FORENSIC APPLICATIONS OF PHONETICS" im Juni 1989, das von Peter French, York, und John Baldwin, London, in York durchgeführt wurde (ein Kongreßband ist in Vorbereitung) . Daran nahmen neben Phonetikern auch Linguisten teil, sämtlich Teilnehmer mit Erfahrung als forensische Gutachter. Nach meinem Eindruck ist im gegenwärtigen Stadium der forensischen Linguistik insbesondere v o n k l e i n e n Konferenzen dieser Art besonders viel zu erwarten. Dort wurde auch die Gründung einer Vereinigung beschlossen, deren Arbeit speziell diesen forensischen Belangen gewidmet sein soll. Als erfolgreich kann auch der Arbeitskreis "Forensische Linguistik" bezeichnet werden, der auf Initiative von Dieter Cherubim, Göttingen, auf der letztjährigen GAL-Tagung im Oktober 1989 in Göttingen veranstaltet wurde. Dort referierten Linguisten und Juristen vor allem aus der Sicht des Praktikers über konkrete Gutachten. Es wäre sicher wünschenswert, wenn sich noch mehr Linguisten für die Thematik interessierten und daraus eine feste Institution von GAL-Tagungen würde, was sich abzeichnet. Eine feste und international bekannte Institution ist schon seit vielen Jahren das von Lothar Michel initiierte und veranstaltete "Mannheimer Symposion zur Schriftvergleichung",

dessen IX.Folge im September 1989 in Mannheim stattfand. Dort wurde auch ein Referat über den Stand der forensischen Linguistik gehalten. Es gibt ( v g l . u . ) wohl kein Gebiet forensischer Sachverständigen-Tätigkeit, aus dem Linguisten soviel lernen können. Davon wird noch im Zusammenhang mit "Interdisziplinarität" die Rede sein. Selbstverständlich ist die Veranstaltung von Kongressen keine Garantie für die notwendige Energie und Beharrlichkeit in der Fortführung der fachinternen Diskussion und den interdisziplinären Austausch. Sie ist aber eine der Voraussetzungen d a f ü r .

O.1.4 Interdisziplinarität Es gibt wenige jüngere Veröffentlichungen im Bereich der Angewandten Linguistik, in denen nicht auf die Notwendigkeit "interdisziplinärer" Perspektiven hingewiesen wird. "Bindestrich-"Linguistik, wie Sozio-, Psycho-, Patho-Linguistik wird überdies häufig als "Interdisziplinäre Linguistik" bezeichnet. Das Postulat der "Interdisziplinarität" ist fast zu einem Topos geworden, gelegentlich auch zu einer "Leerformel": Im gleichen Maße wie das Postulat als solches evoziert wird, fehlt eine detaillierte Erläuterung, was darunter zu verstehen ist. Dies ist bekannt. Weniger bekannt (bei Linguisten) ist, daß Vertreter des Praxisfeldes, Richter, Kriminalisten usw. aus verschiedenen Gründen, die hier nicht diskutiert werden können, gelegentlich geradezu eine Aversion gegen "Interdisziplinäres" u . a . haben. Eine solche findet sich natürlich auch bei Vertretern der Wissenschaft, auch unseres Fachs. Soweit dies eine Kritik an oberflächlichem, litaneihafte· Interdisziplinaritätsgerede ist, halte ich es für gerecht-

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f e r t i g t . Soweit dies jedoch ein fachbezogenes Schubkastendenken, ein scheuklappenhaftes Spezialistentum ohne Blick über den Tellerrand des eigenen Fachs propagiert, halte ich diese A u f f a s s u n g für kurzsichtig, erkenntnishemmend und fortschrittsschädlich. Ich möchte mich vehement dagegen wenden. Der vorliegende Band entstammt auch dieser A u f f a s s u n g . Forensische Linguistik ist nicht deshalb das, was sie ist, weil es ZU WENIG fachspezifische Spezialisierung und ZU VIEL interdisziplinäre Orientierung von Linguisten im forensischen Bereich gibt, sondern weil umgekehrt ZU VIEL Spezialisierung gepaart mit ZU WENIG interdisziplinärer Orientierung (in der Regel) gegeben ist. Dies gilt auch für andere Fächer. International führende forensische Phonetiker z . B . haben längst e r k a n n t , daß ihr Fach beträchtlichen Gewinn u.a. aus einer intensiven Beschäftigung mit sozio- und psycholinguistischen Fragestellungen (z.B.Language Attitude Studies, Discourse Analysis u . a . ) , mit Inhalten der "Soziophonetik" u . a . ziehen kann und muß. Nicht engstirnige, beinahe eifersüchtige Abschottung des eigenen Fachs, sondern völlige O f f e n h e i t , Transparenz und Lernbereitschaft sind gefragt. Dies ist das Gebot der Stunde für alle forensischen Hilfswissenschaften, zumal für ein neues Fach wie die forensische Linguistik. Ein Plädoyer für sinnvolle Interdisziplinarität ( v g l . u . ) ist KEINESWEGS ein Plädoyer für die Abschaffung (unabdingbarer) fachlicher Spezialisierung, für die Verwischung sinnvoller fachlicher Grenzen, oder die Beseitigung notwendiger Arbeitsteilung. Kein vernünftiger Linguist w i r d , wenn er keine phonetische Ausbildung h a t , als phonetischer Gutachter tätig werden wollen und umgekehrt, kein Schriftsachverständiger wird Gutachten über grammatische oder soziolinguistische Gegebenheiten

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abgeben wollen, selbst wenn man ihn darum bittet. Das ist auch gut so. Nicht gut ist, daß Stimm-, Schrift- und Textsachverständige gelegentlich völlig ohne Kontakt zu den anderen Fachgebieten arbeiten und gutachten. Mit anderen Worten: JE MEHR der Gutachter des Fachgebiets über die benachbarten Fachgebiete y, z weiß, UMSO BESSER kann er auch seine eigene Arbeit tun. Der vorliegende Band dokumentiert viele konkrete Beispiele für diese These, die W.LABOV das "kumulative Prinzip" nennt. Sie sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber de facto nicht. Ein erfahrener Kriminalist schreibt mir: " . . . W a s mich am meisten irritiert...ist der interdisziplinäre Erfahrungsaustausch....Die Zeiten des Allround-Gutachters a la Frey-Sulzer sind vorbei." Sie sind es, Gott sei Dank - aber ebenso die Zeiten des "Fachidioten", der nur seine eigenen Ergebnisse kennt und sie nicht in größere Zusammenhänge einordnen kann ( N B : G.Chr.Lichtenberg: "Wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht"). Der Kriminalist irrt, wenn er "Treffen von Fachleuten, und zwar nur für ihren Bereich" - also Phonetiker, Graphometriker, Linguisten usw. jeweils unter sich - als allein wünschenswerte Kategorie des Gedankenaustausches vorschlägt (bzw. allein gelten l ä ß t ) . Gerade als Praktiker müßte er wissen, daß häufig speziell der fachübergreifende Aspekt der aufschlußreichste ist. Dies ist auch sonst in der Wissenschaft häufig so und die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Beispielen. Aber wie so o f t : Der im Praxisfeld mit seinen vielen Facetten Tätige hat eine geradezu magische Hochachtung vor dem Spezialisten. Wie läßt sich das eingangs genannte Interdisziplinaritätspostulat sinnvoll beschreiben? Was heißt KONKRET "interdisziplinäre Perspektive forensischer Linguistik"?

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Obschon eigentlich trivial, möchte ich dies im folgenden (wenigstens exemplarisch) konkretisieren, da in der Literatur dazu wenig zu finden ist. 1. Man kann zunächst VERSCHIEDENE EBENEN der Interdisziplinarität unterscheiden (vgl.KNIFFKA 1989, 2 2 7 f . ) : (a) zwischen Praxisfeld A und Praxisfeld B; (b) zwischen Angewandter Wissenschaft A und Angewandter Wissenschaft B; (c) zwischen (Theoretischer) Grundlagenforschung A und (Theoretischer) Grundlagenforschung B. Die Ebene (a) könnte dabei z . B . die praktische kriminalistische Ermittlung und die linguistische RohdatenSammlung sein; (b) z . B . die angewandter linguistischer (auch außerforensischer) und z . B . angewandter kriminalistischer Wissenschaft; (c) die linguistischer und kriminologischer Grundlagenforschung. Selbstverständlich sind auch "diagonale" Beziehungen der verschiedensten Art möglich und wichtig, was hier nicht weiter erläutert werden kann. Auch dafür enthalten die meisten hier aufgenommenen Aufsätze zahlreiche Beispiele Ein unbestreitbarer Wert einer solchen systematischen Reflexion wäre u.a. der, daß man viel schneller und deutlicher auf wirkliche Desiderata und "Leerstellen" der Forschung aufmerksam würde. Etwa d a r a u f , daß es hierzulande eine große und beeindruckende Menge an publizierter Forschung zum Thema "Sprache und Recht" gibt (vgl MENTRUP Hg.1979; RADTKE/Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1981; LOCCUMER PROTOKOLLE , Hg . ERMERT 1981; WASSERMANN/PETERSEN Hgg.1983; HOFFMANN 1983; MÜLLER 1989 u . a . ) , so gut wie keine davon aber auf die Gutachtenproblematik eingeht. 2. VERSCHIEDENE "KALIBER" von Interdisziplinarität sind einmal dadurch gegeben, daß die Beziehungen zwischen forensischen und nicht-forensischen (Hilfs-)Wissenschaften ( z . B . zwischen der forensischen und der Allgemeinen Linguistik) zu unterscheiden sind. Es gibt ja auch andere Domänen von Gut-

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achten, wie z . B . Arbeite- und Schul- Zeugnisse, medizinische und technische Gutachten u s w . , für die linguistische Analyse hilfreich oder notwendig sein kann. Vor allem aber Beziehungen verschiedener Intensität und Struktur zwischen verschiedenen forensischen Hilfswissenschaften sind hier zu nennen: Die der forensischen Psychiatrie zur forensischen Linguistik und umgekehrt repräsentieren z . B . einen anderen Typ als die zwischen forensisch-phonetischer Sprechererkennung, forensisch-graphometrischer Schriftvergleichung und forensisch-linguistischer Textvergleichung untereinander. Davon strukturell verschieden sind die Beziehungen zwischen forensisch-linguistischem "Autorschaftsnachweis" und "Verständnisnachweis" ( v g l . u . ) auf der kleinsten hierarchischen Ebene. Zweifellos müssen a l l e diese Relationen systematisch u n tersucht werden. Es ist auch keine Frage, daß die Linguistik im allgemeinen und die forensische Linguistik im besonderen aus der Untersuchung aller dieser Relationen konkreten Nutzen ziehen kann. Nicht im Sinne einfacher analogischer Übernahme fachwissenschaftlicher Inhalte fremder Fächer, gegen die immer Skepsis angebracht ist. Meist übernimmt man dabei ja auch die Probleme der anderen Fächer, ohne entscheidenden Erkenntnisgewinn für das eigene Fach. Vielmehr im Sinne (mittelbarer und unmittelbarer) METHODISCHER Analogien und "Elementarparallelen", die sehr häufig von großem heuristischen Gewinn sind. Ein einfaches Beispiel wären Analogien zwischen dem VORGANG der Gutachtenerstellung und den einzelnen Schritten in der forensischen Psychiatrie und dem entsprechenden Vorgang forensisch-linguistischer Gutachtenerstellung (vgl.KNIFFKA 1981, 616-62O): Es finden sich so zahlreiche Überschneidungen, analoge Probleme u . a . , daß durchaus eine Konsultation der etablierteren forensischen Hilfswissenschaft durch die

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Linguistik gerechtfertigt ist. Am meisten würden, wenn ich es recht sehe, Probleme der Kommunikation und des Übersetzungsprozesses von Gutachten in foro dadurch vermieden werden können. 3. Interdisziplinarität ist trivialerweise auch dadurch als notwendig konstituiert, weil es VERSCHIEDENE ARENEN der Diskussion forensisch-linguistischer Themen und Inhalt gibt: Die Diskussion (1) in foro,

( 2 ) im Büro des Gutachters, (3)

im juristischen Seminar, (4) im linguistischen Seminar, (5) auf linguistischen Kongressen, (6) in juristischen bzw.kriminalistischen Zeitschriften, (7) in (Zukunft in) linguistischen Zeitschriften und (8) , nolens volens seitens der obigen, in der Öffentlichkeit (Presse,Fernsehen u s w . ) und andere mehr. Das entscheidende Merkmal ist, daß die Diskussion in jeder "Arena" im Grunde UNABHÄNGIG von der in den anderen geführt wird. Es bedarf jeweils eines besonderen Aufwandes, den "Erfahrungsaustausch" überhaupt in Gang zu bekommen. Nicht selten bedeutet dies auch (aufwendiges) Schaffen eines organisatorischen Rahmens, eines Diskussionsforums und einer allen halbwegs verständlichen Terminologie. Linguisten lesen normalerweise Zeitschriften wie NJW oder gar ARCHIV FÜR KRIMINOLOGIE, KRIMINALISTIK, DER KRIMINALIST usw. nicht. Juristen und Kriminalisten ihrerseits JVLVB, IJSL, LANGUAGE ,WORD, ZS usw. in der Regel nicht. Es gibt vielfache Evidenz dafür, daß Argumentationen anders verliefen, wenn Zeitschriften wie diese jeweils im anderen "Lager" gelesen würden. Linguisten etwa würden einige ihrer Aussagen, vor allem "Selbsteinschätzungen" ihrer gutachterlichen Tätigkeit, bei Lektüre z . B . von SENDLER 1986 ("Richter und Sachverständige") - um nur dies eine Beispiel zu nennen - vielleicht revidieren oder anders formulieren.

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Spezifisch linguistische Gutachterprobleme würden sich zumindest partiell als fachübergreifend erweisen. Andere vielleicht gar nicht erst a u f t r e t e n . In jedem Fall würde deutlicher, warum der Vertreter des anderen Fachs so argumentiert wie er argumentiert. Linguisten könnten z . B . die folgenden Feststellungen eines Juristen interessieren: SENDLER 1986, 2909:"Es ist allemal einfacher, sich mit vertretbarer Begründung einem Sachverständigengutachten anzuschließen, als den Versuch zu machen, es überzeugend zu widerlegen; also schließt man sich ihm in aller Regel an, zumal auch die höchstrichterliche Rechtsprechung faktisch zu erheblichen Einschränkungen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung bei Sachverständigengutachten geführt h a t . So verwundert es nicht, daß nach einer empirischen Untersuchung die Richter zu 95% den Sachverständigengutachten folgten, ohne in eine wirklich inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten einzutreten, und ihre Zuflucht - sicher oft mit schlechtem Gewissen - zu Leerformeln wie etwa der nehmen, das Gericht habe sich auf Grund eigener Urteilsbildung den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen." SENDLER ibid. 2910 {Zitathinweis auf F.WERNER, 1971,Recht und Gericht in unserer Zeit, 316):" — Sachverständigengutachten seien durch den Richter grundsätzlich nur unter drei Voraussetzungen naqhprüfbar: dann nämlich, wenn der Sachverständige einen falschen Sachverhalt zugrunde gelegt, wenn er willkürlich (unsachlich, sachfremd) begutachtet oder ein falsches Verfahren eingeschlagen hat." SENDLER ibid. 2912: "Gerade als Richter hat man so manche Erfahrungen mit Wissenschaftlern und Sachverständigengutachten sammeln müssen; man ist immer wieder erstaunt, was einem alles als Wissenschaft angedient wird und zu welch extrem verschiedenen Ergebnissen Wissenschaftler auf scheinbar streng wissenschaftlicher Grundlage in streng wissenschaftlicher Deduktion gelangen können." SENDLER ibid. 2909: "In vielen Bereichen läßt sich jedenfalls kaum bestreiten, daß zumindest viele Richter die Gutachten des Sachverständigen weder fachlich überprüfen noch gedanklich nachvollziehen können; man denke nur an schwierige chemische Analysen, an Messungen und Berechnungen im Bereich des Immissionsschutzrechts, an Gutachten über Fragen der Sicherheit im Bereich der Großtechnik usw." (Fußnoten in den Zitaten sind aus Raumgründen weggelassen; hier geht es nur um den exemplarischen Wert, nicht eine inhaltliche Diskussion).

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Das letztgenannte Zitat ist auch noch aus einem anderen Grund ( f ü r Linguisten u n d f ü r Juristen) lesenswert: E s werden Bereiche unterschiedlicher "Zugänglichkeit" für Laien/Nicht-Fachleute angenommen. SENDLER 1986 geht nicht auf linguistische Sachverständigengutachten ein. Ich würde aber vermuten, daß diese, im Urteil von Juristen, als relativ leichter zugänglich gelten als z . B . die aus Chemie und Atomphysik. Kursorische Lektüre linguistischer Zeitschriften könnte vermitteln, daß dies zumindest partiell nicht gerechtfertigt ist, und daß die "Teilhabe am allgemeinen Sprachgebrauch" fast immer ein trügerisches Leitfossil für die Beurteilung komplizierter Gemengelage des Sprachgebrauchs und sprachlichen Verhaltens durch Laien ( z . B . Richter) ist. MEHR wissen und mehr WISSEN im anderen Fachgebiet ist auch hier die Devise. Richter sind nach meiner Gutachtererfahrung in der Regel nicht nur allgemein interessiert, sondern ausserordentlich dankbar, wenn ihnen Informationen über das eigene Fach (des Gutachters) zugänglich gemacht werden, manchmal erbitten sie diese ausdrücklich. Es ist natürlich vor allem eine Frage des Stils und der Propädeutik, wie man sein Fach "gebildeten Laien" gegenüber darstellt. Gelegentlich ist es unglaublich schwierig, wie jeder Praktiker weiß. Daß die Ausbildung von Linguisten dazu wenig zu sagen hat, ist wohl unstreitig sehr zu bedauern. 4. Es gibt noch eine (mehrschichtige) Dimension von "Interdisziplinarität", die allgemeine wissenschaftstheoretische Postulate (wie Widerspruchsfreiheit, Ökonomie, Einfachheit der Beschreibung) zum Inhalt hat und so alle beteiligten Wissenschaften b e t r i f f t . Hier ist daran von Interesse, daß eine "neue" Wissenschaft, die forensische Linguistik, diesbezüglich von "älteren", etablierten Wissenschaften wie der forensischen Phonetik und, vor allem, von der forensischen

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Schriftvergleichung bestimmte Maßgaben und Maßstäbe nutzbar machen kann. 5. Ein "Parallelismus" formaler Art, der unter dem Gesichtspunkt interdisziplinärer Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu beleuchten ist, wird schließlich durch "Bewertungs-" oder "Wahrscheinlichkeitsskalen" repräsentiert, mit denen Befunde klassifiziert werden sollen: die bekannten "mit großer Wahrscheinlichkeit", "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ....". Obschon sich im Laufe der Zeit bestimmte Usancen eingebürgert haben, werden auch heute noch von verschiedenen Leuten verschiedene Skalen benutzt. Ob es dabei letztlich gerechtfertigt ist, die in einer Wissenschaft etablierten Bewertungsskalen unverändert in eine andere zu übernehmen (wie die der Handschriftenvergleichung in Stimmenvergleichsgutachten, vgl. KÜNZEL 1987,1OO), ist m . E . noch nicht systematisch genug geklärt. Es ist nicht auszuschließen, daß durchaus eigenständige Skalen für Linguistik, Phonetik und Graphometrie und ein komplizierterer Zuordnungemodus sach- und fachgerechter wäre. Möglich ist auch, daß Phonetik und Graphometrie einerseits und Linguistik andererseits charakteristische Präferenzen zeigen, bedingt durch grundsätzliche semiotische Unterschiede und andere theoretische Implikationen (vgl.u. 0 . 2 ) . Mit dem bloßen "Anlegen von Schablonen" quer über Fachgrenzen ist letztlich natürlich wenig gewonnen - so willkommen dies Vertretern der Justiz auch sein mag. 6. Wenn man diese Übertragung vornimmt, ist im übrigen nicht einzusehen, warum nicht andere, z.T. viel interessantere interdisziplinäre Perspektiven "quer" zu Fachgrenzen verfolgt werden. Einmal die in jeder Wissenschaft zentrale "MERKMALDEFINITION". Selbstverständlich in methodologischer, nicht in sachlich-inhaltlicher Hinsicht. Die Lektüre z.B. von MICHEL 1962 ist für einen Linguisten geradezu eine Fundgrube

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von Anregungen für die Definition forensisch-linguistischer "Merkmale". 7. Zum anderen wäre eine systematisch-vergleichende interdisziplinäre Untersuchung von KATEGORIEN bzw.DIMENSIONEN notwendig, die in allen drei Wissenschaften eine Rolle spielen, wie z . B . KONSTANZ und VARIABILITÄT des Verhaltens und die empirischen Prädikate, die man ihnen zuschreibt. Nach meiner Kenntnis ist noch nicht einmal die Frage systematisch gestellt geschweige denn beantwortet, welche echten Analogien und welche strukturellen Unterschiede zwischen Stimme, Sprache und Handschrift in diesem Sinne bestehen. Ob z . B . die Feststellung bei MICHEL 1982, 40 "...daß stärkere Schriftwandlungen vor allem im jüngeren und im höheren Lebensalter zu erwarten sind. Im mittleren Lebensalter ist dagegen in der Regel auch über längere Zeiträume mit einer relativen Stabilität zu rechnen, wenn nicht besondere exogene oder endogene Bedingungen auch die Graphomotorik mitbestimmen." irgendeine wissenschaftlich beschreib- und erklärbare Analogie/Parallele in der Sprechergrammatik hat usw. 8. Wenn Art, Klassifizierung und "Nachweis" sprecherspezifischer Merkmale ein in forensischer Phonetik, Linguistik und Graphometrie gleichermaßen wesentlicher Gegenstand sind, muß eine INTERDISZIPLINÄRE TYPOLOGIE für Merkmale entwickelt werden, die auch die Beschreibung struktureller Interrelationen erlaubt. Es wäre interessant zu wissen, welche Klassen von stimmlichen Merkmalen mit welchen grammatischen und handschriftlichen im Curriculum eines Sprechers üblicherweise kookkurrieren bzw. gerade NICHT kookkurrieren. In nicht wenigen Fällen zum "Autorschaftsnachweis" ist die Untersuchung von Interrelationen dieser Art von Bedeutung gewesen (vgl.u. KNIFFKA in K a p . 3 ) .

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9. Noch interessanter wäre die Klärung von ipso facto in allen Bereichen (Stimme,Sprache,Handschrift) vorkommenden Verhaltensweisen wie z . B . VERSTELLUNG und die Typologie ihrer interdisziplinären KONKOMITANZ. Die Fragen: Welche Verstellung der Stimme geht mit welcher der Sprache ( z . B . des Wortschatzes) und der Handschrift zusammen? Welche Vorkommensverteilung, Variationsbreite und Gesamt-Typologie zeigt Verstellung in diesem Sinne? Gelten die von MICHEL 1982, 42 festgestellten "...stets anzutreffenden unwillkürlichen Begleiterscheinungen bei vorsätzlicher Schriftveränderung" mutatis mutandis (und quomodo mutatis mutandis) auch für unwillkürliche SPRACHLICHE Begleiterscheinungen bei vorsätzlicher sprachlicher Verstellung - oder gibt es gravierende "strukturelle" Unterschiede? Man wird sicherlich Vermutungen und Hypothesen in die eine oder andere Richtung haben. Hier liegt aber noch ein enormer Forschungsbedarf. Die folgende Feststellung ist m . E . auch linguistisch besonders überprüfenswert: MICHEL 1982,42: "Ohnehin ist die alternative Trennung in ungewollte und gewollte bzw. unwillkürliche und willkürliche Anteile beim Schreibakt eine Simplifizierung. Korrekter wäre es sicherlich, von einem Kontinuum auszugehen,..." Dazu sind eine Reihe linguistischer Tatbestände zu vergleichen. Bekanntlich ist auch in sprachlichem Verhalten und der Wahrnehmung sprachlichen Verhaltens häufig eine Dichotomie realisiert, wo de facto ein Kontinuum gradueller Unterschiede vorliegt (vgl.LAVER/TRUDGILL 1979; BROWN/FRASER 1979, und unten 0 . 2 . 2 ) . Ob aber derartige "Parallelen" wirklich tragfähig sind, und ob und welche Generalisierungen möglich und indiziert sind, ist eine EMPIRISCHE Frage, die nicht voreilig, sondern nur durch eine gründliche Überprüfung der Gegebenheiten aller Fächer und eine systematisch vergleichende Perspektive entschieden werden kann.

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Es kann nach dem Gesagten keine Frage sein, d a ß die obigen "interdisziplinären" Sachverhalte genauer wissenschaftlicher Analyse bedürfen. Der Fragenkatalog ließe sich beliebig ergänzen.: WIE LEICHT eine Verstellung bewerkstelligt werden kann, WIELANGE und mit welcher KONSISTENZ sie durchgeführt werden kann und welche kategorialen Unterschiede sich für Stimme, Sprache, Schrift dafür finden - all dies sind Fragen, die nur in interdisziplinärer Perspektive (auf der Basis einzelwissenschaftlicher Analyse) zu beantworten sind. 1O. Eine wieder andere (konkrete) interdisziplinäre Perspektive hätte eine vergleichende Untersuchung, welche gemeinsame bzw. unterschiedliche Rolle ein bestimmtes Phänomen in forensischen GUTACHTEN spielt. Um beim Beispiel VERSTELLUNG zu bleiben: Es ließen sich etwa die folgenden Fragenkataloge denken: Welche nachweislichen stimmlichen,sprachlichen und schriftlichen Verstellungen sind bekannt? Welche "Leerstellen" existieren? Welche strukturellen Gemeinsamkeiten finden sich? Welche "zugrundeliegenden" Techniken und Verhaltensweisen werden für Verstellung benutzt? Welche Elemente ließen die Verstellung (vor allem) gelingen? Welche mißlingen? Wie wurde eine Verstellung entdeckt bzw. nachgewiesen? Welche Verteilung welcher Art von Verstellung auf welche Delikttypen ist zu beobachten? Und zum Vergleich: Welche Verstellungstypen sind vorrangig in kriminellen, welche in NICHT-KRIMINELLEN Kontexten anzutreffen? Eine solche Beschreibung von Ähnlichkeiten in forensischen Gutachten von Phonetikern, Linguisten und Graphometrikern ist also in verschiedener Hinsicht, auf verschiedener Ebene und in verschiedener Größenordnung möglich und sinnvoll. Für sprecherspezifische MERKMALE und ihre Definition, für die Konstruktvalidierung von Aussagen über den Sprachgebrauch ebenso wie für spezielle "multimediale" Erscheinungen wie VERSTELLUNG in interdisziplinär vergleichender Perspektive.

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Man wird so zu empirischen Generalisierungen über Datenangebot, Datenerfassung und Dateninterpretation im Bereich der Analyse von Stimme, Sprache und Schrift kommen und METHODISCHE KONSTANTEN bzw. DIVERGENZEN feststellen können. Diese wiederum lassen sich im Hinblick auf interfachliche Analogien bzw. Unterschiede interpretieren. Es ist m . E . außer Zweif e l , daß die beteiligten Wissenschaften diesbezüglich zu KONSENS kommen können, und auch, daß die gewonnenen Einsichten zumindest mittelbar für die forensischen Interessen anderer Wissenschaften, z . B . die kriminalistische Ermittlungsarbeit relevant sind. 11. Die einfachste und naheliegendste Rechtfertigung interdisziplinärer Perspektive kommt schließlich aus dem Praxisfeld selbst: In nicht wenigen Fällen anonymer Erpressung, Drohung usw. sind Daten aus allen drei Bereichen, Stimme, Sprache, Schrift zugleich gegeben und alle drei Wissenschaften simultan auf Kooperation angewiesen.

O.1.5 Kritik und Pseudokritik "Interdisziplinär" ist - mit negativer Konnotation - auch das Stichwort für die schon im Vorwort erwähnten "GlobalKritiker" der forensischen Linguistik. Es fällt a u f , daß ein nicht geringer Teil von ihnen Leute sind, die über keine linguistische Ausbildung verfügen. Weil die Kritik inhaltlich z.T. dürftig und praxisfremd ist, könnte man sie einfach zu übergehen versucht sein. Ich möchte dies wegen des beschriebenen Status' des Fachs nicht tun und wenigstens zusammenfassend die (häufig stereotype) Kritik in ihren eigenen Termen als weitgehend nicht stichhaltig erweisen. Zuvor jedoch die Bemerkung, daß ich das moralische Engagement einiger Kritiker als solches teile:

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I c h persönlich b i n d e r Auffassung, d a ß n i e m a l s linguistische Daten ("Evidenz") a l l e i n a l s ausreichend a n gesehen werden sollten, irgendjemanden zu irgendetwas gerichtlich zu verurteilen. Dies ist jedoch eine nicht Linguisten, sondern R i c h t e r primär angehende Frage. S i e nehmen die "Beweiswürdigung" vor und haben diese zu vertreten. Selbstverständlich sind auch nach meiner Meinung Justizirrtümer sehr zu bedauern, die ( u . a . ) durch linguistische Gutachten beeinflußten nicht weniger als die durch andere forensische Hilfswissenschaften beeinflußten. Man kann auch nicht genug zur Vorsicht raten. Ich kann mir überdies nicht vorstellen, daß ein seriöser Linguist ein Gutachten zum "Autorschaftsnachweis" so a b f a ß t , daß linguistische Daten gleichsam 100%ige "Beweiskraft" im Sinne einer Täteridentifizierung suggerieren. Ich kann mir allerdings vorstellen, daß ein linguistisches Gutachten den AUSSCHLUSS eines Verdächtigten als Täter wahrscheinlich machen, unter bestimmten Bedingungen auch sehr wahrscheinlich machen kann (vgl.u. K a p . 3 ) . Nicht mehr und nicht weniger. Aus alledern aber den globalen Schluß zu ziehen, die forensische Linguistik sei per se keine solide Disziplin und in ihrer forensischen Hilfsfunktion bei der Autorermittlung en bloc abzulehnen, wie BRÜCKNER 1989,14f. vorschlägt, ist eine durch nichts gerechtfertigte Behauptung und im übrigen ein Musterbeispiel für unzulässige Verallgemeinerung: Der Autor bezieht sich wiederholt auf "die forensische Linguistik", "die in letzter Zeit vorgelegten linguistischen Gutachten" (sie S.15) usw. Es hat den Anschein, als ob er ein einziges Gutachten kennt, aber über alle redet. Er attestiert sich selbst "eingehende Befassung mit dem Thema"

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(S.15) - offenbar aber nicht eingehend genug, wenigstens EINEN Aufsatz/Vortrag der oben genannten Konferenzen inhaltlich oder im Literaturverzeichnis zu berücksichtigen. Dafür zitiert er ausgiebig "Polizeihauptkommissar Karl Kipping" (NB: der ebenfalls nicht gekennzeichnete Zitate aus KNIFFKA 1981 verwendet, einen A u f s a t z , den Brückner offenbar nicht kennt). Die wichtigsten D e f i z i t e in der Argumentation der "Kritiker" sind: 1. Forensische Linguistik ist ihrem Gegenstandsbereich nach viel mehr als nur Hilfe bei der "Autorermittlung" (vgl.u. 0.2). Schon von daher ist die Verallgemeinerung völlig unvertretbar. 2. Aus offensichtlichen Irrtümern und Fehlern Einzelner eine Wissenschaft als ganze zu diskreditieren, ist im Falle der Linguistik eine nicht minder sinnlose Folgerung als z . B . im Falle medizinischer oder technischer Fehldiagnosen. Was die Wissenschaft selbst "taugt", bedürfte doch wenigstens einer Erhebung über eine größere Anzahl von Gutachten und eines Abwägens der Treffer- und Versager-Quoten usw. Die Frage ist dann nicht, OB sondern WIE die Linguistik als forensische Hilfswissenschaft etwas beitragen kann. 3. Man verkennt z.T. völlig den linguistischen Gutachterauftrag, indem man alles über einen Leisten schlägt. Manche Kritiker scheinen zu unterstellen: Forensische Linguisten sind Leute, die wie bei der kriminalistischen Spurensicherung gleichsam "sprachliche Beweisstücke" als Indizien suchen und finden müssen, um etwas Sinnvolles zu tun. Dies ist unrichtig und unsinnig: Die üblichste linguistische Hilfe bei der Täterkreis-Eingrenzung (im Gesamtrahmen der Ermittlungen) wird davon überhaupt nicht tangiert.

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4. Das Schema einiger Kritiker folgt folgender "Logik": Es gibt keine "sprecheridentifizierenden" Sprachmittel und keinen "Individualstil" (was meist nicht definiert w i r d ) . Folglich besteht keine Möglichkeit, anonyme Texte einer kriminellen Handlung einem Autor zuzuordnen. Folglich gibt es kein Fach "forensische Linguistik". Diese Argumentation bedarf keines Kommentars. 5. Linguisten werden mit Richtern verwechselt ( v g l . o . ) . 6. Einigen Kritikern ist offenbar überhaupt nicht klar, daß es eine EMPIRISCHE Frage ist, ob und welche sprecherspezifischen Merkmale es gibt und wie man sie nachweist - nicht allein eine theoretische Behauptung. 7. Sie begreifen offenbar auch nicht den Unterschied, vereinfacht, zwischen Merkmal-"Qualität" und Merkmal"Funktion": Soziolektale, dialektale Merkmale u.a. können in einer bestimmten Situation durchaus die FUNKTION eines Hinweises auf einen bestimmten Täter haben, wenn etwa von insgesamt fünf infragekommenden Sprechern deutlich unterschiedlicher Dialektzugehörigkeit nur einer "übrigbleibt" als Sprecher des fraglichen Dialekts u.a. Damit werden soziolektale, dialektale Merkmale usw. natürlich nicht zu "idiolektalen". 8. Schließlich müßte man die Kritiker nach ihrer konstruktiven Alternative fragen: Wenn seriöse, gut ausgebildete forensische Linguisten nicht bei der Ermittlung von "Sprachverhalten" eingesetzt werden sollen/dürfen - wer sollte denn ihre Arbeit tun? Fachfremde Wissenschaftler oder die Polizei? Aus der derzeitigen Situation ist zu entnehmen: Die besten, kompetentesten und schärfsten Kritiker sind die Linguistenkollegen, die selbst Gutachten gemacht haben.

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0.2 Bereiche, Fragestellungen und Theorie-Elenente 0.2.0 Vorbemerkung Dieser Band kann und will nicht eine einheitliche Theorie und ausgereifte Methodologie forensischer Linguistik aufzeigen. Voraussetzung dafür wäre u.a. das Bestehen einer Theorie der Angewandten Linguistik, von der sie eine Teiltheorie sein könnte. Außerdem müßte für die einzelnen Gegenstandsgebiete wie "Autorschaftsnachweis" usw. eine Theorie vorliegen, z . B . eine Theorie sprecherspezifischen Verhaltens als Teiltheorie sprachlichen Verhaltens. Alles dies ist heute (noch) nicht befriedigend verfügbar, obschon es Ansätze gibt. Es kann daher hier nur meine Aufgabe sein, einen kurzen Oberblick über Bereiche und Fragestellungen forensischer Linguistik zu geben und einige wesentliche theoretische Annahmen zu skizzieren. Dabei steht exemplarische Verdeutlichung (an konkretem Material), nicht Streben nach Vollständigkeit im Vordergrund.

0.2.1 Bereiche und Fragestellungen Es gibt diverse Klassifikationsmöglichkeiten für linguistisch-forensische Gutachten. Man könnte sie z . B . nach Gesetzes-Paragraphen des BGB und des StGB klassifizieren. Abgesehen davon, daß man dabei eine Klassifikation erhielte, die nur für die deutschen Verhältnisse gilt, wäre sie für die linguistischen Inhalte wenig belangvoll; darüber hinaus unökonomisch und widersprüchlich: Zusammengehörendes würde an verschiedenen Stellen auftreten. Man würde z.B."Verunglimpfung" und (die linguistisch eng verwandte) "Beleidigung", um nur dieses Beispiel zu nennen, wie folgt anzusiedeln haben:

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- S 90 StGB "Verunglimpfung des Bundespräsidenten" - S 90a StGB "Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole" - § 90b StGB "Verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen" - § 103 StGB "Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten" - § 166 StGB "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" - § 185 StGB "Beleidigung" - § 186 StGB "Verleumdung" - § 187 StGB "Üble Nachrede" - § 187a StGB "üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens" - § 189 StGB "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" (zitiert nach StGB Stand Gesetzessammlung Schönfelder, Nachlieferung Juli 1988). Andere (noch komplexere) Beispiele wären z . B . die diversen Arten von "Nötigung", "Drohung", "Geheimnisverrat" u . a . Der Gewinn wäre, abgesehen von einer ( f ü r Linguisten immer willkommenen) Orientierung über die umfassende Rolle, die sprachliche Fragen hier spielen, gering. Man kann andererseits, wie in KNIFFKA 1981 für den Bereich forensisch-linguistischer GUTACHTEN aufgezeigt, Fragestellungen und die Systematik des Fachs Linguistik zugrundelegen (vgl.u.). Die weitaus beste und detaillierteste Klassifikation für den Gesamtbereich "Sprache und Recht" ist m . W . LEVI 1982 ("Linguistics, Language, and Law: A Topical Bibliography". Bloomington, Indiana: Indiana University Linguistics C l u b ) . Es werden zunächst drei große Bereiche ( l ) " t h e language of courtroom interactions", (2) "language-based issues in the law" und (3) "the w r i t t e n language of the law" (LEVI 1982, iii) unterschieden. Sie entsprechen nur sehr ungenau (weil viel umfassender) hierzulande den Bereichen (1) "Sprachliches Verhalten vor Gericht", (2) "Forensische Linguistik", in einer weit gefaßten Definition, d.h. Rechtsprobleme sprachlicher Minderheiten, sprachlich konstituierte Delikte ( z . B . mündliche Beleidigung, slander, und schritt-

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liehe

Beleidigung,

libel;

Drohung;

Meineid,

u s w . ) und

Wettbewerbs-, Warenzeichen- und Urheber-Recht umfassend und (3) "Gesetzessprache" (Gesetzesformulierung, Interpretation von Urkunden u s w . ) . Diesen drei Bereichen ordnet Levi die einzelnen Zweige linguistischer Forschung zu und kommt zu einer K l a s s i f i k a t i o n , die einen guten Überblick über den hierzulande weitgehend unbekannten Umfang der linguistischen Arbeit v e r m i t t e l t . LEVI 1982,x,xi "Linguistic Subfields Applied to the Language of the Legal System": A.

PHONETICS AND PHONOLOGY

1.Voice identification by machines and by humans 2.Voice lie detection 3.Speech differences and social evaluation in courtrooms a.Dialect differences and their effects b.Style differences and their effects B.MORPHOLOGY AND SYNTAX

1.Document design and the "Plain English" movement 2.Syntactic devices for devious purposes (e.g.passive voice, subjectless nominalizations) 3.Courtroom questioning: forms and functions 4.Syntax and comprehension a.Readability of legal documents and public forms b.Comprehensibility of (oral) courtroom instructions c.Clarity in legal drafting C.SEMANTICS, PRESUPPOSITIONS, AND INVITED INFERENCES 1.Truth, deception and invited inferences 2.The FTC and truth in advertising

a.Terms in the language of lawyers b.Terms in contracts and other agreements c.Words and names in advertising d.Semantic issues in courtroom discourse e.Legally recognized authorities on "the meaning of a word" D.PRAGMATICS AND SPEECH ACTS

1.Verbal offenses and their definition 2.Discourse analysis in legal proceedings a.Plea bargaining b.Courtroom questioning (and answering) c.Questioning and witness memory d.Taped conversations entered as evidence e.Other 3.First Amendment issues (e.g. free speech, symbolic speech)

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E.SOCIOLINGUISTICS

1.Language variation and social evaluation a.Influence on courtroom proceedings b.Effects in other legal contexts 2.Linguistic minorities and the lav a.Rights in public education b.Rights in courtroom proceedings c.Rights as citizens 3. Sociolinguistics problems in lawyer-client interactions a.Language-based problems b.Socioculturally based problems 4."Professional languages": a social issue F.PSYCHOLINGUISTICS

1.Memory and courtroom testimony 2.Social psychology of courtroom behavior 3.Comprehension and readability of legal language

Diese Klassifikation spricht für sich (und für die Tatsache, daß forensische Linguistik wesentliche Aufgaben im Bereich Sprache und Recht hat und auch wahrgenommen hat) . Mir liegt eine Aufstellung Judith Levi's (Legal Cases Involving Linguistic Testimony, M s . , April 1989) über viele Hunderte von in den o.gen. Bereichen erstellten Gutachten in den USA vor. Interessant ist die Parallele zur hiesigen Situation: Auch J.Levi hat (briefliche Mitteilung 1989) seit Jahren zahlreiche Gutachten erstellt, aber bisher nicht systematisch darüber berichtet (eine weitere Parallele ist, daß bisher nur ein eklektischer Kreis von Linguisten damit befaßt ist). Auf diese Fragen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Situation in den USA und hier kann, so interessant und lohnend es wäre, nicht weiter eingegangen werden. Hinsichtlich des Inhalts und der Fragestellung der meisten hiesigen forensisch-linguistischen ("textbezogenen") Gutachten, ist es sinnvoll, von einer Zweiteilung (und weiteren Unterteilungen darin) auszugehen. Man kann grob zwei Klassen unterscheiden:

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(1) Gutachten zum "Verständnisnachweis"

(Wie ist

Äußerung

zu verstehen?) (2)

Gutachten zum "Autorschaftsnachweis" (Wer kommt Autor von Text infrage bzw. NICHT infrage?)

In (1) und in (2) ist

als

jeweils ein komplexes Kontinuum unter-

schiedlicher Fragestellungen gegeben. Der Ausdruck "Nachweis" impliziert dabei, wie in anderen Wissenschaften, keineswegs, daß dieser auch gelingt. In

(2)

ist, vereinfacht,

"Wer schrieb's?" nicht

einfach

=

"Wer w a r ' s ? " Es kann sich um ein erzwungenes oder freiwilliges Schreiben bzw. Abfassen nach Diktat handeln. Es kann sich um mehrere zeitversetzte Redaktionen eines Textes eines oder mehrerer Autoren handeln. Es kann überhaupt eine Vielzahl von Konfigurationen mehrerer Autoren (Texturheber) und Schreiber ( z . B . T i p p e r ) , von diversen Schreibmedien usw. gegeben sein, wofür Beispiele bieten. In

(1)

ist

die

eine noch

vorliegenden

größere

Aufsätze

Bandbreite

zahlreiche

gegeben.

Es kann

z . B . eine bestimmte Äußerung oder ein Teil einer Äußerung (ein Satz, auch ein Wort) strittig sein. Niemals aber ist gutachtlich einfach "die Bedeutung eines Wortes x" zu klären, so als wenn man ein Einzelelement isolieren und ihm ein für allemal "seine" Bedeutung zuschreiben könnte (genau deshalb sind Rechsstreite darüber wohl so h ä u f i g ) . Eine

l:1-Zuordnung

zwischen

Form

und

Bedeutung

gibt

es

nicht. Ebensowenig sind Bedeutungen konstant. Sie werden maßgeblich durch den sprachlichen und durch den situativen Kontext beeinflußt Sie verändern sich darüber hinaus im Laufe der Zeit usw. Die Frage nach der gutachtlichen Klärung der Bedeutung einer Äußerung b e t r i f f t Sprachsystem u n d Sprachgebrauch.

also immer Daten von

30

Auch ist niemals der konnotative Wert eines Wortes/einer Äußerung konstant und ihm wie eine Kennmarke anhaftend. Der Ausdruck "du Spinner!" h a t , gesagt zu einem engen Freund oder zu seinem Professor, verschiedene Geltung. Das ist bekannt und trivial. Ebenso aber die Tatsache, daß es Linguisten bis heute nicht geschafft haben, dies Nachbarwissenschaftlern, z . B . Juristen, nachhaltig plausibel zu machen. Die Fragestellung kann auch sein, WELCHE von mehreren möglichen Interpretationen und "Lesarten" einer Äußerung die z u t r e f f e n d e , "die richtige" ist. Häufig streiten sich Parteien vor Gericht darüber, ob eine Äußerung notwendig bzw.allein die Lesart hat oder auch die Lesart y. Oder ob sie die Lesart überhaupt nicht haben KANN, die die Gegenpartei ausgerechnet unterstellt usw. In anderen Fällen ist auch nicht der Inhalt, sondern der kommunikative Status einer Äußerung als solcher strittig: Ob z.B. der "Widerruf" einer abgemahnten Ausgangsbehauptung tatsächlich ein solcher oder eine Wiederholung der Ausgangsbehauptung ist. Hier ist die PRAGMATISCHE Frage strittig (Pragmatik als ein Teilbereich der Linguistik): Welche Art von Sprachhandlung vollzieht ein Sprecher, wenn er sagt, was er sagt? Die Frage des "Verständnisnachweises" ist also in diverse Fragen zu untergliedern, die die gesamte Bandbreite des Verständnisses betreffen und auch auf ALLEN EBENEN DER GRAMMATIK angesiedelt sein können, von der lautlichen bis zur pragmatischen. Strittig kann also auch die LAUTLICHE REALISIERUNG eines Wortes sein: Liegen Lautform und entsprechend ein Inhalt 'x' oder Lautform y und entsprechend ein Inhalt ' y 1 vor (vgl. P.FRENCH in diesem B a n d ) . Manchmal ist es natürlich

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auch nicht unbeabsichtigt, daß zwei Lautungen zum Verwechseln ähnlich klingen, etwa bei Produktnamen. Die Häufigkeit des Vorkommens mehrdeutiger, mißverständlicher, auffallend ähnlicher Ausdrücke, Namen usw. in den entsprechenden Kontexten bewirkt die enorme Häufigkeit gerichtsanhängiger Verfahren mit dieser Thematik. Natürlich nicht alle, aber einen großen Teil weiterer Fragestellungen kann man als "derivierte" Form des "Verständnisnachweises" beschreiben, z . B . im Bereich des Wettbewerbsund Warenzeichenrechts, des Urheberrechts und auch etwa bei der Frage der Bewertung eines Textes als "Kunstwerk" oder als Pornographie. Die Fragestellungen sind gerade in diesem Bereich beinahe ebenso zahlreich wie die "Fälle".

0.2.2 Einige zentrale Probleme und Theorie-Elemente Gravierender als die Unterschiede in der Auffassung bei Linguisten und (einigen) Juristen, was die "Bedeutung" einer Äußerung ist, sind diejenigen, wie man sie ermittelt und NACHWEIST. Ein theoretisches und zugleich methodologisches Problem also. Ein deutschsprechender Richter muß für die Beurteilung und Bewertung einer Äußerung den "allgemeinen Sprachgebrauch des Deutschen" als Richtgröße benutzen. Wie die betr. "Verkehrskreise" oder der "unvoreingenommene Durchschnittsleser" die Äußerung verstehen, ist zu ermitteln. Der "Durchschnittsrichter", eine nicht minder f i k t i v e Kategorie, geht dabei wohl so vor, daß er argumentiert: Der "unvoreingenommene Durchschnittsleser" bin ICH. Wie verstehe ich die fragliche Äußerung?

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Es ist heute wohl communis opinio aller linguistischen Schulen, daß ein "kompetenter" Sprecher seine Sprache zwar problemlos, "korrekt" und adäquat gebrauchen kann, aber NICHT in der Lage ist, sein "internalisiertes" Wissen exakt zu beschreiben und explizit zu machen (was im forensischen Kontext ja gerade gefordert i s t ) . Die Wortstellungsregeln des Deutschen oder Synonymrelationen zwischen sprachlichen Einheiten z . B . kann kein Sprecher ohne systematische Analyse zuverlässig angeben. Ein Richter wie auch ein Linguist, der keine systematische Analyse durchgeführt h a t , kann seine Sprache noch so gut beherrschen, noch so umfassende Lebenserfahrung und sublime Kenntnis der fraglichen Verkehrskreise haben. Alles dies h i l f t ihm nichts, wenn eine wissenschaftlich fundierte Aussage über den Sprachgebrauch gemacht werden soll. Nicht einmal unseren eigenen Sprachgebrauch können wir exakt beschreiben, sondern unterliegen mannigfaltigen Selbsttäuschungen darüber. In der linguistischen und sozialpsychologischen Forschung ist hinreichend dokumentiert, daß faktisch beobachtbares sprachliches Verhalten, Selbsteinschätzung (des eigenen) und Fremdeinschätzung des (von anderen praktizierten) Sprachgebrauchs verschieden sind. Es ist, wiederum nach einhelliger Auffassung, gerade Aufgabe des Linguisten, das "internalisierte Wissen des kompetenten Sprechers" und die Gesetzmäßigkeiten des Gebrauchs der Sprache EXPLIZIT ZU MACHEN, d . h . eine intersubjektiv nachprüfbare wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung von Sprachsystem und Sprachgebrauch zu liefern. Dies gilt selbstverständlich für Gegebenheiten der Bewertung sprachlicher Abweichungen, Fehler im Sprachgebrauch usw. in genau demselben Sinne, erweist also die Notwendigkeit linguistischer Gutachten zum Verständisnachweis wie zum Autorschaftsnachweis als unabdingbar.

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Mit anderen Worten: Die Aussagen eines Richters über den allgemeinen Sprachgebrauch und auch "Auffälligkeiten" im sprachlichen Verhalten sind exakt in der gleichen Weise IMPRESSIONEN eines Laien über einen wissenschaftlich zu analysierenden Sachverhalt wie z . B . seine Aussagen über psychologisch oder psychiatrisch "auffälliges" Verhalten eines Menschen, über die Wirkung von Pharmaka, über einen gerichtsmedizinischen Befund. Wie sich ein Richter in diesen Fällen nicht auf den Augenschein und Selbstexperimente verlassen kann, sondern die Analysen der betreffenden Wissenschaften konsultieren muß, ist er auch auf die linguistische Analyse angewiesen. Man kann einer Äußerung nicht "ansehen", wie sie gebraucht wird, und selbst wenn man einen dezidierten Eindruck hat, besagt der, solange er nicht exakt erwiesen ist, nichts auch dann nicht, wenn er zutreffend ist. Der "Beweiswert" ist gleich Null. Juristen/Richter, die den "allgemeinen Sprachgebrauch" meinen, jedoch nur über ihren eigenen sprechen, erinnern mich gelegentlich an jenen amerikanischen Deutschlerner, der Schwierigkeiten mit dem "ich-Laut" hat. Der Lehrer sagt "ich", der Schüler sagt "ick". "Nicht ick, sondern ich", sagt der Lehrer. "Sag ich doch", sagt der Schüler. Man braucht kein Psychologe zu sein, um zu merken, daß die Art x, wie sich jemand auf der Straße verhält, irgendwie "auffällig" ist, ebenso wie man kein Linguist zu sein braucht, um zu merken, daß jemand "nicht mit heimischem Akzent", sondern z.B. mit dem einer anderen Muttersprache oder mit anderer Dialektfärbung spricht. Nur: Eine Beschreibung mit wissenschaftlichem Wert oder irgendetwas, was diesem nahe käme, ist das nicht. Man kann nicht exakt angeben, WORIN die Abweichung besteht, WO (in einem Gesamtsystem) sie WIE lokalisiert ist, wie GROSS, wie HÄUFIG, wie VERBREITET

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bei einer Sprecherpopulation sie ist. Man kann vor allem nicht ERKLAREN, WODURCH sie bedingt und hervorgerufen ist. Da es meist VERSCHIEDENE Ursachen gibt, ist dies ein entscheidender Punkt für die schlüssige Bewertung einer Abweichung. Die Sache ist aber noch komplizierter: Die obigen Feststellungen, daß Laien-Meinungen und -Einschätzungen über den Sprachgebrauch nicht als wissenschaftliche Aussagen gewertet werden können, beinhalten NICHT, Laien-Meinungen über Sprache seien für die Linguistik uninteressant. Im Gegenteil. Sie sind als solche ein sehr wichtiger Gegenstandsbereich linguistischer Forschung. Unter dem Stichwort "folk taxonomy", oder auch als "Dialektologie der Dialektsprecher" (K.Mattheier) und vor allem im Bereich der "Sprachattitüdenforschung" haben sie besondere Bedeutung erlangt. Ich selbst habe für den forensischen Kontext von "natürlichem Expertentum" ( z . B . für Dorfbewohner, die ohne formale phonetische Schulung Sprecher präzise in der Umgebung lokalisieren können) gesprochen: Alle Beteiligten, Richter, Angeklagte und natürlich auch gutachtende Linguisten haben bestimmte Einschätzungen für Sprache und sprachliches Verhalten, die man berücksichtigen m u ß , wenn nicht Fehler oder Verzerrungen vorprogrammiert werden sollen. An Laien-Meinungen über Sprache und Sprachgebrauch ist (forensisch-) linguistisch sozusagen nicht so sehr ihre Qualität von Interesse wie die Tatsache, DASS es sie gibt und WER WELCHE WORÜBER hat. O.2.2.l "summa summorum" An einem Beispiel (von außerhalb des forensischen Kontextes) soll exemplarisch die PRAKTISCHE Problematik der Annahme von "sprecherspezifischen Merkmalen" verdeutlicht werden. Dabei wird auf die Verständlichkeit für Nicht-Fachwissenschaftler

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besonderer Wert gelegt. Ich habe vor ca.20 Jahren einen Bausparkassenvertreter ( f o r t a n : B) kennengelernt, der wiederholt den Ausdruck "summa summorum" gebrauchte, z . B . in Äußerungen wie "das macht summa summorum DM" oder "monatlich sind das summa summorum . . . M a r k " . Vor drei Monaten habe ich ihn wieder getroffen. Er sagte wieder "summa summorum macht das ...". In meinem ganzen Leben habe ich nur einen einzigen Menschen g e t r o f f e n , der "summa summorum" sagte, eben diesen Bausparvertreter. Wenn ich jetzt über sprecherspezifische Merkmale schreibe, f ä l l t mir "summa summorum" ein, und wenn mir das e i n f ä l l t , denke ich an B. Wenn mich B besucht, warte ich d a r a u f , daß er "summa summorum" sagt. Es ist beinahe ein "geflügeltes Wort" geworden in unserer Familie. Wenn es jemand gebraucht, ist dem anderen sofort k l a r , auf wen dieser Ausdruck anspielt. B hat in Gesprächen relativ häufig den Ausdruck verwendet. Einmal auch in einer "zwischenbilanzierenden" handschriftlichen Notiz geschrieben, wenn ich mich richtig erinnere. Ist es ein "sprecherspezifisches Merkmal" dieses Sprechers? Ja und Nein. Für MICH oder UNS ist es das, für andere Gesprächspartner dieses Bausparvertreters aber vermutlich nicht. Für sie ist er Herr X von der Bausparkasse Y. Sie haben andere Prioritäten der Aufmerksamkeit in Gesprächen mit B. Für seine Familie und für B selbst wohl auch nicht, was eine wichtige theoretische Gegebenheit zeigt: Es ist offensichtlich notwendig, "sprecherspezifische" Merkmale auch HÖRER-

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oder ADRESSATENSPEZIFISCH zu definieren. Man kann auch sagen: unter Berücksichtigung der gesamten pragmatischen Vorkommenssituation, wovon noch zu sprechen sein wird. Ist summa summorum ein "sprecheridentifizierendes" Merkmal zum Begriff (phonetic) "speaker identification" vgl. NOLAN in diesem Band - anhand dessen (ALLEIN) man B aus der Gesamtzahl aller Sprecher des Deutschen (angenommen, diese Kategorie wäre aufgrund anderer Kriterien klar) herausfiltern und identifizieren könnte? Die Antwort ist eindeutig NEIN: Dies würde u . a . voraussetzen, daß summa summorum ein sprachliches "Unikat" wäre, das kein anderer Sprecher des Deutschen gebraucht. Diese Annahme ist weder f a l s i f i z i e r - noch verifizierbar und daher wissenschaftlich unbrauchbar. Sie ist insgesamt nicht sehr plausibel: Ein Lateinlehrer könnte z . B . einen solchen Versprecher, ein Schüler einen solchen Fehler machen. Und natürlich könnte ein Bausparkunde oder ein anderer Bausparvertreter C, der summa summorum gut, chic, beeindrukk e n d . . . f i n d e t , den Sprachgebrauch AUFNEHMEN und sich zu eigen machen (wie B es ja auch gemacht h a t ) . Statt "gebraucht" wäre oben ggfs ein Ausdruck "normalerweise gebraucht", "je gebrauchen würde", "ein Sprecher wie ... gebrauchen würde" o.a. angemessener, was eine zweite wichtige theoretische Gegebenheit andeutet: Es genügt nicht, "den Sprachgebrauch" eines Sprechers X einfach zu hypostasieren. Man muß diverse Differenzierungen und Spezifizierungen ein- und Messungen durchführen, um überhaupt sinnvoll darüber sprechen zu können. Vor allem muß man die "soziale Norm" (E.SAPIR 1927) definieren, an der man als Bezugsgröße den Sprachgebrauch von B messen will.

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Man m u ß , vereinfacht, bestimmen, WIE TYPISCH der Sprachgebrauch summa summorum für B ist. Dies bedeutet, daß man das sprachliche Verhalten von B, das zu summa summorum f ü h r t , rekonstruieren muß. Im Grunde muß auch die Linguistik, insbesondere die Variations- und die Fehler-Linguistik so etwas wie eine AITIOLOGIE entwickeln, die die Heterogenität der "Genese" gleichaussehender sprachlicher Produkte gewährleistet. Für

B1 s

summa

summorum -

zunächst

als

sprechsprachliches

Produkt - sind diverse Möglichkeiten gegeben: - Es kann sein, daß B ' s Standard eigentlich summa summa r we ist und summa summorum nur ein "Ausreißer". Ersteres ist jedoch nicht belegbar, letzteres dagegen häufiger, sodaß tatsächlich ein "Standard" summa summorum für B angenommen werden kann. - Man muß dazu natürlich noch die soziale Norm für summa summarum im heutigen Deutsch beschreiben: Ich habe es selten gehört. Man würde damit, nach meinem Standard, eher einen etwas antiquierten, vorgeblich "gelehrten", pedantisch-betulichen Sprachgebrauch verbinden, oder auch etwa Fremdwortgebrauch als "Imponiergehabe". Dies bedürfte genauer empirischer Untersuchung. - Man müßte klären, ob B Latein gelernt hat, also einen Feh-

-

ler gegen eine ihm an sich bekannte Norm macht, oder kein Latein kann (was vielleicht wahrscheinlicher ist) und die Form wie eine "magische" Formel übernommen hat. Ferner wäre zu klären, WELCHEN GEBRAUCHSSTATUS der Ausdruck in B 1 s Diktion h a t , ob er es auch außerhalb der Textsorte Kundengespräch z . B . gegenüber Familienmitgliedern, in Kundengesprächen gegenüber JEDEM Kunden, oder nur gegenüber Akademikern gebraucht usw.

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- Es könnte schließlich sein, daß B BEWUSST diesen Fehler macht oder "einbaut", z . B . um die Reaktion seines Gesprächspartners zu testen, eine freilich nicht sehr naheliegende Möglichkeit. B würde Gefahr laufen, als "ungebildet" o.a. zu gelten, ein Eindruck, dem in der Tendenz der Gebrauch von summa summorum entgegenzustehen scheint. Auf weitere Aspekte dieses Beispiels kann hier nicht eingegangen werden. Es verdeutlicht die grundsätzliche Problematik, wie ich meine. Vor allem dies: Von "sprecherspezifischen Merkmalen" sinnvoll zu sprechen erfordert einen ziemlich großen Analyse- und Beschreibungsaufwand. Es genügt nicht, isolierte Beobachtungsdaten oder einfach Impressionen als gültige Ergebnisse anzunehmen und auszugeben. Um verläßliche Aussagen über den Gebrauch eines Ausdrucks durch einen bestimmten Sprecher zu gewinnen, muß man viel mehr sprachliche Daten und Kontexte im Detail analysieren und vergleichen, und diverse "mittelbare" Untersuchungsperspektiven verwenden, als es zunächst den Anschein hat. Es kann dabei durchaus sein, daß man zu keinem schlüssigen Ergebnis kommt. SCHRIFTLICH repräsentierter Sprachgebrauch erlaubt dabei gleichsam nur um eine (oder mehrere) S t u f e ( n ) reduzierte Aussage- und Erklärungsmöglichkeiten: Summa summorum kann natürlich einfach ein Druckfehler sein. Nur die Berücksichtigung weiterer schrift- und sprechsprachlicher Daten würde dann eine Entscheidung zulassen, ob es eine grammatische oder nur eine graphische Abweichung ist.

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0.2.2.2 Theorie-Elemente Im folgenden möchte ich zusammenfassend einige Theorie-Elemente für die Beschreibung und Erklärung "sprecherspezifischer (Verhaltens-) Merkmale" nennen. 1. Der SEMIOTISCHE STATUS sprecherspezifischer Merkmale muß ermittelt werden. Konkret die Frage: Welche Merkmale haben welche ikonische, indexikalische und symbolische Funktion, wobei die indexikalische Funktion ("how speech identifies the speaker", LAVER/TRUDGILL 1979,2) die interessanteste ist. LAVER/TRUDGILL 1979, 2 "...the ICON, a sign which refers to an object by virtue of characters of its own which it possesses whether the object exists or not; the INDEX, a sign which refers to the object that it denotes by virtue of being really affected by that object; and the SYMBOL, a sign which refers to the object that it denotes by virtue of a law, usually an association of general ideas, which operates to cause the symbol to be interpreted as referring to that object." Zwischen den einzelnen Ebenen der Repräsentation bestehen diesbezüglich wesentliche Unterschiede ( z . B . s i n d sprechsprachliche Daten symbolisch UND ikonisch, schrift-sprachliche nur symbolisch). 2. Sprecherspezifische Merkmale können nicht als MATERIALITER Sprachmitteln "anhaftende" Merkmale oder selbst als Sprachmittel konzipiert werden (das genannte summa summorum IST kein Merkmal für irgendetwas oder irgendjemanden). "Merkmal" wird dabei nicht im üblichen linguistischen, sondern in einem umfassenderen sozialwissenschaftlichen Sinne von "social marker" (SCHERER/GILES 1979,Xllf.; LAVER/ TRUDGILL 1979,3) verwendet. 3. Sprecherspezifische Merkmale sind nur als Gegebenheiten des SPRACHGEBRAUCHS, d.h. als DYNAMISCHE sprachliche Verwendungs- oder Verhaltensweisen konzipierbar, vor allem als

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komplexe KONFIGURATIONEN von sprachlichen Verhaltensweisen. Diese sind in einem z.T. aufwendigen Analyseverfahren aus den "gefrorenen Sprachprodukten" zu rekonstruieren. Das bedeutet: Auch wenn man keine "isolierten Symptome" feststellen (direkt beobachten) kann, ist gleichwohl die Beschreibung eines "Befundes" möglich. Ein solches Syndrom ist je nach Datenlage befriedigend oder unbefriedigend. Es ist also eine EMPIRISCHE Frage, ob man das sprecherspezifische Verhalten eines Sprechers X hinreichend beschreiben und damit von dem eines Sprecher unterscheiden kann. Eine "Kontrastierung von Minimalpaaren" sprachlicher Verhaltenssyndrome - ein Linguisten dem Prinzip nach ja nicht unbekanntes Verfahren - kann ( i ) so klar sein, daß ein "Ausschlu3"einer Deckung möglich ist. Man kann dann feststellen, daß Syndrom X dem "vorgegebenen" Syndrom wahrscheinlich NICHT entspricht, im Klartext: ein Sprecher als Verdächtigter mit unterschiedlich großer Wahrscheinlichkeit AUSGESCHLOSSEN werden kann. Eine "Identifizierung" ist dies natürlich nicht. 4. Sprachgebrauch oder ein konkreter Sprachgebrauch ist nicht als eine "systemlinguistische" Abstraktion, sondern nur unter soziolinguistisch-holistischer Einbeziehung der SPRACHVERWENDUNGSSITUATION beschreibbar. Es genügt also nicht, ein Wort oder einen Ausdruck (wie z.B.summa summorum) in Isolation vom WER? WAS? WANN? W O ? . . . zu beschreiben. Gerade die Komponente Hörer oder Adressat ist von entscheidender Bedeutung für die Bewertung, in einem vielfachen Sinn, z . B . wegen der Tatsache, daß die Hörer-Wahrnehmung zur Dichotomisierung von Größen tendiert, die eigentlich ein KONTINUUM der Variation darstellen (vgl.LAVER/TRUDGILL 1979,23). Vereinfacht: Man hört z . B . nicht WIE STARK jemand

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"mit Akzent" spricht, sondern OB er mit Akzent spricht oder nicht. 5. Auch die Rekonstruktion sprachlichen Verhaltens und die Einbeziehung der Sprachverwendungssituation reichen noch nicht aus. Man muß darüber hinaus Daten der EINSCHÄTZUNG sprachlichen Verhaltens, d.h. Selbst- und Fremdeinschätzung der beteiligten Interlokutoren und natürlich auch der analysierenden Wissenschaftler bei der Beschreibung und Erklärung in Rechnung stellen. 6. Sprecherspezifische Merkmale selbst müssen in inhaltlichem und in methodologischem Sinne grundlegend revidiert, präzisiert und überhaupt theoretisch und empirisch gend definiert werden.

befriedi-

Methodologisch wäre etwa zu beachten, daß es weit mehr AMBIGE

als

NICHT-AMBIGE

"social

markers"

(vgl.BROWN/FRASER

1979,54) gibt (vgl.die o.gen. verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten je nach Sprechsituation und Textsorte für summa summorum) . Die Konsequenzen dieses Faktums für die forensische Analyse sind, soweit ich sehe, noch nicht einmal ansatzweise aufgezeigt, geschweige denn systematisch analysiert. Im Klartext (und über Gebühr v e r e i n f a c h t ) : Es gibt kaum typische Charakteristika für Sprecher PER SE, sondern nur BESTIMMTEN KOMMUNI ONSSITUATIONEN. 7.

Für die inhaltliche

Konzeption sind

für

noch

Sprecher IN

umfassendere

Vorarbeiten notwendig. Ohne Zweifel sind z . B . Dinstinktionen wie W.LABOV's "indicators, markers, stereotypes" zu berücksichtigen: Vgl.DITTMAR/RIECK eds. 1980, 143 "..INDIKATOREN sind sprachliche Elemente, die in eine soziale Matrix eingebettet sind und soziale Differenzierung nach Alter oder sozialer Gruppe zeigen, aber keine

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Muster des Stilwechsels aufweisen und wenig Bewertungskraft zu haben scheinen... MARKER ...zeigen sowohl stilistische als auch soziale Stratifikation. Obwohl sie unterhalb der Ebene bewußter Wahrnehmung liegen mögen, rufen sie regelhafte Reaktionen auf subjektive Reaktionstests hervor. STEREOTYPE sind sozial gekennzeichnete Formen, die von der Gesellschaft eine markante Etikettierung erfahren haben ( z . B . stigmatisierte Formen wie die Realisierung von dentalen Verschlußlauten anstelle von Frikativen in dese, dem und dose) . 8. Es wäre außerdem notwendig, die Beschreibungs- und Analysedimensionen grundlegend zu reflektieren. Als ein Minimum sind grundsätzlich (1) die relative Häufigkeit, (2) Variabilität und (3) Periodizität des Vorkommens sprachlicher Einheiten (SCHERER 1979,169) zu beschreiben. 9. Für eine befriedigende inhaltliche Konzeption sprecherspezifischer Merkmale muß eine umfassende Definition auf ALLEN linguistischen Beschreibungsebenen gegeben werden. Zumindest sind die bei SCHERER 1979, 169 genannten 4 Typenklassen für "personality markers in speech" zu berücksichtigen (und wahrscheinlich zu ergänzen): - formale Charakteristika ( z . B . Wort- und Satzlänge) - semantische Funktionen {Referenztypen, z.B. ichR e f e r e n z , "quantification" u . a . ) - syntaktische Funktionen (Nomen, Verb, A d j . u s w . ; Transformationstypen) - pragmatische Funktionen ("sender-states", wie z . B . Hostil i t ä t , "Unmittelbarkeit" u . a . ) . Insbesondere die letztgenannten "pragmatischen Funktionen" sind, soweit ich sehe, in der forensisch-linguistischen Analyse vernachlässigt worden. Vielleicht besonders deshalb, weil sie im Unterschied zu formalen und syntaktischen Gegebenheiten nicht so leicht quantitativ und exakt erfaßt werden können (und natürlich auch in foro weniger Eindruck machen) .

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Neben einer viel umfassenderen Analyse von Interrelationen zwischen sprecherspezifischen Merkmalen und Merkmalkonfigurationen ist jedoch vielleicht gerade hier ein besonderer Aufschlußwert und damit potentieller diagnostischer Fortschritt gegeben. Abschließend eine Mahnung zur Vorsicht: DASS Linguisten (und andere Wissenschaftler) gelegentlich die Bedeutung der Sprecherpersönlichkeit und -Individualität überbewerten, darauf hat Roman Jakobson schon vor 30 Jahren hingewiesen. JAKOBSON 1960, 53 "...Likewise the observers of language are often prone to exaggerate the imprint of personality. We could easily quote amusing lapses such as a psychologist's attribution of individual imprint to so typical a social phenomenon as the incomplete assimilation of a foreign language. The strong tendency of the individual to adapt his language to the milieu, and in any dialogue to approach his interlocutor, considerably reduces the notion of the so-called 'idiolect'." Da forensische Linguisten usw. gleichsam ständig und "von Beruf" in dieser Gefahr sind, kann man sich dem nur anschließen. Eine solche "Reduzierung" des Konzepts Idiolekt (als statischer, materieller Merkmale) spricht aber gerade für eine Neufassung als "sprecherspezifisches VERHALTEN" und für die Bedeutung der Analyse von komplexen sprecherspezifischen Vernaltenssyndromen. Und ferner: Die Tatsache, daß nicht selten soziolektale, dialektale u . a . Merkmale fälschlich für idiolektale gehalten werden ( v g l . o . ) , besagt ja nicht, daß die Markierung als solche nicht existierte und man sie in der forensischen Analyse qua ihrer "Funktion" nicht nutzbringend verwenden könnte.

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0.3 Gliederung des Bandes 0.3.1

Kapiteleinteilung

Aus dem oben über Interdisziplinarität Gesagten ergibt sich, daß eine Einteilung wie z . B . alle Aufsätze von JURISTEN und KRIMINALISTEN in ein Kapitel, alle Aufsätze von LINGUISTEN in ein anderes Kapitel hier nicht infragekommt. Sie wäre die einfachste und vertrauteste, aber auch die schlechteste. Übergreifende Zusammenhänge, gerade auch Perspektiven-Unterschiede der einzelnen Fächer und natürlich auch die Arbeit an ein und demselben Fall würde nicht deutlich werden. Eine Einteilung nach den "etablierten" akademischen Fächern Phonetik, Linguistik usw. wäre nicht besser. Auch dabei würde Zusammengehörendes aus rein formalen Gründen auseinandergerissen. Die sinnvollste Einteilung schien daher eine Grobgliederung nach der FRAGESTELLUNG und innerhalb dieser eine Unterteilung nach den einzelnen Fächern. So konnte wenigstens einigermaßen sichergestellt werden, daß die Arbeiten von Linguisten, Phonetikern u n d Juristen, z . B . z u r strittigen Frage des Verständnisses einer Äußerung unter einem einheitlichen Aspekt in einem Kapitel a u f g e f ü h r t werden. Selbstverständlich hat auch diese Klassifikation Nachteile. Aber das Grundanliegen eines Informationsangebots, auch für Leute von außerhalb der Linguistik und außerhalb der Wissenschaft, wird so am besten befriedigt. In Kap l ist eine exemplarische Auswahl von Aufsätzen vereinigt, die nicht speziell linguistisch-forensischen Gutachten gewidmet sind, sondern ausgewählte Themen des Gesamtbereichs "Sprache und Recht" beleuchten. Die Auswahl selbst ist dabei eher z u f ä l l i g , sehr unvollständig und praktischen Gründen zuzuschreiben. Ich war vor allem bestrebt, relevante und

verwandte linguistische Methoden und Fragestellungen, auch wenn sie keine direkte Nachbarschaft zur forensischen Linguistik aufweisen, exemplarisch zu Wort kommen zu lassen. Dies ist, aus Raum- und Zeitgründen, nur partiell gelungen. So konnte z . B . ein psycholinguistischer Beitrag zum Thema "Intra- und Interpersonale Variation", dessen Relevanz inhaltlich wie methodologisch nicht überbewertet werden kann, leider nicht aufgenommen werden. Ebensowenig ein Beitrag aus dem Bereich der forensischen Psychiatrie, der methodisch wie zur Illustration von Kommunikationsproblemen in foro besonders geeignet war. Ich bin mir darüber klar, daß so mancher Linguist, vielleicht weniger Vertreter des Praxisfeldes, sich und mich fragen wird, warum ist denn das hier aufgenommen.Meine Antwort ist oben schon gegeben: Ein "kumulatives Prinzip" ist gleichsam Methode, wenigstens solange man noch nicht einmal genau weiß, welche theoretischen und methodischen Ingredienzien eines Fachs besonders relevant sind. Und auch: Für eine "Schmalspur"-Perspektive eignet sich dieses interdisziplinäre Arbeitsfeld nun einmal nicht. In Kap.2 "Juristisches Praxisfeld: Gutachten zum 'Verständnisnachweis' strittiger Wörter und Ausserungen" (vgl.o.) sind linguistische und phonetische Gutachten und ihre Problematik aus verschiedener Perspektive dargestellt. Der faktische Umfang (und das "Fallaufkommen") dieser Art von Gutachten ü b e r t r i f f t die in Kap.3 zum "Autorschaftsnachweis" genannten um ein Vielfaches. Ich habe keine Erhebungen angestellt, würde aber vermuten, daß die Proportion Gutachten in Kap.2 zu Gutachten in Kap 3 grob geschätzt mindestens etwa 80:1 ist. Die Proportion ist also genau umgekehrt wie die der hier aufgenommenen Aufsätze. Dies ist auch dem Z u f a l l zu verdanken und vielleicht der Tatsache, daß die Gutachten in Kap.2 weitaus weniger

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"spektakuläre", z . T . recht spröde Materie und Fälle repräsentieren, und es deswegen noch schwieriger ist, sie a u f zuspüren. An dieser Stelle ist die Bemerkung angebracht, daß die GESAMTAUSWAHL der Aufsätze in diesem Band natürlich in KEINER WEISE REPRÄSENTATIV ist für die Gesamtzahl der hierzulande in den letzten Jahren erstellten linguistisch-forensischen Gutachten. Die Auswahl ist nicht einmal repräsentativ für die mir bekannten Gutachten. Dies ist von einem solchen Sammelband auch grundsätzlich nicht zu erwarten. Ich möchte jedoch h o f f e n , daß er weitere Forschung, z . B . empirische Erhebungen zur Gutachtertätigkeit von Linguisten, Gutachtentypen, "Trefferquoten" von Gutachten u . a . provoziert, die z . T . in den USA, wie es scheint, gerade auf den Weg gebracht worden sind. In Kap. 3 "Juristisch-Kriminalistisches Praxisfeld: Gutachten als Hilfe bei der Täterermittlung", das einige immer noch mit "forensischer Linguistik" schlechterdings gleichsetzen ( v g l . o . ) , sind Aufsätze zur gerichtlichen Schriftvergleichung, zum linguistischen Autorschaftsnachweis und zur phonetischen Sprechererkennung vereinigt. Auch hier ist die Auswahl der Beiträge(r) letztlich z u f ä l l i g . Wie schon gesagt, sind nur seriöse Gutachter aufgenommen. Unseriöse habe (und h ä t t e ) ich nicht aufgenommen - sie melden sich ohnehin lautstark genug zu Wort. Bedauerlich ist, daß FEHLGUTACHTEN (d.h. sich hernach als nachweislich falsch herausstellende gutachtliche Stellungnahmen) nicht mit aufgenommen werden konnten. Ich empfinde dies als ein echtes D e f i z i t . Eine Dokumentation zur linguistisch-forensischen oder einer anderen Gutachtertätigkeit müßte m . E . auch die Mißerfolge berücksichtigen. Auch hier ist für weitere Forschung ausreichend Raum.

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Im

Anhang

werden

ein

Abkürzungsverzeichnis

und

eine

Anschriftenliste der Autoren des Bandes gegeben. Abschließend eine Bemerkung, die vielleicht die naheliegendste und "trivialste" ist: Jedes Gutachten von jedem Gutachter in jedem "Fall" ist DISKUTABEL. Bei einigen meiner Gutachten bin ich nicht sicher, ob ich sie heute noch genau so schreiben würde bzw. in einigen Details bin ich sicher, daß ich sie heute anders formulieren würde.

Im Tenor

allerdings würde ich

keins

meiner

Gutachten aus meiner heutigen Sicht ändern wollen: Grundsätzlich andere "Sehweisen" habe ich nicht gewonnen. Will sagen: Totale Variation und "Fluktuation" ist

nicht

fest-

stellbar. Dies gilt auch für die hier aufgenommenen Gutachten. Bei einigen bin ich nicht sicher, ob ich sie so geschrieben h ä t t e , bei anderen meine ich sicher zu sein, daß ich sie nicht so geschrieben hätte. Völlig sicher bin ich jedoch, daß dies allen Kollegen im Prinzip auch so geht. Offensichtlich ist (ein gewisser) Dissens Realität, womit die forensische Linguistik leben muß und leben kann, wie andere forensische Wissenschaften auch. Mitnichten wird dadurch die "Wissenschaftlichkeit" oder "Seriosität" tangiert. Sie wäre es,

wenn es KEINEN Dissens gäbe.

Freilich scheint sich die konkrete Meinungs-Abweichung in Grenzen zu halten (was auch meine überwiegende Erfahrung mit seriösen Gutachter-Kollegen i s t ) . In keinem der hier dargestellten linguistischen Gutachten wäre ich zu völlig gegensätzlichen Schlüssen gekommen, was natürlich nicht generalisierbar ist. Es kann durchaus vorkommen, daß unterschiedliche Bewertung eines Details (bei ansonsten weitgehender Übereinstimmung) einen Unterschied des End-Votums besagt. Es kann auch sein, daß die mitgeteilten Daten für eine echte

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Generierung einer Alternativ-Meinung nicht ausreichen. Der Tenor meiner Auffassung - Dissens j a , aber in Grenzen wird jedoch auch durch meine eigene Gutachtererfahrung bestätigt: Ich habe alle Gutachten mit meinen damaligen Kölner Kollegen diskutiert und sie sie gegenlesen lassen. Einen Dissens im Sinne einer völlig unterschiedlichen Beurteilung der Daten und einer eindeutig gegenteiligen Empfehlung hat es nicht gegeben. Gleichzeitig habe ich Kenntnis von Gutachten seriöser Gutachter, mit denen ich tatsächlich völligen Dissens habe und eine gegenteilige Empfehlung gegeben hätte. Beide Konstellationen gehören also zur R e a l i t ä t , was ich hier feststelle, weil m a n , gerade einem jungen Fach, gern von außen völlig d i f f u s e Meinungen und totalen Dissens unterstellt. Dies scheint, wie ich f i n d e , nicht angemessen.

