Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung: Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung [1 ed.] 9783428548187, 9783428148189

Die Arbeit versucht, verschiedene politische Dimensionen des Anerkennungsbegriffs herauszuarbeiten. Aus der kritischen A

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Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung: Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung [1 ed.]
 9783428548187, 9783428148189

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 186

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung Von Martin Correll

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN CORRELL

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 186

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung

Von Martin Correll

Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14818-9 (Print) ISBN 978-3-428-54818-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84818-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung . . . . . . . . . . . . I. Das liberale Narrativ in der Kritik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth . . . . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung nach Hegel und Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Drei Anerkennungsformen: Liebe, Recht, Solidarität . . . . . . . . . . . . . 3. Persönliche und politische Folgen von mangelnder Anerkennung . . 4. Fazit und Kritik: Der Kampf um Anerkennung als Prinzip mora­ lischen Fortschritts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Multikulturalistische Ansätze – Charles Taylor und Will Kymlicka . . . 1. Multikulturalismus im nordamerikanischen Kontext . . . . . . . . . . . . . 2. Charles Taylors Politik der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Will Kymlickas Multikulturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit und Kritik: Die Fixierung auf rechtliche Anerkennung . . . . . . IV. Die Politik der Differenz – Iris Marion Young . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kritik am Liberalismus – Verteilung versus Anerkennung . . . . . . . . 2. Die Unterdrückung von sozialen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Politik der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit und Kritik: Gruppen oder Individuen? Rechte oder Anerken­ nung? . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenfazit: Die Ambivalenz der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I. Methodische Vorüberlegung: Begriffsanalyse nach Giovanni Sartori  . . 65 1. Die Komplexität der Begriffsbestimmung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Die Willkür der Definition  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Wörter als Erfahrungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Analytische Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Der Begriff der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 a) Ein kurzer (ideen-)geschichtlicher Hintergrund  . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Rechtsgültigkeit und Ablehnungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . 77 c) Objekte der Toleranz und Machtbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . 79 d) Der Versuch der Verbindung von Toleranz und Anerkennung  . . 82 3. Der Begriff des Respekts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Ideengeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

6 Inhaltsverzeichnis b) Respekt als universelle Moralnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Respekt als bi-personale Struktur der Anerkennung . . . . . . . . . . . 89 4. Der Begriff der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Lexikalische und etymologische Annäherung an den Begriff . . . 91 b) Fundamentalität und Reziprozität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 c) Affirmation und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 d) Der Versuch einer positiven Bestimmung von Anerkennung . . . . 97 III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Drei Anerkennungsgegenstände – Personenstatus, Identität, Leistung . 99 a) Die Anerkennung als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Die Anerkennung als Identitätsträgerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Die Anerkennung als Erbringer von Leistungen . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Drei Anerkennungsquellen – Staat, Gesellschaft, Mitbürgerinnen . . . 122 a) Staatlich gewährte Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Gesellschaftliche Anerkennung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 c) Bürgerschaftliche Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Anerkennungsmittel – Rechte, Verteilung, Wertschätzung . . . . . . . . . 143 a) Rechte als „Währung“ der Anerkennung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Güterverteilung als Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Soziale Wertschätzung als symbolische Anerkennung . . . . . . . . . 158 IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Eine idealtypische Schematisierung der politischen Dimensionen von Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Die Schematisierung als Hilfsmittel der Kritik  . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Die Möglichkeit multidimensionaler Kompensation  . . . . . . . . . . . . . 169 D. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Sach- und Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

A. Einleitung „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet […] verkündet die Generalversammlung die vorliegende ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ […].“1 Mit diesen Worten beginnt das glo­ bale Gründungsdokument der Nachkriegswelt, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Der Begriff „Anerkennung“ steht dabei nicht nur ganz am Anfang, sondern wird zudem mit den philosophisch, ideenge­ schichtlich und realhistorisch äußerst wirkmächtigen Konzepten der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens verknüpft und im Verbund mit den Gegenständen der Anerkennung – Würde und Rechte – als deren Grundlage bezeichnet. Der Akt der Anerkennung scheint also in diesem umfassenden politischen Kontext von höchster Relevanz zu sein. Dennoch bleibt unklar, was dies eigentlich bedeutet. Wer wird anerkannt? Menschen, Personen oder ideelle Konstrukte? Wer erkennt an? Die Generalversammlung, alle Men­ schen oder die jeweiligen Unterzeichnerstaaten? Und womit wird anerkannt? Durch die Erklärung selbst, durch garantierte Rechtssicherheit oder durch guten Willen? All diese Fragen lösen sich auch dann nicht auf, wenn man den Blick auf den Alltagsgebrauch des Begriffes lenkt. Oft wird „Anerken­ nung“ im Zusammenhang mit dem Lob oder der Wertschätzung besonderer Leistungen verwendet. Doch dies kann im obigen Fall gerade nicht die passende Bedeutung sein, da die Menschenrechte allen Menschen unabhän­ gig von deren Verhalten zukommen sollen. Häufig wird außerdem die Wendung „einen Staat anerkennen“ im Bereich der Internationalen Bezie­ hungen gebraucht. Hier scheint der Terminus zunächst auf die bloße Exis­ tenz eines territorial begrenzten und politisch organisierten Gebildes zu re­ ferieren, ohne damit normative Annahmen zu machen. Bei genauerer Be­ trachtung steckt jedoch bereits mehr dahinter: Die Anerkennung eines Staates generiert bereits bestimmte Verpflichtungen, die sich über die Berei­ che des internationalen Rechts und des Völkerrechts erstrecken und somit allgemein akzeptierten Normen genügen müssen.

1  Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, abrufbar unter www.un. org/depts/german/grunddok/ar217a3.html, Stand: 28.02.2014 [Hervorhebung durch den Verfasser].

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Schon diese kleine Auswahl an Beispielen illustriert die Schwierigkeiten, die sich hinter der Verwendung des Begriffs der Anerkennung verbergen. Dies wird insbesondere dann problematisch, wenn man erkennt, dass nicht nur die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sondern auch eine Viel­ zahl von anderen, komplexen politischen Phänomenen in ihrer theoretischen Evaluation vom Begriff der Anerkennung abhängen. Will man diese also wissenschaftlich anhand des Anerkennungsbegriffs in ihrer politischen Be­ deutung erfassen und auf ihren normativen Gehalt hin analysieren, reicht die vage Zuschreibung bestimmter inhaltlicher Elemente nicht aus; vielmehr wird eine möglichst exakte Annäherung nötig. Wer sich jedoch mit dem philosophischen Begriff der Anerkennung be­ schäftigt, benötigt nicht nur theoretische Ausdauer, sondern auch die Fä­ higkeit, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen. Denn genau wie viele andere prägende Konzepte der westlichen Ideengeschichte ist der Terminus sowohl von einer Vielzahl von Ambivalenzen, als auch gleich­ zeitig von der engen Verknüpfung mit einer ganz bestimmten philosophi­ schen Richtung geprägt. Trotz der inhärenten Definitions- und Konkretisie­ rungsschwierigkeiten wird er zumeist in eine geistige Tradition gestellt, die für sich theoretisch-logische Kohärenz beansprucht. Dies lässt sich mindes­ tens bis zu einer der prägenden Figuren des deutschen Idealismus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, zurückverfolgen. Anhand von Anerkennungs­ strukturen versuchte dieser, die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu erklären. Im Zentrum steht dabei der intersubjektive Kampf um Aner­ kennung, bei dem sich das freie Subjekt jedoch erst dialogisch konstituiert. Als berühmt gewordene Analogie lässt Hegel Herrn und Knecht auftreten, die im Kampf um Leben, Tod und Unterwerfung der gegenseitigen Abhän­ gigkeit gewahr werden und in einer konstanten dialektischen Dynamik zur Freiheit finden.2 Auch Hegels Zeitgenosse Johann Gottlieb Fichte beschäf­ tigte sich intensiv mit dem Begriff der Anerkennung, wenn auch vor allem auf Rechtsverhältnisse beschränkt. Die wechselseitige Akzeptanz der Frei­ heit des Anderen verwandelt demnach die Protagonisten in Rechtssubjekte, deren soziale Existenz und Selbstbewusstsein voneinander abhängig sind.3 Diese – vor allem hegelianische – Tradition wieder aufnehmend, machte sich Anfang der 1990er Jahre der Frankfurter Philosoph Axel Honneth ei­ nen Namen, als er das Kampfmotiv aufgriff und als Bewegungsprinzip des sozialen und moralischen Fortschritts moderner Gesellschaften beschrieb. Dabei übernahm er Hegels Differenzierung der drei Anerkennungssphä­ 2  Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 145–155. 3  Vgl. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Jena/Leipzig 1796, in: Ders.: Werke 1794–1796, hrsg. von Rein­ hard Lauth und Hans Jacob, Bd. 3, Stuttgart/Bad Cannstatt 1966, S. 352–360.



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ren – Liebe, Recht, Solidarität – und versuchte daran zu zeigen, wie das eigene Selbstverhältnis existenziell von der Anerkennung anderer abhängt.4 Im Anschluss daran ergab sich eine bemerkenswerte Verfeinerung der aka­ demischen anerkennungsorientierten Überlegungen, die bis heute anhält. Gemeinsam ist den vielfältigen Auseinandersetzungen mit dem Anerken­ nungsbegriff jedoch Folgendes: Immer verstehen sich die Verfechter dieser Art, gesellschaftliche Strukturen zu denken, als Gegenpole zu der in ver­ schiedenen Spielarten vermeintlich vorherrschenden politisch-philosophi­ schen Richtung des Liberalismus. Bereits Hegel sah sein System als Ge­ genentwurf zu liberalen Vertragstheorien, wie sie beispielsweise von John Locke oder Immanuel Kant formuliert wurden. Gegen die Idee, ein isolier­ tes, atomistisches Subjekt in einen hypothetischen Naturzustand zu verset­ zen, um die Notwendigkeit einer Gesellschaftsbildung zu begründen, stell­ te er eine zwar weiterhin abstrakte Situation der wechselseitigen Anerken­ nung, die jedoch einen wesentlich plausibleren Ausgangspunkt in der Ent­ wicklung politischer Ordnungen darstellen sollte. Auch Honneth ist der Meinung, mit dem anerkennungsbasierten Modell, das bei ihm und ande­ ren immer auch in Opposition zu dem von John Rawls entwickelten poli­ tischen Liberalismus5 steht, nicht nur die Entstehungs- und Funktionswei­ se, sondern auch die Pathologien und Ungerechtigkeiten moderner Gesell­ schaften besser erklären zu können. In der vorliegenden Arbeit soll jedoch weder die eine, noch die andere Strömung als grundlegende Orientierungshilfe dienen. Vielmehr ist hier das Ziel, den Begriff der Anerkennung theoretisch in all seinen politischen Di­ mensionen zu erfassen, zu problematisieren und auszudifferenzieren. Denn angesichts der relativ starken Lagerbildung ist es erstaunlich, dass der Ter­ minus sich in höchst unterschiedlichen Verwendungen im Umlauf befindet. Unklar ist beispielsweise häufig, welchen phänomenologischen Status Aner­ kennung besitzt. Handelt es sich um eine basale Struktur menschlicher Beziehungen, wie in der hegelianischen Tradition betont? Oder steht der Begriff zunächst einmal für ein epistemologisches Konzept, das sich auf das „Für-wahr-halten“ eines Sachverhaltes bezieht? Meist wird der Anerkennung jedoch auch eine moralische Komponente zugeschrieben – entweder in Appell- oder in Postulatsform – und somit als Bestandteil einer philosophi­ schen Ethik betrachtet, die auch politische Relevanz entfalten kann.6 Des Weiteren scheint kaum zwischen unterschiedlichen Quellen, Adressaten und 4  Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1994. 5  Vgl. Rawls, John: A Theory of Justice, Harvard 1971 und Ders.: Political Libe­ ralism, New York 1993. 6  Vgl. dazu beispielsweise Schmetkamp, Susanne: Respekt und Anerkennung, Paderborn 2012, S. 111–114.

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Mitteln der Anerkennung differenziert zu werden. Gerade in einem politisch so wirkmächtigen Strang der akademischen Anerkennungstheorie wie dem Multikulturalismus wird zumeist ohne explizite Begründung von einer ein­ seitigen, durch staatliche Organe verteilten und per Rechtstransfer verwirk­ lichten Wertschätzung der kulturellen Besonderheiten von Individuen und Gruppen ausgegangen. In dieser Arbeit soll jedoch gezeigt werden, dass sich Anerkennungsbeziehungen durchaus mehrdimensional über verschiede­ ne Ebenen der politischen Praxis erstrecken und somit auch mit erweitertem Fokus analysiert werden müssen. Die vorliegende Arbeit widmet sich also der Aufgabe, den Begriff der Anerkennung theoretisch zu analysieren und dessen politisch-philosophische Grundbedeutung sowie seine relevanten politischen Dimensionen innerhalb eines Gemeinwesens herauszuarbeiten. Methodisch wird dabei auf verschie­ dene Instrumente zurückgegriffen, die geeignet sind, einen ambivalenten Begriff einzugrenzen. Zunächst wird eine detaillierte Auseinandersetzung mit prominenten Vertreter_innen7 der Anerkennungstheorie den diskursiven Rahmen abstecken, in dem die akademische Anwendung des Terminus zu­ meist stattfindet. Diese Analyse soll zudem erste Ergebnisse hinsichtlich der mangelhaften Ausdifferenzierung des Konzepts im Bereich des Politischen generieren. Die ausgewählten Theoretiker_innen – Axel Honneth, Charles Taylor, Will Kymlicka und Iris Marion Young – werden also zum einen als standortbestimmende Fixpunkte vorgestellt, die den weiteren Verlauf der Arbeit begleiten, zum anderen aber auch einer kritischen Überprüfung un­ terzogen, um so die begriffslogischen Lücken ihrer Überlegungen offenzu­ legen. Auf die Diagnose der theoretischen Unterbestimmtheit folgt dann der erste Versuch, den Begriff zu definieren und damit nutzbar für die weitere Analyse zu machen. In Anlehnung an die Ausführungen von Giovanni Sar­ tori wird hier zunächst mit der Methode gearbeitet, den Begriff mit anderen, verwandten Begriffen zu vergleichen und voneinander abzugrenzen. Nach dieser Definition ex negativo kann – gestützt durch die einschlägige Litera­ tur – ein Vorschlag zur positiven Bedeutungszuschreibung des Ausdrucks unterbreitet werden. Diese, noch auf einer grundlegenden philosophischen Ebene operierende Ausführung stellt jedoch nur die notwendige Vorarbeit für die ebenso wichtige Ausdifferenzierung des Begriffs in seiner politi­ schen Bedeutung dar. Wie zu zeigen sein wird, bewirkt gerade die in der bisherigen Debatte mangelhafte Unterscheidung der politischen Dimensio­ nen von Anerkennung häufig Verwirrung hinsichtlich normativer Bewer­ 7  Im Folgenden werden Nennungen, die explizit mehrgeschlechtlich angelegt sind, durch diese Schreibweise repräsentiert. Bei allgemeinen Bezeichnungen wer­ den die maskulinen und femininen Endungen in loser Folge abgewechselt, um so für beide Verwendungen deutlich zu machen, dass alle Geschlechter gemeint sind.



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tungskriterien. Denn wenn man die anerkennungsrelevanten Protagonisten sowie deren Mittel und Ausdrucksweise genauer und trennschärfer differen­ ziert, lassen sich Gerechtigkeitsdefizite einer politischen Ordnung exakter lokalisieren und dadurch womöglich auch angemessen kritisieren. Die These, für die in dieser Arbeit argumentiert werden soll, besteht aus vier Teilen. Zuerst soll in der Beschäftigung mit den verschiedenen Aner­ kennungstheorien gezeigt werden, dass die Orientierung an diesem Konzept durchaus dazu geeignet sein kann, gerechtigkeitsrelevante Strukturen und Prozesse in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften zu verstehen und normativ zu bewerten. Viele, auch konventionell mit anderen Begriffen verbundene, politikphilosophische Problemstellungen können in der Sprache der Anerkennung ausgedrückt und analysiert werden. Trotz der grundsätz­ lichen Eignung des Begriffes, leidet seine Anwendbarkeit jedoch zweitens massiv unter seiner theoretischen Unterbestimmung im akademischen Dis­ kurs. Besonders die politische Ausgestaltung wird dabei vernachlässigt, was zu normativen Unklarheiten sowohl theoretischer als auch praktischer Art führt. Daraus folgt drittens, dass nicht nur der Versuch, eine generelle Be­ deutungsebene herauszuarbeiten, als angebracht erscheint, sondern auch die genuin politischen Dimensionen und Wirksamkeiten des Anerkennungsbe­ griffs einer Ausdifferenzierung bedürfen. Dies soll vor allem anhand der Identifikation der relevanten Quellen, Adressaten und Mittel von Anerken­ nung bewerkstelligt und durch konkrete Beispiele der politischen Praxis il­ lustriert werden. Gelingt dieser Schritt auf plausible Art und Weise, kristal­ lisiert sich eine vierte und abschließende These heraus, die sich dann mit guten Gründen rechtfertigen lässt: In der theoretischen Darstellung der po­ litischen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs reift die Erkenntnis, dass sich die verengten Sichtweisen der zuvor analysierten Theorien als nur be­ dingt fähig erweisen, gerechtigkeitsrelevante Anerkennungslücken auszu­ machen, sie ihren Verursachern zuzuordnen und konstruktive Maßnahmen dagegen vorzuschlagen. Vielmehr ist eine zwar anerkennungsorientierte, aber übergreifende Perspektive nötig, um einerseits normative Kritik ange­ messen fundieren zu können und andererseits die Möglichkeiten multidi­ mensionaler Kompensationen in den Blick zu bekommen. Um dies angemessen begründen zu können, ist die vorliegende Arbeit folgendermaßen strukturiert: Im ersten Kapitel stehen die verschiedenen Spielarten der Anerkennungstheorie und deren Abgrenzung zu paradigmati­ schen liberalen Positionen im Vordergrund. Da gerade die zeitgenössischen Autor_innen ihre anerkennungsbezogenen Theorien zumeist vor dem Hin­ tergrund und in Abgrenzung zu liberalen Denkmustern entwickeln, erscheint es angebracht, diese wirkmächtige Strömung zumindest als grob skizzierten Gegenentwurf ständig im Blick zu haben. Die Hauptziele des Kapitels sind jedoch, die Ambivalenzen und undeutlichen Verwendungen des Begriffs