0.3.2 Obersicht über die Beiträge des Bandes Kap.l Problemhorizont "Sprache und Recht": Rudolf WASSERMANN kritisiert in seinem Beitrag "Fachsprachlichkeit in gerichtlichen Texten" anhand eines konkreten Beispiels die juristische Diktion aus der Sicht des juristischen Praktikers - eine im Vergleich zu Analysen von Linguisten ( z u ) wenig dokumentierte Perspektive. Günter PEUSER stellt in seinem Beitrag "Zur kontrastiven Deutung dysgrammatischer Systeme" ein Teilgebiet Angewandter Linguistik (Patholinguistik) vor, in dem nicht nur die "differentialdiagnostische" Erfassung intra- und interpersonaler Variation eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie in der forensisch-linguistischen Analyse (und entsprechend Raum und Forschungsbedarf für methodologische Analogien geboten ist) , sondern das auch direkt relevant sein kann für die forensisch-linguistische Analyse ( z . B . bei der Beschreibung eines anonymen Sprechers/Texts).

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Bernd SPILLNER gibt in seinem Beitrag "Status und Erklärungspotential sprachlicher Fehler" eine Taxonomie der verschiedenen Teilbereiche der Fehleranalyse und zeigt ihre Relevanz bei der Autorermittlung im forensischen Kontext a u f , wobei die Erklärung von verschiedenen Fehlerursachen besondere Bedeutung hat. Klaus BRINKER arbeitet in seinem Beitrag "Textanalytische Voraussetzungen forensisch-linguistischer Gutachten" die systematischen Unterschiede linguistischer Text(Sorten)analyse und forensisch-linguistischer Textanalyse (insbesondere zum "Autorschaftsnachweis") heraus und gibt eine "Rahmen(ein)Ordnung" für die letztere, die pragmatische Textfunktionen in den Mittelpunkt stellt. Kap.2 Juristisches nisnachweis"

Praxisfeld:

Gutachten

zum

"Verständ-

Christian RITTER gibt in seinem Beitrag "Sprachexpertisen im Zivilprozess" eine durch konkrete Fallbeispiele breit dokumentierte Darstellung der vielseitigen Problematik linguistischer Sachverständigen-Gutachten im Zivilproze3 aus der Sicht des juristischen Praktikers, die für Linguisten Denkanstöße gibt. Christian STETTER diskutiert und reflektiert seine gutachtlichen Stellungnahmen und vertieft die Problematik philosophisch durch Aufzeigen einer "Knowing that"-Dimension für die forensisch-linguistische Analyse strittigen Verständnisses, die auch Folgerungen für die juristische Ausbildung und Praxis enthält. Hannes KNIFFKA gibt in Ergänzung der theoretischen Erörterungen zu linguistischen Gutachten zum "Verständnisnachweis" (in 0 . 2 ) und andernorts den Original-Wortlaut eines seiner Gutachten in einem Prozeß wegen Beleidigung.

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Peter FRENCH demonstriert im letzten Aufsatz zum "Verständnisnachweis" die phonetische Dimension des Problems, gibt einen überblick über Falltypen und Fragestellungen und zeigt an einem konkreten Fall einer (mißglückten) Arzt-Patient-Interaktion die Relevanz auditiv-phonetischer und akustischphonetischer Analyse a u f .

Kap.3 Juristisch-Kriminalistisches Praxisfeld: Gutachten als Hilfe bei der Täterermittlung Lothar MICHEL gibt in seinem Beitrag "Grundlagen und Methoden der forensischen Schriftvergleichung" einen ebenso knappen wie informationsreichen Überblick über sein Fach, das auch für die Linguistik, zumal die forensische Linguistik "in statu nascendi", zahlreiche Denkanstöße und Einsichten bereithält und zur linguistischen Reflexion "per analogiam" sensibilisiert (vgl.o. O . 2 ) . Manfred HECKER tut in seinem Beitrag "Forensische Linguistik und forensische Schriftuntersuchung - Zwei methodisch verwandte Disziplinen" eben dies, indem er aus der Sicht des {die drei Bereiche Sprache-Stimme-Schrift überblickenden) kriminalistischen Praktikers die methodischen Grundlagen und (auch von der Linguistik einzulösenden) Postulate praktisch expliziert und als interdisziplinäre Arbeitsfelder sinnfällig macht. Günther GREWENDORF's Beitrag " , ...ungelöst. Zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik" leitet die Gruppe der Aufsätze zum linguistischen Autorschaftsnachweis mit kompetenter Kritik an einem (von Nicht-Linguisten erstellten) Gutachten ein und zeigt die Relevanz (und Unentbehrlichkeit) theoretisch-linguistischer Überlegungen für die forensischlinguistische Praxis schlüssig a u f .

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Anita BLUM's Beitrag "Anregungen zu mehr Interdisziplinarität am Beispiel einer forensischen linguistischen Untersuchung" gibt eine detaillierte Beschreibung des derzeitigen status quo und überzeugende Herausarbeitung der zentralen Probleme linguistischer Gutachten zum Autorschaftsnachweis und erläutert eingehend u . a . die crux der Merkmalsdefinition anhand eines konkreten Fallbeispiels. Wolfgang STEINKE ordnet in seinem Beitrag "Die linguistische Textanalyse aus kriminalistischer Sicht" die forensischen linguistischen Hilfsdienste in das Gesamtspektrum der kriminalistischen Ermittlungsarbeit ein, erläutert deren wichtigste Parameter und Maximen und gibt einen umfassenden Überblick über einschlägige Arbeiten des BKA. Dieter CHERUBIM berichtet in seinem Beitrag "Der Fall S. Linguistische Gutachten in einem Mordprozess" über zwei in diesem Fall von ihm erstellte Gutachten, dokumentiert das Detail der Sprachdaten-Analyse und macht auf grundsätzliche und konkrete Einschränkungen bezüglich der Aussagekraft linguistischer Gutachten zum Autorschaftsnachweis aufmerksam. Jack WINDSOR LEWIS' Beitrag "The Yorkshire Ripper Letters" berichtet über die gutachtliche linguistische Analyse der Briefe des Mannes, der vorgab, der "Yorkshire Ripper" zu sein, dokumentiert einzelne sprachliche Merkmale und die Brieftexte selbst und gibt eine Einordnung der Briefe in die damalige komplexe Ermittlungssituation (im Zusammenhang mit den Tonbändern). Alois BALZERT weist in seinem Beitrag "Textanalyse im Ermittlungsverfahren. Die Bedeutung 'außersprachlicher Merkmale' am Beispiel eines realen Falles" auf die Wichtigkeit der Detailanalyse (hier der Schreibmaschinenschrift) für die Ermittlungsarbeit hin.

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Fritz BILLNER beschreibt in seinem Beitrag "Probleme der Täteridentifizierung anhand linguistischer Text- und Stimmvergleiche in der Hauptverhandlung" aus der Perspektive der Richterbank, also der Adressatenkategorie, wie sich linguistische Gutachten und Gutachter vor Gericht darstellen (anhand des "Oetker-Prozesses") und illustriert, welche "Version" sich das Gericht davon machte. Ulrich ENGEL geht in seinem Beitrag "Tätertexte" auf allgemeine Fragen sprecherspezifischer Merkmale der gesprochenen und der geschriebenen Sprache (insbesondere in Lexikon und Syntax) und auch auf einige Gegenstände seines Gutachtens im vorgenannten Prozeß ein, was interessante Kontrastierungen erlaubt. Hannes KNIFFKA dokumentiert in seinem Beitrag "Autorschaftsausschluß: Ein ' l i q u e t ' und ein 'non l i q u e t ' " einen Fall eines umfangreichen Delikt-Korpus und entsprechend a u f wendigen (letztlich erfolgreichen) Gutachtens und einen Fall eines 'non liquet'-Gutachtens zum Ausschluß einer "Mitautorschaft". Francis NOLAN's Beitrag "The Limitations of Auditory-Phonetic Speaker Identification" f a ß t die Problematik der Verifikation und Identifikation von Sprechern überzeugend klar und knapp (und kritisch) zusammen (mit über die Phonetik hinausgehender Relevanz) und gibt Beispiele für die Notwendigkeit der Überprüfung auditiv-phonetischer durch akustisch-phonetische Analysen. Georg HEIKE gibt in seinem Beitrag "Stimmenvergleichsgutachten - Probleme und Methoden der forensischen Phonetik am Beispiel einer Fallstudie" einen konzisen Einblick in Aufgabenstellung und Leistungsfähigkeit von Stimmenvergleichen und belegt dies anhand eines einsichtigen Beispiels.

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Graham TRENGOVE beschreibt in seinem Beitrag "Expert Evidence in a Scottish S h e r i f f Court" seine Gutachteraktivität in foro als phonetischer Sachverständiger, die zum Freispruch eines wegen falschen Feuer-Alarms angeklagten Mannes f ü h r t e und gibt detaillierten Aufschluß über die entscheidenden (überzeugenden) Materialien. John BALDWIN vermittelt in seinem Beitrag "The Case of ' J ' . An Early Example of Forensic Phonetics" einen Einblick in die Praxis der forensisch-phonetischen Analyse in ihren Anfängen in Großbritannien und gibt wichtige Informationen zur Wissenschaftsgeschichte und zum angelsächsischen Rechtswesen, die für die Tätigkeit forensischer Experten bedeutungsvoll sind. Stanley ELLIS in seinem Beitrag "'It's rather s e r i o u s . . . ' . E a r l y Speaker Identification" gibt ebenfalls einen historischen überblick über die Entwicklung der phonetisch-forensischen Sprechererkennung in Großbritannien in den letzten Jahrzehnten mit besonderer Berücksichtigung seiner eigenen Aktivität als phonetischer Experte in foro, wobei auch auf die Bedeutung dialektologischer Gesichtspunkte und Befunde exemplarisch hingewiesen wird.

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0.4 Literatur Brown, P . , C. Fräser. 1979. Speech as a Marker of Situation. In: Scherer/Giles 1979. 33-62. Bruckner, Tobias. 1989. Gibt es einen "sprachlichen Fingerabdruck"? Kritische Anmerkungen zum forensischen Textvergleich. In: Institut für deutsche Sprache. Sprachreport H. 4. 14-16. Bundeskriminalamt. ( H g . ) . 1989. Symposium: Forensischer Linguistischer Textvergleich. Referate und Zusammenfassungen der Diskussionsbeiträge. Wiesbaden 1989. D i t t m a r , N . , B.-O.Rieck. (Hgg.) 1980 William Labov: Sprache im sozialen Kontext. Königstein/Ts. (Athenäum). French, Peter. 1990. Analytic Procedures for the Determination of Disputed Utterances. (In diesem Band). H o f f m a n n , Ludger. 1983. Kommunikation vor Gericht. Tübingen. Jakobson, R. 1960. Ciosing Statement: Linguistics and Poetics. In: Seboek, T. ( e d ) . 1960. Style in Language. Cambridge/Mass. Jöns, D. 1982. Der philologische Steckbrief, über den Einsatz der Philologie bei der Täterermittlung. In: Gesellschaft und Universität. Probleme und Perspektiven. Festschrift zur 75-Jahr-Feier der Universität Mannheim. 273-287. K n i f f k a , H. 1981. Der Linguist als Gutachter bei Gericht. Überlegungen und Materialien zu einer "Angewandten Soziolinguistik". In: Peuser, G . / S . Winter (Hgg.) 1981. Angewandte Sprachwissenschaft. Grundfragen - Bereiche Methoden. Bonn ( B o u v i e r ) . 584-634. K n i f f k a , H. 1989. Thesen zu Stand und Aufgaben "forensischer" Linguistik. In: Bundeskriminalamt ( H g . ) 1989. 205-236. Künzel, H. 1987. Sprechererkennung. Grundzüge forensischer Sprachverarbeitung. Heidelberg. Labov, W. 1966. The Social Stratification of English in New York City. Center for Applied Linguistics. Washington D.C. Laver, J . , P. Trudgill. 1979. Phonetic and Linguistic Markers in Speech. In: Scherer/Giles (eds.) 1979. 1-32. Levi, J. 1982. Linguistics, Language, and the Law: A Topical Bibliography. Bloomington/Ind.: Indiana University Linguistics Club. Pp. x i , 4 8 . Levi, J. 1986. Applications of Linguistics to the Language of Legal Interactions. In: The Real-World Linguist: Linguistic Applications in the 1980s. Ed. by P . C . B j a r k m a n & V. Raskin. Norwood, N . J . : Ablex. 230265. Loccumer Protokolle: Sprache und Recht. 1981. Hrsg. v. K. Ermert. Evangelische Akademie Loccum. Mentrup, W. ( H g . ) . 1979. Fachsprachen und Gemeinsprache. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache (Sprache der Gegenwart 4 6 ) . Düsseldorf: Schwann.

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Kapitel 1: Allgemeine Grundlagen und Probleinhorizonte des Bereichs "Sprache und Recht"

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FACHSPRACHLICHKEIT IN GERICHTLICHEN TEXTEN

Rudolf Wassermann

1. Wenn Sprachkritik und Sprachwissenschaft sich mit juristischen Texten beschäftigen, findet vorzugsweise die sprachliche Fassung der Gesetze Aufmerksamkeit. Da die Normen der Gesetze für eine Vielzahl von gleichliegenden Sachverhalten gelten sollen, und der Gesetzgeber bei der Fassung der Tatbestände aus der Fülle des wirklichen Geschehens immer nur begrenzte Ausschnitte herausfiltert, um daran die Rechtsfolgen festzumachen, ist die Abstraktheit ein Charakteristikum unserer Gesetze. Klage darüber führen nicht nur die Linguisten. Beißende Kritik an der abstrakten, blutleeren und dürren Gesetzessprache hat aus Anlaß der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs schon der prominente Jurist Otto von Gierke (1889: 27 ff) geübt, ein hervorragender Vertreter der germanistischen Schule der Rechtshistoriker, die sich damals mit dem Gegenlager der Romanisten heftige Fehden lieferte. Zur gleichen Zeit machte der österreichische Rechtswissenschaftler Anton Menger die mangelnde Verständlichkeit zum Angelpunkt seiner K r i t i k . Kein Teil der Gesetzgebung, so schrieb er, bedürfe so sehr einer allgemein verständlichen Ausdrucksweise wie das bürgerliche Recht, das täglich und von allen Staaatsbürgern angewendet werde; der Einfluß juristischer Scholastik habe jedoch zu einem Werk geführt, dessen abstrakte und unpopuläre Ausdrucksweise kaum überboten werden könne und das infolgedessen die großen Volksmassen in Beziehung auf die Rechtsanwendung "ganz der Diskretion der Fachjuristen" überlasse (Menger 1908: 17).

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An dem Tenor der Kritik hat sich seit den nunmehr nahezu 90 Jahren, die seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs verstrichen sind, nichts geändert. In den 20er Jahren kennzeichnete Gustav Radbruch (1973: 202} die Gesetzessprache als "Lapidarstil von selbstgewählter Armut". Zugleich sprach er die politische Dimension der Gesetzessprache mit seiher Deutung an, daß der Imperativ der Gesetzessprache, der auf Begründung verzichtet, Fragen nach dem Sinn oder Zweck nicht zuläßt und sich bewußt der Allgemeinverständlichkeit entkleidet, das Machtbewußtsein des befehlenden Staates zum Ausdruck bringt. Radbruch fand viel Zustimmung. Praktische Folgerungen aus seinen Einsichten wurden jedoch nicht gezogen, weder in den 20er Jahren noch nach 1945. Das schöne Buch, das Hans Dolle (1949) über den Stil der Rechtssprache veröffentlichte, bereicherte lediglich die Lit e r a t u r . Selbst die Reformwelle der 60er und 70er Jahre schenkte der Sprachproblematik kaum Aufmerksamkeit. Bedeutsame Anstöße kamen jedoch von der Linguistik. Nach einer Reihe von Einzelveröffentlichungen ( u . a . Müller-Tochtermann 1959) und nach der Mannheimer Tagung des Instituts für deutsche Sprache 1977, deren R e f e r a t e im Jahrbuch des Instituts (Mentrup 1978: 100 ff) veröffentlicht wurden, konnte insbesondere das Kolloquium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ("Der ö f f e n t l i c h e Sprachgebrauch" 1981) im Rahmen ihres Sprachnormenprojekts zu einer Vertiefung der Reflexion beitragen. Des weiteren nahm sich die sich entwikkelnde Gesetzgebungslehre (vgl. Schulz v. Thun 1976: 432 ff) der Problematik an, wobei sie von den teilweise älteren Bestrebungen in Osterreich (Schönherr 1985} und der Schweiz (Fleiner-Gerster 1982: 493 ff) profitieren konnte. Eindrucksvoll war insbesondere das interdisziplinäre Projekt "Bürgernahe Gesetzestexte in Niederösterreich" (Dokumentation 1983).

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Erfolge in der Praxis der Gesetzgebung stehen allerdings nach wie vor aus. Viel wäre schon gewonnen, wenn - wie eine Mitarbeiterin im Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache beim Deutschen Bundestag formuliert hat - der Gesetzgeber, der sein mangelndes Sprachvermögen gern mit der Komplexität der Materie zu entschuldigen p f l e g t , wenigstens prüfen würde, ob die Materie wirklich komplex ist und deshalb unbedingt eine komplizierte Ausdrucksweise verlangt. Gegenwärtig kann leider der Feststellung nicht widersprochen werden, daß "der Gesetzgeber das Instrumentarium seiner Fachsprache absolut setzt", sich dieser also auch dort bedient, wo dies nicht nötig ist (Joisten 1981: 147). Verglichen mit der lebhaften Diskussion um die Sprache des Gesetzes bewegt sich die Diskussion über die Fachsprachlichkeit der in der Rechtspraxis verwendeten juristischen Texte in sehr viel ruhigeren Bahnen. Bemerkenswerte Ergebnisse konnten in der Diskussion über die Gestaltung der Vordrucke erzielt werden. Wenn die von zahlreichen Autoren ( z . B . Grosse/Mentrup 1980; Stickel 1983: 152 ff) gegebenen Anregungen befolgt würden, hätte der Rezipient weit weniger Schwierigkeiten als heute, den Text zu verstehen. In der Verwaltung ist allerdings die Beamtengruppe des gehobenen Dienstes, die die Hauptlast der Verwaltungsarbeit trägt, nur wenig von der Diskussion um die Fachsprachlichkeit ihrer Texte berührt worden. Die bürokratische Ver- und Überformung, die die juristische Fachsprache in den Behörden e r f ä h r t , kommt weder der Sprachqualität zugute, noch macht sie die Texte für den Bürger verständlicher. Ahnliche Probleme ergeben sich bei der Kommunikation zwischen Juristen und Bürgern im Bereich der Justiz. Auch hier spielen Vordrucke eine wichtige Rolle. Als Kernstücke juristischer Textproduktion im Justizbereich gelten zu Recht das (gerichtliche) Urteil und die (staatsanwaltliche) Anklageschrift oder Einstellungsverfügung. Der Schriftverkehr des

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Gerichts ist jedoch weit umfassender. So macht z . B . im Zivilprozeß die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, in der das Gericht die Sache mit den Verfahrensbeteiligten (Parteien, Prozeßbevollmächtigten, Zeugen, Sachverständigen, Angeklagten, Verteidigern) erörtert, häufig mehr oder weniger umfangreiche Schreiben des Gerichts erforderlich, die der Erläuterung der Rechtslage und der Beschaffung von Informationen dienen.

2. Im folgenden soll ein solcher Text unter dem Gesichtspunkt untersucht werden, inwiefern die Fachsprachlichkeit das Verständnis erschwert, und was getan werden kann, um die bestehenden Verständnisbarrieren ganz oder teilweise zu beseitigen. Amtsgericht ... Az. ... Auflaqenbeschluß I. Der Kläger mag angesichts der Einlassung der Beklagten seinen Anspruch schlüssig machen und substantiiert darlegen, weshalb die Beklagte passiv legitimiert ist. Ihm wird aufgegeben, den Kaufvertrag vorzulegen. II. Der Beklagten wird aufgegeben, unter Beweisantritt vereinzelt darzulegen, welche Mängel der Wagen aufweist. III. Soweit die Beklagte gegen den Kaufpreisanspruch des Klägers mit einer Gegenforderung aufrechnet, muß sie vereinzelt darlegen, daß die Voraussetzungen für die Aufrechnung (Beiderseitigkeit der Forderungen, Fälligkeit, Nichtbestehen einer Einrede) gegeben sind. Hat der Ehemann der Beklagten das Geld dem Kläger als Darlehen gegeben? IV.

Frist zur Erledigung: 3 Wochen nach Zugang des Beschlusses.

3. Der Text ist Akten eines Zivilprozesses vor dem Amtsgericht entnommen, also einem Verfahren, in dem das Gericht über Streitigkeiten zwischen Privatleuten entscheiden soll und eine Vertretung durch professionelle

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Rechtsberater - die Rechtsanwälte - nicht vorgeschrieben ist. Der Kläger betreibt einen Handel mit Kraftfahrzeugen und verlangt von der verklagten Lehrerin den restlichen Kaufpreis für einen K r a f t w a g e n , den er ihr verkauft h a t . Die Lehrerin verteidigt sich damit, daß nicht sie, sondern ihr inzwischen verstorbener Ehemann den Wagen gekauft und dem Kläger 10.000 DM für die Erweiterung seines Geschäfts zur Verfügung gestellt habe. Außerdem weise der Wagen verschiedene Mängel a u f . Da für unsere Betrachtung allein die sprachliche Fassung des Textes von Interesse ist, kann auf die Darstellung des Streites im einzelnen verzichtet werden. Aus eben diesem Grund wird auch von einer juristischen Prüfung und Kritik des Inhalts des Beschlusses abgesehen. Bei dem Beschluß handelt es sich um eine Maßnahme des Gerichts, die der Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung dient, in der das Gericht die Sache mit den Parteien erörtern will. Das Gericht bezeichnet in dem Beschluß klärungsbedürftige Punkte und fordert die Parteien zur Ergänzung ihres Vorbringens und zur Vorlegung von Urkunden a u f . Die Fachsprachlichkeit macht sich in diesem Text schon in der Überschrift Auflagenbeschluß und in der Bezeichnung der Parteien als Kläger und Beklagte bemerkbar. Für die Adressaten der Anordnungen ist die Überschrift ohne Bedeutung; sie zeigt nur, unter welchen prozessualen Begriff der Richter das Schreiben an die Parteien ordnet. Da sie die Empfänger jedoch verunsichern kann, sollte man sie besser fortlassen. Die Bezeichnung der Parteien als Kläger und als Beklagte verdeutlicht die unterschiedlichen Rollen, die die Parteien in der sozialen Institution "Zivilprozeß" einnehmen. Die Unpersönlichkeit der Bezeichnungen ist also systemgemäß. Verständnisschwierigkeiten können sich insbesondere dann ergeben, wenn auf jeder oder auf einer Seite nicht bloß eine Person, sondern mehrere Personen beteiligt sind. Man spricht

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dann von dem Kläger zu l, zu 2 usw. und verwendet diese Ordnungsziffern erforderlichenfalls auch bei den Beklagten. Ohne Frage ist es in diesen Fällen zweckmäßig und geboten, die Namen anzufügen, also von den Klägern Müller, Meier, Schulze usw. zu sprechen und zu schreiben, die Rollenbezeichnung also personal zu ergänzen. Leider beläßt man es im übrigen bei der abstrakten Rollenbezeichnung, obwohl das Hinzufügen des Namens den Text persönlicher und damit menschlicher machen würde. Eine sprachliche Feinheit ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Der Kläger, der gegen einen anderen Klage erhebt, beklagt diesen nicht, sondern verklagt ihn. Die Bezeichnung Beklagter ist - streng genommen - falsch. In der DDR hat man daraus die Folgerung gezogen und die Rollenbezeichnung Verklagter eingeführt. In der Bundesrepublik ist es jedoch wohl deshalb, weil kaum jemand daran jemals Anstoß genommen hat, bei der herkömmlichen Bezeichnung geblieben. Fachsprachliche Ausdrücke werden in dem Beschluß in großem Maße gebraucht. Wenden wir uns zunächst dem Teil I zu, so ist folgendes zu bemerken: Der altertümliche Terminus Einlassung ist kein fachsprachlicher Ausdruck im eigentlichen Sinne; er gehört zum Juristenjargon kraft Tradition. Wie Tests gezeigt haben, ist er Laien nicht mehr verständlich, obwohl er in der Justiz - insbesondere im Strafverfahren noch immer gern benutzt wird. Ausgesprochene Fachtermini im ersten Teil des Beschlusses sind die Worte schlüssig und substantiiert, ferner das Wort Anspruch und passiv legitimiert. Das Fachwort Anspruch bedeutet juristisch, daß jemand das Recht h a t , von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (§ 194 Abs. l BGB) . Das Wort hat aber auch in die Umgangssprache Eingang gefunden und gilt deshalb als allgemeinverständlich.

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Von den Worten schlüssig und substantiiert kann man das allerdings beim besten Willen nicht behaupten. Beide haben einen ganz bestimmten Sinn und Stellenwert in der Technik juristischer Arbeit. Schlüssig ist das Vorbringen einer Partei dann, "wenn diese Tatsachen behauptet, die in Verbindung mit einem bestimmten Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, den Anspruch als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen" (Entscheidungen des Reichsgerichts Band 143 S. 57, 6 5 ) . Fachsprachliche Begriffe dieser Art haben ihren Platz in dem Gutachten, das der Berichterstatter vor der Beratung der Sache a n f e r t i g t ; sie dienen der Verständigung zwischen Juristen. Der Bürger, der mit einem solchen Begriff konfrontiert wird, kann dagegen damit nichts anfangen; er spricht zu Recht vom "Kauderwelsch der Juristen". Das Wort substantiieren entstammt der Philosophie; es bedeutet, etwas als Substanz unterlegen, im weiteren Sinne: etwas begründen. Der Jurist versteht darunter die Ausfüllung eines Vorbringens durch das Anführen konkreter Tatsachen. Der Richter wünscht also von der verklagten Lehrerin die Angabe konkreter Tatsachen. Leider hat er sich nicht so schlicht ausgedrückt. Zusätzlich erschwert hat er das Verständnis noch dadurch, daß er auch das, was die Partei gemäß seiner Aufforderung nun begründen soll, nicht umgangssprachlich bezeichnet, sondern fachsprachlich: als Passivlegitimation. Ich habe noch keinen Laien getroffen, der mir hätte sagen können, was unter passiv legitimiert zu verstehen ist. Der terminus technicus zielt auf die sogenannte Sachberechtigung (Aktivlegitimation) oder Sachverpflichtung (Passivlegitimation) . Hier geht es um das letztere, nämlich darum, ob sich der vom Kläger geltend gemachte Anspruch gegen die Beklagte und nicht etwa gegen einen anderen richtet. Da es für das Gericht ein Leichtes gewesen wäre, sich in dieser Weise und damit für die Rezipientin verständlich auszudrücken, ist es besonders bedauerlich, daß dem Richter die Sensibilität dafür fehlte, welche Verständnisbarrieren er durch die Art

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und Weise, wie er den Text a b f a ß t e , errichtete.

Schließlich ist auf die feine Unterscheidung aufmerksam zu machen, die darin liegt, daß im ersten Satz des Teils I das Wort mag und im zweiten Satz das Wort aufgegeben verwendet wird. Das Wort mag stellt es in das Ermessen des Rezipienten, ob er das ihm Angesonnene tun will oder nicht, während das aufgegeben eine Aufforderung bedeutet. Der unterschiedlichen Wortwahl liegen juristische Erwägungen zugrunde. Im ersten Fall handelt es sich um eine bloße prozessuale Last der Partei, keine Pflicht, im zweiten Fall soll dagegen zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich um eine prozessuale Verpflichtung der Partei handelt. Allerdings lesen die Parteien meist den Text nicht so sorgfältig, wie der Textverfasser bei seiner Unterscheidung vorausgesetzt hat. Fachsprachlichkeit dominiert auch in den Teilen II und III unseres Beschlusses. Bei der Aufforderung zum Beueisantritt weiß der Rechtsanwalt, was von ihm erwartet wird, nicht aber der rechtsuchende Bürger. Eine fachspezifische Ausdrucksweise benutzt das Gericht auch, wenn es von der Beklagten verlangt, die Mängel an dem gekauften Fahrzeug vereinzelt darzulegen. Vereinzelt darlegen soll die Verdeutschung des Wortes substantiieren sein; das deutsche Wort ist aber ebenso unverständlich wie das Fremdwort. Aufrechnung ist ein Rechtsinstitut: Fachsprachliche Begriffe werden auch verwendet, um der Beklagten mitzuteilen, was das Gericht von ihr über die Hingabe des Geldes an den Kläger wissen will: Beiderseitigkeit der Forderungen, Fälligkeit der Forderung, mit der die Beklagte aufrechnen will, Nichtbestehen einer Einrede. Auch der Gebrauch des Wortes Darlehen ist in dem Zusammenhang des Textes als fachsprachlich zu qualifizieren. Sicherlich gehört das Wort als solches zur Umgangssprache, ebenso wie etwa das Wort Kaufvertrag. Das Gericht fragt jedoch nicht nach den tatsächlichen Umständen der Hingabe des Geldes, sondern nach der rechtlichen Einordnung des Aktes.

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Die Frage benutzt also das Wort

Darlehen

im rechtstechni-

schen Sinn.

Allein der abschließende vierte Teil des Beschlusses, in dem das Gericht zur Erfüllung seiner Auflagen eine Frist von drei Wochen setzt, ist allgemeinverständlich. Das Wort Zugang bedeutet, daß das Schriftstück in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangt sein m u ß . Es ist ein rechtlicher B e g r i f f , gehört aber auch der Umgangssprache an, die es in eben dem Sinn verwendet wie die Rechtssprache.

4. Zur Ehrenrettung der Rechtspflege in der Bundesrepublik kann gesagt werden, daß Auflagenbeschlüsse, in denen sich fachsprachliche Ausdrücke in einem solchen Ausmaß wie in unserem Fall häufen, selten vorkommen. Immerhin kommen sie vor, und die Durchsicht von Akten fördert immer wieder gerichtliche Hinweise an die Parteien - sog. prozeßleitende Verfügungen - zutage, die ihr Ziel verfehlen, weil sie fachsprachlich abgefaßt sind. Auf diese Weise errichten Richter Hindernisse, die dem richtigen Verständnis des Textes entgegenstehen und es dem Rezipienten erschweren, die Auflagen sachgerecht zu erfüllen. Hinzu kommt, daß in der Bundesrepublik den Richter k r a f t Verfassungsrechts die Verpflichtung t r i f f t , das Verfahren durchschaubar zu machen und die Kommunikation mit dem Rechtsuchenden so zu gestalten, daß dieser die ihm vom Verfahrensrecht gebotenen Einflußchancen auch tatsächlich wahrnehmen kann. Es muß bezweifelt werden, daß der Anspruch des Bürgers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. l GG) erfüllt ist, wenn das Gericht den daraus resultierenden Verpflichtungen zwar formal nachkommt, aber die Texte so a b f a ß t , daß der der Rechtssprache unkundige Bürger sie nicht versteht. Daß es sich um eine Bringschuld handelt, wenn die Verständlichkeit von Texten geschuldet wird, steht außer Frage. Angesichts der klaren sozialen Asymmetrie bei der Kommunikation in der

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Institution Gerichtsverfahren besteht jedoch Anlaß, auf die Dringlichkeit hinzuweisen, mit der die Einlösung der Verpflichtung gefordert werden m u ß . Rechtspflege ist an Kommunikation gebunden, die Sprache ist das Medium, mit dem die Informationen übermittelt werden. Es verhält sich bei der Justiz kaum anders als in den anderen Institutionen: überall in den verschiedenen Berufswelten haben die spezialisierten Kenntnisse zu besonderen Sprachen geführt. Zieht man in Betracht, daß sowohl das Zivilrecht als auch das Zivilverfahrensrecht stark vom römischen Recht geprägt sind, so wird evident, welch eine lange Geschichte die juristische Fachsprache hat. Ahnliches gilt für die Kommunikationstechniken, die Teil der beruflichen Arbeit des Richters sind. Beides - die Spezialisierung der Sprache wie die der Kommunikationstechniken - formt die juristische Profession. Sprachgebrauch entsteht durch Sozialisation. Wer seine Ausbildung abgeschlossen hat, hat die juristische Terminologie verinnerlicht. "Bisher lernt der Student am deutlichsten durch sprachliche Anpassung. Würde er nicht besser durch Sprachkritik lernen? Anfangs wäre für ihn die Barriere nicht so hoch, und später könnte er rechtliche Sachverhalte auch in verständlicher Sprache denken" (Paul 1983: 133). Gelänge es in der Ausbildung, die tradierten Sprachmuster aufzubrechen, lernten die Studenten, den Inhalt des Gelernten gemeinverständlich mitzuteilen, so hätte man es leichter. Die Aussichten, in dieser Weise die kommunikative Kompetenz der angehenden Juristen zu schulen, sind jedoch nicht eben groß. Wer nicht resignieren will, ist daher darauf verwiesen, in der beruflichen Praxis gegen den institutionellen Sprachgebrauch anzukämpfen und für Problembewußtsein zu sorgen. Sensibilität für die Problematik der Fachsprachlichkeit allein genügt freilich nicht. Auf e f f e k t i v e Fortschritte kommt es an. Darauf lassen sowohl die Anstrengungen in der Lingui-

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stik und in der Kommunikationswissenschaft als auch die Bemühungen in der Justiz selbst h o f f e n . Es hat sich gezeigt, daß die Verständlichkeitsproblematik in der Zusammenarbeit von Juristen praktisch lösbar ist. Der erste Schritt eines wissenschaftlich angeleiteten Erfahrungslernens ist die Unterscheidung zwischen der juristischen Fachsprachlichkeit und solchen Ausdrucksweisen, die nicht fachsprachlich bedingt sind, sondern aus dem obrigkeitlichen Kanzleistil {"Amts-, Behördendeutsch") stammen, also zum historisch gewachsenen Jargon der Rechtsberufe gehören. Von diesen Residuen der Vergangenheit sollte der Abschied auch dann nicht schwerfallen, wenn es dem Textverfasser persönlich ein Vergnügen ist, sich in altertümlichen Sprechweisen auszudrükken. Nichts anderes gilt für den spezifisch bürokratischen Jargon, den die Justiz mit der Verwaltung und anderen bürokratischen Organisationen teilt. Die Entschlackung der Justizsprache und die Hinwendung zu der insbesondere von den Sprachgesellschaften immer wieder geforderten "einfachen und zweckmäßigen Sprache" ist das Ziel dieser Bestrebungen. Der zweite Lernschritt gilt dann der Fachsprachlichkeit der Texte im eigentlichen Sinne. Es kann nicht darum gehen, den allgemeinen Verzicht auf Fachsprachlichkeit zu predigen oder die Rechtssprache zu verketzern. Ihre Notwendigkeit steht außer Frage, und im Verkehr der Juristen untereinander unterliegt der Gebrauch der Fachsprache keinen Bedenken. Im Verkehr mit dem rechtsuchenden Bürger - gleichviel, ob er durch einen Rechtsanwalt vertreten ist oder nicht - ist es doch notwendig, die Verständnisbarriere abzutragen, die der Gebrauch der Fachsprache bildet. Entscheidend für das Vorgehen ist dabei die Prüfung, ob der Gebrauch fachsprachlicher Ausdrücke wirklich notwendig ist. Juristische Ausdrücke, die nicht zum notwendigen fachsprachlichen Bestand gehören, sind durch gemeinsprachliche Ausdrucke zu ersetzen.

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Wie der abgedruckte Text zeigt, ist dies in vielen Fällen möglich. Den Ausdruck "passiv legitimiert" in Teil I des Beschlusses z . B . hätte das Gericht ohne weiteres umgangssprachlich wiedergeben können, etwa mit der Aufforderung an den Kläger, konkrete Tatsachen anzugeben, aus denen sich ergibt, daß sich der Kaufpreisanspruch gegen die Beklagte richtet. Natürlich gibt es auch fachsprachliche Ausdrücke, auf die nicht verzichtet werden kann, wenngleich deren Zahl wesentlich geringer ist, als meist angenommen wird. Diese Ausdrükke sind zu erklären, zu erläutern oder mit einer verdeutlichenden Umschreibung zu versehen (so auch Kallmeyer 1983: 195) . Es handelt sich damit um die Anwendung der Methode, mit der auch geübte Redner verfahren, wenn sie vor einem Publikum sprechen, das sowohl aus Experten als auch Laien zusammengesetzt ist. Der Textgestalter hat die Wahl, für welche Methode er sich entschließt. Schließlich tritt im Interesse des Verständigungserfolges an den textgestaltenden Richter die Anforderung heran, bei der Abfassung des Textes zu beachten, an wen der Text konkret gerichtet ist. Früher pflegte sich der Richter keine Gedanken über die Verstehenserfordernisse seines Textes zu machen. Ebensowenig bildete er sich bei der Textgestaltung Vorstellungen über die Verstehenskompetenz des Rezipienten. Das Absehen von der konkreten Person des Rezipienten entsprach der Abstraktheit seines Denkens; er sah den Menschen nicht in seiner konkreten Beschaffenheit, sondern allein in seiner Rolle. Heute ist unter dem Gesichtspunkt des sozialen Rechtsstaats zu verlangen, daß der Textverfasser bei der Textgestaltung wie bei der Formulierung seine Aufmerksamkeit darauf richtet, ob der Adressat des Textes auch in der Lage ist, den Text zu verstehen. Soweit sich aus dem Inhalt der Akten Schlüsse auf die Kompetenz der Verfahrensbeteiligten ziehen lassen, hat der Richter diese zu beachten. Empirische

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Grenzen zieht freilich die Arbeitsökonomie. Nach der Verstehenskompetenz braucht der Richter nicht etwa durch Anfragen zu forschen oder auf andere Weise Ermittlungen anzustellen. Ebensowenig kann von ihm verlangt werden, daß er bei der Abfassung seiner Texte der etwa unterdurchschnittlichen Intelligenz des Adressaten und dessen fehlender Schulbildung Rechnung trägt. Als Orientierungspunkt müßte vielmehr ein Bürger von jenem Zuschnitt dienen, den Suarez, der große preußische Rechtsreformer, 1793 in seinem "Unterricht für das Volk über die Gesetze" als Staatsbürger umschrieben hat, "die ohne eigentlich gelehrte Erziehung durch einen gewöhnlich guten Schulunterricht zum Nachdenken einigermaßen vorbereitet ... und fähig sind, allgemeine Wahrheiten und Grundsätze, wenn sie in der leichten Sprache des täglichen Umgangs ohne wissenschaftliche Einkleidung vorgetragen werden, zu begreifen und einzusehen." (Suarez 1948: 7). Für die Gegenwart ist ganz ähnlich vorgeschlagen worden, bei der Fassung eines gerichtlichen Schriftstücks auf den Horizont des Lesers allgemeiner Tageszeitungen abzustellen (Nichterlein 1982: 2 4 6 ) .

5. Mit diesen Hinweisen ist eine institutionelle Strategie abgesteckt, die seit der mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalteten interdisziplinären Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar (zu deren Inhalten und Ergebnissen s. Wassermann/Petersen, Hgg. 1983} in weiten Bereichen der Justiz an Terrain gewonnen hat. Daß es sich um erste Versuche handelt, mit denen sich die Justiz in die Zukunft vorantastet, hat die Darstellung ergeben. Stimulierend d a f ü r , daß die Versuche unternommen wurden und weiter fortgesetzt werden, war und ist die Erwägung, daß es besser ist, eine Kerze anzuzünden als in der Dunkelheit zu verharren. Die Hoffnung, weiter voranzukommen - also mehr Helligkeit zu verbreiten -, ist mit der Erwartung verknüpft, daß vermehrte sprachwissen-

72

schaftliche und sprachkritische Beratung den Juristen helfen könnte, gerichtliche Texte verständlicher zu fassen. Auf diese Weise würde nicht zuletzt ein Versprechen eingelöst, das sich mit dem Namen der Demokratie verbindet.

73

Literatur

Amt

der Niederösterreichischen Landesregierung (Hrsg.). 1983. Bürgernahe Gesetzestexte in Niederösterreich. Ein interdisziplinäres Projekt. Dokumentation. Wien. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt). 1980. Der öffentliche Sprachgebrauch. Bd.l: Die Sprachnorm-Diskussion in Presse, Hörfunk und Fernsehen. Stuttgart. 1981. Der öffentliche Sprachgebrauch. Bd.2: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung. Stuttgart. Dolle, H. 1949. Vom Stil der Rechtssprache. Tübingen. Fleiner, Th. 1982. Wie kann man einfache und verständliche Gesetze schreiben? In: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. Festschrift für Kurt Eichengerber. Basel und Frankfurt am Main. Gierke, O.v. 1889. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzesbuches und das deutsche Recht. Leipzig. Grosse, S., W. Mentrup. ( H r s g . ) . 1980. Bürger - Formulare Behörde. Wissenschaftliche Arbeitstagung zum Kommunikationsmittel "Formular" im Oktober 1979. Tübingen. Joisten, Ch. 1981. Schwierigkeiten mit der Gesetzessprache. In: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung (Der öffentliche Sprachgebrauch, Bd. 2 ) . Stuttgart. Menger, A. 1908. Das Recht und die besitzlosen Volksklassen. Tübingen. Mentrup. W. ( H r s g . ) . 1979. Fachsprachen und Gemeinsprache. Jahrbuch 1978 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. Müller-Tochtermann, H. 1959. Struktur der deutschen Rechtssprache. In: Muttersprache 69, 1959. Nichterlein, R. 1982. Recht und Sprache. Versuch einer Verbesserung der richterlichen Schriftsprache im Zivilprozeß. Deutsche Richterzeitung 1982, 242 ff. Paul, L. 1983. Sprachkritik in der Juristenausbildung. In: Wassermann, R . , J. Petersen ( H r s g . ) . Recht und Sprache, Heidelberg, 115 ff. Radbruch, G. 1973. Rechtsphilosophie. Stuttgart. Schönherr, F. 1985. Sprache und Recht, herausgegeben, von W. Barfuß. Wien. Schulz von Thun, F. 1976. Können Gesetzestexte verständlicher formuliert werden? In: Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, herausgegeben von Rödig, J. Berlin, Heidelberg und New York. Stickel, G. 1981. Bei den kommunikativen Bedingungen und dem Sprachgebrauch der Behördenvordrucke nachgefaßt. In: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung (Der öffentliche Sprachgebrauch, Bd. 2 ) . Stuttgart. Suarez, C. G. 1793. Unterricht über die Gesetze für die Einwohner der Preußischen Staaten (mit Christoph Goßler), Berlin. Gekürzte Neuausgabe bei Erik Wolf.

74

1948. Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 1 8 3 . f f . Wassermann, R . , J. Petersen ( H r s g . ) . 1983. Recht und Sprache. Heidelberg.

75

ZUR KONTRASTIVEN DEUTUNG DYSGRAMMATISCHER SYSTEME

Günter Peuser

In seinem A u f s a t z

'Der Linguist

als

Gutachter bei Gericht'

unterscheidet KNIFFKA (1981:589) zwei Klassen linguistischer Gutachten: (1)

Gutachten, die die Analyse und Bewertung einer erfolgten sprachlichen Äußerung b e t r e f f e n (Frage: Wie ist Sprachgebrauch zu verstehen?)

(2)

Gutachten,

die

sprachlichen

die

Ermittlung

Äußerung

(eines

der

Textes

k u n f t ) b e t r e f f e n (Frage: Wer hat kommt als Autor in F r a g e ? ) . Beide

Begutachtungsformen

Autorschaft

sprachlicher

Text

einer

unbekannter

Her-

v e r f a ß t bzw.

Äußerungen

spielen

auch in der Patholinguistik eine zentrale Rolle. Hierbei ist die zweite Begutachtungs- oder Diagnoseform, d.h.

die

zwischen ähnlichen

Störungsformen

unterscheidende

D i f f e r e n t i a l d i a g n o s t i k , am weitesten entwickelt. Wir werden deshalb im folgenden ihre Anwendung anhand der kontrastiven Analyse dysgrammatischer Texte demonstrieren. Doch

zunächst einige Bemerkungen

zur

Situation

desjenigen

Teilgebietes der Angewandten Sprachwissenschaft, für das wir 1978 in Anlehnung an GREWEL den Terminus 'Patholinguistik 1 vorschlugen. Das heutige Spektrum patholinguistischer Aktivitäten zeigt, daß der von mir 1978 vorgeschlagene Bereich des neuen Tätigkeitsfeldes nicht zu kühn w a r .

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43

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77

Der heutige Stand der Patholinguistik Nach diesem Konzept umfaßt Patholinguistik die Diagnose und Therapie zentraler wie peripherer, neurogener wie psychogener Störungen des Spracherwerbs und Sprachbesitzes und reicht damit über das vom Terminus "Neurolinguistik" abgesteckte Gebiet der neurogenen Sprachstörungen hinaus. Bereits heute, d.h. ca. 20 Jahre nachdem sich die Patholinguistik als linguistische Disziplin zu formieren begann, besteht kein Zweifel mehr, daß die Hoffnung der Allgemeinen Sprachwissenschaft, von der Patholinguistik Antwort auf von ihr nicht zu lösende Fragen und externe Evidenz für konkurrierende Theorien und Modelle zu erhalten, berechtigt ist. Es wäre verfrüht, aus der Tatsache, daß die Patholinguistik bislang zur interdisziplinären Diskussion der Gesetzmäßigkeiten der Sprache weniger durch eigene Modellbildung als durch die Anwendung und Überprüfung von Modellen der Systemund Psycholinguistik beigetragen h a t 1 , zu folgern, "daß die Allgemeine Linguistik die Neurolinguistik befruchten kann, daß sie aber von dort nur wenige Impulse empfangen wird" (POECK 1981:97 f . ) . Denn die bisherigen Ergebnisse der psycho- und patholinguistischen Fehlerforschung lassen keinen Zweifel an der deskriptiven Adäquatheit linguistischer Kategorien (FROMKIN 1971, PEUSER 1978) und widerlegen damit die Befürchung, daß der aphatische Sprachabbau nicht sprachinternen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten folge, sondern lediglich "ein Artefakt der zerebralen Gefäß Versorgung" sei (POECK 1981:103). Darüberhinaus beweist der bemerkenswerte Aufschwung der linguistisch inspirierten Sprachdiagnostik und Sprachtherapie Zum methodischen Zirkel zwischen systematischer und angewandter Sprachwissenschaft s. PEUSER 1981.

78

die grundsätzliche Richtigkeit des von JAKOBSON (1941) und KAINZ (1969) gewiesenen Weges und berechtigt zu der Hoffnung, daß eine differenzierte Interpretation sprachpathologischer Phänomene Aufschluß über Bau und Funktion der Normalsprache geben und damit die Patholinguistik einen eigenen Beitrag zur linguistischen Modellbildung leisten kann. Obwohl das von mir 1978 proklamierte Ziel, das gesamte Gebiet der in Abb. l dargestellten Sprachstörungen anhand von kontrastiven Falldarstellungen (s. dazu PEUSER 1987) aufzuarbeiten noch längst nicht erreicht ist, so sind doch zumindest für den Bereich der zentralen Sprachstörungen beachtliche Fortschritte zu verzeichnen. So entstanden etwa in dem "Aachener Aphasietest" (HUBER et al. 1983) und den "Sprachübungen zur Aphasiebehandlung" (ENGL et al. 1989) linguistisch konzipierte und strukturierte Test- bzw. Therapieprogramme für eine der wichtigsten zentralen Sprachstörungen. Auf dem Gebiet der aphasiebegleitenden Schreib- und Lesestörungen, d. h. der Agraphien und Alexien, konnte die linguistisch inspirierte Feindiagnostik zur Differenzierung von sogen. Oberflächen- und Tiefenalexien fortschreiten (de LANGEN 1983) . Schließlich stellt die vergleichende neurolinguistische Studie von BLANKEN (1986) einen differentialdiagnostischen Brückenschlag zwischen seniler Demenz und Aphasie dar. Zur Methodik derartiger differentialdiagnostisch-kontrastiver Fallstudien schrieben wir anläßlich der kontrastiven Analyse von Jargonaphasie und Schizophasie (PEUSER 1987:216):

79

"Modern patholinguistic discussion, as reflected in the articles in Brain and Language, is not given to vast synoptic summaries of deviant language phenomena as represented by the monumental work of KAINZ (1969) but, more modestly, prefers to analyse and to compare individual cases or selected types of language disorder. One may therefore say that contrastive analysis is at the very core of patholinguistic methodology, whether it be the study of aphasia in different languages or the differential diagnosis of similar forms of deviant speech in one and the same language."

Wenn wir oben schrieben, daß die ähnliche Störungsformen differenzierende Diagnostik am weitesten entwickelt ist, dann liegt das zum einen daran, daß die von der Systemlinguistik bereitgestellten Methoden der Phonem-, Morphem- und Satzanalyse hier am besten greifen, zum anderen hat es historische Gründe. Bereits vor der Zusammenarbeit von Neurologen und Linguisten spielte die - in der Regel von Medizinern durchgeführte Sprachdiagnostik in der Medizin eine zentrale Rolle. Denn vor der Einführung der diversen radiologischen und elektronischen Methoden zur Darstellung des Hirns und seines Gefäßsystems war neben den somatologischen Indizien (motorische Ausfälle und Lähmungserscheinungen) das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer zentralen Sprachstörung der einzige Hinweis auf die Lokalisation eines Hirnschadens. Aus dieser Schlüsselstellung wurde die sprachliche Differentialdiagnose durch die in immer rasanterem Tempo sich entwickelnde computergestützte Hirndiagnostik längst verdrängt. Dennoch ist sie nicht nutzlos geworden, sondern dient nunmehr der Planung und Kontrolle einer linguistisch strukturierten Sprachtherapie.

80

Unterschiedliche Formen abweichender Satzbildung Abweichende Satzbildung, sogenannter Dysgrammatismus, ist ein Kernsymptom ätiologisch unterschiedlicher Störungen des Spracherwerbs und Sprachbesitzes. Wir kontrastieren deshalb nachstehend die Sprachproben zweier Aphatiker mit derjenigen eines Hörgeschädigten. Um eine möglichst große Übereinstimmung der Sprachproben zu gewährleisten, wählen wir thematisch und situativ übereinstimmende Texte provozierter Spontansprache. Hierbei werden die Probanden (E) aufgefordert, dem als Zuhörer fungierenden Versuchsleiter (Z) das Märchen vom Rotkäppchen zu erzählen. (Die Verwendung dieses Märchentextes hat in der Patholinguistik bereits eine gewisse Tradition, s. TISSOT et al. 1973; PEUSER 1978, 1983). Um eine etwaige unterschiedliche Vertrautheit mit dem Erzählgegenstand auszugleichen, wurden den Probanden vor der Erzählung 6 Farbdias mit Schlüsselszenen des Märchens gezeigt. Text l, sensorische Aphasie, weibl., 70, Hausfrau E; Da geht so'n Mädchen zu seinem Mann und sagte geb der Großmutter und gang die der an Wein und alles Cfv'zv**«^» war die greet , da/die gehend aber schön/nach Hause ne?/ dann war das Mädchen unter/froh da gab der Doktor/Doktor 0,5 ja*/nee Doktor heißt das nicht/doch/äh (xxx) wie heißt das denn?/ähm/ähm/ ·*// -3'f /nee?/nee auch nicht doch?// eine w Wolf kommt nun/er sagt zu dem Mädchen auch/sagt 1,0 die noch so fort nach der Großmutter* gehen noch an Blumen sowas/gehen das Mädchen ging zu Hause macht sehr schöne Blusen zum zum (xxx) und da geht da der/wie heifit das? Wald? geht'se nach Hause zu dem Großmutter/und ... fertig nicht? dann, ging der VJfbn da noch zu der Groß1,5 mutter* und sagte "au!" zusammen sie ähäh essen ähäh die Großmutter geht denn einen zusammen/essen//ja/dann bringt das Mädchen später nach Hause Blumen und alles und da 2,0 sagt sie "bitte Großmutter* wie siehst du komisch aus?" wir haben das Haar und zusammen und sowas und den Mund überhaupt nicht/ich kenn sie garnicht!" und da kam der J.n/macht das Mädchen auch schon/zusammen/ins Bett/zum Essen// 2 , 5 dann sagte der Doktor/der Mund ( x x x ) * macht'se zu Hause allein/überhaupt/im Bett/zum Schlafen//dann gingen der/ hz'dsfff zu/ 43fftr /ne?/gehen nach Hause und sagte "was/der kann das da?"/und da kriegt er die Schere/macht sie auf/und da geht der Großmutter und das Mädchen zu

81

3,0 3,5

4,0 4,5

Hause*/die brachten überhaupt 'ne Schere/und macht sie/ zusammen zusammen/sie gehen/der/Doktor macht es viel ahm ahm wie heißen?/ähm/die machten viele/viele/ (xxx) macht macht sie dann* (lacht) äh QS-'^r /Geld nee! auch nicht/ ich muß mal gucken/ so tin trinken so (im Tonfall eines kommentierenden 'Beiseite Sprechens') muß ich auch nehmen/ dann kann ich das viel besser/sagen sie trinken sowas/und dann macht er soviel//und machte er fort i/und sie bleiben vor sie/hm/zusammen/* machen/sie die £ro;/$ und Mädchen zusammen/dann gehte er noch ahm totmachen/und da sagt sie viele/zusammen/Geld/nee/Geld nicht ahm/wie heißt das?/um den/war er unten drin/und da ging der Vater zu Hause* zusammen zusammen essen zum Kaufen/zum/zum Wein/und zusammen fertig///

Text 2, motorische Aphasie, m ä n n l . , 36, Postbeamter

0,5 1,0 1,5 2,0 2,5

3,0

3,5 4,0

E: Ja äh/die Frau und das Kind äh/äh/äh/hören aber äh/äh/ äh/nai äh//das ah äh die Frau äh* na i äh das Kind äh niemand äh niemand äh äh weg äh äh/wegnehmen und dann äh/und dann äh/niemand gehen nicht?/und dann äh/äh/äh/ Topfkuchen und und ah/Flasche Wein äh/* äh//gehen aber/ eilen/das Kind/nicht?/ja und äh//äh//das Kind und äh äh/der Hund äh/* der Hund äh//na!/äh// Z: der Wolf nicht? E: das der Wolf ja äh/der Wolf äh/äh//(stöhnt unwillig) der Wolf und an/das Kind äh/die r4den gesanunen nicht?/* Z: ja ist richtig/ E: ja äh/der/äh/Hund nein/Wolf/und äh/die/Frau/äh// ge gessen/ja und dann äh/äh/das Kind und* äh/der Wolf äh/äh/ der Wolf äh/die Flasche, äh/äh// Z: der Wolf liegt im.../ E: dem/äh/Bett!/ Z: genau! richtig!/ E: und äh äh/der Wolf/auchi äh ge/gessen also/das Kind und die Frau/äh/so/runter/nicht?/ Z: ah ja! richtig!/ E: und dann ja äh/der Förster/äh äh/da s Kind und* äh/die Frau äh/springen! äh äh/springen! und dann äh/äh/äh/und dann äh/großes äh äh/äh/ Z: Loch oder?/ E: ja äh äh/Stein!/ein Stein/ Z: richtig ja/sehr schön/ E: ein Stein/nee äh* äh äh/das Stein äh/äh äh/alles äh/ hinein und äh/schnüren also.../ Z: richtig/ E: ja und dann äh//die die//na das Kind* und äh/die Frau und der Mann äh/äh/schön äh/äh/na?/der Wein und der Kuchen! nicht?///

82

Text 3, Gehörloser, m ä n n l . , 46, selbständiger Handwerker E: Mutter/sagt zu Rotkäppchen/bitte bringst/Brot/Wein/und zur Oma/bringst nach Oma//Mutter gibt Korb/voll/Wein/ 0,5 Brot//* Rotkäppchen geht durch Wald/auf Wegen durch Wald und klopft an der Tür/"komm herein"/da freut sich wiedersehen Oma//und erzählen/und geht wieder nach Hause/nach 1,0 Hause/ändern Tag/wieder* Rotkäppchen/nochmal durch Wald/ auf den Wegen Wald/da kam/Wolf hat Rotkäppchen beobachtet/ 1,5 und dann/Wolf schnell//Haus Oma/zu Oma Haus//* Oma/sieht komisch/Wolf erschrockt/Wolf springt auf/Oma und auffresse/ dann kam Rotkäppchen/klo klopft an Tür/hört kein Stimme/ 2,0 macht auf/Rotkäppchen komisch/Wolf wütend auf Rotkäppchen/* und Rotkäppchen kaputt/schläft fest/schläft fest/da kam Jäger/mit Gewehr auf a a aufpasse/schneidet sofort den Bauch auf/da kam Rotkäppchen und Mutter aus dem Bauch/holt 2,5 Steine/und in Bauch/* einstecke/und wieder zunähen/und dann/Wolf/wird wach/und schwer (xx) der is bequem/hat gro 3,0 große Durst//sucht nach Wasser/a a auftrinke aufsauge* oder fort/den Bauch zu schwer/fällt runter/ertrinken/amen///

Sensorische (Broca) und motorische (Wernicke) Aphasie Seit der Entdeckung der beiden Hauptformen von Aphasie durch BROCA (1861) und WERNICKE (1874) werden die sprachnotbedingte Ökonomie des agrammatischen Telegrammstils motorischer Aphatiker und die ungehemmte Logorrhoe des paragrammatischen Überflußstils sensorischer Aphatiker miteinander kontrastiert. Hierbei wurde bereits von KLEIST (1934) auf den Gegensatz von elidierenden (agrammatischen) Fehlerprozessen bei motorischer und substituierenden (paragrammatischen) Fehlerprozessen bei sensorischer Aphasie hingewiesen. JAKOBSON (1956) hat dann die unterschiedliche Sprechweise beider Aphasieformen als Störung der syntagmatischen bzw. der paradigmatischen Dimension im Rahmen eines zweidimensionalen Sprachmodells definiert. Neben der abweichenden Satzbildung ist der gestörte Zugriff zum internen Lexikon ein weiteres Schlüsselsymptom aphatischen Sprechens. Durch die patholinguistische Forschung wurde der Kenntnisstand zu den Gesetzmäßigkeiten aphatischen

83

"Danebensprechens", der sogenannten "semantischen Paraphasien", entscheidend verbessert

(s.

dazu STACHOWIAK 1978, GLO-

NING/DRESSLER 1980}. Durch COLLINS/QUILLIAN

(1969)

wurde in die

Patholinguistik

die Modellvorstellung eingeführt, wonach das mentale subjektive Lexikon eine Art Netzwerk ist, dessen Knoten semantische, phonologische und grammatische Informationen speichern und auf mannigfaltige Weise miteinander verbinden (s. dazu PEUSER 1978). Semantische Fehlleistungen

geben

einen

Einblick

in

die

Struktur dieses Netzwerks. Sie lassen sich zwei großen Gruppen zuordnen: So

bestehen

"die

lexikalisch-semantischen

Fehlleistungen

aphasischer Patienten zu einem großen Teil in Verwechslungen von Wörtern aus dem gleichen semantischen Feld" (STACHOWIAK 1979:49). Lassen sich nach diesem klassifikatorischen Ordnungsprinzip semantische Paraphasien vom Typus "Wolf" -> "Hund" in Text 2 erlären, so setzen Paraphasien vom Typus "Wolf" -> "Doktor" in Text l ein weiteres Strukturprinzip voraus,

das auf der

thematischen und situativen Verbindung von Wörtern

beruht

(HUBER et al. 1975). Die diesen beiden Ordnungsprinzipien entsprechenden semantischen Zugriffs- und Suchstrategien werden von motorischen und sensorischen Aphatikern unterschiedlich benutzt,

d.

h.

auch hinsichtlich ihrer lexikalischen Strategien gehen motorische und sensorische Aphatiker getrennte Wege. Während die Paraphasien motorischer Aphatiker auf eine Bevorzugung bzw. relative Intaktheit des klassifikatorischen Zugriffs deuten, scheinen sensorische Aphatiker den thematisch-situativen 1980).

Zugriff

zu

favorisieren

(GROBER

et

al.

84

So zeigt eine neuerliche Untersuchung, daß Wernicke-Aphatikern Benennungsleistungen vor allein dann möglich sind, wenn die den Zielwörtern entsprechenden Gegenstände im situativen Kontext abgebildet werden (WILLIAMS/CANTER 9 8 2 ) . Weitere Unterschiede manifestieren sich bei den sogenannten "phonematischen" Paraphasien beider Aphasieformen: Während sich in den Fehlerwörtern motorischer Aphatiker die Elision und Substitution von Phonemen weitgehend nach den universellen Gesetzen der sogenannten "phonetischen Desintegration" vollzieht (PEUSER/FITTSCHEN 1977, PEUSER 1978), erfolgen die substituierenden, addierenden und permutierenden Fehlerprozesse der Versprecher sensorischer Aphatiker weitgehend unaufgehellten phonologischen und phonotaktischen Gesetzmäßigkeiten (BLUMSTEIN 1973, PEUSER/TEMP 1981, ROTTEN 1984).

"Dingeda"-Strategie und "Ah Ah"-Strategie: Zwei Extremformen aphatischen Sprechens Betrachten wir nun die "Wörter pro Minute"- Relation der Texte l und 2; sie zeigt einen deutlichen Unterschied im Sprechtempo der beiden Aphasieformen: Während die sensorische Aphatikerin ohne Unterstützung des Versuchsleiters in ca. 4 , 5 Minuten einen Text von 346 Wörtern produziert und mit einem Sprechtempo von 75 Wörtern pro Minute deutlich im Bereich der flüssig sprechenden Aphasien liegt, erbringt der motorische Aphatiker nur mit Hilfe ständiger verbaler Interventionen des Versuchsleiters in ca. 4 Minuten einen Text von lediglich 164 Wörtern; mit einer mittleren Sprechgeschwindigkeit von 27 Wörtern pro Minute liegt er deutlich unter dem von KERSCHENSTEINER et al. (1972) für deutsche Aphatiker ermittelten Durchschnittswert von 50 Wörtern pro Minute und ist deshalb der Gruppe der nicht flüssig sprechenden Aphasien zuzurechnen.

85

Diese unterschiedliche Sprechgeschwindigkeit ist jedoch weitaus mehr als ein sprechmotorischer Aspekt des Sprachverhaltens beider Aphasieformen. Vielmehr manifestieren sich hier Unterschiede der Psychomotorik, welche das gesamte Sprachverhalten beider Aphasieformen prägen. Denn das unterschiedliche Sprechtempo beider Aphatiker läßt auf einen unterschiedlichen Automatisierungsund Bewußheitsgrad der zugrunde liegenden Sprachprozesse schließen, die sich nach neueren psycholinguistischen Erkenntnissen zwischen den extremen Möglichkeiten unbewußter Automatisierung einerseits und bewußter Planung andererseits bewegen. Dieser von KNOBLOCH (1984:295) für die semantischen Prozesse der Wortsuche formulierte Gegensatz läßt sich auch auf die syntaktischen Prozesse der Wortstellung, Wortverbindung und des Zugriffs zur geschlossenen Klasse der Funktionswörter und Flexive übertragen. Das heißt, auch bei syntaktischen Strategien lassen sich die Extreme des fast unbewußten und automatisierten Abspulens festgefügter Stereotype einerseits und des sorgfältigen Planens und Konstruierens andererseits unterscheiden. Im Gegensatz zum Normalsprecher, bei dem sich die Prozesse der Wortfindung und Satzbildung mehr oder weniger übergangslos zwischen den Extremen völliger Unbewußtheit und klarer Bewußtheit bewegen, sind Broca- und Wernicke-Aphatiker jedoch zur ausschließlichen Verwendung extremer Strategien verurteilt, die wir nach den charakteristischen Floskeln der Sensorikerin und den gefüllten Pausen des Motorikers "Dingsda"- und "Ah äh"-Strategie nennen wollen. Während sich die Sprachprozesse des Broca-Aphatikers aufgrund der motorischen Verlangsamung in quälender Bewußtheit vollziehen, laufen die automatisierten Zugriffsroutinen der Wernicke-Patientin in der Halb- bzw. Unbewußtheit normalen Sprechens ab.

86

Der motorische Aphatiker baut gewissermaßen wie ein "ungeübter Klavierspieler" (PICK 1931) oder wie ein der Landessprache nur unvollkommen mächtiger Ausländer seine Sätze aus mühsam gesuchten Wörtern in bewußter Anwendung syntaktischer Verknüpfungsregeln a u f . Hierbei kosten die semantischen Suchprozesse und die Kontrolle der motorischen Abläufe so viel Energie und Zeit, daß der Prozeß der syntaktischen Regelanwendung nicht zu Ende geführt werden kann. (Daß er grundsätzlich zu Ende geführt werden könnte, beweist die syntaktisch nahezu korrekte schriftliche Märchenerzählung des gleichen P a t i e n t e n 2 ) . Dieser durch die Performanzbedingungen des Sprechens erzwungene vorzeitige Abbruch des Satzbildungeprozesses führt in Zusammenhang mit der Blockierung des Verblexikons zu elliptischen und nur teilgrammatisierten Oberflächenstrukturen. Die sensorische Aphatikerin wiederum leidet an einer nicht minder starken Störung des internen Lexikons. Das hindert sie jedoch nicht, sich mit der Spontanität eines gesunden Sprechers ihrer intakten Sprechflüssigkeit zum Zugriff auf syntaktische Routinen, Allerweltsverben wie "machen" und "Joker"- Wörter wie "sowas", "zusammen" etc. zu bedienen. Dadurch gelingt es ihr, den für die Einstellung und Sprachverarbeitung des Zuhörers nicht unwesentlichen Eindruck kolloquialer Geläufigkeit zu erwecken (siehe HEESCHEN 1979). Ober die thematischen Verbindungen des internen Lexikons tastet sie sich an Schlüsselwörter wie "Großmutter", "Wolf", "Blumen", "Schere" etc. heran. Jedoch ist dieser Prozeß durch die ständige Gefahr des Abdriftens" zu Neologismen ("Großmutter" -> "grote") oder semantischen Paraphasien ("Jäger" -> "gäder" -> "Geld") bedroht.

Zur unterschiedlichen Störung des Sprechens und Schreibens bei Aphasie siehe Peuser 1978, 1980.

87

Zum Dysgrammatismus von Gehörlosen In den einschlägigen Untersuchungen zu den Sprachauffälligkeiten von Hörbehinderten wird übereinstimmend auf dysgrammatische Phänomene hingewiesen, wie wir sie vom agrammatischen Telegrammstil motorischer Aphatiker (s. oben) oder vom sogenannten "Entwicklungsdysgrammatismus" {DANNENBAUER 1983) kennen. Ohne auf die angesichts der heterogenen Zusammensetzung des Personenkreises der Hörbehinderten (KRÜGER 1982) nur schwer zu beantwortende Frage einzugehen, ob dem Dysgrammatismus der Gehörlosen eine audiogene oder eine zentralnervöse Verursachung im Sinne einer zentralen Sprachschwäche zugrunde liege, wollen wir nun versuchen, den Dysgrammatismus von Gehörlosen durch den Vergleich mit dem (besser untersuchten) Dysgrammatismus von Aphatikern kontrastiv zu beleuchten. Wir wählen hierzu die oben wiedergegebene Rotkäppchen-Erzählung eines im achten Lebensmonat ertaubten gehörlosen Sprechers (Text 3 ) . Unter Verzicht auf die Diskussion der das Hörverständnis des gesprochenen Textes erschwerenden, jedoch nicht transkribierten Artikulationsauffälligkeiten stellen wir zunächst f e s t , daß der gehörlose Sprecher in nur ca. 3 Minuten eine vollständige und - sieht man von dem zweimaligen Waldspaziergang Rotkäppchens ab -im wesentlichen richtige Darstellung des Märchenstoffes erbringt. Er verwendet hierbei wie die sensorische Aphatikerin dialogische und ausschmückende Elemente. Der in der nachstehenden Tabelle l vorgenommene sprachstatistische Vergleich zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Texte.

88

Tab.

1: Deskriptive Sprachstatistik der drei Texte Sensorischer Aphatiker (Text 1)

Motorischer Aphatiker (Text 2)

Gehörloser Sprecher (Text 3)

75

27

52

Verschiedene Wörter (types)

88

42

84

Alle Wörter (tokens)

346

164

165

Type/Token Relation (TTR)

0.25

0.26

0.51

Sprechgeschwindigkeit (Wörter/Minute)

Mittlere Satzlänge ( i Wörtern)

n

7

Subst./VerbVerhältnis: types tokens

7

6

0.65 0.71

2.00 4.87

Art./Subst.Verhältnis

0.8

0.9

0.0

Präp./SubstVerhältnis

0.3

0.0

0.4

Prädikate i Infinitiv

2

7

m

Die Zahlen von Tab. l 'Sprecher trotz seiner

zeigen

zunächst,

nach der

9

daß der

für

Sprechtempo

Vergleich

der

erreicht,

Aphatiker ermittelten Norm der

Gruppe der flüssigen Sprecher zuzurechnen Der

gehörlose

artikulatorisch-phonatorischen Behin-

derung mit 52 Wörtern pro Minute ein durch das er

0.69 1.26

Type/Token-Verhältnisse

ist. der

drei

Texte

verdeutlicht einen ersten wichtigen Unterschied zwischen dem Gehörlosen und den beiden aphatischen Sprechern: Der gehörlose Sprecher setzt seinen Wortschatz weitaus öko-

89

nomischer ein als

die beiden Aphatiker und d ü r f t e -

ange-

sichts des Fehlens von Normdaten läßt sich das nur vermuten - mit einem TTR-Wert von 0,51 im Bereich der Sprachnorm liegen. Im Gegensatz dazu zeigen die niedrigen TTR-Werte der beiden Aphatiker, daß diese die aphasietypische Armut ihres Vokabulars, die nicht nur in einem geringen Umfang, sondern auch in einem Mangel an referentieller Adäquatheit besteht, durch eine hohe Wiederholungshäufigkeit zu kompensieren suchen. Die (nahezu) identische durchschnittliche Satzlänge der drei Sprecher verweist auf eine große Übereinstimmung ihrer syntaktischen Kompetenzen b z w . der diese tragenden psycholinguistischen Faktoren der Gedächtnisspanne, Aufmerksamkeit und Konzentration, d. h. der von uns an anderer Stelle (PEUSER 1985) so genannten "Psycholinguistischen Kompetenz". Die restlichen Daten von Tab. l manifestieren Besonderheiten des jeweiligen dysgrammatischen Systems: Hierbei kommt dem Verhältnis von Substantiven und Verben in den drei Texten besondere Bedeutung zu, indem die Daten der beiden Aphatiker die von FRADIS/LEISCHNER (1979) gemachte Beobachtung der unterschiedlichen "Wortartenauswahl" bei beiden Aphasieformen bestätigen: In Inventar (Types) und Text (Tokens) der sensorischen Patientin überwiegen die Verben, während in Inventar und Text des motorischen Aphatikers die Substantive dominieren. Das Sprachverhalten des gehörlosen Sprechers unterscheidet sich in charakteristischer Weise: Ist das Substantiv/Verb-Verhältnis

in seinem Inventar

(Ty-

pes) mit demjenigen des sensorischen Aphatikers weitgehend identisch, so erreicht es im laufenden Text (Token) einen W e r t , der die Satzgestaltung des gehörlosen Sprechers durch die vermehrte Verwendung von Verben von derjenigen beider Aphatiker abhebt und (wahrscheinlich) in die Nähe des normalen

Sprachgebrauchs

rückt.

Die relativ häufige

Verwendung

eines unflektierten Prädikats durch den gehörlosen Sprecher und den motorischen Aphatiker könnte zu einer Subsummierung

90

beider Sprecherstrategien unter den gängigen Terminus "Telegrammstil" verleiten. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, daß jeder der beiden "Telegrammstile" seine charakteristische Ausprägung hat: Diese besondere Ausprägung besteht im Falle des motorischen Aphatikers im Fehlen von Präpositionen, im Falle des Gehörlosen im Fehlen von Artikeln.

Zusammenfassung Die abweichenden Sprachsysteme des Gehörlosen und der beiden Aphatiker weisen demnach Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Der erste deutliche Unterschied liegt in dem Bereich des Wortschatzes: Während sich in den gefüllten Pausen des Motorikers und in den periphrastischen Floskeln der Sensorikerin das aphatische Hauptsymptom der Wortfindungsstörung manifestiert, macht der gehörlose Sprecher von einem eingeschränkten Wortschatz (s. dazu u . a . JUSSEN 1982) ohne Zögern, Umschweife und Wiederholungen Gebrauch. Der Vergleich der dysgrammatischen Satzbildung der drei Sprecher zeigt, daß es voreilig wäre, aus den oberflächlichen partiellen Gemeinsamkeiten des "Telegrammstils" von motorischen Aphatikern und Gehörlosen auf eine Identität der zugrunde liegenden dysgrammatischen Systeme zu schließen. Vielmehr rücken die relativ hohe Sprechflüssigkeit und die häufige Verwendung von Verben (hier besteht wahrscheinlich ein Zusammenhang) das Sprachverhalten des gehörlosen Sprechers in die Nähe der "Dingsda"-Strategie der sensorischen Aphatikerin, d. h. der gehörlose Sprecher vollzieht nicht die mühevollen Sprachplanungsprozesse des motorischen Aphatikers, sondern produziert spontan weitgehend automatisierte Strukturen. Im Gegensatz zum Motoriker vollzieht sich jedoch

91

der spontane Zugriff der Sensorikerin und des Gehörlosen auf im Sinne von SCHOLZ (1970) "strukturell a f f i z i e r t e " Systeme. Dies

beweisen die

schriftlichen

Nacherzählungen

des Mär-

chens, deren jeweils erste Sätze wir nachstehend wiedergeben: Gehörloser: "Rotkäppchens mutter sagt zu Rotkäppchen, Bitte bringst Du zum Großmutter Esssachen"; sensorische Aphatikerin: "Die Nutter sagte dem Kind, gegen ich der dem gratulirn, ein Küche und der Wein der Großmutte". Abgesehen

von den hier

im Detail

nicht

zu

schildernden

strukturellen Besonderheiten unterscheiden sich beide Systeme dadurch, daß es sich im Falle des Gehörlosen um ein nur teilentwickeltes, im Falle der Sensorikerin um ein regressives, eine Hirnstörung kompensierendes System handelt. Letzteres gilt auch für den motorischen Aphatiker. Dennoch kann er unter den günstigeren Kommunikationsbedingungen des Schreibens seine Sprachkompetenz e n t f a l t e n und - im Kontrast zu seiner mündlichen Zielsätze bilden 3 . Wir

verdeutlichen

Erzählung

dies

durch

-

den

teilweise

normgerechte

einleitenden

Satz

der

schriftlichen Version des Märchens: Motorischer Aphatiker: "Es war einmal ein Rotkäppchen. Die Nutter sprach zu Rotkäppchen. Oma ist krank. Hier hast einen Korb mit Wein und Kuchen'". Wir

haben

also

bei

der

Analyse dysgrammatischer

Sprache

nicht nur - wie das in der bisherigen Diskussion ausschließlich geschah - die strukturellen Besonderheiten, sondern auch den Automatisierungsgrad und - unter Einbeziehung der graphischen

Performanz

-

die

performative

Stabilität b z w .

Dies t r i f f t freilich nicht für alle Aphatiker dieser Gruppe zu; s. dazu FRIEDERICH 1976, PEÜSER 1978, LEISCHER et al. 1980.

92

Variabilität des jeweiligen dysgrammatischen Systems zu berücksichtigen. Haben wir somit einen Einblick in die d i f f e r e n t i e l l e Spontansprachdiagnostik abweichenden Sprechens gegeben, so sei für die Diffenrentialdiagnostik provozierten Sprechens auf den bereits erwähnten "Aachener Aphasietest" (HUBER et al. 1983) verwiesen. Leider gestattet der Raum dieses Aufsatzes

nicht,

auf

die

noch in den Kinderschuhen steckende interpretierende Diagnostik einzugehen, welche der ersten von K n i f f k a genannten Form sprachlicher Begutachtung entspricht.

93

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97

STATUS UND ERKLÄRUNGSPOTENTIAL SPRACHLICHER FEHLER

Bernd Spillner

0.1. Der 1956 von Alfred Hitchcock gedrehte Spielfilm 'Der falsche Mann* mit Henry Fonda in der Hauptrolle schildert aufgrund der Aktenunterlagen eines authentischen Kriminalfalles das Schicksal eines zu Unrecht Verdächtigten. Ein nichtsahnender Bürger wird eines Tages verhaftet und für längere Zeit in polizeilichem Gewahrsam gehalten; er verliert seine Anstellung und wird mittellos, seine Familie sozial geächtet; seine Frau erleidet aufgrund der nervlichen Belastung eine psychische Erkrankung und muß für Jahre in einer Heilanstalt behandelt werden. Anlaß für Festnahme des falschen Mannes und für Fortbestehen des Tatverdachtes sind mehrere Indizien. Da ist einmal eine gewisse Ähnlichkeit mit dem wirklichen Täter. Aufgrund dieser Obereinstimmung in Statur und Alter und aufgrund seines begreiflicherweise verstörten Verhaltens wird der Unschuldige bei Gegenüberstellungen mit Tatzeugen prompt als der Täter erkannt. Da ist zum ändern aber auch ein sprachliches Indiz. Der Täter hat bei einem Banküberfall einen Zettel mit der Aufforderung zur Geldübergabe zurückgelassen, und diese handschriftliche Mitteilung in Druckbuchstaben enthält einen orthographischen Fehler. Bei der ersten Vernehmung wird der Verdächtigte von den ermittelnden Kriminalbeamten aufgefordert, den betreffenden Satz niederzuschreiben. Es stellt sich heraus, daß der 'falsche Mann* denselben Orthographiefehler begeht wie der Täter. Damit ist für Polizei und Justiz die Identität von Verhaftetem und gesuchtem Bankräuber hinreichend plausibel. Der Film berichtet nicht, daß eine graphologische Vergleichsuntersuchung vorgenommen und ein linguistisches Gut-

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achten zur Fehlerproblematik und zur möglichen Urheberidentität angefertigt wurde. Die Übereinstimmung beider Texte in ein und demselben Fehler hat offensichtlich hinreichende Evidenz. Erst nach längerer Zeit erweist sich die Unschuld des Inhaftierten, als zufällig der wirkliche Täter erkannt und eindeutig identifiziert wird. 0.2 Mit der Schilderung dieses Falles soll keineswegs die Unsinnigkeit von Fehleruntersuchungen bei Texturheberschaftsfragen demonstriert werden. Sprachliche Fehler können sehr wohl ein wichtiger Hinweis darauf sein, daß zwei zu vergleichende Texte vom selben Urheber stammen. Sie können häufiger noch - dazu dienen, einen verdächtigten Urheber aus dem Kreis der infrage kommenden Textverfasser auszuschließen. Im geschilderten Fall hätte es zur Entlastung des Verdächtigten beigetragen, wenn in seinem Text der betreffende Orthographiefehler nicht aufgetaucht wäre oder wenn er z . B . einen ganz anderen begangen hätte. Als Beweis für seine Unschuld hätten zwar auch diese Befunde nicht angesehen werden können, da sprachliche Fehler - je nach Typus leichter oder schwieriger - fingiert werden können. Aber die Verdachtswahrscheinlichkeit wäre sicherlich vermindert worden. Die Schilderung dieses Falles soll vielmehr zeigen, zu welchen Konsequenzen für ein Lebensschicksal es führen kann, wenn für sich genommen noch nicht überzeugende Indizien akkumuliert werden und wenn z . B . - wie in diesem Fall - eine Fehleranalyse ohne gründliche linguistische und psycholinguistische Ausbildung vorgenommen wird. Das Vorgehen der Kriminalbeamten zeigt nämlich eine Reihe schwerwiegender methodischer und analytischer Mängel: 1. Die Schriftprobe des Verdächtigten ist als Diktatübung in einer Laborsituation elizitiert worden, die nur bedingt mit Situationen alltäglicher Textproduktion verglichen werden kann.