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herauszustellen sowie die Eindimensionalität der zu untersuchenden Pers­ pektiven hinsichtlich der Anerkennungsbeziehungen in freiheitlichen politi­ schen Ordnungen zu erkennen. Der erste Abschnitt des Kapitels setzt sich mit den Überlegungen von Axel Honneth auseinander, der eine detaillierte theoretische Analyse des Begriffs unternimmt. Mit der Einteilung in die drei Anerkennungssphären „Liebe“, „Recht“ und „Solidarität“, die stark an He­ gel angelehnt ist, erhebt Honneth den Anspruch, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sozialphilosophisch erfassen und ein Bewegungsprinzip der Geschichte identifizieren zu können. Im zweiten Abschnitt soll anhand der Konzeptionen von Charles Taylor und Will Kymlicka der Multikulturalis­ mus als philosophische Konkretisierung des Anerkennungsbegriffs betrach­ tet werden. Hier steht besonders die Frage im Mittelpunkt, wie mit kultu­ reller Differenz in pluralistischen Gemeinwesen umgegangen werden kann und sollte. Beide Denker verorten politische Anerkennung im einseitigen Verhältnis vom Staat zu seinen Bürgern und können aufgrund dieser Einsei­ tigkeit als Ausgangspunkt für eine vertiefende Ausdifferenzierung der poli­ tischen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs genommen werden. Im dritten Abschnitt steht die politische Philosophie von Iris Marion Young, die unter dem selbst gewählten Schlagwort „Politik der Differenz“ bekannt geworden ist, im Mittelpunkt. Mit Young, die gewissermaßen die multi­ kulturalistische Position auf viele verschiedene soziale Gruppen innerhalb einer politischen Gemeinschaft ausdehnt, kann zunächst gezeigt werden, dass grundsätzlich legitime Anerkennungsforderungen innerhalb einer frei­ heitlichen Ordnung in potenziell unlösbare Spannungsverhältnisse mit libe­ ralen Prinzipien treten können. Außerdem behandelt auch Young, die eigent­ lich die ihrer Ansicht nach problematische liberale Staats- und Distributions­ fixierung ablehnt, Anerkennungsstrukturen in erster Linie als einseitige Verteilungsmechanismen hin zu den unterdrückten Gruppen. Im zweiten Kapitel soll der Begriff der Anerkennung von Grund auf be­ stimmt und in seine politischen Dimensionen ausdifferenziert werden. Im ersten Abschnitt wird angelehnt an Giovanni Sartori zunächst die methodi­ sche Basis der folgenden Begriffsarbeit vorgestellt. Mit Sartori soll gezeigt werden, dass trotz der weit verbreiteten Ansicht, die Begriffsbestimmung sei jeweils eine willkürliche, diskursabhängige Praxis, durchaus Definitions­ möglichkeiten bestehen, die einem Begriff anhand verschiedener Kriterien plausibel substanzielles Gehalt verleihen können. Im zweiten Abschnitt soll dies zunächst anhand einer Annäherung durch Abgrenzung versucht werden. Durch den Vergleich des Anerkennungsbegriffs mit zwei anderen, verwand­ ten und in der Debatte häufig verwendeten Begriffen – Toleranz und Res­ pekt – können bestimmte Merkmale herausgefiltert werden und in eine positive Definition von Anerkennung münden. Diese Vorarbeit bildet dann die Basis für die im dritten Abschnitt unternommene Ausdifferenzierung der



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verschiedenen politischen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs. Die Un­ tersuchung, die der vielfältigen akademischen Beschäftigung mit dem The­ ma Rechnung trägt, orientiert sich hierbei an drei Unterscheidungskriterien, die besonders relevant für die Einteilung sind: Zunächst werden die mögli­ chen Adressaten politischer Anerkennung sowie deren dafür relevanten Ei­ genschaften identifiziert. Daraufhin stehen die möglichen Anerkennungs­ quellen im Vordergrund, bevor schließlich die Mittel und Ausdrucksweisen von Anerkennung analysiert werden. Dabei wird kein Anspruch auf Voll­ ständigkeit erhoben, die Darstellung soll vielmehr als Vorschlag der mögli­ chen Ausdifferenzierung betrachtet werden. Zudem beinhaltet sie bereits einerseits die kritische Auseinandersetzung mit entstehenden Spannungsver­ hältnissen und versucht andererseits, die gewonnenen theoretischen Er­ kenntnisse durch konkrete Praxisbeispiele illustrierend zu begleiten. Diese Erkenntnisse sind es auch, die zu der oben bereits kurz erläuterten und im vierten Abschnitt des Kapitels genauer ausformulierten These führen. Mit Hilfe der vorherigen Untersuchung wird zunächst eine Matrix erstellt, die dem Facettenreichtum der politischen Bedeutung des Anerkennungsbegriffs gerecht werden kann. Daraufhin soll gezeigt werden, dass eine zwar aner­ kennungsorientierte, aber multidimensionale Perspektive auf die Gerechtig­ keitsdefizite einer freiheitlich-demokratischen Ordnung sowohl für die nor­ mative Kritik, als auch für deren Umsetzung in praktische Maßnahmen ein vielversprechendes theoretisches Instrument darstellt. Ein Hinweis erscheint noch angebracht: Zwei Voraussetzungen oder Prä­ missen werden in der folgenden Untersuchung ständig mitschwingen, aber nicht im vollen Maße expliziert werden. Zum ersten wird angenommen, dass sich erst im Spannungsverhältnis mit und der vermeintlichen Opposi­ tion zu liberalen Politikentwürfen die volle Relevanz der Anerkennungs­ theorien entfaltet. Die Ablehnung von liberalen Vorstellungen wie etwa dem methodischen Individualismus, der Neutralität des Staates oder der Fixie­ rung auf gleiche Rechte ungeachtet von Differenz ziehen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Ansätze. Und auch die Versuche, anerken­ nungsorientierte Konzepte mit liberalen Denkmustern zu verknüpfen, zeu­ gen offensichtlich nur von der Tatsache, dass der Liberalismus in dieser Debatte eine ständige Präsenz zu haben scheint, sei es als Anfangspunkt der Kritik oder als ergänzungswürdige, aber grundsätzlich plausible Theorie. Dennoch soll hier nicht versucht werden, eine kohärente Version dieses Liberalismus zu entwerfen, gegen die dann eine begriffliche Analyse von Anerkennung womöglich gerichtet sein kann. Denn selbstverständlich kann zum einen diese eine, in sich geschlossene Version gar nicht existieren, während zum anderen ein solches Vorgehen auch strukturell nicht sinnvoll wäre. Vielmehr werden in der Arbeit analog zum häufigen Aufscheinen li­ beraler Motive im Anerkennungsdiskurs die relevanten Elemente liberaler

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Theoriebildung in den einzelnen Teilen behandelt, wodurch Spannungen genauso wie Gemeinsamkeiten sichtbarer werden können. Zum zweiten wird hier die Ansicht vertreten, dass bei der Beschäftigung mit Anerkennung als moralisch-politischem Begriff die Rückbindung zu übergeordneten Gerechtigkeitskonzeptionen nicht verhindern werden kann und soll. Nahezu alle anerkennungsbezogenen Theorien treffen Aussagen über die normativen Erfordernisse im Umgang mit anderen Menschen, er­ örtern, was in der politischen und rechtlichen Inhaltsbestimmung geboten ist und kritisieren unangemessene Maßnahmen mit wertbezogenen Kriterien. Alle beziehen sich also auf einen Gerechtigkeitsstandard; dessen Explikati­ on wird jedoch nicht immer unternommen. Dennoch ist davon auszugehen, dass zumeist Prinzipien affirmiert werden, die etwa die Autonomie der Einzelnen, die Freiheit vor willkürlichen Eingriffen seitens des Staates oder Privatpersonen sowie die Gleichheit vor dem Gesetz miteinschließen. Deren Ausgestaltung und Gewichtung scheint hingegen der wesentliche Gegen­ stand der Debatten zu sein. Demensprechend soll hier über diese vage Be­ schreibung nicht hinausgegangen werden, sondern ähnlich zum Liberalismus der Begriff der Gerechtigkeit in den einzelnen Abschnitten der Untersuchung stets als relevante Hintergrundfolie präsent sein, nicht jedoch in all seinen Facetten und Ambivalenzen ausgestaltet werden. Dies wäre die Aufgabe für eine andere Arbeit.

B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung I. Das liberale Narrativ in der Kritik Beschäftigt man sich mit der Geschichte des Liberalismus im 20. und 21. Jahrhundert, so lautet ein gängiges Narrativ meist folgendermaßen: Nach den grauenvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs entstand in den Nachkriegsjahren ein einzigartiger Konsens sowohl innerhalb des po­ litischen Bereichs als auch in der akademischen Welt der westlichen Län­ der. Unter Berufung auf die aufklärerischen Ideale der Gleichheit und Frei­ heit setzte sich politisch die Auffassung durch, Nationalstaaten müssten als Kombination liberaler Prinzipien mit demokratischer Volkssouveränität or­ ganisiert sein, um dem Individuum den bestmöglichen Schutz vor staatli­ cher Willkür zu bieten. Menschenrechte, Würde und Autonomie wurden zu Schlagwörtern, die nicht nur theoretische Debatten bestimmten, sondern auch Eingang in einschlägige Texte des positiven Rechts fanden.1 Glei­ chermaßen einigten sich Staatsrechtler, politische Philosophen und Theore­ tiker auf den Vorrang liberal-demokratischer Grundsätze und begannen, diese in ihren Details auszubuchstabieren. Diese Einigkeit begann zum ersten Mal mit dem Aufkommen verschiedener emanzipatorischer Bewe­ gungen zu bröckeln, darunter die Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Feminismus oder die Anti-Kolonialbewegungen der bis dahin fremdbe­ herrschten Staaten der damals sogenannten „Dritten Welt“. Die Vorwürfe dieser Gruppen schienen sich jedoch erledigt zu haben, als um 1990 mit dem Zusammenbruch der meisten sozialistisch organisierten Staaten die Geschichte den liberal orientierten, westlichen Demokratien vermeintlich Recht gab. Die Ernüchterung folgte jedoch bald darauf, als sich weder eine signifikante Konfliktreduktion im Weltgeschehen abzeichnete, noch die vielfältigen Probleme innerhalb der liberalen Demokratien einer Lö­ sung zugeführt werden konnten. Die Zäsur durch die Terroranschläge des 11. September 2001, die wachsende Globalisierung sowohl der Finanz- als auch der Kommunikationswege und nicht zuletzt globale Bedrohungen wie der Klimawandel verstärkten die Desillusionierung nur noch. Nichtsdesto­ trotz wird die auf Nationalstaaten beschränkte liberaldemokratische Ord­ 1  Erwähnt seien hier nur die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, Präambel sowie Art. 1 und das deutsche Grundgesetz von 1949, Art. 1, Abs. 1.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