99

2. Damit hängt die Tatsache zusammen, daß der Text auf dem Polizeirevier kurz

nach der

Festnahme,

also

unter Streß,

entstanden ist. In Streßsituationen ändern sich sowohl Fehlertyp als auch Fehlerhäufigkeit. 3. Es ist nicht bedacht worden, daß sich beim Schreiben in Druckbuchstaben (ähnlich wie beim Schreiben auf einer Wandtafel oder beim Sprühen leichter Fehler einschleichen

von Parolen an eine Mauer) als in der üblichen Schreib-

schrift. 4. Bei der Fehleranalyse ist nicht ermittelt worden, wie frequent die betreffenden Normabweichungen bei allen muttersprachlichen Schreibern bzw. bei den Angehörigen einer stimmten Bildungsschicht, etc.

ist.

Region,

eines

Mit anderen Worten: es ist

bestimmten

nicht

be-

Alters

untersucht wor-

den, ob es sich um einen Fehler handelt, der in einer größeren Bevölkerungsgruppe statistisch zu erwarten wäre. 5. Beim Textvergleich ist

nicht abgewogen worden, wieviele

identische Fehler in welcher Textmenge eine hinreichende Wahrscheinlichkeit auf einen identischen Texturheber begründen. 6. Bei der Fehlerbewertung sind keine Überlegungen zur möglichen Fehlergenese angestellt worden. Tatsächlich kann ein und derselbe Fehler ganz unterschiedliche Fehlerursachen haben. Falls sich hinreichend verläßliche Hypothesen zu unterschiedlicher Fehlergenese aufstellen lassen, ist dies ein Argument gegen Identität der Texturheber. Allein diese Einwände zeigen deutlich, daß Erklärung und Würdigung sprachlicher Fehler innerhalb forensischer Texturheberschaftsuntersuchungen nur von Linguisten vorgenommen werden sollten, die gründliche theoretische Kenntnisse von sprachlichen Fehlleistungen und praktische Erfahrungen in der Fehleranalyse haben.

100

1.0 Die Fehleranalyse beschäftigt sich mit Beschreibung, Klassifizierung und Ursachenermittlung sprachlicher Fehlleistungen auf allen Ebenen der Sprachproduktion (Orthographie, Wortwahl, Morphologie, Wortbildung, Syntax, Aussprache, Stil, Registerverwendung, Textaufbau bis hin ggf. zu Argumentationskonventionen). Fehler können prinzipiell in allen sprachlich-kommunikativen Handlungen auftreten. Dazu gehören zunächst einmal die in der Sprachdidaktik und Spracherwerbs forschung allgemein unterschiedenen vier sprachlichen Fertigkeiten: Hören/Hörverständnis

Verhören, Fehler beim akustischen Diskriminieren, falsche Zuordnung von Lautformen zu sinntragenden Einheiten. Es versteht sich, daß Hörfehler durch äußere Einflüsse (Rauschen im K a n a l ) , durch anatomische Mängel der auditiven Rezeptionsorgane, aber auch durch sprachliche Befunde ( z . B . geringe phonematische Kontraste, Homophonie oder Paronymie) induziert werden können. Lesen/Leseverständnis Verlesen (fehlerhafte Zuordnung von graphischen Zeichen oder Zeichenkomplexen zu Lautkomplexen und ggf. zu semantischen Einheiten). Zu diesem Fehlerbereich gibt es im angelsächsischen Bereich unter dem Stichwort 'miscue-analysis' eine ausgiebige Literatur. Sprechen/Artikulieren Versprecher; Aussprachefehler (Fehler im Umsetzungsprozeß von kognitiven Mitteilungsintentionen in regelhafte Artikulation) In diese Rubrik fallen sehr unterschiedliche Fehlleistungen von anatomisch oder motorisch bedingten Artikulationsschwierigkeiten bis hin zu den psychisch beding-

101

ten Freudschen Versprechern. Schreiben Verschreiben/Orthographiefehler (falsche Anwendung phonographematischer Zuordnungsregeln; Buchstabenvertauschungen und -auslassungen; psychisch-assoziatives Verschreiben durch fälschliche Wahl graphisch oder semantisch ähnlicher Sprachformen; Perseverationsfehler aufgrund der linear-sequentiellen Zeichenabfolge in menschlicher Laut- bzw. Schriftsprache usw.) Je nach sprachlichem Medium können Spezialfälle wie Tippfehler, Druckfehler (typographische Fehler) unterschieden werden; je nach Schriftart und Schreibanweisungen z . B . Fehler, die nur beim Eintragen von Großbuchstaben in vorgegebene Kästchen frequent auftreten. Neben diesen üblicherweise unterschiedenen sprachlichen Grundfertigkeiten treten Fehler häufig auf in einer komplexen sprachlichen Fertigkeit, die in der Sprachdidaktik gemeinhin übersehen oder nicht als eigenständige Fertigkeit anerkannt wird: Übersetzen Translationsfehler (falsche Wahl des zielsprachigen Äquivalents, zu unterscheiden nach semantischen, pragmatischen, stilistischen Obersetzungsfehlern); Sonderfälle: z . B . Chiffrierfehler. Wenn man bedenkt, daß sprachliches Material (Lexeme, Strukturen, Regeln) mental-neuronal gespeichert wird, und wenn man diesen Vorgang als sprachliches Handeln begreift, ist schließlich mit einer weiteren fehleranfälligen sprachlichen Fertigkeit zu rechnen:

102

Speichern/Einspeichern/Abrufen (Fehler, die dadurch entstehen können, daß sich sprachliches Material im Gedächtnis bzw. im Prozeß des Einspeicherns oder Abrufens gegenseitig alterierend beeinflußt) . Fehlleistungen in diesem Bereich sind allerdings bislang offensichtlich empirisch nicht untersucht bzw. als gesichert anzunehmen. Für die forensische Linguistik dürften Fehlleistungen beim Hören oder Lesen nur in Sonderfällen von Belang sein, Übersetzungsfehler nur in bilingualen Fällen. Im Vordergrund wird die Analyse von Sprech- und besonders Schreibfehlern stehen. 2.0 Es wird von der Hypothese ausgegangen, daß sprachliche Fehler prinzipiell relevant für linguistische Texturheberschaftsuntersuchungen und den forensischen Textvergleich sein können. Bei den folgenden Erörterungen wird von zwei Problemfeldern abstrahiert. Zum einen ist dies die jede forensische Textuntersuchung erschwerende Möglichkeit, daß Schreiber und Urheber des Textes nicht identisch sind (Textdiktat, Abschreiben, Textcollage, Stilimitation, Pastiche u s w . ) . Dieser Sonderfall soll hier außer acht bleiben, obwohl gerade die Berücksichtigung von Schreibfehlern, Trennvarianten etc. in der philologischen Textkritik (insbesondere bei Authentizitätsuntersuchungen von mittelalterlichen Handschriften) gezeigt h a t , daß die Fehleranalyse eine probate Methode ist, die Abhängigkeit eines Schreibers von einem anderen (endlich: von dem Urheber) nachzuweisen. Zum anderen soll hier das Problem außer acht gelassen werden, daß im forensischen Bereich sprachliche Fehler fingiert werden können ( z . B . um den Verdacht auf den Schreiber einer anderen Bildungsschicht zu lenken). Leicht möglich ist dies allerdings nur in einigen sprachlichen Bereichen. So können

103

Orthographiefehler und lexikalische Registerabweichungen leicht vorgetäuscht werden; sehr viel schwieriger ist dies z . B . im Bereich der Interpunktion möglich. Die Fehleranalyse wird außerdem erweisen, ob a u f f ä l l i g e Fehler im Gesamtbild stimmig sind. So wird man bei Orthographiefehlern im Grundwortschatz stutzig werden, wenn im selben Text schwierige Fremdwörter richtig geschrieben sind oder die Regeln der Kommasetzung korrekt angewendet sind. Häufig läßt sich schon allein deswegen ein sprachlicher Fehler als fingiert vermuten, als er linguistisch sehr unwahrscheinlich konstruiert ist. Der Status von sprachlichen Fehlern und ihre mögliche Einschätzung als soziales oder gar individuelles Textmerkmal ist - wie eingangs angedeutet - sehr kompliziert. Nicht von ungefähr ist die Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen zur Problematik sprachlicher Fehler außerordentlich hoch; eine derzeit im Druck befindliche Bibliographie (Spillner 1990) verzeichnet über 5000 Publikationen. Das Erklärungspotential sprachlicher Fehler soll im folgenden dadurch umrissen werden, daß die einzelnen Teilbereiche der Fehleranalyse mit ihren unterschiedlichen Funktionen und Erklärungsleistungen skizziert werden. Zu beachten ist, daß fehleranalytische Arbeiten nur selten für forensische Zwecke unternommen wurden. Die Mehrzahl der Untersuchungen bezieht sich auf den Spracherwerb, insbesondere auf die Fremdsprachenvermittlung. Zu beachten ist auch, daß die skizzierte Einteilung fehleranalytischer Teilbereiche nur ein Vorschlag ist, der Taxonomien unter anderen Gesichtspunkten nicht ausschließt. Schließlich ist zu beachten, daß es sich um eine systematische Einteilung handelt, die weder Interdependenz der Teilbereiche ausschließt noch eine bestimmte chronologische Reihenfolge oder Präferenz bei der empirischen Fehleranalyse impliziert.

104

2.1 Der erste Abschnitt einer systematischen Fehleranalyse b e t r i f f t die Fehleridentifizierunq, das heißt die Lokalisierung einer sprachlichen Abweichung innerhalb eines Textes. Es gilt zu entscheiden, ob, und wenn ja, wo in einer sprachlichen Äußerung sich eine Fehlleistung feststellen läßt. Dieser im Bereich der Fehlerlinguistik häufig vernachlässigte Analyseschritt (vgl. jedoch Kasper 1975) vollzieht sich indes keineswegs von selbst. Er erfordert vielmehr zwei methodisch unterschiedliche linguistische Operationen: 1.) Der Vergleich des Textes mit der sprachlichen Norm (also eine Konfrontation eines 'parole'-Befundes mit den systematischen Regeln der 'langue'-Instanz). Bei dieser Operation gilt es zu entscheiden, was sprachlich richtig ist und was falsch. Es gilt auch, sprachliche Abweichungen von regionalen, sozialen oder stilistischen Varietäten abzugrenzen. Nur am Rande sei erwähnt, daß eine linguistische Begründung von Norm oder Sprachstandard beträchtliche theoretische Schwierigkeiten bereitet. Die amtliche Festlegung einer Norm durch Behörden ( f ü r den Dienstgebrauch) oder durch Schulrichtlinien ( f ü r die Korrektur von Schülerarbeiten) - z . B . der Anerkennung des Dudens als Richtschnur für die deutsche Rechtschreibung - ist eine praktische Fixierung, aber keine wissenschaftliche Losung des Problems. Hinzuweisen ist auch auf den historischen Wandel einer Norm. So mag man sich fragen, ob im Gegenwartsdeutschen der Imperativ eßi noch als Abweichung gegenüber der Form iß! aufgefaßt werden muß und ob die Form du milkst nicht bereits als fehlerhaft im Vergleich mit der sich immer mehr durchsetzenden Alternative du melket eingestuft werden kann.

105

2 . ) Die Rekonstruktion der Kommunikationsintention Es muß ermittelt werden, was der Sprecher/Schreiber mitteilen wollte. Ein Text kann sehr wohl den Regeln der sprachlichen Norm entsprechen und dennoch fehlerhaft sein. Wenn jemand den Satz schreibt: Sie luden das Gebäck vom Wagen, kann ihm allein durch den Normvergleich kein Fehler angekreidet werden. Der Satz ist grammatisch fehlerfrei, semantisch verständlich und in bestimmten Situationen pragmatisch sehr wohl vorstellbar. Wenn sich jedoch durch Kontextinformation oder durch das Vorwissen des Lesers erweist, daß in dem Satz von Koffern und Taschen die Rede sein sollte, muß auf einen Schreibfehler geschlossen werden (Gebäck statt Gepäck) . Fehler dieser Art, die nicht ausschließlich durch Normvergleich identifiziert werden können, sind keineswegs nur Sonderfälle; im Fremdsprachenunterricht sind sie geläufig. Im didaktischen Bereich ist die Kommunikationsintention in einigen sprachlichen Übungsformen vorgegeben ( z . B . Diktat, Übersetzung). In anderen Übungsformen und in der Alltagskommunikation muß die Mitteilungsabsicht erschlossen werden ( z . B . durch Befragung des Sprechers/Schreibers) oder durch Analyse von Kontextinformationen. Die Fehleridentifizierung erfordert also linguistische und kommunikationswissenschaftliche Analysemethoden. Sie ist notwendige Voraussetzung fur eine sich anschließende Frage nach dem Erklärungspotential sprachlicher Fehler. 2.2 Der zweite systematische Analyseschritt besteht in der Fehlerdeskription. Hier geht es zunächst um eine Zuordnung der einzelnen Fehler zu den Gebieten des Sprachsystems, um eine grammatisch-lexikalische Klassifikation. Das Ergebnis ist in der Regel eine Taxonomie in Tempusfehler, Präpositionsfehler, Lexikfehler etc. Dieses noch wenig aussagekräftige Resultat wird brauchbarer, wenn eine statistische Auewer-

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tung Schwerpunkte der Fehlerhäufigkeit erkennen läßt. Eine Auswertung der Forschungsliteratur ergibt, daß die Mehrzahl der fehleranalytischen Arbeiten in diesen Bereich f ä l l t , obwohl die Aussagekraft für sprachdidaktische Fragestellungen besonders niedrig ist. Die Fehlerdeskription ist für den Sprachunterricht nur dann von Belang, wenn die statistische Auswertung der Fehlerfrequenz zu Konsequenzen für die Fehlertherapie f ü h r t . Für die Fehlerbewertung sind Deskription und Klassifikation in der Regel belanglos. Dieser Befund für die Sprachdidaktik gilt nicht für die forensische Linguistik. Wie das eingangs geschilderte Beispiel eines verhängnisvollen Fehlers zeigt, wäre es für seine Beurteilung wichtig gewesen, zu wissen, welcher Art der Fehler war und wie h ä u f i g er von einer vergleichbaren Personengruppe gemacht wird. Besonders geläufige Fehler lassen sich kaum als Indiz für identische Verfasserschaft zweier Texte heranziehen. Zu Beginn der Siebziger Jahre warb eine Spirituosenfirma mit dem Slogan: ' H i l f t dem Vater auf das Fahrad 1 . Die Plakate schmückten landesweit Wände und Litfaßsäulen. Nach dem wütenden Protest von Oberlehrern rechtfertigte die Werbeagentur die Graphic Fahrad als Fehler, der bewußt gemacht worden sei, um Aufmerksamkeit für das Plakat und damit für das Produkt zu erzielen. Man geht kaum f e h l , wenn man annimmt, daß dies nur eine p f i f f i g e , aber kaum glaubwürdige Ausrede für einen tatsächlichen Rechtschreibfehler war. Wer daran zweifelt, möge als Probe aufs Exempel in der Mensa einer deutschen Universität die Anschlagbretter und speziell die handschriftlichen Angebote vom Typ Fahrrad zu verkaufen studieren. Er wird erstaunt erkennen, daß sich bestimmte

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Orthographieeigentümlichkeiten auch bei Studierenden großer Beliebtheit erfreuen. Wenn er dann anschließend in der Universitätsbibliothek die mit Tesafilm fixierten Notizzettel Studentenausweiß verloren - von Bibliothekars- oder Studentenhand geschrieben - analysiert, wird er eingestehen, daß bestimmte Sprachfehler auch in gebildeten Kreisen nicht selten sind. Die Häufigkeit der beiden Fehler läßt sich linguistisch durch Einfluß der Aussprache auf die Graphie, durch Homophonie und durch Frequenz und Disponibilität des Adjektivs weiß leicht erklären. Für forensische Zwecke hätten diese beiden Fehler kaum Erklärungswert. 2.3 Ein zentraler Bereich der Fehlerlinguistik ist die Fehlergenese; ihre Wichtigkeit findet allerdings in den wissenschaftlichen Publikationen noch nicht den angemessenen Ausdruck. Es geht darum, zu erklären bzw. begründete Hypothesen darüber zu entwickeln, warum ein sprachlicher Fehler entsteht, aus welchen Gründen eine Fehlleistung im sprachlichen Produktionsprozeß bewirkt wird. Die Ursachen müssen mit psycho-linguistischen bzw. psychologischen Methoden rekonstruiert werden. Während neuere psychologische Arbeiten erstaunlich wenig zur Erklärung von sprachlichen Fehlleistungen hergeben, sind in der älteren Psychologie eine Reihe von psychischen Phänomenen herausgearbeitet worden, die fehlerverursachend wirken ( z . B . Meringer/Mayer 1895, Ranschburg 1905, Meringer 1908, Weimer 1926 und 1929, Kainz 1956; vgl. dazu Spillner 1977) . Solche Phänomene (die sich z.T. überschneiden bzw. in der Literatur nicht systematisch abgegrenzt dargestellt werden) sind z . B . :

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Kontamination (fehlerhafte Verknüpfung lautlicher oder syntaktischer Einheiten aufgrund mental gleichzeitig präsenter Gedanken oder Sprachmuster) Beispiel (Meringer 1908, 7 5 ) : *Die Bombe ist ins Rollen gekommen (Kontamination aus 'Die Bombe ist geplatzt" und 'Der Stein ist ins Rollen gekommen') Perseveration (Beeinflussung eines sprachlichen Zeichens durch ein anderes innerhalb der linearen Sequenz sprachlicher Äußerung, dadurch bewirkt, daß im Arbeitsspeicher ein Zeichen entweder fortwirkt oder antizipiert w i r d ) . Beispiele (Weimer 1929, 27 und 3 5 ) . *Delda (statt Delta) *Hoofstaat (statt: Hofstaat) Vertauschung/Substitution (falsche Anordnung in der Reihenfolge für sich genommen korrekter sprachlicher Elemente im Prozeß der Sprachproduktion) Beispiele (Meringer 1908, 16 und 20) *Sie zechen die Prelle (statt: Sie prellen die Zeche) *zükunftig (statt: zukünftig) übergeneralisierung (Anwendung einer sprachlichen Regel auf einen Bereich, in dem sie nicht gilt) Beispiel: *er singte (statt: er sang; in Analogie zum Verbalparadigma der schwachen Verben) Die hier genannten Phänomene sind nur exemplarisch. Je nach theoretischem Ansatz wird auch von Ahnlichkeitsfehler, assoziativem Fehler, rückwirkender Hemmung, Kompetenzfehler, Auslassungsfehler, Assimilations- und Dissimilationsfehler,

109

Silbenunterdrückung/Entgleisung, Mischfehler, Freudscher Verdrängung, Geläufigkeitsfehler, Fehler der gefühlsmäßigen Verdrängung etc. gesprochen (vgl. insbesondere Weimer 1929 und Mehringer 1908). Eine kritische Gesamtschau dieser unterschiedlichen Ansätze steht ebenso aus wie der Versuch einer psycholinguistischen Systematisierung. Aus der empirischen Erforschung des Fremdsprachenerwerbs unter kontrastiven Aspekten kommt insbesondere hinzu: interlinguale Interferenz durch negativen Transfer (unbewußte fälschliche Übertragung von Strukturen oder Regeln der Muttersprache auf die Zweitsprache b z w . von der zuerst erlernten Fremdsprache auf eine später erlernte Fremdsprache) Beispiel (Kielhöfer 1975, 122): *Hier suis-je ä la gare alle ( s t a t t : Hier, je suis alle a la gare; Fehler im Französischen durch Anlehnung an die deutsche Wortstellung). Beim Aufstellen von Hypothesen zur Entstehung sprachlicher Abweichungen, ist prinzipiell von der 'Mehrfaktorenhypothese der Fehlergenese'(Spillner/Baur 1978, 119f.) auszugehen. Danach treten Fehler nicht beliebig in Texten a u f , sondern vorzugsweise an Schwachstellen des sprachlichen Regelsystems und vorzugsweise dann, wenn mehrere potentiell fehlerauslösende Faktoren zusammentreffen. Neben den genannten möglichen psychischen Ursachen wirken natürlich auch äußere Faktoren fehlerbegünstigend, z . B . Streß durch Zeitdruck oder Lärm, E i n f l u ß von Müdigkeit, K r a n k h e i t , Alkohol etc., Mängel in der Sprachlehrmethode usw. Für die forensische Linguistik ist vor allem die Erkenntnis aus der Fehlergenese wichtig, daß ein und derselbe Fehler auf unterschiedliche Ursachen zurückführbar sein kann. Neh-

110

men wir an, in einem geschriebenen Text taucht der Orthographiefehler *Sose ( s t a t t :

Soße)

a u f . Ohne Kenntnis des Kontextes und der Textproduktionsbedingungen lassen sich unterschiedliche Hypothesen zur Fehlerursache

aufstellen:

es könnte sich um einen E i n f l u ß der Phonie auf die Graphie handeln, die auf einen Dialektsprecher des Deutschen hindeutet, der den intervokalischen s-Laut durchweg s t i m m h a f t a r t i k u l i e r t . es könnte sich um eine Perseveration (evtl. unter äußeren Einwirkungen wie Streß, Alkohol) des ersten Buchstaben auf den dritten handeln (bedingt durch phonetische Ähnlichkeit) es könnte sich bei einem Schreibmaschinentext um einen Zweifingerschreiber handeln, der nach dem mit der rechten Hand getippten ' wieder die linke Hand aktiviert, es könnte sich um einen fremdsprachigen Schreiber handeln, der eine Graphie seiner Muttersprache negativ transferiert. es könnte sich um einen fingierten Fehler handeln ( z . B . dann wahrscheinlich, wenn das Wort an anderer Textstelle als Sauce, graphiert w i r d ) . Eine Entscheidung für eine dieser Alternativen (oder für mehrere gleichzeitig) kann nur unter Berücksichtigung der Produktionsbedingungen, des Kontextes, anderer Fehler im Text, weiterer Kontextmerkmale, der Fehlerfrequenz bei Vergleichsgruppen etc. geschehen. Wichtig für eine Einschätzung bei forensischen Vergleichsuntersuchungen ist die Erkenntnis, daß Fehler nicht rein deskriptiv, sondern nur unter Berücksichtigung ihrer möglichen Fehlergenese bewertet werden können.

Ill

2 . 4 . Bislang wenig beachtet ist die kommunikative Untersuchung der Fehlerwirkunq. Es gilt, die pragmatisch-kommunikativen Folgen eines Fehlers beim Hörer/Leser zu ermitteln. Wirkungen können beispielsweise Kommunikationsstörung (durch Mißverstehen bei sinnstörenden F e h l e r n ) , soziale Einschätzung des Schreibers/Sprechers und soziale Sanktionen (insbesondere beim Verstoß gegen Registerkonventionen) sein. Dieser für die pädagogische Fehlerbewertung sehr wichtige Teilbereich der Fehleranalyse ist von geringerer Bedeutung für forensische Textvergleiche. 2.5 Ebenfalls von sekundärer Bedeutung für die forensische Linguistik ist der für die Sprachdidaktik besonders wichtige Bereich der Fehlerdidaktik. Es lassen sich in diesem Teilgebiet die Bereiche Fehlerdiagnose, Fehlertherapie, Fehlerprophylaxe und Fehlerbewertung (Evaluation) unterscheiden. Es geht darum, unter pädagogischen Gesichtspunkten Ursachen von Sprachfehlern zu ermitteln (unter Rückgriff auf die Fehlergenese) , Übungsstrategien zur Korrektur der Fehlerleistungen zu entwickeln und umzusetzen, durch Korrektur von Lehr- und Lernmethode, vorbeugende Übungen etc. Fehler künftig zu reduzieren oder zu vermeiden und anhand der Fehler Leistung und Lernfortschritte der Lerner zu beurteilen. 3.0 Die getroffenen Einschränkungen sollen nicht den Eindruck erwecken, das Erklärungspotential von sprachlichen Fehlern bei forensischen Textvergleichen sei gering einzuschätzen. Fehler, wenn sie denn in Texten auftauchen, sind ein hervorragend geeignetes Indiz, Hinweise auf Texturheber zu gewinnen bzw. Verfasser aus einem Kreis infrage kommender Personen auszuschließen. Selbstverständlich sind einzelne Fehler nicht isoliert zu betrachten, sondern im Textzusammenhang und gemeinsam mit anderen Texteigentümlichkeiten zu bewerten.

112

Die vorgenommenen Differenzierungen sollen lediglich vor vorschnellen Schlüssen aufgrund einzelner Fehler bewahren und wollen für eine gründliche linguistische Fehleranalyse plädieren, die insbesondere auch die Untersuchung von Fehlergenese und Fehlerfrequenz einbezieht. Die wissenschaftliche Erschließung der Fehleranalyse für forensische Zwecke steht erst am Anfang. Ein Fortschritt ist dann zu erwarten, wenn authentisches Material, das bislang mit juristischen Argumenten und aus Gründen des Datenschutzes zurückgehalten wird, für wissenschaftliche Zwecke der linguistischen Fehleranalyse zugänglich gemacht wird.

113

Literatur

Kainz, Friedrich. 1956. Linguistisches und Sprachpathologisches zum Problem der sprachlichen Fehlleistungen. Wien, Rudolf M. Vohrer. Kasper, Gabriele. 1975. Die Problematik der Fehleridentifizierung. Ein Beitrag zur Fehleranalyse im Fremdsprachenunterricht. Bochum (=Manuskripte zur Sprachlehrforschung Nr. 9 ) . Kielhöfer, Bernd. 1975. Fehlerlinguistik des Fremdsprachenerwerbs. Linguistische, lernpsychologische und didaktische Analyse von Französischfehlern. Kronberg/Ts., Scriptor Verlag. Meringer, Rudolf. 1908. Aus dem Leben der Sprache. Versprechen. Kindersprache. Nachahmungstrieb. Festschrift der k . k . Karl-Franzens-Universität in Graz aus Anlass der Jahresfeier am 15. November 1906. Berlin, B. Behr's Verlag. Meringer, Rudolf, Karl Mayer. 1895. Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch-linguistische Studie. Stuttgart. Spillner, Bernd. 1977. Sprachliche Fehlleistungen als Problem der Psycholinguistik, in: K . - R . Bausch/W.Kühlwein (eds). Kontrastive Linguistik und Fehleranalyse. Psycholinguistik. Stuttgart, Hochschulverlag (=Kongreßberichte der 7. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e . V . , Bd. IV) 109-124. Spillner, Bernd, Micheline Baur. 1978. Sprachliche Fehlleistungen beim Erwerb des Französischen als Ll und L2, in: W . J . Barry/H. von Faber/H. Leuninger et al. ( e d s . ) : Spracherwerb. Stuttgart, Hochschulverlag (=Kongreßberichte der 8. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e . V . , Mainz 1977,Bd. I) 109-124. Spillner, Bernd. 1990. Error Analysis - Fehleranalyse - Analyse de fautes. A comprehensive bibliography. Amsterdam, Benjamins (im Druck) Weimer, Hermann. 1926. Fehlerbehandlung und Fehlerbewertung. Leipzig. Weimar, Hermann. 2 1929. Psychologie der Fehler. Leipzig. Julius Klinkhardt.

115

TEXTANALYTISCHE

VORAUSSETZUNGEN

FORENSISCH-LINGUISTISCHER

GUTACHTEN

Klaus Brinker

Linguistische Gutachten sind bereits in der Vergangenheit gelegentlich herangezogen worden, um über die Urheberschaft eines Tatschreibens Klarheit zu gewinnen und dadurch zur Täteridentifizierung beizutragen (etwa im Fall "Oetker") 1 . In der forensischen Praxis hat sich so ein Anwendungsbereich der Linguistik etabliert, der hinsichtlich seiner sprachtheoretischen wie methodischen Prämissen von der Linguistik selbst allerdings noch kaum reflektiert wurde«. Erst in jüngster Zeit ist - ausgelöst durch die auch öffentlich geführte Auseinandersetzung um Echtheit und Unechtheit des sogenannten Barschelbriefs - innerhalb der Linguistik eine intensivere methodologische Diskussion über die linguistischen Grundlagen des forensischen Textvergleichs in Gang gekommen. Soweit es dabei um den geschriebenen (monologischen) Text geht, ist neben linguistischen Teildisziplinen wie Soziound Psycholinguistik vor allem die Textlinguistik angesprochen. Meine Frage lautet nun: Können Textlinguistik und linguistische Textanalyse einen theoretisch-begrifflichen wie methodischen Bezugsrahmen anbieten, auf den der forensisch-linguistische Gutachter bei seiner Arbeit rekurrieren kann? Oder anders formuliert: Inwieweit ist das bisher entwickelte textlinguistische Analyseinstrumentarium auch für die besonderen Aufgaben der forensischen Textanalyse verwendbar?

1 2

Vgl. Billner 1989 Zu· ersten Mal wird der mit dem Ausdruck "forensische Linguistik" bezeichnete Problembereich in Kniffka 1981 genauer erörtert.

116

Zur Klärung dieser Fragen ist es zunächst notwendig, sich klarzumachen, daß die linguistische und die forensische Textanalyse in ihren primären Erkenntniszielen und -interessen keinesfalls übereinstimmen 3 . Die linguistische Textanalyse zielt darauf ab, die allgemeinen Prinzipien (Regeln, Konventionen) der Textkonstitution, die den konkreten Texten zugrunde liegen, systematisch zu beschreiben und ihre Bedeutung für die Textrezeption zu erklären. Es geht also um die Reguläritäten, die für alle Texte Gültigkeit haben; es sollen insbesondere generelle Aussagen über die Struktur unseres sprachlichen Handlungssystems und seine Funktionen im gesellschaftlichen Kontext gemacht werden. Kurz: Bei der Analyse eines konkreten Textes (eines Textexemplars} liegt der Akzent auf dem sich im Besonderen und Einmaligen ausprägenden Allgemeinen. Anders nun der forensische Textanalytiker und Gutachter: Er hat die Aufgabe, aus dem vorliegenden Text so etwas wie den "Individualstil", den "Idiolekt" oder - wie Dieter Cherubim es genannt hat 4 - "das sprachliche Profil" einer bestimmten Person herauszuarbeiten. Trotz dieser unterschiedlichen Zielsetzung muß - so lautet mein Grundpostulat - der theoretisch-begriffliche wie methodische Bezugsrahmen für die forensische Analyse von Texten durch die linguistische Textanalyse gebildet werden. Dazu einige knappe Erläuterungen: Vereinfacht gesprochen werden heute in der textlinguistischen Diskussion drei Ebenen der Textbeschreibung unterschieden: 0 3 4 5

Vgl. auch Braun 1989, S. 145 f . In einen Vortrag zu Probienen der Konpetenzernittlung, gehalten in Arbeitskreis "Forensische Linguistik" (GAL-Tagung 1989 in Göttingen) Vgl. dazu in einzelnen Brinker 1988.

117

die kommunikativ-pragmatische Ebene (Analysekategorien: situativer und sozialer kommunikative Funktion/Textfunktion)

Kontext;

die thematische Ebene (Analysekategorien: Art des Textthemas; Form der thematischen Entfaltung/thematisches Muster) die sprachliche Ebene (Syntax, Lexik, besondere Stilmittel u s w . ) Diese

sprachtheoretischen Ebenen sind bei

der

Textanalyse

zwar genau zu unterscheiden, nicht aber voneinander lieren;

zwischen

ihnen

bestehen

enge

zu

iso-

Zusammenhänge,

die

ebenfalls beschrieben werden müssen. Ich möchte besonders die

"dienende" Rolle der sprachlichen

Mittel hervorheben; sie sind im Hinblick auf die kommunikativ-funktionalen und thematischen Konzepte des Textes zu untersuchen. Bei der Analyse eines Textes auf der sprachlichen Ebene lauten die Fragen also etwa so: (auf die kommunikativ-pragmatische Ebene bezogen) Durch welche sprachlichen Mittel wird die

Textfunktion

(und ggf. weitere untergeordnete kommunikative Funktionen des Textes) signalisiert? In Frage kommen z . B . sogenannte explizit performative Formeln und äquivalente Satzmuster, Modi, bestimmte Adverbien

und

Partikelwörter

sowie

Einstellungsbekun-

dungen . (auf die thematische Ebene bezogen) Durch welche sprachlichen Mittel wird die (Thema und Form drückt?

der

thematischen

Textthematik

Entfaltung)

ausge-

118

Hier geht es einmal um die tragenden Lexeme, die sogenannten Schlüsselwörter, zum anderen um die sprachliche Realisierung thematischer Entfaltungsmuster ( z . B . deskriptives, narratives, explikatives, argumentatives Muster). Die sprachlichen Mittel müssen also in ihrer indikatorischen Funktion für die jeweiligen kommunikativen Ziele und Inhalte eines Textes gesehen und beschrieben werden. Vor diesem theoretisch-methodischen Hintergrund ist die linguistische Basis bisheriger forensischer Textanalysen einer prinzipiellen Kritik zu unterziehen·. Soweit ich sehe, sind diese Analysen im wesentlichen syntaktisch und lexikalisch orientiert, d . h . , sie operieren ausschließlich auf der sprachlich-grammatischen Beschreibungsebene, die dabei weitgehend isoliert wird. Ein solches Vorgehen ist texttheoretisch gesehen nicht haltbar, da der Zusammenhang der sprachlichen Ebene mit den beiden anderen Ebenen der Textbeschreibung, der kommunikativ-pragmatischen und der thematischen Ebene, nicht genügend berücksichtigt wird. Aus dem skizzierten textanalytischen Beschreibungsmodell ist als methodischer Grundsatz einer jeden Textanalyse abzuleiten, daß man vom Text als Ganzem zu den konstituierenden Einheiten und Strukturen vorzugehen nat. Das heißt: Nach einer Analyse des Situations- und Handlungskontextes wird zunächst die Strukturierung des Textes in kommunikativ-funktionaler und thematischer Hinsicht untersucht. Die Fragen lauten etwa: Welche kommunikative Gesamtfunktion (Textfunktion) und welche Teilfunktionen liegen vor? Wie sind sie angeordnet? (Stichwort: Funktionshierarchie) Vgl. auch Drinker 1989

119

Welche Themen (Haupt- und Teilthemen) lassen sich ermitteln? Durch welche logisch-semantischen Relationen sind sie verknüpft? (Stichwörter: Themenhierarchie und Form der Themenentfaltung bzw. thematisches Muster) Erst dann kann die Frage nach den sprachlichen (also den lexikalischen, syntaktischen, stilistischen) Indikatoren sinnvoll gestellt werden. Dabei ist zu beachten, daß es hier kaum feste Zuordnungen gibt, d . h . , zwischen den kommunikativen Funktionen und den Mustern thematischer Entfaltung einerseits und den sprachlichen Mitteln andererseits ist keine 1:1- Beziehung anzunehmen. So können fast alle sprachlichen Einheiten und Strukturen indikatorische Funktionen übernehmen; das ist abhängig vom jeweiligen textuellen Zusammenhang und/oder dem situativen und sozialen Kontext. Nun ist ein konkreter Text nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe "Text"; er repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d . h . , er ist ein Drohbrief, ein Erpresserbrief, ein Bekennerschreiben, um nur einige alltagssprachliche Namen für forensisch relevante Textsorten zu nennen. Ganz allgemein können Textsorten als komplexe Muster sprachlicher Kommunikation mit konventioneller Geltung bestimmt werden 7 . Wir können sagen, daß sowohl unsere Textproduktion als auch unsere Textrezeption im Rahmen von Textsorten erfolgt. Der konkrete Text erscheint also immer als Exemplar einer bestimmten Textsorte. Den Textsorten kommt damit eine fundamentale Bedeutung für die kommunikative Praxis zu. Für die linguistische Textanalyse bedeutet das, daß der einzelne Text auf die Textsorte zu beziehen ist, der er aufgrund einer kommunikativ-pragmatischen Analyse zugeordnet werden Vgl. dazu i· einzelnen Brinker 1988, Kap. 5

120

kann (Hauptkriterien sind: medialer und sozialer bzw. institutioneller Kontext; dominante kommunikative Funktion/Textfunktion) . Auch bei der Textsortenbeschreibung geht es der linguistischen Textanalyse um das Allgemeine, um die typischen Eigenschaften der Textsorten auf den verschiedenen Ebenen. Genauer heißt das: Die Textsorten werden als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen ( s i t u a t i v e n ) , kommunikativfunktionalen, thematischen und sprachlich-stilistischen Merkmalen beschrieben. Ich komme zurück auf den Zusammenhang zwischen linguistischer und forensischer Textanalyse. Vor dem Hintergrund des Textsortenbegriffs lassen sich folgende Präzisierungen anführen: Die forensische Textanalyse kann das Besondere eines Textes nur vor der Folie des Typischen bestimmen. Konkret heißt das: Das vorliegende Textexemplar ist auf die zugehörige Textsorte zu beziehen, und zwar - dem skizzierten Ebenenmodell entsprechend - im Hinblick auf die Realisierung der Textfunktion und ggf. weiterer untergeordneter kommunikativer Funktionen (Kriterien: direkt, indirekt; Verfasser-, adressaten-, sachbezogen u . a . ) ; die Realisierung von Textthema und Form der Themenentfaltung (Kriterien: explizit, implizit; kontinuierlich, diskontinuierlich u . a . ) ; die sprachlich-stilistische Ausformung im engeren Sinn (Syntax, Lexik u s w . ) , sowohl bezogen auf die Textfunktion als auch auf die Thematik.

121

Durch eine solche Relationierung von Textexemplar und Textsorte lassen sich untypische Formen der Musterrealisierung auf den verschiedenen Ebenen ermitteln. Auf dieser Basis kann dann ggf. ein sogenannter forensischer Textvergleich, d.h. ein Vergleich mit anderen Texten des Tatverdächtigen, sinnvoll sein. Die herangezogenen Vergleichstexte sollten unbedingt das Kriterium der kontextuellen Äquivalenz erfüllen (Entsprechung in der KommuniKationsform und im Handlungsbereich) . Eine kommunikativ-funktionale Äquivalenz (gleicher Funktionstyp} wäre ebenfalls wünschenswert, ist aber von der Textlage her in der Regel nicht zu erreichen. Hier muß dann zumindest die funktionale D i f f e r e n z zwischen dem fraglichen Text und dem Vergleichsmaterial adäquat ref l e k t i e r t werden. Das Ziel eines solchen Textvergleichs ist es, Abweichungen in den verschiedenen Formen der Musterrealisierung als autor-spezifische Präferenzen für bestimmte Realisationsformen zu interpretieren. Es handelt sich dabei nicht nur - das sei nochmals ausdrücklich betont - um bestimmte syntaktische und/oder lexikalische Mittel b z w . Mittelkombinationen. Das zugrunde liegende textanalytische Beschreibungsmodell erlaubt auch, konzeptionelle Besonderheiten zu erfassen, z . B . die ganz persönliche A r t , ein Thema zu e n t f a l t e n , sozusagen den individuellen thematischen Zugriff (daß es so etwas gibt, zeigt etwa die folgende alltagssprachliche Reaktion: Laß mich das mal erklären, du machst das viel zu umständlich -, bei der es um die Realisierung des Erklärungsmusters g e h t ) . Dieser Aspekt (Art der Realisierung kommunikativer und thematischer Muster) ist sogar besonders wichtig, da die persönliche A r t , solche Muster zu realisieren, sie sprachlich "umzusetzen", nicht so leicht zu fälschen ist wie syntaktische, lexikalische und vor allem stilistische Besonderheiten. Es handelt sich eben um eine andere ("tiefere") Schicht des Textes.

122

Eine große Schwierigkeit für forensische Textanalysen ist im Augenblick darin zu sehen, daß der Kenntnisstand im Bereich der Textsortenlinguistik insgesamt noch recht lückenhaft ist; es wurden bisher nur wenige Textsorten adäquat beschrieben. So ist es bei der Analyse eines konkreten Textes nur selten möglich, zwischen allgemein-textsortenspezifischen und individuell-verfasserspezifischen Merkmalen genau zu unterscheiden. Um hier weiterzukommen, wäre es notwendig, ein linguistisches Projekt durchzuführen, dessen Aufgabe darin bestehen sollte, auf breiter Textbasis möglichst differenzierte Beschreibungen der in forensischer Hinsicht besonders relevanten Textsorten auf den genannten sprachtheoretischen Ebenen zu erarbeiten. Solche Textsortenbeschreibungen könnten dann in forensisch-linguistischen Gutachten als Bezugsgrundlage verwendet werden.

123

Literatur

Billner, Fritz. 1989. Probleme der Täteridentifizierung anhand lingiustischer Textvergleiche in der Hauptverhandlung. In: Symposium forensischer linguistischer Textvergleich, hg. vom Bundeskriminalamt. Wiesbaden. 105-119. Braun, Angelika. 1989. Linguistische Analysen im forensischen Bereich - zu den Möglichkeiten einer Texturheberschaftsuntersuchung. In: Symposium forensischer linguistischer Textvergleich, hg. vom Bundeskriminalamt. Wiesbaden. 143-168. Brinker, Klaus. 1988. Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 2. Auflage. Berlin. 1989. Linguistische Textanalyse und forensischer Textvergleich. In: Symposium forensischer linguistischer Textvergleich, hg. vom Bundeskriminalamt. Wiesbaden. 9-18. K n i f f k a , Hannes. 1981. Der Linguist als Gutachter bei Gericht. Überlegungen und Materialien zu einer "Angewandten Soziolinguistik". In: Angewandte Sprachwissenschaft. Grundfragen - Bereiche - Methoden, hg. von Günter Peuser, Stefan Winter. Bonn. 584-634. 1989. Thesen zu Stand und Aufgaben "forensischer" Linguistik. In: Symposium forensischer linguistischer Textvergleich, hg. vom Bundeskriminalamt. Wiesbaden. 205-237.

Kapitel 2; Juristisches Praxisfeld: Gutachten zum 'Verständnisnachweis" strittiger Wörter und Äußerungen

127

Sprachexpertisen im Zivilprozeß Christian Ritter

1. Oberblick In der Praxis des deutschen Zivilprozesses werden sprachwissenschaftliche Sachverständigengutachten nur selten eingeholt, obwohl in nicht wenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten umstritten ist, welche Bedeutung eine Erklärung nach deutschem Sprachgebrauch hat ( K a p . 2 ) . Die Gründe für die Zurückhaltung der ZivilJuristen, zumal der Richter, sachverständige Hilfe von (Sozio-)Linguisten in Anspruch zu nehmen, sind zum Teil in der Unkenntnis der Juristen von den Möglichkeiten der forensischen Linguistik sowie in der Scheu vor dem nötigen Zeit- und Kostenaufwand zu suchen ( K a p . 3 ) . Zu diesen äußeren Hemmnissen treten innere Gründe, die sich aus der teilweisen Überschneidung der Funktionen von Richter und Sachverständigem bei der zivilprozessualen Kognition ergeben ( K a p . 4 ) . Diese Gründe gehen letztlich auf die Eigenart der ziviljuristischen Methodik zurück, welche als Rechtsgewinnung durch sprachliche Arbeit an fortschreitend konkreter und kongruenter werdenden Texten gekennzeichnet werden kann. Da auch der Text der relevanten Fakten aus normativer Perspektive, nämlich unter dem Aspekt der jeweils passenden materiellrechtlichen Normen, formuliert wird, ist auch die Beantwortung der quaestio facti genuin richterliche Arbeit ( K a p . 5 ) . Trotz dieser Gegebenheiten, die einer häufigen Inanspruchnahme linguistischer Sachverständiger im Wege stehen, kann die Nichteinholung eines linguistischen Gutachtens im Einzelfall ein Verfahrensfehler sein ( K a p . 6 ) .

128

2. Fälle aus der Praxis Fall 1; Der Beklagte erhielt vom Kläger, seinem Bruder, ein Grundstück (Bauerwartungsland) im Umkreis von Frankfurt am Main gegen Zahlung der Gestehungskosten des Klägers. Warum es zu diesem Geschäft kam, war streitig; der Kläger behauptete: weil er auf Drängen des Vaters dem Beklagten zu einem Bauplatz habe verhelfen wollen; der Beklagte: weil der Kläger damals schnell habe bauen wollen, aber auf dem streitigen Grundstück noch nicht habe bauen dürfen und das investierte Geld habe flüssig machen wollen. Jedenfalls vereinbarten die Brüder, daß der Beklagte, sollte er wider Erwarten das Grundstück nicht bebauen, mit dem Grundstück nicht 'spekulieren' werde; andernfalls werde er etwaigen Spekulationsgewinn mit dem Bruder teilen. Der Beklagte baute nicht und veräußerte das - von ihm im Jahre 1963 mit 9.500.- DM bezahlte - Grundstück im Jahre 1970 für 4 0 . 0 0 0 . - DM an Dritte. Der Klage seines Bruders auf die H ä l f t e des Gewinns begegnete der Beklagte mit dem Einwand, der erzielte Überschuß sei kein 'Spekulationsgewinn', sondern Folge normaler Wertsteigerung; er habe nur aus persönlichen Gründen (berufliche Versetzung) selbst nicht bauen können. Diesem Argument sind Landgericht und Oberlandesgericht 1 Frankfurt nicht gefolgt: Nach der Vereinbarung der Brüder seien 1963 von ihnen zwei Zukunftsentwicklungen für möglich gehalten worden, nämlich entweder die Bebauung des Grundstücks durch den Beklagten oder eine 'Spekulation 1 des Beklagten; eine dritte Möglichkeit - etwa 'normaler' Weiterverkauf mit 'üblichem 1 Wertsteigerungsgewinn - sei von der Alternative 'Spekulation' nicht unterschieden worden. Hätten die Brüder mit 'Spekulation 1 nicht auch die 'normale 1 Weiterveräußerung unter Gewinn gemeint, wäre der - neben der Bebauung - wahrscheinlichste Fall nicht mitgeregelt worden, l

Fall im Anschluß an OLG Frankfurt M. 19 ü 274/85. - Dieser und die weiteren Fälle aus der Praxis sind aus Raumgründen nur verkürzt dargestellt.

129

was nicht unterstellt werden könne. Sprachsachverständige sind zur Ermittlung der Bedeutung des Wortes Spekulationsgewinn von den Gerichten nicht zugezogen worden. Fall 2; V bot K an, ihm zwei Grundstücke zu verkaufen; in der notariellen Urkunde über das Verkaufsangebot heißt es, V halte sich an das Angebot "bis zum 1. Oktober 1920 gebunden". K nahm das Angebot mit Urkunde vom 01.10.1920 an. Die Parteien stritten, ob ein Kaufvertrag wirksam zustandegekommen sei. Im Gegensatz zum Landgericht Düsseldorf hielt in II. Instanz das Oberlandesgericht Düsseldorf den Vertrag für unwirksam: die Formulierung, der V halte sich "bis zum 1. OKTOBER 1920" gebunden, sei nach allgemeinem Sprachgebrauch dahin aufzufassen, daß die Annahme des Angebotes vor dem 01.10.1920 hätte erfolgen müssen; andernfalls hätte sich V dahin ausdrücken müssen, er halte sich "bis zum 1. Oktober einschließlich" gebunden. Das Reichsgericht* hat die Entscheidung des OLG Düsseldorf aufgehoben; im Revisionsrechtszuge sei die Richtigkeit der Auslegung einer Willenserklärung einer Partei "insoweit nachprüfbarf als sie sich auf einen vom Berufungsgericht angenommenen 'allgemeinen Sprachgebrauch' gründe(t)"3. Das Reichsgericht führte weiter aus: Der Satz, daß ein solcher allgemeiner Sprachgebrauch bestehe, stellt sich als ein 'allgemeiner Erfahrungssatz 1 dar, zwar nicht in Sinne einer allgemeinen menschlichen Erfahrung, aber in Sinne der Feststellung einer beim Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung und der sich daraus ergebenden Erfahrung. Derartige Sätze, namentlich solche, die die Feststellung einer allgemeinen Verkehrsauffassung enthalten, sind vom Reichsgericht wiederholt ... nicht als Feststellung von Tatsachen, sondern als Anwendung von Normen, die für die Beurteilung von Tatsachen dienen, und in diesem Sinne als "Rechtsnormen" bezeichnet und nachgeprüft worden ... Der erkennende Senat schließt sich der Ansicht an, daß das Revisionsgericht nicht gehindert ist, die Richtigkeit eines allgemeinen Erfahrungssatzes nachzuprüfen, namentlich auch eines angeblich allgemeiUrteil des Reichsgerichts vom 5.12.1922, III 106/22, RGZ 105, 417

130

nen deutschen Sprachgebrauchs, als einer für die Beurteilung des tatsächlichen Stoffes maßgeblichen Norm, die ihn ebenso bekannt sein muß wie den Berufungsrichter. Diese Nachprüfung führte das Reichsgericht zu dem Ergebnis, der vom OLG Düsseldorf angenommene allgemeine Sprachgebrauch existiere gar nicht; vielmehr gehe der 'regelmäßige Sprachgebrauch' "eher" dahin, daß der Satz, "bis" zu einem Tage solle eine Handlung vorgenommen werden, bedeute, daß sie noch im Laufe dieses Tages erfolgen dürfe, wie sich aus einer (etwas komplizierten) Analogie zur Formulierung einiger Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Berechnung von Fristen (§§ 187,188 BGB) ergebe. Fall 3; Die Stadt Hamburg verkaufte im Jahre 1953 ein Grundstück an das Ehepaar E. In dem Vertrage hieß es: "Die Käufer verpflichten sich, auf dem Grundstück ein Wohnhaus ... zu errichten. Mehr als ein Wohnhaus mit zuei Wohnungen darf auf dem Grundstück nicht errichtet werden." Der Ehemann richtete, nachdem das Haus vertragsgemäß errichtet worden war, in einer Wohnung einen Laden ein. Die Stadt Hamburg klagte gegen die Eheleute auf Beseitigung des Ladens und obsiegte in der II. Instanz; nach dem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts darf derjenige, der sich verpflichtet, ein Wohnhaus zu errichten, nicht stattdessen ein Wohn- und Geschäftshaus errichten; schon dem Gebrauch des Wortes Wohnhaus sei zu entnehmen, daß der Einbau eines Ladens vertraglich ausgeschlossen sei. Der Bundesgerichtshof 4 hat das Urteil aufgehoben. Im Anschluß an RGZ 105, 417 hält auch der BGH die Überprüfung des Inhaltes eines 'allgemeinen Sprachgebrauchs* für revisibel, da es sich um eine "für die Beurteilung des tatsächlichen Stoffes maßgebliche Norm" handele. Das OLG unterliege "in dem Inhalt, den es dem Begriff 'Wohnhaus' beimißt", einem Rechtsirrtum. Der Charakter eines Wohngebäudes als solchen werde nämlich nicht schon dadurch beeinträchtigt, daß einzelne Räume für gewerbliche Zwecke Urt. v. 2.5.1956, V ZR 157/54, in BGH LN BGB (Fb) i 133 N r . 4

131

eingerichtet seien. Zur Begründung für diese Auffassung vom allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes Wohnhaus beruft sich der BGH auf sublime Analogien zur Formulierung einiger mietrechtlicher Spezialbestimmungen (§§ 2 GRMG, 35, 36 des l.BMG) und auf die noch entlegenere Rechtsprechung des Reichsgerichts zum preußischen Fluchtliniengesetz. Fall 4; Die Grundstücksnachbarn X und trafen im Jahre 1955 die Vereinbarung, daß in einer Wand des Gebäudes des X, welche an der Grenze zum Grundstück des liegt, keine Fenster angebracht werden dürfen. X baute später undurchsichtige Bausteine aus geriffeltem Glas in Fenstergröße ein. Die Beseitigungsklage des wies das OLG Hamm ab; mit 'Fenstern' seien im Vertrage nur "Fenster im landläufigen Sinne" gemeint; diese seien dadurch gekennzeichnet, daß sie die Einsicht in das Nachbargrundstück , ebenso Geräusch- und andere Emissionen auf das Nachbargrundstück zuließen, was man von den eingebauten Glasbausteinen gerade nicht sagen könne; der Vertragszweck werde daher durch den Einbau von Glasbausteinen nicht gestört. Der BGH B hat dieses Urteil u.a. wegen eines unrichtigen 'Ausgangspunktes' bei der Beurteilung eines "allgemeinen Sprachgebrauches" aufgehoben. Der allgemeine Sprachgebrauch, dem der Senat wiederum die "Bedeutung eines Erfahrungssatzes" und deshalb einer "für die Beurteilung des Tatsachenstoffes maßgebliche Norm" zuerkennt, erfasse im Wort Fenster auch den von X geschaffenen Mauerdurchbruch: Nach üblichen deutschen Sprachgebrauch versteht nan unter 'Fenstern' Lichtöffnungen in Gebäuden (Sprach-Brockhaus, 6. Aufl. S. 192; ähnlich Perkun, Das deutsche Wort 1953 S. 276: Öffnung, durch die Licht in einen Raum fällt.) Die Lichtdurchlässigkeit ist das Entscheidende (Grim·, Deutsches Wörterbuch 3.Bd. Sp. 1519: "das Loch in der Hand, durch reiches Tag einbricht"), während die eeist hinzukönnende Möglichkeit der Luftzufuhr (Großer Brockhaus, 16. Aufl. Band 4 S.23: Öffnung in der Außenwand eines Gebäudes zur Versorgung nit Tageslicht und Luft; vgl. auch Neisner/Stern-Hodes, Nachbarrecht in Bundesgebiet 3. Aufl. S 25 A vorletzter Abs.: "die Fenster ... sollen Licht und Luft hereinlassen") eine ninder wichUrt. v. 13.7.1960, V ZR 90/59, BGH LM BGB S 133 (C7 Nr.17)

132

tige Rolle spielt; denn erfahrungsgemäß gibt es viele Fenster, die sich überhaupt nicht öffnen lassen und daher zum Entlüften ungeeignet sind. Auch die Ausblicksmöglichkeit nach draußen (Grimm aaO:"wodurch aus dem Haus ins Freie geschaut wird") ist keineswegs in dem Maße begriffswesentlich, daß bei ihrem Fehlen nicht mehr von einem Fenster gesprochen werden könnte; bekanntlich werden zahlreiche Fenster, etwa unter Verwendung besonderen Glases, als undurchsichtige angelegt. Daß schließlich der Geräuschdurchlässigkeit ... keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, versteht sich angesichts der Häufigkeit von Doppelfenstern und sonstigen schalldämpfenden Einrichtungen von selbst." Der BGH belegt dann u . a . mit einer Analyse älterer Gerichtsentscheidungen, daß der "geschilderte Sprachgebrauch, wonach es maßgeblich auf die Lichtzuführung ankommt", auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden habe. Nach alledern sei die "Fenstereigenschaft der Mauerdurchbrüche nach allgemeinem Sprachgebrauch zu bejahen", die Baumaßnahme also nach dem Wortlaut des Vertrages unstatthaft gewesen. Der BGH begründet sodann im einzelnen, daß der Wortlaut auch nicht durch den Sinn und Zweck des Vertrages überboten werde, weswegen die gewählte Bauweise auch nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung gerechtfertigt werden könne. Fall

5: Im Jahre

1982

warb das

Kaufhaus

F an

sämtlichen

Schaufenstern mit Hinweisen auf den 'Winterschlußverkauf 1 . F. hatte zu dieser Zeit neben den reduzierten Waren auch reguläre Angebote über (an sich schlußverkaufsfähige) andere Ware in seinem Sortiment. F. wurde von einem Verein, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben die Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs gehört, wegen dieser Werbung abgemahnt und dann nach § l UWG auf Unterlassung verklagt; nach Auffassung des Klägers erwarteten erhebliche Verbraucherkreise bei allgemeinen Hinweisen auf Schlußverkaufsware, daß das gesamte Angebot reduziert werde. Während das Eingangsgericht nach Einholung eines Meinungsforschungsgutachtens der Klage stattgab und auch das OLG München im zweiten Rechtszuge im Sinne des klagenden Vereins urteilte, hat der Bundesgerichtshof· die Sache zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung an das OLG Urt. v. 1.10.1986, I ZR 126/84, NJIf-RR 1987, 350

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zurückverwiesen. Nach Ansicht des BGH spricht die 'allgemeine Lebenserfahrung' d a f ü r , daß in der Regel nur Teile des schlußverkaufsfähigen Warensortiments im Preise reduziert werden, auch wenn die Schlußverkaufswerbung allgemeingehalten sei; daher spreche die allgemeine Lebenserfahrung auch dafür, daß dieser Umstand "dem Verkehr im Laufe der Zeit... geläufig geworden" sei; andere Instanzgerichte hätten denn auch die von dem Kläger behauptete gegenteilige Verkehrsauffassung "auf Grund ihrer eigenen Lebenserfahrung " verneint; in diesem gegenteiligen Sinne sei auch ein von F. beigebrachtes Privatgutachten eines (anderen) Meinungsforschungsinstituts ausgefallen. Bei dieser Sachlage habe für das Berufungsgericht Anlaß bestanden, das vom Landgericht eingeholte Meinungsforschungsgutachten auf richtige Methodik und Oberzeugungskraft zu überprüfen; diesen Anforderungen entspreche das Berufungsurteil nicht, insbesondere setze es sich nicht mit dem Privatgutachten, den anderslautenden Instanzgerichteentscheidungen und der entgegenstehenden Lebenserfahrung ausreichend auseinander; es sei daher wegen ungenügender Beweiswürdigung verfahrensfehlerhaft (§ 286 ZPO); zudem habe das vom OLG zugrundegelegte demoskopische Gutachten Fragestellungen gewählt, die zu teilweise wenig aussagekräftigen Antworten geführt hätten.

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3. Äußere Gründe für die Seltenheit von Sprachexpertisen im Zivilprozeß 3.1 Wie die berichteten Fälle zeigen, .und die tägliche forensische Erfahrung lehrt, gehören linguistische Gutachten 7 in der zivilgerichtlichen Praxis 9 nicht nur nicht zur Routine, sie werden vielmehr gegenwärtig nur selten eingeholt. 9 Das überrascht. Warum lassen sich die Zivilrichter nicht bei der Ermittlung der Bedeutung von Ausdrücken wie Spekulationsgewinn, biß zum 1. Oktober, Wohnhaus oder Fenster von Sprachwissenschaftlern helfen? Und weiter: Warum belegte der BGH seine Auffassung vom Sprachgebrauch des Wortes Wohnhaus mit Argumenten aus der Gesetzessprache, dagegen sein Verständnis vom Inhalt des Wortes Fenster (auch) mit LexikonBelegen, wohingegen wieder die - auch an den allgemeinen Damit sind hier und im folgenden nur (sozio-) linguistische Sachverständigengutachten über Sprachgebräuche aller, einiger oder einzelner Sprecher der natürlichen Sprache (des gegenwärtig gesprochenen Standard-)Deutsch gemeint. Der Beitrag beschäftigt sich also nicht mit Expertisen anderer Art, die auch in den Bereich der Sprachwissenschaft fallen, insbesondere nicht mit solchen, die über den literarischen Wert oder die "Kunsf'-Qualifikation (in Sinne von Ar t. 5 Abs. 3 6G) befinden und dann für Fragen des Persönlichkeitsrechts-, Namens- und Urheberrechtsschutzes wichtig sein können, oder über die Übereinstimmung von Texten mit professionellen Standards (zur Überprüfung ihrer Vertragsgemäßheit) Feststellungen treffen oder sonst für den rechtlichen Umgang mit Texten als Ausdruck von Kunst- und Meinungsfreiheit von Bedeutung sein können und dann zivilrechtliche Nebengebiete wie Verlags-, ziviles Presse- und Archivrecht berühren werden. Zu allen diesen Koaplexen und weiteren Themen aus dem Umkreis von "Recht und Literatur" reiches Material z.B. in den seit 1982 erschienenen Spezialheften der NJW: NJW 1982, H. 12; 1983, H. 21; 1984, H. 19; 1985, H. 28; 1988, H. 6; 1989, H.6 "Zur Prozeßwirklichkeit des Sachverständigenbeweises im Zivilprozeß" vgl. BREUNUNG 1982, 124ff. Veröffentlichte Entscheidungen die (auch ) auf soziolinguistischen Gutachten aufbauen, sind mir nicht bekannt. Eine lURIS-Abfrage (17.7.1989) zeitigte ein negatives Ergebnis. In den von BREUNUNG 1982 ausgewerteten Akten (900 amts- und landgerichtliche Zivilprozesse mit Sachverständigengutachten) kamen Sprachexpertisen nicht vor. - In der linguistischen Literatur finden sich die beiden von KNIFFKA 1981 näher mitgeteilten Fälle. Nach privater Mitteilung von Hannes Kniffka an Verf. ist es auch in weiteren Fällen, in denen er Gutachter war oder die ihm anderweit bekannt wurden, zu solchen Gutachten gekoaaen.

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Sprachgebrauch des Wortes Winterschlußverkauf anknüpfenden Verbrauchererwartungen auch nach Ansicht des BGH mit einen Umfragegutachten zu klären sind? 3.2 Als Grund der Zurückhaltung der Juristen gegenüber linguistischen Gutachten wird von linguistischer Seite gelegentlich eine "Empfindlichkeit" 1 0 zumal der Richter vermutet, sich nicht durch Sprachsachverständige in ihrer Entscheidungskompetenz beeinträchtigen zu lassen. Zwar sind, wie weiter unten näher zu zeigen sein wird, Überschneidungen zwischen Richter- und Sachverständigentätigkeit unausweichlich, auch ist der Zivilrichter nur ausnahmsweise verpflichtet, einen Sachverständigen beizuziehen, darf nach der Zivilprozeßordnung 11 also in der Regel alle die speziellen Sachverstand voraussetzenden Tatsachenfeststellungen, die er sonst einem Sachverständigen übertragen kann, auch selbst t r e f f e n , vorausgesetzt, er hat diesen speziellen Sachverstand auch in eigener Person. Verfügt er über diese Sachkompetenz, so soll der Richter sogar von ihr Gebrauch machen und die Bestellung eines Sachverständigen unterlassen. Die Heranziehung eines Sachverständigen zeigt also immer an, daß dem Gericht selbst in einer Sachfrage die Fachkompetenz fehlt. Die tägliche Erfahrung lehrt, daß Richter dort, wo sie ihre Verantwortung für ein Urteil teilweise auf ein Sachverständigengutachten abwälzen können, durchaus geneigt sind, dies auch zu tun. Daß deswegen nicht wenige Zivilprozesse (zwar nicht de iure, aber) de facto vom Gutachter "entschieden" werden, ist ein Topos der Literatur zum Sachverständigenrecht. 12 Ja, man hört nicht selten die Schelte (zumal seitens unterlegener Parteien), das Gericht habe sich in seiner Entscheidung "hinter dem Gutachten des Sachverständigen versteckt". 13 Die oben zitierte Empfindlichkeit

10

Dazu KNIFFKA 1981, 603ff

11 12

Obligatorisch ist die Hinzuziehung von Sachverstandigen nur nach II 654,655, 676 Abs. 3 ZPO (in EntBündigungsverfahren). E. Schneider in WELLMANN 1988, 38; PIEPER 1982, 23f.

13

Vgl. auch BRUNS 1968,603.

136

dürfte also wohl nur selten ein Grund für die Abstinenz der ZivilJuristen von linguistischen Gutachten sein. Sollte aber wirklich ein Zivilrichter dem Mißverständnis erliegen, die Bestellung eines soziolinguistischen Gutachtens impliziere das Eingeständnis, die eigene Gerichtssprache 14 nicht zu beherrschen, 18 hindert dies doch den Rechtsanwalt der betroffenen Partei nicht, zur Untermauerung seiner Argumentation zur Bedeutung eines Ausdrucks ein linguistisches (Privat-)Gutachten vorzulegen. Mit diesem Gutachten muß sich dann das Gericht auseinandersetzen; es wird dem Gutachten regelmäßig nur dann (in einer "rechtsmittelsicheren" Weise) inhaltlich widersprechen können, wenn es sich dabei auf ein gerichtlich eingeholtes Gutachten stützen kann. 1 6 3.3 Mehr als jene "Empfindlichkeiten" der Zivilrichter dürfte ein anderer Umstand der verstärkten Beiziehung von Soziolinguisten in der Zivilprozeßpraxis im Wege stehen: die Unkenntnis der Ziviljuristen, daß bei der Ermittlung von Sprachgebräuchen sachverständige Hilfe bei Sprachwissen17 schaftlern nachgefragt werden kann - daß es so etwas wie "forensische Linguistik" überhaupt gibt. Diese Unkenntnis hängt zweifellos mit der Neuheit dieses Zweiges der Sprachwissenschaft zusammen.

14 15

16 17

S 184 GVG: "Die Gerichtssprache ist deutsch." - ein Mißverständnis, weil es nicht um richtiges Sprechen oder Sprachverstehen des Richters geht, sondern darum, ob sich für einen bestimmten Ausdruck ein bestimmter Sprachgebrauch (ein bestimmtes Bedeutungsvertändnis) empirisch nachweisen läßt, vgl. KNIFFKA 1981, 602ff. Vgl. etwa den Prozeßverlauf in Fall 5 oben. Selbst ROSSMANN (1987, Rn. 11 vor § 402), der durchaus die Notwendigkeit zur Feststellung "faktisch geübten Sprachgebrauchs" (i· Sinne der Feststellung der "implizit geltenden Sprachregeln innerhalb der relevanten Sprachgemeinschft") durch empirische Untersuchungen sieht und richtig urteilt, es bleibe nichts übrig, "als einzelne Repräsentanten der relevanten Sprachgemeinschaft zu befragen", erwähnt doch nur die Möglichkeit der Einholung von Auskünften der Industrie- und Handelskammern über "Sprachgebräuche im Geschäftsverkehr".

137

3.4 Ein großes Hindernis für die Heranziehung soziolinguistischer Gutachter im Zivilprozeß liegt in dem Kostenaufwand für solche, regelmäßig wohl auf Umfragen gestützte Gutachten. Im Zivilprozeß geht es für die meisten der Prozeßführenden nicht in erster Linie " u m ' s Prinzip", also um das Rechtbekommen oder Rechtbehalten, sondern um Geld und andere wirtschaftliche Werte. Der erstrebte wirtschaftliche Nutzen muß daher in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kosten für seinen Rechtsschutz stehen. Die Kosten eines Zivilprozesses sind aber vollständig von den Parteien selbst zu tragen, wenn ihnen nicht ausnahmsweise wegen Bedürftigkeit Prozeßkostenhilfe, d.h. eine vorläufige Kostenfreistellung gewährt wird. Zu den Kosten zählen nicht nur die der eigenen Anwälte, sondern auch die Kosten des Gerichts - und unter diese fallen auch die Kosten der gerichtlich bestellten Gutachten. Ordnet das Gericht die Begutachtung durch Sachverständige an, so erlegt es zugleich der Partei, die die Beweislast trägt, die Einzahlung eines Vorschusses für den Sachverständigen a u f . Sofern der Prozeß verloren geht, hat die Partei außer den eigenen Anwalts- und Gerichts- (samt Sachverständigen-) Kosten auch noch die Anwaltskosten der Gegenseite zu tragen - und zwar für alle Instanzen. Neben diesen Kosten kann das Unterliegen in der Hauptsache in manchen Fällen durchaus das kleinere Übel sein! Ist daher schon in "normalen" Zivilprozessen über kleinere Streitwerte die Kosten-Nutzen-Relation infolge des Kostenrisikos höchst problematisch 18 , so können teure - insbesondere umfragegestützte - Gutachten schnell zu einem unerträglichen Kostenfaktor werden. Auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes, insbesondere im Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht - dem einzigen Bereich des Zivilrechts, in dem bereits seit einigen Jahrzehn18

Zur Diskussion der Rechtswegsperre E.SCHNEIDER 1977, 7 und 5 m . v . N .

durch

Prozeßkostenbelaetung

138

ten die Einholung von umfragegestützten Gutachten bei {sozialwissenschaftlich-ökonomisch ausgerichteten) privaten Demoskopieinstituten häufiger vorkommt, 1 9 z . B . um die Verwechslungsgefahr oder die Verkehrsauffassung hinsichtlich einer angeblich irreführenden oder vergleichenden Werbung beim Verbraucher festzustellen - werden als Mindestkosten einer Beweisaufnahme durch Umfragegutachten 30.000 DM genannt. 20 Solche Kosten können allenfalls wirtschaftlich äußerst potente Prozeßparteien bei hohen Streitwerten riskieren. Bei wirtschaftlich ungleich starken Parteien hebt das Kostenrisiko die prozessuale Waffengleichheit auf und kann zur faktischen Rechtsschutzsperre führen. 2 1 3.5 Nicht nur die drohenden Kosten und die aus ihnen folgende Unzumutbarkeit des Prozeßaufwandes für wirtschaftlich schwache Parteien wird in vielen Fällen den Richter (und schon den Anwalt) bewegen, die Einholung solcher Gutachten, die eine Umfrage nötig machen, zu unterlassen; auch der mit der Einholung solcher Gutachten notwendig verbundene Zeitaufwand wiegt nicht leicht. Für manche Partei hängt am schnellen Erfolg in "ihrem" Zivilprozeß ihre geschäftliche Existenz.

4. Die Aufgabe des Sachverständigen und ihre Nähe zur richterlichen Kognition So erheblich auch die erwähnten Hindernisse für die Einholung von soziolinguistischen Sachverständigengutachten im Zivilprozeß sein mögen, so handelt es sich hierbei für die richterliche Erkenntnis selbst nur um eher äußere Momente. Hingegen ergibt sich aus der Eigenart des "Beweises" durch 19

Vgl. dazu HELDRICH 1986, 89f.; HARTMANN 1990, Anm. IB vor S 402 BGH NJW 1989 1804 und OLG München NJW 1986, 387 ("Dresdner Stollen"); OLG Köln NJW 1984 1358 ("Tina Farina"); aus dem Gebiet des (gewerblichen) Namensschutzes: BGH NJW 1983, 1184 ("Uwe").

20 21

HELDRICH 1986, 89 N. 75 m . w . N . ; HARTMANN wie Anm.o. Dazu schon VÖGE 1957, 1306f; HELDRICH 1986,89; HARTMANN vgl. o.

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Sachverständige - nämlich der bereits oben angedeuteten Überschneidung der Funktion des Sachverständigen mit jener des Richters im Zivilprozeß - ein weiterer (und diesmal "innerer") Grund für die bemerkte Abstinenz der Zivilrichter. 4.1 Diese These bedarf zunächst einer Vergegenwärtigung der prozessualen Regelung des Sachverständigenbeweises 8 * im gegenwärtigen Verfahrensrecht. Die "Begutachtung durch Sachverständige" (§ 358 a ZPO) ist nur eines der in der Zivilprozeßordnung vorgesehenen "Beweismittel" - neben dem Augenscheins-, Zeugen- und Urkundenbeweis sowie dem Beweis durch Parteivernehmung und durch Einholung amtlicher Auskünfte. Die Beweisaufnahme im Zivilprozeß weist gegenüber jener im Strafprozeß erhebliche Unterschiede a u f : Ihre gerichtliche Anordnung setzt regelmäßig voraus, daß zwischen den Parteien Behauptungen über Tatsachen streitig und für die Entscheidung des Rechtsstreits (also unter Rechtsgesichtspunkten) erheblich sind. Ober die Umstände, die zwischen den Parteien nicht streitig sind, darf mithin nie Beweis erhoben werden, auch wenn der Richter sie für unwahr hält. Desgleichen kommt eine Beweisaufnahme über solche Umstände nicht in Betracht, die "offenkundig" vorliegen (§ 291 ZPO) - die nämlich entweder allgemeinkundig sind oder gerichtsnotorisch. Das "Beweismittel" der Begutachtung durch Sachverständige bietet gegenüber den anderen Beweismitteln jedoch tiefgreifende Besonderheiten. 23 So d a r f , wie schon erwähnt, der Richter sachverständige Begutachtung auch ohne besonderen Beweisantrag, also von Amts wegen, anordnen, andererseits muß er einem entsprechenden Antrag einer Partei nicht nachkommen. - Der Sachverständige soll dem Richter zu 22

23

Zun folgenden vgl. LEIPOLD 1989, vor i 402 und die anderen zivilprozeasualen Standardkowaentare; äußerte· JESSNITZER 1988; WELLNANN 1988; Kl.MÜLLER 1988; RÜSSMANN 1987 Rn. Iff vor l 402; SENDLER 1986; PIEPER-BREUNUNG-STAHLMANN 1982; PIEPER 1971; OLZEN 1980; Zur geplanten Teilreforn des Sachverständigenrechts LEIPOLD 1989, aaO Rn 6 2 f f . Zum Folgenden vgl. PIEPER 1982, 3 7 f f .

140

außerrechtlichem Fachwissen verhelfen, das der Richter für eine Entscheidung braucht. Jedoch entscheidet der Richter selbst, ob er diese Sachkompetenz selbst hat, des Sachverständigen also nicht bedarf; insoweit hat der Richter die "Kompetenz-Kompetenz". Ist der Richter aber auf den Sachverständigen angewiesen, so ist der Sachverständige für den Richter nicht nur (passives) Erkenntnismittel, sondern ein selbst die gerichtliche Entscheidungsfindung förderndes Erkenntnissubjekt. 2 4 Noch inniger ist die Verwandtschaft und das Ineinandergreifen richterlicher und sachverständiger Tätigkeit dort, wo der Sachverständige nicht nur eingesetzt wird, um auf Grund seiner Fachkenntnis bestimmte einzelne Tatsachen festzustellen ( z . B . ob eine bestimmte Krankheit vorliegt; ob ein Haus vom Schwamm befallen ist; ob eine bestimmte Äußerung von einem bestimmten Sprecher oder Schreiber s t a m m t ) , sondern wo er gebeten wird, dem Gericht Auskunft über das Bestehen von wissenschaftlichen, technischen oder anderen Lehr- und Erfahrungssätzen oder Kunstregeln zu geben. Hier soll der Sachverständige dem Richter also Fachkunde durch Mitteilung von generellen Sätzen vermitteln. Z B Dies ist etwa der Fall, wenn das Gericht einen (Ober-)Gutachter beauftragt, ihm den Inhalt der DIN über Wärmeisolierung eines Hauses oder die Regeln der Soziolinguistik bekanntzumachen, denen ein Sprachgebrauchsgutachten genügen m u ß , um dann selbst den Wert dieses (vielleicht vorher eingeholten, aber umstrittenen) Gutachtens beurteilen zu können. Hier geht die Aufgabe des Sachverständigen über die nach dem System des zivilprozessualen "Beweismittel"-Rechts eigentlich vorgesehene Beschränkung der Beweismittel auf den Erweis von "Tatsachen" hinaus: denn diese generellen Sätze sind keine Tatsachen. Hier liegt auch der Grund dafür, daß der Sachverständigen"beweis" auch ohne Beweisantritt durch eine Partei angeordnet werden kann; die Parteien des Zivilprozes24 25

S.a. BRUNS 1968, 333 Vgl. LEIPOLD 1989, Rn.l vor g 402

141

ses genügen ihrer Darlegungslast nämlich bereits mit der Behauptung von Tatsachen; demgegenüber brauchen Erfahrungsund Rechtssätze von den Parteien weder vorgetragen noch unter Beweis gestellt zu werden ("iura novit c u r i a " ) . Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, daß der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz für sich in Anspruch nimmt, allgemeine Erfahrungssätze, die einem Zivilurteil zugrundeliegen, zu überprüfen, auch wenn sie aus einem Sachverständigengutachten Eingang in das Zivilurteil gefunden haben. Zwar ist das Revisionsgericht an die Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts gebunden, nicht aber an die Rechtssätze und die Erfahrungssätze, "die zur Beurteilung von Tatsachen dienen". Da der Sachverständige, soweit es um die Unterrichtung des Gerichts über allgemeine Erfahrungssätze, Naturgesetze und Kunstregeln geht, der Sache nach Hilfsorgan der richterlichen Erkenntnis ist, sieht ihn die deutsche Prozeßrechtslehre ungeachtet der gesetzlichen Beweismittelsystematik als Helfer 2 6 bzw. als Berater 2 7 des Gerichts an. Dem trägt auch das Gesetz jedenfalls insofern Rechnung, als Sachverständige ebenso wie Richter wegen Befangenheit von den Parteien abgelehnt werden können, § 406 ZPO. 2 · Womöglich noch mehr an die Funktion des Richters angenähert 29 ist die des Sachverständigen, soweit er - wie in den meisten Fällen der Bestellung von Gutachtern - nicht nur beauftragt wird, dem Gericht bestimmte Tatsachen oder/und generelle Sätze aus seinem Fach zu vermitteln, sondern diese Sätze zugleich auf den konkreten Fall anzuwenden, also z . B . dem Gericht nicht nur die technischen Schallschutznormen bekanntzumachen, sondern auch ein vom Kläger als mangelhaft lärmi26

LEIPOLD 1989, Rn. 3, 60 vor § 402; PIEPER 1971, 40; SENDLER 1986,

27

HARTMANN 1990, Ann. l vor S 402 m . w . N . ; PIEPER 1982, 37: SCHNEIDER

290. bei WELLMANN 1988, 37.

28

PIEPER 1982, 38 zieht daraus zu Recht den Schluß, daß "der Sachverständige an der Aufgabe des Richters selbst teilhat."

29

Vgl. PIEPER 1971, 3 0 f f ; LEIPOLD 1989, Rn. 14 vor § 402

142

soliert bezeichnetes Haus auf die Übereinstimmung mit diesen Anforderungen zu untersuchen und für den Fall schlechter Lärmisolierung die Kosten von hinreichenden Abhilfemaßnahmen zu schätzen; oder: dem Gericht die Kriterien richtiger Gutachtenerstattung auf dem Gebiete der empirischen Sprachgebrauchsfeststellung zu vermitteln und gleichzeitig selbst zu beurteilen, ob ein bereits vorliegendes anderes Gutachten diesen Kriterien entspricht. In diesen Fällen soll die Stellungnahme des Sachverständigen das Gericht befähigen, in Kenntnis der fachlichen Voraussetzungen rational die Schlußfolgerungen des Sachverständigen nachzuvollziehen. 30 Die Parallelität der gutachtlichen zur richterlichen Tätigkeit springt hier in die Augen: Der Sachverständige ist hier alles andere als ein bloßes Erkenntnismittel für eine vom Gericht festzustellende Tatsache, sondern er erkennt, benennt und qualifiziert sie selbst im Sinne fachlicher (außerrechtlicher) Maßstäbe. Er "subsumiert" also die von ihm festgestellte Tatsache nach jenen vorrechtlichen Beurteilungsmaßstäben. Da das materielle Zivilrecht sehr häufig an außerrechtliche Maßstäbe und Kriterien anknüpft 3 1 {Verkehrssitte, Gebräuchlichkeit, Handelsgebräuche, Regeln der Handwerkskunst, Stand der Technik, Verbrauchererwartung, Verkehrsüblichkeit), präjudiziert - zwar nicht rechtlich, aber doch tatsächlich die "Subsumtion" eines Falles durch den Sachverständigen unter eine Kategorie seines Faches nicht selten mehr oder weniger schon das rechtliche Ergebnis. Zwar bleibt immer dem Richter die Entscheidung vorbehalten 3 2 , ob er sich von dem 30 31 32

Zu den Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit und die manchmal problematische Kowtunikation zwischen Richtern und Sachverständigen vgl. DÖBEREINER/VON KEYSERLINGK 1979, 37, 38; KNIFFKA 1981, 618ff. Zum fließenden Übergang zwischen Erfahrungs- und rechtlichen Obersätzen DÖBEREINER/VON KEYSERLINGK 1979, 39; PIEPER 1971, 31 und 1982,26. LEIPOLD 1989, Rn. 6 vor § 402; OLZEN 1980, 7 7 f f ; zu den Grenzen des "Würdigungsermessens" vgl. BGH NJW 1978, 732; PIEPER 1971, 2 4 f f , 32; s.a. SENDLER 1986, 2908, 2909; de lege ferenda f ü r ein "Modell geteilter Verantwortung" PIEPER 1982, 64

143

Sachverständigen überzeugt sieht und er deshalb die außerrechtlich durch den Sachverständigen vorgenommene Beurteilung in eine rechtliche Wertung umsetzt, also z . B . ein nicht den technischen Schallschutznormen entsprechendes Haus als fehlerhaft im Sinne von § 459 BGB ansieht und die damit nach dem Gesetz verknüpften Rechtsfolgen ausspricht; die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung nach § 286 ZPO ist aber keine Willkürfreiheit, daher wird der Richter von dem rational nachvollziehbaren Votum des Sachverständigen in aller Regel nicht oder nur mit H i l f e noch qualifizierteren Sachverstandes, also eines weiteren Sachverständigen, abweichen können. Die Bedeutung der Zuarbeit der Sachverständigen für nicht wenige gerichtliche Entscheidungen hat zu Diskussionen darüber g e f ü h r t 3 3 , ob nicht auch die Verantwortung der Sachverständigen in der Weise transparent gemacht, andererseits ihre Unabhängigkeit dadurch geschützt werden m u ß , daß sie der Richterbank zugeordnet werden. Das würde indessen zu kaum überwindbaren Schwierigkeiten führen. Wollte man die Gerichtssachverständigen zu Mitgliedern der Richterbank machen 3 so wäre es wohl auch erforderlich, für jeden einzelnen Fall, der die Beteiligung eines Sachverständigen erfordert, einen besonderen Spruchkörper zu bilden. Ganz abgesehen von allen verfassungsund gerichtsverfassungsrechtlichen Bedenken (Art.101 GG) wäre ein solches Verfahren schon deshalb ungangbar, weil sich häufig erst im Laufe des Prozesses herausstellt, ob und welche Sachverständigen benötigt werden, so daß nachträglich die Zuständigkeit des Gerichts geändert oder der Spruchkörper erweitert oder der Prozeß neu begonnen werden müßte. Das geltende Prozeßrecht geht demgegenüber von der Annahme aus, daß der Zivilrichter im Regelfall selbst 33

Nach PIEPER 1982, 63 und BREUNUNG 1982, pass, stimmen in 95% der Fälle die gerichtlichen Entscheidungen ganz oder überwiegend mit den eingeholten Gutachten überein.

34

S. dazu LEIPOLD 1989, Rn. 3 vor S 402; PIEPER 1971, 39; PIEPER 1982, 6 0 f f ; OLZEN 1980, 82 ff;SENDLER 1986 2910ff; RUSSMANN 1987, Rn. 30 vor § 402.

144

über die Erfahrungssätze und die Sachkunde verfügt, die zur Entscheidung der Masse der Streitigkeiten des täglichen Lebens benötigt werden. Da andererseits Richter nicht "Spezialisten für alles" sein können 3 8 , hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, daß die Urteile der Gerichte hinsichtlich der Ermittlung und (außerrechtlichen) Einschätzung von Tatsachen regelmäßig nicht auf wissenschaftlich begründeter Sachkunde oder ähnlich qualifiziertem Wissen beruhen, sondern auf der allgemeinen Lebenserfahrung und den "Alltagstheorien" der Richter als insoweit nur (hoffentlich möglichst umfassend) "gebildeter Laien". Jedenfalls dort, wo der Richter selbst Teil des "betroffenen Verkehrskreises" ist, dessen Auffassung über das Vorliegen und die (außerrechtliche) Bewertung einer Tatsache entscheidet - also z . B . "als" Verbraucher von Waren des täglichen Bedarfs, "als" Sprecher des Standarddeutschen als natürlicher Umgangssprache - darf er sich grundsätzlich als sachverständig genug ansehen, jene relevanten Tatsachen auch ohne Hilfe eines Fachmannes festzustellen. Diese Art des richterlichen "Do-it-yourself" scheint jedenfalls im Bereich der Ermittlung von Verkehrsauffassungen nicht zu Schwierigkeiten zu führen; in der Literatur wird hierzu festgestellt, die allgemeine zivilrechtliche Judikatur sei mit ihrer "'richterlichen Selbsthilfe' im ganzen nicht schlecht gefahren"** . Die für den Laien vielleicht naheliegende Sonderung der Funktionen von Richter und Sachverständigem nach den Kriterien: hier der Bereich des juristischen Spezialisten für Rechtsfragen - dort der des fachspezifischen Spezialisten für Tatsachen, hier das Gebiet der Normen, des Sollens, der präskriptiven Sätze - dort das der Naturgesetze und der Er35

SENDLER 1986, 2910 sieht in ihnen eher Allgemeine".

36

HELDRICH 1986, 90

"Sachverständige

fürs

145

fahrungsregeln, des Seins, der deskriptiven Sätze - wird, wie sich zeigte, der Bedeutung des Sachverständigen im geltenden Zivilprozeßrecht nicht gerecht. Sie entspricht auch nicht der Funktion des Richters. Denn das geltende Recht verlangt vom Richter eben nicht nur die verantwortliche Auswahl und Feststellung der anwendbaren Rechtsnormen, sondern bürdet ihm auch die letzte Verantwortung für die Feststellung des relevanten Sachverhaltes a u f . Der Diensteid verpflichtet den Richter 37 ebenso auf Wahrheit wie auf Gerechtigkeit; auch der Richter hat nach "bestem Wissen" zu urteilen, § 38 DRiG. Wie sollte eine Entscheidung gerecht sein, die einen Sachverhalt zugrundelegt, der nicht - oder nicht so - gegeben ist! Andererseits ist es eine selbstverständliche Konsequenz der Pflicht zur Entscheidung nach "bestem Wissen", daß der Richter sein eigenes Sach-Wissen, seine eigene Lebenserfahrung und besonders etwa (zufällig) vorhandene Fachkenntnisse außerjuristischer Art richtig einschätzt 38 und dort, wo es ihm nach kritischer Selbstprüfung an hinreichender Sachkompetenz f e h l t , Sachverständige einschaltet.

5. Zur Eigenart der ziviljuristischen Methodik und ihren Konsequenzen für die Einholung linguistischer Gutachten 5, l Die bei der Analyse der Funktionen von Richter und Sachverständigem bemerkte eigene volle Verantwortung des "erken37

38

Für den Sachverständigen vgl. 5410 ZPO ("das von ihm erforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstatten"). Zu den Gefahren, die (auch) de· Sachverständigen die Treue zu seinen Eid schwer machen können - Trübung des Blicks durch eigene Interessen ("Krähentheorie"), Verkennung der Grenzen des eigenen Wissens bzw. Verdrängen der Erkenntnis, daß der Sachverständige gelegentlich nnr"nacb dem gegenwärtigen Stand seines Irrtums" gutachtet: SENDLER NJW 1986, 2912f. Die Mahnung zur Zurückhaltung und Selbstkritik der Richter hinsichtlich der Einschätzung ihrer eigenen Sachkunde ist Allgemeingut, vgl. LEIPOLD 1989, Rn. 30 vor S 402; SENDLER 1986, 2908; BENDA/KREUZER 1972, 498.

146

nenden Gerichts" für die rechtlichen und die tatsächlichen Grundlagen seiner Entscheidung nach geltendem Prozeßrecht macht die Einholung von Sachverständigengutachten in dem Grade zu einem selteneren Fall, in dem die Richter selbst sach- und fachkundig sind. Die oben bemerkte Verschränkung der Antwort auf die quaestio facti mit jener auf die quaestio iuris in der ziviljuristischen Tätigkeit ist aber nicht nur eine Eigenart des aktuell geltenden Zivilprozeß- und Gerichtsverfassungsrechts, und sie ist wohl auch nicht nur eine Folge bloßer Zweckmäßigkeitsüberlegungen bei der Ausgestaltung der professionellen Rollen von Richter und Sachverständigen, sondern sie ist auch Konsequenz einer Sachgesetzlichkeit der zivilrechtlichen Methodik 39 der Lösung von streitigen Fällen 4 0 . Zur Kennzeichnung dieser Methodik soll die moderne Auffassung von dem, was bei der Lösung eines zivilrechtlichen Falles im Zivilprozeß geschieht, vor dem Hintergrund der A u f fassung der traditionellen Methodenlehre skizziert werden. Letztere sieht das Wesen der Lösung des Falles darin, daß der Sachverhalt ("Fall") schlicht unter den "Tatbestand" des Gesetzes "subsumiert" wird. Die Subsumtion erscheint als "Rechtsanwendung" in dem Sinn, daß die in einer Norm enthaltenen Rechtsfolgevoraussetzungen wie Schablonen oder ein Raster über sämtliche Sachverhaltseinzelheiten gelegt werden; die Rechtsfolge tritt dann ein, wenn alle Rechtsfolgevoraussetzungen ("Tatbestandsmerkmale") durch Sachverhaltsmerkmale erfüllt werden. Rechtsanwendung scheint dann dem aus Naturwissenschaft und Technik bekannten "Wenn ... Dann"-Programm entsprechend vorgenommen werden zu können. Die präskriptiven Sätze des Gesetztes scheinen rückstandslos in deskriptive

39 40

Zum Folgenden RITTER 1988 Zur "herneneutischen Transpositivität des positiven Rechts" vgl. HRUSCHKA 1972.

147

Sätze aufgelöst werden zu k ö n n e n . 4 1 .

Die traditionelle Methodologie setzt verschiedene Hypothesen stillschweigend voraus. So wird unterstellt, daß einerseits das Corpus der anwendbaren Normen (also der generell-abstrakten präskriptiven Obersätze) des Subsumtions-Syllogismus für jeden denkbaren Einzelsachverhalt eine und nur eine im voraus feststehende Lösung enthält und daß andererseits bereits vor (und unabhängig von) der rechtlichen Beurteilung des Falles seine relevanten Sachverhaltsmerkmale feststehen, also ein "fertiger" (subsumtionsfähiger) Fall gleichsam eine natürliche Gegebenheit ist. Rechtsanwendung heißt dann nur festzustellen, daß der fertige Fall unter das fertige Normenraster paßt. Diese traditionelle Methodologie beruht auf Fiktionen. Es gibt nämlich keine "fertigen", natürlich gegebenen Fälle jenseits des juristischen Erkenntnisinteresses, d.h. unabhängig von der vom Anwalt intendierten, vom Richter als "wahrscheinlich angemessen" angesehenen Rechtsfolgen - und daher auch nicht unabhängig von den - diese Rechtsfolgen vorsehenden - Rechtsnormen. Ebensowenig kann unabhängig von den tatsächlichen Besonderheiten des streitigen Einzelfalles von einem fertig bereitliegenden Raster von zivilrechtlichen Normen gesprochen werden, die bereits für den konkreten Fall genügend ausdifferenziert wären. Recht - im Sinne einer richtigen Einzelfallentscheidung - wird im Zivilprozeß nicht "gefunden", wie man ein Buch in der Bibliothek oder den Schlüssel unter der Matte findet, sondern es wird in jedem

41

Zu den "Trick" der Dogmatik als Wissenschaft von den präskriptiven Sätzen des geltenden Rechts, Vorschriften durch Transfornierung in deskriptive Sätze zu "operationalisieren" vgl. z.B. ESSER 1972, 113 {"Unsetzungsprozeß von Richtigkeitserwägungen in Denkbarkeitsfragen"); HASSOLD 1981, 141 (Vertretung der Wertungsfrage durch die "Frage nach de· Vorliegen von Begriffsmerkealen").

148

Einzelfall erst erarbeitet 4 2 ; als Metapher paßt hier das Herauearbeiten einer Statue aus dem Stein eher als das Ausgraben der Statue durch den Archäologen. Erst durch die im Prozeß aufgewandte Arbeit (den Vortrag der Parteien und Anwälte, die Beweisaufnahme, das prozessuale Verhalten der Beteiligten: Zugeständnisse, Vergleiche über Einzelfragen, Herbeiführen der Streitverkündungswirkung und vieles mehr) "entsteht" der zu beurteilende Sachverhalt, erst im Hinblick auf diesen Sachverhalt kann beurteilt werden, welche Normen "passen". Die Physik unseres Jahrhunderts mußte die Vorstellung aufgeben, "die Wirklichkeit" werde von der Erkenntnis nicht mitbestimmt 43 oder sei von ihrer "Sagbarkeit" unabhängig 4 4 . Ebenso kann sich die juristische Methodologie der Einsicht nicht verschließen, daß die objektivistische Annahme einer der NornT'anwendung" vorgegebenen definierten sozialen Wirklichkeit ebenso falsch ist, wie die idealistische Annahme eines Himmels von Vorschriften, der sich über den Boden der Tatsachen wölbt und diese normativ präzise vorherbestimmt. Entsprechend erweist sich die Vorstellung, die Methode der Faktenermittlung und der Rechtsgewinnung sei selbst ohne Einfluß auf diese Fakten und Normen als Selbsttäuschung. Hier wird vor allem die Bedeutung des Umstands verkannt, daß Fakten und Normen von ihrer Sprachgestalt abhängen, ihre Ausformung im Einzelfall also von der Sprachkomptenz und aktuellen Spracharbeit der Beteiligten (Parteien, Anwälte, Zeugen, Sachverständige, Richter) nicht unabhängig sind. Bereits die "Feststellung" des Sachverhaltes ist in Wahrheit die sprachliche 42 43 44

Treffend spricht KRIELE 1976 von "Rechtsgewinnung". zur juristischen Entscheidung als schöpferischem Akt vgl. jetzt HAFT 1988, 94. Eine Konsequenz der 1927 von Werner Heisenberg formulierten Unschärferelation zwischen der Bestimmung des Impulses und des Ortes atomarer Teilchen. Dazu jetzt HAWKING 1988, 75ff. "Es ist falsch zu glauben, daß es das Ziel der Physik sei herauszufinden, wie die Natur ist. Physik beschäftigt sich mit dem, was wir über Natur sagen können." (zit. nach RHODES 1988,73)

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"Konstruktion" 48 eines Textes unter Benennung und Selektion der den Sachverhalt als "Fall" (als rechtliche "Geschichte") konstituierenden Fakten. Sie kann nicht als schlichte Wiedergabe aufgefaßt werden. Tatsächliche Ereignisse ( z . B . ein Verkehrsunfall oder ein als stillschweigender Vertragsschluß bewertbares tatsächliches Verhalten) können nicht ohne Miteinfließen von subjektiven Einschätzungen abhängig von persönlichen Erfahrungen und Kenntnissen -, von normativen Vorverständnissen usw. in "Sprache übersetzt" werden. Soweit es im Zivilprozeß um die Erarbeitung des relevanten Sachverhaltes geht, ist dieser Vorgang zudem selbst in mehrfacher Hinsicht von Rechtsnormen gesteuert. Normgesteuert ist die Sachverhaltsermittlung schon insofern, als die Prozeßordnung die Art und Weise der Ermittlung der relevanten Fakten minutiös vorschreibt ( z . B . durch Normen über Formen, Fristen, Zuständigkeiten). Vor allem ist aber die Erarbeitung der Fakten gesteuert durch das Erkenntnisziel der Beteiligten, d.h. die Intention, gerade die -und nur die Tatsachen zu ermitteln, die in concrete zu Tatbestandsvoraussetzungen von solchen Normen des materiellen Rechts passen, welche die (von Parteien und Anwälten) intendierten bzw. (vom Richter) erwarteten Rechtsfolgen rechtfertigen können. Bereits bei der "Sachverhaltsaufklärung" steuert und filtert also der Blick der Beteiligten auf das potentiell anwendbare materielle Recht die Auswahl der relevanten Fakten aus den Myriaden von Detailtatsachen, die bereits am unscheinbarsten Alltagsvorfall festgestellt werden könnten. Da es andererseits im Zivilrecht nicht selten für bestimmte Sachverhaltskonstellationen eine große Menge potentiell anwendbarer genereller Vorschriften gibt, wird zugleich die 45

Die hier geeeinte "Konstruktion" des Sachverhaltstextes bat nichts •it der "Konstruktion" rechtlicher Lösungen i· Sinne von HASSOLD 1981,131 zu tun. Von handlungsmißiger 'Konstruktion' der 'Recbtsvirklicbkeit' spricht SCHLIEßEN-LANGE 1979, 123; s.a. LODERSSEN 1982, 563 N.56

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Abundanz dieser Normen im Blick auf die (zunächst probeweise) selektierten und benannten Fakten verringert. Nach dem Prinzip von trial and error wird fortschreitend die Komplexität der möglicherweise relevanten Fakten und der möglicherweise passenden Normen reduziert. Die zivilrechtliche Rechtsgewinnung setzt also beim Vorverständnis der Beteiligten von Sachverhalt und anwendbaren Normen an, arbeitet dann im wiederholten Hin- und Herspringen von den Fakten zu den Normen und von diesen zu jenen die professionellen Falsifikations- und Verifikationsroutinen der Juristen an den streitigen Sachverhalts- und Normhypothesen der Beteiligten ab. In diesem eigentümlich kreishaften Erkenntnisprozeß 4 ' werden schließlich immer ausdifferenziertere, immer kongruentere Texte der Sachverhaltsfakten und der tatsächlich anwendbaren, konkreten rechtlichen Obersätze erarbeitet. Erst am Ende der Arbeit kann sich die völlige Kongruenz ergeben, welche die sogenannte Subsumtion des Sachverhaltes unter die Norm allererst möglich macht. Wesentlich, aber von der überkommenen Methodologie verkannt, ist hierbei die eigenartige Verschränkung der quaestio facti mit der quaestio iuris 47 im sich entwickelnden Arbeitsprozeß der zivilgerichtlichen Kognition und die von der traditionellen Methodenlehre ebenfalls verkannte Essentialität der Sprachiges t alt des nur als Text "subsumierbaren" Sachverhalts und des nur als Text "anwendbaren" rechtlichen Obersatzes. Berücksichtigt man, daß die zivilrechtliche Methodik 4 · einen ständigen Wechsel des Blicks vom Sachverhalt her auf die Normen, von den Normen auf die Fakten erfordert, und weiter, daß die "Rechtsfindung" im streitigen Fall synchron mit der 46 47 48

Auch die juristische Hermeneutik kann sich dem "berneneutischen Zirkel" nicht entziehen, RITTER 1988,169 Den "rechtstheoretisch unauflösbaren Zusammenhang" zwischen Tatsachenfeststellung und Nornanwendung betont auch STAHLMANN 1982. Zu den rhetorischen Implikationen dieser herneneutischen Rechtsnethodologie vgl.RITTER 1988, 169 und pass.; zur Rechtsfindung als herneneutischem Textvergleich s.a.BLEICH 1989,3197,3198.

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"Sachverhaltsfindung" einhergeht und beides zudem von den Normen des Prozeßrechts gesteuert ist, so liegt auf der Hand, daß auch die Feststellung des Sachverhaltes (die Erarbeitung des Textes der relevanten Fakten) in erster Linie eine rechtliche (und keine "fachwissenschaftlich" je nach Lebensgebiet einem Sachverständigen zuzuordnende) Aufgabe ist und daher in erster Linie von Juristen (Anwälten und Richtern als Prozeßhandlungssubjekten) durch juristische Arbeit zu leisten ist. "Was wirklich geschah" interessiert im Zivilprozeß nur unter dem Aspekt der aus dem Geschehen von den Parteien abgeleiteten und daher vom Richter zu beurteilenden Rechtsfolgen 4 9 . Der Sachverständige hat daher nie "umfassend zu ermitteln", sondern immer nur spezielle Fragen des Gerichts zu beantworten, die technisch im "Beweisthema" festgelegt werden. Der richtig eingesetzte Sachverständige nimmt seine Arbeit erst a u f , wenn der Sachverhalt bis auf die spezielle(n) Fachfrage(n), welche die Sachkunde des Richters übersteigt, geklärt ist, die übrigen relevanten Fakten aber feststehen {weil sie unstreitig, offenkundig oder bereits anderweit bewiesen sind). Braucht der Sachverständige für die Beantwortung der ihm gestellten Beweisfrage die Kenntnis jener weiteren Tatsachen (sogenannte "Anknüpfungstatsachen"), so hat ihn das Gericht präzise mitzuteilen, von welchen Fakten er auszugehen h a t . 0 0 . Gerade dieses Erfordernis stellt die Zusammenarbeit von Richtern und soziolinguistischen Sachverständigen im normalen Zivilprozeß vor besondere Probleme. Da die linguistische Analyse vor allem an den Verwendungszusammenhang des streitigen Ausdrucks a n k n ü p f t , 0 1 der soziale Kontext aber ein vielschichtiges Compositum mixtum ist - er49

PIEPER 1982, 24 folgert aus dem Unstand, daß "die Trennung zwischen Tatund Rechtsfrage in der herkömmlichen Reinheit nicht aufrechterhalten könne", daß der Sachverständige oft nur dann ein für die Entscheidung "brauchbares" Gutachten abgeben kann,wenn er "die normativen Aspekte mit einbeziehe". Die daraus abgeleiteten "Forderungen nach möglichst fundierten Rechtskenntnissen" sind zwar richtig, praktisch aber kau· einzulösen.

50 51

S.a.PIEPER 1971,21 KNIFFKA 1981,616

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schlössen aus Parteivortrag, in den Akten und in der mündlichen Verhandlung, aus Zeugenaussagen und anderen Beweisaufnahmen, u . U . auch aus Hintergrundwissen der Richter - etwa aus anderen Prozessen derselben Parteien - ist bereits die Beschreibung der Anknüpfungstatsachen, von denen der Sachverständige ausgehen soll, ein hochkomplexer Arbeitsvorgang, der seinerseits eine Reihe richterlicher Bewertungen und Vor-Entscheidungen (z.B. über die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen) implizieren kann. Andererseits darf der Sachverständige nicht von sich aus ein "soziales Umfeld" ermitteln, das z.B. vom unstreitigen Vortrag der Parteien abweicht, er kann dem Richter also die Bezeichnung der Anknüpfungstatsachen nicht abnehmen. 02 5.2 Geht es im Zivilprozeß, wie häufig, um die Auslegung von Willenserklärungen, ist weiter zu berücksichtigen, daß die Interpretation nach dem - gegebenenfalls vom linguistischen Sachverständigen zu klärenden - allgemeinen Sprachgebrauch weder das einzige noch das wichtigste Auslegungskriterium ist. Nach §§ 133, 157 BGB kommt es bei der Auslegung von Willenserklärungen nämlich in erster Linie auf das an, was der Erklärende "wirklich" äußern wollte; das Gesetz verbietet geradezu, "an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften" (§ 133 B G B ) , wenn dieser dem "wirklichen Willen" widerspricht. Bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen, inbesondere solchen, die auf Abschluß eines Vertrages gerichtet sind, kommt es allerdings darauf an, ob dieser konkrete Wille des Erklärenden vom Erklärungsempfänger richtig verstanden wurde. Ist dies der Fall, - vielleicht, weil in der Branche der Beteiligten oder auch gerade zwischen den beiden Parteien allein ein besonderer Wortgebrauch herrscht - spielt die eventuelle Verfehlung des nach Standard-Deutsch richtigen Wortgebrauchs durch den Erklärenden keine Rolle; Treu und Glauben (S 157 BGB) verlangen, daß die dem wirklichen Willen des Erklärenden entsprechenden und zutreffend 52

Zum sozialen Konnotat vgl. KNIFFKA 1981, 620.

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verstandenen Willenserklärungen ohne Rücksicht auf den Wortgebrauch der Allgemeinheit gelten 8 3 . Erst wenn der wirkliche Wille des Erklärenden vom Adressaten nicht richtig verstanden wurde, kommt es auf das Kriterium der "Verkehrssitte" (§157 BGB) an, welches auch den Maßstab des allgemeinen Sprachgebrauchs ("Sprachsitte") in sich enthält. Der empirisch feststellbaren Verkehrssitte, also auch dem tatsächlichen Sprachgebrauch ist allerdings vorgeordnet (nach § 157, ebenso nach § 242 BGB) das präskriptive Kriterium von "Treu und Glauben". Das hat zur Folge, daß tatsächliche Gebräuche - also auch Sprachgebäuche - der rechtlichen Beurteilung nur insoweit zugrundegelegt werden dürfen, als sie dem normativen Maßstab der (mit Treu und Glauben gemeinten) Redlichkeit entsprechen. Dem entnimmt man, daß die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen - vor allem also von Vertragserklärungen - mangels Erkennbarkeit eines speziellen "wirklichen Willens" an das anzuknüpfen hat, was der Erklärungsempfänger üblicher- und redlicherweise der Erklärung entnehmen durfte. Dabei ist der allgemeine Sprachgebrauch nur dann bestimmend, wenn weitere Anknüpfungspunkte fehlen. Solche weiteren Anknüpfungspunkte werden aber in aller Regel vorliegen: Es sind die speziellen Interessen jedes Kontrahenten oder mangels Erkennbarkeit solcher spezieller Interessen - die typischen Interessen z . B . eines Verkäufers oder eines Werkbestellers usw. In erster Linie von diesen typischen Interessen her (sofern sie nicht etwa mit Treu und Glauben oder den guten Sitten unvereinbare und daher a limine "unberechtigte Interessen" sind) sind Vertragserklärungen zu deuten. Erst wenn die Analyse der speziellen oder typischen Interessen der Beteiligten nicht zur Klärung der Bedeutung eines Ausdruckes f ü h r t , kann daher an die Aufklärung des allgemeinen Sprachgebrauchs gedacht werden. Kommt es aber auf die 53

Vgl. HEFERNEHL 1988, Rn. 35 zu S 133

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Bedeutung eines Ausdrucks nach dem allgemeinen Sprachgebrauch an, so darf der Richter sich, wie bereits ausgeführt, linguistischen Rat bei einem Sachverständigen nur dann einholen, wenn er selbst nicht oder nicht hinreichend intensiv an dem Lebensbereich teilnimmt, in dem die Beteiligten sich befanden, als sie die Erklärungen abgaben. 5.3 Nach den vorstehend ( 5 . 1 , 2 ) entwickelten Kriterien analysiert, zeigt der eingangs (2.1) mitgeteilte Fall l, daß für die Auslegung des Wortes Spekulationsgewinn weder der allgemeine noch ein spezieller Sprachgebrauch der Brüder entscheidend waren, vielmehr lieferten Erwägungen zum Interessenhintergrund des Vertrages der Brüder die entscheidenden Argumente. Diese Interessen prägten die Systematik des Vertrages: nach dem Vertrage waren zwei Alternativen vorgesehen, nämlich entweder bloße Kostenerstattung für das Grundstück bei eigener Bebauung durch den Beklagten oder Gewinnteilung bei Verkauf des Grundstücks an Dritte. Diese Systematik spiegelte die Interessen der Beteiligten, weil der Kläger nur Interesse daran hatte, das zu tun, wozu ihn sein Vater drängte - nämlich dem Bruder ohne eigenen Schaden (Selbstkostenerstattung) zum Hausbau zu verhelfen, nicht aber daran, dem Bruder einen Geldgewinn zu verschaffen. Dies konnte andererseits der Beklagte, in dessen Interesse ohnehin der Vertragschluß lag, billigerweise (nach Treu und Glauben) auch nicht von ihm erwarten. Die Schritte der "Rechtsanwendung" zeigen die oben entwikkelte Verschränkung von Tatsachen- und Normfeststellung: Als entscheidend erweist sich die Aufdeckung und Benennung der tatsächlichen Interessen, ihre Bewertung nach dem Maßstab von Treu und Glauben (hier f ä l l t z . B . das tatsächlich bestehende Interesse des Beklagten, auch Geldgewinn aus dem Geschäft allein behalten zu dürfen, a u s ) , die Verwertung der selektierten berechtigten Interessen für die Analyse des tatsächlich vorgefundenen Vertragstextes im Sinne einer

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rechtlichen Systematik von Zukunftsalternativen. Im Fall 2 konnte das Reichsgericht bei der Auslegung des Ausdrucks biß zum 1. Oktober nicht aus einen "wirklichen Willen" der Beteiligten oder spezielle Interessen der Beteiligten oder typische Interessen von Kaufvertragsparteien zurückgreifen. Da den Anforderungen des redlichen Geschäftsverkehrs die "inklusive" wie die "exklusive" Auffassung des Wortes bis gleichermaßen entspricht, kam es hier entscheidend auf das sonst nachrangige Kriterium des allgemeinen Sprachgebrauchs an. Verdient insofern der Ausgangspunkt des Reichsgerichts Beif a l l , so erscheint demgegenüber die Meinung des RG problematisch (ebenso die entsprechende Auffassung des Bundesgerichtshofes in Fall 3 ) , daß die Feststellung eines allgemeinen deutschen Sprachgebrauchs uneingeschränkt revisibel sei. Denn es handelt sich hier um eine der empirischen Überprüfung zugängliche Gegebenheit. Richtiger dürfte es daher sein, daß nur die Frage, ob ein allgemeiner Sprachgebrauch in prozeßordnungsgemäßer Weise festgestellt ist, und ob mit einem festgestellten Sprachgebrauch z.B. nach §§ 133, 157 BGB richtig argumentiert wird, der revisionsgerichtlichen Nachprüfung unterliegt. 0 4 Insbesondere überzeugt die Auffassung des RG nicht, ihm dem Revisionsgericht - müsse ein allgemeiner Sprachgebrauch ebenso bekannt sein wie dem Berufungsgericht. Das t r i f f t nämlich allenfalls dann zu, wenn die Berufungsrichter ihre Feststellung eines Sprachgebrauchs nur auf ihre allgemeine Lebenserfahrung stützen (wie es im konkreten Fall allerdings tatsächlich der Fall w a r ) , nicht aber, wenn sie empirische Befunde zugrundelegen. Lägen nämlich solche empirischen Befunde vor, wäre das Revisionsgericht jedenfalls an sie gebunden . 54

Näher dazu GRAVE/MÜHLE 1975, 274.

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Bedenklich ist auch, daß das RG seine eigene Auffassung vom allgemeinen Sprachgebrauch mit Hinweisen auf Sprachgebräuche relativ entlegener gesetzlicher Bestimmungen rechtfertigt, die den vertragsschließenden Laien mit Sicherheit nicht bekannt waren und dem normalen Sprecher des Umgangsdeutschen nicht bekannt sind. Zwar mag es sein, daß gesetzliche Bestimmungen sich meist dem herrschenden Sprachgebrauch anschließen, so daß sie mittelbar einen Schluß auf tatsächliche Sprachgebräuche zulassen. Dies ist jedoch ein schwacher Anhalt und trägt gerade im Fall der abstrakten Formulierungen von Fristenbestimmungen nicht weit. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes im Fall 3 begegnet, soweit es um die Revisibilität der Feststellung eines allgemeinen Sprachgebrauchs geht, den schon angedeuteten Bedenken. Bedenken erwecken auch die Gründe, auf denen die Feststellungen des Senates über den Gebrauch des Wortes Wohnhaus beruhen; Ableitungen aus entlegenen gesetzlichen Spezialbestimmungen und noch entlegeneren Gerichtsentscheidungen sind wenig überzeugende Belege für das, was sich ein Grundstücksk ä u f e r , der Laie ist, unter dem Wort Wohnhaus vorstellen mußte. Demgegenüber argumentierte derselbe Senat in der dem Fall 4 zugrundeliegenden Entscheidung vier Jahre später sehr viel angemessener (wenn man von Bedenken gegen die Annahme der vollen Revisibilität von Sprachgebräuchen absieht). Der allgemeine Sprachgebrauch des Wortes Fenster wird dort zwar auch damit begründet, daß der vom Senat festgestellte Gebrauch "in die Rechtsprechung Eingang gefunden habe" - was wiederum kein oder jedenfalls nur ein sehr schwaches Argument für die Empirie dieses Gebrauchs ist. Richtig ist aber der Versuch, sich des tatsächlichen Gebrauchs des Wortes durch die Sprachwissenschaft zu versichern. Soweit hier mit Belegen aus Wörterbüchern gearbeitet wird, ist dies zwar keine optimale Methode, da solche Werke nach linguistischem

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Urteil 5 " mit großer Vorsicht zu bewerten sind, wenn es um die Ermittlung eines allgemeinen Sprachgebrauchs geht. Da das Wort Fenster einen allvertrauten Gegenstand bezeichnet und der gewöhnlichen Umgangssprache angehört, hätte es sich aber wohl auch verboten, die Sache zwecks Einholung eines linguistischen Sachverständigengutachtens an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Letztlich war der Wortgebrauch in diesem Fall ohnehin nur eines und auch nicht das entscheidende Argument für die - schließlich auf eine Analyse der Interessen der Beteiligten gestützte Entscheidung. Die Entscheidung des I. Zivilsenates des Bundesgerichtshofes im Fall 5 zeigt, daß sich das Revisionsgericht hier seiner Pflicht bewußt war, Tatsachenfeststellungen -und zwar auch, soweit sie "Verkehrsauffassungen" betreffen - den Tatrichtern zu überlassen und nur die Art und Weise der Ermittlung sowie der Würdigung dieser Tatsachen zu überprüfen. Zu Recht kritisiert der Senat die Entscheidung des OLG München vom Standpunkt der "allgemeinen Lebenserfahrung" wegen Implausibilität des eingeholten Umfragegutachtens wegen mangelhafter Auseinandersetzung mit einem plausiblen Privatgutachten sowie anderen Gerichtsentscheidungen in ähnlichen Sachen, und trägt damit der erhobenen Rüge8 · verfahrensfehlerhafter BeweisWürdigung {§ 286 ZPO) Rechnung. Das Verdikt des BGH, das gerichtlich eingeholte Umfragegutachten eines demoskopischen Instituts sei (auch) deshalb als Entscheidungsgrundlage untauglich, weil die Formulierung der Fragestellungen nicht · den Anforderungen entsprächen, bet r i f f t einen offenbar typischen Mangel solcher Gutachten 0 7 . Die Klagen über die sprachliche Insuffizienz demoskopischer Gutachten legen nahe, solche Gutachten nur Sachverständigen zu übertragen, die nicht nur sozialwissenschaftlichen, son55 56 57

KNIFFKA 1981,624 Zum Rügeerfordernis MAY 1983, 980f. s.a. BHG NJW 1989, 1804

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dern auch sprachwissenschaftlichen Anforderungen genügen.

6. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit von Sprachexpertisen im Zivilprozeß Die Frage, wann die Einholung soziolinguistischer Gutachten im Zivilprozeß angezeigt i s t 9 8 , läßt sich zusammenfassend wie folgt beantworten: 1.Soweit der Zivilrichter bei der Auslegung von (Willens-) Erklärungen auf das Kriterium des allgemeinen Sprachgebrauchs abzustellen hat, ist er grundsätzlich selbst sachkundig genug; die Bestellung eines Sprachsachverständigen wird dann nicht in Betracht kommen. Anders ist dies, wenn der Ausdruck veraltet, ungebräuchlich oder entlegen ist oder wenn der Richter bei kritischer Selbstprüfung erkennt, daß er aus anderen Sondergründen tatsächlich vom Gebrauch des Ausdrucks keine genügenden Kenntnisse hat. Dann ist allerdings mit Rücksicht auf die Kosten eines umfragegestützten Gutachtens zumal bei kleinen Streitwerten ernsthaft die Frage zu prüfen, ob der Richter sich nicht mit zumutbarem Aufwand hinreichend fachkundig machen kann, ohne ein Gutachten einzuholen (Konsultation von Wörterbüchern und sprachwissenschaftlichen Werken). Sonst besteht die Gefahr, daß die Einforderung des Kostenvorschusses den Kläger zur Klagerücknahme oder den Beklagten zum Anerkenntnis nötigt. Dagegen abzuwägen ist die Gefahr dilettantischer Selbstüberschätzung des Richters als Pseudolinguisten.

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Ist die linguistische Begutachtung erforderlich (z.B. weil eine graphologische Expertise nicht möglich ist), um die Autorschaft einer (oder mehrerer) Personen an einer sprachlichen Äußerung zu beweisen oder auszuschließen - etwa in Prozessen, die Persönlichkeitsrechtsverletzungen betreffen -, so wird hier dem Gericht regelmäßig die linguistische Sachkompetenz fehlen und ein linguistisches Gutachten einzuholen sein.

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2. Wenn es für die Entscheidung eines Rechtsstreites darauf ankommt, welcher besondere Sprachgebrauch in einer Branche, einer "Subkultur", oder in einem anderen - z . B . landsmannschaftlich geprägten - speziellen Lebenskreis hinsichtlich eines Ausdrucks herrscht, kann der Richter nur dann von einer Beweisaufnahme durch Sprachsachverständige absehen, wenn er ausnahmsweise selbst diesen Lebenskreis so genau kennt, daß er auch hinsichtlich der dort herrschenden Sprachsitten sachkundig ist. Das Sachverständigengutachten muß sowohl sprach- wie sozialwissenschaftlichen Anforderungen genügen, sofern es - wie wohl in der Regel nötig - umfragegestützt ist. Hinsichtlich des Kostenaufwandes sind die schon skizzierten Abwägungen geboten. 3. In den Fällen, in denen die Einholung einer Sprachexpertise sachlich notwendig und hinsichtlich der Kostenbelastung der Parteien nicht unverhältnismäßig ist, bedeutet ihre Unterlassung einen mit der Revision rügbaren Verfahrensverstoß im Sinne der §§ 286, 549 Abs. l, 559 ZPO.

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ZUM JURISTISCHEN GEBRAUCH LINGUISTISCHER KATEGORIEN

Christian Stetter

In vielfältiger Weise sind im Zusammenhang mit Rechtsproblemen sprachliche Sachverhalte zu erörtern. Im folgenden möchte ich anhand einiger Fälle aus der Beratungspraxis des Grammatischen Telefons1 das im Titel angesprochene Problem diskutieren. Es geht dabei um die Aufhellung jenes "Doppelstatus" linguistischer Kategorien, welcher sich darin zeigt, daß Richter dort, wo es um die Klärung nicht fachspezifischer Sprachprobleme geht, in der Regel Linguisten als Gutacher, d.h. als Sachverständige mit einem speziellen, dem Laien nicht verfügbaren Wissen, nicht zulassen 2 , so etwa in dem unten geschilderten Fall einer Verleumdungsklage. Als Argument diente hier und dient in vergleichbaren Fällen generell die Berufung auf die Sprachkompetenz des "durchschnittlichen", unvoreingenommenen Laien, die in nicht fachspezifischen Kommunikationszusammenhängen hinreichen müsse, Fragen der Interpretation bestimmter Äußerungen oder Texte zu entscheiden 2 . Einerseits ist dieses Argument plausibel: Verstehen ist kein Privileg von Linguisten. Reflexiver Sprachgebrauch gehört zum Grundrepertoire eines jeden Sprechers; man hat gelernt, nachzufragen oder zu präzisieren, was gemeint gewesen sei, Das Grammatische Telefon ist eine seit 1981 existierende Sprachberatungseinrichtung des Forschungszentrums für Kommunikation und Schriftkultur beim Germanistischen Institut der RWTH (FoKS). Von seinen Mitarbeitern werden gegenwärtig ca. 1500 telefonische und schriftliche Anfragen zu Problemen der Orthographie und des Schriftgebrauchs in Deutschen, zu Fragen der Textinterpretation und Textformulierung usw. beantwortet. Alle Fälle werden - natürlich anonym - gespeichert und im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts linguistisch ausgewertet. Vgl. hierzu Kniffka 1981.

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die Bedeutung eines Ausdrucks zu erläutern usw. Andererseits ist damit nicht gesagt, daß die jedem hinreichend gebildeten Laien zur Verfügung stehende kommunikative Kompetenz hinreicht, jeden möglichen sprachlichen Sachverhalt zu analysieren, auch wenn es nicht um die Klärung von Fragen geht, die aus einer fachspezifischen Semantik resultieren. Das oben angesprochene Problem besteht also in der Ausgrenzung eines Bereichs der Rede über Sprache, der einerseits nicht als fachsprachlich gekennzeichnet werden kann und der andererseits sich doch dem "normalen" Sprachverständnis entzieht. Nicht in jedem Fall genügt, um einen Vergleich heranzuziehen, eine wie große Kompetenz im Autofahren auch immer, um den Tatbestand eines Verkehrsunfalls hinreichend deutlich zu rekonstruieren. Gefordert ist hierzu nicht nur ein Knowing-how, ein Können, sondern ein bestimmtes Knowing-that, ein in Propositionen3 explizierbares Wissen 4 . Die Routine, Abstand zu halten, beruht zwar auf Erfahrung, ist jedoch nicht identisch mit dem Wissen, welche physikalischen Gesetze einen Bremsvorgang bestimmen. Wo wird also im juristischen Bereich ein spezifisches linguistisches Knowing-that erforderlich? Judikabel können sprachliche Sachverhalte dadurch werden, daß man durch das mündliche oder schriftliche Äußern von Wörtern oder Sätzen Handlungen vollziehen kann, etwa etwas versprechen, jemanden beleidigen, einen Vertrag abschließen, Rechte eines anderen bestreiten, ein Kind oder ein Schiff taufen usw. 9 In unserem Zusammenhang verdient es durchaus Beachtung, daß sich Austin in seiner Begründung der Sprechakttheorie auf das amerikaniProposition = Satz, in dem ein bestimmter Sachverhalt beschrieben wird. Die Begriffe Knowing-how und Knowing-that ('Können' und 'Wissen') sind in der Bedeutung, in der ich sie hier verwende, erstmals von Ryle (1963, 26 f f . ) expliziert worden. Die Analyse derartiger 'Sprechhandlungen' - in Analogie dazu Büßte nan von 'Schreibhandlungen' reden - ist Gegenstand der Sprechakttheorie, die von Austin begründet worden ist. Vgl. Austin 1979.

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sehe law of evidence b e r u f t , in dem der Bericht über derartige performative Akte 6 zugelassen sei; "das wird nicht als Bericht über etwas angesehen, das er [jemand] gesagt hat das wäre Zeugnis vom Hörensagen und als Beweis unzulässig -, sondern als Bericht über etwas, das er getan hat, über seine Handlung." 7 Zwar macht es die ausgebildete Sprachkompetenz aus, Sprechhandlungen unterscheiden zu können, beurteilen zu können etwa, ob jemand etwas behauptet oder nur vermutet, versprochen oder nur in Aussicht gestellt hat, doch ist das Knowingthat, welches erforderlich ist, um solche Sachverhalte zu analysieren, offenkundig nicht mehr in dieser Kompetenz enthalten. Hierzu ist eine spezifische sprachphilosophische bzw. linguistische Bildung erforderlich. Damit läßt sich das eingangs skizzierte Problem präziser fassen: Zwar gehört es zur allgemeinen Sprachkompetenz, beurteilen; behaupten; vermuten; ... , fragen, versprechen zu können, aber sicher nicht, jedes beurteilen zu können. Klarerweise zählt auch die Sprechakttheorie, ja selbst so etwas wie empirische Semantik zu denjenigen Sachverhalten, die das Urteilsvermögen auch des gebildeten Laien übersteigen. Es kann also vorkommen, daß ein Sprecher - so natürlich auch der Jurist -eine spezifische Sprechhandlung zwar beherrscht, jedoch außerstande ist, sie angemessen zu kategorisien. Dies soll im folgenden anhand dreier Beispiele verdeutlicht werden. Im ersten Fall geht es um die Frage, was ein Eigenname ist, im zweiten um die Interpretation der Satzung einer BetriebsPerfornativer Akt := Äußerung, «it der eine bestieete Handlung vollzogen wird, z . B . Hiermit taufe ich dich auf den Namen "Prinz Eugen II", oder Hiermit erkläre ich die 20. Olympischen Sommerspiele für eröffnet oder auch einfacb Abgemacht (als Abschluß einer Wette). Austin 1979, 36.

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rente, im dritten um die eingangs bereits erwähnten Verleumdungsklage, in sämtlichen Fällen also um semantische und logische Sachverhalte. Im 1. Fall handelt es sich um die Beantragung einer Einstweiligen Verfügung gegen ein EDV-Unternehmen mit Namen A . . . Bildungs-Zentrum GmbH· wegen wettbewerbswidriger Werbung. Das beklagte Unternehmen hatte in der Stadt, in der die Klägerin seit längerem ansässig war - eine in derselben Branche tätige Firma -, für EDV-Kurse geworben, u.a. unter Verwendung der Schlagzeile jetzt in X...9 Der Antrag lautete, dem beklagten Unternehmen, das seinen Namen im Signet als abz a... bildungs Zentrum führt, zu untersagen, "... in geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbs- und Namensführungszwecken a) den Begriff "Bildungszentrum" für sich allein stehend oder in Verbindung mit dem Zusatz "A..." wie auch in der Kurzform "ABZ" als Bezeichnung für sich selbst zu verwenden und deren Verwendung anderen zu gestatten, b) die vorgenannten Firmenbezeichnungen ohne Angabe der Rechtsform der GmbH zu benutzen". In ihrer Antragsbegründung machte die Klägerin insbesondere folgendes geltend: 1. "Mit der Verwendung der Bezeichnung "a... bildungs Zentrum" ... erweckt [sie] 10 den irrigen Eindruck, daß die Antragsgegnerin im Bereich der von ihr angebotenen Leistungen in X . . . eine herausragende und beherrschende Stellung einnimmt." Ich nenne diese Behauptung im folgenden Behauptung 1. 2. "Mit dem Begriff Zentrum verbindet das Publikum die Er8 9 10

Die Namen der in den folgenden Fällen Beteiligten sind natürlich getilgt. Ich deute sie durch (frei erfundene) Anfangsbuchstaben und drei Pünktchen an. Name der betreffenden Stadt. Syntax-Fehler im Original.

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Wartung eines besonders großen und bedeutenden Unternehmens" (=Behauptung 2 ) . 3. "Durch die Schlagzeile "jetzt in X . . . " wird diese Erwartung noch verstärkt, indem der Eindruck einer Sonderstellung innerhalb von X . . . vermittelt wird" (= Behauptung 3) . 4. "... darf die einzelne Niederlassung oder das einzelne Geschäft des Unternehmens nur dann als "Zentrum" auftreten, wenn das betreffende Geschäft die in das Wort "Zentrum" gesetzten Verkehrserwartungen erfüllt" {= Behauptung 4) . Bei dem Ausdruck A . . . Bildungs-Zentrum GmbH handelt es sich um einen Eigennamen. Dies kommt u.a. darin zum Ausdruck, daß das beklagte Unternehmen ihn auch in einer bestimmten graphischen Form verwendet 1 1 , nämlich in der Form abz a... bildungs Zentrum, die sowohl in der Kleinschreibung wie in der Trennung des Wortes Bildungszentrum von den im heutigen Deutsch üblichen orthographischen Normen deutlich abweicht. Solche Abweichungen werden nur in Eigennamenbezeichnungen als Bestandteil des Designs toleriert. Würde jemand über das "bildungs Zentrum von A . . . " schreiben, so würde man dies als Ausweis orthographischer Inkompetenz werten, denn in diesem Zusammenhang ist der Ausdruck ja nicht als Eigenname verwendet. Implizit wird dieser Sachverhalt selbst von den Anwälten der Klägerin bestätigt, die auf S. l ihres Schriftsatzes den Antrag auf Erlaß einer Einstweiligen Verfügung "gegen die Firma ABZ A . . . Bildungs-Zentrum GmbH ..., vertreten durch ..." stellten. Sie konnten natürlich gar nicht anders, denn sie mußten ja den Prozeßgegner identifizieren. Dies eben ist die logische Funktion des Eigennamens, die sich von dem, was die Antragsteller "Bezeichnung" nennen, in charakteristischer 11

Ich spreche i· folgenden von nur eine· Eigennamen, behandle also den i· Signet verwendeten Ausdruck abz a... bildungs Zentrum als graphische Variante.

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Weise unterscheidet. Die Kluft zwischen sprachlichem Können und Wissen zeigt sich bei den Antragstellern in geradezu paradigmatischer Weise darin, daß sie die beklagte Firma mit genau dem Eigennamen identifizieren, den zu führen sie ihr bestreiten. Ursache dafür ist offensichtlich, daß die Verwendung von Eigennamen ihnen wie allen kompetenten Sprechern so geläufig ist, daß sie die - außerordentlich komplexen logischen Schwierigkeiten des Begriffs 'Eigenname' an keiner Stelle bedenken 12 . Im Gegensatz zu den generellen Termini (Bezeichnungen, Kennzeichnungen, begriffliche Charakterisierungen o . a . , d . h . allgemein gesprochen: Prädikaten) gehören die Eigennamen der Klasse der sog. singulären Termini an. Sie dienen - wie das Beispiel zeigt - dazu, Individuen (natürliche oder juristische Personen, Objekte wie Städte, Länder usw.) in Rede bzw. Schrift zu identifizieren. In der modernen Logik ist diese Funktion so beschrieben, daß Eigennamen dazu verwendet werden, ein Individuum aus einer bestimmten Menge "herauszugreifen" 13 . Prädikate haben eine andere Funktion: Sie dienen dazu, das Objekt, auf das sie angewandt werden, als etwas zu kennzeichnen und damit von anderen Objekten zu unterscheiden. Im Gegensatz zur Identifikationsfunktion von Eigennamen unterliegt die Kennzeichnungsfunktion von Prädikaten dem Kriterium der Wahrheit bzw. Richtigkeit. So kann es falsch sein, daß ein Unternehmen als GmbH bezeichnet wird, denn der Ausdruck "GmbH" ist begrifflich definiert. Dagegen kann weder falsch noch wahr sein, daß der Bundeskanzler Helmut Kohl "Helmut Kohl" und nicht etwa "Hans Kohl" heißt 1 4 . Er ist so 12 13 14

Vgl. zur logischen Analyse des Begriffs 'Eigenname* insbes. Kripke 1981. Vgl. Tugendhat/Wolf 1983, 146 f f . , bes. 160 ff. Dies ist wohlgenerkt nicht identisch damit, daß der gegenwärtige (1989) Bundeskanzler Helmut Kohl heißt. Dies ist natürlich wahr. Es geht ÜB die Frage, ob es wahr sein kann, daß Helmut Kohl "Helmut Kohl" heißt.

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getauft worden, und deswegen heißt er so. Es kann allenfalls jemand darüber im Zweifel sein, ob der gegenwärtige Bundeskanzler Helmut Kohl heißt. Ist er sich jedoch über dessen Identität im klaren, kann er dessen Namen eben deswegen nicht bestreiten, weil die Identität mithilfe des Namens gesichert wird 1 . Eine von den Antragstellern ersichtlich nicht berücksichtigte Konsequenz aus diesem Sachverhalt besteht darin, daß man Eigennamen uneingeschränkt führt, im Gegensatz etwa zu Titeln. Den Titel "Bundespräsident" führt Richard von Weizsäkker nur für die Dauer seiner Amtsperiode. Solange man dagegen einen bestimmten Eigennamen, z . B . N, führt, heißt man jederzeit N. Dies kann nur durch eine Namensänderung geändert werden, die - weil der Eigennamen der Identifizierung des betreffenden Individuums dient - deshalb hochgradig normiert ist. Niemand kann sich beliebig heute so, morgen so nennen. Wenn man einen Eigennamen führt, so führt man ihn folglich auch überall. Auch dies zählt zu den unbestrittenen universellen Eigenschaften von Eigennamen. Hieraus folgt unmittelbar die Unsinnigkeit der Behauptung 4. Wenn die beklagte Firma in Düsseldorf oder Berlin A . . . hieß, dann hieß sie auch in X . . . so, ja sie konnte gar nicht anders, als überall als A . . . auftreten. Entweder also wurde dem beklagten Unternehmen generell das Recht bestritten, sich abz a... bil dungsZentrum zu nennen, oder nicht. In jedem Fall mußten sich in der Antragsstellung Widersprüche ergeben: Implizit hatten die Antragsteller den Namen der beklagten Firma ja durch seine Verwendung auf S. l ihrer Klageschrift anerkannt. Hätten sie die Berechtigung der Namensführung bestritten, so hätten sie eine der dafür im Deutschen üblichen Formen wie sogenannt, Firma, die sich selbst ... nennt, " ... " o.a. verwenden müssen. Entweder war also Punkt (a) des 15

Daß nan einen Namen trägt, hängt also Hit einem - formellen oder informellen - Taufakt zusammen. Vgl. dazu insbes. Kripke 1981, 154 ff.

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Antrags unsinnig, denn er beantragte ja die Untersagung des fraglichen Ausdrucks "zu Wettbewerbs- und Namensführungszwecken". Oder er mußte auf ein generelles Verbot lauten, diesen Namen zu führen. Dies hätte jedoch der Tatsache widersprochen, daß die Antragsteller selbst den von ihnen monierten Namen verwendeten. Des weiteren setzt Punkt (b) des Antrags voraus, daß das beklagte Unternehmen eine der in (a) monierten Bezeichnungen als Eigennamen f ü h r t e . Entweder wurde also mit (b) beantragt, daß das Unternehmen A . . . seinen Eigennamen nie ohne Kennzeichnung der Rechtsform des Unternehmens führen dürfe eine von dem in (a) monierten Ausdruck völlig unabhängige Frage - oder Punkt (b) des Antrags widersprach dem Punkt ( a ) , da er als gegeben voraussetzte, was dieser bestritt. Diese Widersprüche resultieren offenkundig daraus, daß das Knowing-how der Antragsteller, Eigennamen sinnvoll zu verwenden, mit ihrer impliziten Eigennamentheorie in Konflikt geriet. Folgte man Punkt (b) des Antrags, so würde dies bedeuten, im heutigen Schriftgebrauch allgemein übliche graphische Formen zur Kennzeichnung von Eigennamen zu verbieten, denn der Ausdruck "GmbH" dient in logischer Hinsicht gerade nicht zur Identifikation des Unternehmens, sondern zu seiner Kennzeichnung als Unternehmen mit bestimmter Rechtsform auch dies eine Konsequenz, die die Antragsteller offenkundig nicht bedacht hatten. Prinzipiell gilt also, daß aus einem Eigennamen nicht notwendig auf bestimmte Eigenschaften des Namensträgers geschlossen werden kann. Weder muß Herr Schwarz schwarz sein, noch schließt der Eigenname ARD (Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands) in irgend einer Weise aus, daß es sich hierbei primär um Fernsehanstalten handelt, noch

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ist die Deutsche Bank deutsch usw. Eigennamen kennzeichnen nicht. Die Tatsache, daß jemand Hans Müller heißt, reicht nicht hin, ihn zuverlässig von anderen Personen oder Objekten zu unterscheiden. Ich kann meinen Pudel Hans Müller nennen, um den Nachbarn zu ärgern. Deswegen ist es grundsätzlich unsinnig, aus der Tatsache, daß jemand oder etwas P heißt, abzuleiten, er bzw. es sei auch P. Daher kann man daraus erst recht nicht folgern, daß der oder das Betreffende für sich in Anspruch nehme, P zu sein. Normalerweise geht auch jeder so mit Eigennamen um: Niemand kommt auf die Idee anzunehmen, daß der Indische Ozean indisch sei, nur weil er so heißt. Entsprechend wird im normalen Sprachgebrauch auch niemand fragen, ob ein Unternehmen, das sich bil dungs Zentrum nennt, seinen Namen denn zu Recht führe. Normalerweise versteht jedermann diesen Ausdruck als nichts anderes denn als Eigennamen. Dies schließt nicht aus, daß Eigennamen begriffliche Elemente enthalten können, die den Namensträger in bestimmter Weise kennzeichnen. Daß ein bestimmtes Institut Institut für Theoretische Physik der RWTH heißt, besagt natürlich etwas über die dort betriebene Wissenschaft. Auch Eigennamen von Unternehmen werden oft diesen Aspekt aufweisen, insbesondere dann, wenn sie in der Werbung verwendet werden. So ist es auch in dem hier diskutierten Fall. Die Frage, ob die Behauptungen l bis 4 der Antragsteller als stichhaltig anzusehen sind, verlangt somit zusätzlich zur Klärung des logischen Status von Eigennamen eine syntaktische und senantische Analyse des Eigennamens A...Bildungs-Zentrum GmbH bzw. abz a... bildungs Zentrum.

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Die Syntax besagt zunächst, daß es sich um ein Bildungszentrum von A . . . handelt, so wie Schulzentrum als "Zentrum der Schule", Stadtzentrum als "Zentrum der Stadt" usw. verstanden wird. Zentrum wird ferner durch Bildungs- als Bildungszentrum charakterisiert, im Gegensatz etwa zu Verfügungs-, Tagungsoder Konferenzzentrum o.a. Damit wird der semantische Wert von Zentrum durch zwei Attribute eingeschränkt, und da dies durch eine völlig regelmäßige syntaktische Form des Deutschen geschieht, konnte auch niemand diesen Ausdruck anders verstehen, als daß es sich bei dem betreffenden Objekt um das oder ein Bildungszentrum von A . . . handelte, was auch immer unter "Bildungszentrum" i.e. zu verstehen sein mochte. Hieraus ergibt sich unmittelbar die Unhaltbarkeit der Behauptung 1. Nichts in dem monierten Namen deutet im geringsten an, daß damit ein Unternehmen bezeichnet wäre, das in X... eine wie auch immer geartete Bedeutung hätte. Angedeutet wird durch den Namen lediglich, daß es sich um ein Unternehmen von A . . . handelt - und dieses Faktum traf offenkundig zu. Unhaltbar ist auch die Behauptung 2: Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache verzeichnet als Grundbedeutung von Zentrum: "Grundwort von Zus(ammensetzungen) mit der Bed(eutung) zentrale Einrichtung. Anlage, wo bestimmte Einrichtungen (für jemdn., für et».) konzentriert sind, z . B . Einkaufs-, JugendSportzentrum" 16 Der Ausdruck A... bildungs Zentrum besagt so allenfalls, daß es sich bei dem durch ihn bezeichneten Objekt um eine Einrichtung handelt, wo nicht näher qualifizierte Bildungsein16

Bd. VI, S. 2930.

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richtungen der Firma A . . . konzentriert sind.

Nur in bestimmten, speziellen Verwendungsweisen wie das industrielle Zentrum Deutschlands, das kulturelle Zentrum Europas usw. nimmt Zentrum den semantischen Wert von "herausragende Bedeutung" o.a. an. Dies liegt jedoch gerade nicht an dem semantischen Wert von Zentrum, sondern an der Verwendung des bestimmten Artikels im Singular. Spricht man dagegen von den kulturellen Zentren Europas, so ist daraus nicht im mindesten abzuleiten, ob eines oder welches von ihnen nun eine herausragende Stellung einnimmt. Erst recht gilt dies für die spezielle Verwendungsweise von -Zentrum als Bezeichnung eines Unternehmens. Hierbei handelt es sich - wie das häufig verwendete Wort Einkaufscenter belegt - um eine aus dem Angelsächsischen übernommene Bezeichnungsweise. Die Behauptung 2 wäre also nur dann haltbar, wenn das A . . . bildungs Zentrum für sich mit einem Ausdruck wie das Bildungszentrum in ... o.a.geworben hätte. Dies war aber nicht der Fall. Hieraus wiederum ergibt sich unmittelbar die Unhaltbarkeit der Behauptung 3: Der Ausdruck "jetzt in ... " wird von jedem kompetenten Sprecher des Deutschen im Sinne von neu in ... oder bis jetzt noch nicht in ... usw. verstanden werden. Der "Eindruck einer Sonderstellung" konnte durch seine Verwendung nicht vermittelt werden. Solches hätte ja die Behauptung impliziert, daß es sich bei A . . . um ein in X . . . etabliertes Unternehmen handele. Der Begriff "etabliert" impliziert semantisch jedoch "hier bereits seit längerem anwesend", "nicht neu" o.a. Damit, daß die Fa. A . . . Bildungszentrum GmbH sich als "jetzt in ... " annoncierte, tat sie somit das genaue Gegenteil von dem, was die Antragsteller ihr unterstellten. Sie wies sich als noch nicht in ... etabliert, neu in ... o.a. aus.

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Der Antrag war somit aufgrund der logischen Eigenschaften von Eigennamen in sich widersprüchlich und die Behauptungen l bis 4 semantisch unhaltbar. Ein ähnlicher Widerspruch zwischen sprachlichem Handeln und einer Interpretation dieses Handelns, also zwischen Knowinghow und Knowing-that, charakterisiert den zweiten Fall, den ich diskutieren möchte. In ihm ging es um die Interpretation einer Pensionsordnung des Haftpflichtverbandes ...17.Der Text, dessen Auslegung strittig war, lautete: Haftpflichtverband ... Bestimmungen für die Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung (Pensionsordnung) (gültig ab 31.12.1968) * # · ·

§1 (1) Die Angestellten des Haftpflichtverbandes und die im Einzelfall von den Haftpflichtverband bestimmten weiteren Arbeitnehmer, die a) das 30. Lebensjahr vollendet haben und b) 10 Jahre ununterbrochen in Dienste des Haftpflichtverbandes gestanden haben, haben Anspruch auf Versorgung (Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung) nach Naßgabe folgender Bestimmungen.(2) Die nachstehenden Bestimmungen gelten nicht für Angestellte, die nach Vollendung des 40. Lebensjahres beim Haftpflichtverband eintreten § 16 (1) Die Bestimmungen treten an 31.12.1968 in K r a f t . Aufgrund des §1 Abs.2 dieser Pensionsordnung hatte sich der Haftpflichtverband geweigert, einem ehemaligen Mitarbeiter, der bei Eintritt in den Dienst des betreffenden Haftpflichtverbandes älter als 40 Jahre gewesen war, eine Betriebsrente zu zahlen. Dieser erhob daraufhin Klage. Die sprachliche Ursache des Streites lag somit darin, daß der Haftpflichtverband aus dem Wortlaut des §1 Abs.2 der Pensionsordnung eine andere Dauer des Ausschlusses der Geltung der Bestimmungen §§ 2 ff. für Angestellte ableitete, die nach Vollendung des 40. Lebensjahres beim Haftpflichtverband eintreten, als der Kläger.

17

Ich nenne diesen Verband im folgenden einfach

Haftpflichtverband.

175

Dieser interpretierte § l Abs.2 im Sinne der Formulierung: "Die nachstehenden Bestimmungen gelten nicht für Angestellte, die nach de· 31.12.1968 nach Vollendung des 40. Lebensjahres beim Haftpflichtverband eintreten". Ich nenne diese Auslegung des § l Abs.2 im folgenden Lesart l (Ll). Der Haftpflichtverband dagegen interpretierte § l Abs.2 im Sinne der Formulierung: "Die nachstehenden Bestimmungen gelten nicht für Angestellte, die vor oder ab 31.12.68 nach Vollendung des 40. Lebensjahres beim Haftpflichtverband eintreten". (= L2) Diese Lesart ist sachlich äquivalent der Formulierung: "Die nachstehenden Bestimmungen gelten nicht für Angestellte, die nach Vollendung des 40. Lebensjahres beim Haftpflichtverband eintreten oder eingetreten sind". (= L2') Es geht bei dem Streit also im wesentlichen um die Frage, wie die in §1 Abs. 2 verwendete Verbform eintreten zu interpretieren ist. Dies wird durch die Lesart L 2 ' bestätigt. Damit war ein Argument zu suchen, von dem her sich dieses Problem entscheiden ließ. Der Erlaß einer Ordnung ist aus sprachtheoretischer Sicht ein performativer A k t 1 8 : Mit der Unterzeichnung wird der Inhalt der Ordnung in Kraft gesetzt. In diesem Fall sollte gemäß §16 Abs.l die Ordnung ab dem 31.12.68 gelten. Explizit formuliert stand damit der gesamte Text der Pensionsordnung unter der Prämisse: "Ab 31.12.1968 soll gelten, daß ..." Isoliert betrachtet könnte die Formulierung des § l Abs. 2 als datumsunabhängige Charakterisierung der betreffenden Teilmenge von Angestellten betrachtet werden. Abs. 2 steht aber wie der ganze Text unter der eben genannten Prämisse. 18

Vgl. Anm. 5.

176

Diese bindet logisch natürlich den ganzen Satz, also auch den Nebensatz die nach Vollendung des 40. Lebensjahres beim Haftpflichtverband eintreten. Der Absatz war damit zu lesen als: "Ab 31.12.68 gilt für Angestellte, welche ... eintreten ..." Die Verwendungsweise der Präsensform ist im Deutschen klar geregelt. Sie ergibt sich aus der Differenz zu anderen Verbformen wie Futur, Präteritum, Perfekt usw., in diesem Fall also aus der Differenz der Formen eintreten, eintraten, eintreten werden, eingetreten sind etc. Man braucht hier nur nicht mögliche Verwendungsweisen der Präsensform zu betrachten. Nicht möglich ist im Deutschen die Verwendung des Präsens nach einer Zeitbestimmung, die sich auf die Vergangenheit bezieht. Formulierungen wie gestern gebt er ins Kino

vor Uhr ist das Spiel beendet (wenn man dies nach 17 Uhr sagt oder schreibt) werden von jedem Sprecher des Deutschen als ungrammatisch, d.h. als Verstoß gegen bestimmte Regeln des Deutschen empfunden. Eine Formulierung wie Vor Helmut Kohl ist Helau t Schmidt Bundeskanzler ist, wenn überhaupt, nur im sog. historischen Präsens möglich. Dieser Fall scheidet hier natürlich aus. Da eine datumsunabhängige Interpretation der Verbform eintreten hier somit nicht möglich ist, kollidiert die Lesart 2 mit der eben beschriebenen Tempusregel. Denn in expliziter Formulierung muß sie eintreten mit einer Zeitbestimmung der Vergangenheit - vor dem 31.12.68 - syntaktisch kombinieren. Sprachlich möglich wäre L2 nur insofern, als die ganze Zeitbestimmung vor oder ab 31. 12. 68 lautet, eintreten also auch auf ab 31.12.68 bezogen werden kann. Um diese Regelkollision zu vermeiden, würde man deshalb die Lesart 2 ' der Lesart 2 vorziehen.

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Möglicherweise haben die Verfasser der Pensionsordnung eine solche datumsunabhängige Lesart, also L2 bzw. L 2 ' , gemeint, doch gilt das Prinzip, daß man nichts meinen kann, was im Widerspruch zu den sprachlichen Regeln steht, die man zum Ausdruck der Meinung verwendet 1 '. Denn das Gemeinte ist ja eine bestimmte Bedeutung, die nur durch die Verwendung bestimmter für eine Sprachgemeinschaft geltender Regeln artikuliert werden kann. Will ein Sprecher eine Meinung Mi von einer Meinung Hz unterscheiden, so ist dies auch ihm nur durch die Unterscheidung zweier Ausdrücke AMI und AM s möglich. Die Redeweise mit habe ich y gemeint besagt daher soviel wie anstelle von hätte ich y sagen sollen o.a. Im Unterschied zur Lesart 2 befindet sich Lesart l in Übereinstimmung mit den betreffenden sprachlichen Regeln. Sie entspricht durchaus der Verwendungsweise des Präsens im Deutschen. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Mit Wirkung vom 1.1.1988 wurde bekanntlich eine Regelung inkraft gesetzt, nach der für Kraftfahrzeuge ohne Katalysator höhere Steuern zu zahlen waren. Dieser Sachverhalt ließe sich - vereinfacht - in der folgenden Regel formulieren: Ab 1.1.88 Bussen Fahrzeuge, die ohne Katalysator zugelassen werden, höhere Steuern zahlen. Die betroffene Formulierung:

Fahrzeugmenge ist

dieselbe wie die in der

"Fahrzeuge, die ab 1.1.88 ohne Katalysator zugelassen werden. Bussen ..."

19

Dies hat Searle in seiner Diskussion der Bedeutungstheorie von P.Grice gezeigt. Ich nenne dieses Prinzip daher das Searle-Prinzip. Vgl. Searle 1971, 68 ff.

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Ll ist - wie dieses Beispiel zeigt - extensional 20 , d.h. hinsichtlich der Bezeichnung der von der Geltung ausgeschlossenen Menge von Angestellten, identisch mit der Formulierung der Pensionsordnung. Nicht möglich war es jedoch aus den oben i.e. dargelegten grammatischen Gründen, die Bedeutung des § l Abs.2 mit L2 gleichzusetzen. Dies geht insbesondere aus der Formulierung L2' hervor, die an der Stelle, wo § l Abs. 2 die Form eintreten enthält, eintreten oder eingetreten sind formulieren muß, da sonst die Äquivalenz mit L2 nicht gesichert wäre. Der Haftpflichtverband hatte, um die datumsunabhängige Geltung der Bedingungen des §1(1) a und b zu definieren, die Formulierungen "a) das 30. Lebensjahr vollendet haben und b) 10 Jahre ununterbrochen im Dienst des Haftpflichtverbandes gestanden haben" gewählt, nicht "a') nach den 31.12.68 das 30. Lebensjahr vollenden" bzw. "b') nach dem 31.12.68 10 Jahre ununterbrochen im Dienst des Haftpflichtverbandes stehen". Das Vermögen sprachlicher Differenzierung zwischen eintreten und eingetreten sind stand also dem Verfasser der Ordnung ersichtlich zur Verfügung. Insofern muß man im Sinne des Searle-Prinzips davon ausgehen, daß er - um die Menge der pensionsberechtigten Angestellten entsprechend der Lesart 2 zu begrenzen - auch die Formulierung der Lesart 2 gewählt hätte. Der 3. Fall, den ich abschließend diskutieren mochte, ist, was die Rechtsfolgen der in ihm getroffenen Entscheidungen angeht, sicher der gravierendste, zugleich wohl auch derjenige der drei Fälle, in dem sich die schwierigsten linguistischen Probleme stellten: 20

Die Extension eines Ausdrucks A:= Menge derjenigen Objekte, unter A fallen.

die

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Anfang der 80er Jahre wurde von der Staatsanwaltschaft Aachen im mehreren Fällen Anklage wegen Volksverhetzung, Verleumdung u . a . gegen Personen erhoben, die im Zusammenhang mit politischen Demonstrationen bestimmte Äußerungen gegen F.J.Strauß gerichtet hatten. U . a . wurde ein junger Mann angeklagt, der im Rahmen einer Demonstration gegen den englischen Historiker Irving, der von der DVU zu einem Vortrag über die angebliche "Auschwitz-Lüge" eingeladen w a r 2 1 , folgenden Satz aus einem Flugblatt laut verlesen hatte: Jeder Erfolg gegen sie {= Mitglieder oder Anhänger der DVU, Ch. St.] ist auch ein Erfolg gegen den Führer dieser braunen "£aaelungsbevegung zur Rettung des Vaterlandes", gegen Franz Josef Strauß, der jetzt schon fast täglich seinen Machtansprucb gegenüber der "Übergangsregierung Kohl/Genscher" geltend macht. Die Anklage lautete auf Verleumdung, da der Beschuldigte u.a. "wider besseres Wissen" als Tatsache behauptet habe: Er (Strauß) ... ist der Anführer der braunen Saattlungsbevegung ... Die philologische Unkorrektheit der Anklage - in dem von dem Beklagten vorgelesenen Satz ist ja die Rede von ... gegen den Führer dieser ..., gegen Franz Josef Strauß ~ indiziert bereits das Problem, einen sprachlichen Ausdruck, der durchaus allgemein verständlich ist, angemessen zu analysieren. Die eingangs beschriebene Kluft zwischen Knowinghow und Knowing-that zeigt sich in diesem Fall in dem Unvermögen, diejenige sprachliche Handlung korrekt zu identifizieren, die der Beklagte vollzogen hatte, indem er den betreffenden Satz vorgelesen hatte. Keineswegs hatte dieser damit behauptet, daß Strauß der Führer von ... sei. Eine Behauptung ist eine Sprechhandlung, durch die einem durch einen Ausdruck A gekennzeichneten Objekt ein bestimmtes Prädikat P zu- oder abgesprochen wird wie z.B. in 21

Es ist nicht bekannt, daß der betreffende Aachener Staatsanvalt hiergegen Anklage erhoben hätte.

180

A

P

Der Aachener Dom Bonn

wurde von Karl dem Großen erbaut liegt am Rhein

Die von Beklagten vollzogene Behauptung lautete somit - er hatte den Text ja vorgelesen -: Jeder Erfolg gegen ... (= A) ist auch ein Erfolg gegen ... (= P). Mit der Verwendung des Ausdrucks gegen den ... , gegen Franz Josef Strauß hatte der Beklagte vielmehr zu verstehen gegeben 22 , daß er Strauß für den Führer von ... hielt.

Sagt jemand Mein Bruder wohnt in Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks so gibt er damit zu verstehen, daß er Kopenhagen für die Hauptstadt Dänemarks hält, denn eine Äußerung wie Mein Bruder wohnt in Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks, aber ich glaube nicht, daß Kopenhagen die Hauptstadt Dänemarks ist würde jeder Sprecher des Deutschen nicht als falsch, sondern als unsinnig, als - wie Austin sagt - mißglückt betrachten 23 Es war der Staatsanwaltschaft offenkundig nicht klar, daß die Anklage auf Verleumdung die Annahme implizierte, daß der Beklagte damit die von ihm vollzogene Behauptung "wider besseres Wissen", d . h . unwahrhaftig geäußert habe. Nun war diese Äußerung aber im Zusammenhang einer Demonstration von "Linken" 2 4 , denen sich der Beklagte offenkundig zurechnete, gegen die DVU bzw. gegen den Historiker Irving getätigt worden. Die Anklage unterstellte damit implizit, der Beklagte habe mit einem Argument gegen "Rechte" 2 9 gestritten, an das 22 23

24 25

Vgl. Austin 1979, 4. Vorlesung, insbes. 65 f f . Auch wenn wir etwas Falsches behaupten, z.B. "Kopenhagen ist die Hauptstadt Norwegens", so ist doch die Sprechhandlung der Behauptung als solche geglückt, denn es macht ja die Behauptung aus, daß sie wahr oder falsch sein kann. Diese Äußerung jedoch wäre als Behauptung Mißglückt, da eben eine Behauptung A ist P nur dann Sinn nacht, wenn der betreffende Sprecher bei der Äußerung dieser Behauptung auch glaubt, daß A P ist. Ich verzichte hier auf eine genauere Bestimmung dieses Begriffs nithilfe sozialwissenschaftlicher Kategorien. Vgl. Ann. 24.

181

er selbst nicht glaubte - eine schwer zu haltende Annahme. Der Kontext, in dem die inkriminierte Äußerung gefallen w a r , zwang so, wenn die damit vollzogene Sprechhandlung korrekt analysiert wurde, zu der Annahme, daß der Sprecher, indem er sie äußerte, zu erkennen gab, daß er auch glaubte, daß Strauß als Führer von ... zu betrachten sei. Damit war zu prüfen, ob die Kundgabe dieser Ansicht als (implizite) Tatsachenbehauptung oder als W e r t u r t e i l 2 6 a u f z u f a s sen war. Der Form des betreffenden Satzes ist dies nicht immer zu entnehmen, wie die Betrachtung etwa der These Bultmanns (1) Gott ist tot zeigt. Dieser Satz hat zwar dieselbe Form wie (2) Franz Josef Strauß ist Vorsitzender der SPD, ist im Gegensatz zu diesem jedoch nicht als Tatsachenbehauptung aufzufassen. (2) ist verifizierbar bzw. - in diesem Fall - falsifizierbar 2 7 , (1) jedoch nicht. Ihn für z u t r e f fend oder unzutreffend zu halten ist Glaubenssache, weil das in ihm vorkommende Prädikat Gott nicht referentialisierbar ist. Sein Sinn ist, um die Unterscheidung Freges zu benutzen, der Art, daß ihm keine Bedeutung zugeordnet, er auf keinen Gegenstand bezogen werden k a n n 2 8 , im Gegensatz zu Ausdrücken wie Franz Josef Strauß, der erste Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition, der höchste Berg der Erde usw. Folglich war die Frage, ob der inkriminierte Satz des Beklagten eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil implizierte, von der Frage abhängig zu machen, ob die in ihm verwendeten Ausdrücke Führer, braun, Sammlungsbewegung usw. referentialisierbar sind bzw. dies zum Zeitpunkt der Auße26 27 28

"Tatsachenbehauptung" und "Werturteil" verwende ich i· wissenschaftstheoretischen, nicht im juristischen Sinn (der eben aus wissenschaftstheoretischen Gründen problematisch ist). Ich vernachlässige hier, daß empirische Behauptungen im strengen Sinne niemals verifizierbar, sondern stets nur falsifizierbar sind. "Bedeutung" von P im Sinne Freges:= derjenige Gegenstand, der mit P bezeichnet bzw. auf den mit P referiert wird. In der heute üblichen Terminologie: seine Extension. Vgl. Ann. 20.