nung von vielen weiterhin grundsätzlich befürwortet, da die gangbaren Alternativen knapp bemessen sind und somit Ausbau und Ergänzung des liberalen Paradigmas als einzige Möglichkeit angesehen werden, auf die vielfältigen Herausforderungen einer radikal pluralistischen Welt angemes­ sen reagieren zu können. Nun muss dieses Narrativ – wie wohl jede Geschichte, die Kontinuität verspricht – mit der gebotenen Vorsicht behandelt werden. Eine zweite Version klingt weitaus skeptischer, was den Siegeszug der liberalen Idee betrifft: Politisch war der Liberalismus kaum jemals allgemein akzeptiert, weder in der Zeit vor den beiden Weltkriegen, noch danach. Eine Reihe von konkurrierenden Staatsmodellen – darunter sozialistische, sozialdemo­ kratische oder national-konservative Vorstellungen – prägten bis heute den innerstaatlichen Diskurs der westlichen Demokratien, was nicht nur an der unterschiedlichen Ausrichtung der relevanten Parteien, sondern auch an den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskussionen beinahe aller eu­ ropäischen Demokratien deutlich abgelesen werden kann. Von einem ein­ helligen Bekenntnis zur liberalen Demokratie zu sprechen wäre deswegen unangemessen. Noch wichtiger für den Kontext dieser Arbeit ist jedoch die Situation in der Welt der philosophischen und theoretischen Evaluation verschiedener politischer Ordnungsentwürfe. Auch hier herrschte und herrscht eine bemerkenswerte Vielfalt an Überzeugungen. So lassen sich bereits im Vergleich der Denker, die gemeinhin als Wegbereiter des Libe­ ralismus bezeichnet werden, wie Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder John Stuart Mill solch deutliche Unter­ schiede in Konzeption und Zielsetzung feststellen, dass von einer kohären­ ten Idee des Liberalismus nicht die Rede sein kann. Die Gegenüberstellung von liberalem Minimalstaat und republikanischer Gemeinschaft sowie von Rechtsstaat und radikaler Demokratie entwickelte sich in dieser Zeit und ist bis heute präsent. Gleichzeitig entstand vor allem in Abgrenzung zu Kant und den Vertragstheoretikern eine Denkart, die entgegen künstlicher kontraktualistischer Vorstellungen der Staatsbildung das Modell der organi­ schen Evolution des modernen Staates aufgrund gesellschaftsinhärenter Wirkungen favorisierte. Auch dieser Bereich der politischen Philosophie, dem beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugeordnet werden kann, übt bis heute einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das politische Denken der westlichen Welt aus. Noch kleinteiliger wurde diese bereits beträchtliche Ausdifferenzierung nach 1945. Mit der Kritischen Theorie, dem aufkommenden Feminismus, dem Kommunitarismus oder der postmodernen Haltung allgemein entstan­ den Denkbewegungen, die dem liberalen Paradigma grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Erst John Rawls gelang es mit der Publikation seines Buches A Theory of Justice im Jahr 1971, den Liberalismus wieder auf die



I. Das liberale Narrativ in der Kritik17

Tagesordnung zu setzen, was eine breite Debatte hervorrief.2 Mit der Wei­ terentwicklung seines Konzepts zum Political Liberalism in der gleichnami­ gen Veröffentlichung von 1993 setzte Rawls einen erneuten Meilenstein der liberalen Theorie, der die akademische Diskussion für einige Zeit bestimm­ te.3 Doch auch hier ließen die kritischen Repliken nicht lange auf sich warten und angesichts der heutigen Herausforderungen und der häufig konstatierten Unfähigkeit des liberalen Paradigmas, mit diesen angemessen umgehen zu können, scheint es fast so, als wäre die liberale Idee aus der Mode gekommen. Seyla Benhabib konstatierte deswegen im Jahr 1992, dass „[…] der akademische Diskurs der letzten Jahrzehnte, allen voran die soge­ nannte Postmoderne, ein geistiges Klima [schuf], das die moralischen und politischen Ideale der Moderne, der Aufklärung und der liberalen Demokra­ tie grundsätzlich in Frage stellt.“4 Trotz dieser vielleicht realistischeren Lesart der Entwicklung liberaler Ideen muss konstatiert werden, dass bestimmte Grundprinzipien die Jahr­ hunderte überdauert haben und heute aus der politischen Philosophie nicht mehr wegzudenken sind. Niemand stellt ernsthaft das Recht des Individu­ ums auf Freiheit und Selbstbestimmung in Frage, genauso wenig wie Rechtsstaatlichkeit oder das Konzept der Menschenwürde grundsätzlich abgelehnt werden. Dennoch steht das liberale Paradigma seit geraumer Zeit sowohl politisch als auch akademisch in der Kritik. Besonders hervorgetan hat sich dabei eine Strömung, die hier zusammenfassend mit der Umschrei­ bung „Politik der Anerkennung“ (im englischsprachigen Raum politics of recognition) bezeichnet werden soll. Zwar wurde diese Wendung selbst erst in der 90er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt, ihre Wurzeln, die sich auf Forderungen marginalisierter Gruppen nach Anerkennung und Inklusion gründen, lassen sich jedoch bereits in den bürgerrechtlichen, feministischen und kommunitaristischen Bewegungen der 60er Jahre erkennen.

2  Für einen kurzen Überblick vgl. Arnesen, Richard J.: Justice after Rawls, in: Goodin, Robert E. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Political Science, Oxford 2011, S. 111–126. 3  Vgl. Rawls 1971 und 1993. Vgl. zu liberalen Ansätzen mit etwas anderer Ge­ wichtung etwa Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge/New York 2000 oder Ackerman, Bruce A.: Social Justice in the Liberal State, New Haven 1980. Für eine knappe Zusammenfassung dieser Strömun­ gen sowie der politischen Situation in den USA der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts vgl. Brocker, Manfred: Weltanschauliche Differenz oder das Ende der Zivilge­ sellschaft? Der „Culture War“ in den USA, in: Kruip, Gerhard/Vögele, Wolfgang (Hrsg.): Schatten der Differenz. Das Paradigma der Anerkennung und die Realität gesellschaftlicher Konflikte, Hamburg 2006, S. 275–299. 4  Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 8.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Als Grundlage dieser Denkfigur dienten Erkenntnisse in der Entwick­ lungs- und Sozialpsychologie, die den Menschen nicht mehr nur als ein sich selbst produzierendes Individuum ansehen, sondern vielmehr die Konstruk­ tion von Selbstbild und Selbstbewusstsein des Subjekts in einem sozialen Prozess suchen, der in erster Linie aus der Interaktion mit den als Anderen wahrgenommenen Mitmenschen besteht.5 Wie man von anderen gesehen wird, welche Eigenschaften, Rechte und Besonderheiten diese einem zu­ schreiben, wirkt sich demnach auf nicht zu unterschätzende Art und Weise auf die eigene Identität aus und konstituiert diese in ihrer Einzigartigkeit. Gleichzeitig kann mangelnde Anerkennung durch Andere häufig zu gravie­ renden Störungen in der Persönlichkeitsbildung führen. Die politiktheoretischen Implikationen dieser Sichtweise scheinen auf der Hand zu liegen: Während die liberale Theorie zumeist vom isolierten Sub­ jekt ausgehend ein kontraktualistisches Legitimationsszenario für politische Autorität entwirft, bemängeln Theorien der Anerkennung diese atomistische Vorstellung und betonen ihrerseits die Bedeutung der vor-individuellen So­ zialität des Menschen. Rechtfertigungs- sowie Ausgestaltungskonzeptionen politischer Herrschaft müssen demnach immer die fundamentale Abhängig­ keit der Subjekte von intersubjektiven Zusammenhängen voraussetzen, um ein argumentationslogisch einwandfreies und normativ angemessenes Ord­ nungsmodell konstruieren zu können. Vielfältige Parallelen zu kommunita­ ristischen Ansätzen sind hier deutlich zu erkennen.6 Ein zweiter Vorwurf betrifft die angebliche kulturelle Neutralität des po­ litischen Liberalismus. Die rawlssche Forderung, von kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Identitäten im politischen Raum zu abstrahieren und sich auf konsensuelle Gemeinsamkeiten zu stützen, favorisiert demnach eine ganz bestimmte Normkonzeption des guten Lebens, die sich zumeist an der dominierenden Mehrheitsgesellschaft orientiert. Die damit verbundene, rein negative Gewährung von Freiheit, die sich auf die Individuen als Träger bestimmter Grundrechte konzentriert, macht es laut dieser Kritik nicht mög­ lich, alternative Wertvorstellungen von sozialen Gruppen zu akzeptieren, die sich außerhalb der tradierten kulturellen Gewohnheiten der Mehrheitsgesell­ 5  Vgl. dazu beispielsweise Düweke, Peter: Anerkennung – Ohne sie geht gar nichts! Wie Respekt und Wertschätzung unser aller Leben bestimmen, Düsseldorf 2008, Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozial­ behaviorismus, Frankfurt a. M. 1968, Todorov, Tzvetan: Abenteuer des Zusammen­ lebens, Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1998, Werschkull, Friederike: Vorgreifende Anerkennung. Zur Subjektbildung in interaktiven Prozes­ sen, Bielefeld 2007. 6  Auf die enorm ausdifferenzierte Debatte zwischen Liberalen und Kommunita­ risten kann und muss hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. für einen Überblick Mulhall, Stephen/Swift, Adam: Liberals and Communitarians, Oxford 1992.



I. Das liberale Narrativ in der Kritik19

schaft bewegen. Subjekten mit abweichenden Lebensentwürfen bleibe so nur die Alternative zwischen Assimilation oder Marginalisierung, was letzt­ endlich beides in politische und persönliche Unterdrückung münde. Der politische Liberalismus propagiert demnach eine Staatskonstruktion, die den gerechtigkeitstheoretischen Anforderungen einer pluralistischen und multi­ kulturellen Gesellschaft nicht gerecht werden kann.7 Kombiniert man diese Kritikpunkte, lässt sich ein durchaus negatives Bild hinsichtlich der moralischen Angemessenheit liberaler Demokratien zeichnen: Durch die Einebnung von individuellen körperlichen, kulturellen und religiösen Unterschieden entsteht ein steriler politischer Raum, der von den Vorstellungen und Lebenskonzeptionen der Mehrheitsgesellschaft domi­ niert wird. So wird nicht nur vielen Menschen die Entwicklung eines posi­ tiven Selbstverhältnisses erschwert, sondern ganzen Identitätsgruppen droht die Exklusion aus Öffentlichkeit und voller politischer Partizipation, seien es nun People of Color und Hispanics in den USA, türkischstämmige Mi­ grantinnen in Deutschland oder Menschen mit homosexueller Orientierung in vielen osteuropäischen Staaten. Im Folgenden sollen drei Strömungen der Politik der Anerkennung an­ hand ihrer prominentesten Vertreter_innen vorgestellt und analysiert werden. In der Auseinandersetzung mit dieser akademischen Richtung liegt dabei bereits der Versuch, die grundlegende Argumentationsstruktur der vorge­ brachten Kritik an liberalen Konzepten herauszufiltern und eingehend zu betrachten. Den Anfang macht dabei die Theorie von Axel Honneth, der mit dem Buch Kampf um Anerkennung – Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte von 1992 den wohl elaboriertesten Versuch vorgelegt hat, das Phänomen der Anerkennung zu erfassen. Seine grundlegende These, mora­ lischer Fortschritt sei die Folge sozialer Anerkennungskämpfe, wird dabei nicht so sehr im Mittelpunkt stehen wie die an Hegel angelehnte Typologi­ sierung von Anerkennung. Als Vertreter der zweiten Richtung, die weit gefasst als Multikulturalismus bezeichnet werden könnte, gelten Charles Taylor und Will Kymlicka.8 Beide propagieren eine differenzsensible An­ 7  Eine Vielzahl von Publikationen macht dieses Argument in ähnlicher Form. Vgl. beispielsweise Galeotti, Anna Elisabetta: Toleration as Recognition, Cambridge 2002, Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995, Modood, Tariq: Multiculturalism, Securalism and the State, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy 3/1998, S. 79–97, Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2009, Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990. 8  Vgl. Taylor 2009, Kymlicka 1995 sowie Kymlicka, Will: Liberalism, Commu­ nity and Culture, Oxford 1989 und Ders.: Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten in Staaten und Nationen, Hamburg 1999.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

erkennungspolitik, die sich jedoch weiterhin auf liberalen Grundlagen bewe­ gen soll. In der Analyse soll gerade dieser Anspruch unter besonderer Be­ obachtung stehen. Mit dem Schlagwort „Politik der Differenz“ beschreibt Iris Marion Young in dem Buch Justice and the Politics of Difference von 1990 ihr politisches Programm. Ohne Zweifel finden sich hier die oben genannten Kritikpunkte an liberalen Konzeptionen in ihrer schärfsten Form. Young argumentiert für ein Differenzprinzip, mit dessen Hilfe die besonde­ ren Identitäten verschiedener unterdrückter Gruppen positive Wertschätzung erfahren, die sich idealerweise in politischen Sonderrechten äußern sollten.

II. Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth 1. Anerkennung nach Hegel und Mead Eng an die Anerkennungstheorie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel angelehnt, skizziert Axel Honneth in seinem Buch Kampf um Anerkennung – Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte von 1992 ein Kon­ zept, das den Kampf der Individuen um wechselseitige Achtung und Wert­ schätzung in den Mittelpunkt einer umfassenden Gesellschaftstheorie stellt. Familiäre und öffentliche Moral sowie Politik und Gesellschaft werden demnach historisch von reziproken Anerkennungsbeziehungen geprägt, de­ ren Ausformung über Gestalt und Funktionsweise von staatlichen Institu­ tionen entscheidet. Den Anspruch, eine umfassende Erklärung für gesell­ schaftliche Entwicklung zu liefern, übernimmt Honneth dabei von Hegel. Dieser verwirft Honneth zufolge sowohl die klassische liberale Lehre vom hypothetischen Naturzustand als auch den einzigen Ausweg aus dem so postulierten Dilemma, den Gesellschaftsvertrag, als angemessene Theoreti­ sierung politischer Ordnungsbildung. Aufgrund der starken Konzentration auf das Individuum als isoliertes Subjekt, das ohne jegliche theoretische oder praktische Beziehung zu seinen Mitmenschen in die Vergesellschaftung einwilligt, hält Hegel diesen Ansatz nicht für geeignet, die Herausbildung einer moralisch-politischen Gemeinschaft zu erklären.9 Diese vollzieht sich vielmehr in einem Prozess der Anerkennungssuche, der dialektisch organi­ siert ist: „Nicht also beendet ein Vertrag unter den Menschen den prekären Zustand eines Überlebenskampfes aller gegen alle, sondern umgekehrt führt der Kampf als ein moralisches Medium von einem unterentwickelten Zu­ stand der Sittlichkeit zu einer reiferen Stufe des sittlichen Verhältnisses.“10 Den Kampf will Hegel nun als Versuch des Individuums verstanden wis­ sen, die eigene Identität zu etablieren und in ihrer Besonderheit zu bestäti­ 9  Vgl.

Honneth 1994, S. 22. S. 32.

10  Ebd.



II. Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth21

gen. Erhöhtes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl sind die Folge und fungieren ihrerseits als Bedingung der Möglichkeit zu freiem Handeln. So entsteht eine dialektisch geprägte Situation, in der das Subjekt zwar einer­ seits durch die Anerkennung anderer graduell mehr Autonomie erlangen kann, andererseits darin jedoch immer essentiell von anderen abhängig bleibt. Eine Entwicklung, die letztendlich zur politischen Institutionalisie­ rung dieser Anerkennungsbeziehungen führt, um die Freiheit der Einzelnen zu sichern.11 Da Hegel nun weder eine detaillierte begriffliche Ausdifferenzierung sei­ ner Anerkennungstheorie unternommen hat, noch – verständlicherweise – in der Lage war, die drängenden Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu berücksichtigen, versucht Honneth anhand neuerer Überlegungen von George Herbert Mead eine Aktualisierung der hegelschen Lehre zu ent­ wickeln, ohne jedoch deren metaphysische Überhöhung weiter miteinzu­ schließen. Der Philosoph und Psychologe Mead knüpft an Hegel an, wenn er die Subjektbildung des Einzelnen nur in anerkennender Wechselwirkung mit den Mitmenschen für möglich hält. Dabei unterscheidet Mead zwischen dem Mich (me), das sich als abhängiges Selbst durch die Übernahme der Perspektive des Interaktionspartners ergibt, und dem Ich (I), das zwar als Quelle der individuellen Handlungen fungiert, aber nie isoliert vom Mich gedacht werden kann, sondern zu diesem immer in reziproker Beziehung steht. Dies bildet die Grundlage zur Identitätsentwicklung: Erst durch die Übernahme der Perspektive des Anderen wird es dem Subjekt ermöglicht, ein vollständiges Bewusstsein seiner selbst zu erlangen. Für Mead liegt also wie für Hegel die Wahrnehmung des Gegenüber sowohl temporär als auch kausal vor der Herausbildung des eigenen Selbstbewusstseins.12 Doch nicht nur die Identität des Individuums entsteht im Wesentlichen in der Wechselbeziehung zu seinen Mitmenschen, auch die Verinnerlichung von Moralvorstellungen und sozialen Normen geschieht laut Mead anhand von Anerkennungsrelationen. Durch die Orientierung am „generalisierten Anderen“ (generalized other) beginnt das Subjekt Verhaltensnormen zu übernehmen, die „aus der Generalisierung der Verhaltenserwartungen aller Gesellschaftsmitglieder hervorgegangen sind.“13 Diese Anpassung ist gleich­ bedeutend mit der Vervollständigung der Identität des Einzelnen, der sich damit in einen größeren Gesellschaftszusammenhang stellt, was wiederum reziproke Anerkennung hervorruft: „[…] [I]n dem Maße, in dem der Her­ anwachsende seine Interaktionspartner auf dem Weg der Verinnerlichung 11  Vgl.

ebd. S. 43 f. ebd. S. 119 ff. Für die genauere Ausgestaltung dieses Konzepts, das hier nur gestreift werden kann, vgl. Mead 1968. 13  Honneth 1994, S. 125. 12  Vgl.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

ihrer normativen Einstellungen anerkennt, kann er sich selbst als ein Mit­ glied ihres sozialen Kooperationszusammenhanges anerkannt wissen.“14 So entwickelt sich das Individuum vom einfachen Subjekt zum anerkannten Rechtssubjekt, das bestimmte Ansprüche an die generalisierten Anderen stellen kann. Damit ist auch die weitergehende Selbstachtung des Einzelnen verbunden: „Die Erfahrung, von den Mitgliedern des Gemeinwesens als eine Rechtsperson anerkannt zu werden, bedeutet für das einzelne Subjekt, sich selber gegenüber eine positive Einstellung einnehmen zu können; denn jene billigen ihm dadurch, daß sie sich zur Respektierung seiner Rechte verpflichtet wissen, umgekehrt die Eigenschaft eines moralisch zurechnungsfähigen Aktors zu.“15

Ganz im hegelschen Sinne, jedoch auf sozialpsychologischer Grundlage, hält Mead die Dialektik zwischen tradiertem Normverhalten des Michs und kreativer Moralschaffung des Ichs für die historische Triebfeder des mora­ lischen Fortschritts in der Gesellschaft. Beide Formen des Selbst im Subjekt müssen aufeinander reagieren und schaffen so neue soziale Realitäten.16 Fehlerhaft bleibt nach Honneths Ansicht allerdings Meads Lösungsansatz zur Frage, wie sich in einer solchen Gesellschaftskonzeption die persönliche Selbstverwirklichung aufgrund besonderer Eigenschaften oder Leistungen gestaltet. Mead sieht in der allgemeinen Anerkennung einer Tätigkeit als sozial nützliche Arbeit den entscheidenden Faktor, um einem Individuum ein positives Selbstwertgefühl bezüglich seiner Besonderheit zu verschaf­ fen.17 Dabei übersieht er laut Honneth jedoch, dass so die ethischen Über­ zeugungen einer politischen Gemeinschaft auf das Individuum projiziert und diesem damit die Möglichkeit zur autonomen, positiv bestimmten Per­ sönlichkeitsentwicklung genommen werden.18 2. Drei Anerkennungsformen: Liebe, Recht, Solidarität Aufgrund der beschriebenen Unzulänglichkeiten dieser Ansätze versucht Axel Honneth eine umfassende Gesellschaftstheorie, bei der Anerkennung im Mittelpunkt steht, zu entwerfen. Er unterscheidet zunächst wiederum 14  Ebd.