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rung waren. Dabei war zu berücksichtigen, wie und in welchem Kontext diese Ausdrücke hier verwendet wurden. 2 9 Führer wird im Deutschen vielfältig verwendet. In Lokomotivführer hat es einen anderen Sinn als in Führer einer Wandergruppe, Spielführer o.a. Ausdrücken. Der syntaktische Zusammenhang spezifiziert also den Sinn und folglich die Extension. In diesem Fall lautete er ... dieser braunen "Sammlungsbewegung" ... Dies ist insofern relevant, als die Anklage in ihrem Schriftsatz behauptet hatte, der Beklagte habe Strauß als "Anführer" einer "Gruppe" bezeichnet. Gruppe und Bewegung haben jedoch im Deutschen auch im politischen Sprachgebrauch einen deutlich unterschiedenen Sinn, sie werden systematisch unterschiedlich verwendet: Eine Gruppe ist durch das Faktum der Mitgliedschaft jeweils relativ eindeutig, mithin extensional definiert 3 0 , wie die folgenden Beispiele zeigen: Gruppe, Gruppenführer (in militärischem Sinn), Der Sportlehrer teilte die Klasse in zwei Gruppen ein, Baader-Meinbof-Gruppe, Wehrsportgruppe Hofmann31, die Gruppe 47 usw. In keinem dieser Beispiele wäre Gruppe durch Bewegung zu ersetzen. Der Grund dafür liegt darin, daß unter einer Bewegung im Deutschen ein Zusammenhang von Menschen verstanden w i r d 3 8 , welcher nicht durch Aufzählung seiner Mitglieder, 29

30 31 32

Der von Wittgenstein explizierte Grundsatz "Die Bedeutung eines Wortes ist eine Folgerung aus seiner Verwendung" (Philosophische Untersuchungen §§ 43 und 560), von dem ich in der Argumentation zum 1. Fall implizit Gebrauch gemacht habe, ist der juristischen Hermeneutik im Prinzip geläufig. Ich habe daher darauf verzichtet, ihn hier explizit einzuführen. Vgl. zu seiner Begründung Tugendhat 1976, 11. und 12. Vorlesung. Extensionale Definition von A: Definition durch Aufzählen der Elemente von A. Vgl. Ann. 20. Die strafrechtliche Bewertung dieser "Gruppen" als terroristische Vereinigungen verlangt zwingend ihre extensionale Definition. Ich betrachte hier natürlich nur die in diesem Fall einschlägige metaphorische Lesart von Betregung, nicht die "Normalbedeutung" Ortsveränderung'.

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sondern durch Angabe bestimmter Ziele, Ideen usw. zu identifizieren ist, also nicht extensional, sondern intensional definierbar i s t 3 3 . Bezeichnet man somit etwas als Bewegung, so referiert man damit auf bestimmte für diese charakteristische Ideen oder Ziele, läßt jedoch gerade o f f e n , wer im einzelnen zu dieser Bewegung zu zählen ist. Im Deutschen geläufige Beispiele dafür wären etwa Friedensbewegung, ökologische Bewegung, Jugendbewegung, panslawistiscbe Bewegung usw. In keinem dieser Beispiele wiederum wäre Bewegung/bevegung durch Gruppe/gruppe zu ersetzen. Das Beispiel Jugendgruppe Jugendbewegung verdeutlicht die Bedeutungsveränderung, die mit dem Austausch der Terme verbunden ist 34 . Sind also zwei Ausdrücke nicht wechselseitig austauschbar, so indiziert dies inaer eine mehr oder weniger deutliche Differenz der Intension dieser Ausdrücke. Im Fall von Gruppe und Bewegung läßt diese sich so fassen, daß zwar eine Gruppe einer Bewegung, niemals aber eine Bewegung einer Gruppe zugerechnet werden kann. Anders wäre nicht zu erklären, daß etwa die SPD 33

Intension eines Ausdrucks A:= der (nach Frege) Sinn von A, so wie er durch einen anderen Ausdruck derjenigen Sprache, der A angehört, sich umschreiben läßt. Frege bezeichnet als "Sinn" eines Ausdrucks die Weise, wie der durch ihn bezeichnete Gegenstand in diese· Ausdruck "gegeben", d.h. dargestellt wird. Derselbe Planet, so Freges berührtes Beispiel, wird in Morgenstern anders "gegeben" als in Abendstern. Vgl. Frege 1969, 41 ff.

34

Die Methode, wie professionell Sinn und Bedeutung strittiger Ausdrücke zu beschreiben wäre, habe ich hier nur inplizit angedeutet: Gruppen von nach bestin·ten Kriterien ausgewählten Sprechern der betreffenden Sprache wären Listen von Ausdrücken vorzulegen, in den die strittigen Ausdrücke in differierenden Kontexten verwendet werden. Sinn- bzw. Bedeutungevarianzen lassen sich dann dadurch mit hoher Genauigkeit erfassen, daß systematisch registriert wird, welche KontextVeränderungen nach de· Urteil der Versuchspersonen den Gesantsinn des Ausdrucks verändern bzw. zu nicht akzeptablen Ausdrücken führen. Richter neigen gelegentlich so neine allerdings nicht repräsentative Erfahrung - dazu, das Sprachverständnis des "durchschnittlichen", nicht voreingenommenen Adressaten Bit ihren persönlichen Sprachverständnis zu identifizieren. In hier beschriebenen Fall ging dies zu Lasten des Beklagten aus. Vgl. dazu Kniffka 1981.

184

oder Teile von ihr in der öffentlichen Diskussion der achtziger Jahre von der politischen Rechten in der Bundesrepublik der Friedensbewegung zugerechnet wurden, während eben dies von anderen politischen Gruppierungen oder Bewegungen heftig bestritten wurde. 3 0 Dieser Zusammenhang muß, da es sich bei ihm um eine Sprachregel handelt, auch für die Verwendung eines Ausdrucks wie Führer gelten. Unter dem Führer einer bestimmten Bewegung wäre damit eine Person zu verstehen, die die Funktion hat bzw. der die Funktion zugeschrieben wird, die Ideen, Ziele etc. der betreffenden Bewegung zu artikulieren. Diese Zielsetzungen waren im vorliegenden Fall durch das Wort braun (e Sammlungsbeuegung) charakterisiert. braun wird wie rot oder schwarz als politischer Kampfbegriff verwendet. Spätestens mit dem Auftreten der NPD Mitte der sechziger Jahre wurde - auch dies läßt sich durch eine Fülle von Verwendungen belegen - braun nicht mehr nur im Sinne von 'nationalsozialistisch 1 , sondern als generelleres Kürzel für 'rechtsradikal 1 verwendet, ähnlich wie umgekehrt rot als Kürzel für 'linksradikal' gebräuchlich wurde. Zu den regelmäßig zu beobachtenden Kontexten der Verwendung dieser Kampfbegriffe zählt insbesondere, daß die politische Rechte in der Bundesrepublik ebenso dahin tendiert, die Grenzen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen bzw. linksextremistischen Positionen zu verwischen 3 wie die politische Linke dahin, den Übergang vom konservativen Bürgertum zu rechtsextremistischen Parteien oder Gruppierungen als

35

36

Dies wäre durch die in der Presse berichteten Statements der CDU, der SPD, der Grünen eindeutig zu belegen. Ich verzichte hier aus Gründen der Kürze darauf. Der Sachverhalt dürfte kaum strittig sein. Vor Gericht käme es dagegen gerade auf den Methodisch gesicherten Nachweis an. Vgl. Anm.34, vorletzter Satz. Wenigstens ein Beleg: Im November 1989 eröffnete der Vorsitzende der nordrhein-westfälischen CDU, Norbert Blün. den Wahlkampf gegen die Regierungspartei SPD mit der auf die Ereignisse in der DDR gemünzten Feststellung, daß der Sozialismus abgewirtschaftet habe.

185

fließend anzusehen 3 7 .

Wie auch immer die Semantik von braun hier zu beschreiben war, in keinem Fall konnte eine falsifizierbare Referentialisierung des Ausdrucks braune Sammlungsbewegung angenommen werden. In jedem Fall hatte damit der Beklagte mit seiner Äußerung eine - wenn auch sicherlich provokante politische Wertung zum Ausdruck gebracht. Mit Sicherheit war aus dem vorliegenden Tatbestand nur abzuleiten, daß der Beklagte sich dabei offenbar einer bei linken politischen Gruppierungen regelmäßig zu beobachtenden Verwendungsweise von braun bediente, denn er bezog sich mit dem Ausdruck diese braune Sammlungsbewegung zur Rettung des Vaterlandes ja eindeutig nicht auf die Nationalsozialisten, sondern auf die DVU, auf Irving usw. Mit der in der Verleumdungsklage impliziten Annahme, der Beklagte habe unwahrhaftig zu erkennen gegeben, daß er Strauß für den Führer dieser Sammlungsbewegung halte, ist dieser semantische Befund nicht zu vereinbaren. Die Staatsanwaltschaft hielt die Verleumdungsklage im Verlauf des Prozesses nicht aufrecht, freilich nicht aufgrund der hier explizierten Gründe, sondern weil der Richter zu erkennen gab, daß er den Beklagten in diesem Punkt für glaubwürdig hielt, also nicht unterstelle, dieser habe seine Äußerung "wider besseres Wissen" getan. Verurteilt wurde dieser schließlich nicht wegen Verleumdung, sondern wegen

37

Der Grund dafür dürfte u . a . darin zu sehen sein, daß von der Rechten zur Interpretation des Nationalsozialiseus TotalitariseusTheorien favorisiert werden, von der Linken dagegen FaschiseusTheorien (allerdings nicht in der Version Ernst Noltes).

186

Beleidigung. 3 8

Daß bei der juristischen Beurteilung sprachlicher Sachverhalte nicht nur in fachsprachlichen Zusammenhängen häufig nicht nur sprachliches Knowing-how erforderlich ist, d.h. die Fähigkeit präziser Artikulation und Interpretation, zu der die "normale" Ausbildung von Juristen zweifellos befähigt, sondern ein spezifisches linguistisches, logisches oder sprachphilosophisches Knowing-that, das in der juristischen Ausbildung in der Regel nicht vermittelt wird, d ü r f t e , so hoffe ich wenigstens, schon durch diese drei hier diskutierten Fälle deutlich geworden sein.

38

Daß auch dies logisch nicht haltbar war, ist den oben geführten Nachweis, daß es sich bei der von dem Beklagten zu erkennen gegebenen Position um ein Werturteil handeln mußte, unmittelbar zu entnehmen. Beleidigung ist eine Sprechhandlung, bei der einer Person ein pejoratives Attribut zugesprochen wird, das dem Begriff dieser Person widerspricht. (Man kann einen manifesten Dieb nicht dadurch beleidigen, daß man ihn "Dieb" nennt.) Der Grund für das Urteil lag darin, daß - wie in Ann». 34 angedeutet - der Richter sein Verständnis von braun (= 'nationalsozialistisch') mit dem allgemeinen Sprachverständnis identifizierte, wobei er übersah ein weiteres linguistisches Defizit in der Urteilsfindung -, daß die Verwendung von diese als Artikelwort zu braune Sammlungsbewegung diese Deutung eindeutig ausschloß.

187

Literatur Austin, John L. (1979): Zur Theorie der Sprechakte. 2. Aufl. Stuttgart. Frege, Gottlob. (1969) ; Funktion, B e g r i f f , Bedeutung. Fünf logische Studien. Hgg. und eingel. von G. Patzig. 3. Aufl. Göttingen. K n i f f k a , Hannes. (1981): Der Linguist als Gutachter bei Gericht. Überlegungen und Materialien zu einer 'Angewandten Soziolinguistik'. In: G. Peuser und S. Winter (Hgg.) (1981): Angewandte Sprachwissenschaft. Grundfragen - Bereiche - Methoden. Festschrift für Günther Kandier. Bonn. S. 584 - 634. Kripke, Saul A. (1981): Name und Notwendigkeit. Frankfurt. Ryle, Gilbert. (1969): Der Begriff des Geistes. Stuttgart. Searle, John R. (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt. Tugendhat, Ernst. (1976): Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt. Tugendhat»Ernst/Ursula Wolf (1983): Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart.

189

ALLES

IST

TATFRAGE

DES EINZELFALLS

-

ODER:

"HERR

X BZW.

SEINE KONKUBINE"

Hannes Kniffka

§ 185. StGB Beleidigung. Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. S186 StGB. Üble Nachrede. Wer in Bezug auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (S 11 Abs.3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. S 187 StGB. Verleumdung. Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (S 11 Abs.3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (zitiert nach StGB Stand Gesetzessammlung Schönfelder, Nachlieferung Juli 1988, 91). Beleidigung ist im Gesetz nicht definiert. Warum das so ist, ersieht man aus der Behandlung in Gesetzeskommentaren. Im folgenden werden stellvertretend für viele einige Auszüge aus zwei "Praxiskommentaren" (DREHER 1977; HERDEGEN 1975) zu § 185 StGB zitiert - die sich streckenweise wie pragmalinguistische Erörterungen lesen, freilich ohne irgendwie auf theoretische Fragen einzugehen. Auf juristische Gesichtspunkte (wie Zitierwürdigkeit u . a . ) kommt es hier nicht an. Hier handelt es sich darum, darzustellen, daß sich JURISTEN seit langem intensiv Gedanken über die Problematik machen (vgl.u.). DREHER 1977, 786f. Begrifflich ist BELEIDIGUNG der rechtswidrige Angriff auf die Ehre eines anderen durch vorsätzliche Kundgebung

190

der Hißachtung oder Nichtachtung... Ob EHRVERLETZUNG durch Mißachtung oder Nichtachtung vorliegt, ist Tatfrage des Einzelfalles, wobei aber der Rechtsbegriff der Beleidigung nicht verkannt werden darf. Handlungen oder Äußerungen von schlechthin beleidigendem Charakter gibt es nicht. Es kommt auf die Anschauung und die Gebräuche der Beteiligten an... IN DER PRAXIS ist Beleidigung angenommen worden bei ...Absprechen der für einen Beruf erforderlichen geistigen und körperlichen Fähigkeiten. ..(Bismarck rede wie ein Schornsteinfeger); Vergleich der Kenntnisse eines Richters mit denen eines Rechtskandidaten...; höhnische Begrüßung einer Respektsperson während des Urinierens...; die Bezeichnung als Jude...; oder "alter Nazi"... HERDEGEN 1975, 108ff. Die TATBESTANDSMASSIGE HANDLUNG kennzeichnet das Gesetz mit "Beleidigung" ohne näheren Aufschluß... Die Äußerung muß objektiv EHRBEMAKELND sein und so den Achtungsanspruch verletzen. Ihr SINN bestimmt sich in erster Linie nach dem Verständnis des Empfängers der Kundgebung; denn diesem wird ja eine bestimmte Mitteilung gemacht... Dagegen entscheidet der OBJEKTIVE SINN..., soweit nicht die besonderen Verhältnisse des Mitteilungsempfängers zur Geltung kommen; diese objektive Bedeutung des Gedankeninhalts bestimmt sich nach der Verkehrsauffassung der größeren Gemeinschaft, worin der Vorgang spielt... Den Sinn einer Äußerung hat der Tatrichter zu ermitteln und festzustellen:... Ob er eine Achtungsverletzung in sich schließt, richtet sich ganz nach den KONKRETEN UMSTANDEN, wobei Alter, Geschlecht und Unbescholtenheit... des Angegriffenen sowie die Verkehrssitte oder die Anschauungsweise der beteiligten Kreise und ihre Gewöhnung ebenso zu berücksichtigen sind wie der Zusammenhang und die Absicht des Kundgebenden... Bei der Beurteilung der Wiedergabe eines Interviews z.B. sind nicht nur die einzelnen Redewendungen, sondern der ganze Zusammenhang des Artikels, der Zweck, den der Verfasser verfolgt, und das Verhalten des Betroffenen bei der Befragung zu berücksichtigen... Dieselbe äußere Handlung kann je nach den Umständen, unter denen sie vorgenommen wird, bald den Ausdruck der Mißachtung enthalten, bald nicht. Eine an sich harmlose Äußerung kann zur Ehrverletzung werden (abfälliger Ton...); selbst eine Handlung, die regelmäßig als Ehrenbezeigung sich darstellt, kann den Charakter der Ehrbemakelung annehmen; andererseits kann eine ehrverletzende Äußerung unter Verhältnissen gebraucht werden, die der Äußerung jeden ehrenrührigen Charakter nehmen. ABSOLUTE Beleidigungen, d.h. unter allen Umständen ehrbemakelndes Verhalten gibt es deshalb nicht... Ist sonach letztens alles Tatfrage,... SCHELT- und SCHIMPFWORTE sind entweder beleidigend, wenn sie dem Betroffenen die sittliche Integrität in der eigenen Lebensführung oder im Verhalten zu anderen absprechen (Lump, Schuft, Hund, Schwein) oder ihm eine elementare menschliche Unzulänglichkeit beilegen ...

191

Nach Lektüre von Passagen wie diesen aus Gesetzeskommentaren ist es beinahe verwunderlich, daß JURISTEN sich immer noch mit Anfragen wie "Ist im heutigen Deutsch ein Schimpfwort?" an Linguisten wenden. Eigentlich müßten ihnen die Ausführungen der Kommentare ja bekannt sein - in denen fast alles Notwendige gesagt ist. Was jedoch vordergründig wie eine Frage nach dem WAS aussieht, ist in Wirklichkeit wohl eher eine gewisse Ratlosigkeit, WIE man eine bestimmte Geltung eines Wortes NACHWEIST, wie man sie explizit und plausibel macht. Kein Jurist wird bestreiten, daß es "auf den Zusammenhang ankommt". Die Frage ist, um WELCHEN ZUSAMMENHANG es sich handelt und WIE man ihn ermittelt. Dies genau ist Aufgabe der Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin (vgl.o. 0.2). Ich möchte dies im folgenden an einem konkreten Fall exemplarisch beschreiben. In KNIFFKA 1981 ("Der Linguist als Gutacher bei Gericht") habe ich eine detaillierte Darstellung der theoretischen und methodologischen Fragen der Erstellung von Gutachten zum "Autorschaftsnachweis" und, vor allem, zum "Verständnisnachweis" gegeben. Insbesondere bin ich dabei auf den unten geschilderten konkreten Fall eingegangen und habe auch über einige "Nachfolgeexperimente" zum Gutachten berichtet ( u . a . kleine Befragungen und Interviews mit Studenten). Auf all diese Fragen braucht daher hier nicht weiter eingegangen zu werden. Nicht dargestellt ist dort der Gutachtentext selbst, was ich im Sinne der Zielsetzung dieses Bandes hier nachholen möchte: Er illustriert exemplarisch den Typ linguistischer Gutachten zum Verständnisnachweis, die zwar nicht auf empirisch harten Daten von Repräsentativ-Umfragen beruhen ( N B : zu denen man als Gutachter im Regelfall ohnehin nicht die Zeit h a t ) , gleichwohl aber weit über der Ebene rein subjektiver "impressionistischer" Daten liegende Aussagen ermöglichen.

192

Das Gutachten illustriert damit auch, daß es durchaus sinnvoll ist, linguistischen Rat einzuholen. Linguisten f ä l l t in der Regel mehr auf und ein zum Sprachgebrauch als z.B.Juristen. Sie sind auch geschult, die Beschreibung sprachlicher Daten nicht allein nach persönlichem Eindruck zu geben und z.B. eine adäquate(re) Gewichtung einzelner Aussagen über sprachliche Daten vorzunehmen. Wegen der exemplarischen Funktion der Dokumentation, vor allem für Vertreter von Nachbarwissenschaften, ist hier der vollständige Wortlaut des Gutachtens gegeben, das ich Anfang der siebziger Jahre erstellt habe und an dessen stilistischer Endredaktion meine Kölner Kollegen F.Holst und H.Vater beteiligt waren. Auf alle weiteren Kommentare aus heutiger Sicht kann hier verzichtet werden. Zuvor jedoch die Darstellung des Falls, der zu dem Gutachten führte: Mitbewohner in einem Haus mit mehreren Eigentumswohnungen macht wiederholt briefliche Eingaben an den Hausverwalter, in denen er sich über Mitbewohner X beschwert. In den Briefen kommen Passagen vor wie (1) und ( 2 ) : (1) Herr X bzw.seine Konkubine haben wiederholt die Waschküche zu Zeiten benutzt, an denen es ihnen nicht zustand (2) Herr X bzw.seine Konkubine haben wiederholt den Hund den Rasen vor dem Haus nässen lassen, so daß der Bewuchs auf Jahre hinaus gefährdet ist. Die so Bezeichnete, Frau Z, verklagt Herrn auf Unterlassung der Bezeichnung Konkubine, die sie als Beleidigung und Kränkung empfindet. Das Landgericht gibt der Klage statt. Der Beklagte, Herr Y, geht in die Berufung beim Oberlandesgericht, nachdem er sich in einem linguistischen Gutachten hat bescheinigen lassen, Konkubine sei im heutigen Deutsch

193

keine Beleidigung ( V e r b a l i n j u r i e ) , sondern eine

"wertneutra-

le" Bezeichnung. Frau Z läßt sich ihrerseits ein linguistisches Gutachten erstellen ( s . u . ) , das argumentiert, Konkubine sei in den oben genannten Textpassagen in den Briefen des Beklagten keineswegs eine "wertneutrale", sondern eine abwertende, der Intention nach beleidigende Bezeichnung. Das OLG folgt in der Urteilsbegründung und weist die

in weiten Teilen dem letzteren Gutachten

Berufung zurück. Auf juristische Fragen des

Falls kann hier nicht eingegangen werden. Wortlaut des Gutachtens: Gutachten zum Inhalt des Wortes Konkubine in den Briefen des Beklagten O. Vorbemerkungen O. l Das Gutachten will feststellen, welchen Inhalt das Wort Konkubine in den in der Anlage beigefügten Briefen des Beklagten, Herrn Y, hat, insbesondere, ob es dort wertneutral gebraucht ist oder ob es pejorativ (abwertend) verstanden werden m u ß . O.2 Es hieße einem naiven (und sicher linguistisch nicht abzusichernden) Begriffsrealismus huldigen, wenn man einfach global feststellte: "Konkubine ist ein Schimpfwort/eine Verbalinjurie" bzw. "Konkubine ist kein Schimpfwort/keine Verbalinjurie" (vgl.die Verfahrensweise im Gutachten A ) . Dabei würde es sich nicht um eine linguistische Analyse handeln, sondern um eine juristische Bewertung eines sprachlichen Tatbestandes, zu der wir uns außerstande sehen. Termini wie "Schimpfwort" und "Verbalinjurie" sind linguistisch jedenfalls kaum sinnvoll zu definieren. - Auch die Feststellung, inwieweit eine pejorative Bezeichnung juristisch den Tatbe-

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stand der "Beleidigung" e r f ü l l t , so wie im Großen Brockhaus definiert ( " . . . j e d e vorsätzliche, die Ehre eines anderen kränkende rechtswidrige Kundgebung") ist Sache der Juristen. 1. Allgemeine linguistische Gesichtspunkte der Beurteilung 1.1 Es ist sinnvoll und notwendig, bei der Bedeutung eines Wortes zwischen Denotation (begrifflicher Inhalt) und Konnotation (emotionaler Gehalt) zu unterscheiden. Für Konnotationen gibt es aber keineswegs eine von Individuum zu Individuum willkürlich variierende Vielfalt; vielmehr unterliegen auch die Konnotationen eines Wortes bestimmten (teilweise überindividuellen) Regeln (die z.T. aus der denotativen Bedeutung resultieren: das Wort Nazischwein in einer alltäglichen Sprechsituation - z . B . in einer Äußerung wie Sie altes Nazischwein! - hat schwerlich positive Konnotationen). 1.2 Die Angaben in einem Lexikon oder Wörterbuch über die Bedeutung eines Wortes, die immer wieder als Autoritäts-instanzen herangezogen werden, sind für die Analyse der konkreten Geltung eines Wortes in einem gegeben Kontext meist wenig aussagekräftig. Sie stellen allenfalls eine erste Orientierung dar. Für die jeweilige konkrete Bedeutung im Rahmen einer bestimmten Sprechhandlung haben die "An sich"-Bedeutungen im Wörterbuch (genauso wie etymologische Angaben) nur minimalen Aufschlußwert. - Grundsätzlich ist also die Untersuchung des jeweiligen sprachlichen Kontextes, in dem ein Wort a u f t r i t t (sowie eventuell die Heranziehung von Urteilen von Sprechern der Sprache) für die Ermittlung der konkreten Bedeutung viel eher geeignet als die Konsultation von Wörterbüchern, die zudem oft sehr uneinheitlich verfahren und viele Lücken aufweisen. 1.3 Neben dem sprachlichen Kontext im engeren Sinne muß auch der außersprachliche Kontext (d.h. die Besonderheiten der jeweiligen Sprechsituation) berücksichtigt werden., der von

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der modernen Sprachwissenschaft - insbesondere der Soziolingustik und der Sprechaktforschung - eindeutig als zumindest ebenso wichtig und entscheidend für die Natur einer sprachlichen Äußerung erwiesen wurde wie der eigentliche sprachliche Kode. "Wer wem wann wo wie" etwas sagt - das kann für die Gesamtwirkung der Äußerung entscheidender sein als der "eigentliche" Inhalt, das "etwas", das geäußert wird. Gleiche Sprachmittel können verschiedene Sprechhandlungen ausdrücken (die Anrede Schätzchen z . B . kann je nach Partner und Situation eine Zärtlichkeit, aber auch eine Provokation oder Drohung sein; Ich liebe dich kann Heiratsantrag oder Schlußsequenz eines Telefongesprächs sein). 1.4 Diese Einbeziehung der Gesetzmäßigkeiten der äußeren Sprechsituation soll nicht etwa besagen, daß ein Wort je nach Kontext "alles oder nichts" ausdrücken kann - vielmehr gibt es auch für die Verwendung von Sprachmitteln in unterschiedlichen Situationen Regeln, die überindividuelle Verbindlichkeit haben. Die Heranziehung des konkreten Verwendungskontextes für die Angabe der Bedeutung eines Wortes heißt also nicht, der Willkür der Interpretation Tür und Tor zu öffnen, sondern bedeutet im Gegenteil eine Konkretisierung, die hinsichtlich juristischer Folgerungen fraglos eine Erleichterung darstellt. 2. Analyse der inhaltlichen Briefen des Beklagten.

Geltung von Konkubine in den

2.1 Auch unabhängig von den kontextuellen Argumenten, die in diesem Fall u . E . ziemlich eindeutig sind (vgl.u. 2 . 4 ) , läßt sich zeigen, daß das Wort Konkubine im heutigen Standarddeutsch nicht wertneutral ist. Seiner Herkunft nach bezeichnet das Wort eine Frau, die außerehelich mit einem Mann über längere Zeit GV praktiziert. Auch heute bezeichnet Konkubine üblicherweise nicht einfach nur die "mit einem Mann zusammenlebende Frau", sondern das Gewicht liegt eindeutig auf

196

der Bedeutungskomponente "die mit einem Mann außerehelich geschlechtlich verkehrende Frau". Gerade darin liegt die Ehrenrührigkeit des Wortes, denn eine solche Tätigkeit (ohne Trauschein) ist nach der immer noch in diesem Land vorherrschenden Moralauffassung deutlich etwas Despektierliches, Nicht-Integres, woran der Beklagte ja keinen Zweifel läßt. Auch der Vergleich mit anderen, bedeutungsvewandten Wörtern wie Partnerin, Freundin, Bekannte zeigt u . E . , daß Konkubine eine deutliche pejorative Bedeutungskomponente enthält. Eine Verwendung eines der drei genannten Wörter in den fraglichen Kontexten hätte ganz andere Implikationen gehabt. 2.2 Die Tatsache, daß das Wort Konkubine nicht völlig wertneutral ist, läßt sich ferner durch eine Betrachtung der Vorkommensmöglichkeiten des Wortes zeigen. Wenn es "wertneutral" wäre, müßte es in sprachlichen Umgebungen, die als wertneutral (bzw.zumindest nicht-pejorativ) markiert sind, für synonyme Wörter eingesetzt werden können. Zwei Beispiele dazu: Auf offiziellen Einladungskarten eines Firmenchefs etwa, der eine Festlichkeit mit Damenbegleitung beabsichtigt und an seine verheirateten und unverheirateten männlichen Mitarbeiter Einladungen verschickt, würde man sich ein Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre Frau/Partnerin mitbrächten ohne weiteres, ein Ihre Frau/Konkubine dagegen kaum denken können. - Ein anderer Kontext: Ein Richter würde in einer Urteilsbegründung, in der es sich ja auch um eine "präzise, nüchterne" Sprache handelt, wenn es um die mit einem Mann außerehelich verkehrende Frau X geht, wohl niemals Herr und seine Konkubine, sondern Herr und seine Bekannte oder Herr und Frau X sagen. 2.3 Hinsichtlich des außersprachlichen Kontextes ließe sich die pejorative Wertigkeit des Wortes Konkubine hier leicht durch Experimente demonstrieren, in denen man die Gesprächspartner, Situationen usw. variieren läßt. Ohne die entspre-

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chenden experimentellen Arbeiten durchgeführt zu haben, erscheint mit großer Wahrscheinlichkeit der Schluß berechtigt, daß man z . B . eine erwünschte künftige Schwiegertochter nicht als Konkubine titulieren bzw. dem eigenen Sohn gegenüber, der erwiesenermaßen mit der künftigen (erwünschten) Schwiegertochter schläft, so bezeichnen würde. 2.4 Als ein noch wesentlicheres Indiz, für die pejorative (und zwar notwendig pejorative) Geltung des Wortes Konkubine erscheint aber der konkrete sprachliche und Situationelle Kontext in den Briefen des Beklagten. Es findet sich überwiegend die Formulierung "Herr X bzw. seine Konkubine". Die auffällige Asymmetrie in dieser Formulierung - der Name von Frau Z war dem Beklagten bekannt und "Herr X und Frau Z" wäre völlig in Ordnung gewesen -, dazu die Tatsache, daß durch die Verwendung des Wortes Konkubine eine für den Gesamtinhalt der Briefe völlig irrelevante Behauptung (nämlich: außerehelicher GV) getroffen wird, ferner, daß das brieflich und wiederholt geäußert wird - das alles läßt keinen anderen Schluß zu, als daß es dem Schreiber gar nicht um eine wertneutrale Feststellung eines Zusammenlebens zweier seiner Mitbewohner gegangen sei, sondern um einen Sprechakt, den man als Sprecher des Deutschen unschwer als "jemandem eins auswischen" oder "jemanden rausekeln" o.a.identifizieren kann. 3. Abschließende Würdigung der linguistischen Sachlage: 3.1 Seinem Sprechakt und Kontext nach kann es sich bei den Verwendungen des Wortes Konkubine in den Briefen des Beklagten eindeutig nicht um einen neutralen oder scherzhaften Gebrauch handeln. 3.2 Wie immer die Bedeutungsgeschichte des Wortes Konkubine und die Bedeutungsangaben in Wörterbüchern auch aussehen mögen - es ist eindeutig, daß das Wort Konkubine in den

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fraglichen Kontexten eine pejorative Bedeutungskomponente hat, daß es einen kontinuierlichen außerehelichen Geschlechtsverkehr impliziert und daß die Strategie des Sprechers, der nach eigenen Angaben den "Sachverhalt" ja für nicht-integer hält, eindeutig, darauf hinzielt, die so bezeichnete Person zu verletzen. (Ende des Gutachtens). Was läßt sich aus diesem und ähnlichen Gutachten an PRAKTISCHEN Empfehlungen für die Erstellung linguistischer Gutachten zum Verständnisnachweis gewinnen (zu einigen theoretischen Gesichtspunkten vgl.o 0.2 und KNIFFKA 1981)? 1. Auf den ominösen "unverbildeten Durchschnittsleser" und ähnliches Schimärenhafte kann man getrost verzichten. Gutachten sollten stattdessen angeben, wie welche Aussagen über Daten gewonnen und abgesichert sind, welche Einschränkungen gelten. 2. Nur theoretisch berufene, aber nicht exakt analysierte "Autoritäts-instanzen", wie "die Auffassung der betr. Verkehrskreise" kann man ebenfalls beiseite lassen. Sie sind zumeist nicht zuverlässig, schon allein wegen der Divergenz von Selbst- und Fremdeinschätzung und faktisch beobachtbarem Verhalten. 3. Ein linguistisch-forensisches Gutachten sollte klinisch sauber von juristischen Termini und juristischen Argumentationsroutinen, vor allem aber "Beweiswürdigung" sein. Diese obliegt dem Richter, nicht dem Gutachter. 4. Ein linguistisches Gutachten sollte so viel wie nötig und so wenig wie möglich an linguistischer Fachterminologie verwenden - ein in der Praxis nicht leicht zu erfüllendes Postulat. Der Erfolg eines Gutachtens hängt aber ebensosehr wie von seiner fachlichen Solidität und Seriosität von seiner VERSTÄNDLICHKEIT (in diesem Fall: für Juristen als

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Adressaten) ab.

Entscheidend dafür ist, wie gut der zweifache Übersetzungsprozeß (Übersetzung einer Laienanfrage in eine linguistische Fragestellung und Rückübersetzung derselben in eine gebildeten Laien verständliche Feststellung) gemeistert wird. 5. Ein linguistisches Gutachten sollte besonderes Gewicht auf die Arbeit mit sprachlichen BEISPIELEN und die daran erklärbaren Operationen legen. 6. Der linguistische Gutachter sollte unbedingt von dem genauen Verwendungszweck eines Gutachtens Kenntnis, notfalls sogar Aktenkenntnis haben, um das juristische Erkenntnisinteresse als "Zulieferer" entsprechend berücksichtigen zu können. 7. Ein linguistisches Gutachten sollte die für Sachverständigen-Gutachten schlechthin geltenden Richtlinien und Maximen nachdrücklich beherzigen, was konkret bedeutet, daß linguistische Gutachter oder zukünftige Gutachter sich mit der betreffenden Fachliteratur genauer auseinandersetzen müssen als dies bisher geschieht

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Literatur

Dreher, E. 1977. Kommentar zum StGB. 37.neubearb.Auf1. Herdegen,6. 1975 Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch. 9. völlig neu bearb.Aufl. K n i f f k a , H. 1981. Der Linguist als Gutachter bei Gericht. Materialien und Überlegungen zu einer 'Angewandten Soziolinguistik', in: G.Peuser/S.Winter, Hgg., 1981, Angewandte Sprachwissenschaft. Festschrift für Günther Kandier. Bonn, Bouvier Verlag H.Grundmann, 584-634.

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ANALYTIC PROCEDURES FOR THE DETERMINATION OF DISPUTED UTTERANCES

J.P. French

1. Introduction. The use of tape-recorded evidence is becoming increasingly common in English criminal trials. Whilst the submission of such evidence by the defence is far from infrequent, in the vast majority of instances it is the prosecution which produces tape-recordings in support of its case. The recordings are usually either of a criminal activity (eg., a threatening or abusive telephone call) or of a person saying something which implicates him in a crime (eg., a recording of conversation containing criminal admissions). As with other types of prosecution evidence, tape-recordings are often subject to challenge by the defence. The challenge to recordings may take one of three forms: (a) The identity of the speakers may be disputed, with the defence maintaining that the criminal voice is not that of the defendant. (b)

The integrity or authenticity of the recording may be challenged, the defence claim being that it is an edited copy in which words and utterances have been either deleted or inserted, in order to make the substance of the conversation appear more incriminating than it actually was.

(c) The specific words attributed to the speakers may be disputed, the defence position being that the prosecution has misheard and wrongly transcribed

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apparently incriminating words spoken by the defendant. The services of phoneticians are increasingly called upon in all three types of dispute. The procedures used in attempting to resolve arguments of the first type, disputed speaker identity, have been subject to quite extensive documentation and argument ( c f . Tosi, 1979; Nolan, 1983; Künzel, 1987; Baldwin, in press), and are addressed in the chapters by Baldwin, Ellis and Nolan in this volume. The methods of analysis used in the other two forms of dispute are by comparison under-reported. In this chapter I shall describe some of the procedures of phonetic analysis which I have found useful in determining which words were spoken, where this has been the subject of dispute between prosecution and defence with regard to evidential tape-recordings. I shall f i r s t , in Section Two, provide some general information about these types of cases and how they arise. In Section Three, I shall focus upon a specific case, and provide a detailed practical illustration of the analytic procedures used.

2. Cases Involving Disputed Words. In the cases which I have examined, there are two main conditions under which the words spoken by a person in a tape-recording have become the subject of legal argument. 2.1 Poor Quality Recordings By far the most common source of disputed words is the poor quality recording. Many recordings made by prosecution agencies s u f f e r from problems of intelligibility. The difficulties may be caused by high levels of extraneous noise, for example, background sounds on recordings made in

203

public places, line noise in recorded telephone calls, and noise generated within the circuitry of the recording machines: 'tape h i s s ' , speaker ' h o w l 1 , and so on. These problems may be exacerbated by weak or over-recorded signals. Speech embedded in noise is inevitably unclear and thereby prone to alternative interpretations and argument. There are, of course, established ways of dealing with these noise problems, through the use of various types of signal processing technology. Indeed, a substantial part of the work of this laboratory consists of sound 'enhancement 1 , and to this end, techniques including comb and notch filtering, compression, downward expansion, parametric (and to a limited extent) graphic equalisation are deployed ( c f . Koenig, 1988). The success of these methods is, however, entirely dependent upon the characteristics of the unwanted noise. Whilst, for instance, discrete tones, buzzes and high frequency hiss can normally be removed with a good degree of success, noise which occupies a broad frequency band either within or substantially in overlap with, that responsible for carrying the speech signal cannot be suppressed by filtering. Attempts to suppress the noise automatically result in the loss of significant vocal information too. In these cases, an alternative method available for rendering the speech intelligible consists in phonetic analysis. The procedure I have followed here involves making a good, clear recording on high quality equipment, under controlled conditions, of the speaker(s) on the poor recording. Patterns of pronunciation are then established from the controlled recording by making a narrow phonetic transcription of extensive sections of speech using International Phonetic Association symbols, supplemented where necessary by notes in conventional orthography on, for

204

example, syllable divisions, rhythmical properties of diphthongs, aspects of segmental liaison, assimilation and elision. Equipped with a knowledge of the speaker's pronunciation patterns so gained, the phonetician is then in a position to re-appraise the speech in the poor quality evidential recording. In ten cases dealt with by this method, where a section of the evidential recording had at first been either unintelligible or ambiguous, I have found myself able to make confident interpretations of substantial stretches of speech, the increase in intelligibility being in the least successful instance in the region of 110%, and in the most successful around 450%. There is, of course, a danger that erroneous interpretations will occur, that the sense of confidence gained is a false one. Indeed, in most cases, there can be no independent or objective means of verifying the accuracy of one's interpretations. However, in two cases where I have applied this method, a second, clear quality tape-recording of the same conversation represented in the poor quality evidential recording has subsequently come to light. From listening to these further recordings it would appear that a high standard of accuracy was achieved in the interpretations of the speech on the evidential recordings. In all cases where orthographic transcriptions produced by this method have been submitted to the court together with a report explaining the method used, the court has accepted the transcriptions as expert testimony.

205

2.2 Unfamiliar Speech

A second main source of disputed utterances is recordings representing unfamiliar and non-standard speech. Within this category fall recordings of pathological speech, foreign accents and various regionally and socially marked accents unfamiliar to the person responsible for interpreting and transcribing the recording. In many cases of disputed words involving speech of this type there is no problem with the technical quality of the recording. Certain of the cases in which I have acted have involved recordings of police interviews with suspects, recorded on well maintained equipment of known quality, in accordance with the provisions of the Police and Criminal Evidence Act (1987) (see chapter by Ellis, this volume). With clear quality evidential recordings it is possible to combine the methods described under the previous section with instrumental analyses of the speech. This method is particularly useful where only relatively short sections of speech are unclear or under dispute. In order to provide an illustration of the practical application of these procedures, I shall now present a case study concerning a professional disciplinary tribunal recently held in England.

3. Case Study 3.1 General Background A general medical practitioner working in a large English city issued a prescription to a young female drug addict for tablets of dihydrocodiene tartarate (tradename DF 118), a

206

drug used in the treatment of moderate to severe pain, and, unofficially, by drug addicts as a substitute for more powerful opiates. The young woman subsequently overdosed and died from these tablets. Her boyfriend, who had been concerned at her drug habit, suspected that the doctor was involved in widescale and unprincipled issuing of prescriptions for profit. He also believed that the doctor had neglected to carry out the correct medical checks in the particular case before issuing the prescription. He contacted the police with his suspicions, who, for reasons that are not altogether clear, either could not or would not mount an investigation against the doctor. In frustration, the boyfriend then contacted a team of investigative journalists working for an independent television company. The team arranged for an actor with a hidden taperecorder to visit the doctor's surgery masquerading as a new patient addicted to drugs, and to attempt to secure a prescription for the same or similar drugs as those given to the woman. The point of the exercise was that the actor was in good health and would later swear before a tribunal that he was not involved with drugs. Under these circumstances, he should have failed in his mission. The actor did, in f a c t , f a i l to gain the drugs he asked for, but instead secured a prescription for the tranquillizer diazepam (Valium) without a physical examination and on the basis of an interview which was later to be described as 'inadequate 1 and 'cursory 1 , given that this was an initial consultation. As part of a programme claiming to expose unethical prescribing practices of certain doctors, selected excerpts

207

from the tape recording of the interview were broadcast. These were accompanied by sub-titles, for the doctor, who had grown up, qualified and subsequently practised medicine in Greece, spoke English with a very strong Greek accent. One of the excerpts of recorded conversation played during the programme contained a statement from the doctor concerning the possibility/advisablility of injecting drugs prepared from tablet form. In the television sub-titles the doctor was clearly portrayed as saying to the actor in relation to tablets: 'you can inject those things'. At least partly on the basis of the television programme, the General Medical Council ( G M C ) , the body responsible for regulating medical practices and disciplining doctors who violate legal and ethical rules in Britain, initiated disciplinary proceedings against the doctor. This was to take the form of a tribunal, consisting of an assessor and a panel of doctors as jury, which worked by the same rules and standards of evidence as a criminal Crown court. The tape-recording and a transcript produced by the television company were handed over to the GMC and submitted as evidence against the doctor. 3.2 The Disputed Words I was consulted in the case by solicitors instructed by the Medical Defence Union ( M D U ) , the professional body to which doctors in Britain subscribe, and which, among the other services provided, arranges legal representation for its members at disciplinary tribunals. In defence of one of the charges brought against the doctor, he claimed that the television company had wrongly represented his advice to the actor. His words were, he claimed,

208

not 'you can inject those things'.

those things',

but

'you can't

inject

A preliminary examination of the recording and transcript revealed that the two instances of the word itself were genuinely ambiguous; careful and repeated listening lead to no clear conclusion that these were tokens of can rather than can't, or vice versa. The sequence of conversation in which the disputed words occurred is represented orthographically below: Dr: ... why are you on the codeine phosphates? A: Eh?

Dr: Why are you on the codeine phosphates for? A: 'Cos like my mother noticed like needle marks, do you know what I mean? —> Dr: You can/can't in- in- inject those things A: Like I- I don't yeah, but I- I- I don't like telling people —> Dr: You can/can't inject those things, you know A: Yeah, but I prefer to take them by mouth. Yeah, I mean I don't get things on my hands. Like, I like living in my bouse, do you know what I mean? (Dr = doctor; A = actor) Although the actor clearly thought the doctor had said can, there were other places in the recording where the actor had misunderstood the doctor's words and the doctor had let the misinterpretation pass unmentioned. The actor's interpretation could not therefore be considered reliable.

209

3.3 Collection of Data

In an attempt to provide a determination of what was said, I conducted a tape-recorded interview with the doctor of around forty five minutes in length. The topics I introduced for discussion all concerned medical regulations and restrictions on doctors' practices, that is, subjects which would be likely to elicit natural conversational tokens of can and can't: 'a doctor can't advertise his services', 'doctors can set up surgeries in unrestricted areas', and so on. The interview recording taken together with other sections of the television recording revealed a pool of 21 instances where it was clear from the context that the doctor was saying can, and 23 where he was using can't. 3.4 Auditory Phonetic Analysis Narrow auditory phonetic transcriptions of the amples of can and can't showed the following:

(a)

known

ex-

Except in stressed positions, the vowel of can was either wholly elided or reduced to a schwa type. Tokens include:

[k»n du:] = 'can do'

[ki1) go· ] = 'can go'

(b)

The vowel of stressed can (5 tokens found) was pronounced in a way that indicated a tongue position slightly more open and rather more retracted than cardinal vowel 3: [f]

(c)

The vowel of can't, in both stressed and unstressed positions, was pronounced in a way indicating a tongue

210

position slightly closer than cardinal vowel 4 and only slightly retracted towards 5: [ä] (d)

The final /t/ consonant of can't was typically wholly elided (17 instances of elision; 4 of glottalling; 2 auditorily indeterminate).

It can be seen from (a) - (c) above that stressed can and can't were for this speaker phonetically very similar, both being of CVC configuration with consonantal identity and near identity of vowels. The disputed words both carried stress. In these circumstances, and when one further considers that the doctor's realisation of the can't vowel is close to many native English speakers' realisations of /a/, one can easily see how the dispute in this case arose. The outcome of the auditory analysis, based upon repeated and careful listening to the disputed words, was that their vowels were heard as falling within the range associated with the known instances of can't rather than stressed can, ie., they were heard as [a]. 3.5 Acoustic Analysis On completion of the auditory analysis, known tokens of can't and stressed can were examined spectrographically. There was found to be no appreciable difference between the time bases of the two sets of vowels. There were, however, quite systematic differences in their first and second formant configurations. Target areas (Engstrand and Krull, 1988) of the vowels were identified and spectral sections (21 and 42 ms Fast Fourier Transforms) were taken by computer programme in order to establish peak f l and f 2 values for the two sets.

211

Fl in stressed can varied from 650 - 678 H z , and f 2 from 1520 - 1600 Hz. In the ten instances of can't selected for spectral examination on the basis of their auditorily judged typicality for the speaker, f l values ranged between 682 710 Hz, and f 2 between 1435 - 1508 Hz. If one takes the fl value to be inversely related to vowel height ( c f . Ladefoged, 1985), then the only slightly closer tongue position for the stressed can vowel suggested by the auditory analysis is confirmed by the measurements on this acoustic parameter. Similarly, if one takes the f2 value to stand in an inverse relation to vowel 'backness 1 (Ladefoged, op c i t ) , then the auditory judgement that the can't vowels are only slightly more retracted than the can set is again confirmed instrumentally. Peak fl and f2 values for the vowels in the disputed words were: 1st instance fl f2

700 Hz 1435 Hz

2nd instance 708 Hz 1460 Hz

As with the auditory analysis, they again fall within the ranges established for can't as opposed to can. These findings and the methodologies upon which they were based were reported to the GMC tribunal. It is impossible to say whether they were accepted by the disciplinary committee, as there was strong evidence of other kinds that the doctor had been involved in professional misconduct. Even if the committee did accept this particular part of the doctor's defence, the outcome of the case as a whole would, almost undoubtedly, have been that recorded: erasure of his name from the medical register.

212

4. Conclusion In this chapter I have attempted to explain and illustrate some applications of phonetic (auditory and acoustic) analysis in the determination of unclear and disputed utterances . The business of determining which words were spoken by a person has not generally been held to be among the areas in which phoneticians hold special expertise. Indeed, experiments by Wright and Kerswill (1988) have indicated that, when phoneticians are presented with a sequence of sounds which could be the phonetic realisation of two alternative words or constructions and they are asked to judge which one they represent, the results are not impressive. However, these experiments have confronted phoneticians with short sequences of sounds in isolation, and have not allowed them to examine material from the same speaker for comparison purposes, along the lines developed here. This particular forensic application of phonetics has not, to my knowledge, been discussed previously elsewhere, and the methods used will almost certainly be subject to further development. It is to be hoped that they will be seen as providing a principled means of assisting the courts in making decisions about what a person has said, where the alternative has hitherto consisted merely in assertion and counter assertion.

213

References Baldwin, John. Forensic Phonetics. Pinter: London. In Press. Engstrand, Olle and Diana K r u l l . 1988. On the Systematicity of Phonetic Variation in Spontaneous Speech. PERILUS VII. Koenig, Bruce. 1988. Enhancement of forensic audio recordings. Engineering Reports.

Künzel, Hermann. 1987. Sprechererkennung: Grundzüge Forensischer Sprachverarbeitung. Kriminalistik-Verlag: Heidelberg. Ladefoged, Peter. 1985. A Course in Phonetics. Harcourt Brace Jovanovich: New York. Nolan, Francis. 1983. The Phonetic Bases of Speaker Recognition. Cambridge University Press: Cambridge. Tosi, Oscar. 1979. Voice Identification: Theory and Legal Applications. University Park Press: Baltimore. Wright, Susan and Paul Kerswill. 1988. On the perception of connected speech processes. Paper delivered to the Lingistics Association of Great Britain. University of Durham, Spring.

Kapitel 3; Juristisch-Kriminalistisches Praxisfeld: Gutachten als Hilfe bei der Täterermittlung

217

GRUNDLAGEN UND METHODEN DER FORENSISCHEN SCHRIFTUNTERSUCHUNG

Lothar Michel

Texte stehen

in gesprochener

oder

geschriebener

Form

zur

Verfügung. Bei einer Urheberidentifizierung im forensischen Bereich sind prinzipiell drei Fragestellungen zu unterscheiden: Wer ist der Verfasser des Textes? weis 11 , KNIFFKA 1981.) Wer ist der Sprecher des Textes? KÜNZEL, 1987.)

("Autorschaftsnach-

("Sprechererkennung"

Wer ist der Schreiber des Textes? (Identifizierung des Schrifturhebers durch Schriftvergleich, z.B. MICHEL 1982.) In vielen Fällen kann unterstellt werden, daß der Sprecher zugleich Textproduzent und daß der Schreiber auch Verfasser des Textes ist. Gerade bei forensischen Fragestellungen sollte man sich darüber im klaren sein, daß es sich dabei zunächst nur um eine mehr oder minder plausible Vermutung handelt, die - soweit dies möglich ist - überprüft werden muß. Einer sauberen Trennung wegen erscheint es daher nicht unproblematisch, in einen Stimmen- oder Schriftvergleich auch Merkmale der Sprache einzubeziehen. Die drei Disziplinen sollten vielmehr in der Regel unabhängig voneinander mit ihrer Methodik die für sie jeweils relevanten Befunde erheben und nach ihren Beurteilungskriterien bewerten, wie dies m . W . erstmalig und zugleich vorbildhaft im Prozeß gegen den Eisenbahnattentäter "Monsieur X" praktiziert wurde (HAEHLING von LANZENAUER 1980).

218

Wenn im folgenden ein knapper Überblick über Grundlagen und Methodik der Forensischen Schriftuntersuchung gegeben wird, so steht dabei die schriftvergleichende Analyse von Textschreibleistungen im Vordergrund. Unberücksichtigt bleiben insbesondere das weite Feld der Unterschriftsuntersuchung, die Prüfung von Urkunden auf Verfälschungen und andere spezielle Fragestellungen (allgemein einführend hierzu: MICHEL 1982). Weiterhin beschränkt sich die Darstellung auf die Untersuchung handschriftlicher Produkte, während maschinengeschriebene, gedruckte oder sonstige technische Schrifterzeugnisse - soweit diese überhaupt eine Urheberidentifizierung zulassen - nicht erörtert werden.

1. Historische Anmerkungen Nach DILCHER 1975 bilden die Schriftsachverständigen - neben den Ärzten - die älteste Gruppe der gerichtlichen Sachverständigen. Abgesehen von einzelnen historisch bemerkenswerten Arbeiten kann aber erst seit gut 100 Jahren von der Konstituierung einer wissenschaftlich begründeten Schriftvergleichung gesprochen werden. Der entscheidende Wandel ist darin zu sehen, daß die Handschrift nicht mehr als Formgebilde betrachtet wurde, sondern als graphische Objektivierung eines komplex gesteuerten Bewegungsvollzuges. Einerseits rückte dadurch die Erforschung der psychophysischen Entstehungsbedingungen der Handschrift in den Vordergrund, andererseits wurde so die Grundlage für eine differenziertere Erhebung der graphischen Befunde geschaffen. Die weitere Forschung richtete sich auf allgemeine Fragen der Objektivität und Reliabiblität der Erhebung graphischer Merkmale, auf faktorenanalytische Untersuchungen der Dimensionen der Schreibbewegungen, auf Versuche exakterer, insbesondere quantitativer Merkmalserfassungen sowie in jüngster Zeit auf erfolgreiche Ansätze zu einer rechnergestützten Befunderhebung. Neben einer weiteren Erforschung der neurophysiologi-

219

sehen Grundlagen des Schreibens wurden empirische Untersuchungen zur Frage der Veränderung der Handschrift unter besonderen äußeren und inneren Schreibbedingungen vorgelegt, speziell auch wichtige Beiträge zum Problem der Schriftverstellung und -nachahmung. Auch Urteilsbildung und -fähigkeit des Schriftsachverständigen wurden Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. - Parallel dazu vollzog sich die Weiterentwicklung des physikalisch-technischen Instrumentariums, das immer wieder kritisch überprüft, verfeinert und durch neue Verfahren erweitert wurde. (Einen Überblick über den neueren Forschungsstand findet man bei MICHEL 1982, sowie CONRAD & STIER 1989). Insgesamt ist seit dem ausgehenden vorigen Jahrhundert auf dem Gebiet der Forensischen Schriftuntersuchung ein beachtliches Grundlagen- und Erfahrungswissen zusammengetragen und eine zunehmend differenzierte Methodik entwickelt worden. Die Probleme der Schriftvergleichung sind heute nicht mehr in ihrer wissenschaftlichen Fundierung zu sehen, sondern bedauerlicherweise - in dem immer noch teilweise beträchtlich variierenden Ausbildungs- und Erfahrungsstand der Schriftsachverständigen. Eine belastende Hypothek für die Forensische Schriftuntersuchung stellt auch immer noch die Verwechslung bzw. Gleichsetzung mit der Graphologie dar, die sich mit einer - wissenschaftlich nicht anerkannten - charakterologischen Deutung der Handschrift beschäftigt.

2. Schrift als materielle Spur Schrift stellt einerseits eine materielle Spur dar. Sie wird mit verschiedenartigen Schreibmitteln auf einem Schriftträger - meist Papier - gefertigt. Schreibmittel und Schriftträger können Gegenstand physikalisch- und chemotechnischer Untersuchungen werden.

220

Durch die

Untersuchung verwendeter Schreibmittel und ihrer

Veränderungen

können

Hinzufügungen

und Tilgungen,

Verfäl-

schungen und sonstige Manipulationen aufgedeckt werden. Besonderes Interesse gilt in der Regel auch dem Schriftträger. Das Papier - oder was immer der Schriftträger ist - enthält nämlich häufig noch weitere latente Spuren, die zur Beantwortung der Beweisfrage Wesentliches, zuweilen Entscheidendes beitragen können. (Hierzu gehört auch die Sicherung von Fingerabdrücken mit chemischen Hilfsmitteln und deren Auswertung, die allerdings Sache des Daktyloskopen i s t . ) Für den Schriftsachverständigen druckspuren

sind primär latente Durch-

von Schreibleistungen

bedeutsam.

Schreibt man

beispielsweise auf einem Briefblock, so weisen auch die darunterliegenden Blätter Prägespuren von der Beschriftung auf dem ersten Blatt a u f . Je nach Schreibdruck und Dicke des Papiers eines

lassen sich diese elektrostatischen

latenten Schriftspuren mit Oberflächenprüfgeräts noch

Hilfe über

mehrere Blätter sichern. Das ursprüngliche Schriftbild wird also mehr oder minder deutlich wieder erkennbar. (So konnte beispielsweise in einem Untersuchungsfall auf einem - in stark verstellter Schrift geschriebenen - Erpresserbrief die vollständige Durchdrückspur einer Eingabe an das Finanzamt gesichert werden, mit der der Erpresser - in seiner üblichen Schrift und unter Nennung seiner kompletten Anschrift - um Steuerstundung gebeten h a t t e . ) Der Schriftträger kann aber auch weiterhin z . B . auch für die Altersbestimmung bedeutsam sein, denn eine Schreibleistung kann nicht älter sein als der Schriftträger. Über die vielfältigen sonstigen Möglichkeiten physikalisch-technischer Urkundenuntersuchungen i n f o r m i e r t zusammenfassend und auf dem Stand der heutigen Forschung PFEFFERLI 1989.

221

3. Schrift als Bewegungsspur Schreiben stellt eine bemerkenswert komplexe psychophysische Handlung dar, deren Erforschung zu den Aufgaben der Psychologie und der Neurophysiologie gehört. In der Handschrift hinterläßt der Schreiber eine Bewegungsspur, die in ihrer Eigentümlichkeit unter normalen Bedingungen interindividuell mehr oder minder

unverwechselbar und

intraindividuell relativ konstant ist. Diese Erfahrungstatsache ist uns auch aus dem Alltag geläufig. Der Empfänger eines Handschreibens einer ihm vertrauten Person erkennt in der Regel am Schriftbild unmittelbar den Schreiber wieder. Die Individualisierung der Handschrift beginnt schon bemerkenswert f r ü h . Blickt man in die Hefte von Schülern der ersten Grundschulklasse, so zeichnet sich bereits hier eine Ausdifferenzierung der Schrift ab. Zu einer zunehmenden Verfestigung der Schreibgewohnheiten kommt es in der Regel beim Eintritt in das Erwachsenenalter. Meist bleibt dann die Schrift über einen längeren Zeitraum weitgehend konstant. Erst im höheren Alter können, bedingt durch graphomotorische Abbauerscheinungen, wieder deutlichere Schriftveränderungen auftreten. Allgemein kann gesagt werden, daß durch Lernprozesse im weitesten Sinne sowie durch Anlagefaktoren sich im Individuum bestimmte Innervationsmuster für die Schreibbewegung bilden, die das normale Schriftbild bestimmen. - Die Handschrift einer Person ist aber keineswegs schlechthin individuell. Gemeinsamkeiten zwischen Handschriften ergeben sich durch Gleichheit oder Ähnlichkeit der Schulvorlage, nach der die Schrift erlernt wurde, durch bewußte oder unbewußte Anlehnung der Schrift an den Schreibstil bestimmter Nationen, Schichten oder Einzelpersonen ( z . B . Ehepartner) sowie an den jeweiligen "Zeitstil" und weiter durch anatomische, physiologische und pathologische Ähnlichkeiten.

222

Ganz besonders muß auch darauf hingewiesen werden, daß Individualität der Handschrift nicht durch absolute Einmaligkeit bestimmter Einzelmerkmale gegeben ist. Solche können zwar einen mehr oder minder großen Seltenheitswert haben, niemals aber als singular bezeichnet werden. Die Individualität einer Handschrift ist vielmehr durch die besondere Konfiguration ihrer graphischen Merkmale gegeben. Die Spezifität dieser Merkmalskonfiguration kann mehr oder minder groß sein. In Extremfällen kann sie so niedrig oder wegen des geringen Umfangs der Schriftzüge nur so ungenau bestimmbar sein, daß die Möglichkeit einer Schriftvergleichung ausgeschlossen werden muß. Die Handschrift einer Person ist aber auch nur relativ konstant. Konstanz ist in der Schrift niemals in dem Sinne gegeben, daß bei wortgleichen Schriftzügen Deckungsgleichheit zu erwarten ist. Vielmehr weist jede Schrift, auch unter gleichbleibenden Bedingungen - eine mehr oder minder große Variabilität a u f . - Darüber hinaus kann sich die Handschrift durch eine ganze Reihe von äußeren und inneren Einflußgrößen dauerhaft oder aktuell ungewollt verändern, wobei meist nur begrenzt eine willkürliche Unterdrückung oder Kompensation solcher Veränderungstendenzen möglich ist. Man denke z . B . an verschiedene äußerliche Bedingungen beim Schreibvorgang, wie Funktionsmängel des Schreibgeräts, ungünstige Körperhaltung, fehlende oder unsichere Schreibunterlagen, Schreiben mit klammen Fingern etc. Veränderungen des Schriftbildes können sich aber auch durch Alkohol- oder Drogeneinfluß, durch Hast oder Erregung sowie durch Verletzungen und Erkrankungen, die sich auf die Graphomotorik auswirken, ergeben. Endlich aber ist es möglich, die Handschrift - innerhalb mehr oder minder weiter Grenzen - willkürlich zu verändern. Eine solche vorsätzliche Veränderung kann erfolgen, um als Schrifturheber möglichst unerkannt zu bleiben {Schriftverstellung),

223

um die Schrift einer anderen Person zu imitieren (Nachahmung), mit sonstigen Vorsätzen, z . B . sorgfältig, "schön" oder groß zu schreiben (willkürliche Schriftveränderung ohne Verstellungs- oder Nachahmungsabsicht). Aus den vielfältigen Variabilitätsursachen ergeben sich die besonderen Problemenstellungen der Schriftvergleichung. Äußerliche Schriftähnlichkeit kann nicht nur durch Urheberidentität bedingt sein, sondern auch durch Nachahmung oder zufällige Ähnlichkeit mit der Schrift einer anderen Person. Äußerliche Schrift unähnlichkeit kann nicht nur auf unterschiedliche Urheberschaft zurückgehen, sondern auch d a r a u f , daß ein und derselbe Schreiber Urheber ist, aber unter verschiedenen Bedingungen geschrieben oder aber seine Schrift willkürlich verändert hat.

4. Erhebung der graphischen Befunde Angesichts der Situation d ü r f t e es völlig einsichtig sein, daß ein reiner Vergleich der Buchstabenformen, wie er bis zum ausgehenden vorigen Jahrhundert in der Schriftvergleichung dominierte, notwendigerweise in vielen Fällen zu Fehlschlüssen führen mußte und bekanntlich auch geführt hat. Schriftvergleichung kann also weder eine schematische Technik des Formenvergleichs sein, noch darf sie - wie insbesondere von Graphologen - als mehr oder minder intuitive, objektiv nicht nachprüfbare "Kunst" betrieben werden. Es muß vielmehr die Frage vorangestellt werden, wie dieses komplexe Gebilde "Handschrift" systematisch so analysiert werden kann, daß alle relevanten Aspekte erfaßt und in die Vergleichung einbezogen werden. - Zu den grundlegenden Aufgaben einer jeden Wissenschaft gehört es, zur Beschreibung oder Mes-

224

sung der Phänomene, die sie zum Gegenstand hat, ein System von Kategorien oder Skalen zu entwickeln, das eine möglichst vollständige und zugleich ökonomische Erfassung gestattet. Für die Forensische Schriftuntersuchung lautet dementsprechend die Frage: Welches Minimum von einander (möglichst) nicht überschneidenden Dimensionen oder Komponenten muß eingeführt werden, um die vielfältigen graphischen Phänomene adäquat beschreiben oder messen zu können? Auch jede schriftvergleichende Analyse muß also durch eine klar begründete Systematik in der Erfassung und Vergleichung des graphischen Repertoires gekennzeichnet sein. Bei einer schriftvergleichenden Untersuchung, die einer solchen Systematik entbehrt, wird sich der Sachverständige zu Recht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, er habe willkürlich bestimmte Merkmale für seine Beweisführung herangezogen und ebenso willkürlich andere vernachlässigt. Ein solches allgemeines System zur Erfassung von Schriftmerkmalen wurde vom Verfasser vorgeschlagen (MICHEL 1982). Es hat sich einerseits als weitgehend universell anwendbar und andererseits als flexibel genug erwiesen, um den vielfältigen konkreten Fragestellungen schriftvergleichender Analysen gerecht zu werden. Es bietet insbesondere die Voraussetzung für eine vollständige und möglichst objektive Merkmalserfassung. Der Ansatz basiert insbesondere auf der zusammenfassenden Auswertung und Integration einer größeren Zahl faktorenanalytischer Untersuchungen von Handschriftenvariablen. Es ist hier nicht der Ort, allgemein Möglichkeiten und Grenzen der mathematisch-statistischen Methode der Faktorenanalyse zu erörtern. Grundsätzlich aber erscheint sie geeignet, Schriftmerkmale nach funktionalen Einheiten zu ordnen. Die Grundfrage faktorenanalytischer Untersuchungen lautet nämlich, wieviel Dimensionen oder eben Faktoren eingeführt wer-

225

den, um die Mannigfaltigkeit beobachtbarer interindividueller Merkmalsunterschiede darstellen zu können. Der Grundgedanke der Faktorenanalyse ist somit eine Weiterführung und der Versuch einer Präzisierung der Realitätserkenntnis im Alltag: Die große Fülle von Einzeleindrücken und Beziehungen zwischen ihnen wird zurückgeführt auf eine möglichst kleine Anzahl von Begriffen, die eine relativ einfache Ordnung der Vielfalt der Einzelheiten gestattet. Eine Aufteilung in neun graphische Grundkomponenten erwies sich als angemessen und zweckmäßig. Sie stellen einerseits umgrenzbare Funktionseinheiten der Schreibhandlung dar, andererseits aber weitgehend praktikable Analyseeinheiten. Sie seien im folgenden nur kurz allgemein gekennzeichnet: 1.

Strichbeschaffenheit: Merkmale des Striches als "Urelement" der Schrift; Sicherheit und Elastizität der Schriftführung und ihre Störungen.

2.

Druckgebung: Absolute Stärke der aufgewendeten K r a f t beim Schreiben und ihre Verlaufseigenschaften (Druckrhythmus) .

3.

Bewegungsfluß'. Strichgeschwindigkeit 1 (cm/sek) und Erfolgsgeschwindigkeit (Schreibleistung pro Zeiteinheit) sowie Grad und Art der Verbundenheit, also Häufigkeit und Position der Unterbrechungen des Bewegungsflusses.

4.

Bewegungsführung und Formgebung: Modifikation der erlernten Schulvorläge durch Bogen- und Linienzügigkeit sowie durch Tendenzen zur Reduktion und Amplifikation.

5.

Bevtegungsrichtung: Bewegungsentfaltung in den vier Schreibrichtungen; Bewegungsabläufe, Neigungswinkel und Zeilenführung.

226

6.

Vertikale Ausdehnung: Absolute Schriftgröße und Größenproportionen.

7.

Horizontale Ausdehnung: Buchstabenbreite und -abstände.

8.

Vertikale Flächengliederung: Anordnung der Beschriftung in der Senkrechten (Oben- und Untenrand, Zeilenabstände und sonstige vertikale Gliederung).

9.

Horizontale Flächengliederung: Anordnung der Beschriftung in der Waagerechten (Links- und Rechtsrand, Wortabstände und sonstige horizontale Flächengliederung).

Die neun graphischen Grundkomponenten stellen allgemeine Analyseeinheiten innerhalb eines hierarchisch gegliederten Prozesses der Befunderhebung dar. Ausgehend von den einzelnen Grundkomponenten vollzieht sich die Merkmalserfassung in systematischen Schritten vom Allgemeinen zum Besonderen: In einem ersten Schritt wird die allgemein kennzeichnende oder durchschnittliche Ausprägung eines Merkmals für die jeweilige Schrift ermittelt. Weiterhin wird die allgemeine Variabilität oder Streuung des Merkmales bzw. Merkmalskomplexes e r f a ß t . Sodann erfolgt die Erfassung der systematischen Variabilität, d.h. es wird untersucht, ob sich ganz bestimmte, wiederkehrende Merkmalsvarianten feststellen lassen, z . B . im Gesamtverlauf, im Detailverlauf von Zeile, Wort oder Bewegungseinheit, in bestimmten Schreibzonen, Positionen oder einzelnen Schriftzügen. Endlich ist die Merkmalsvariabilität als Funktion verschiedenartiger Schreibbedingungen zu beachten. Es ist

227

also festzustellen, ob und in welcher Weise bestimmte Varianten unter besonderen inneren oder äußeren Schreibbedingungen a u f t r e t e n , wie z . B . bei größerer Eile. Der Vorzug einer solchen, jeweils vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitenden Merkmalserfassung ist u . a . darin zu sehen, daß sie immer wieder dazu zwingt, die zu analysierende Schrift unter bestimmten Gesichtspunkten in ihrer Gesamtheit zu betrachten, ehe sich dann eine detailliertere Analyse anschließt. Durch die Integration der beiden Betrachtungsweisen (ganzheitliche Inspektion und Detailanalyse) wird einerseits ein ungerichtetes Sammeln von Merkmalsbesonderheiten vermieden, andererseits aber auch eine zu globale Betrachtungsweise, die ebenfalls unzureichend ist.

5,Beweiswert von Schriftvergleichsgutachten In einer gerade veröffentlichten kritischen empirischen Untersuchung kommt RIEß 1989 zu dem Schluß, daß auch im Vergleich mit anderen forensischen Disziplinen die gleichberechtigte Bedeutung des schriftvergleichenden Gutachtens bestätigt werde. Auch der Bundesgerichtshof hatte in seinem Beschluß vom 26. Juni 1982 (4 StR 183/82) ausdrücklich die Auffassung bekräftigt, daß Schriftvergleichsgutachten allein ausreichende Beweismittel für eine Verurteilung sein können, vorausgesetzt, daß die Untersuchungsergebnisse keinen Raum für vernünftige Zweifel lassen. Dennoch wird nach wie vor gern auf die angebliche besondere Fehleranfälligkeit von Schriftvergleichsgutachten verwiesen (so beispielsweise neuerdings K. MÜLLER 1988). Eine solche Skepsis läßt sich indes gegenüber der heutigen Methodik der Forensischen Schriftuntersuchung in keiner

228

Weise belegen. gegenüber

Sie ist

einzelnen

ihre Dienste als

allerdings durchaus

Außenseitern,

die

der

"Schriftsachverständige"

über eine hinreichende hierzu MICHEL 1989).

Qualifikation

zu

gerechtfertigt Rechtsprechung

offerieren,

ohne

verfügen

(vgl.

Die Probleme der Forensischen Schriftuntersuchung bestehen heute nicht mehr in ihrer wissenschaftlichen Fundierung und Methodik. Ihre Beweisführung ist gekennzeichnet durch lükkenlose und objektive Befunderhebung und Bewertung der Befunde nach wissenschaftlichen Prinzipien. Daß in die Befundbewertung - wie in jede wissenschaftliche Interpretation auch subjektive Momente eingehen können, soll in keiner Weise bestritten werden. Ebenso klar sollte aber auch sein, daß es keineswegs in jedem Falle möglich ist, zu eindeutigen Schlußfolgerungen zu gelangen. In der Regel wird man nur dann eine klare und wissenschaftlich begründete Antwort auf die Frage nach der Schrifturheberschaft erwarten d ü r f e n , wenn die folgenden Voraussetzungen gegeben sind: 1.

Das fragliche Schriftmaterial muß ausreichende quantitative und qualitative graphische Ergiebigkeit aufweisen und im Original für die Untersuchung zur Verfügung stehen.

2.

Es muß ein adäquates und ausreichendes Vergleichsmaterial des fraglichen Schreibers zur Verfügung stehen, das unbefangen entstanden ist und dessen Schreibweise hinreichend repräsentiert. Darüber hinaus können gezielt erhobene Schriftproben erforderlich sein, durch die versucht werden soll, die vermuteten Entstehungsbedingungen - soweit dies möglich und zulässig ist - zu reproduzieren.

229

3.

Endlich müssen dem Sachverständigen möglichst detaillierte Informationen über die bekannten, vermuteten Schreibumstände vorliegen, unter denen die fragliche Schreibleistung zustande gekommen sein soll.

230

Literatur

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FORENSISCHE LINGUISTIK UND FORENSISCHE SCHRIFTUNTERSUCHUNG ZWEI METHODISCH VERWANDTE DISZIPLINEN?

Manfred Hecker

Kaum Schlimmeres kann einem personenbezogenen Identifizierungsverfahren bei seiner publizistisch großflächigen Einführung in die gerichtliche Praxis widerfahren, als eine weit auseinanderklaffende Einschätzung seiner Validität und Reliabilität,gepaart mit einem heftigen Streit seiner Anwender über fundamentale methodische Fragen. Offensichtlich ist die Lernfähigkeit selbst mancher Wissenschaftler begrenzt, wenn es darum geht, eigene Fehler einzugestehen oder wenigstens einzusehen, anstatt tief in die Verleumdungskiste zu greifen und mit fachfremden Hilfsargumenten zu diffamieren. Nun ist allerdings das Auftreten von Fehlbegutachtungen mit der unausweichlich scheinenden öffentlichen Zerfleischung der konkurrierenden Gutachter keine Besonderheit der forensischen Linguistik, sondern b e t r i f f t gleichermaßen alle anderen etablierten gerichtlichen Sachverständigengebiete, ist der Fall nur spektakulär genug. Es soll daher im folgenden am Beispiel der gerichtlichen Handschriftenuntersuchung versucht werden aufzuzeigen, welche allgemeingültigen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um die Gefahr von Fehlgutachten zu minimieren. Darüber hinaus erscheint es reizvoll, mögliche methodische Parallelitäten zwischen beiden Gebieten herauszuarbeiten. Im Bereich der forensischen Schriftuntersuchung tummeln sich zum Leidwesen der seriösen Gutachter eine ganze Reihe von Personen, die über keine oder keine ausreichende einschlägige Ausbildung verfügen. Zwar schützt auch fachliche Qualifikation im Einzelfall nicht vor 'menschlichem Versagen' , doch vermindert sie drastisch dieses Risiko. Wer

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(hand)schreiben kann, versteht deshalb noch nichts von Schriftvergleichung und das dürfte analog für die Beurteilungskompetenz des Sprachgebrauchs gelten. Zu dieser Qualifikation gehört neben einer soliden Ausbildung zweifellos auch die entsprechende Weiterbildung. Es gibt, wie es den Anschein h a t , nicht nur im Bereich der gerichtlichen Schriftuntersuchung 'Sachverständige', die sich einschlägigen Fachtagungen mit ihren außerordentlich fruchtbaren - da mitunter sehr kontroversen - Diskussionen beharrlich versagen. Einzige Evolutionsquelle wissenschaftlicher Denkungsweise bleibt für diesen Personenkreis da die introvertierte Nabelschau. Handwerkliches Rüstzeug, solides theoretisches Fachwissen, aber auch die Kenntnis der justiziellen Spielregeln bieten erst die Gewähr d a f ü r , daß ein personenbezogenes Identifizierungsverfahren den hehren Ansprüchen genügen kann, die an den Sachbeweis im Gerichtsverfahren zu stellen sind, insbesondere, wenn er entscheidend zur Urteilsfindung beiträgt. Aus hiesiger Sicht gibt es ein ganzes Bündel unverzichtbarer methodischer Vorgehensweisen, die sich in der forensischen Schriftuntersuchung bewährt haben und die - strikt befolgt auch in der forensischen Textanalyse und -vergleichung die Gewähr dafür bieten, Fehlbegutachtungen zu vermeiden. Anhand eines Gutachtenmodelles, wie es in der forensischen Schriftuntersuchung gang und gäbe ist, soll im folgenden auf die wesentlichen Analyseschritte und ihre methodischen Implikationen eingegangen werden.

1. Auftrag Es mag banal erscheinen, an den Anfang des Gutachtens die konkrete Auftragsformulierung, i.e. in Form eines Zitates, zu stellen; diese wörtliche Wiedergabe des Beweisthemas

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dient einmal der Absicherung des Sachverständigen in der Hauptverhandlung, sich nicht dem Vorwurf einer unzulässigen Auftragserweiterung und damit eventuell der Besorgnis der Befangenheit auszusetzen. Zum anderen bietet sie die Möglichkeit einer sachlichen Richtigstellung, wenn der Auftraggeber Erwartungen in das Gutachten setzt, die von der Methodik her nicht erfüllbar sind. Im Bereich der Schriftexpertise beispielsweise ist in Beweisbeschlüssen immer wieder von "graphologischen" Gutachten die Rede, obwohl hiermit begrifflich Persönlichkeitsanalysen aufgrund der Handschrift bestimmt sind, während tatsächlich die Identifizierung eines Schrifturhebers anhand bestimmter Merkmale seiner Handschrift gewünscht wird. Im Zusammenhang mit linguistischen Textanalysen könnte ein solches 'unerfüllbares' Ansinnen lauten, anhand einiger weniger Wörter Aussagen zum Bildungsniveau, Geschlecht, Alter und zur Nationalität des Urhebers zu machen.

2. Materialbeschreibung In der forensischen Schriftvergleichung hat es sich als sinnvoll erwiesen, sowohl das fragliche als auch das Vergleichsmaterial genauestens zu beschreiben, und zwar hinsichtlich seiner äußeren (physikalischen) Erscheinungsform wie auch in bezug auf den Inhalt. Dies verhindert -insbesondere bei sehr umfangreichem Untersuchungsgut - mögliche Verwechslungen bei einer mitunter erst Jahre später stattfindenden mündlichen Vertretung des Gutachtens und vereinfacht zudem die materialkritische Würdigung. Auch empfiehlt es sich aus prozeßtaktischen Gründen an dieser Stelle, für das Vergleichsmaterial eine Urheberschaftsvage Formulierung, etwa der folgenden Art, zu wählen: "An Vergleichsmaterial, das von Frau X herrühren soll, steht zur Verfügung: ...". Die Wahl einer solchen Aussage ist immer dann angezeigt, wenn der Sachverständige das Vergleichsmaterial nicht selbst er-

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hoben hat, sondern hinsichtlich der Quellenverifikation auf die Aussagen Dritter angewiesen ist. Zwar hat es sich in der forensischen Gutachtenpraxis eingebürgert, die Verantwortung für die Authentizität des Vergleichsmaterials dem Auftraggeber zuzuschieben, jedoch unterlaufen in diesem Bereich immer wieder Fehler. Dabei mag es dahingestellt bleiben, ob solche Fehlzuschreibungen auf der Gutgläubigkeit des Auftraggebers fußen oder aber eine gezielte Desinformation einer Partei darstellen: Eine derartige Relativierung der Herkunftsbezeichnung enthebt den Sachverständigen einer zeugenschaftlichen Vernehmung zu sogenannten Anschlußtatsachen, über die er möglicherweise keine eigenen Erkenntnisse hat. Eine andere Möglichkeit, dem Problem einer Falschzuschreibung aus dem Wege zu gehen, besteht in einer entsprechenden Formulierung des Ergebnisses der Vergleichsuntersuchung: Man spricht dann nicht davon, daß der fragliche Text "von Herrn stammt", sondern daß "zwischen dem fraglichen und dem Vergleichsmaterial Urheberidentität besteht", wobei es dann nicht mehr Aufgabe des Gutachters ist, den Nachweis für die Authentizität des Vergleichsmaterials zu führen.