S. 126. S. 129. 16  Vgl. ebd. S. 132 ff. 17  Vgl. ebd. S. 142. 18  Vgl. ebd. S. 144 f. Interessanterweise übernimmt Honneth in späteren Arbeiten doch diesen Versuch, Arbeit als Primärquelle sozialer Wertschätzung zu deklarieren. Vgl. dazu beispielsweise Honneth, Axel: Arbeit und Anerkennung. Versuch einer theoretischen Neubestimmung, in: Ders.: Das Ich im Wir. Studien zur Anerken­ nungstheorie, Frankfurt a. M. 2010, S. 78–102 und zur Kritik daran B. II. 4. 15  Ebd.



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angelehnt an Hegel zwischen drei möglichen Formen der Anerkennung, nämlich Liebe, Recht und Solidarität. Liebe stellt dabei die ursprünglichste Art und Weise dar, wie sich Anerkennung in zwischenmenschlichen Bezie­ hungen äußert, und bildet gleichzeitig den entwicklungspsychologischen Ausgangspunkt für die These, dass diese einen wesentlichen Beitrag zur ungehinderten Ausgestaltung der Persönlichkeit eines Individuums leistet.19 Für Honneth lässt sich die Liebesbeziehung zwischen Mutter und Kind als erste intersubjektive Anerkennungsrelation beschreiben. Hier zeigt sich, wie fundamental die Ausbildung eines basalen Selbstbewusstseins von der posi­ tiven Reaktion der Anderen abhängig ist. Indem die Mutter die Bedürfnis­ natur des Babys anerkennt und diesem als Reaktion darauf die materiellen und psychologischen Grundgüter bereitstellt, erfährt das Kind zum ersten Mal die Präsenz einer konkreten Anderen und ist so erst in der Lage, mit der Zeit ein eigenes Selbstbewusstsein auszubilden. Dabei wäre es neueren entwicklungspsychologischen Erkenntnissen zufolge falsch, vom Kleinkind als isoliertem Subjekt auszugehen – vielmehr müsse die Mutter-Kind-Bezie­ hung als symbiotische „Phase der undifferenzierten Intersubjektivität“20 beschrieben werden, in der die beiden Parteien sich in vollständiger Inter­ dependenz befinden.21 Erst im Prozess der Neubewertung der Mutter durch das Kind, welches die vormals körperliche Einheit versuchsweise aufbricht, um die Objekthaftigkeit der Mutter zu prüfen, vollzieht sich laut Honneth der schrittweise Übergang zu schwächeren Formen der Abhängigkeit. Mit aggressiven Akten gegen die Mutter wird vom Kind dabei getestet, wie es um die Haltbarkeit ihrer Anerkennung bestellt ist. Ändert sich an der ent­ gegengebrachten Liebe und Zuwendung nichts, erlangt das Kind eine ele­ mentare Sicherheit, die sich auf die Selbstwahrnehmung auswirkt: „[D]as Kleinkind gelangt dadurch, daß es sich der mütterlichen Liebe sicher wird, zu einem Vertrauen in sich selber, das es ihm ermöglicht, sorglos mit sich allein zu sein.“22 Bezogen auf alle möglichen Liebesbeziehungen bedeutet dies, dass der latent vorhandene Wunsch nach Einheit und Verschmelzung mit dem Anderen nur unter der Voraussetzung der Abgrenzung von diesem und der damit verbundenen Konstituierung des eigenen Subjektstatus exis­ tieren kann. Liebe besteht also ungeachtet ihrer jeweiligen Form stets aus einem „kommunikativen Spannungsbogen“23, unter dem die Liebenden in einem reziproken Anerkennungsverhältnis zueinander stehen und sich damit gegenseitig Selbstbewusstsein und Selbstachtung ermöglichen.24 Honneth 1994, S. 63 f. S. 158. 21  Vgl. ebd. S. 158 ff. 22  Ebd. S. 168. 23  Ebd. S. 170. 24  Vgl. ebd. S. 170 ff. 19  Vgl.

20  Ebd.

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Trotz der starken Orientierung an wenigen entwicklungspsychologischen Studien gelingt es Honneth durchaus plausibel deutlich zu machen, welche gleichsam anthropologische Ausgangsthese eine politische Theorie der An­ erkennung akzeptieren muss: Das Verlangen nach Anerkennung stellt ein menschliches Grundbedürfnis dar und spielt eine wesentliche Rolle in Per­ sönlichkeitsbildung und Autonomiefähigkeit eines Individuums. Folgt man dieser Ansicht, müsste man die klassische aufklärerisch-liberale Sichtweise des isolierten Individuums, das sein grundlegendes Selbstvertrauen aus sich heraus beziehen kann, als zu einseitig bezeichnen. Vielmehr besteht nach dieser These eine wechselseitige fundamentalpsychologische Abhängigkeit zwischen den Menschen, die deren Entwicklung wesentlich beeinflusst. Diese Erkenntnis verlangt Honneth zufolge eine Überarbeitung der Art und Weise, wie der gemeinschaftliche Zusammenschluss verschiedener Men­ schen zu einer politischen Ordnung bisher in der liberalen Theorie konzi­ piert wurde. Damit ist Honneth bei der zweiten Anerkennungsform, dem Recht, angelangt. Damit wird die Anerkennungssphäre bezeichnet, in der die Mitglieder einer Gesellschaft sich wechselseitig den gleichen Status eines Rechtssub­ jekts zugestehen und so ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Wenn die liberale Tradition von Recht spricht, ist meistens ein individualistisch begründetes und vom Staat garantiertes Set von Ansprüchen gemeint, dass die Freiheit jedes Einzelnen gegenüber den Anderen definiert. Die Aner­ kennungsbeziehung wird dabei – wenn überhaupt – nur einseitig gedacht, nämlich als Relation zwischen dem Anerkennungsspender, dem Staat, und der Anerkennungsempfängerin, der Bürgerin. Rechte erhalten somit den Status von Gütern, die dem Einzelnen zwar zustehen, aber immer von der Verteilungsbereitschaft einer übergeordneten staatlichen Instanz abhängen.25 Honneth versucht nun mit Hegel und Mead diese Sichtweise um eine wichtige Dimension zu ergänzen. Denn die Möglichkeit, in einer politi­ schen Gemeinschaft als Rechtssubjekt zu gelten, hängt nicht unwesentlich von der Anerkennung der Mitbürgerinnen ab. Nur wenn diese den Rechts­ status des Anderen achten und dessen Legitimität nicht anzweifeln, kann der vollständige Schutz des Individuums gewährleistet werden. Gleichzei­ tig gelangt das Subjekt zu einer angemessenen Selbstwahrnehmung, indem es die Anderen als das anerkennt, was es selbst sein will: „[…] [E]rst aus der Perspektive eines ‚generalisierten Anderen‘, der uns die anderen Mit­ glieder des Gemeinwesens bereits als Träger von Rechten anzuerkennen lehrt, können wir uns selber auch als Rechtsperson in dem Sinne verste­ hen, daß wir uns der sozialen Erfüllung bestimmter unserer Ansprüche 25  Vgl. dazu exemplarisch Rawls 1971 oder Dworkin, Ronald: Bürgerrechte ernst­ genommen, übers. von Ursula Wolf, Frankfurt a. M. 1984.



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sicher sein dürfen.“26 Während Mead diesen reziproken Prozess innerhalb einer partikularen Rechtsgemeinschaft ansiedelt und somit zunächst nur die Mitgliedschaft in einem bestimmten Sozialverband als Anerkennungsge­ genstand gelten lässt, konzipiert Hegel seine Begründung universalistisch und egalitär. Durch die beschriebenen Anerkennungsbeziehungen kann das Individuum demnach die allgemeine Geltung seiner Ansprüche als gerecht­ fertigt verstehen: „[D]ie Rechtssubjekte erkennen sich dadurch, daß sie dem gleichen Gesetz gehorchen, wechselseitig als Personen an, die in in­ dividueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen.“27 Historisch gesehen bedeutet Honneth zufolge diese Art der rechtlichen Anerkennung eine Zäsur. Vor dem Übergang zur Moderne war die Achtung des Rechtsstatus eines Individuums stets eng mit traditionellen gesellschaft­ lichen Rollenbildern verknüpft. Mit der sozialen Wertschätzung aufgrund besonderer Eigenschaften und Leistungen dominierte eine Anerkennungs­ form, die stark partikulare und hierarchische Züge aufweist.28 Doch die wirkmächtige Idee, dass allen Trägerinnen bestimmter allgemeiner Eigen­ schaften grundsätzlich Anerkennung zukommen sollte, verändert nun diesen Fokus. Die Frage, welche Eigenschaften das sein können, ist für Honneth schnell beantwortet. Der freie Wille aller einbezogenen Subjekte und somit deren Autonomie in politisch-moralischen Fragen bildet den neuen Maßstab für die Legitimität eines rechtsetzenden Gemeinwesens: „Insofern ist jede moderne Rechtsgemeinschaft, allein weil ihre Legitimität von der Idee einer rationalen Übereinkunft zwischen gleichberechtigten Individuen abhängig wird, in der Annahme der moralischen Zurechnungsfähigkeit all ihrer Mit­ glieder gegründet.“29 In Folge der Aufklärung und der Entwicklung der Moderne entsteht also ein neues Rechtfertigungsmuster, an das rechtliche Strukturen von nun an gebunden sind. Honneth zufolge lässt sich die schrittweise Erweiterung des Rechts als Ergebnis eines fortwährenden Kampfes um Anerkennung verstehen. Durch andauernde Forderungen nach vollwertiger Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft konnten drei verschiedene Rechtsklassen historische Wirksamkeit erreichen: Während li­ berale Freiheitsrechte als erste rein negative Form die Abwesenheit von Eingriffen in das Privatleben der Bürger bedeuten, garantieren positive Teilnahmerechte den Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen. In einem dritten Schritt entwickelten sich laut Honneth außerdem soziale ­ 26  Honneth

1994, S. 174. S. 177. 28  Vgl. dazu auch Charles Taylors Unterscheidung zwischen Ehre und Würde in Taylor 2009, S. 14 ff. 29  Honneth 1994, S. 184 f. 27  Ebd.