3. Methodische Grundlagen Dieses in schriftvergleichenden Untersuchungen sich anschließende Kapitel soll ein Verständnis des Gutachtenempfängers bzw. aller Prozeßbeteiligten für die Theoreme und Axiome der Disziplin schaffen und die von der Strafprozeßordnung geforderte Nachvollziehbarkeit ( f r e i e Beweiswürdigung, StPO § 261) gewährleisten. Dies setzt eine Darlegung der methodischen Grundsätze in einer verstehbaren Sprache voraus. Die Akzeptanz eines Gutachtens kann erheblich leiden, wenn ein bestimmter Anteil an Fachterminologie und Fremdwörtern überschritten wird. Gutachten sind nicht der Ort, disziplinäre Sprachgewalt zu demonstrieren; dafür ste-

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hen andere Bühnen zur Verfügung. Wenn eine Disziplin erst durch ihr hochgestochenes Vokabular ihre Daseinsberechtigung bzw. ihren Wissenschaftlichkeitsanspruch im Gerichtssaal glaubt herleiten zu können, ist Wachsamkeit geboten. Nach unserer Überzeugung sollte das Kapitel Grundlagen' folgende Funktionen erfüllen: 1.

2.

3. 4.

5.

'Methodische

Darlegung der Grundannahmen der Disziplin ( z . B . Handschrift ist in ihrer Gesamtheit prinzipiell individualtypisch) Fallabhängige Darstellung von methodischen Besonderheiten (z. B. Einfluß bestimmter Hirnverletzungen auf das Sprach und Schreibvermögen) Darlegung der Merkmalsebenen, die die Typisierung fundieren ( z . B . allgemeine ./. besondere Merkmale) Darlegung der Methoden der Merkmalserhebung ( z . B . physikalisch-technische ./. eindrucksmäßige Merkmalserfassung) und Darlegung der Bewertungs- und Schlußfolgerungskriterien ( z . B . Statistik ./. R a t i n g ) .

Zwei Aspekte sollen hier näher beleuchtet werden, da sie in beiden Disziplinen die wohl streitbefangensten Themenkreise darstellen, nämlich zum einen, ob eine bestimmte Merkmalskonfiguration tatsächlich Individualcharakter haben kann, und wie in diesem Falle die einzelnen Komponenten beschaffen sein müssen und zum anderen, wie die Wertigkeitsabschätzung eines bestimmten Merkmalssyndromes objektiviert werden kann. In der Schriftvergleichung wie in der linguistischen Textvergleichung scheint die Aussage konsensfähig, daß es das individuelle Einzelmerkmal nicht gibt. Individuell ist bestenfalls die Spezifität eines ganzen Merkmalsbündels, dessen einzelne Bestandteile - verstanden als Abweichungen von einer Norm - in ihrer Vorkommenshäufigkeit bzw. Seltenheit

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vom Sachverständigen vor seinem Erfahrungs- und Wissenshintergrund subjektiv zu bewerten sind. Beiden Disziplinen gemeinsam ist dabei der Umstand, daß aufgrund der prinzipiell unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten der Abweichungen von bestehenden Normen unter gewissen Voraussetzungen {Textumfang/Schriftart bzw.Textsorte/Qualität der Normabweichungen) die statistischen Kombinationszahlen die Menge der überhaupt existenten möglichen Urheber bei weitem übersteigen. Hieraus läßt sich die Existenzberechtigung des Axioms herleiten, daß es eine Eigengeprägtheit von Schrift und Sprache im Sinne eines personengebundenen und damit -typischen Verhaltensmusters gibt, aus der sich die Identifizierung eines Urhebers legitimieren kann. Entscheidend dabei ist die Brauchbarkeit des Bezugssystems 'Norm 1 und die penible Beobachtung von Wandlungen und Verschiebungen des Normgefüges unter dem Aspekt ihrer gruppen- oder individualspezifischen Klassifizierbarkeit. Durchgängige Kleinschreibung oder unorthodoxe Silbentrennung kann Ausdruck einer Protesthaltung nicht nur gegenüber diesbezüglichen Konventionen darstellen und hat damit als 'group factor' eine andere Qualität als die Falschtrennung eines Zeitungssetzers, der mit veraltetem technischen Gerät Blocksatz produzieren soll. Daß damit unmittelbar der Seltenheitswert eines Einzelmerkmales tangiert ist, liegt auf der Hand, da es äußerst schwierig ist den normativen Prägungsbereich z . B . einer Tageszeitung auf das Silbentrennungsverhalten ihrer Leserschaft und damit die Fehlerdefinition zu fassen. Insoweit erfordert wissenschaftliche Redlichkeit auch das Eingeständnis der Subjektivität des Bewertungsvorganges, so lange statistisch seriöse Häufigkeitsverteilungen fehlen. Ob diese jemals umfassend möglich sind oder zwangsläufig dem Sprachwandel immer hinterherhinken müssen, mag dahingestellt bleiben: Jede Quantifizierung ist sicherlich geeignet,die Aussagesicherheit zu erhöhen; ihr Fehlen andererseits ebenso sicher noch kein Grund, den nicht-quantitativen Bewertungs-

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Vorgang und damit die sich seiner bedienende Methode als unwissenschaftlich abzutun. Skepsis ist allerdings angebracht gegenüber Versuchen, Bewertungen zu q u a n t i f i z i e r e n , etwa unter Zuhilfenahme des BAYES Theorems. Aufgrund der derzeit in weiten Bereichen der beiden Disziplinen noch fehlenden massenstatistischen Bezugsdaten muß jeder Versuch, eine Urheberschaftsaussage in Prozentangaben zu formulieren, als Scheingenauigkeit abgelehnt werden. Der Einsatz rechnergestützter Verfahren zur Aufbereitung massenstatistischer Daten ist in dieser Hinsicht von größtem N u t z e n , insbesondere auch zur Selektionierung großer Textpools; die qualitative Zusammenschau aller Einzelergebnisse erscheint aber nach wie vor eine humanintellektuelle Aufgabe zu sein, die über reine Zählkunst weit hinausgeht.

4. Physikalisch-technische Untersuchungen (PTU) Sie verfolgen das Ziel, ggf. solche Merkmale festzustellen, die - wie der Name sagt - mit physikalisch-technischen Verfahren nachgewiesen, die Schlußfolgerung erlauben, daß eine Fälschung oder Verfälschung vorliegt. Dazu gehören in der Schriftvergleichung beispielsweise mikroskopische, lichttechnische oder elektrostatische Verfahren, mit Hilfe derer Vorzeichnungsspuren bei indirekten Pausfälschungen sichtbar gemacht werden können. Auch Strichkreuzungen, die geeignet sind, unter Einsatz der Rasterelektronenmikroskopie A u f schluß über die Entstehungsreihenfolge etwa von Text- und Unterschrift zu geben oder die Differenzierung für das Auge gleichfarbig erscheinender, materialmäßig jedoch unterschiedlicher Kugelschreiber stellen wertvolle objektive Verfahren d a r , die Hinweise auf Manipulationen zu geben vermögen.

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Mag es auch auf den ersten Blick scheinen, als lägen solche Verfahren außerhalb des Relevanzrahmens forensisch-linguistischer Untersuchungen, so scheint es doch bei näherem Hinsehen durchaus auch hier Anwendungsbedarf für diese Methoden zu geben. Dabei ist in erster Linie zu denken an sinnverändernde Einschübe oder Korrekturen, die handschriftlich an maschinengeschriebenen Texten vorgenommen wurden. So kann es m . E . von größter Wichtigkeit für die Beurteilung der Authentizität eines Textes sein, festzustellen, ob solche Korrekturen dem Umformulierungswillen des gedanklichen Urhebers entspringen, oder ob es sich um die (autorisierte) Korrektur eines Fremdtextes handelt. Insbesondere das Auffinden von Rohfassungen beweiserheblicher Tatschreiben kann somit u . U . wertvollen Aufschluß darüber geben, ob ein oder mehrere Urheber einen Text verfaßt haben, ganz abgesehen davon, daß in diesen Fällen über die Handschrift eine Urheberidentifizierung zumindest der Einschübe und damit eine Authentifizierung möglich ist. Aber auch in anderer Hinsicht scheint die PTU von großem Nutzen für die linguistische Textanalyse zu sein: Wie die kriminaltechnische Untersuchung des sogenannten 'BarschelBriefes' gezeigt hat, mußte es sich bei der Unterschrift nach Kenntnis der möglichen Entstehungsbedingungen und aufgrund der Befunde der schriftvergleichenden Analyse um eine Fälschung handeln. Es soll hier nicht vertieft werden, inwieweit dieses Ergebnis schon einen absoluten Beweis dafür darstellen kann, daß es sich bei dem darüber stehenden maschinenschriftlichen Text um eine Fälschung handeln muß; mit Sicherheit aber ist ein derartiges Untersuchungsergebnis geeignet, erhebliche Zweifel an der Authentizität des Gesamtbriefes zu begründen oder damit sogar andere, z . B . auch linguistische Untersuchungen, zu erübrigen. Solches Vorgehen hat sich im Sinne einer interdisziplinär arbeitsteiligen Untersuchungsstrategie innerhalb der Kriminaltechnik längst bewährt. Ergab beispielsweise eine Tintenanalyse - wie im

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Falle der sog.

'Hitler-Tagebücher', daß die

bestenfalls 2 Jahre alt

Aufzeichnungen

sein konnten, so erübrigte sich

ei-

gentlich die Untersuchung durch den Schriftsachverständigen, jedenfalls in bezug auf die Fragestellung, ob es sich um die Handschrift Hitlers handle. Wenn Schriftexperten gleichwohl eine Untersuchung durchgeführt haben, so zur Beantwortung der Frage, wer denn, wenn nicht Hitler, die Tagebücher geschrieben habe. Was für Texthinzufügungen gilt, t r i f f t

auch für Textverkür-

zungen, z . B . durch Rasur, zu. Damit ist

ein Hauptaspekt der

Notwendigkeit für den Einsatz solcher Untersuchungsverfahren in der forensischen Schriftvergleichung angesprochen: Würden diese Prüfungen unterbleiben, so gelangte der

Sachverständi-

ge in nicht wenigen Fällen (die leider forensische Begutachtungswirklichkeit sind) zu das Gericht fehlleitenden Schlußfolgerungen. Es liegt auf der Hand, daß das (Nicht-)Vorhandensein des kleinen Wörtchens ' n i c h t ' den Bedeutungsinhalt eines Satzes diametral verändern kann. Komme ich aufgrund schriftvergleichender Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß der Satz Ich mag diese Dame von der Person X geschrieben wurde, erkenne aber nicht, daß das Wort ' n i c h t ' nach ' D a m e 1 durch Rasur e n t f e r n t wurde, so ist mein Ergebnis hinsichtlich der Schrifturheberschaft zwar richtig, es f ü h r t jedoch zu einer falschen gerichtlichen Würdigung, weil nämlich der Schreiber X tatsächlich etwas ganz anderes ausdrücken wollte und de facto auch ausgedrückt hat. Dazu noch ein anderes Beispiel: Zu prüfen ist, ob die Unterschrift auf einer Quittung über DM 50.000.-, deren Echtheit vom Namenseigner bestritten wird, echt oder gefälscht ist. Die Untersuchung f ü h r t zu dem Ergebnis, daß die Unterschrift authentischen Ursprunges ist. Damit wäre der gerichtliche Auftrag eigentlich e r f ü l l t . Nun zeigt aber die obligatorische PTU, daß die Betragsangabe von ursprünglich

5 000 auf

50 000 verändert

wurde, woraus zu schließen ist, daß der Namenseigner lediglich DM 5 000.-, nicht aber DM 50 000.- quittieren wollte

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bzw. quittiert hat. Es leuchtet ein, daß die Beweiswürdigung des Gerichtes trotz in beiden Fällen gleicher Aussage zur Echtheitsfrage der Unterschrift zu völlig entgegengesetzten Urteilen gelangen wird. Aber auch in bezug auf eine 'formale Homogenitätsprüfung 1 etwa maschinengeschriebener Texte kann eine PTU wertvolle Hinweise geben, so z . B . durch den Nachweis unterschiedlicher Einspannvorgänge. Ein derartiges Ergebnis mag zwar wiederum nicht als zwingender Beweis für Urheberschaftsverschiedenheit dienen, es mag aber die kritische Wachsamkeit des Sachverständigen verstärken und gegebenenfalls Zweifel an der (vorgetäuschten) urheberschaftlichen Ganzheit eines Textes begründen. Ein weiteres Problem, das aus meiner Sicht den forensischen Linguisten in diesem Zusammenhang ebenso tangieren muß wie den Schriftsachverständigen, liegt in der Untersuchung von Nicht-Originalen. Moderne Kopierverfahren, wie etwa die Laserkopierer, lassen eine fast beliebige Manipulation von Texten zu, seien sie nun hand- oder maschinenschriftlich v e r f a ß t . Das Fatale dabei ist, daß authentische Texte in nahezu beliebiger V i e l f a l t 'umkomponiert 1 werden können und damit alle möglichen Sinngebungen erzielbar sind, die nie in der Intention des Verfassers des Ausgangsmaterials lagen, ohne daß damit zwingend Einflüsse des Fälschers sichtbar werden, da er ja mit authentischem Material arbeitet. Dies ist einer der Gründe, warum die Mehrzahl der ernst zu nehmenden Schriftexperten die Beantwortung der Urheberschaftsfrage anhand von Nichtoriginalen - mit ganz wenigen zulässigen Ausnahmen - ablehnen, denn sie erkennen zwar Ohne Z w e i f e l ' die Handschrift der Person Z, wissen aber nicht, ob diese Person diesen konkreten Text inhaltlich in der als Kopie vorliegenden Form physikalisch so auch niedergeschrieben hat. Und damit ist die Frage unbeantwortbar, ob Phänotyp

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und Genotyp eines Nichtoriginales identisch sind.

5. Materialkritik In direktem Zusammenhang mit der ausgiebigen Erörterung der Quellen der Authentizitätsbehauptung steht die gleichzeitige Verpflichtung des Sachverständigen, eine fachlich kompetente Plausibilitätsprüfung bzw. Homogenitätsprüfung unter dem Aspekt eines Vergleichsschreibers vorzunehmen, soweit dies materialbedingt überhaupt möglich ist. Zwar stößt eine solche Prüfung im Bereich der forensischen Schriftuntersuchung immer dort an Grenzen, wo unterschiedliche Schriftarten ( z . B . Versaldruckschrift versus Kurrentschrift / verstellte versus unverstellte S c h r i f t ) einem Internvergleich unterzogen werden sollen, und dies gilt zweifellos auch für unterschiedliche Textsorten im Bereich der Linguistik; gleichwohl erweist es sich in der forensischen Praxis als sehr sinnvoll, in Zweifelsfällen beim Auftraggeber nachzufragen mitunter auch nachzubohren - wie verläßlich seine Authentifizierungskriterien hinsichtlich des Vergleichskorpus denn tatsächlich sind. Es sind Fälle bekannt, wo schließlich die dritte oder vierte Nachfrage zu dem Ergebnis geführt h a t , daß ein "verdächtiges" Vergleichsstück dann einem anderen Urheber zugeschrieben wurde. Bleibt ein Widerspruch zwischen behaupteter Authentizität und Ergebnis des Internvergleiches bestehen, so empfiehlt es sich, ein zweifelhaftes Vergleichsstück bei der Vergleichsanalyse expressis verbis unberücksichtigt zu lassen. Die Hereinnahme eines solchen 'Ausreißers' kann ansonsten zu einer Erweiterung der Bandbreite der Vergleichsgrundlage führen, in die dann - unzutreffenderweise - auch der fragliche Text hineinpaßt, oder besser gesagt 'hineingepaßt w i r d 1 .

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Neben dem qualitativen muß m . E . auch der quantitative Aspekt ein obligo jeder materialkritischen Würdigung sein. Überfall - Geld her! wird in linguistischer, wie in schriftvergleichender Untersuchungsmethodologie in aller Regel keine hinreichend individualgeprägte Äußerung sein, eine genügend abgesicherte Urheberschaftsbestimmung zuzulassen.

6. Vergleichende Analyse Hier sollen, vorzugsweise systematisch, die Einzelbefunde der Vergleichsanalyse nachvollziehbar dargestellt werden. Je nachdem, welche Merkmalskategorien in der jeweiligen Disziplin als relevant angesehen werden, sind s i« blockweise abzuhandeln. Ein solches Vorgehen - in der Schriftvergleichung etwa die Abhandlung zunächst der allgemeinen Schriftmerkmale, danach die der besonderen Schriftmerkmale in Form der alphabetisch aufsteigenden Gegenüberstellung erst der Groß-, dann der Kleinbuchstaben(gruppen) etc. - zwingt zum vollständigen Durchlaufen aller Analysestufen und verhindert die Präponderanz einzelner hervorstechender Merkmalsausprägungen. Insbesondere auch das Herausarbeiten von Abweichungen weist ein Gutachten als Beweismittel aus, das von wie auch immer motivierter "Ergebnisaufrundung" frei ist oder jedenfalls freizuhalten versucht wird.

7. Bewertung der Befunde Die Frage mag umstritten sein, inwieweit sich die vergleichende Analyse und die eigentliche Befundbewertung überhaupt trennen lassen, denn die Feststellung der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit einer Merkmalsausprägung stellt in sich natürlich schon eine (subjektive) Bewertung dar. Dieses Problem ist allen nichtmetrischen forensischen Disziplinen gemein, vor allem dort, wo das Untersuchungsobjekt als Ausfluß

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menschlichen Handelns Variabilität hervorbringt. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Merkmalsausprägung 'Noch-Bestandteil' des Variationsspektrums eines Schreibers oder 'Schon-Eigentümlichkeit' eines anderen Schreibers ist, kann außerordentlich schwierig sein, und ist nur aus einem großen Erfahrungshintergrund des Beurteilers lösbar. Hierin liegt denn auch die größte Gefahr für den "Endverbraucher" des Gutachtens, der sich ohne detaillierte Sachkenntnis eine eigene Überzeugung bilden muß. Häufige Hinweise eines Sachverständigen auf seine unvergleichliche Erfahrung, denen die materielle Plausibilität im konkreten Befund mangelt, sollten hellhörig machen und eine besonders sorgfältige Hinterfragung der Entscheidungsgrundlagen nach sich ziehen. Die Bewertung der Befunde meint also nicht primär den bewertenden Vorgang der Erhebung vergleichbarer Einzelphänomene, sondern die zusammenschauende Gewichtung aller Analyseergebnisse im Hinblick auf ihre Konstellationsspezifität. Gewichtung versteht sich hier als die subjektive Abwägung des jeweiligen Seltenheitsgrades der einzelnen Merkmalsausprägungen einerseits und des Verhältnisses von Entsprechungen zu Abweichungen andererseits. Diese Wertigkeitsfestlegung muß notwendigerweise immer die Gesamtpopulation möglicher Urheber vor Augen haben, um Überbewertungen wertschwacher Merkmalskomplexe zu vermeiden. Dabei ist vorrangig darauf zu achten, daß Außenkriterien nur mit allergrößter Vorsicht in die Bewertung hineinzunehmen sind. Vorgaben, "es kommen nur diese beiden Tatverdächtigen" infrage, können sich das eine um das andere Mal als Wunschdenken entpuppen. Auch kann die zu starke Fixierung auf den einen Vergleichsschreiber dazu führen, Abweichungen unterzubewerten und, mit der Etikettierung 'erklärbar' versehen, sogar zu Quasi-Entsprechungen umzufunktionieren. Hypothesenbildungen als Befundersatz sind abzulehnen, weil sie etwas als gegeben unterstellen, das die Untersuchung ja gerade klären soll. Besteht also der Verdacht - und zwar aufgrund objektivierbarer

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Kriterien - ein Text oder eine Schrift seien z . B . verstellt, so sind, jedenfalls für den Urheberschaftsnachweis, gezielte Proben zu erheben, die die Entstehungsbedingungen der fraglichen Aufzeichnung simulieren. Sind sie nicht zu erlangen, etwa wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Tatverdächtigen, so hat sich der Sachverständige damit abzufinden und seine Schlußfolgerungen entsprechend zu relativieren. Die ähnlichen Merkmalsausprägungen ausgiebig darzustellen und alles Nichtpassende mit Verstellung als die Urheberschaft nicht kontraindizierend zu bewerten, muß allergrößten Bedenken begegnen. Eine falschverstandene Verpflichtetheit gegenüber dem Auftraggeber wird der Qualität empirischer Methodik nicht gerecht.

Zusammenfassung Aus den hier angestellten Überlegungen resultierte im Bundeskriminalamt die organisatorische Zusammenlegung der Bereiche ' S c h r i f t ' , 'Stimme' und 'Sprache 1 . Die bereichsspezifisch entwickelten Methoden erscheinen nicht nur weitgehend transponibel, sondern für die forensische Praxis ausgesprochen fruchtbar, wenn nicht sogar essentiell. Und noch ein anderer, eher pragmatischer Aspekt spricht für die interdisziplinäre Oberlappungsnotwendigkeit: Der Erpresser schreibt zunächst sein Opfer an, mit der Schreibmaschine oder von Hand (oder beides) und gibt schließlich die Modalitäten der Lösegeldübergabe telefonisch durch. In der Beurteilung der Frage, ob Maschinenschrift, Handschrift und Stimme auf eine einzige Person zurückgehen,haben alle 3 Fachgebiete für sich ihre methodischen Grenzen erreicht: Hier ist der Linguist gefordert. Er wird, sofern das "Spurenmaterial" qualitativ und quantitativ ergiebig genug ist, ggf. Ermittlungshinweise derart geben können, ob das wir tatsächlich Ausdruck einer Tätergruppe ist, oder ob ein

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Einzeltäter

damit seine Gefährlichkeit

unterstreichen

will.

Der Linguist wird u . U . fahndungseinengend darlegen

können,

ob ein Ausländerdeutsch nur vorgetäuscht

ob ein

ist,

oder

Tatverdächtiger auszuschließen ist, weil seine Sprachkompetenz weit unter dem Niveau des strittigen Textes liegt. Ehrlich artikulierte Darlegung der methodischen Grenzen

in

Verbindung mit anwendungsorientierter Grundlagenforschung sollte erreichen können, die Nützlichkeit ebenso wie den Wissenschaftlichkeitsanspruch

forensisch-linguistischer

Textvergleiche hinlänglich zu begründen.

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XY...UNGELÖST.

ZU THEORIE UND PRAXIS FORENSISCHER

LINGUI-

STIK1

Günther Grewendorf

1. Ein Beziehungeproblem Die Qualität angewandter Linguistik bestimmt sich u . a . danach, was da in den jeweiligen praktischen Bereichen zur Anwendung gelangt. Daß dies häufig wenig repräsentativ für den Entwicklungsstand linguistischer Theorie ist, hat mehrere Gründe. Zum einen ist da die Ignoranz der theoretisch orientierten Fachwissenschaft, die sich über die "Niederungen" praktischer Erfordernisse erhaben dünkt und Vermittlung und Operationalisierbarkeit theoretischer Ergebnisse nicht als ihre Sache ansieht. Zum anderen ist da aber auch die Ignoranz der angewandten Branchen, die mit gesundem linguistischen Menschenverstand zu Werke gehen und ohne Kenntnis relevanter Erkenntnisse linguistischer Theorie im angewandten Trüben fischen. Abgesehen von jenen Bereichen, in denen die theoretische Forschung durch Anwendungszwänge determiniert (i.e. finanziert) wird, wie z . B . in der Computerlinguistik, divergieren linguistische Theorie und praktische Anwendung entsprechend den Erkenntnisinteressen der zugrundeliegenden "Paradigmata" und den Problemstellungen der vorliegenden Praxisfelder. Was f e h l t , ist der Transfer. Aber was heißt und zu welchem Ende studiert man linguistische Theorie, wenn man "die Sprache der DDR und der BRD" vergleichen oder Deutsch als Fremdsprache unterrichten will, ganz zu schweigen von den unglückseligen Versuchen zu Beginn der siebziger Jahre, Grundschülern Für juristische Hinweise und Schroth, Universität München.

Erläuterungen

danke

ich

Ulrich

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das Instrumentarium von Phrasenstrukturgrammatiken nahezubringen. 2 Ist es nicht von vornherein abwegig, für die abstrakten Theorie-Konstruktionen der generativen Syntax oder die dreidimensionalen Modelle der nichtlinearen Phonologie irgendeine Art von praktischer Relevanz ins Auge zu fassen, die eines Transfers bedürfte? Mir scheint, man verliert zu leicht aus dem Auge, daß es sich bei solchen Theorien trotz all ihrer Abstraktheit um empirische Theorien handelt, deren Ziel die Analyse struktureller Gesetzmäßigkeiten natürlicher Sprachen ist, und ich behaupte, daß die Kenntnis solcher Gesetzmäßigkeiten eine conditio sine qua non für jede Form angewandter Linguistik darstellt. Für psychologische Anwendungsfeider ist dies offensichtlich. Man denke etwa an die Fortschritte, die abstrakte syntaktische und phonologische Theorien für den Bereich der Aphasie-Forschung (und -Therapie) mit sich brachten ( c f . z . B . Caplan 1987; Leuninger 1989). Für andere Bereiche der angewandten Linguistik ist dies weniger leicht zu sehen. So scheint es eher unplausibel, daß abstrakte linguistische Theorien für den primär- oder sekundärsprachlichen Unterricht irgendeine Verwendung finden könnten. Aber diese Unplausibilität resultiert aus einer Verkennung des Problems. Es geht nicht darum, die betreffende Praxis mit dem Instrumentarium abstrakter Theorien auszuüben; es geht darum, vor dem Hintergrund der Vertrautheit mit theoretischen Erkenntnissen die Praxis so zu gestalten, daß ihren Anforderungen auf der Grundlage des aktuellen Kenntnisstandes verantwortungsbewußt Rechnung getragen werden kann. Dabei ist klar, daß für einen Transfer, der sich diesem Postulat verpflichtet weiß, die Erfahrungen des Prak-

Cf. z.B. das Sprachbuch Sprache und Sprechen. Arbeitsmittel zur Sprachförderung in der Sekundäre tufe I, hg. von Detlef C. Kochan/Dorothea Ader/Johann Bauer/Walter Henze, Hannover, Schroedel Verlag 1972.

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tikers und die Kenntnisse des Theoretikers notwendig sind. Eine angewandte linguistische Tätigkeit, die sich seit einigen Jahren in zunehmendem Maße zu institutionalisieren scheint, firmiert unter dem Etikett "forensische Linguistik". Die Konturen dieses Teilbereichs angewandter Linguistik sind noch unscharf: Untersuchungen zu juristischen Argumentationen werden ebenso darunter subsumiert wie Probleme der Gesetzesauslegung, konversationsanalytische Untersuchungen zur Sprache vor Gericht, linguistische Analysen zu juristisch relevanten sprachlichen Handlungen (beleidigen, d i f f a m i e r e n , widerrufen, verurteilen, behaupten, richtigstellen e t c . ) , begriffliche Untersuchungen ( z . B . G e w a l t ) , die Analyse und Interpretation juristisch relevanter Texte, linguistische Gutachtertätigkeit zu Autorschafts- oder Verständnisnachweisen . Die angewandte linguistische Arbeit in diesen Problemfeldern ist nicht folgenlos. So haben linguistische Gutachten zur Autorschaft schon manchen Zeitgenossen hinter Gitter gebracht, der bis dato die Sprachwissenschaft für eine harmlose, praxisferne Betätigung hielt. 3 Für um s o gravierender sollte erachtet werden, daß diese angewandte Tätigkeit ein Theorie-Defizit bzw. mangelnde praktische Relevanz der linguistischen Theorie beklagt 4 und damit rechtfertigt, daß ihre keineswegs folgenlosen Urteile mit den geübten Intuitionen des professionellen Textinterpreten hinreichend abgesichert sind. Ich möchte im folgenden zeigen, daß die angewandte linguistische Tätigkeit im Bereich der forensischen Linguistik weniger durch ein Theorie-Defizit als durch ein TheoriekenntC f . den Bericht 1/2-1/2 mit der Bank, Der Spiegel Nr.21, 23. Mai 1988, 74-80. Kniffka (1989) zitiert entsprechende Klagen aus eine· Beitrag für ein Symposium des Bundeskriminalaets zu· forensischen linguistischen Textvergleich, veranstaltet i· Dezember 1988 in Wiesbaden.

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nis-Defizit beeinträchtigt wird. Dabei beziehe ich mich auf den Fall eines linguistischen Gutachtens für einen Autorschaftsnachweis, zu dem ich um eine fachwissenschaftliche Stellungnahme gebeten worden bin. Um die Diskussion dieses Gutachtens durch einen konstruktiven Beitrag zu ergänzen, werde ich abschließend einige Hinweise geben, welche existierenden linguistischen Theorien für welche Problembereiche der forensischen Linguistik relevant und für angewandte Analysen unentbehrlich sind.

fundierte

2. Ein Fall 2.1. Zur Argumentationskultur Im Ermittlungsverfahren

gegen S wegen

Verdachts

der

Mit-

gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beteiligung am Sprengstoffanschlag auf das Verwaltungsgebäude der Deutschen Lufthansa am 28.10.86 in Köln wurde zu folgendem Zweck ein linguistisches Gutachten angefertigt: In einem sprachwissenschaftlichen Vergleich zwischen einem Selbstbezichtigungsschreiben zu o.g. Anschlag und einer Reihe von Zeitschriftenartikeln von S sollte festgestellt werden, ob Autorenidentität vorläge. In

der

Gruppe

der

Zeitschriftenartikel

als

Vergleichstexte

fungierenden

neun

sind

fünf Artikel mit frauenzentrierten Themen aus der Zeitschrift EMMA {u.a. zwei Buchbesprechungen) je ein Artikel a u s r T A Z , STADT-REVUE KÖLN, HAMBURG ein Artikel in der Form eines Reiseberichts über die Situation der Frauen in der PLO (ohne Quellenangabe) Das Gutachten bezieht sich mit "Text O" auf das Bekennerschreiben, dessen Autorschaft zur Debatte steht, mit "S" auf

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die Autorin der neun Artikel und mit "Texte A-I" auf die Vergleichstexte. Seine Vorgehensweise ist wie folgt: Die einzelnen Sätze aus 0 werden nacheinander daraufhin geprüft, ob sie Gemeinsamkeiten mit den Texten A-I aufweisen bzw. inwiefern der Stil von O typisch für den Stil der Autorin von A-I ist. Das Gutachten resultiert in dem Schluß, daß S mit hoher Wahrscheinlichkeit (deutlich größer als 0.5) die Autorin von Text 0 ist, bezogen auf eine A-Priori-Wahrscheinlichkeit von 0.2. D . h . , dieses Resultat erhärtet deutlich einen schon bestehenden Verdacht, kann aber allein einen solchen nicht hinreichend begründen. Bevor ich auf die linguistischen Analysekategorien des Gutachters zu sprechen komme, möchte ich einige Anmerkungen zu dem generellen Argumentationscharakter des Gutachtens machen. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, daß der Rechtsfindung verpflichtete gutachterliche Analysen - auf welches wissenschaftliche Instrumentarium auch immer sie rekurrieren - durch ein Höchstmaß an unvoreingenommener Sachlichkeit und Deskriptivität ausgezeichnet sind. In dem vorliegenden Gutachten ist - wie sich erst der genaueren Analyse erschließt - das Gebot der Objektivität in einem Maße verletzt, das über die mit Textinterpretationen üblicherweise einhergehende Subjektivität hinausgeht. Dies läßt sich wie folgt illustrieren. Der Gutachter führt als "materialbedingte Schwierigkeit" an, daß von einer redaktionellen Aufbereitung der Texte A-I auszugehen sei. Dementsprechend vermutete er, die prima fade gegen eine Autorenidentität sprechende unterschiedliche Schreibweise von Südostasien in den Texten O und I (Süd-OstAsien in Text I, Südostasien in O) könne u. a. durch die Annahme eines redaktionellen Eingriffs seitens einer/eines Verlagsangestellten "erklärt" werden. Bemerkenswert ist allerdings, daß er hinter der Schreibweise von circa (l Vorkommnis in Text 0 sowie l Vorkommnis in A-I, nämlich in Text

252

F) eine "allgemeine Vorliebe für italienische oder lateinische Schreibweisen" (S. 7) erkennt, die er u. a. in der Schreibweise von Scene-Ideologie (Text F) wiederfindet (der Gutachter selbst läßt eine Abneigung gegen griechische Schreibweisen erkennen, wie seine textästetischen Gesichtspunkte (B. 8) und sein Sprachrythmus (S. 6) z e i g e n ) . Es hätte gar nicht der Annahme einer romanophilen Redakteurin von EMMA b e d u r f t , um den vermeintlichen Indiziencharakter von circa "zu erklären"; eine Redakteurin, die einen Blick in den Rechtschreibungs-Duden w i r f t , hätte schon genügt. 9 Doch bei allen für die Autorenidentität als signifikant angesehenen Schreibweisen in den Texten A-I (z. B. "ist häufiges Fehlen auch von gebotenen Ausrufezeichen eine wichtige Gemeinsamkeit von 0 und S" (S. 4 / 5 ) ; "Neigung zu mehrfachen wortinternen Bindestrichen" (S. 11)) wird angenommen, daß der Text genauso abgedruckt worden ist, wie er sich in dem Manuskript der Autorin findet (wobei die Möglichkeit, daß diese das Manuskript nicht selbst getippt hat, gar nicht ins Auge g e f a ß t w i r d ) . Auf S. 11 des Gutachtens werden die folgenden Gegensätze zwischen 0 und A-I notiert: Zum einen passe das in 0 vorkommende Jargonwort Metropole nicht zu den durch eine Abneigung gegenüber linker Phraseologie gekennzeichneten Schriften von S; zum anderen finde sich das in O wie in den meisten terroristischen Vergleichstexten vorkommende Wort weltweit nicht in den Texten von S. Der erstere Gegensatz wird als "Konzession an die Textsorte 'Bekennung' und an die Szenesprache der Leser, an die sich die Bekennung wendet" "wegerklärt"; der zweite wird dadurch neutralisiert, daß er der "meist literarischen oder lokal-feministisch orientierten Thematik der hier zur Verfügung stehenden EMMA-Artikel" (S. 11) zugeschrieben wird.

Cf. DUDEN. Die Rechtschreibung. Ausgabe 1986, wo sich auf S. 187 der Eintrag findet: circa (svw. zirka; Abk.: c a . ) .

253

Obwohl die sehr beschränkte Textsortenähnlichkeit zwischen Text 0 und den Texten A-I (knapper "Selbstbezichtigungsstil" vs. feuilletonistischer Stil) explizit als "materialbedingte Schwierigkeit" gekennzeichnet ist, wird die Textsortenspezifik nicht herangezogen, wenn Gemeinsamkeiten notiert werden. So wird z . B . als "relativ wichtige Gemeinsamkeit" festgestellt, daß sich sowohl in Text 0 als auch "stark überdurchschnittlich" in den Texten von S Satzanfänge mit und finden (S. 14). Es wird jedoch in keiner Weise darauf hingewiesen, daß es sich hier um eine textsortenspezifische Beeinflussung der geschriebenen Sprache durch die gesprochene Sprache handeln könnte, wie sie in Gebrauchstexten ( z . B . journalistischen Arbeiten) häufig zu beobachten ist. In derselben Weise werden vermeintlich signifikante stilistische Erscheinungen wie z . B . Satzstruktur-Parallelismen oder "gegenüberstellende Formulierungen" als individualstilistische Indizien suggeriert ("finden sich bei S h ä u f i g " ) , ohne daß angemerkt würde, daß die syntaktische Gestaltung eines Textes generell von Phänomenen wie Textsorte, angenommener Adressatenkreis, beabsichtigte rhetorische Wirkungen etc. determiniert ist. Es ist daher durchaus persuasiv, wenn der Gutachter die Feststellung eines Phänomens in Text 0 mit der Beobachtung desselben Phänomens "bei S" in Zusammenhang bringt, wie es etwa signifikant in einer Formulierung wie der folgenden geschieht: "Satzstruktur-Parallelismen gehören zum Gestaltungsprinzip für 0 wie auch allgemein für S" (S. 8) . Man beachte, daß 0 hier ein Text und S eine bestimmte Person ist. Eine sachliche, nur auf die Tatsachen bezogene Formulierung hätte lauten müssen: "... wie auch für journalistische Texte in den und den Zeitschriften mit dem und dem Adressatenkreis und den und den Themen". Offensichtlicher ist die mangelnde Sachlichkeit eines Gutachtens, wenn es (unbegründete) Wertungen enthält, von (unbegründeten) normativen Prämissen ausgeht und nicht nach-

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vollziehbare Einstellungszuschreibungen vornimmt.

Im vorliegenden Fall läßt sich dies in ausreichender Weise illustrieren. Was literarische Brillanz ist, darüber sind sich nicht nur die Kritiker sondern auch die Inhaber literaturwissenschaftlicher Lehrstühle uneinig. Umso verwunderlicher ist es, wenn in einem gerichtsverwertbaren linguistischen Gutachten dem exklamativen Anfang eines Bekennerschreibens "literarische(n) Brillanz in der Verwendung der geschilderten Stilmittel" bescheinigt wird (S. 5 ) , wobei die "geschilderten Stilmittel" den elliptischen Zitat-Charakter des Textanfangs betreffen. Diese ästhetische Wertung gerät in die Nähe des Manipulativen, wenn man feststellen muß, daß im weiteren Verlauf des Gutachtens in bezug auf die Texte von S immer wieder auf Kategorien wie "literarische Sprachkultur" abgehoben und S als eine "stark sprachstilistisch orientierte" Autorin charakterisiert wird. Einer Wertung schließlich wie der, daß das genannte Stilmittel hier in "gelungener Form" eingesetzt wurde, würde sich vermutlich sogar jeder Textkritiker enthalten. Auch ein Urteil, demzufolge "Lebendigkeit" und "Sprachrhythmus" durch einen intraponierten Relativsatz "besser realisiert" seien als durch ein attributives Partizip (S. 8 ) , kann sich nicht auf ausgewiesene Kriterien stützen. Es wäre daher wissenschaftlich redlicher, sich eines solchen Urteils zu enthalten, als durch einen Zusatz wie "ohne daß hier diese textästhetischen Gesichtspunkte näher erläutert werden können" (S. 8) zu suggerieren, es gebe solche ausgewiesenen generellen Kriterien. Besonders illustrativ und selbst für den linguistischen Laien offensichtlich sind die völlig unbegründeten ästhetischen Wertungen in der Interpretation der folgenden Textpassage aus 0:

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(2-1)

Wer sich vor Hunger, Verfolgung, Folter, Krieg und Tod in die Bundesrepublik zu retten versucht, muß dazu ein Flugzeug benutzen.

Das Gutachten liefert dazu folgenden textanalytischen Kommentar: (2-2) Was zuletzt zur literarischen Brillanz gesagt wurde, zeigt sich in etwas versteckterer Form auch hier. Während bei Aufzählungen in anderen Texten die Reihenfolge meist willkürlich ist, besitzt die obige ('vor Hunger, Verfolgung, . . ' ) Qualitäten in allen Sprachschichten, u . z w . vom hexameterartigen Sprachrythmus über die Ausdruckskraft, senantische Homogenität bis zum inhaltlichen Moment der konsequenten Steigerung innerhalb der Aufzählung. Fast alle Aufzählungen bei S besitzen mehr oder weniger ausgeprägt solche Qualitäten. (S. 6) Man mag darüber streiten, ob in der vom Gutachter zum Vergleich herangezogenen Aufzählung in Text E (2-3)

Legt ein Mann einen Text vor, in dem Folterung, Vergewaltigung, Demütigung und Tötung von Frauen dargestellt werden, ...

Demütigung als konsequente Steigerung von Folterung und Vergewaltigung anzusehen ist; der für den Hexameterrhythmus typische Daktylos ist jedenfalls weder in der Aufzählung von (2-1) noch in der von (2-3) aufzuspüren. Was die Qualitäten in allen Sprachschichten b e t r i f f t , so ist weder phonologisch (prosodisch) noch morphologisch in (2-1) oder (2-3) irgendeine stilistische Besonderheit zu erkennen. Die Syntax von (2-1) zeigt einen einfachen Verb-Zweit Satz mit einem freien Relativsatz vor dem finiten Verb. In ( 2 - 3 ) handelt es sich um einen mit Verb-Erst-Stellung eingeleiteten Konditionalsatz mit extraponiertem Relativsatz, alles syntaktische Erscheinungen, die nicht unbedingt für besonderes stilistisches Raffinement stehen. Die semantische Homogenität geht über die Tatsache, daß hier von einem bestimmten Thema die Rede ist, nicht hinaus.

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Von unbegründeten normativen Prämissen geht der Gutachter aus, wenn er den elliptischen Beginn des Bekennerschreibens als einen "vom üblichen abweichenden Satzanfang" (S. 3} bezeichnet. Derartige "Satzanfänge" finden sich typischerweise in Flugblättern, in den Schlagzeilen der Bildzeitung, auf Plakaten, in Werbetexten, politischen Kommentaren, Predigten etc. Sie sind daher durchaus üblich in bestimmten Texten und Äußerungskontexten, je nachdem, welche Zwecke man mit seiner Rede verfolgt. Unüblich sind derartige Satzanfänge vielleicht in wissenschaftlichen Artikeln, juristischen Urteilen oder politischen Kommuniques, aber Texte dieser Art liefern sicherlich nicht die Kriterien, auf deren Basis man terroristische Bekennerschreiben linguistisch analysieren sollte. Weist die Sprachbetrachtung jedoch im Wittgenstein'sehen Sinne "einseitige Diät" a u f , d . h . nährt man sein Denken mit nur einer Art von Beispielen, dann ist es nur folgerichtig, daß als Gemeinsamkeit von Text 0 und einer Reihe von Texten aus A-I (darunter eine Rezension und eine kommentierte Biographie) festgestellt wird: (2-4)

Der Inhalt des Anfangssatzes ist mit Vorliebe nicht wie üblich inhaltszusammenfassend,... (S.5)

Man gehe einmal die Kommentare und Feuilletons deutscher Tageszeitungen danach durch, ob ihre Anfangssätze "inhaltszusammenfassend" sind. In einem Satz wie (2-5) Die Deutsche Lufthansa weiß auch aus dieser Situation etwas herausschlagen, über ihre Tochtergesellschaft CONDOR. (S.12) wird "Abweichende Satzgliedstellung" ermittelt, in der der Gutachter ein "schreibrhetorisches Mittel zur Hervorhebung und/oder Satzanbindung" erkennt (S. 12). Richtig ist, daß es sich hier um ein syntaktisches Konstruktionsmuster handelt, das die topologische Struktur des deutschen Satzes in der

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Form von "Herausstellungstypen" ( c f . Altmann 1981) wie z . B . Nachtrag, Extraposition, Rechtsversetzung als eine in jeder Hinsicht normgerechte und übliche Variante zur Verfügung stellt. Die Wahl dieses Konstruktionsmusters ist dabei vom Aspekt der Prozessierbarkeit von Sätzen ebenso abhängig wie von Gesichtspunkten der funktionalen Satzperspektive oder stilistischen E f f e k t e n . Besonders a u f f a l l e n d ist in dem zur Debatte stehenden linguistischen Gutachten die gro3e Zahl von Einstellungszuschreibungen. So ist die Rede davon, daß in Text O ein Wort "bewußt" wiederholt wird, daß im selben Text eine Textpassage, die angeblich keine neue Information l i e f e r t , "wohl durch den Spaß an den Formulierungen" (S. 6) motiviert sei (man vergegenwärtige sich dabei den Hinweis auf die sprachstilistische Orientierung der Autorin von A - I ) , daß eine "Vorliebe" für italienische oder lateinische Schreibweisen besteht, daß italienische Zitate als ein "Kokettieren" mit italienischen Sprachkenntnissen anzusehen seien (S. 7). Bestreiten möchte ich auch, daß in einer sachlichen Analyse unfundierte subjektive Einschätzungen wie z . B . (2-6) Viele Autoren würden eher schreiben: ...(S. 8) (2-7) Dabei rührt die Vorliebe für Nebensätze keineswegs ... vom Unvermögen zur Aussagenkomprimierung her. (S. 8) (2-8) doch könnte sie sicher komprimierter schreiben, wenn sie es wollte. (S. 8) etwas zu suchen haben. Der Hinweis auf eine durch Erfahrung gewonnene Gutachterkompetenz ist kein Ersatz für gebotene Sachlichkeit und theoretische Fundierung, und die Auffassung, die gegenwärtige linguistische Theorie habe wenig Relevanz für das forensische Praxisfeld, wird in K n i f f k a (1989) zu Recht auf ein "weitverbreitetes Informationsdefizit bezüglich ihrer forensischen Möglichkeiten" zurückgef ü h r t . Ich möchte dazu im folgenden zweierlei zeigen:

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(a)

Das forensische

Gründen

auch immer

Praxisfeld -

das

macht

vorliegende,

sich

-

aus welchen

durchaus

relevante

theoretische Instrumentarium der Linguistik nicht in ausreichendem Maße zunutze. Dies versuche ich in einer Untersuchung der linguistischen Analysen des vorliegenden Gutachtens zu illustrieren.

(b) Der theoretische Stand in den verschiedenen linguistischen Theoriebereichen (von der Phonetik bis zur Pragmatik) liefert für diverse forensische Tätigkeitsfelder ein theoretisch fundiertes und für sprachanalytische Zwecke relevantes Instrumentarium.

2.2. Die linguistische Analyse Als linguistische von O

Gemeinsamkeit

zwischen

dem Textanfang

(2-9) Schotten dicht für die Flüchtlinge, die in die BRD reinwollen. Flug frei für alle, die raus sollen. und den Textanfängen von S erkennt der Gutachter eine "'Spiegelsymmetrische Struktur' des ersten Doppelsatzes in Inhalt, Wortwahl und Satzbau" (S. 4 ) . Zum Vergleich seien zwei Textanfänge von S angeführt, von denen der erste aus einem Zitat besteht: (2-10) Eine Rose ist eine Rose. Aber ein Heim ist kein Heim. (2-11) Die Light-Show ist perfekt. Das Kunstwerk, in sakrales Halbdunkel getaucht, wird ... Obwohl (oder vielleicht sogar weil?) der Begriff "Spiegelsymmetrische Struktur" in Anführungszeichen gesetzt ist, wird suggeriert, es handle sich hier um einen linguistischen Fachterminus, dessen Gebrauch fachwissenschaftliche Fundierung indiziert. Demgegenüber ist festzustellen: Weder liegt

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hier ein Fachterminus vor noch ist in irgendeiner Weise klar, was mit diesem Begriff gemeint ist. In gewisser Weise ist ein unklarer Begriff allerdings brauchbar: Es lassen sich die heterogensten Dinge darunter subsumieren. Betrachten wir die "Spiegelsymmetrische Struktur" des Satzbaus. Wenn dieser Begriff irgendeine spiegeltechnische Assoziation nahelegt, dann wahrscheinlich die, daß der zweite Satz strukturell so anfängt, wie der vorhergehende aufhört. Offenkundig fängt der zweite Satz in 0 nicht mit einem Relativsatz an. In gewisser Weise sind diese Sätze eher parallel konstruiert: Sie weisen eine exklamative, elliptische Struktur a u f , in der das nominale Komplement der am Ende befindlichen Präpositionalphrase durch einen Relativsatz modifiziert ist. Keiner der anderen Textanfänge weist eine analoge syntaktische Struktur a u f . Was die Wortwahl b e t r i f f t , so sind zumindest in den oben tierten Anfängen weder spiegelsymmetrische meinsamkeiten erkennbar.

zi-

noch sonstige Ge-

Was die Kategorie des Inhalts b e t r i f f t , so ist auch dieser Begriff ohne theoretische Präzisierung als Analysekategorie unbrauchbar. Es ist zu unterscheiden zwischen einer semantischen, den propositionalen Gehalt betreffenden Inhaltsanalyse und einer pragmatischen Inhaltsanalyse, mit Hilfe derer in theoretisch fundierter Weise rekonstruiert werden kann, was mit einer Äußerung "zu verstehen gegeben wird", ohne daß es in der Äußerung explizit gesagt ist. Theoretische Grundlage für diese Unterscheidung liefert die sog. Theorie der konversationellen Implikaturen von Paul Grice, 6 die mittlerweile zum Allgemeingut pragmatischer Analysen gehört (cf. z.B.Levinson 1983; Leech 1983).

C f . Grice (1968). Eine einführende Darstellung dieser Theorie findet sich in Grewendorf/Hamn/Sternefeld (1987), Kap. VII.C.

260

In den zitierten Textanfängen gibt es keine erkennbaren propositionalen Gemeinsamkeiten. Im ersten Satz von O wird semantisch in etwa gesagt, daß keine Flüchtlinge mehr in die BRD gelassen werden sollen; das Zitat in (2-10) enthält eine Tautologie und eine Kontradiktion; in (2-11) ist davon die Rede, daß irgendeine bestimmte Light-Show perfekt ist. Was mit Tautologien oder Kontradiktionen zu verstehen gegeben werden kann, cf. z . B (2-12)

(a) (b) (c)

Versprochen ist Versprochen Entweder er ist ein Gutachter keiner Ein Gutachter ist kein Gutachter

oder

er

ist

kann mit H i l f e von Grice's Theorie rekonstruiert werden. In der Kontradiktion Aber ein Heim ist kein Heim klingt möglicherweise ein Flüchtlingsthema an, wenn auch fraglich ist, ob ein solches in dem poetischen Kontext, dem es entstammt, in der konkreten Form gemeint ist, in der es am Anfang von O thematisiert wird. Die Frage schließlich, was ein Autor damit sagen wollte, daß er ein Zitat oder eine zitatähnliche Äußerung dieses oder jenes semantischen oder pragmatischen Gehalts an den Anfang seines Textes stellt, ist nur unter Berücksichtigung von Faktoren wie Kontext, Textsorte, Adressatenkreis, Herkunft und Kontext des Zitats etc. beantwortbar und dies nur in seltenen Fällen in einer Weise, die einer intersubjektiven Überprüfung standhält. Im vorliegenden Fall liegt viel zu wenig kontextuelle Information vor, um fundierte interpretative Hypothesen aufstellen zu können. Die Aussagen des Gutachtens, daß der Inhalt des Anfangssatzes von O nicht "inhaltszusammenfassend" sei sondern (2-13) orginell im Sinne einer Absurdität der Oberflächenbedeutung zum Zweck der schärferen Darstellung der übertragenen (Tiefen-) Bedeutung oder analog 'dialektisch' nach Art einer 'Umkehrung des Gewohnten 1 (S. 5)

261

bemühen

assoziative,

pseudotheoretische

Kategorien,

denen

eine linguistische Grundlage fehlt und die die Dimension der Verantwortungslosigkeit erreichen, wenn im Anschluß an die zitierte "Analyse" mit Bezug auf die Texte von S festgestellt wird: (2-14) Dies ist in 0, AI, A3, A4, B, D und z.T. in E, also meistens der Fall, (ibid.) Zur Illustration: Der Anfang von D ist in (2-10) wiedergegeben und der Anfang von B (einer Buchbesprechung) ist das folgende Stendhal-Zitat: (2-15) Jedes richtige Denkön ist immer beleidigend. Die Sätze 3 und 4 von Text O lauten: (2-16) Wer sich vor Hunger, Verfolgung, Folter, Krieg und Tod in die Bundesrepublik zu retten versucht, nuß dazu ein Flugzeug benutzen. Und wer von diesem Staat zun"Abschübling" erklärt wird, wird wieder zurück ins Flugzeug getreten. Das Gutachten stellt dazu f e s t , daß der Begriff Flugzeug hier "bewußt wiederholt und nicht pronomial ersetzt" (S. 6 ) T wird. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß bewußte Sprachgestaltung als wesentliches Organisationsprinzip der Texte A-I dargestellt wird. Der Stilwille, den das Gutachten hier bzgl. Text 0 unterstellt, läßt sich jedoch an dem zitierten Phänomen gerade nicht nachweisen. Die Feststellung des Gutachtens beruht nämlich auf der Unkenntnis einer syntaktischen Regularität des Deutschen (wie auch anderer Sprachen). Diese Regularität wird erkennbar, wenn man f r a g t , wie denn der Begriff Flugzeug im obigen Satz 4 (in (2-16)) pronominal zu ersetzen wäre. In Frage käme nur das atonale, Eigenschaften von Klitika aufweisende Pronomen es. Atonale oder klitische Pronomina können jedoch im allgemeinen nicht als Komplement einer Präposition fungieren, cf. 7

Ich widerstehe der Versuchung, in den Wörtern pronominal sowie originelKc.i. (2-13)) eine Abneigung gegen die lateinische Schreibweise zu erkennen.

262

z . B . für das Deutsche und Italienische:

(2-17) (2-18)

*wird wieder zurück in es getreten (a)

Non lo vedo

(b)

*Ho combattuto contro lo

Die Wiederholung des Nomens Flugzeug in der Präpositionalphrase des obigen Satzes von Text O folgt also lediglich einer syntaktischen Regularität der deutschen Grammatik, gegen die eine pronominale Wiederaufnahme verstoßen würde. Von einem bewußt verwendeten Stilmittel kann daher nicht die Rede sein. Auch in den Anfängen der obigen Sätze 3 und 4 (2-16) erkennt der Gutachter eine Gemeinsamkeit mit den Texten von S: (2-19) Satzanfänge mit 'wer* und anderen Frageworten sind - ebenso wie echte rhetorische Fragen - bei S stark überdurchschnittlich häufig. (S. 6) Zu dieser "Analyse" ist

zum einen anzumerken, daß die

be-

treffenden Sätze aus Text 0 mit rhetorischen Fragen nichts zu tun haben, zum anderen, daß das Pronomen wer weder in Satz 3 noch in Satz 4 als Fragewort verwendet wird. Es handelt sich hier vielmehr um zwei freie Relativsätze. Der Hinweis auf die angeführten Kookkurrenzen in den Texten 0 und A-I verliert aber jegliche Signifikanz, wenn dabei nicht einmal die Unterscheidung zwischen Fragesätzen und freien Relativsätzen berücksichtigt wird. Auch die Analyse der Sätze 9 und 10 von Text O erfolgt ohne theoretische Grundlage. Es ist

daher

nicht

verwunderlich,

daß man auch hier syntaktisch inkorrekte Hypothesen zu konstatieren hat. Die analysierten Sätze lauten:

263

(2-20) Flüchtlinge, die sich gegen die Abschiebung wehren, werden unter Drogen gesetzt. Piloten und Stewardessen, die sich weigern, bei dieser Praxis mitzumachen, werden mit beruflichen Konsequenzen bedroht. Neben den bereits erwähnten Satzstruktur-Parallelismen erkennt das Gutachten hier - wie in den Texten von S - als Gestaltungsprinzip eine "Präferenz für Nebensätze anstelle von nebensatzersetzenden Konstruktionen nominaler, partizipialer oder adjektivischer Art" (S. 8 ) . Für "Besonders kennzeichnend" -da in anderen terroristischen Schriften wesentlich weniger häufig- werden dabei die "internen Relativsätze" gehalten, "d.h. solche, nach denen der Hauptsatz fortgesetzt wird." (ibid.) Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß parallele Satzkonstruktionen ein Stilmittel darstellen, das charakteristisch für bestimmte Textsorten ist, sich besonders zur Erzielung bestimmter "perlokutionärer E f f e k t e " 8 e i g n e t , m . a . W . , dessen Verwendung von kontextuellen Faktoren determiniert ist. So wird es z . B . häufig in politischen Reden verwendet. Damit erweist es sich aber als ein "Gestaltungsprinzip", dessen Wahl durch unabhängige Determinanten der Außerungssituation vorgegeben ist, das daher nicht ohne weiteres als Gestaltungsprinzip eines bestimmten Autors angesehen werden kann. Zu der festgestellten Präferenz Gutachten:

für

Nebensätze mutmaßt das

(2-21) Viele Autoren würden eher schreiben: "sich dem widersetzende Piloten werden ...bedroht.' (S. 8) Nun, man mag über das Stilempfinden des Gutachters streiten, angesichts der von ihm präferierten Optionen drängt sich al8

Es handelt sich ÜB den Begriff aus Austins Sprechakttheorie. Danach vollzieht man mit einer Äußerung einen perlokutionären Akt, wenn sie einen bestimmten kausalen Effekt hat (z.B. bei· Hörer zu bestim«ten Gefühlen, Gedanken oder Handlungen f ü h r t ) , cf. Austin (1962), Searle (1969), Grewendorf/Harne/Sternefeld (1987), Kap.VII.B.

264

lerdings die Frage a u f , ob die im Gutachten ermittelte literarische Brillanz der Texte 0 und A-I nicht etwas mit der ganz speziellen stilistischen Sensibilität des Gutachters zu tun hat. Schließlich hätte man in der angegebenen Partizipialkonstruktion ja auch noch die Stewardessen und die Praxis unterzubringen, so daß sich das folgende Glanzprodukt der deutschen Sprache ergäbe: (2-22) Sich dieser Praxis widersetzende Piloten und Stewardessen werden mit beruflichen Konsequenzen bedroht. Hinzukommt, daß zumindest Text 0 in gewisser Weise durchaus den Vorlieben des Gutachters folgt. Statt der Nominalisierung gegen die Abschiebung hätte eine Präferenz für Nebensätze eigentlich erwarten lassen: ...die sich dagegen wehren, abgeschoben zu werden, was, nebenbei bemerkt, den Satzstruktur-Parallelismus perfektioniert hätte. Was die internen Relativsätze b e t r i f f t , so bezieht sich der Gutachter möglicherweise auf die Tatsache, daß im Deutschen die Option existiert, Relativsätze zu extraponieren. Diese Option wird aber im allgemeinen nur dann präferiert, wenn sich die Bezugs-NP im Mittelfeld der topologischen Satzstruktur befindet. Ist die Bezugs-NP topikalisiert, d . h . steht sie im Vorfeld, wie in den Sätzen 9 und 10 von Text O, ist eine Extraposition des Relativsatzes in vielen Fällen z. B. auch im vorliegenden - nicht möglich oder zumindest dem Verständnis abträglich. Es liegt an der fehlenden Berücksichtigung der topologischen Theorie der deutschen Satzstruktur - wie sie in zahlreichen deskriptiven Grammatiken des Deutschen ( u . a . dem Duden) zugrundegelegt ist - daß das Gutachten erneut der Tatsache, daß den syntaktischen Regeln des Deutschen gefolgt wird, eine besondere Signifikanz zuschreibt. Die Sätze 10 und 11 von Text 0 lauten (die fehlerhafte Zählung folgt dem Gutachten):

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(2-23) Frauen können sich meist nicht einmal das nötige Flugticket leisten. Frauen sind nicht nur Opfer der imperialistischen Politik der Profitmaximierung, sondern auch des Weltpatriarchats.

Das Gutachten stellt fest {S. 9 ) , daß der zweite Satz "inhaltlich und sprachlich signifikant ähnlich" dem folgenden Satz aus einem Text von S ist: (2-24) Eine Realität, die darauf basiert, daß nicht nur der Kapitalismus das Leben der Menschen bestimmt, sondern auch das Patriarchat. Obwohl hier eine thematische Ähnlichkeit vorliegt, gibt es z. B. unter Thema/Rhema-Gesichtspunkten - auch eindeutige inhaltliche Unterschiede. So ist die Aussage in dem Text von S viel genereller als die Aussage in Text 0, in dem nur über Frauen gesprochen wird. Ob die thematische Ähnlichkeit irgendeine Signifikanz besitzt, mag dahingestellt sein. Die Themen Kapitalismus und Patriarchat scheinen heutzutage auch unter Verwendung der betreffenden Ausdrücke - nicht nur im linken Journalismus eine Geläufigkeit zu besitzen, die eine solche Signifikanz zumindest fraglich erscheinen läßt. Der Gegenüberstellung von "inhaltlich" und "sprachlich" signifikant ist zu entnehmen, daß sich der Gutachter mit letzterem Begriff offenkundig auf formale Gemeinsamkeiten bezieht. Abgesehen von der Kookkurrenz von nicht nur ... sondern auch lassen sich jedoch linguistisch begründbare formale Korrespondenzen nicht ermitteln. In Satz 14 von Text O kommt der Ausdruck vor: die Frauen der drei Kontinente. Das Gutachten bemerkt dazu (S. 10): (2-25) Es ist typisch für seinen Sprachstil, daß der Autor die Jargonbezeichnung 'trikontinental' vermeidet, sondern von den 'Frauen der drei Kontinente 1 spricht. Ich nehme diese Bemerkung zum Anlaß, auf die folgende Gefahr hinzuweisen. Mit linguistischen Gutachten dürfte sich so

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ziemlich alles beweisen lassen, wenn nicht nur das, was gesagt/geschrieben ist, Gegenstand der Begutachtung ist, sondern auch das, was nicht gesagt/geschrieben ist. Am Ende des Gutachtens erfolgt eine Aufzählung weiterer Gemeinsamkeiten zwischen O und A-I, die sich nicht mehr aus der systematischen chronologischen Sichtung der Sätze aus 0 ergibt, sondern eher exemplarischen Charakter hat. So wird u.a. darauf hingewiesen, daß der Resttext von 0 "zwei überzählige Kommata von ähnlicher Art" enthält, und zwar "beide Male vor 'und 1 -eingeleiteten Nebensätzen" (S. 1 4 ) . Die betreffenden Kommata befinden sich in den folgenden beiden Sätzen (sie sind durch eckige Klammern gekennzeichnet): (2-26) Das Lufthansa-Tarnunternehmen Condor transportierte die Franco-Truppe von Marokko nach Spanien [ , ] und bombadierte als "Legion Condor" die Stadt Guernica. (2-27) Ein Großteil davon sind Rohstoffe und Waren, die in den Billiglohnländern den Menschen abgepreßt wurden [,] und an denen die Deutsche Lufthansa via Frachtkosten mitprofitiert. Nun spricht zwar die generell zu beobachtende Unsicherheit in der Komma-Setzung eher für die fehlende Signifikanz der deutschen Komma-Regeln als für die Signifikanz hinsichtlich einer Autorenidentität. Dennoch könnten konstante Komma-Fehler in denselben Kontexten für einen Autorschaftsnachweis durchaus Indiziencharakter erlangen. Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch das Problem, daß die Komma-Fehler in (2-26) und (2-27) entgegen der Behauptung des Gutachters nicht im gleichen strukturellen Kontext erfolgten: In (2-26) leitet das und nach dem Komma keineswegs einen Nebensatz ein; hier liegt nicht Subordination sondern Koordination vor und zwar von einem elliptischen Typ, der im allgemeinen als "Koordinationsreduktion" bezeichnet wird ( c f . u.a. Kohrt 1976). In (2-27) liegt demgegenüber eine nicht-elliptische Form der Koordination zweier Relativsätze vor.

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Angesichts dieser fehlenden Differenzierungen nimmt es nicht Wunder, daß das Gutachten nach stichprobenartigen Sichtungen innerhalb der Texte A-I zu der Feststellung gelangt, daß "dieser Fehler (überzähliges Komma vor ' u n d ' ) " auch in den Texten von S vorkommt (S. 14). Es nimmt ebenfalls nicht Wunder, daß "dieser Fehler" an einem Beispiel nachgewiesen wird, in dem er in einem syntaktischen Kontext vorkommt, der sowohl von dem in (2-26) also auch von dem in (2-27) verschieden ist: (2-28) Die Zahl dreizehn bezieht sich auf die Anzahl der beim Abendmahl anwesenden Gäste einerseits [,] und die der Angehörigen eines Hexenzirkels andererseits. In diesem Fall erscheint das Komma wiederum in einer elliptischen Koordinationsstruktur. Im Unterschied zu den sententiellen Koordinationsformen in (2-26) und (2-27) tritt es diesmal allerdings in einer Koordination zwischen Phrasen auf. Unterschlägt man derartige syntaktische Unterschiede, verliert die Feststellung "überzähliger Kommata" jegliche Signifikanz. Das zuletzt genannte Beispiel ist allerdings bzgl. des Gutachtens signifikant und dies nicht nur deshalb, weil es einmal mehr eine theorielose und fachwissenschaftlich defiziente Arbeitsweise illustriert. Eine Überprüfung ergab überdies, daß (2-28) in dem betreffenden Text von S als ein durch Anführungszeichen und Autorenangabe deutlich als solches gekennzeichnetes Zitat erscheint, daher also gar nicht von S stammt. Es handelt sich vielmehr um einen Satz von Judy Chicago, entnommen dem Ausstellungskatalog "The Dinner Party".«Von einem gerichtsverwertbaren Gutachten ist zu verlangen, daß es ein derartiges Faktum nicht unterschlägt.

Cf. Judy Chicago, The Dinner Party, Ausstellungskatalog Ausstellung Schirn Frankfurt/N. 1987, Athenäun.

zur

268

Ungeachtet dieses Quellenproblems ist nun interessant, daß besagtes Komma am Herkunftsort des Zitats nicht auftritt. Zu fragen ist, ob sich aus dieser Beobachtung irgendeine Signifikanz für die Ermittlung einer Autorschaft gewinnen ließe. Die Antwort muß eindeutig negativ ausfallen. Unabhängig davon, daß dieses Komma nicht nur von der Autorin S sondern ebensogut von der Redaktion des Publikationsorgans eingefügt sein könnte, repräsentiert (2-28) einen Kontext, für den die einschlägigen Kommaregeln R 101 und R 114 des Duden keine eindeutige Auskunft geben. Auf jeden Fall schließen sie nicht aus, daß an der entsprechenden Position ein Komma stehen kann; bei einer flüchtigen Konsultation suggeriert der Wortlaut von R 101 sogar eher, daß hier ein Komma zu stehen hat. 1 0 Daraus könnte z. B. geschlossen werden, daß ein Redakteur nach einem Blick in R 101 das betreffende Komma hinzugefügt h a t . Es muß jedoch geschlossen werden, daß (2-28) in bezug auf Kommasetzung einen absoluten Z w e i f e l s f a l l darstellt, der von der Mehrheit der Deutschen relativ willkürlich gehandhabt werden d ü r f t e . In einem solchen Fall kann jedoch von der Signifikanz einer Abweichung nicht die Rede sein. Fassen wir zusammen. Nur erfolgreiche Praxis geht ihrer eigenen Theorie voraus. Im vorliegenden Fall sollte gezeigt werden, daß die methodisch fragwürdige Strategie und fachwissenschaftlich unzureichende Fundierung einer Gutachterpraxis noch nicht zu dem Schluß berechtigt, die Linguistik verfüge nicht über ein theoretisches Instrumentarium, das für diese Praxis brauchbar und relevant wäre. Das diskutierte Gutachten machte nur in defizientem Maße von linguistischen Analysekategorien Gebrauch. Dies b e t r i f f t sowohl die 10

R 101 lautet: Das Komma steht zwischen Satzteilen, die durch anreihende Konjunktionen (Bindewörter1 von der Art einer Aufzählung verbunden sind. Als Illustration für solche Bindewörter ist dann u.a. einerseits - andererseits aufgeführt, wobei nichts darüber gesagt ist, ob bei Beiwörtern, die sowohl vor als auch nach den angereihten Konstituenten stehen können, R 101 nur für den Fall ihrer Voranstellung einschlägig ist.

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syntaktische als auch die semantisch/pragmatische Ebene. Morphologische Kategorien wie z . B . gruppenspezifische Kompositions- und Derivationsbildungen oder spezifische Erscheinungen bei der sog. Argumentvererbung in Komposita, wie sie etwa in Fällen wie "Beschleunigungsgrad der Partikel" oder "Wachstumsgeschwindigkeit der Pflanzen" a u f t r e t e n , 1 1 finden -abgesehen von Hinweisen auf lexikalische Kookkurrenzen nur eine untergeordnete Beachtung. Dabei sollte klar sein, daß nur eine methodisch differenzierte und dem aktuellen Kenntnisstand verpflichtete Berücksichtigung aller (einschlägigen) analytischen Ebenen der Sprachbetrachtung das ergeben kann, was "linguistische Differentialdiagnose" genannt worden ist ( K n i f f k a 1981: 598). Zur Erklärung dieser Defizienzen kann nicht angeführt werden, dap die relevanten theoretischen Kategorien in der sog. theoretischen Linguistik nicht zur Verfügung stünden. Werden sie allerdings in dieser eklatanten Weise ignoriert, läßt sich jede Autorschaft linguistisch begründen. Mit dem methodischen Rüstzeug des vorliegenden Gutachtens ließe sich jedenfalls ohne größere Schwierigkeit der linguistische Nachweis führen, daß "mit hoher Wahrscheinlichkeit" der Gutachter selbst der Autor von Text O ist. Es ist klar, daß mit einer so gearteten Praxis weder der Rechtsfindung noch der forensischen Linguistik gedient ist. Da es mir in dieser Arbeit um letztere geht, möchte ich im nächsten Abschnitt einige konkrete Hinweise darauf geben, welches theoretische Instrumentarium der Linguistik für welche Art forensischlinguistischer Probleme praktische Relevanz besitzen könnte. 1 2

11 12

Cf. dazu Höhle (1982) sowie das Morphologie-Kapitel aus Grewendorf/Hamm/Sternefeld (1987). Zu Möglichkeiten einer auf Probleme der Gesetzesauslegung ausgerichteten Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Linguistik cf. Christensen/Jeand'Heur (1989).

270

3.Zur juristischen Relevanz der theoretischen Linguistik Daß die Phonetik bei der Täterermittlung eine Rolle spielen kann, ist allgemein bekannt. So stellt die sog. akustische Phonetik Instrumentarien bereit, akustische Daten, wie sie z.B. aus der Aufzeichnung von Telefongesprächen gewonnen werden, im sog. "Visible-speech-Verfahren" einer Spektralanalyse zu unterziehen und aus den entsprechenden Sonogrammen Beweismittel zu gewinnen. Die perzeptive Phonetik erlaubt es, auditive Stimmvergleiche anzustellen und auf der Basis theoretischer Erkenntnisse der Phonologie lautliche Analysen von Äußerungen vorzunehmen. In dem berühmten Fall des sog. "Eisenbahnattentäters Monsieur X" ist z . B . sowohl bei den Ermittlungen als auch im Beweisverfahren auf Hilfsmittel aus diesen linguistischen Bereichen rekurriert worden ( c f . Lanzenauer 1980). Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden ( K n i f f k a 1981), daß die Intuitionen und Projektionen eines Sprach- und Textanalytikers die wissenschaftliche Analyse von Sprachsystem und Sprachgebrauch nicht ersetzen können. Der linguistische Laie hat keinen Einblick in die regelhafte Struktur sprachlicher Fähigkeiten. Was die Ermittlung lautlicher Äußerungseigenschaften b e t r i f f t , so ist von dem phonologischen Problem der sog. kategorialen Lautwahrnehmung bekannt, daß der linguistische Laie häufig nicht einmal in der Lage ist, Lautverschiedenheiten, die in seiner Sprache keine phonematische Rolle spielen, überhaupt wahrzunehmen. Mit lautlichen Analysen von Äußerungen, die lediglich auf linguistische Intuitionen rekurrieren und nicht auf der Basis einer phonologischen Theorie erfolgen, lassen sich also keine beweiskräftigen Erkenntnisse gewinnen. Bei der phonologischen Analyse spielen nicht selten dialektologische Aspekte eine gewichtige Rolle. Auch bei der Überführung des genannten Eisenbahnattentäters lieferte die Ana-

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lyse dialektaler Eigenschaften einen nicht unwichtigen Baustein bei der Lokalisierung seines Herkunftsraumes ( c f . Lanzenauer 1980). Es ist klar, daß sich die dialektologische Analyse dabei nicht auf phonologische Eigenschaften beschränken d a r f . Syntaktische Eigenschaften müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie morphologische und lexikalische Charakteristika. So ist z . B . der bairische Sprecher nicht nur über sein charakteristisches lautliches Idiom zu identifizieren,

sondern ebenso durch die Raffinesse

seiner

syntaktischen Konstruktionen, wie etwa seine verbale Flexion von Konjunktionen (3-1) oder die Besonderheit seiner Topikalisierungen (3-2) illustrieren: (3-1)

I mog di, obwoi-s_t du a Depp bi-st

(3-2)

Den wenn i dawisch daschlog i

Es ist

klar, daß die Identifikation und Analyse solcher Phä-

nomene nur auf der Basis einer syntaktischen Theorie erfolgen k a n n . 1 3 Phonologische Analysen sind nicht nur für die

Identifikation

und Lokalisierung von Sprechern juristisch relevant. Bestimmungen des Warenzeichenrechts legen f e s t , daß Markenbezeichnungen nicht die Gefahr der Verwechselbarkeit von Warenartikeln mit sich bringen dürfen und daher hinreichend distinkt sein müssen. Festlegungen dieser Art verlangen Kriterien für die Ähnlichkeit von Begriffen, und dabei spielen neben morphologischen und semantischen Gesichtspunkten lautliche Eigenschaften eine wesentliche Rolle. Zwar ist - zumindest zu Prä-Gorbatschow 'sehen Zeiten - kaum ein Werbefachmann auf die Idee gekommen, einem für den deutschen Markt produzierten Waschmittel die Bezeichnung "OMSCHTSCHO" zu geben, d . h . man ist 13

Zu einer Darstellung neuerer theoretischer Entwicklungen in der Syntaxforschung c f . Grewendorf (1988) sowie Stechow/Sternefeld (1988).

272

bei seinen Etikettierungen im allgemeinen den phonologischen Eigenschaften des Deutschen gefolgt; aber wenn ein Waschmittelhersteller für sein Produkt den Namen "OMU" gewählt hätte, wäre er aufgrund lautlicher Ähnlichkeit mit einem Produkt geläufiger Marke vermutlich mit dem Warenzeichenrecht in Konflikt gekommen. Kriterien und Standards für die Bemessung solcher lautlichen Ähnlichkeiten können dabei mit Hilfe der phonologischen Theorie der sog. distinktiven Merkmale gewonnen werden. 1 4 Um bei dem Beispiel des Warenzeichenrechts zu bleiben: Es ist klar, daß sich die lautliche Ähnlichkeit von Bezeichnungen nicht nur nach der linearen Abfolge von Lauten bestimmt. Prosodische Eigenschaften wie Intonation, Akzent oder Silbenstruktur spielen dafür ebenfalls eine wesentliche Rolle. Um diese Eigenschaften adäquat zu analysieren und theoretisch fundierte Ähnlichkeitskriterien formulieren zu können, muß man auf das Instrumentarium der sog. "nichtlinearen Phonologie" rekurrieren. 1 Dem Problem, Kriterien für die Ähnlichkeit von Begriffen zu finden, entspricht auf einer allgemeineren Ebene das Problem, Kriterien für die Ähnlichkeit von Texten zu finden. Dieses Problem tritt im Rahmen des Urheberrechts z . B . bei der Behandlung von Plagiatfällen a u f . Seine Lösung verlangt ebenfalls Analysen auf allen linguistischen Theorie-Ebenen. Graphologische Analysen spielen traditionell für Autorschaftsnachweise eine Rolle. Charakteristika einer Handschrift oder Besonderheiten eines Schreibgeräts werden in der Regel als signifikante Eigenschaften angesehen. Angesichts der zunehmenden Technologisierung des Schreibvorgangs dürften Indizien dieser Art allerdings zunehmend an Bedeu14 15

Cf. Chomsky/Halle (1968) sowie zu einer einführenden Darstellung das Phonologie-Kapitel aus Grewendorf/Hanun/Sternefeld (1987). Zu einer einführenden Darstellung der nichtlinearen Phonologie cf. Grewendorf/Hamm/Sternefeld (1987), Kap.III.B.

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tung verlieren. Orthographischen Auffälligkeiten kann in diesem Zusammenhang nicht ohne weiteres Relevanz zugesprochen werden. Solange keine zuverlässigen statistischen und soziologischen Hypothesen über das allgemeine Rechtschreibund Tippverhalten vorliegen, können Beobachtungen über generelle Fehlervorkommnisse kaum Signifikanz erlangen {cf. Wolf 1989). Ein Kommafehler, den 90% der Deutschen machen, d ü r f t e kaum Hinweise auf die Identität eines Autors geben. Um morphologische Fakten wie kompositionelle oder derivationelle Besonderheiten zur Identifizierung eines Autors heranziehen zu können, ist die Kenntnis der neuesten Ergebnisse der morphologischen Theorie erforderlich. Analoges gilt, wie in Abschnitt (2) ausreichend illustriert wurde, für die Analyse syntaktischer Phänomene. Damit ist nicht gesagt, daß die Kenntnis entsprechender Theorien eine hinreichende Voraussetzung für angewandte Analysen ist. Ich möchte allerdings behaupten, daß angewandte Analysen ohne diese Kenntnis fragwürdig und notwendigerweise fruchtlos sind. Man beachte, daß dies nicht heißt, daß ein linguistisches Gutachten für einen Autorschaftsnachweis theoretische Reflexionen über den Theoriestand der modernen Linguistik enthalten m u ß . Die Theorie ist zur Analyse der vorliegenden Phänomene heranzuziehen. Die Darstellung der Ergebnisse dieser Analyse erfolgt in einer Weise, die von einem Richter nicht verlangt, daß er ein Linguistikstudium absolviert hat. Die Situation ist hier jedoch nicht prinzipiell anders als bei physikalischen, chemischen, biologischen oder psychologischen Gutachten. Das dem Grundsatz null um crimen sine lege verpflichtete Analogieverbot im Strafrecht verlangt Kriterien für die Ermittlung des "natürlichen" Wortlauts eines Gesetzes. Solche Kriterien verlangen Klarheit über grundlegende semantische Beg r i f f e , und zwar sowohl aus dem Bereich der lexikalischen Semantik als auch aus dem Bereich der Satzsemantik. Der zen-

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trale Grundbegriff der Semantik, der Begriff der sprachlichen Bedeutung, hat zwar eine Vielzahl von Explikationsversuchen erfahren. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine grundlegende methodische Maxime angewandter semantischer Untersuchungen wie folgt aussehen muß: Welche dieser Explikationen auch immer adäquat sein mag, wer auf den Begriff der Bedeutung rekurriert, sollte zumindest angeben können, auf welche dieser Explikationen er sich b e r u f t . Des weiteren ist festzuhalten, daß fast alle Explikationen des Bedeutungsbegriffs in der einen oder anderen Form auf den Begriff des Meinens Bezug nehmen. Da dieser Begriff auch im Kontext juristischer Auslegungsprobleme eine wesentliche Rolle spielt (cf. z . B . Busse 1989), sollte seine Klärung sowie seine Abgrenzung zum bzw. sein Zusammenhang mit dem Begriff der Bedeutung für den Juristen eine linguistische conditio sine qua non darstellen. Diesbezügliche Fragen wie z.B. - Was hat jemand gesagt, obwohl er es nicht gemeint hat? - Was hat jemand gemeint, obwohl er es nicht gesagt hat? - Inwiefern hängt, was jemand gesagt hat, davon ab, was er gemeint hat? zeigen, daß die Frage, was ein Ausdruck/eine Äußerung bedeutet, die Klärung der Frage, was es heißt, mit einem Ausdruck/einer Äußerung etwas zu meinen, voraussetzt (cf. dazu Ulkan 1975; Meggle 1981). Ein Rekurs auf theoretische Unterscheidungen der Linguistik ist ebenfalls unumgänglich, wenn Bedeutungsfeststellungen in bezug auf Gesetzestexte oder für äußerungsrechtliche Tatbestände auf Kategorien wie "wörtliche" und "nicht-wörtliche" Bedeutung zu rekurrieren haben. 1 'So ist z . B . klar, daß ein Satz wie der folgende

16

Zu kontroversen Standpunkten bzgl. der Existenz einer sog. "wörtlichen" Bedeutung cf. Searle (1978) und Bierwisch (1979).

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(3-3)Einige Bayern sind nicht konservativ

bedeutet, daß nicht alle Bayern konservativ sind. Aber bedeutet auch ein Satz wie (3-4)Einige Bayern sind konservativ

daß nicht alle Bayern konservativ sind? Und wenn ja, bedeutet er dies im selben Sinne wie (3-3) dies bedeutet? Und wenn diese Frage verneint wird, in welchem von der Bedeutung von (3-3) verschiedenen Sinne bedeutet er es dann? Es ist klar, daß auch mit (3-4) "zu verstehen gegeben wird", daß nicht alle Bayern konservativ sind. Aber während die entsprechende Bedeutung von (3-3) primär mit den logischen Eigenschaften der in dem Satz vorkommenden Ausdrücke Einige und nicht zu tun haben, kann für die betreffende Bedeutung von (3-4) offenkundig nicht nur relevant sein, was in dem Satz vorkommt, sondern auch, was in ihm nicht vorkommt. Die betreffende "Bedeutung" von (3-4) hängt wesentlich mit der Tatsache zusammen, daß nicht gesagt wird, daß alle Bayern konservativ sind. Dies heißt nicht, daß die "Bedeutung" von Äußerungen in gewisser Weise willkürlich oder zumindest nicht mehr systematisch ermittelbar ist. Der Linguist spricht im Fall von (3-4) davon, daß diese Äußerung "konversationeil impliziert", daß nicht alle Bayern konservativ sind. Auf der Basis der von Paul Grice entwickelten Theorie der konversationeilen Implikaturen ( c f . Grice 1968; Meggle (Hg.) 1979; Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987, Kap. V I I ) läßt sich nicht nur eine theoretische Begründung für die Unterscheidung zwischen wörtlicher und nicht-wörtlicher Bedeutung geben, es läßt sich auch zeigen, wie es zu solchen konversationellen Implikaturen kommt und in welcher Hinsicht sie eine regelgeleitete Instanz unseres Sprachvermögens darstellen.

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Grice's Theorie ist auch für äußerungsrechtliche Tatbestände von Belang. In den Paragraphen 185-187 StGB ist davon die Rede, daß Beleidigungen strafbar sind und daß unbewiesene Tatsachenbehauptungen, die einen anderen verächtlich machen oder in der öffentlichen Meinung herabwürdigen können, als Beleidigungen zählen. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen ist anzunehmen, daß eine unbewiesene Tatsachenbehauptung der Art (3-5)Z?er Kanzler ist

ein Betrüger

vermutlich den Tatbestand der Beleidung e r f ü l l t und daher als strafbare Handlung zur Anzeige gebracht werden kann. Wie aber steht es mit jenem Fall, in dem ein Gegner des Kanzlers - z . B . in einem Wahlkampf - die folgende Behauptung verbreitet: (3-6) Der Kanzler ist

kein Betrüger

Dieser Fall ähnelt jenem aus folgender Anekdote (cflPosner!979 sowie Grewendorf/Hamm/ Sternefeld 1987, Kap. VII) :

(3-7) Ein Schiffskapitän, der trotz wiederholter Ermahnungen wieder einmal feststellen mußte,daß sein Steuermann betrunken ist, macht voller Arger den folgenden Eintrag in das Logbuch: (i) Heute, 5. Februar 1990, der Steuermann ist betrunken. Als der Steuermann, inzwischen wieder nüchtern, am nächsten Tag diese Eintragung liest, ärgert er sich ebenfalls und überlegt, wie er sich gefahrlos beim Kapitän revanchieren könnte. Schließlich macht er den folgenden Logbucheintrag: (ii) Heute, 6.Februar 1990, der Kapitän ist nicht betrunken. Wir nehmen an, daß sowohl die Behauptung des Kanzlergegners als auch die des Steuermanns wahr ist. Obwohl hier also einer Person wahrheitsgemäß eine ehrenrührige Eigenschaft abgesprochen wird, sagt uns unsere Intuition ganz deutlich, daß mit diesen Behauptungen dennoch einer anderen Person "am Zeug geflickt" bzw. daß sie in der öffentlichen Meinung her-

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abgewürdigt wird. Handelt es sich dabei um einen Tatbestand, der gemäß § 185 und 186 StGB zu ahnden ist? Zur Beantwortung dieser Frage ist der Gesetzestext strenggenommen zu unpräzise. Hier wäre eine linguistisch fundierte Präzisierung nötig, die im Sinne der Theorie konversationeller Implikaturen berücksichtigt, daß man in einer für jedermann deutlichen und linguistisch rekonstruierbaren Weise beleidigende Dinge zu verstehen geben kann, die man nicht behauptet, ja nicht einmal "gesagt" h a t . Grice's Theorie der konversationellen Implikaturen repräsentiert einen integralen Bestandteil der sog. linguistischen Pragmatik (cf. Levinson 1983; Leech 1983; Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987, Kap. V I I ) . Dabei ist zu ergänzen, daß diese Theorie nicht den einzigen Versuch darstellt, den systematischen Charakter inferentieller Kommunikationsprozesse theoretisch zu analysieren. So haben etwa Sperber/Wilson (1986) mit einer kognitiv fundierten Relevanztheorie eine Alternative zum Grice'sehen Ansatz vorgeschlagen. Was diesen Theorien jedoch gemeinsam ist, ist der Versuch, für den systematischen und intersubjektiv validierbaren Charakter der nicht-semantischen "Bedeutungsdimension" sprachlicher Äußerungen eine wissenschaftliche Erklärung anzugeben. Die linguistische Pragmatik ist nicht nur hinsichtlich einer Theorie konversationeller Implikaturen für juristische Zwekke relevant. Die von Austin (1962) entwickelte und von Searle (1969) fortgeführte Sprechakttheorie liefert theoretische Analysen zum Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen, deren Unterscheidungen in so manchem juristischen Disput hilfreich sein könnten. Um ein einfaches Beispiel zu nennen, die Feststellung A hat B beleidigt ist ambig. Man bezeichnet damit die Tatsache, daß eine (verbale oder averbale) Äußerung qua Sprach- oder Rechtskonvention als Akt der Beleidigung zählt. Man bezeichnet damit aber auch einen be-

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stimmten kausalen E f f e k t von Äußerungen. In diesem Sinne hat man jemanden beleidigt, wenn er sich beleidigt fühlt. Nennt man z . B . jemanden "einen alten Nazi", so mag dies von dem einen als Beleidigung, von dem anderen als Kompliment aufgef a ß t werden. In der juristischen Praxis würde möglicherweise auch der mit einer Beleidigungsklage Erfolg haben, der sich eigentlich geehrt fühlt. In Kategorien von Austins Sprechakttheorie läßt sich die Ambiguität von beleidigen dahingehend präzisieren, daß dieses Verb sowohl einen "illokutionären" als auch einen "perlokutionären" Akt bezeichnen kann. In seiner perlokutionären Bedeutung entspricht es etwa der Bedeutung von kränken. In diesem Sinne muß es also kein Widerspruch sein, wenn man sagt, daß man jemanden beleidigt hat, ohne ihn beleidigt zu haben. Für den äußerungsrechtlichen Tatbestand der Beleidigung wäre dann u . a . die Frage relevant, inwiefern der konventionell determinierte Vollzug des illokutionären Aktes der Beleidigung von dem perlokutionären E f f e k t der Beleidigung als einem für ersteren wesentlichen Kontextfaktor abhängt und in welchem Sinne genau "Beleidigung" den strafrechtlichen Tatbestand der Beleidigung erfüllt. Betrachtet man juristische Praxiskommentare zu § 186 StGB, 1 7 so f ä l l t a u f , daß die Explikation des Begriffs der Behauptung hier eine wesentliche Rolle spielt. Da die sprachliche Handlung des Behauptens einen illokutionären Akt im Sinne Austins darstellt, wäre zu erwarten, daß die Frage, was es heißt, eine Behauptung aufzustellen, unter Bezug auf die empirischen Gegebenheiten der natürlichen Sprache und nicht allein durch Stipulationen beantwortet wird. Es ist klar, daß eine empirisch fundierte Explikation des Behauptungsbeg r i f f s auf das Instrumentarium der Sprechakttheorie Bezug

17

Im folgenden beziehe ich mich auf die Praxiskoamentaren in Kniffka (1981).

Zitate aus juristischen

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nehmen m ü ß t e . 1 8 Die genannten Kommentare t r e f f e n zwar durchweg bestimmte Aspekte der Behauptungshandlung, kranken jedoch zum Teil schon daran, daß zwischen dem Akt der Behauptung und der Äußerung, mit der ein solcher Akt vollzogen wird, nicht unterschieden wird. Zur Illustration sei eine Passage aus Dreher (1977) wiedergegeben: 19

(3-8) Behaupten heißt etwas als nach eigener Überzeugung richtig hinstellen, auch wenn man es von dritten Personen erfahren und nicht selbst gesehen hat ...; unerheblich ist die Zufügung von einschränkenden Zusätzen, so "wie ich glaube", "wahrscheinlich"... Dazu ist aus sprechakttheoretischer Sicht zu bemerken: Entweder eine Äußerung ist eine Behauptung oder sie ist keine; hat sie einen der angeführten abschwächenden Zusätze, so stellt sie mit Sicherheit keine Behauptung dar; derartige Zusätze indizieren vielmehr den Vollzug eines illokutionären Aktes, mit dem ein schwächerer "Wahrheitsanspruch" erhoben wird, als er für Behauptungen charakteristisch ist ( c f . Grewendorf 1982). Schließlich ist auch die Erläuterung "als nach eigener Überzeugung richtig hinstellen" zu grob, um Behauptungen von anderen sprachlichen Handlungen, auf die diese Erläuterung ebenfalls z u t r i f f t , zu differenzieren. Dies mag daran liegen, daß etwa der Unterschied zwischen dem Akt des Behauptens und dem Akt des Feststellens für juristisch belanglos angesehen wird. Unterzieht man jedoch diesen Unterschied einer differenzierteren empirischen Analyse ( c f . Grewendorf 1982 und 1984) , so zeigt sich, daß die in beiden Fällen unterschiedlichen Arten von "Verantwortlichkeit" für den erhobenen Wahrheitsanspruch einem Sprecher durchaus unterschiedliche juristische Konsequenzen einbringen können. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht, bei dem ein Arzt darüber zu 18 19

Zur Frage, was es heißt, daß mit einer Äußerung X der illokutionäre Akt vollzogen wird und wie sich dies empirisch eraitteln laßt, cf. Grewendorf (1979) und (1984). Zitiert nach Kniffka (1981: 610).

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befinden hat, ob ein - in Wahrheit scheintoter - Patient tot ist oder nicht. Wenn er in diesem Fall die Feststellung t r i f f t , daß der Patient tot ist, so können wir sagen: Pech für den Patienten; behauptet er dagegen, daß der Patient tot ist, so würden wir eher sagen: Pech für den Arzt. Eine weitere Illustration der juristischen Relevanz sprechakttheoretischer Unterscheidungen liefert die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts anläßlich des Urteils zur vorzeitigen Auflösung des 9. Deutschen Bundestages ( c f . dazu Grewendorf 1985). Vier Bundestagsabgeordnete hatten seinerzeit gegen die auf eine Vertrauensfrage des Kanzlers folgende Auflösung des Bundestages und die daraus resultierende Festsetzung von Neuwahlen Klage erhoben, und zwar mit der Begründung, daß die Fraktionen der Regierungskoalition trotz nach wie vor vorhandenen Vertrauens zum Kanzler nur für diesen speziellen Fall einen im Sinne der Vertrauensfrage positiven Ausgang der Abstimmung verhindert hätten. Das Bundesverfassungsgericht wies diese Klage ab, da die Mehrheit der Richter es für irrelevant hielt, ob der Bundeskanzler sichtlich das Vertrauen der Mehrheit der Bundestagsmitglieder hatte oder nicht. Entscheidend war für sie die verfassungskonforme Durchführung des Aktes des Vertrauen/Mißtrauen-Aussprechens, und für das Zustandekommen dieses Aktes wurde die Aufrichtigkeit in ähnlicher Weise für irrelevant gehalten, wie es für das Zustandekommen einer Behauptung irrelevant ist, ob der Behauptende das Behauptete glaubt oder nicht. Eine Minderheit von Richtern hatte allerdings anders votiert. Sie hatte der Frage, ob Vertrauen sichtlich vorlag oder nicht, für die verfassungsgemäße Beantwortung der Vertrauensfrage Relevanz zuerkannt. Aus einem sichtlichen Vorliegen dieses Vertrauens und ergo aus der Unaufrichtigkeit der Mehrheit des Bundestages ergab sich ihrer Auffassung

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nach die Verfassungswidrigkeit des genannten Verfahrens. Es läßt sich zeigen, daß der Dissens der beiden Parteien des Bundesverfassungsgerichts bzgl. der Durchführung des von Art. 68 GG bereitgestellten Verfahrens darauf beruht, daß der für dieses Verfahren konstitutive Außerungstyp eine sprechakttheoretische Ambiguität aufweist: Er kann als explizit performative Äußerung oder als deskriptive Äußerung aufgefaßt werden. 2 0 Insofern die eine Partei der Richter die für A r t . 68 GG erforderliche Stimmabgabe als explizit performativen Vollzug des illokutionären Aktes des Vertrauen/Mißtrauen-Aussprechens a u f f a ß t e , die andere jedoch als deskriptive Kundgabe einer bestimmten Disposition, haben die beiden Parteien aneinander vorbei argumentiert. Auch für die Ermittlung von Autorenidentitäten bilden pragmatische Theorien wie Sprechakttheorie, Präsuppositionstheorie oder Theorie der konversationeilen Implikaturen ein unerläßliches H i l f s m i t t e l . Texte und Textsorten lassen sich als kommunikative Handlungen nach illokutionären und perlokutionären Zwecken, nach ihrer illokutionären Struktur sowie nach den eingesetzten Mitteln (sog. illokutionären Indikatoren) zum Vollzug solcher Handlungen charakterisieren ( c f . Motsch/Viehweger 1980; Motsch/Reis/Rosengren 1989; Motsch 1989). Dabei ist klar, daß man über eine Theorie illokutionärer Indikatoren verfügen muß, um z . B . eine sprecherspezifische Verwendung solcher Indikatoren ermitteln zu können. Bei allen pragmatischen Analysen spielt die Berücksichtigung des sprachlichen und außersprachlichen Kontextes eine zentrale Rolle. Die Nicht-Beachtung von Kontexten hatte nicht zuletzt bei dem in Abschnitt (2) diskutierten Gutachten zu zahlreichen voreiligen Schlüssen g e f ü h r t . Die Frage ist, 20

Austin (1962) bezeichnet solche Äußerungen als "halb deskriptiv" und führt u . a . das Beispiel Ich billige es an, das deskriptiv die Bedeutung von Ich finde es richtig und explizit perforeativ die von Ich erkläre mich dafür haben kann.

282

welche Aspekte des Kontextes das Verständnis/den Sinn einer Äußerung/eines Textes determinieren. Man betrachte z . B . so unterschiedliche Funktionen des Kontextes wie in den folgenden Beispielen

(3-9)

(a)

Festlegung des pronominalen Bezuges; Er ging ins Kino

(b)

Festlegung des temporalen Bezuges: Ich höre, du ff i lls t verreisen

(c)

Festlegung des Modus Du machst das noch einmal

(d)

Festlegung der Modalität Sudel-Ede könnte das machen

(e)

Festlegung der lexikalischen Bedeutung Alexander ging zu seiner Lieblingsbank

(f)

Festlegung des strukturellen Bezuges Er erdrosselte den Mann mit der roten Krawatte

(g)

Festlegung des illokutionären Aktes Ein Kaffee würde mich wieder munter machen

(h)

Festlegung der konversationellen Iroplikatur Politiker sind Politiker

Es ist klar, daß es einer Systematisierung jener Kontextfaktoren bedarf, die für die jeweiligen Fixierungen eine determinierende Rolle spielen. Die in juristischen Texten häufige Redeweise, daß es auf den Zusammenhang ankomme ( c f . K n i f f k a 1981: 6 0 4 ) , bleibt eine Leerformel, solange nicht geklärt

283

ist, welche Faktoren des Kontextes in welcher Weise das determinieren, wofür es auf den Zusammenhang ankommt. Solche Systematisierungen sind von Linguisten vorgenommen worden ( c f . u . a . Lewis 1972 und 1980; Kratzer 1978; Gazdar 1980; Barwise/Perry 1983). Die Berücksichtigung von Kontextfaktoren ist insbesondere bei textstilistischen und textstatistischen Untersuchungen unerläßlich. Die Redeweise von einem sog. "Individualstil" dürfte sich nicht zuletzt einer Unterschätzung der kontextuellen Determiniertheit der Wahl sprachlicher Mittel verdanken. Der angemessene Einsatz sprachlicher Mittel ist durch kontextuelle Restriktionen vorgegeben. Erst über das kontextuell beschränkte Potential sprachlicher Mittel hinaus ließen sich Generalisierungen zu einer individuell geprägten Auswahl sprachlicher Mittel vornehmen. Bei aller Skepsis gegenüber der Existenz eines Individualstils ( c f . z . B . Wolf 1989; Brückner 1989) ließe sich zumindest als heuristische Hypothese formulieren, daß es individuelle, idiolektal bedingte Präferenzen für bestimmte stilistische Optionen gibt. Dann ist es aber nicht dieser oder jener Stil, der individuell ist, sondern die spezielle Realisierung der nach Maßgabe des Kontextes für diesen oder jenen Stil bereitstehenden sprachlichen Optionen. Eine analoge methodische Vorsicht ist geboten, wenn sog. "Abweichungen" oder Fehlern Signifikanz für eine Autorenidentität zugeschrieben wird. Derartige Hypothesen setzen nicht nur eine Theorie über den systematischen Charakter sprachlicher Abweichungen voraus, wie er etwa in der sog. "Fehlerlinguistik" untersucht wird ( c f . z . B . Bierwisch 1970 und 1989); sie verlangen auch eine statistische Berücksichtigung der auf den jeweiligen analytischen Ebenen vorkommenden Standardabweichungen.

284

Der Analyseperspektive bzgl. der Selektion kontextuell angemessener sprachlicher Varianten läßt sich die Produktionsperspektive gegenüberstellen. Auch hier ist die Rechtswissenschaft mit Problemen konfrontiert, für deren Lösung sie linguistische H i l f s m i t t e l in Anspruch nehmen könnte. So könnten etwa die theoretischen Analysen zur Verständlichkeit von Texten ( c f . z . B . Heringer 1979) der Gesetzgebungstheorie (ct. Noll 1973) ein linguistisches Instrumentarium zur Verfügung stellen, das es erlaubt, die Gestaltung juristischer Texte nicht nur an dem fachsprachlichen Bedürfnis nach exakten Ausdrucksmitteln auszurichten sondern auch an jenen Funktionen, die diese Texte in angewandten sozialen Kontexten haben. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Computerlinguistik die formalen Grundlagen für automatisierte Verfahren bei der Rechtsfindung bereitstellt. So können durch die Erstellung sog. "topischer Datenbanken" ( c f . Philipps 1988) existierende Fallkonstellationen, Entscheidungen und Lehrmeinungen besser erschlossen, in ihren systematischen Zusammenhängen transparent und für die Rechtsfindung konsultierbar gemacht werden. Diese Überlegungen unterstreichen, was von juristischer Seite schon seit langem konzediert wird, nämlich "daß die Linguistik für den reflektierten Juristen in Zukunft große Bedeutung haben wird" (Garstka 1979: 101). Mag sein, daß die Linguistik auf dieses Kooperationsangebot nicht angemessen reagiert hat. Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Notwendigkeit, für die Analyse sprachlich strukturierter Rechtsverhältnisse auf linguistische Theorie zu rekurrieren, außer Frage steht. Daß die Linguistik ein operationalisierbares theoretisches Instrumentarium bereitstellt, sollten diese Ausführungen zeigen. Es ist an der Zeit, für die juristische und linguistische Lehre und Forschung aus der ge-

285

nannten Notwendigkeit

hen.

institutionelle

Konsequenzen zu zie-

286

Literatur

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289

ANREGUNGEN

ZU

MEHR

INTERDISZIPLINARITÄT

BEI

FORENSISCHEN

LINGUISTISCHEN UNTERSUCHUNGEN

Anita Blum

Linguistische Untersuchungen fristen im forensischen Bereich ein Schattendasein; nur hin und wieder stehen sie im Scheinwerferlicht, verbunden mit Namen wie Oetker', 'Monsieur X 1 , 'Barschel' oder 'Startbahn-West 1 , und dann keineswegs immer unumstritten. Diese unbefriedigende Situation hat ihren Grund darin, daß Gerichte und Ermittlungsbehörden der forensischen Linguistik im allgemeinen eher zurückhaltend bis skeptisch gegenüberstehen und von seiten der Linguistik bislang wenig getan wurde, der Disziplin zum Ansehen eines forensisch zuverlässigen Untersuchungsverfahrens zu verhelfen. Nun ist es schwierig, die Möglichkeiten einer Methode auszuloten, wenn nur bei Beweisnot in spektakulären Fällen nach ihr gerufen wird. Auf diese Weise werden weder Wissenschaftler zu empirischer Erforschung eines vermeintlich exotischen Fachzweiges angeregt, noch können auf dem Gebiet tätige Sachverständige die im forensischen Bereich so wichtige Erfahrung gewinnen. Und ein einziges Fehlgutachten in einem aufsehenerregenden Prozeß kann auf Jahre hin nachhaltigen Schaden anrichten. Nachdem Ende 1988 das erste Symposion einen großen Teil der forensisch arbeitenden Fachvertreter zusammengeführt h a t , dürften in absehbarer Zeit erste Schritte auf dem Weg zu einer Konsolidierung der forensischen Linguistik erwartet werden können. Auch die Kriminaltechnik kann hier ihren Beitrag leisten: insofern nämlich als sie die Linguistik in das Angebot ihrer Standardverfahren aufnimmt und sie - ergänzend zu anderen kriminaltechnischen Verfahren, die eine gewisse Kontrollfunktion ausüben können - auch verstärkt bei ver-

290

gleichsweise unbedeutenden Deliktarten ( z . B . Beleidigung, Verleumdung) einsetzt. Während es für Hochschulen schwer ist, in größerem Umfang an forensisch relevante Textsorten heranzukommen, wäre es für ein Kriminalamt ein leichtes, auf diese Weise eine Textsammlung zu s c h a f f e n , die Erkenntnisse über die Häufigkeit und Aussagekraft von Merkmalen in bestimmten Textsorten u . a . vermittelt. Natürlich ist in Anbetracht des d i f f i z i l e n Untersuchungsgegenstandes gerade in der Anfangsphase große Zurückhaltung bei der Ergebnisformulierung geboten. Das ist aber kein Manko, denn längst nicht jede kriminaltechnische Methode ist immer in der Lage, eindeutige Resultate zu erzielen. Oft reichen ja auch richtungsweisende Aussagen, z . B . wenn der Kreis der Verdächtigten eingegrenzt werden kann, wenn ein schwaches Ergebnis ein Glied in einer längeren Beweiskette darstellt oder aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen Urheberausschluß spricht. Selbst ein 'non liquet' kann je nach Perspektive der Prozeßbeteiligten - ein brauchbares Ergebnis sein1 1. Rückgriff auf bewährte forensische Methoden Beim Bayerischen Landeskriminalamt wurden über einige Jahre hinweg textvergleichende Untersuchungen durchgeführt. Es sollte zunächst einmal geprüft werden, ob das Verfahren überhaupt geeignet ist, für den Ermittlungs- und strafprozessualen Bereich aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen und ob Bedarf an derartigen Untersuchungen besteht. Beides kann heute, nach Abschluß dieser Testphase, bejaht werden, und es l Es sind dies Selbstverständlichkeiten, die zu erwähnen mir allerdings notwendig erscheint, da die linguistischen Gutachten, die mir bisher bekannt wurden, fast ausnahmslos mit sehr hohen bzw. uneingeschränkten identifizierenden Ergebnissen ('mit Sicherheit'!) abschlössen. Ein Ausschlußgutachten ist mir überhaupt nicht bekannt. Auch wenn ich in Rechnung stelle, daß mein Einblick in die gutachterlichen Aktivitäten ein sehr begrenzter ist, ist dies doch ein Umstand, der mich bedenklich stimmt.

291

stehen nun Überlegungen an, das Ganze durch personellen und technischen Ausbau auf eine breitere und tragfähigere Basis zu stellen. Wie es begann und mit H i l f e welcher Überlegungen versucht wurde, die Probleme der ersten Untersuchung zu bewältigen, wird im folgenden an einem Fallbeispiel dargestellt werden: Es wurde in einer Reihe von Erpressungsfällen, die gehäuft in einem relativ kurzen Zeitraum auftraten und Ähnlichkeiten im modus operand! aufwiesen, ermittelt. Vieles deutete auf einen gemeinsamen Täter hin, der leitende Ermittler glaubte sogar, in den Erpresserbriefen die "Schreibe eines alten Kunden" wiederzuerkennen. Dieser Verdächtige hielt sich jedoch im Ausland a u f , und um über ein Auslieferungsersuchen an ihn heranzukommen, brauchte der Staatsanwalt Beweise, die er durch ein textvergleichendes Gutachten zu erhalten h o f f te. Ich konnte für die Untersuchung auf eine germanistische Ausbildung sowie einige Jahre Erfahrung als Gutachterin in der forensischen Handschriftenuntersuchung zurückgreifen. Mit Fragen der forensischen Linguistik hatte ich mich aber bis dahin kaum beschäftigt, und meine Bemühungen, vorhandene Def i z i t e auszugleichen, endeten enttäuschend: ich fand weder eine von der Fachwelt anerkannte, empirisch abgesicherte Methode noch eine fachbezogene Bibliographie, die einen Überblick über den aktuellen Forschungs- und Wissensstand erleichtert hätte. Auch einige Gutachten aus ähnlich gelagerten Fällen waren wenig hilfreich, vermittelten sie doch den Eindruck, daß die betreffenden Gutachter auch nur Einzelkämpfer waren, von denen jeder mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken versucht hatte, seine Aufgabe zu bewältigen. Um eine gewisse methodische Absicherung zu erreichen, griff ich auf einige Prinzipien der Schriftvergleichung zurück, die wegen verschiedener Gemeinsamkeiten von Schrift und

292

Sprache ( z . B . relative intraindividuelle Konstanz, interindividuelle Variabilität, willkürliche oder unwillkürliche Beeinflußbarkeit u . a . ) auch für eine textvergleichende Begutachtung tragfähig erschienen. 2 Ein Teil dieser Grundsätze hatte bereits Eingang in die Textvergleichung gefunden; 3 die Auflistung aus schriftvergleichender Sicht erhebt auch nicht den Anspruch auf Originalität, sondern soll die mögliche gegenseitige Befruchtung forensischer Methoden verdeutlichen.

1. Voraussetzung für eine fundierte Begutachtung: Das fragliche Material muß qualitativ und quantitativ ergiebig sein. Diese Forderung war in dem zu bearbeitenden Fall e r f ü l l t , denn die in einem Zeitraum von 6 Monaten entstandenen 24 fraglichen Schreiben aus 14 Erpressungsfällen (im folgenden: Komplex X) waren zum Teil mehrere Seiten lang, wiesen keine Anzeichen von Verstellung 4 auf und ließen schon beim ersten Durchlesen eine Reihe sprachlicher Eigentümlichkeiten erkennen.

2 3 4

siehe dazu PFANNE 1971; MICHEL 1982. KNIFFKA 1981; JÖNS 1982 Verstellungsbemühungen lassen sich nach meiner Erfahrung bei der Textsorte 'Erpresserbrief 1 relativ leicht erkennen. Zum Teil wird von den Verfassern ein gebrochenes Deutsch versucht, das auf einen Ausländer hindeuten soll, wobei die praktische Umsetzung aber in der Regel Schwierigkeiten bereitet: es kommt zu Übertretungen und widersprüchlichen Befundkonstellationen, die ihren Ursprung darin haben mögen, daß die meisten Verfasser nur über diffuse Vorstellungen von 'Ausländerdeutsch' sowie über begrenzte Fremdsprachenkenntnisse verfügen. In vielen Fällen legt der Verfasser auch gar keinen Wert darauf, die Verstellung als solche zu verschleiern, da sie hauptsächlich dazu dienen soll, den eigenen Stil unkenntlich zu machen, (dazu auch BRAUN 1989, 162 f)

293

2. Voraussetzung: Das Vergleichsmaterial muß zeitgerecht, umfangreich und mit dem fraglichen Material vergleichbar sein. Was diesen Punkt b e t r i f f t , so war das zur Verfügung stehende Vergleichsmaterial zufriedenstellend: es bestand aus 9 zum Teil mehrseitigen Privatbriefen und an Behörden gerichteten Schreiben, die in relativer zeitlicher Nähe zum fraglichen Material verfaßt worden waren (Komplex V ) . überdies lagen 6 Erpresserschreiben aus früheren Verfahren vor, in deren Verlauf der Vergleichsschreiber als Täter überführt und rechtskräftig verurteilt worden war (Komplex Y) . Diese Briefe konnten zwar nicht als Vergleichsmaterial behandelt werden - einmal fragliches Material bleibt für den Sachverständigen immer fraglich -, doch versprach bereits der Vergleich der beiden fraglichen Komplexe Erkenntnisse, aus denen Ermittlungsbehörden und Richter Schlußfolgerungen würden ziehen können. 3. Voraussetzung: Fragliches und Vergleichsmaterial sind umfassend matisch zu analysieren.

und syste-

Diese Forderung ist besonders wichtig, da die Gefahr der unbewußt selektiven Merkmalserfassung im Bereich der forensischen Untersuchungen bekannt und nicht zu unterschätzen ist. Kein Sachverständiger ist gefeit gegen eine unbewußte Beeinflussung, z . B . aufgrund der Kenntnis des Akteninhalts und der Ermittlungsergebnisse (hier: Existenz von Erpresserbriefen ( ) , die schon einmal Grundlage einer Verurteilung waren) oder einer spürbaren Erwartungshaltung des Auftraggebers. Und auch der 'Faktor Mensch' ist zu beachten: welcher Sachverständige wäre so vermessen zu behaupten, ihm konnten niemals Fehler durch Ungenauigkeit,

294

Leichtsinn oder Selbstüberschätzung unterlaufen? Gefahren dieser Art können nicht sicher gebannt werden, aber man kann sie durch Systematik, Methodik und umfassende Analysen kleinhalten. Es sollte daher auch in vermeintlich klaren Fällen immer eine detaillierte und vollständige Befunderhebung durchgeführt werden; nur so kann einigermaßen zuverlässig überprüft werden, ob eine homogene Merkmalskonfiguration vorliegt oder ob widersprüchliche Befunde zu berücksichtigen sind. Eine empirisch untermauerte Systematik, wie sie Kniffka bereits 1981 gefordert h a t 8 , liegt leider bis heute nicht vor, und die in linguistischen Gutachten gebräuchlichen Merkmalskategorien stellen zum einen ein relativ grobmaschiges Netz dar, zum anderen ist ihre Validität keineswegs hinreichend überprüft. Mangels einer Alternative stützte ich meine Untersuchung zwar auf diese Kategorien, es sei jedoch nicht verhehlt, daß ich dies immer als unbefriedigend empfunden habe. 4. Maxime: Entscheidend für die Ergebnis findung kann niemals ein Einzelmerkmal, sondern immer nur eine Merkmalskonfiguration sein. Den schwierigsten Teil einer jeden Begutachtung stellen zweifellos Merkmalsbewertung und Ergebnisfindung dar, die zwangsläufig subjektiv geprägt sind, aber gerade deswegen nicht willkürlich sein dürfen. Welche Merkmale letztendlich verfasserspezifisch oder diskriminierend sind, zeigt sich zwar erst in der Gesamtschau - ein und dasselbe Merkmal kann in verschiedenen Kontexten verschieden interpretierbar und verschieden beweiskräftig sein -, doch dürfte die Kombination mehrerer Merkmalsklassen eine brauchbare Grundlage für die Bewertungsproblematik sein.

KNIFFKA 1981

295

Ausgehend von schriftvergleichenden Erfahrungen werden im folgenden einige Kategorien erläutert, denen auch in textvergleichenden Untersuchungen Aussagekraft zukommen d ü r f t e : - Abweichungen von der Norm In der Schriftvergleichung versteht man unter der Norm die Schulvorlage, nach der ein Schreiber das Schreiben erlernt. Im Laufe der Zeit entfernen sich jedoch die meisten Schreiber mehr oder weniger von diesen schulmäßigen Vorschriften aufgrund persönlicher Weiterentwicklung des Erlernten ( z . B . durch Vereinfachung oder Bereicherung von Schriftzeichen, ungewöhnliche Verknüpfungen u . a . ) . Der Beweiswert eines Schriftmerkmals hängt immer auch mit seiner Nähe zur Schulvorläge zusammen, d.h. Schreibgewandtheit, Eigenständigkeit der Gestaltung und die zu schätzende Vorkommenshäufigkeit eines Merkmals in der Gesamtbevölkerung bestimmen seine Aussagekraft. Analog dazu wird die Norm für den textvergleichenden Bereich durch Grammatiken und Wörterbücher vorgegeben; unter Abweichungen von dieser Norm sind somit Verstöße gegen allgemeine Sprachregeln (Fehler) zu verstehen, aber auch kreatives, außergewöhnliches Sprachverhalten gehört hierher ( z . B . Wortneubildungen oder die Verwendung von Worten in ungewöhnlichen Zusammenhängen, s. 2 . 5 . 2 ) . ' - Varianten innerhalb der Norm Sie spielen in der Schriftvergleichung eine wichtige Rolle. Je mehr Varianten eines Schriftzeichens ein Schreiber verwendet, desto differenzierter wird die gesamte Befundkonstellation ( z . B . Gestaltung des ' mit winkligem und abgerundeten First, einzügige Entwicklung des ' B 1 neben zweizügiger e t c ) . Dabei ist aber auch zu beachten, wie es sich mit der Verteilung verhält: ob die verschiedenen Varianten ähnUberzeugende Beispiele finden sich auch bei SPILLNER 1989,132ff: "übelnehmerisch", "veißbemützt", "Der Service wird von hurtigen jungen Kellnern effizient exekutiert...." u.a.

296

lieh häufig verwendet werden, ob diese oder jene Spielart dominiert und ob ihre Verwendung an eine bestimmte Stelle im Wortkörper oder an die Verknüpfung mit bestimmten Buchstaben gebunden ist ( z . B . anstrichlose Gestaltung der Ovale bei 1 'a', 'd1, 'g', am Wortanfang vs.Anstrichsetzung im Wortinneren; Querstricheinbindung in den Folgebuchstaben bei ' t z 1 vs.isoliertem 't'-Querstrich in der Buchstabenkombination * t a ' ) . Natürlich ist es auch möglich, daß ein fraglicher Schreiber unter besonderen Entstehungsbedingungen (Eile, Erregung u . a . ) Extremvarianten produziert, die normalerweise in seiner Schrift nicht auftreten und daher bei einer Vergleichsuntersuchung nicht nachweisbar sind. Für den Sachverständigen ist es dann u . U . schwierig zu entscheiden, ob er es mit Befundlücken oder Abweichungen zu tun hat. Solange derartige Befunde aber die Ausnahme und aufgrund der Rahmenbedingungen erklärbar sind, kann in der Regel von Befundlücken ausgegangen werden, die zwar eine Einschränkung des Ergebnisses erfordern können, aber - je nach Beweiswert der übrigen Befunde - noch eine höherwertige Aussage gestatten. Die Erkenntnisse über die Variation graphischer Merkmale sowie deren Bedeutung für die Gesamtbewertung lassen sich zu einem großen Teil auf die forensische Linguistik übertragen; Beispiele finden sich in 2.5.3, 2 . 5 . 4 , 2.7.1, 2 . 7 . 3 , 2 . 9 . 2 bis 2 . 9 . 4 . - Konstante Merkmale In jeder Schrift, auch wenn sie noch so variationsreich ist, lassen sich stabile Bewegungsabläufe und feste Gewohnheiten des Schreibers ausmachen. Dafür sorgen der durch Übung erworbene Automatisierungseffekt und die Ausprägung persönlicher Vorlieben ( z . B . ausnahmslos hochfliegende, punktförmig gestaltete, druckzarte Oberzeichen; durchgehende Verwendung des romanischen ' r 1 u . a . ) . Konstanz in Bereichen, die weitgehend der bewußten Kontrolle entzogen sind, ist besonders

297

beweiskräftig, aber auch das konstante Auftreten eines an sich nicht besonders wertstarken Merkmals ist ein aussagekräftiger Befund. Dies gilt im Hinblick auf Identifizierungen und in besonderem Maße - bei diskrepanten Feststellungen in fraglichem und Vergleichsmaterial - für die erheblich problematischeren Urheberschaftsausschlüsse. Textvergleichende Beispiele zu dieser Merkmalsklasse stellen die durchgehend fehlerhafte Verbindung von Komma und Gedankenstrich (s. 2 . 8 . 2 ) sowie konstante Rechtschreibfehler (s. 2 . 9 . 5 ) dar. - Übergreifende Merkmale Die Ausbildung von Vorlieben und Automatismen hat zur Folge, daß sich bestimmte Bewegungsabläufe in Teilaspekten verschiedener Schriftzeichen wiederholen können ( z . B . gleichar1 tige Einleitungsbewegung b e i , ' B ' , ' D ' , ' P ' u n d ' R 1 oder bei ' , '!', ' J ' , ' K ' , 'W u n d ' 7 ' ; Vorliebe f ü r bestimmte Verknüpfungsarten u . a . ) . Eine auf den Textvergleich anwendbare Parallele ist das in Abschnitt 2 beschriebene Verfasserverhalten bzgl. Regeleinhaltung, Klarheit, Genauigkeit und Stringenz, das sich in den Bereichen 'Textaufbau 1 und ' S a t z b a u 1 , ' W o r t w a h l ' , 'Gramm a t i k ' , 'Interpunktion' und 'Schreibweise" spiegelt. - Kompetenzmerkmale Der Grad der graphischen Kompetenz äußert sich in Schreibgewandtheit und eigenständiger Gestaltung; die sprachlichen Analogien sind offenkundig und wurden bereits angesprochen (s. 'Abweichungen von der Norm 1 ; Beispiele in 2 . 1 ) . Kompetenzmerkmale bieten beweiskräftige Argumente für einen Urheberausschluß, wenn das Niveau der fraglichen Schrift bzw. des fraglichen Textes deutlich über dem des Vergleichsmaterials liegt. Dieser Schluß ist allerdings nicht umkehr-

298

bar, da ein gewandter Schreiber/Verfasser seine Fähigkeiten in Verstellungsabsicht auf ein niedrigeres Niveau herunterschrauben kann. Eine aussagekräftige Übereinstimmung kann die Kombination verschiedener Kompetenzstufen sein, z . B . großer Wortschatz oder häufige Verwendung von Fremdwörtern vs. Problemen bei der korrekten Anwendung. - Textsortenuntypische Merkmale Hier sind die Parallelen zwischen Schrift- und Textvergleich nicht ganz so überzeugend wie in den übrigen Merkmalsklassen. Man kann zwar in der Schriftart bzw. dem Schriftsystem eine Analogie zur Textsorte sehen - sortenuntypisch wären dann z . B . einzelne Formen des deutschen Schriftsystems oder der Sütterlinschrift in einem überwiegend lateinisch gestalteten Text -, doch sind derartige Mischungen im Textvergleich von wesentlich größerer Bedeutung als im Handschriftenbereich. In den Texten der Komplexe X und konnten übereinstimmend sprachliche Verhaltensweisen festgestellt werden, die in der Textsorte 'Erpresserbrief' nicht oder nicht unbedingt zu erwarten waren (s. 2.2 Geschätzigkeit, 2.3.10 Spielraum, 2 . 5 . 2 Wortspiele, 2 . 5 . 5 Wendungen mit ' S p i e l ' , 2 . 7 . 2 Indikativ). In Kombination dürften diese Befunde ein in Erpresserschreiben außerordentlich seltenes Merkmalssyndrom darstellen. Interessant auch, daß die Befunde zu 2 . 2 , 2 . 5 . 2 und 2 . 7 . 2 im Vergleichsmaterial nachweisbar waren. - Mischklassen Es versteht sich von selbst, daß die Grenzen zwischen den bisher beschriebenen Merkmalsklassen fließend und somit Kombinationen möglich sind. Ein Beispiel für ein signifikantes Zusammentreffen findet sich in 2 . 6 . 3 , wo Abweichungen von der Norm in übereinstimmender Variation aufgelistet werden (ähnlich auch 2 . 8 . 2 ) .

299

5. Maxime: Methodische Überlegungen sind gut; Kontrolle ist besser, besonders dann, wenn man forensisches Neuland betritt. Da das gesamte Untersuchungsmaterial mit der Schreibmaschine geschrieben worden war, bot es sich an, einen Kollegen aus dem urkundentechnischen Bereich, mit langjähriger Erfahrung in der Schreiberidentifizierung bei Schreibmaschinenschriften als Kontrollinstanz einzuführen. Wir arbeiteten völlig unabhängig voneinander, wobei die Aufgabenteilung nicht der sonst in linguistischen Untersuchungen üblichen Unterscheidung nach Verfasser- und Schreibermerkmalen entsprach. 7 Abgesehen von der Schreibmaschinenbestimmung erfolgte im urkundentechnischen Teil die Auswertung der Merkmale, die auf die Gestaltung von Texten mit dem 'Schreibwerkzeug 1 Schreibmaschine zielen, also im wesentlichen topografischer Natur sind: Textanordnung (Randbehandlung, Zeilenabstand, chengestaltung) Absatz- und Anschriftgestaltung Korrektureigenart Eigenheiten der Schreibmaschinenbedienung Art der Hervorhebung Schreibmaschinenbeherrschung Schreibeile. 8

Leerzei-

Demgegenüber wurde die Untersuchung der Bereiche 'Interpunkt i o n ' , Orthographie', 'Schreibweise von Zahlen, Abkürzungen u . a . ' in die sprachliche Analyse einbezogen. Man kann über diese Unterteilung verschiedener Meinung sein: für manchen Linguisten mögen auch Merkmale, die durch den Umgang mit der Schreibmaschine entstehen, sprachliche Relevanz, die zu be-

7

JÖNS 1982

8

Für die Hilfestellung bei den urkundentechnischen danke ich Herrn Erich Schock.

Ausführungen

300

werten

Aufgabe

des

Linguisten

sein

sollte,

besitzen; 9

andere könnten in der Reduzierung der Schreibermerkmale des linguistischen Teils die Gefahr von Fehlschlüssen

aufgrund

verminderter E f f e k t i v i t ä t sehen. Dem ist entgegenzuhalten, daß bei Verfasserund Schreiberverschiedenheit eine Merkmalszuordnung ohne Kenntnis von Schreibsituation und Schreiberpersönlichkeit ohnehin problematisch ist 1 0 und daß - zumindest derzeit - Urkundentechniker über wesentlich mehr Erfahrung in der Bewertung schreiberspezifischer Maschinenschriftmerkmale verfügen als Linguisten. Im übrigen lagen in dem

hier

behandelten

Anhaltspunkte vor, die Schreiberverschiedenheit sich auch im Verlauf Hinweise. 1 1 Daß die

Fall

vom

Sachstand

her

keine

den Verdacht von Verfasser- und begründet h ä t t e n , und es ergaben

der Untersuchung keine entsprechenden

vorgenommene Aufgabenteilung sinnvoll w a r , zeigten

die Ergebnisse: der überwiegende Teil der aktuellen

fragli-

chen Schreiben (Komplex X) wurde von beiden Gutachtern mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsgraden der Vergleichsperson zugeordnet, für einen Erpresserbrief wurde von beiden eher ein anderer Urheber angenommen, und bei zwei weiteren schlössen die

Untersuchungen mit

einem

'non

liquet'.

Auch

hinsichtlich der Briefe des Y-Komplexes wurde - mit Ausnahme von einem Schreiben, das wegen seiner Kürze nicht bewertet wurde - übereinstimmend von Urheberidentität ausgegangen.

9

HUBER 1989.

10

Es spielt z.B. eine Rolle, ob diktiert oder abgeschrieben wurde, ob sich der Schreiber nach der Vorgabe/Vorlage richtete oder nicht, ob Fehler übernommen oder korrigiert wurden und welcher der Beteiligten dominiert und seine Vorstellungen eingebracht hat. Während diese Differenzierung im Terrorismus-Bereich von Bedeutung ist, dürfte sie für den weitüberwiegenden Teil der Beleidigungs-, Droh- und Erpresserschreiben nach meiner Erfahrung nicht relevant sein.

11

301

2. Praktische Beispiele Die vergleichende Analyse der drei Textkomplexe , und V ergab eine Fülle von Entsprechungen, von denen hier nur ein kleiner Teil dargestellt werden kann. Auf die Texte, die dem Vergleichsschreiber nicht zugeordnet werden konnten, wird nicht eingegangen. 2.1 Ausdruckskompetenz des Verfassers und Stilebene Die betreffenden Briefe lassen auf einen Verfasser schließen, der relativ sprachgewandt ist und über recht große Variationsmöglichkeiten verfügt. Es zeigt sich aber auch, daß er oft unpräzise und verwaschen formuliert und viele Fehler produziert. Er strebt überwiegend eine 'gehobene' Ausdrucksweise an, wobei seine Formulierungen nicht selten geschraubt oder theatralisch wirken: X:

... dass Sie unserem Verlangen nachkommen werden ... ... erhalten Sie mitgeteilt... ... meinem Auftraggeber gerecht zu werden...

V:

Ich ersuche Dich ... um Menschlichkeit, sage doch die Wahrheit und nimm endlich diese furchtbaren Repressalien von mir.

Im Gegensatz dazu stehen häufiger umgangssprachliche Wendungen; wenn Drohungen Nachdruck verliehen werden soll, wird gern zu Vulgarismen g e g r i f f e n . Schließlich kann in den drei Textkomplexen ein recht unbekümmertes Verhältnis zu den Sprachregeln festgestellt werden. Es finden sich kaum Korrekturen - auch nicht bei o f f e n sichtlichen Flüchtigkeitsfehlern-, es wird nicht am Stil gef e i l t ; vielmehr schreibt der Verfasser so, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Dieses unorthodoxe Verhalten, das fehlende Bedürfnis nach Ordnung, Regeleinhaltung und Klarheit, ist

302

im übrigen ein übergreifender Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch mehrere Merkmalsbereiche zieht. 2.2 Aufbau Weder die fraglichen noch die Vergleichsschreiben sind durch einen klaren, stringenten Aufbau, eine überlegte Gliederung gekennzeichnet. Der Verfasser erscheint weitschweifig und geschwätzig, er verliert sich gern in unnötige Einzelheiten, Nebensächlichkeiten und Wiederholungen - eine für einen Erpresser ungewöhnliche Verhaltensweise: X:

Soweit mir bekannt ist, gibt es dort eine deutsche Familie, die Boote vermieten .... Die besorgen auch Zimmer. Fragen Sie am besten da nach. Leider weiß ich nicht, ob die schon da sind oder ob die immer da wohnen.

Y:

Oben auf dem Paß machen Sie eine kurze Rast und trinken etwas mit dem Fahrer. Am Fuße des Passes ist Arnea. Es sind ca. 100 KM. Handeln Sie vorher einen Preis aus. Die liegen aber trotzdem ganz günstig.

2.3

Inhaltliche Übereinstimmungen

Inhaltlich lassen sich vor allem in den textsortengleichen Komplexen X und immer wieder die gleichen Bausteine und Grundmuster feststellen: 1.

Der Verfasser beschönigt die Erpressung auf verschiedene Weise: zum Teil begründet er seine Forderung damit, daß er von Geschädigten beauftragt sei, deren Interessen zu vertreten. Die Schlüsselworte Geschädigte und geschädigt spielen auch in der Privatkorrespondenz des Vergleichsschreibers eine Rolle:

303

Ich bin der Geschädigte. Es ist

keiner geschädigt

worden.

2.

Oder er gibt vor, sich von seinem Auftraggeber, dem eigentlichen Bedroher, absetzen zu wollen, wobei er dem Empfänger gegen diesen seine H i l f e anbietet. Für die G e f a h r , der er sich dabei aussetze, fordert er eine finanzielle Entschädigung.

3.

In einer weiteren Variante schlägt er dem Empfänger ein Geschäft vor, bei dem er belastende Informationen gegen eine Art Schweigegeld verkaufen will.

4.

Häufig bezeichnet er sich als Ermittler, der über alles bestens informiert sei, dem nichts entgehe und der Zugang zu ungewöhnlichen Informationsquellen habe.

5.

Für den Fall, daß seine Forderungen nicht erfüllt werden sollten, droht der Verfasser im Komplex X mehrfach, 2 italienische Scharfschützen, 2 Berufskiller bzw. einen zuverlässigen Italiener in Marsch zu setzen. Auch in einem der Vergleichsschreiben findet sich eine Passage, in der mit unseren Italienern gedroht wird.

6.

Je einmal in X und findet sich der Hinweis, daß der Verfasser über weitere Druckmittel verfüge, die er aber nicht einsetzen wolle.

7.

In zwei fraglichen Schreiben wird die Machtlosigkeit der Polizei betont, die den Empfänger bei Zahlungsverweigerung nur eine begrenzte Zeit vor Anschlägen schützen könne.

304

8.

Bei einer eventuellen Einschaltung der Polizei wird dem Empfänger in mehreren Briefen des X-Komplexes drohend der Abbruch der Aktion, verbunden mit einem Hinweis auf die Folgen, in Aussicht gestellt: . . . dann breche ich den Kontakt ab und überlasse alles dem Schicksal. . .. dann breche ich den Kontakt ab und überlasse Ihnen Ihrem Schicksal .... wir die Aktion abbrechen und Sie die Verantwortung für die Folgen tragen!

9.

In sechs aktuellen und zwei abgeschlossenen Erpressungsfällen soll die Geldübergabe im Ausland s t a t t f i n den.

10.

Die Empfänger sollen ihre Zahlungsbereitschaft durch Inserate signalisieren, die eine Reihe inhaltlicher Parallelen aufweisen; z . B . läßt der Erpresser den Betroffenen ungewöhnlich viel Spielraum, was den Zeitpunkt der Insertion b e t r i f f t : X: Wenn Sie mit diesem Geschäft

einverstanden sind, ge-

ben Sie innerhalb der nächsten vier Tage der kommenden Woche, spätestens jedoch bis Freitag folgenden Text in der 'Bild' unter der Rubrik 'Autoverkauf' auf: ... Y:

Wenn Sie alles soweit haben, dass wir uns einig sind, dann geben Sie eine Anzeige im Automarkt der Süddeutschen Zeitung in der Samstag/Sonntagausgabe auf. Also die Wochenendausgabe. Es kann am Wochenende des 1./2.12. sein oder am Wochenende darauf. Spätestens jedoch am 15./16.12.

305

11.

Für den Fall, da3 das Inserat

nicht erscheint,

werden

Konsequenzen angekündigt: X:

Danach hören Sie von mir. Erscheint das Inserat nicht, so hören Sie ebenfalls von uns, aber erst wenn wir einen Ihrer Söhne haben. Danach hören Sie von uns. Anderenfalls hören Sie ebenfalls von uns - die Zeit bestimmen wir und es wird eine Überraschung, aber keine gute.

Y:

12.

...wenn wir uns einigen, so hören Sie bald von uns. Wenn wir uns nicht einigen, dann hören Sie vom Finanzamt.

Mehrfach wird dem Empfänger eine Güterabwägung nahegelegt: X: Es geht um ein Geschäft und Sie brauchen nicht zu zahlen, wenn Ihnen der Wert zu gering ist. Eine Fehlentscheidung Ihrerseits würde ein Vielfaches an finanziellem Verlust . .. gemessen an unserer Forderung bedeuten. wir nicht).

(Von Prestigeverlust

sprechen

Y: Sie wollen ja etwas von mir und es bringt Ihnen einen guten Vorteil. Also müssen Sie mit meinem Vorschlag einverstanden sein und nicht ich mit Ihrem. Sie können auch auf das Geschäft verzichten, es liegt bei Ihnen. 13.

Hinweise auf den Wassersport, der im Leben des Vergleichsschreibers eine wichtige Rolle spielt, finden sich auch in den Erpresserbriefen:

306

„ : ... eine deutsche Familie, die Boote vermieten und Surfer und tauchen machen. Y: Ich selber betreibe eine Wassersportanlage mit Surfen und Tauchschule. 2.4 Wortwahl 1.

In allen drei Komplexen zeigt sich eine ausgeprägte Vorliebe für Füllwörter, z . B . dann, ja, erst einmal u.a.

2.

Geradezu gehäuft werden unbestimmte Substantive - oft in Verbindung mit einem Demonstrativpronomen - verwendet, z . B . diese Person, diese Leute, diese Dinge.

3.

Die Selbsteinschätzung des Verfassers spiegelt sich in der häufigen und meist überflüssigen Verwendung von persönlich, selbst bzw. selber: X: ... dann hören Sie nichts mehr von mir persönlich. V: Ich hätte persönlich großes Interesse daran ... X: Sollten Sie sich jedoch nicht an jeden Punkt halten, werden wir selbst dafür sorgen, dass ... V: Ich selber trage eine Taucherzeitschrift bei mir ...

4.

Der Verfasser benutzt eine Adverbien und Attribute:

Vielzahl

ausdrucksstarker

hochgiftiges Quecksilber, hochkrimineller Tatbestand... total vernichtet, total demoralisiert ... keinerlei Lust, Interesse ... ganz dringend, wichtig, schnell ... sehr schlimm, schmerzhaft, eilbedürftig, bald ... unverzüglich, baldigst, sofort, sogleich, niemals, unbedingt, unweigerlich, unmöglich, keinesfalls,

307

äußerst, absolut, uneingschränk t, schwerwiegend, u.a. 5.

Ähnlichkeiten in den Formulierungen wurden bereits in den Beispielen zu inhaltlichen Parallelen deutlich. Hier eine weitere Auswahl: X: ... möchte ich Ihnen einen geschäftlichen unterbreiten. Y: Nun möchte ich Ihnen einen geschäftlichen unterbreiten.

Vorschlag Vorschlag

X: Wenn Sie den Ernst der Lage erkennen würden ... V: Ich hoffe. Du erkennst den Ernst der Lage ... X: Das alles muß sein aus Gründen der Sicherheit. Y: ... aus Gründen der Sicherheit konnte ich es nicht riskieren ... X: ... Sie so herzurichten, daß sie niemals wieder singen können. V: ... denn sonst lachst Du niemals wieder in Deinem Leben. X: So, jetzt könnten Sie ... V: So, nun sieh zu ... So, nun mache das Richtige. X:

Sie wären fertig für den Rest Ihrer Tage und Sie wissen das ebenfalls. Y: ... Sie wissen das selber, daß der Entführte so schlimm zugerichtet wurde. X: Können Sie sich die Schlagzeilen vorstellen? Y: Können Sie sich vorstellen, was Ihre Angestellten ... für Augen machen ...

308

X: Die beiden besagten Personen .. Diese besagten Herren ... Y: Dieser besagte Belastungszeuge ... dieses besagten Büros ...

2.5 Stilmittel Sowohl in den Erpresserbriefen als auch im Vergleichsmaterial werden verschiedene Stilmittel eingesetzt, die überwiegend der Intensivierung dienen: 1.

Erweiterte Wiederholungen X: Wir werden uns dann genötigt sehen, Maßnahmen zu ergreifen - Maßnahmen mit schlimmen Folgen. Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel - es würde sonst ein höllisches,Spiel. V: Ich hoffe. Du erkennst den Ernst der Lage - Deiner Lage.

2.

Wortspiele, bei denen dasselbe Verb auf Sachverhalte angewendet wird:

verschiedene

X: Das Geld wird innerhalb von drei Tagen abberufen. Halten Sie sich nicht an unsere Abmachungen, dann werden Sie abberufen. Dann blasen wir alles ab und Ihnen das Licht aus. V: Ifarum führte Dein Weg nicht hierher und zur Vernunft. 3.

Aufzählungen: X: Ob "Bild", "Stern", "Spiegel" oder Lokalzeitung ist vollkommen unbedeutend. Y: Können Sie sich vorstellen, was Ihre Angestellten,

309

Ihre Kunden und Ihr Bekanntenkreis für Augen machen

X: Interessenvertretungsgesellschaft GmbH Frankfürt/Stuttgart/Rom/ Lugano Y: Zur Zeit halte ich mich im Raum Bremen/Emden/Leer und Cloppenburg auf. 4.

Substantiv-,

Verb- und Adjektivpaare

- meist

pleona-

stisch verwendet - finden sich überaus häufig: X: Er wird mit genügend Reisegeld sowie Kleingeld

...

ausgestattet. Y: ... muß man seinem Bericht die Unterlagen und Beweise beifügen ... V:

... alle ihre verlogenen Aussagen und Angaben ... ... keine Mitteilung und kein Wort

...

X: Es kann und wird alle treffen. Ich kenne alles um ihre Person und weiß alles. V: Ich werde und kann ihr diesen Namen niemals sagen. .... wie ich es vorhergesehen und geahnt habe. Du darfst nichts mehr verschleppen und verzögern. X: Diese beiden Schreiben werden ihm ... sichtbar und verständlich gemacht. Lassen Sie ... jede Art von Kontaktaufnahme ... weder telefonisch noch schriftlich. V: ... daß Deine Gemeinheiten und Deine so furchtbaren Lügen eine schlimme und folgenschwere Entscheidung gegen mich erwirkt haben ...

310

5.

Bildhafte Wendungen In den Komplexen X und finden sich immer wieder Wendungen mit Spiel und spielen. Deren häufige Verwendung im Zusammenhang mit einer Straftat legte den Verdacht eines gewissen Realitätsverlustes beim Verfasser nahe. Diese Hypothese wurde später bestätigt. X: ... so spielt es für uns gar keine Rolle ... Spielen Sie nicht den Helden. ... wenn die Polizei mitspielen würde ... Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel ... ... wenn Sie kein krummes Spiel treiben ... Und nun unsere Spielregel: ... Y: Es stehen viele Jahre auf dem Spiel. Wir brauchen auch nicht lange Katz und Mausspielen. Darüber hinaus läßt der Verfasser eine Vorliebe für sprichwörtliche und im übertragenen Sinn verwendete, plastische Formulierungen erkennen: X: Sie kaufen also nicht die Katze im Sack. (findet sich in drei Erpresserbriefen) ... sich die Radieschen von unten besehen. ... in die Hände fallen ... ... werden wir Ihnen Beine machen. ... zur Strecke bringen ... V: ... sich vor diesen Karren spannen läßt ... ... gelogen ... das sich die Balken biegen ... Gemeinheit siegt auf der ganzen Linie. Ich baue Dir die letzte Brücke. Ich habe die Hölle gesehen ... Ich liege am Boden ... ... um wieder richtig auf die Beine zu kommen. Viele gehen gleich wieder vor die Hunde.

311

6.

Metonymische Ausdrucksweise

X: ... meinem Auftraggeber gerecht zu werden ... V: Auch die Unterschlagung ist aus der Luft gegriffen. 7.

Synekdoche In einem fraglichen Brief und in zwei Vergleichsschreiben ist von der Behörde die Rede, obwohl der Verfasser keine bestimmte Behörde meint und somit der Plural zu erwarten wäre.

2.6 Grammatik 1.

Rektions- und Konkordanzfehler sind in keinem der drei Komplexe eine Seltenheit.

2.

Es finden sich des öfteren durch Wortauslassungen verkürzte Ausdrucksweisen: X: ... wir halten uns an Sie und [Ihre] Familie . In Ihrem eigenen und [im] Firmeninteresse ... V: Denke an meine Papiere - aber [an] alle. Erledigen Sie das sogleich und warten [Sie] dann ...

3.

Die Wortstellung ist

zum Teil unüblich:

X: Übergabeort und Zeit erhalten Sie mitgeteilt in einem gesonderten Schreiben nach Veröffentlichung der Annonce, ffir raten zum Abschluß nochmals in Frieden. V: ... denn ich wurde geschädigt in einem schlimmen Maße.

312

X: Ich bin bereit, Ihnen ... die Namen zu nennen und die Auftraggeber. Y: Sie legen die Süddeutsche Zeitung vor sich auf den Tisch und den Stern. V: ... dann hole ich den Anstaltsleiter zu diesem Gespräch oder die Polizei. Auch seine Hilfe als Polizeibeamter brauche ich und als Freund. 4.

Bei Genitivkonstruktionen dominiert der Präpositionalkasus :

X: ... das Licht von Ihrem LKW ... V: Ich brauche ... die Hilfe ... von dem Kriminalbeamten. 5.

Der Verfasser

verwendet einige Male - allerdings nur im

fraglichen Komplex - den bestimmten Artikel vor Eigennamen; in allen drei Untersuchungskomplexen finden sich bestimmte Artikel anstelle von Personalpronomen:

X; Y: der Müller, der Meier ... X: ... die sollen ebenfalls kommen. V: 6.

... dann zeigen die mich an.

Andererseits wird der bestimmte Artikel dort, wo er zu erwarten wäre, sehr häufig durch Demonstrativpronomen und gelegentlich durch Possessivpronomen ersetzt:

X, Y, V: diese Dinge, Sache, Lügen ... X: ... auf meinen folgenden Vorschlag eingehen ... V: ... der sich auf Ihren einen Fall beschränkt, der alles ausgelöst hat.

313

7.

Präpositionen und Konjunktionen werden des öfteren f e h l e r h a f t eingesetzt, ohne daß dabei eine Systematik zu erkennen wäre.

8.

Auch bei gelegentlichen Tempusfehlern läßt sich keine direkte Regelhaftigkeit feststellen.

9.

In zwei Belegstellen f e h l t dem Verb stehen die notwendige adverbiale Ergänzung: X: Wenn z.B. [in der Anweisung] stehen sollte, dass ... V: Dann bekam ich einen Brief . . . und darin stand der Grund und er stand [dort, darin] genauso, wie ich es Dir geschrieben habe, (gemeint ist: ' l a u t e t ' )

10.

Gelegentlich findet sich ein I n f i n i t i v mit überflüssigem zu: X: Was Sie nicht machen sollten: den Leihvagen präparieren zu lassen. V: Wie kann ein Mensch nur solche Dinge tun und andere derart in die Scheiße zu drücken.

2.7 Syntax 1.

In allen drei Textkomplexen lassen sich sowohl längere, unübersichtliche Satzkonstruktionen als auch kurze und sehr kurze Hauptsätze feststellen, letztere werden besonders dann verwendet, wenn Anweisungen erteilt werden. Häufig verwendet der Verfasser elliptische Formeln: X: Nur wenige Tausender. V: Unbegreiflieh.

314

X: Die Übergabe erfolgt im Ausland vermutlich Schweiz. V: Denke zuerst an meine Papiere - aber alle. X: Teile Ihnen mit, daß ... V: Möchte Ihnen versichern, daß ... 2.

Befehle und Anweisungen werden nicht immer in tivform gegeben,

sondern oft

Impera-

in Form von Aussagesätzen:

X: Sie parken. Y: Sie sprechen mit keinem Menschen darüber. V: Du übergibst mir diese. 3.

Als häufigste Konjunktion findet sich und, aber auch Konstruktionen mit wenn . . . dann, wenn ... so sind nicht nur in den Erpresserbriefen, wo sie erwartet werden können - überrepräsentiert: X : . . . wenn Sie den Ernst der Lage erkennen würden, dann würden Sie unverzüglich handeln ... V : . . . wenn ich das ausspreche, dann zeigen die mich an. Gelegentlich t r i t t an die Stelle des wenn auch Konjunktiv- oder Indikativkonstruktion:

eine

X: Sollten Sie vorher mit der Polizei zusammen arbeiten, dann breche ich den Kontakt ab ... V: Sollte Sie es dennoch tun, dann hole ich staltsleiter ...

den An-

X: Sind Sie einverstanden, dann inserieren Sie ... V: Ist sie zu obigen Bedingungen bereit, dann kann sie kommen.

315

2.8 Interpunktion 1.

Mit den Kommaregeln geht der Verfasser - wie wir es schon aus anderen Merkmalsbereichen kennen - relativ großzügig um. Hin und wieder wird ein Komma gesetzt, wo es nicht hingehört; häufiger aber sind fehlende Kommata zu beanstanden: sehr oft fehlt das Komma zwischen Hauptsätzen, häufiger auch vor und zwar.

2.

Der Verfasser setzt gern und oft Gedankenstriche, allerdings recht willkürlich und auch da, wo ein Komma hinreichend wäre: X: Die Polizei kann vielleicht 2 oder gar 3 - wenn es hochkommt vielleicht 6 Monate ihren Schutz garan t ieren. V: Ich hoffe nur, die Beweise sind noch in der Wohnung - aber wenn nicht, so verhindert das eine Aufklärung auch nicht. Eine Vorliebe des Verfassers stellt auch die Verbindung von Komma und Gedankenstrich d a r , doch wird sie ausnahmslos fehlerhaft gesetzt: X: Diese Anzeige erscheint in Fettdruck, - danach hören Sie wieder von mir. V: Ich will ... meine ganzen Sachen, - alles.

2.9 Schreibweise 1.

Zur Kennzeichnung von Eigennamen sowie als Mittel zu Ironisierung und Distanzierung verwendet der Verfasser Anführungszeichen.

2.

Zahlen werden meist in Ziffern geschrieben, auch wenn sie nur aus einer Z i f f e r bestehen. Bei Geldbeträgen

316

findet sich in der Regel die gemischte Schreibweise: 2 Millionen. 3.

Bei Abkürzungen

variiert

der

Verfasser

recht

z . B . verwendet er neben km auch km/h sowie die wohnliche Form KM. 4.

stark, unge-,

Auch die Rechtschreibung muß insgesamt als ziemlich unorthodox bezeichnet werden, wie u . a . der Umgang mit dem Eigennamen Thessaloniki zeigt, der in drei verschiedenen Schreibweisen im X-Komplex a u f t r i t t . Auch die alternierende Verwendung von c und k bzw. c und z belegt die in dieser Beziehung i n d i f f e r e n t e fassers :

Haltung des Ver-

Transaction- Transaktion Mexico- Mexikoring Mercedes-S tern- Merzedes Reception 5.

Konstante b z w . sich treten auf bei

wiederholende

Rechtschreibfehler

- der Zusammenschreibung von gar nicht - der Zusammenschreibung von so lange, so viele, so etwas - der Getrenntschreibung von Verbzusammensetzungen wie zusammenkommen, bereithalten u . a . 3.Befundbewertung und Ergebnis der Hauptverhandlung Die zergliedernde Befunddarstellung dient der Objektivierung und darf insofern keinesfalls vernachlässigt werden. Aber natürlich vermittelt die obige Liste der aus dem Kontext herausgelösten Beispiele nicht den gleichen Eindruck wie es ein Einblick in den ausführlichen Textzusammenhang vermag.

317

Für die Überzeugungsbildung des Sachverständigen spielt daher auch der Gesamteindruck, der durch u . U . wochenlange, intensive Beschäftigung mit dem Sprachverhalten eines Verfassers eindrucksmäßig e r f a ß t wird, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auch die Schriftvergleichung arbeitet im übrigen mit Eindrucksqualitäten ( z . B . in Bezug auf den Grad der Eigenprägung und Einheitlichkeit, der Art der Merkmalsverteilung u . a . ) . Die Ergebnisfindung

in geschilderten Fall basiert auf

fol-

genden Komponenten: einer q u a l i t a t i v und quantitativ guten Materialbasis einer vielfältigen und aussagekräftigen KONFIGURATION übereinstimmender Einzelmerkmale (vgl. 1.4) dem Fehlen unerklärbarer Diskrepanzen einem überzeugenden Gesamteindruck. Dies ergab einen so hohen subjektiven Überzeugungsgrad, daß ich mich entschloß, die drei Untersuchungskomplexe 'mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit' ein und demselben Verfasser zuzuordnen. 1 2 Am Beginn der mündlichen Vertretung

des

Gutachtens

in

der

Hauptverhandlung stand die Schilderung der gesamten Problematik (fachspezifische D e f i z i t e , Erfahrungsmangel). Vor allem wurden die subjektiven Momente bei der Ergebnisfindung betont. Dennoch waren sowohl die Richter, die sich im übrigen selbst recht intensiv in die Texte eingelesen h a t t e n , als 12

auch die

Verteidigung

durch

die

detaillierte Befund-

An meiner subjektiven Überzeugung hat sich nichts geändert, doch würde ich heute - angesichts der gesamten Problematik - keine so weitgehende Aussage mehr t r e f f e n , sondern das Ergebnis auf die 'hohe Wahrscheinlichkeit' beschränken und die Einschränkung mit methodischen Überlegungen begründen. Ich schließe mich somit durchaus in meine eingangs geäußerte Kritik bzgl. der hohen Ergebnisse bei textvergleichenden Untersuchungen ein. Besonders Anfänger sollten Zurückhaltung üben, weil sie manches noch für aussagekräftig halten, dessen Bedeutung mit wachsender Erfahrung relativiert wird.

318

Schilderung sichtlich beeindruckt. Am Ende des 'GutachterTages ' - es waren neben dem textvergleichenden das erwähnte Schreibmaschinen- sowie ein weiteres urkundentechnisches Gutachten zu einer Paßspur 1 3 erläutert worden - legte der bis dahin nicht geständige Angeklagte für 10 von 11 ihm zur Last gelegten Erpressungsfälle ein Geständnis ab. Warum der Angeklagte einen Fall aus seinem Geständnis ausnahm, konnte ich nicht klären, weil vor Abschluß dieses Beitrags keine Akteneinsicht zu erlangen war. Weder die sprachlichen Befunde noch die Befunde des Schreibmaschinenexperten sprachen diesbezüglich gegen eine Urheberidentität, so daß ich an ein gleichzeitiges Versagen beider Methoden nicht glauben kann und eher taktische Gründe hinter dieser Einschränkung vermute. 1 4

13 14

Auf zwei der fraglichen Kuverts und auf einem Vergleichsumschlag befanden sich 'Einschreiben'-Aufkleber, die nachweisbar vor dem Auseinandertrennen zusammenhängend gewesen waren. Ich glaube mich erinnern zu können, daß es nur in diesem einen Fall zu einer Geldübergabe gekommen war.

319

Literatur Braun, Angelika. 1989. Linguistische Analysen im forensischen Bereich - zu den Möglichkeiten einer Texturheberschaftsuntersuchung. In: Bundeskriminalamt Wiesbaden (Hg.).1989. Symposium: Forensischer Linguistischer Textvergleich. Referate und Zusammenfassungen der Diskussionsbeiträge, Wiesbaden. 143-164. Huber, Wolfgang. 1989. Der Umgang mit der Schreibmaschine als Merkmal der Persönlichkeit. In: Bundeskriminalamt Wiesbaden ( H g . ) . 1989. Symposium: Forensischer Linguistischer Textvergleich. Wiesbaden. 185-204. Jöns, Dietrich. 1982. Der philologische Steckbrief, über den Einsatz der Philologie bei der Täterermittlung. In: Gesellschft und Universität: Probleme und Perspektiven. Festschrift z. 75-Jahr-Feier der Universität Mannheim. Mannheim. 273-287. K n i f f k a , Hannes. 1981. Der Linguist als Gutachter bei Gericht. Überlegungen und Materialien einer 'Angewandten Linguistik 1 . In: Peuser, G. & S. Winter ( H g g . ) . 1981. Angewandte Sprachwissenschaft. Grundfragen - Bereiche Methoden. Bonn, Bouvier. 584-634. Michel, Lothar. 1982. Gerichtliche Schriftvergleichung. Berlin, de Gruyter. P f a n n e , Heinrich. 1971. Handschriftenvergleichung für Juristen und Kriminalisten (= Kriminalwissenschaftliche Abh. Bd. 4 ) , Lübeck, Schmidt-Römhild. Spillner, Bernd. 1989. Forensische Linguistik: Möglichkeiten des Textvergleiches und der Texturheberschaftsermittlung. In: Bundeskriminalamt ( H g . ) . Symposium: Forensischer Linguistischer Textvergleich: Referate und Zusammenfassungen der Diskussionsbeiträge. Wiesbaden. 121142.

321

DIE LINGUISTISCHE TEXTANALYSE AUS KRIMINALISTISCHER SICHT

Wolfgang Steinke

1. Individuelle Zuordnungen in der Kriminalistik Die Ermittlungsdienststellen haben sich die Tatsache, daß alle Eigenschaften einer Person individuell sind, für Maßnahmen der Personenidentifizierung, der Ermittlung von Tatzusammenhängen, der Zuordnung von Tatbesonderheiten zu bestimmten Individuen, ja im weitesten Sinne zur Verbrechensaufklärung, schon frühzeitig zu eigen gemacht. Klassische Beispiele sind die Daktyloskopie, die Personenbeschreibung, die Bewertung von Schuhspuren, Werkzeugspuren, Reifenspuren usw. Alles bei einer Person ist individuell, die Papillarleisten, die Haut, das Haar, die Sekrete, die Fingernageloberfläche (so Gutachten von Katterwe/Wittig KT 32-1246/86), die Iris, der Gang, die Sprache, die Bewegungen, die Handschrift, das Benutzen technischer Hilfsmittel wie Schreibschablonen oder Schreibmaschinen und schriftlich auch der Schreibstil und die Ausdrucksweise. Während die Polizei diejenigen Individualbereiche besonderer Prüfung und Bewertung unterzog, die ihren Interessen besonders nützlich waren, blieben andere Bereiche den naturwissenschaftlichen Disziplinen vorbehalten. Sobald die Wissenschaft in der Lage war, Individualisierungsverfahren anzubieten, hat die Polizei geprüft, ob diese für ihre Zwecke nutzbar zu machen waren. Herausragende Bereiche sind die immer mehr verfeinerten Analysemethoden im Bereich der Sprengstoffe, der Rauschmittel, der Lackzuordnung und der individuellen Blut- und Se-

322

kretspurenbestimmung

durch

grundtechnische

Methoden

der

1

DNA . Der enorme Fortschritt der Naturwissenschaften in den letzten 2O Jahren hat auch die Kriminaltechnik dazu gezwungen, ihr Methodenspektrum anzupassen und zu erweitern. Dies hat dazu g e f ü h r t , daß alle Bereiche polizeilicher Untersuchungen immer exakter, wissenschaftlicher und objektiver geworden sind, ein Ende ist nicht abzusehen. Insbesondere durch die I n f o r m a t i k , die Revoution im Bereich der Entwicklung von Datenverarbeitungstechniken, zeichnen sich für die polizeiliche Arbeit Perspektiven ab, an die vor Jahren noch gar nicht zu denken w a r . Schon heute darf

daran gedacht werden, Hand-

schriftenvergleiche durch den Rechner vornehmen zu lassen, dessen Gedächtnis dem menschlichen Hirn tausendfach überlegen ist. Es kommt nur noch darauf an, die individualcharakteristischen Merkmale herauszuarbeiten und zu erfassen, um sie nutzen zu können. Autoreifen z . B . nach ihren Produktionsmerkmalen total gleich, können schon nach der ersten Umdrehung auf Asphalt individualcharakteristisch sein, dieses Merkmal aber nach der zehnten Umdrehung wieder verlieren. Diese Grenzen müssen erkannt und bei jeder gutachterlichen Bewertung berücksichtigt werden. Kraftfahrzeuge sind, wenn sie vom Band l a u f e n , gleich, je nach Gebrauch und nach individueller Ausstattung in kurzer Zeit Einzelstücke, ob durch Gebrauchsspuren oder Aufkleber sowie durch ihre Innenausrüstung. Die Kommunikation zwischen Straftätern und

Strafverfolgungs-

behörden hat sich recht schnell der technischen Entwicklung angepaßt, und schon vor mehr als

1O Jahren hat

die

Polizei

Herrmann/Pflug/Schmitter: "Untersuchung von Blut- und Sekretspuren mit Hilfe der DNA-Analyse", in: NDR 1989/402.

323

die Notwendigkeit erkannt, sich darauf wissenschaftlich zustellen 2 .

ein-

Zunächst herrschte die handschriftliche Kommunikation vor. Die hochentwickelte, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Schriftidentifizierung ermöglichte der Polizei die Aufklärung fast aller Terrorismustraftaten der letzten 17 Jahre. Der Übergang zu Schreibmaschinenschreiben hat den Straftätern angesichts der Möglichkeiten der Maschinenschriftidentifizierung wenig genutzt, und als sie zu Fotokopien übergingen, sind Verfahren entwickelt worden, die es ermöglichen, Fotokopien einander und einem bestimmten Fotokopiergerät zuzuordnen. Als dies bekannt wurde, und das läßt sich schwer geheim halten, da zumindest diese Möglichkeit im Gerichtssaal dargetan werden muß, benutzen Straftäter vermehrt Matrixdrucker und andere Drucktechniken. Die Kriminaltechnik reagierte mit Grundlagenforschung und weiß nun, daß auch Matrixdrucker durch längeren Gebrauch Verschleißmerkmale erhalten, die individualcharakteristisch sind. So war es nur folgerichtig, daß Straftäter insbesondere bei Erpressungen zum Telefon g r i f f e n oder Tonbandkassetten übermittelten. Geeignetes Einsatzmaterial zur Aufklärung von Straftaten mittels Telefon und Tonband ist eine überaus e f f e k t i v e Sprechererkennung und Sprecheridentifizierung, eine moderne Disziplin, die inzwischen neben dem Bundeskriminalamt auch in den Landeskriminalämtern von Nordrhein-Westfalen und Bayern professionell von Hochschulabsolventen betrieben wird. Straftäter hoher Intelligenz kennen die kriminaltechnischen Möglichkeiten und versuchen, sie zu neutralisieren. Für sie Herold: "Informationsverbund zwischen Polizei und Justiz", in: Kriminalistik 1977/1 ff. Herold: "Neue Wege kriminalpolizeilicher Verbrechensbekämpfung", in: Göppinger/Witter, Kriminologische Gegenwartsfragen Nr. 9. Herold: "Neue Wege in der Kriminaltechnik eröffnen - ein gesellschaftlicher Auftrag der naturwissenschaftlichen Kriminalistik", in: Göppinger/Dresser: Tötungsdelikte, Bericht über die 20. Tagung der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie. S. 183 ff.

324

tut sich eine neue Klippe a u f , die Notwendigkeit, die Texturheberschaft durch sie zu verschleiern, denn seit Jahren bedient sich die Polizei bei der Ermittlung von Straftätern der wissenschaftlichen Bewertung von Textinhalten durch Linguisten. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die Linguistik eine wissenschaftlich anerkannte Methode ist, die die Polizeiarbeit e f f e k t i v zu unterstützen in der Lage ist. Nicht einmal der Beweiswert ist u m s t r i t t e n , abhängig allerdings von einer ganzen Menge von Parametern, die dem Linguisten bekannt und den Kriminalisten verständlich sind. Ein sehr praktisches Beispiel d a f ü r , daß die Wortwahl, der Satzbau, die Schreibweise, Interpunktion und auch Äußerlichkeiten wie Raumaufteilung und Anordnung von Worten und Zeichen individuell sind, zeigt das Ergebnis einer kleinen Untersuchung, bei der rund 300 Schreiben inhaltlich untersucht wurden, auf denen Bankräuber dem Kassierer die Information zukommen ließen, daß es sich erstens um einen ernstzunehmenden Überfall handelt und zweitens der Täter alles in der Kasse befindliche Geld forderte. Nicht zwei dieser rund 300 Schreiben waren inhaltsgleich, was ebenso verblüffend wie beweiskräftig für die inhaltliche Individualthese ist, und dies bei nur drei Sätzen und relativ wenig Information, die auch aus Zeitgründen nur stichwortartig übermittelt wurde. Dabei hätten es auch die beiden Worte "Überfall" und "Geld" getan, eine Möglichkeit, die übrigens keiner der Täter gewählt hat. Und auch bei der Reduktion auf diese beiden Worte ergibt die Methodik der Linguistik noch eine ganze Menge Differenzierungsmöglichkeiten. Angesichts der Vielfalt der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und der Erkenntnis, daß Individuen sich grundsätzlich von anderen abheben wollen, bedarf es eigentlich keiner weiteren Begründung, daß die Polizei die linguistische Textanalyse notwendig braucht, daß sie bewährt ist und daß sie in Zukunft immer häufiger angewendet werden wird. Sie hat den Vorteil, vom Übermittlungsmedium unabhängig zu sein, allerdings den Nachteil, daß relativ zeitnahes, textsortengleiches Vergleichsmaterial vorhanden sein m u ß .

325

Dieses allerdings, und dies ist wieder ein Vorteil, ist mit dem Makel einer Verstellung b e h a f t e t .

kaum

2. Das Begutachtungsspektrum Die polizeilichen Einsatzmöglichkeiten sind v i e l f ä l t i g und decken fast das ganze Spektrum des Strafgesetzbuches ab, von der Beleidigung bis zur Entführung. In der Praxis des Bundeskriminalamtes allerdings gilt die Konzentration Untersuchungen der schwersten S t r a f t a t e n , einmal weil das zum Aufgabenspektrum des Bundeskriminalamtes gehört, andererseits weil den Ermittlungsdienststellen der Länder wegen der begrenzten Kapazitäten in personeller Hinsicht nur in Fällen der Schwerstkriminalität Unterstützung gewährt werden kann. So überwiegen Fälle der Allgemeinkriminalität, die das Bundeskriminalamt nicht bearbeiten kann und der Justiz zurückgeben oder vermitteln muß an Institute, deren Kapazität allerdings auch so gut wie erschöpft ist. Dies hat nichts mit elitärer Selektion zeitgeschichtlich interessanter Begutachtungsfälle oder spektakulärer Ereignisse zu tun, der Schwerpunkt liegt auch personell beim Bundeskriminalamt bei der Sprecheridentifizierung, und auf diesem Gebiet hat sich die Unterstützung der Sonderkommissionen vor Ort durch Wissenschaftler in Erpressungs- und Entführungsfällen, die sehr zeitraubend sind, als dringend notwendig und äußerst e f f e k tiv erwiesen, so daß diese Wissenschaftler für textlinguistische Aufgaben, so notwendig diese auch insbesondere in Bereich bekannt gewordener Erpressungen sind, um Trittbrettfahrer auszuscheiden, einfach nicht zur Verfügung stehen. Wenn sich polizeiliche Ermittlungsintensitäten auf schwerste Straftaten konzentrieren, so darf dies nicht bedeuten, daß andere Straftaten hinsichtlich der wissenschaftlichen Bearbeitung durch Linguisten gewissermaßen mit leichter, linker Hand oberflächlich abgearbeitet werden, der mangelnden Bedeutung angemessen. Jeder strafrechtlich in Verdacht Gera-

326

tene hat Anspruch auf sorgfältigste wissenschaftliche Bewertung, und zum anderen fügt jedes Fehlgutachten, zu dem auch ein für den Richter nicht nachvollziehbares, in der Begründung nicht überzeugendes Votum gehört, einer anerkannten wissenschaftlichen Sparte unsagbaren Schaden zu. Solche mit heißer Nadel gestrickten Gutachten werden herausgehoben wie richterliche Fehlurteile durch die Presse, und alle hochqualifizierten Experten haben jahrelange Mühe zu überstehen, um ihre Wissenschaftssparte wieder zu der Anerkennung zu verhelfen, die sie verdient. Die Neigung der Justiz zu vermehrter Inanspruchnahme einer neuen Wissenschaftseinrichtung, die sich bei der Justiz noch nicht allenthalber etabliert h a t , oder ihre kritische Reserviertheit, zeigt sich in der Zahl der Anfragen nach dem Beweiswert linguistischer Gutachten, eine Frage, die fast jedem Untersuchungsantrag beigegeben ist und die eben nicht ganz allgemein abgehandelt werden kann.

3. Barschel-Brief - Sternstunde der Linguistik Eine Sternstunde hatte die Linguistik, als sich das Fernsehen anläßlich des gefälschten Barschel-Briefes an Minister Stoltenberg ihrer annahm. Nach dem Tode Barscheis wurden Kopien eines Briefes bekannt, den Barschel angeblich vor seinem Tode an Minister Stoltenberg geschrieben hatte und in dem Barschel o f f e n b a r t e , daß der gesamte CDU-Landesvorstand das Vorgehen B a r s c h e l / P f e i f f e r gegen Engholm gebilligt habe. Durch ein kriminaltechnisches Gutachten des Bundeskriminalamtes erwies sich die Unterschrift unter der Brieffälschung deckungsgleich mit einer Unterschrift Barscheis für ein Grußwort zum 10jährigen Bestehen der Parteizeitung "Epoche". Diese einmalige Gelegenheit, der linguistischen Textanalyse anhand dieses spektakulären Falles die ihr gebührende Anerkennung und bundesweite Beachtung zu schenken, wurde leichtfertig vergeben durch nicht überzeugende Bewertungen Drom-

327

mels, die selbst Laien stutzen ließen. Da wurde einer staunenden Ö f f e n t l i c h k e i t klargemacht, daß es sich bei Pleonasmen - die korrekte Bezeichnung wäre Tautologien bzw. Zwillingsformeln - wie "schlicht und einfach" oder "klar und deutlich" um individualtypische Merkmale handele, aus denen der (Fehl)-Gutachter den linguistischen Fingerabdruck ableitet. Die H ä l f t e der Fernsehzuschauer wäre damit zum Briefschreiber zu machen. Im Gutachten wird der Formulierung "im Angesicht" großer individualtypischer Wert beigemessen. Die Gutachterin des Bundeskriminalamtes fand heraus, daß genau diese Formulierung sich mehrfach in der Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker anläßlich des Geburtstages von Willi Brandt im Jahre 1988 f a n d , und der Bundespräsident ist nun wirklich nicht in den Verdacht zu bringen, den BarschelBrief geschrieben zu haben. In der äußeren Textgestaltung finden sich weiterhin mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen dem Brief und dem handschriftlichen Vergleichsmaterial wie z . B . die Datumsschreibung, die Form der Anrede, die Art der Unterschrift und die Ersetzung von "und" durch das Pluszeichen. Auch dem sprachwissenschaftlich nicht vorgebildeten Zuschauer wären die deutlichen Unterschiede in Stil und Wortwahl verständlich geworden. Barschel verwendet in seinen Briefen fast ausschließlich sehr einfache Satzkonstruktionen, die aus dem Aussagesatz, einer rhetorischen Frage oder sogar grammatisch unvollständigen Sätzen bestehen. Im gefälschten Schreiben sind die Satzkonstruktionen hingegen wesentlich komplexer, d . h . es finden sich zahlreiche Konjunktionalsätze und Relativsätze. Dieser bedeutsame Unterschied blieb unerwähnt, da er ja in das Ergebnis des "linguistischen Fingerabdrucks" nicht hineinpaßte. Auch die Bewertung des Fehlermusters stimmte in keiner Weise mit dem Fehlermuster Barscheis überein. Während das gefälschte Schreiben schwere Verstöße gegen die grammatische, vor allem aber gegen die stilistische Norm aufweist ("Sie soll dadurch umso sauberer scheinen, je mehr ich ... demontiert werde." und "Aus diesem Zustand der führenden Köpfe unseres Landes-

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Verbandes heraus nimmt es mich nicht w u n d e r . . . " sowie "Das würde uns beiden und der Partei aller Peinlichkeit entheben".) und damit unter dem sprachlichen Niveau von Barschel liegt, finden sich bei Barschel vor allem Flüchtigkeitsfehler im Bereich der Orthographie sowie Zeichensetzungsfehler. Auch im Detail bestehen Unterschiede zwischen Vergleichsmaterial und Fälschung. So schreibt Barschel zweimal hintereinander das Wort "appellieren" falsch, so daß ein Flüchtigkeitsfehler hier ausscheidet. Dieses Wort ist, und dies ist sehr beachtlich, im gefälschten Brief richtig geschrieben. Dies Beispiel zeigt, an wieviele Einzelheiten ein geschickter Fälscher heute denken muß, um nicht entdeckt zu werden. Es reicht nicht, daß man daran denkt, möglichst im Stile des angeblichen Urhebers zu schreiben, auf Details sprachlicher Besonderheiten kommt es an. So scheiterte auch Kujau bei der Fälschung der "Hitler-Tagebücher" an gut einem halben Dutzend Fehlern im Detail, obwohl er sich bemüht hat, im Stile Hitlers zu bleiben. Angesichts vieler anderer Fehler (Papier, Tinte, Einbanddeckel, Einbandmaterial, Handschrift, Schreibmaschinenbeschriftung), die jeder Urkundenexperte vor einer textlinguistischen Expertise einer Prüfung unterzieht, war ein linguistisches Gutachten entbehrlich. Es wäre eine wissenschaftliche Aufgabe, die "Hitler-Tagebücher" einmal von der sprachwissenschaftlichen Seite zu beleuchten, insbesondere von der Seite der Fehleranalyse, dann ließe sich sicherlich auch von dieser Seite her die plumpe Fälschung wissenschaftlich belegen. Der Stoff ist sicher für eine linguistische Dissertation geeignet.

4. Das Anwendungsspektrum im Bundeskriminalamt Im Bereich der terroristischen Gewaltkriminalität wurde das Phänomen der schriftlichen Bekennung zu Anschlägen schon in den siebziger Jahren üblich und gebräuchlich, so daß sich daraus eigentlich schon vor rund 15 Jahren die Notwendigkeit

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textlicher Bewertungen ergab. Schwierigkeiten ergaben sich naturgemäß dadurch, daß überwiegend revolutionäres Vokabular verwendet wurde, so daß die Wortwahlanalyse begrenzte Möglichkeiten bot. Gleichwohl zeigten sich in diesem Bereich die ersten bemerkenswerten Erfolge. Beispielhaft ist ein umfangreiches Gutachten, in dem eine Bekennung zu einem Sprengstoffanschlag auf eine Funkstation in Heimerzheim verglichen wurde mit Bekennungen zweier RAF-Anschläge und neun weiteren Bekennungen zu Sprengstoffanschlägen von "Kämpfenden Einheiten". Sehr vorteilhaft war, daß das Material derselben Textsorte, und zwar exakt derselben, zuzurechnen w a r . Allerdings war erschwerend, daß angenommen werden mußte, daß Texturheber und Schreiber nicht identisch waren. Auch mußte in die Überlegung einbezogen werden, daß die Texte nicht von Einzelpersonen, sondern von Gruppen formuliert worden sind, wobei die Zusammenstellung der Gruppen teilidentisch sein konnte. Auch mußte in Erwägung gezogen werden, daß die Autoren/Schreiber einer Bekennung die vorangegangenen kannten oder sogar als Vorlage verwendet hatten. Damit war die Identifikation der auf eine bestimmte Person bezogenen stilistischen Anteile so gut wie ausgeschlossen. Das schloß jedoch nicht aus, daß Zusammenhänge auch personeller Art und der Ausschluß deutlich wurden. Der Vergleich der Schreibweisen, des Stils, der Fehleranalyse, der Orthographie, der Zeichensetzung, der Grammatik und sonstiger Eigentümlichkeiten ergab eine klare Trennung zwischen den RAF-Bekennungen und denen der "Kämpfenden Einheiten", verglichen mit den zahlreichen anderen Bekennungen, die bis dahin analysiert waren, zeigten sie deutliche Unterschiede in bezug auf die Fehleranalyse. Es ließ sich auch exakt nachweisen, welche Bekennerschreiben mit dem des Heimerzheimer Anschlages am meisten korrespondierten und welche am wenigsten. Natürlich schnalzten die Ermittler nach solch' überzeugenden Ergebnissen mit der Zunge und forderten immer wieder solche Vergleiche. Angesichts von über 300 Bekennerschreiben ergibt eich

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hier ein Feld, das weiterer sprachwissenschaftlicher Durchdringung h a r r t . Seit Jahren agieren bundesweit Gruppen, die Strommasten absägen oder sprengen. Auch sie bekennen sich zu ihren Anschlägen durch Schreiben. Vier solche Bekennerschreiben wurden textlinguistisch im Bundeskriminalamt analysiert. Zu zwei Anschlägen bekannten sich "revolutionäre Handwerker". Beide Bekennungen wiesen große Ähnlichkeiten sowohl im A u f bau als auch in den stilistischen Merkmalen a u f . Identisch war insbesondere der gedankliche Ablauf wie Bekenntnis zur T a t , Gründe, F a z i t , Forderungen und ironische Schlußformel. In den Formulierungen ergaben sich eine Reihe von wörtlichen Übereinstimmungen. Damit ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die Texte entweder vom gleichen Autor oder von der gleichen Gruppe stammten oder daß die Autoren des zweiten Schreibens das erste als Vorlage benutzt hatten. Di'e beiden anderen Schreiben wiesen zu den beiden ersten auf allen Ebenen deutliche Unterschiede a u f . Für die Polizei ist auch die Feststellung wichtig, daß die Täter hohen schulischen Bildungsgrad hatten und o f f e n b a r nicht aus der Gegend des Anschlags stammten. Dies ließ sich aus dem Schreiben sprachwissenschaftlich belegen. Der Fall zeigt, daß weitere ermittlungsrelevante Fakten aufgrund der textlinguistischen Analyse zu gewinnen sind. Gelegentlich ist auch die polizeiliche Fragestellung, ob der Schreiber Ausländer ist, der lange in Deutschland lebt oder Deutscher, der eine fremde Sprache extrem gut beherrscht. Die linguistische Analyse des Tatbekenntnisses im Falle des Mordes an v. Braunmühl beschäftigte sich auch mit der Frage, ob das Bekennerschreiben im Deutschen übliche bzw. einer bestimmten Fremdsprache zuzuordnende Satzkonstruktionen enthalte. Es konnte festgestellt werden, daß der Satzbau für die deutsche Prosa ungewöhnlich komplex ist, jedoch keine unüblichen Konstruktionen enthält in dem Sinne, daß ein nichtdeutscher muttersprachlicher E i n f l u ß vermutet werden m u ß t e . Ganz im Gegenteil d ü r f t e

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es einem Ausländer sehr schwerfallen, sich einen derart komplizierten Stil einschließlich der langen Sätze und der umfangreichen Satzbögen, deretwegen das Deutsche berüchtigt ist, so fehlerlos anzueignen. Aufgrund der syntaktischen Merkmale konnte sogar geschlossen werden, daß der Verfasser ein hohes Ausbildungsniveau h a t t e , das im Bereich des Universitätsstudiums in bezug auf Sprachen-, Politik- oder Sozialwissenschaften lag. Die häufig am Satzbeginn verwendete Formulierung "das ist" oder "es ist" könnte vermuten lassen, es lägen vom Französischen oder Spanischen beeinflußte Satzkonstruktionen vor, doch sie sind, bezogen auf den textlichen Zusammenhang, auch im Deutschen nicht ungewöhnlich. Auch bei Tatkomplexen, die den "Roten Zellen", der "Roten Zora" und den "Revolut. Zellen" zuzurechnen sind, hat sich die linguistische Textanalyse als äußerst ermittlungsfordernd erwiesen. In einem Verfahren wurden Tatbekennungen /Erklärungen zu vier Sprengstoffanschlägen mit Vergleichsmaterial eines Verdächtigen verglichen. Dem Analyseverfahren lagen die Untersuchung der Schreibweise (äußere Textmerkmale) sowie eine Fehleranalyse zugrunde. Da allerdings das Vergleichsmaterial aus Zeitschriftenartikeln bestand und somit mehrere Vermittlungsstufen durchlaufen hatte (Redaktion, Druckerei, Korrekturgänge), deren E i n f l u ß auf die äußere Form des Textes nicht rekonstruierbar ist, konnte die Fehleranalyse und die Analyse der Schreibweise kaum h i l f reich sein. Da es sich bei dem Schreiber um einen schreibgewohnten Publizisten handelte, dessen Stil markante und konstante Eigenheiten aufwies, wurden diese Besonderheiten herausgearbeitet und mit den fraglichen Materialien verglichen. Dabei ergaben sich Besonderheiten, die wirklich markant und damit bewertbar waren. Der Verfasser trennte Glieder einer Satzverbindung durch Punkte voneinander. Er verwendete häufig zwei- oder mehrgliedrige identische oder teilidentische Parallelismen. Damit wird eine Verstärkung

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der Aussage bewirkt ( z . B . " die klare Trennung zwischen Haus und Beruf, zwischen drinnen und draußen, kurzum, die klassischen Arbeitsteilung zwischen den G e s c h l e c h t e r n . . . " ) . Vereinzelt traten Wörter a u f , die in Österreich gebräuchlicher sind als in der Bundesrepublik Deutschland oder ausschließlich in Österreich verwendet werden (z. B. "Paradeiser" oder "weiters" b z w . "derweil" oder "nachhause"). Ferner wurde der Textfluß durch vereinzelt eingestreute Ellipsen (unvollständige Sätze) unterbrochen, oft gefolgt von Doppelpunkten. Dies führt zu erhöhter Aufmerksamkeit beim Leser, aber auch zu leichterer Lesbarkeit, insbesondere wenn ganze Teilsätze einfach abgetrennt werden. A l l ' diese Einzelmerkmale ließen auf einen typischen Stil schließen. Allerdings liegen keinerlei Vergleichsdaten einer großen Zahl vergleichbarer Schreiber vor, so daß nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nicht sicher beurteilt werden kann, wie selten die herausgearbeiteten Stileigenheiten sind. Kaum auszudenken, welches Grundlagenforschungsspektrum sich hier a u f t u t . Eine ganz kurze, im Rahmen dieser Begutachtung vorgenommene vergleichende Kontrolluntersuchung zweier "Spiegel"-Artikel ergab, daß einige der beschriebenen Kennzeichen zwar vereinzelt a u f t r a t e n , jedoch nicht in der beim Verfasser zu beobachtenden Konzentration oder gar in der vorliegenden Häufigkeit. Dieses Ergebnis wird allerdings dann ein wenig relativiert, wenn es noch richtig ist, daß alle "Spiegel"-Artikel vor dem Abdruck stilistisch auf den "Spiegel"-Stil getrimmt werden, der sich durch besondere sprachliche Gags auszeichnet. Das hat gelegentlich dazu g e f ü h r t , daß einige Redakteure die von ihnen v e r f a ß t e n Beiträge derart abgewandelt wiederfanden, daß sie Mühe h a t t e n , sie noch als ihre eigenen zu erkennen. Gleichwohl ergab der Vergleich der Tatbekennungen/Erklärungen der Roten Zellen/Revolutionären Zellen mit dem Vergleichsmaterial große Übereinstimmungen vor allem hinsichtlich der qualitativen stilistischen Parameter. Der Fall hat deutlich gemacht, daß es dringend erforderlich ist, die quantitative Basis des untersuchten Material zu erhöhen und

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mit Computerunterstützung weitere Untersuchungen zu Worthäufigkeiten, Ausdrucksgleichheiten und Ahnlichem vorzunehmen. Obwohl angesichts der Ermittlungszuständigkeiten des Bundeskriminalamtes Begutachtungen hinsichtlich terroristischer Gewaltkriminalität im Vordergrund stehen, hat es auch zahlreiche Fälle von Allgemeinkriminalität gegeben, in denen die linguistische Textanalyse hilfreiche Ermittlungs- und Überführungsansätze gegeben hat. In einem spektakulären Entführungsfall lagen neun Erpresserbriefe und drei Hinweiszettel der Entführer vor sowie verschriftete Texte, die das Opfer nach Vorlage auf Tonband sprechen mußte. Die Untersuchungen ergaben, daß die regionalen Merkmale einzeln in verschiedenen Gegenden der Bundesrepublik a u f t r e t e n . In der Tatregion sind sie sämtlich im Bayerischen Wald nördlich von Regen zu verzeichnen und gehören dort zur regionalen Alltagssprache. Ein solches Ergebnis ermutigt jeden Leiter einer Sonderkommission, die linguistische Textanalyse schon im ersten Stadium der Ermittlungen zu veranlassen, um Trittbrettfahrer auszuscheiden und die Ermittlungen regional zu konzentrieren. Herausragend aus der Vielzahl der Fälle allgemeiner Kriminalität war eine Begutachtung in einem Falle des Verdachts von Rechtsbeugung. Ein Vorsitzender Richter war von der Angeklagten beschuldigt worden, er habe ihr ihre schriftliche Einlassung d i k t i e r t , um ihren Freispruch vorzubereiten. Die Angeklagte hatte über f a m i l i ä r e Kontakte den Richter kennengelernt und diese Kontakte später genutzt, als das Hauptverfahren vor seiner Kammer gegen sie e r ö f f n e t worden war. Sie hatte nach der Hauptverhandlung und nach ihrem Freispruch Gewissenskonflikte bekommen und ein Geständnis abgelegt. Glaubhaft wurde ihr Geständnis dadurch, daß sie die exakten juristischen Formulierungen keinesfalls selbst hätte verfassen können. Erschwert wurden die Untersuchungen dadurch, daß

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es verständlicherweise

äußerst schwer ist,

juristische For-

mulierungen einem speziellen Juristen zuzuordnen, doch auch in der juristischen Fachpsrache gibt es Besonderheiten, die einzelne Juristen von anderen durch die Formulierungen und ungewöhnlichen Ausdrucksweisen bzw. Schreibweisen deutlich abheben. Obwohl in Gutachten viele Relativierungen und Einschränkungen gemacht werden m u ß t e n , legte der Richter in der Hauptverhandlung angesichts der

überzeugenden

gutachterli-

chen Bewertung ein Geständnis ab. Unbeachtet von der Ö f f e n t lichkeit hat auch in diesem Falle die linguistische Textanalyse ihre wissenschaftliche

Bedeutung

und kriminalistische

Brauchbarkeit überzeugend unter Beweis gestellt. Ein wenig leichter, jedoch nicht immer problemloser sind Fälle, in denen Begutachtungen gefordert werden, in denen Schreiben von Tätern v e r f a ß t werden, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Hier bietet die kontrastive Linguistik H i l f e . Sie vergleicht die grammatischen Systeme verschiedener Sprachen, entwickelt aus den Unterschieden zwischen diesen Sprachsystemen Fehlerprognosen und versucht, Fehler in der Fremdsprache aus den Eigenheiten der Muttersprache eines Schreibers zu erklären. Der Beschuldigte stand im Verdacht, Eintragungen in das Informationsbuch einer

orthopädisch-neu-

ropädiatrischen Abteilung einer Klinik vorgenommen zu haben. Fraglich war f e r n e r , ob maschinenschriftliche Schreiben an den Direktor und die Oberschwester der Klinik vom Beschuldigten stammten. Untersucht werden mußten die Besonderheiten bezogen auf die serbokroatische Sprache. Es konnte eindrucksvoll herausgearbeitet werden, daß der Beschuldigte auf allen grammatischen Ebenen Fehler machte, die einem Deutschen in dieser Form nicht unterlaufen würden und die eindeutig auf seinen muttersprachlichen Hintergrund zurückgef ü h r t werden konnten.

335

5. Der Ermittlungshinweis Die Gutachter des Bundeskriminalarotes stehen oft vor dem Problem, daß die Ermittlungsdienststellen im konkreten Fall sehr schnell eine Bewertung benötigen, um überflüssige Ermittlungen zu unterlassen oder sich in eine bestimmte Richtung zu begeben. Sie verzichten dann im Regelfall auf das schriftliche Gutachten und begnügen sich mit der gutachterlichen Stellungnahme. Dies enthebt den Gutachter jedoch nicht, auch solche Stellungnahmen mit exaktester wissenschaftlicher Gründlichkeit vorzunehmen, denn gerade in diesem Stadium wie überhaupt generell im Bereich wissenschaftlicher Expertisen sind doch unüberlegte Schnellschüsse nicht nur standeswidrig, sondern total unentschuldbar. Natürlich sind Fälle denkbar, in denen sich der Gutachter nicht ganz sicher ist, in denen er im Gutachten zu einem "non liquet" kommen m u ß , in denen er aber nicht nur gefühlsmäßig zu einer bestimmten Zuordnung neigt, ohne sie unangreifbar wissenschaftlich untermauern zu können. Dies muß er unmißverständlich zum Ausdruck bringen. Eine später nicht haltbare Bewertung mit dem Hinweis zu entschuldigen, es habe sich doch nur um einen "Ermittlungshinweis" gehandelt oder um eine "Vorbegutachtung", ist vorwerfbar und unqualifiziert. Auch bei Vorbegutachtungen ist Schludern unwissenschaftlich und unerlaubt. Noch schlimmer ist es, sich vom Auftraggeber das gewünschte Ergebnis diktieren zu lassen. Da die Gutachter des Bundeskriminalamtes weder um Aufträge verlegen sind, noch nach dem Ergebnis bezahlt werden, besteht eine solche Gefahr nicht.

6. Die Bewertungsskala Hinsichtlich der Bewertungsgrade gibt es noch keine einheitliche Terminologie, die notwendig ist, um der Justiz den Grad der möglichen Zuordnung begreiflich zu machen. Eine

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solche Wahrscheinlichkeitsskala ist problematisch, da die B e g r i f f e in ihren Konturen nicht sonderlich trennscharf sind. Im Bundeskriminalamt hat sich im Bereich der forensischen Schriftidentifizierung eine Skala praktisch erwiesen, mit der die Justiz zurechtkommt und die auch in der linguistischen Textanalyse angewendet wird. Die Stufen sind -

-

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identisch mit hoher Wahrscheinlichkeit identisch wahrscheinlich identisch kommt in Betracht/ ist nicht auszuschließen (diese Stufe soll dem Ermittler nur Anhaltspunkte liefern, bedeutet aber eine Neigung zum "non liquet") non liquet wahrscheinlich auszuschließen mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen.

Mit einer solchen Bewertungsskala läßt sich arbeiten, sie sollte bei allen Begutachtungen im Rahmen textlinguistischer Analyse verwendet werden.

7. Beweiswert textlinguistischer Gutachten Da die Justiz der noch nicht üblichen Methode der Linguistik zweifelnd gegenübersteht, wird vor einem Antrag auf Begutachtung sehr häufig die Frage nach dem Beweiswert linguistischer Gutachten gestellt sowie nach den in diesem Bereich verwendeten Verfahren. Für die Begutachtung des Barschel-Briefes hat das Bundeskriminalamt dazu wie folgt Stellung genommen, und diese Bewertung hat Allgemeingültigkeit:

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"Zum Stand linguistischer Begutachtung in der Bundesrepublik allgemein Linguistische Gutachten mit dem Ziel einer Texturheberschaftsprüfung sind in der Bundesrepublik Deutschland zwar in etlichen, meist spektakulären Strafprozessen in Auftrag gegeben worden; sie können jedoch derzeit weder methodisch noch vom Umfang der Erfahrung her als Routineverfahren gelten. Insbesondere im Hinblick auf die Methodik ist festzustellen, daß der Bearbeiter nicht auf einen feststehenden Kanon zu untersuchender Merkmale zurückgreifen kann (es gibt im Gegenteil berechtigte Zweifel daran, daß solch ein allgemeingültiger Kanon überhaupt existiert) , sondern weitgehend auf Erfahrungen bei der Textanalyse in anderen wissenschaftlichen Bereichen und auf methodische Intuition angewiesen ist. Dies zeigt neben den veröffentlichten Erfahrungsberichten wie JÖNS (1982) oder KNIFFKA (1981) auch die Diskussion anläßlich eines Symposions zu diesem Thema am 8./9. Dezember 1988 im Bundeskriminalamt. Die angesprochenen Probleme betreffen dabei nicht so sehr die Textbeschreibung und -analyse - hierfür stellt die Linguistik im Prinzip geeignete Methoden zur Verfügung; sie beziehen sich vielmehr auf die Wertigkeit dieser Beschreibungsprozeduren im Hinblick auf individualtypische Stilmerkmale. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, daß das oberste Erkenntnisinteresse linguistischer Beschreibung auf die in einer Sprache allgemein, d.h. unabhängig von Individuum geltenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten gerichtet ist. Individuelle Stilmerkmale wurden vor diesem Hintergrund je nach Blickwinkel negativ, also als Normverstoß bzw. Fehler oder positiv im Sinne einer sich in ihnen offenbarenden genialen Dichterpersönlichkeit untersucht. Erst in jüngerer Zeit beginnt sich ein Stilbegriff zu etablieren, der stilistische Individualität als 'Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten* auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen begreift. Die Entscheidung darüber,welche Wahl zwischen verschiedenen synonymen Wörtern bzw. zwischen verschiedenen Satzkonstruktionen getroffen wird, hängt allerdings von zahlreichen Faktoren ab, die mit dem textproduzierenden Individuum nichts zu tun haben. Der wichtigste von ihnen ist die sogenannte Textsorte, d . h . die Textkategorie wie z.B. Liebesbrief oder Gesetzestext, die von sich aus gewisse Anforderungen an Wortwahl und grammatisch-stilistische Gestaltung stellt. Dieser durch die Textsorte gesetzte Rahmen schränkt einerseits die individuelle Gestaltungsfreiheit ein, andererseits verfügt jede schreibgeübte Person über mehrere, der jeweiligen Textsorte angemessene 'Register'. Das bedeutet, daß in vielen Bereichen, zu denen sicher auch der der Wortwahl zu rechnen ist, die Gemeinsamkeiten zwischen Texten, die verschiedene Urheber haben, aber der gleichen Textsorte angehören, größer sein können als zwischen solchen, die denselben Urheber haben, jedoch verschiedenen Textsorten angehören. Das Verhältnis zwischen Textsortenerfordernis und individueller Gestaltungsmöglichkeit innerhalb der Textsorte ist von der Forschung derzeit noch weitgehend ungeklärt. Solange dieser Zustand andauert, hat sich in der Gutachterpraxis die Einführung von sog. Blindtexten oder Dummies bewährt. Hierbei handelt es sich um mindestens einen

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Text, der in Sorte und Thematik mit dem inkriminierten übereinstimmt, aber sicher nicht von dessen möglichem Verfasser stammt, sondern von einer dritten Person mit vergleichbarer Ausbildung und ähnlichem Erfahrungshintergrund. (Im vorliegenden Fall hätte sich etwa ein Schreiben, möglichst ein Beschwerdebrief, eines CDU-Funktionsträgers mit akademischer Ausbildung an Dr. Stoltenberg angeboten.) Die Heranziehung solcher Dummies gilt als probates Hilfsmittel zur Unterscheidung textsortenspezifischer Merkmale von individualtypischen. Eine weitere, gegenüber Textsorteneinflüssen robuste Untersuchungsgröße bildet die Fehleranalyse, die nicht zuletzt aus diesem Grunde nach allgemeiner Auffassung einen zentralen Bestandteil jeder Urheberschaftsprüfung darstellen sollte. Als weiteres Routineverfahren bei linguistischen Textvergleichen kann die Analyse von Merkmalen der äußeren Textgestaltung (Schreibweise) wie Raumaufteilung auf dem Blatt, Gestaltung der Anrede, Verwendung von Anführungszeichen usw. gelten."

339

DER FALL S. - LINGUISTISCHE GUTACHTEN IN EINEM MORDPROZESS

Dieter Cherubim

1. Die Ausgangssituation 2. Das erste Textgutachten 3. Die neue Ausgangslage 4. Das zweite Gutachten 5. Nachträgliche Beurteilung

1. Die Ausgangssituation Am Morgen

des

20.

Januar 1977 wurden

in

Braunschweig

Ehepaar und drei seiner vier Kinder erdrosselt Der Mann,

Direktor

einer

örtlichen

ein

aufgefunden.

Bankfiliale,

hatte am

Abend zuvor einen Kollegen angerufen und ihn gebeten, Geld aus dem Tresor der Bank zu holen und es ihm in sein Haus zu bringen. Dort seien Männer, die sein und seiner Familie Leben bedrohten.

Die Polizei dürfe nicht informiert werden.

Der Angerufene hatte diesem Wunsch entsprochen, 165.000,- DM zum Hause des Bankdirektors gebracht und erst am folgenden Morgen die Polizei verständigt. 1 Diese Tat, die begreiflicherweise eine große Erregung in der Bevölkerung hervorrief und in Braunschweig selbst sogar den Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe laut werden l i e ß , 2 setzte sofort eine intensive Ermittlungsarbeit

in Gang,

für

die eine große Sonderkommission der Kriminalpolizei gebildet Vgl. jetzt den erinnernden Bericht in der Braunschweiger Zeitung vom 24.8.1989, S. 19. Vom "Meuchelmord in Braunschweig" sprach z.B die Braunschweiger Zeitung vom 22.1.1977, S. 3; ebenda forderte der damalige Oberstadtdirektor eine Novellierung des Grundgesetzes, mit der für "einwandfrei erwiesenen Mord verabscheuungswürdigster Art" die Todesstrafe wieder eingeführt werden sollte.

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wurde. Die Kommission ging verschiedenen Spuren nach, unter anderem hatte sie sich auch mit einer "Botschaft" der m u t maßlichen Täter zu beschäftigen, die am Tatort gefunden worden war. 3 Dabei handelte es sich, wie eine Abbildung in der Braunschweiger Zeitung vom 22. Januar 1977 zeigte, um einen mit Schreibmaschine geschriebenen, zwölfzeiligen Text, der mit drei handschriftlichen Korrekturen versehen war (vgl. Abb. 1). Noch im Januar 4 erhielt ich nun einen Anruf der Kriminalpolizei, die mich f r a g t e , ob ich bereit sei, über einen möglichen Verfasser/Schreiber dieser "Tatschrift" (wie sie genannt wurde) zu gutachten. Mein Name war der ermittelnden Sonderkommission durch eine Regensburger Kollegin bekannt geworden, die mich als ortsansässigen Sprachwissenschaftler einem Freund der überlebenden Tochter, damals Student in Regensburg, empfohlen hatte. Bei meinem Gespräch mit den Beamten der Sonderkommission wurde mir die Frage gestellt, ob der mögliche Verfasser/Schreiber des Textes wegen der Auffälligkeiten in den Formulierungen ein Ausländer sein könnte. Obwohl die Sonderkommission schon damals einen bestimmten Tatverdächtigen festgenommen h a t t e , 3 erhielt ich keinen Hinweis auf irgendwelche Verdachtsmomente, so daß ich mich bei meinem Gutachten nur auf den Text selbst und die in ihm enthaltenen Merkmale beziehen konnte.

Von "zwei verdächtigen Männern " wurde z.B. noch - ohne nähere Hinweise - im schon erwähnten Artikel in der Braunschweiger Zeitung vom 22.1.1977, S. 3 gesprochen. Das genaue Datum konnte ich aus meinen Unterlagen nicht mehr rekonstruieren, der Erhalt meines ersten Gutachtens wurde jedoch durch die Kriminalpolizei am 1.2.1977 bestätigt. Nach dem erinnernden Bericht in der Braunschweiger Zeitung vom 24.8.1989, S. 19 erfolgte die Festnahme bereits am 23.1.1977.

341

2. Das erste Textgutachten Aufgrund meines beschränkten Vorwissens, das im wesentlichen der lokalen Presseberichterstattung e n t s t a m m t e , und dem wenigen, was ich im Gespräch mit der Kriminalpolizei e r f u h r , formulierte ich drei Annahmen, die ich durch die Textanalyse überprüfen, d . h . f a l s i f i z i e r e n bzw. bestätigen wollte: (1) (2) (3)

Der Text

wurde von einem

Ausländer verfaßt

(und ge-

schrieben) . Der Text wurde von einem Deutschen mit eingeschränkter ("restringierter") Kompetenz v e r f a ß t (und geschrieben). Der Text wurde von einem der Opfer, z . B . dem Bankdirektor selbst, nach Diktat durch den/die Täter geschrieben.

Bei der Überprüfung stellte ich - nach Konsultation von Kollegen - folgende Überlegungen an: 6

Zu (1) :

Da ich mich zu dieser Zeit im Rahmen meiner Lehr- und Forschungstätigkeit stärker mit der Problematik der sogenannten Gastarbeitersprachen beschäftigte, 7 bei der Überprüfung der ersten Annahme von der (nicht unproblematischen) Restriktion aus, daß mit dem Ausdruck Ausländer ( n u r ) der Typ "Gastarbeiter" gemeint sei, dessen (meist geringere) Deutschfertigkeiten aus ungesteuertem L2-Erwerb resultieren. Fixiert auf diese Vorstellung befragte ich daher (mit Schreiben vom 1.2.1977) einen soziolinguistischen Experten für "Gastarbeitersprache", der in seiner Antwort (vom 4.2.1977) Im folgenden werden die Argumente des Gutachtens in kompakter und leicht redigierter Form wiedergegeben. Mögliche neue Argumente oder Überlegungen aus heutiger Sicht werden explizit hinzugefügt. In diesem Zusammenhang entstanden z.B. der kritische Forschungsbericht Cherubim, Müller (1978) und andere, kleinere Arbeiten in verschiedenen Zeitschriften.

342

die Frage, ob es sich um einen Ausländer handeln könnte, zunächst spontan bejahte, dann aber wegen seines schwachen Vorwissens über die Sache und wegen des geringen Textumfangs glaubte, eine zu unsichere Basis zu haben, um in einem solchen schwerwiegenden Fall Argumente für eine Entscheidung liefern zu können (Schreiben vom 15.2.1977). 8 Im Unterschied zu diesem Experten, dessen Argumente mir ja nicht zur Verfügung standen, fand ich im Text keine deutlichen Hinweise, die auf einen ausländischen Autor (im eingeschränkten Sinne) schließen ließen. Einfache sprachliche Abweichungen wie z . B . Z. 7 : . . . d u r c h Presse (Artikelauslassung) sind auch in regionaler Umgangssprache häufig zu beobachten, andere Abweichungen (dazu vgl. unten) schienen so komplexer Natur zu sein, daß sie bei einem Ausländer recht subtile Kenntnis der Regeln des Deutschen voraussetzen oder bei fortgeschrittenen Lernern infolge der stärkeren Selbstkontrolle eher vermieden würden. 9 Eher gegen die Autorschaft eines Ausländers (i.S. eines Gastarbeiters) sprachen m. E. komplizierte Wortbildungen im Text wie verwaltungstechnisch (Z. 4) , Befreiungs-Geheimorqanisation (Z. 1 2 ) , ferner Abstrakta wie Überwindung (Z. 4) und Schwierigkeiten (Z. 5) , die kaum zum "alltäglichen" Repertoire eines Ausländers dieses Typs gehören könnten. 1 0

8

9 10

Ich darf wegen der Wichtigkeit der Sache seine Argumente hier wörtlich anführen. Er schrieb u.a.: "Verstehen Sie bitte, dass ich mich auf derart schwierige Probleme auch auf dem Hintergrund meines insgesamt geringen wissenschaftlichen Wissens nicht einlassen kann. Meine Behauptung (sc. daß es unbedingt ein Ausländer sei D. Ch.) kann ich mit plausiblen Argumenten belegen, beweisen (im Original unterstrichen D. C h . ) kann ich sie aufgrund des geringen Materials nicht. Spekulatives Wissen potentiell für Entscheidungen zur Verfügung zu stellen, scheint mir jedoch zu riskant." Das war aber schon damals ein Annahme, die in der Sprachlernforschung bisher keine Bestätigung fand. Dagegen könnte jedoch leicht eingewendet werden, daß der Inhalt dieser Ausdrücke keineswegs abstrakt, sondern eher vage sei und daß solche Einheiten durchaus als (formelhafte) Versatzstücke gelernt sein konnten.

343

Zu ( 2 ) :

Für die Annahme eines deutschen Verfassers mit eher restringierter Kompetenz schienen mir vor allem folgende Textmerkmale zu sprechen: 1 1 a) Der auffällige Gebrauch situationsverweisender (deiktischer) Elemente wie das ungedeckte auch (Z. 2) und die unmotivierte kausale Verknüpfung da (Z. 3 ) ; b) die unsichere Verwendung von Phraseologismen wie darf eine Frist von acht Tagen nicht überschritten werden (Z. 5 f . ) , wobei durch die handschriftliche Korrektur von nicht überschritten zu verwendet ja gerade die Formel zerstört und sinnwidrig umgedeutet wird (Drohung wird zu Erlaubnis). Ähnliches gilt für die Formulierung werden Sie eine ... Befreiungsaktion kennenlernen ( Z . 9 f . ) , wo eine stereotype Drohformel (werden Sie mich kennenlernen) durch Einfügung eines neuen Elements (Befreiungsaktion) gleichsam aufgebrochen bzw. verfremdet wird; 1 2 c) Fehlkonstruktionen wie das verknappende, zeugmatische Als erster wird Andreas Bader verlangt und sein Entlassungstermin durch Presse veröffentlicht werden (Z. 6 f f . ) , wobei offensichtlich zwei Satzmuster (es wird verlangt, daß ... und sein Entlassungstermin (soll) veröffentlicht werden) so miteinander verschnitten sind, daß die hyperkorrekte Verbperiphrase wird veröffentlicht werden erzeugt wird; 1 3 11 12

13

Vgl. dazu die kritische Diskussion bei Dittear (1973: 22 f f ) , Neuland (1975), Löfflet (1985: 179 f f . ) . Man muß sich aber auch hier darüber i· klaren sein, daß derartige Befunde mehrdeutig sind: Sowohl die Formelhaftigkeit (Stereotypie) wie deren Nichtbeherrschung können für eine restringierte Kompetenz sprechen, letzteres sogar auch f ü r eine höhere Verfügbarkeit, vgl. Bebermeyer, Bebermeyer (1977). Auch hier findet sich wieder die hyperkorrekte Futurbildung ...da es sich ... handeln wird (statt des einfachen handeln). Eine Hyperkorrektur stellt auch das fornelhafte Dativ-e in der Schlußfornel la Auftrage (Z.12) dar.

344

d) handlungslogische Brüche wie die bereits erwähnte Fristsetzung (Z. 3 f f . ) , die verständnisvoll begründet statt als Druckmittel eingesetzt wird: Da es sich um die Überwindung technischer u. politischer Schwierigkeiten handeln wird (Z. 3 f f . ) statt eines zu erwartenden Auch wenn es sich um die Überwindung ... handeln w i r d , darf ... nicht überschritten werden . . . ; e) die Mischung von Merkmalen eines "amtlichen" Stils (Z. 8 f.: Sollte dieser Forderung nicht nachgegeben werden) mit Merkmalen eines emotional aufgeladenen "Alltagsstils" (Z. 9 f f . : werden Sie eine völlig neue Befreiungsaktion kennenlernen, und zwar mit den brutalsten und bisher noch völlig unbekannten M i t t e l n ) , 1 4

Als wenig aussagekräftig sah ich in diesem Zusammenhang die beiden orthographischen Abweichungen an, von denen die eine, das nicht-zufällige Bader statt Baader (Z. 3 und 7) , möglicherweise eine phonetische Schreibung darstellt, während die andere (Z. 3: sämmtlicher) nachträglich korrigiert wurde. Aufgrund dieser Beobachtungen kam ich zu folgenden folgerungen hinsichtlich der zweiten Annahme:

Schlu3~

Die SUBTILITÄT der Abweichungen spricht eher für eine Verfasserschaft von Deutschen, da hier Regeln durchbrochen werden, die bereits "höhere" Textfertigkeiten voraussetzen; * s die TYPIK der Abweichungen spricht eher für eine fehlende Sicherheit im Sprachgebrauch bei nicht-alltägli-

14 15

Vgl. dazu z.B Kiesel (1970: 275 f f . ) und zur Mustermischung allgemein jetzt Sandig (1989). Hier hätte jedoch auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden müssen, daß der Verfasser des Textes ein fortgeschrittener ausländischer Lerner (d.h. kein Gastarbeiter) gewesen wäre.

345

eben Anlässen; 1 6 die QUANTITÄT der Abweichungen deutet auf einen Deutschen mit sozialbedingt geringerer Sprachkompetenz hin; allerdings ist die extreme Streßsituation zu veranschlagen, die auch bei einem kompetenteren Sprecher gewisse Folgen haben würde.

Zu ( 3 ) :

Gegen die anfänglich geäußerte Annahme, daß eines der Mordopfer, nämlich der Bankdirektor selbst, den Text nach Diktat geschrieben habe, könnte der nicht-zufällige Orthographieverstoß Bader statt Baader (Z. 3 und 7) sprechen, da einem leitenden Angestellten der damals sehr bekannte Name Andreas Baaders aus der Presse wohlbekannt gewesen sein müßte, so daß er sich nicht zweimal in einem so kurzen Text verschrieben hätte. Doch sind hier auch andere Erklärungen möglich: z . B . streßbedingte Abweichung, politisches Desinteresse, habitualisierte Fehlschreibung (bei Namensähnlichkeit von Bekannten) u. a. m. Stärker scheinen jedoch hier die andere Verschreibung (Z. 3: sämmtliche) und die schwerwiegenden Abweichungen der oben skizzierten Art ins Gewicht zu f a l l e n , da man vermuten kann, daß ein im schriftlichen Sprachgebrauch sehr geübter Mann auch gegen das Diktat die gröbsten Abweichungen stillschweigend/unbewußt korrigiert bzw. die nicht hörbare Abweichung sämmtliche erst gar nicht geschrieben h ä t t e . J 7 16 17

Allerdings wird gerade der Situationsfaktor gegen die Festschreibung restringierter Sprechweise auf soziale Unterschichten ins Feld g e f ü h r t , vgl. Dittmar (1973 a . a . O . ) . Ein anders gelagerter Fall fand sich in einem Bericht der Braunschweiger Zeitung vom 20.8.1987: Der US-Journalist Glass erzählte von seiner Geiselhaft im Libanon, der er soeben entkommen war, dap er vor einer Videokamera einen Text seiner Entführer verlesen mußte, in dem er gestand, ein CIA-Agent zu sein. Dann wörtlich: "Ich habe mit Südstaatenakzent gesprochen, um anzudeuten, daß ich in Südbeirut gefangengehalten werde, und auch die grammatischen Fehler gemacht, die sie in den Text hineingeschrieben hatten, um zu zeigen, daß es nicht meine Worte waren."

346

Die neue Ausgangslage Nach Abgabe meines Gutachtens, dessen Eingang am 1.2.1977 bestätigt wurde, hörte ich von der Ermittlungsbehörde nichts m e h r . 1 8 Inzwischen war jedoch durch die Medien bekannt geworden, daß ein der Tat verdächtigter Exil-Ungar bereits am 23.1.1977 in Hamburg festgenommen worden war. Die weitere, sich f a s t ein Jahr hinziehende Ermittlungsarbeit erbrachte nun gegen diesen Mann solche schwerwiegenden Verdachtsmomente, daß Anklage erhoben und die Hauptverhandlung vor einer Braunschweiger Schwur19 gerichtskammer am 1.2.1978 e r ö f f n e t werden konnte. Während der Verhandlung, die von der Braunschweiger Bevölkerung mit großem Interesse verfolgt wurde und noch bis zum 12.5.1978 dauern s o l l t e , 2 0 rief mich der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer an und bat mich erneut um ein Gutachten zum selben Text (der T a t s c h r i f t ) , was ich zusagte. In einem Schreiben des Richters, das der o f f i z i e l l e n Ladung zur Hauptverhandlung beigefügt war, hieß es dazu wörtlich: "In der Strafsache gegen F. S. nehme ich Bezug auf unser Ferngespräch vom 12.4.1978 und bitte Sie, am 21. April 1978 um 9.00 Uhr dem hiesigen Gericht ein Gutachten zur Tex(t)analyse des sogenannten Erpresserbriefes zu erstatten. Eine Kopie des Briefes füge ich bei. Es interessiert die Frage, ob der Brief von einem Deutschen oder einem Ausländer verfaßt ist oder von einem Ausländer verfaßt 18

19

20

Man hatte mir jedoch im Schreiben vom 1.2.1977 mitgeteilt, daß man meine Stellungnahme auswerten werde und h o f f e , mir "zu gegebener Zeit mitteilen zu können, inwieweit die (von mir) erstellte Analyse hinsichtlich des Urhebers der Tatschrift zutreffend war." In gewohnter Manier hatte die BILD-Zeitung schon vorher bildlich und sprachlich einer emotionalen Vorverurteilung zugearbeitet: Das Titelblatt der Ausgabe Nr. 23/4 vom 28.1.1977 brachte eine Frontalansicht des Kopfes des Tatverdächtigen sowie ein Bild seiner Hände verbunden mit folgendem Text:"Braunschweig. Der Würger? F.S. (43), ein kräftiger Ungar mit kurzen Beinen und großen fleischigen Händen. Gegen ihn hat der Richter Haftbefehl erlassen. Er vird dringend des fünffachen Mordes verdächtigt. Er soll den Bankdirektor W.K. und seine Familie erdrosselt haben - aus Habgier. Es wäre nicht das erste Verbrechen im Leben des F.S. ...". Die Wiederaufnahme des Textes auf der letzten Seite derselben Ausgabe ließ dann das Fragezeichen hinter dem Ausdruck Würger fallen. Vgl. den schon mehrfach zitierten, retrospektiven Bericht der Braunschweiger Zeitung vom 24.8.1989.

347

sein kann, der mehr als 20 Jahre in der Bundesrepublik lebt und Bit einer Deutschen verheiratet war." 21 Außer der Tatschrift (bzw. dem fingierten Erpresserbrief) waren noch zwei Kopien handschriftlicher Briefe des Angeklagten (zur Zeit der Abfassung noch Tatverdächtigen) beigefügt worden: - ein Schreiben, das der Mann aus der Untersuchungshaftanstalt an eine Bekannte gerichtet hatte, mit der Bitte um Regelung privater Angelegenheiten, - "ferner die Kopie eines Briefes, der bei der Zeugin I. Seh. gefunden wurde und nach deren Aussage im wesentlichen (siel D. C h . ) eine Abschrift eines vom Angeklagten verfaßten Schriftstückes darstellt." 2 » Außer diesen Texten wurden mir später noch zwei Kopien von Briefen zugänglich gemacht, die der Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft an das Braunschweiger Landgericht gerichtet hatte und in denen er sich (wenn auch nicht o f f i z i e l l ) über seine Haftbedingungen beschwerte. 2 3 Gegenüber der Ausgangssituation bei der Erstellung des ersten Textgutachtens für die Sonderkommission der Kriminalpolizei hatte ich es also jetzt mit einer veränderten Sachlage und neuen Aufgaben zu tun: - Es ging nicht mehr um die Auffindung möglicher TextverfasserX-schreiber, die der Tat verdächtigt sein oder in irgendeinem Zusammenhang damit stehen könnten, sondern 21 22 23

Schreiben des Vorsitzenden Richters vom 12.4.1978 an «ich. a.a.O. - Vgl. die Textabschriften l und 2 im Anhang. Wie ein Bericht der Braunschweiger Zeitung vom 22.4.1978 deutlich macht, wurde mindestens einer der Briefe auch in der Hauptverhandlung verlesen, um den Vorwurf des Angeklagten zurückzuweisen, die Zeugen, die gegen ihn ausgesagt hätten, seien "Schwachsinnige und Verbrecher" und ihre Aussage "gezwungen" bzw. (wie die Verteidiger es formulierten) "getürkt" worden.

348

um die Zuordnung von bestimmten TEXTEIGENSCHAFTEN zur SPRACHKOMPETENZ eines bestimmten Verdächtigen/Angeklagten, die jedoch erst aus verschiedenen Hinweisen zu rekonstruieren w a r . - Es ging nicht mehr um die Frage, ob ein möglicher Textverfasser/-schreiber Ausländer sein könnte, sondern um die konkrete Frage, ob einem Ausländer des Typs, den der Angeklagte repräsentierte, diejenigen FÄHIGKEITEN und UNFÄHIGKEITEN zuzutrauen wären, die mit der besonderen Form des vorliegenden Textes (der T a t s c h r i f t ) und weiterer, vergleichbarer Texte kompatibel w a r e n . 2 4 - Und es ging schließlich nicht mehr nur um einen Vergleich von Text- und Kompetenzmerkmalen möglicher Textproduzenten, sondern auch um den Vergleich von MERKMALSSTRUKTUREN verschiedener Texte, von denen einige sicher vom Angeklagten verfaßt oder - nach Zeugenaussagen - wenigstens doch von ihm konzipiert waren. Zur Erschließung der Sprachkompetenz des Angeklagten, d. h. seiner sprachlichen Möglichkeiten positiver wie negativer Art, standen mir allerdings nur wenige Informationen zur Verfügung, die ich z. T. vom Vorsitzenden Richter e r h i e l t , z. T. auch aus der Presse entnehmen konnte.

4. Das zweite Gutachten In meinem G u t a c h t e n , das ich in der Hauptverhandlung am 21.4.1978 vortrug, ging ich zunächst (1) kurz auf die Vorgeschichte ein, fragte dann (2) nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten eines solchen Gutachtens, speziell, welche Bew e i s k r a f t ihm zukommen könne, erläuterte dann ( 3 ) , welche " a u f f ä l l i g e n " Merkmale in der sogenannten Tatschrift festgestellt und wie sie interpretiert werden könnten, behandelte 24

An einen direkten Schluß von bestimmten Textmerkmalen auf bestimmtes Individuum war schon hier nicht zu denken.

ein

349

danach (4) die Informationen zur Deutsch-Kompetenz des Angeklagten und beschäftigte mich schlie31ich (5) mit Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten in den unterschiedlichen, mir vorliegenden Texten, um daraus Schlußfolgerungen hinsichtlich der Frage zu ziehen, ob der Angklagte als Verfasser der Tatschrift in Frage kommen könne oder (was bedeutsamer wäre) ausgeschlossen werden müsse. Da ich einiges davon bereits oben (1. bis 3 . ) ausgeführt habe, kann ich mich im folgenden auf die Punkte beschränken, die bisher nicht behandelt wurden. Gegenüber dem Originalgutachten fasse ich die Argumentation hier etwas zusammen. Zu (2) :

Texte, die für bestimmte Situationen und Zwecke v e r f a ß t werden, stellen immer Ergebnisse von Auswahlen aus sprachlichen Möglichkeiten dar, die den Verfassern zur Verfügung stehen, zeigen aber unter Umständen auch deutlich, welche Möglichkeiten nicht oder nur eingeschränkt beherrscht w e r d e n 2 5 . Es scheint daher auch möglich zu sein, über bestimmte vorliegende Textmerkmale und die Bedingungen, unter denen die Texte entstanden sind, rückzuschließen auf die besonderen Voraussetzungen von Menschen, die als Textproduzenten in Frage kommen könnten. Die erfolgreiche Verwendung von Sprache basiert aber gerade auf der Beherrschung hochgradig konventionalisierter Mittel bis hin zu stark stereotypisierten Formulierungen, Klischees und R i t u a l e n , die tagtäglich von sehr vielen Menschen innerhalb einer Sprachgemeinschaft genutzt werden.

25

Im Alltag ist das Phänomen der sog. Stilblüten geläufig, deren Qualität bisher sprachwissenschaftlich nicht hinreichend untersucht wurde. Doch vgl. Sandig (1981) und meine eigenen Überlegungen in Cherubim (1982). Ein schwieriges Problem ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von Performanz- vs. Kompetenzfehlern, vgl. Raabe (1979).

350

Einzelne Merkmale, die zwar individuell unterschiedlich verteilt sind, dennoch aber nicht "ideolektale" Besonderheiten im Sinne einer exklusiven Verwendung belegen, 2 6 besagen also wenig, lassen bestenfalls und nur bei Vorliegen größerer Mengen von Vergleichstexten auf Gruppen von Personen schließen, die unter ähnlichen Bedingungen sozialisiert wurden und gelernt haben, ihre Sprache zu gebrauchen. Schlüsse auf einzelne Personen, die unbekannt oder auch bekannt sind,

sind

von daher als problematisch einzuschätzen. Zusammenhänge zwischen vorliegenden Texten und eventuellen Textproduzenten können lediglich über komplexe Merkmalstrukturen, heterogene Abweichungsprofile und a u f f ä l l i g e Habitualisierungen wahrscheinlich gemacht werden,

ein Verfahren,

dessen

effektive

Möglichkeiten bisher noch nicht hinreichend bekannt sind. 2 7 Zu ( 3 ) :

Zu den "auffälligen" Textmerkmalen ist

oben bereits einiges

ausgeführt worden. Ich fasse hier noch einmal meine (damalige) Interpretation der Befunde zusammen.

26

27

Echte ideolektale Besonderheiten in diesem Sinne dürften außerordentlich selten sein (ebenso wie sog. Sprachschöpfungen historisch kaum auszumachen sind). Am ehesten wird man diesen Status noch den flüchtigen kindersprachlichen Abweichungen zubilligen, deren Motivation der erwachsenen Umgebung unklar ist, z.B. wallo f ü r "Löffel", hütt für "Löwe", die aber kommunikativ meist rasch eingeebnet werden und daher keine sprachverändernde K r a f t entfalten können. Vgl. Cherubim (1980). Etwas anders stellt sich freilich das Problem bei den ideolektalen Besonderheiten, die mit der menschlichen Stimme und deren Eigenschaften (vgl. dazu z.B. Hanunarström 1980, Slembek 1981, Künzel 1987) bzw. der Schrift (vgl. Michel 1982) zu tun haben. Das zu beurteilen, liegt aber außerhalb meiner Kompetenz. Das gilt sowohl für die älteren Aachener Untersuchungen (Fucks 1968), die mit quantitativen Methoden arbeiteten, wie für die unterschiedlichen Versuche, Autorschaften für anonyme literarische Texte nachzuweisen (vgl. Cherubim 1982: 69, Anm. 13) und ganz besonders für die problematischen textlinguistischen Analysen, wie sie von R . H . Drommel u . a . in letzter Zeit propagiert wurden. V g l . dazu Drommel (1987a und 1987b), Kipping (1988); kritisch dazu und insgesamt zur forensischen Textanalyse jetzt Bruckner (1989), Wetz (1989), K n i f f k a (1989).

351

Der Text der sogenannten Tatschrift unpersönlichen,

ist

weithin durch einen

gleichsam "amtlichen" Stil bestimmt, wie er

oft für Verwaltungs- oder Rechtstexte behauptet w i r d . 2 8 Indizien d a f ü r können die zahlreichen passivischen und unpersönlich gehaltenen Ausdrücke im Text sein. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß eine Reihe von Fachausdrücken der

"Verwaltungssprache" oder

des Rechtswesens

vorkommen: Freilassung, verwaltungstechnisch, Frist, Entlassungstermin. Die damit gegebene Formelhaftigkeit wird aber offenkundig nicht sicher beherrscht b z w . durchgehalten. Auf argumentationsb z w . situationslogische Brüche, semantischsyntaktische Inkompatibilitäten, Hyperkorrekturen und Stilbrüche h a t t e ich schon konkret hingewiesen. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, daß der Verfasser des Textes versucht h a t , einen bestimmten ("amtlichen") Stil zu imitieren, um seine Intention (vorgetäuschte Erpressung bzw. Ablenkung) besonders wirksam auszudrücken. Dabei ist jedoch festzustellen,

daß er

diesen

Stil

weder

pragmatisch noch

grammatisch so sicher beherrscht, daß dadurch ein anderer, stark a f f e k t b e t o n t e r , alltäglicher Stil überdeckt werden kann.29 Mit dieser vagen Charakteristik ist Autorschaftsnachweis

führbar.

freilich kein direkter

Vielmehr

handelt

es

sich um

Merkmale, die für viele Menschen z u t r e f f e n können, deren "Ideolekte" ähnlichen biographisch-sozialen Bedingungen unterlagen, deren Sprechstile eine vergleichbare soziale Genese aufweisen und analoge Habitualisierungen zur Folge hatt e n . 3 0 Um Beobachtungen dieser Art aber dennoch für den vorliegenden Fall auswerten zu können, waren sie mit den

28 29 30

Vgl. dazu jetzt Dobnig-Jülch (1985), die den damit verbundenen Vorurteilen nachgegangen ist. Vgl. zu diesen Kategorien einer Funktionalstilistik Kiesel (1970) und schon Havers (1931). Vgl. dazu Wintermantel (1973), Hall (1978) und grundsätzlich auch Fourquet (1968), Rupp, Wiesmann (1970).

352

sprachlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Angeklagten in Beziehung zu setzen. Zu ( 4 ) : Vom Angeklagten war mir bekannt, daß er 1956, nach dem sogenannten Ungarnaufstand, in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war, zum Zeitpunkt des Verfahrens also bereits seit über 20 Jahren hier lebte. Es entzog sich jedoch meiner Kenntnis, ob er bereits in seinem Herkunftsland Deutsch lernte oder mit der deutschen Sprache in Berührung kam, obwohl das nicht ganz unwahrscheinlich ist. 3 1 Bei seiner Ank u n f t in der Bundesrepublik war der Angeklagte ca. 22 Jahre alt. Im Jahre 1960 heiratete er eine deutsche Frau, von der er allerdings schon bald (1964) wieder geschieden wurde. Es ist sicher anzunehmen, daß er, bevor er zum ersten Mal s t r a f f ä l l i g wurde, bereits mit deutschen Muttersprachlern intensiven Kontakt h a t t e , z . B . im B e r u f , in der Freizeit usw. Intensiven Kontakt hat er sicher während seiner langen H a f t z e i t e n gehabt, was auch die verschiedenen Zeugenaussagen belegten. Mir war zudem bekannt, daß er während seiner bisherigen H a f t z e i t den deutschen Hauptschulabschluß gemacht h a t , was u. a. systematischen Unterricht in deutscher Sprache einschließt. Nimmt man nun alle diese Bedingungen beim Erwerb der deutschen Sprache zusammen, so ist nach aktuellen Forschungsergebnissen zum ungesteuerten Erwerb des Deutschen durch Ausländer, wie sie in einigen Gastarbeiterprojekten erarbeitet w u r d e n , 3 2 damit zu rechnen, daß der Angeklagte 31

32

Wie ich von ungarischen Fachkollegen weiß, ist Ungarn nicht nur das Land in Europa, wo Deutsch als Fremdsprache am meisten gesprochen wird, sondern es gibt dort auch eine traditionell bedeutende deutschsprachige Minderheit, die nach Volkszählungen in der Nachkriegszeit auf ca. 100.000 Sprecher geschätzt wird. Hier ist besonders auf die Arbeiten des Heidelberger Projekts zu verweisen, wonach z . B . ständiger Umgang mit Deutschen, Heirat mit einer Deutschen, frühes Einreisealter, systematischer Unterricht zu den Faktoren zählen, die innerhalb einer bestimmten Zeit die Erreichung eines hohen Sprachniveaus erklären können. Vgl. Heidelberger Forschungsprojekt (1975), (1977).

353

eine relativ gute Beherrschung der deutschen Sprache erreichen konnte, auch wenn er für spezielle Zwecke und höhere Anforderungen (z. B. im Umgang mit Institutionen) vielleicht nicht auf das Niveau seiner sonst 33 vergleichbaren - Kollegen gelangen konnte. Zu ( 5 ) :

Der Vergleich mit anderen Texten, die dem Angeklagten als Verfasser sicher oder nur aufgrund von Zeugenaussagen zugeordnet wurden, konnte aufgrund der kurzen Z e i t , die mir zur Verfügung stand, nur punktuell erfolgen. Der erste Text, ein bei der Zeugin I. Seh. gefundener Erpressungsbrief, sollte nach Aussage der Zeugin "im wesentlichen" eine Abschrift eines vom Angeklagten verfaßten Schriftstückes sein, das möglicherweise als Fingerübung für einen E r n s t f a l l diente. Obwohl der Text sich für den Vergleich besonders eignete, da er von Inhalt und Funktion der sogenannten T a t s c h r i f t sehr ähnelte, mußte doch bedacht werden, daß schon wegen der expliziten Einschränkung durch die Zeugen ( " i m wesentlichen") der genaue Anteil des Angeklagten von möglichen Zusätzen oder Veränderungen bei der Abschrift nicht abgehoben werden k o n n t e . 3 4 Der zweite Text, ein Brief des Angeklagten aus der Untersuchungshaft, stammte ohne Zweifel vom Angeklagten selber, war aber hinsichtlich Entstehungsbedingungen und Funktion nicht mit der sogenannten Tatschrift vergleichbar. Dennoch wurden beide Texte auf ihre stilistischen Merkmale hin überprüft.

33

34

Diese letzte Annahme mußte aber angesichts des spärlichen Vorwissens über den Angeklagten reine Spekulation bleiben, zumal auch bei vergleichbaren deutschsprachigen Personen Unsicherheiten im Umgang mit Behörden durchaus "normal" sind. Es ist ebenfalls daran zu erinnern, daß nach Auffassung des Angeklagten, die er mehrfach während des Prozesses äußerte, die Zeugin I. Seh. unzuverlässig wäre bzw. - aus irgendwelchen Gründen - die Unwahrheit sagte. Ahnliches vertrat auch die Verteidigung, die bis zuletzt darum bemüht war, die Glaubwürdigkeit dieser Zeugin zu erschüttern. Vgl. Braunschweiger Zeitung vom 6.5.1978.

354

Wie schon in der sogenannten Tatschrift

findet sich auch im

zuerst genannten Text (dem Probe-Erpresserschreiben) der

Wechsel

von

formelhaft-stereotypen

mit

umgangs-

sprachlich spontanen Äußerungen, etwa Jetzt liegt es in Ihren Händen, ob Sie jemals Ihre Angehörigen lebend sehen werden vs. Nun versuchen Sie es nicht, uns mit dem Geld zu bescheißen, die Unsicherheit im Gebrauch fester Wendungen oder konventionalisierter Bilder, etwa Auf

Ihren

Arbeitsplatz

haben

"wir" die

Verantwortung

voll übernommen, die affektbetonten, nahezu infantil wirkenden übertreibungen, etwa Die Aktion ist und ist

von ausgebildeten Männern geplant worden

100% kontrolliert,

die Vortäuschung eines anderen Verfasser-

bzw. Täter-

kreises in der Überschrift Im A u f t r a g der Roten-Armee-Fraktion. Auch im zweiten Schreiben,

das trotz mancher grammatischer

Fehler doch den hohen Grad der Beherrschung des Deutschen durch den Angeklagten belegt, finden sich deutlich Hinweise auf

einen stark mit formelhaften Versatzstücken arbeitenden Schreibstil, auf Unsicherheiten im Umgang mit Formeln und komplexeren Satzgefügen,

355

auf

die Neigung, Sachverhalte oder Zustände drastisch

auszumalen, d. h. auf hohe A f f e k t a n t e i l e . Alle Beobachtungen geben nur gewisse Tendenzen wieder, müßten aber noch detaillierter belegt und d i f f e r e n z i e r t e r interpretiert werden, als das hier geschehen konnte. Für sich genommen besagen sie zudem wenig, vielleicht weisen sie nur auf bestimmte Situationsfaktoren hin,

die für die Textpro-

duktion konstitutiv waren, z. B. geringere sprachliche

Fle-

xibilität, Emotionalität und Unsicherheit, Kenntnis bestimmter Stilmuster usw. Aussagekraft erhalten sie erst im Zusammenhang mit anderen Beobachtungen, etwa wenn dadurch sprachliche Habitualisierungen

oder

typische

Defizite

werden, die man zwar auch bei anderen Personen

indiziert

finden kann,

die sich aber ebenso mit einer bestimmten Person

verbinden

lassen. In diesem Zusammenhang ist

nun auch eine Äußerung interes-

sant, die der Angeklagte während der Verhandlung machte und die von der anwesenden Presse aufgezeichnet wurde, nämlich der Zwischenruf des Angeklagten, von dem die Braunschweiger Zeitung vom 29.3.1978 berichtete und der sich auf die Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen bezog: Er ist vergewaltigt worden, von den Anwesenden hier. Er ist vergewaltigt worden, die Unwahrheit zu sagen. Und eine dem Brief

aus der H a f t vergleichbare Äußerung fand

sich bereits in einem Bericht der BILD-Zeitung vom 1.2.1977, die sich auf einen Brief des (damals noch) Tatverdächtigen bezog: Ich bin am 23.1.1977 in Hamburg von der Polizei festgenommen worden. Mit der Begründung, in einem Mordfall als Mittäter verdächtig zu sein. Ich bitte sehr darum, mir Vertrauen und ein bigchen Glauben zu schenken. Ich bin kein Mörder l An meinen Händen klebt auch kein Blut und es wird auch niemals eine Mörderhand werden. Ich werde wie ein Hund in einer Beruhiqunqszelle. ungerechterweise, gefangengehalten - Tag und Nacht von Licht und heißer Luft bestrahlt.

356

Kein Wasser, keine Toilette, kein Tisch und kein Stuhl. Darf nicht rauchen, keine Schreibvaren, keine Toilettensachen, nicht mal Zähneputzen und rasieren. Ich bin dadurch wehrlos den Anschuldigungen ausgeliefert und völlig am Verzweifeln." 3 3 Insgesamt kam ich zu folgendem Ergebnis: Obwohl die gemachten Einschränkungen hinsichtlich der Beweiskraft solcher Gutachten und der Vergleichbarkeit der mitherangezogenen Texte unbedingt in Rechnung gestellt werden müssen, können doch gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Merkmalen der Texte und den erschlossenen sprachlichen Fähigkeiten des Angeklagten nicht übersehen werden, während deutliche D i f f e r e n z e n von mir nicht gefunden wurden. Die festgestellten Ähnlichkeiten können sicher unterschiedlich erklärt werden oder sogar z u f ä l l i g sein. Man kann also daraus nicht einen (sicheren) Schluß ziehen, daß der Angeklagte die sogenannte Tatschrift verfaßt hat oder für ihre Abfassung verantwortlich w a r . Man kann aber aus diesem Befund auch nicht den Schluß ziehen, daß er nicht Verfasser oder Urheber dieses Textes hätte sein können. Positiv ausgedrückt heißt das, daß der Angeklagte meiner Einschätzung nach sehr wohl in der Lage w a r , eine solche Tatschrift zu verfassen, da er einerseits über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt haben d ü r f t e , andererseits aber aufgrund seiner besonderen Sozialisation in der Fremdsprache nicht jene Sicherheit erwerben konnte, die für die Produktion angemessener und grammatisch fehlerfrei formulierter Texte in bestimmten formellen Situationen notwendig war.

35

Auf die beiden mir später zugänglich gemachten Briefe des Angeklagten (damals noch Tatverdächtigen) aus der Haft an das Braunschweiger Landgericht konnte ich während der Verhandlung nicht mehr eingehen. Auch hier finden sich zahlreiche vergleichbare Züge.

357

5. Nachträgliche Beurteilung Am 12.5.1978 wurde der Mordprozeß gegen F. S. vor der Schwurgerichtskammer beim Landgericht Braunschweig abgeschlossen und das Urteil verkündet. Der Angeklagte wurde "des f ü n f f a c h e n Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub und räuberischer Erpressung" schuldig gesprochen und zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe v e r u r t e i l t . 3 ' In der über drei Stunden dauernden, mündlichen Begründung des Urteils wurde auch die Bedeutung des Textgutachtens gewürdigt. Die örtliche Presse schrieb dazu: "Sodann erklärte der Vorsitzende Richter F., weder aus den am Tatort vorgefundenen Handschuhspuren, noch aus den Speichelanhaftungen der Zigarettenreste oder dem Bindegarn sowie Stoffasern oder Tierhaaren seien Belastungsmomente hergeleitet worden. Ebenso sei nicht zwingend anzunehmen, daß S. den am Tatort gefundenen Erpresserbrief geschrieben habe. Keines der objektiven Zeichen schließe jedoch eine Täterschaft des Angeklagten aus." 9 7 Zur Verurteilung des Angeklagten führten in diesem Indizienprozeß eine Fülle von anderen "objektiven Beweiszeichen", die sich um vier Punkte gruppieren ließen: 1. den Fund des geraubten Geldes, 2. die Aussagen von zwei ehemaligen Mithäftlingen des S . , denen gegenüber er Andeutungen über die Tat gemacht haben soll, 3. Zeugenaussagen über einen Tatplan, den S. entwickelt hatte und der dem Tathergang sehr

36

37

"Außerdem verhängte das Gericht f ü r einen 1970 begangenen versuchten Totschlag und versuchten Einbruchdiebstahl mit Waffen i· Rückfall unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung zwölf Jahre Freiheitsstrafe": Braunschweiger Zeitung vom 13.5.1978, S. 1. A . a . O . , S.3 - Eine ähnliche Formulierung fand sich schon in der Berichterstattung über den Verhandlungstag, an den ich das Gutachten vortrug. Vgl. Braunschweiger Zeitung vom 22.4.1978: "Ferner sollte ein Gutachter darüber aussagen, ob die in dem Erpresserbrief ... gebrauchten Formulierungen von S. standen könnten, oder ob es ihm als Ausländer unmöglich sei, diesen Brief entworfen zu haben. Auch dieser Gutachter schloß die Urheberschaft des Angeklagten nicht aus." - Leider war es mir bis zur Fertigstellung dieses Berichts nicht möglich, die schriftliche Urteilsbegründung in den Akten einzusehen. Eine Kopie konnte air, lt. Mitteilung der Braunschweiger Staatsanwaltschaft, bei· Landgericht nicht zur Verfügung gestellt werden.

358

ähnelte,

4. unhaltbare Alibis des Angeklagten

und Tatort. Insgesamt

für

Tatzeit

38

kann man also feststellen, daß mein Textgutachten

sowohl bei der Ermittlung wie bei der Gerichtsverhandlung nur eine geringe Bedeutung h a t t e und (vielleicht auch a u f grund meiner Einschränkungen) haben konnte. 3 9 Für mich selber war die Erstellung eines solchen Textgutachtens eine völlig neue Aufgabe, wofür mir keine Erfahrungen zur Verfügung standen, obwohl es solche Erfahrungen anderweitig schon

gab.40

Inzwischen

liegen

jedoch

mehr

praktische

Erfahrungen mit Gutachten in der Ermittlungsarbeit und vor Gericht vor, und Hannes K n i f f k a hat 1981 in einem wichtigen Beitrag die wesentlichen Probleme zusammengefaßt, die auch heute noch zu überdenken sind. 4 1 Diskussionen verschiedener Experten, die in der letzten Zeit s t a t t f a n d e n , machten zudem d e u t l i c h , was noch - im Interesse einer realistischen und soliden Zusammenarbeit von Linguisten mit Ermittlungs42 2behörden und Gerichten - geleistet werden m u ß . Für die Linguisten kommt es dabei darauf und Steuerungsbedingungen

an, die Grundlagen

des sozial gebundenen,

variablen

Sprachverhaltens weiter zu erforschen, damit auch die 38 39

40 41 42

Gren-

Braunschweiger Zeitung vom 13.5.1978, S. 3. Nicht zu klären war f ü r mich, ob mein Gutachten nur vom Vorsitzenden Richter oder auch von anderen Prozeßbeteiligten angefordert worden war. So war nämlich ein Schriftgutachten, das am selben Verhandlungstag vorgetragen wurde, von der Verteidigung beantragt worden, um den Angeklagten eventuell zu entlasten, vgl. Braunschweiger Zeitung vom 22.4.1978. Bekannt war mir lediglich das sehr problematische Gutachten von W. Betz (1975), das ich (1982) dann etwas näher behandelt habe. Andere Fälle in Schweden und Deutschland nennt Drommel (1987a:ll). Vgl. K n i f f k a (1981), Knobloch (1981) und jetzt K n i f f k a (1989), Bruckner (1989). Ausführlich dazu K n i f f k a (1989) und andere Beiträge des vom Bundeskriminalamt veranstalteten Symposiums "Forensischer Linguistischer Textvergleich". - Vgl. ferner die Beiträge des Arbeitskreises "Forensische Linguistik", der während der 20. Jahrestagung der Gesellschaft f ü r Angewandte Linguistik (GAL) e . V . in Göttingen veranstaltet wurde. Eine Kurzform dieser Beiträge wird in den Kongreßakten publiziert.

359

zen bestimmt werden können, innerhalb derer sich überhaupt so etwas wie "sprachliche I n d i v i d u a l i t ä t " herausbilden kann. Das heißt jedoch n i c h t , daß die linguistische Forschung bisher nichts dazu habe beitragen können. Es gibt durchaus eine Fülle von brauchbaren Ansätzen in Arbeitsbereichen wie Sozio-, Pragma-, Psycho- und Textlinguistik, die d a f ü r in Frage kommen. Doch diese Ansätze müssen erst am konkreten Material zusammengeführt und umgesetzt werden, und hier scheint sich ein interessantes Arbeitsfeld angewandter linguistischer Forschung zu entwickeln, von dem aus gezielt und möglichst ohne publizistische E f f e k t h a s c h e r e i eine fachliche Beratung angeboten werden k ö n n t e . « 3

43

Daß dabei grundsätzlich linguistische Analyse und juristische Bewertung auseinander gehalten werden müssen, steht für mich außer Frage. Gerade in der Unabhängigkeit des einen vom anderen liegt die Möglichkeit der Kontrolle, auf die nicht verzichtet werden d a r f . Daß Linguisten solche Gutachten aus materiellen Interessen anstreben, glaubt Wetz (1989: 17) erwägen zu müssen und r u f t deswegen nach dem "Gewissen der Linguisten". In einem Punkt irrt er hierbei sicher: Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ertrag, wenn man sich Mühe gibt, wie z . B . K n i f f k a (1981) überzeugend demonstriert. Das sollte man allerdings auch tun, - schon im Interesse der Betroffenen und der Sache, um die es geht.

360

LITERATUR

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