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Wohlfahrtsrechte, die eine gerechte Verteilung von Gütern sicherstellen sollten.30 Dabei blieb jedoch immer die moralische Autonomie des Einzel­ nen die grundlegende Referenzidee, an der jede neue Rechtsentwicklung gemessen wurde. Denn ohne die Einsicht, dass zur ungestörten Ausübung der individuellen Selbstgesetzgebung gleichermaßen die Abwesenheit von äußeren Zwängen, die Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen und die materielle Absicherung eines bestimmten Lebensstandards nötig ist, wäre diese Ausdifferenzierung nicht möglich gewesen. Doch nicht nur die Rechtsklassen, auch die Rechtssphäre wurde Honneth zufolge im Zuge die­ ser Entwicklung erweitert. Immer mehr soziale und kulturelle Gruppen, die vehement ihre Inklusion verlangten, wurden in den allgemeinen Bereich der Rechtsgleichheit inkorporiert.31 Honneth schreibt also eine etwas andere Geschichte des Rechts als dies die liberale Tradition tut. Anstatt auf der Basis freier und gleicher Zustimmung entwickelten sich die verschiedenen Rechtsklassen aus den historischen Kämpfen um die Anerkennung bestimm­ ter Eigenschaften. Trotz dieser Abweichung bewegt sich Honneth bisher weitgehend auf be­ kanntem liberalem Terrain. Die von ihm als dritte Anerkennungsform identi­ fizierte Solidarität bringt nun jedoch eine neue Qualität in seine Analyse. Denn wie bereits beschrieben, stand die Ebene des Rechts immer im Zeichen der grundsätzlichen Gleichheit aller Mitglieder einer Gesellschaft. Dies än­ dert sich nun: Soziale Wertschätzung als Anerkennungsweise basiert auf den besonderen Eigenschaften und Leistungen der Individuen in einer politischen Ordnung. Da dies jedoch hierarchisierende Urteile beinhaltet, stellt sich die Frage nach dem Wertmaßstab einer solchen Evaluation. Honneth beantwortet dies mit dem Hinweis auf das kulturelle Selbstbild einer Gesellschaft: „Das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft gibt die Kriterien vor, an denen sich die soziale Wertschätzung von Personen orientiert, weil deren Fähig­ keiten und Leistungen intersubjektiv danach beurteilt werden, in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können; insofern ist diese Form der wechselseitigen Anerkennung auch an die Voraussetzung eines sozialen Lebenszusammenhanges gebunden, dessen Mitglieder durch die Orientie­ rung an gemeinsamen Zielvorstellungen eine Wertegemeinschaft bilden.“32

Die Anerkennung besonderer Eigenschaften, Identitäten oder Aktivitäten bemisst sich demnach an ihrer sozialen Nützlichkeit, die intersubjektiv de­ finiert wird. Erneut bedeutet dies laut Honneth eine Abkehr von tradierten Vorstellungen hinsichtlich vormoderner Anerkennungsformen. Soziale Ehre war hier eng an die Erfüllung bestimmter Rollenerwartungen gekoppelt, 30  Vgl.

ebd. S. 185 ff. ebd. S. 190 f. 32  Ebd. S. 198. 31  Vgl.



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welche sich wiederum über die traditionelle Verbindung zentraler Werte mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen generierten. Erst mit dem Übergang zur Moderne verschiebt sich Honneth zufolge dieser Fokus hin zum indivi­ duellen Subjekt, das nun als eigenständige Größe relativ unabhängig von klassenbezogenen Einschränkungen die Anerkennung durch soziale Wert­ schätzung verfolgen konnte. Dabei kann das Individuum zwar seiner allge­ meinen Menschenwürde versichert sein, muss sich aber mit besonderen Leistungen von den Anderen abheben, um in der eigenen Werthaftigkeit bestätigt zu werden.33 Wie beschrieben wird laut Honneth zumeist der Maß­ stab des sozialen Nutzens bemüht. Da dieser jedoch nicht genau festgelegt sein kann, entwickelt sich ein permanenter Kampf um die Deutungshoheit in dieser Kategorie zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, in dem diese „mit den Mitteln symbolischer Gewalt versuchen, unter Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen den Wert der mit ihrer Lebensweise ver­ knüpften Fähigkeiten anzuheben.“34 Warum diese Form der Anerkennung nun als Solidarität bezeichnet wer­ den sollte, versucht Honneth mit dem erneuten Verweis auf historische Zusammenhänge zu erklären. Den Zusammenhalt innerhalb einer sozialen Gruppe in ständisch organisierten Gesellschaften hält er für die Vorstufe einer Art von Solidarität, die auf der positiven Anteilnahme am Leben der Anderen basiert. Diese symmetrische Form der Wertschätzung entsteht Hon­ neth zufolge häufig durch gemeinsame Erfahrungen des Widerstandes oder des Krieges.35 Da nun in modernen Gesellschaften der Rückbezug des Subjekts auf das eigene soziale Kollektiv wegfällt, entsteht die Möglichkeit, externe soziale Wertschätzung für die eigene Leistung in ein positives Selbstverhältnis umzuwandeln. Durch Aktivitäten, die von den Mitbürgern als wertvoll erachtet werden, verschafft sich das Individuum also die Basis zur „Selbstschätzung“, was wiederum in einen „posttraditionalen Zustand gesellschaftlicher Solidarität“ mündet.36 Mit dem Begriff „Solidarität“ be­ nennt Honneth hierbei die reziproke Anerkennung der Gesellschaftsmitglie­ der untereinander: „Beziehungen solcher Art sind ‚solidarisch‘ zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonde­ ren der anderen Person wecken: denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, daß sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“37 33  Vgl.

ebd. S. 201 ff. S.  205 f. 35  Vgl. ebd. S. 208. 36  Vgl. ebd. S. 209. 37  Ebd. S. 210. 34  Ebd.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Mit der Anerkennungsform der Solidarität aufgrund sozialer Wertschät­ zung versucht Honneth das Problem des mangelnden Zusammengehörig­ keitsgefühls bei den Bürgerinnen liberaler, wertepluralistisch organisierter Staaten zu lösen. Diese dritte Stufe der Anerkennung setzt somit dort ein, wo von kommunitaristischer Seite immer wieder eine Unzulänglichkeit der liberalen Idee konstatiert wurde; nämlich bei der Fähigkeit einer politischen Ordnung, trotz aller Heterogenität auf der Basis eines gemeinsamen Werte­ fundaments handeln zu können. Gleichzeitig orientiert sich soziale Wert­ schätzung an Differenz. Nicht die Gleichheit aller Bürger wird zum Maßstab wechselseitiger Achtung erhoben, sondern gerade die Anerkennung von unterschiedlichen Eigenschaften und Leistungen bietet den Individuen die notwendige Basis zu einem positiven Selbstverhältnis. Dennoch bleibt bei Honneth der Anerkennungsgegenstand merkwürdigerweise unterbestimmt. Mit dem Hinweis auf den sozialen Nutzen als intersubjektives Bewertungs­ kriterium zur Gewährung von solidarischer Anerkennung bemüht er eine kaum belastbare, weil partikularistisch und ethnozentrisch geprägte Erklä­ rung. Denn eine politische Ordnung, die mehrheitlich festlegen kann, welche Aktivitäten und Praktiken zu ihrem gesamtgesellschaftlichen Zielen beitra­ gen und welche nicht, ist für die ungerechte Behandlung bestimmter Iden­ titätsgruppen besonders anfällig. Als normativ-kritischer Ansatz fällt die honnethsche Anerkennungstheorie hier hinter ihr erklärtes Ziel38 zurück, ein moralisch angemessenes Konzept der Sittlichkeit zu skizzieren. 3. Persönliche und politische Folgen von mangelnder Anerkennung Auch wenn besonders die Anerkennungssphären des Rechts und der So­ lidarität sich nicht in dem Maße unproblematisch darstellen, wie Honneth suggeriert, konnte er doch bisher mit einiger Plausibilität die positiven Wirkungen der verschiedenen Anerkennungsformen aufzeigen. Seine Argu­ mentation unterstützt die hier vertretene Ausgangsthese, in der die Sprache und Theorie der Anerkennung als angemessenes Analyseinstrument für po­ litische Phänomene in einem Gemeinwesen gelten können. Dies versucht Honneth nun mit dem Beweis ex negativo, also der Konzentration auf die gravierenden Folgen mangelnder Anerkennung, zu belegen. Honneth identifiziert drei Arten der Missachtung, die korrespondierend zu den skizzierten Anerkennungsformen ihre Wirkung entfalten. Im Fall der Bedürfnisnatur des Menschen, der durch die Anerkennungsform der Liebe angemessen begegnet wird, stellt der unmittelbare Eingriff in die körperli­ che Integrität des Subjekts die gravierendste Art der Anerkennungsverwei­ 38  Vgl.

ebd. S. 9.



II. Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth29

gerung dar. Während sich dies im Falle der Mutter-Kind-Beziehung schon durch Vernachlässigung des Liebesbedürfnisses des Kindes äußern kann, stellen Verstümmelung, Folter und Vergewaltigung die massivsten Formen einer solchen Behandlung dar. Entscheidend dabei ist jedoch, dass mit der physischen Verletzung immer eine psychische Demütigung gekoppelt ist, die sich aus dem Gefühl der absoluten Abhängigkeit von der Willkür eines Anderen ergibt. Infolgedessen wird das anerkennungsgestützte Grundver­ trauen des Individuums erschüttert: „[…] [D]ie gelungene Integration von leiblichen und seelischen Verhaltensqualitäten wird gewissermaßen nach­ träglich von außen aufgebrochen, und dadurch die elementarste Form der praktischen Selbstbeziehung, das Vertrauen in sich selber, nachhaltig zerstört.“39 Am Beispiel des Vergewaltigungsopfers lässt sich dies verdeut­ lichen. Während die rein körperlichen Verletzungen in solchen Fällen nicht unbedingt schwerwiegend sein müssen, geht das psychische Trauma viel weiter: Aufgrund des drastischen und unerlaubten Eingriffes in die Intim­ sphäre eines Menschen, der dort eigentlich auf anerkennende Bestätigung angewiesen ist, kommt es zu einer schweren Störung des grundlegenden Selbstvertrauens. Die Missachtung auf der Rechtsebene der Anerkennung zieht demgegen­ über die Beeinträchtigung der moralischen Selbstachtung nach sich. Werden dem Subjekt grundlegende Rechte im intersubjektiven Zusammenhang sys­ tematisch verwehrt, bedeutet dies der beschriebenen Logik zufolge gleich­ zeitig die Zuschreibung eines niedrigeren Status gegenüber den anderen Gesellschaftsmitgliedern. Hier wird aber nicht nur der elementare Anspruch auf Gleichbehandlung in Frage gestellt, sondern auch die moralische Zu­ rechnungsfähigkeit der Betroffenen. Denn als konstituierend für die Zu­ schreibung bestimmter unveräußerlicher Rechte wird in der Moderne wie beschrieben meist die Idee betrachtet, jedes Individuum sei in der Lage, wohlinformierte moralische Urteile zu fällen sowie eine eigene Konzeption des Guten zu entwickeln und dieser zu folgen. Dementsprechend geht mit der rechtlichen Ungleichbehandlung laut Honneth meist die Minderung der Selbstachtung der Individuen einher, da es an der Anerkennung dieses uni­ versellen Charakteristikums mangelt.40 Auch hier lassen sich vielfältige Beispiele zur Illustration nennen. Mittlerweile überwundene Rechtsbrüche gegenüber Gruppen, wie zu Zeiten der Rassentrennung in den USA oder der Apartheid in Südafrika, zeigen genauso die Problematik dieser Form der mangelnden Anerkennung wie subtilere Arten der Diskriminierung, bei­ spielsweise von Frauen oder Menschen mit homosexueller Orientierung in vielen Ländern. 39  Ebd., 40  Vgl.

S.  214 f. ebd. S. 215 f.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Als dritten Typ der Missachtung macht Honneth die mangelnde Wert­ schätzung für individuelle oder kollektive Lebensweisen aus. Hier wird den kulturellen, religiösen oder allgemein weltanschaulichen Identitäten ver­ schiedener Menschen nicht genügend intersubjektive Akzeptanz entgegen­ gebracht, um den Betroffenen die Basis der eigenen positiven Selbstwahr­ nehmung zu liefern. Denn gerade die speziellen Eigenschaften, Fähigkeiten und Beiträge zur gesellschaftlichen Gesamtheit, die Mitglieder einer be­ stimmten Gruppe aufweisen, stellen für das jeweilige Individuum nicht nur ein wesentliches Charakteristikum der eigenen Identitätsdefinition dar, sondern spielen laut Honneth auch eine wichtige Rolle bei der Möglichkeit, für sich selbst sozialen Nutzen zu reklamieren.41 Dementsprechend werden durch diese „Entwürdigung“ Menschen mit von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Lebensentwürfen der Chance beraubt, ihren eigenen Weg der Selbstverwirklichung im positiven Licht zu sehen und verlieren somit den Bezug zur eigenen Werthaftigkeit: „Die evaluative Degradierung von bestimmten Mustern der Selbstverwirklichung hat für deren Träger zur Folge, daß sie sich auf ihren Lebensvollzug nicht als auf etwas beziehen können, dem innerhalb ihres Gemeinwesens eine positive Bedeu­ tung zukommt; für den Einzelnen geht daher mit der Erfahrung einer solchen sozialen Entwertung typischerweise auch ein Verlust an persönlicher Selbstschät­ zung einher […].“42

Insgesamt sieht Honneth in den beschriebenen drei Missachtungsformen den Anstoß für die Subjekte, den Kampf um Anerkennung aufzunehmen. Dass diese psychischen Phänomene nämlich eine existenzielle Dimension besitzen, die über das „bloße“ Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, hin­ ausgeht, versucht Honneth mit dem Verweis auf die Art der Sprache in solchen Fällen zu illustrieren. Ihm zufolge lehnt sich das Vokabular stark an medizinisch-pathologische Begrifflichkeiten an: „Sozialer Tod“ und „Krän­ kung“ werden beispielsweise häufig verwendet.43 Diese semantische Analo­ gie verdeutlich laut Honneth die Problematik: „In solchen metaphorischen Anspielungen auf physisches Leiden und Sterben kommt sprachlich zum Ausdruck, daß den verschiedenen Formen von Mißachtung für die psychi­ sche Integrität der Menschen dieselbe negative Rolle zukommt, die die or­ ganischen Erkrankungen im Zusammenhang der Reproduktion seines Kör­ pers übernehmen […].“44 Diese existenzielle Bedrohung kann nun zur Motivation führen, in den Kampf um Anerkennung einzutreten, auch wenn sich durch die damit verbundene öffentliche Exposition das Risiko einer 41  Vgl.

ebd. S. 217. S. 217. 43  Vgl. ebd. S. 218. 44  Ebd. S. 218. 42  Ebd.



II. Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth31

weitergehenden physischen und psychischen Verletzung erhöht. Die negati­ ve Erfahrung von mangelnder Anerkennung sowie die entsprechende Ge­ fühlsreaktion darauf stellen für Honneth also die „affektive Antriebsbasis“ und damit den Ausgangspunkt aller Anerkennungskämpfe dar.45 Auf der Grundlage dieser Missachtungserfahrungen will Honneth die im Titel des Buches angekündigte „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ entwirren. Dabei fungieren seiner Ansicht nach nicht in erster Linie materi­ elle Interessen als Anreiz für bestimmte Protestbewegungen, sondern viel­ mehr bilden individuelle Ungerechtigkeitserfahrungen durch mangelnde Anerkennung den Auftakt zu sozialem und gesellschaftlichem Widerstand. Um diesen jedoch im kollektiven Rahmen einer Gruppe erfolgreich zu ge­ stalten, bedarf es einer gemeinsamen Identität, die sich einerseits negativ durch die ähnlich gearteten Verletzungserfahrungen, andererseits aber auch positiv in der Aktion des gemeinsamen politischen Handelns entwickelt. Letzteres führt zusätzlich zu der Entstehung von reziproken Anerkennungs­ beziehungen innerhalb der agierenden Gruppe, weswegen sich der Einzelne mit seinem politischen Engagement eine zusätzliche Quelle moralischer und sozialer Achtung verschafft. Der Kampf um Anerkennung, motiviert durch das Verlangen einzelner Individuen nach einer ungestörten, autonomen Identitätsbildung, kann Honneth zufolge also als ein grundlegendes Prinzip moralischer Fortschrittsprozesse gedeutet werden.46 Dennoch betont er gleichzeitig, dass dieses psychologische Modell keinen Ersatz, sondern nur eine Ergänzung zu den bisher in den Sozialwissenschaften dominanten, materiell orientierten Erklärungen darstellen kann. Ökonomische Interessen spielen weiterhin in vielen Formen sozialen Widerstands eine große Rolle und es wäre eine grobe Vereinfachung, diese zu Gunsten anerkennungs­ theoretischer Konzepte zu vernachlässigen.47 Aus dieser Deutung psychologischer und historischer Prozesse heraus bezieht Honneth den kritischen Impetus seiner Anerkennungstheorie. Denn anhand des normativen Kriteriums der Anerkennung, ausdifferenziert in die drei Arten des Selbstbezugs (Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbst­ schätzung), die zur autonomen Lebensführung nötig sind, lässt sich ein moralischer Maßstab für die Behandlung der Menschen in einer politischen 45  Vgl.

ebd. S. 219. ebd. S. 259 ff. 47  Vgl. ebd. S. 264 f. Dieses explizite Bekenntnis zu einer Gleichrangigkeit der beiden Gerechtigkeitsprinzipien verwirft Axel Honneth allerdings überraschender­ weise später wieder. Dies wird besonders in der Debatte mit Nancy Fraser deutlich. In: Fraser, Nancy/Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse, Frankfurt a. M. 2003. Vgl. außerdem Honneth, Axel: Recognition or Redistribution? Changing Perspectives on the Moral Order of So­ ciety, in: Theory, Culture & Society 18/2001, S. 43–55. 46  Vgl.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Ordnung entwickeln.48 Für Honneth bedeutet das, einen Mittelweg zwischen einer universalistischen, liberal orientierten Ethik einerseits und einer parti­ kularen, kommunitaristisch inspirierten Ethik andererseits zu finden. Sein formales Konzept der Sittlichkeit soll genau dies leisten: allgemeine Nor­ men formulieren, dabei aber so abstrakt bleiben, dass diese der historischen Kontingenz gesellschaftlicher Moralvorstellungen Rechnung tragen können. Den elementaren Bezugspunkt stellt dabei die individuelle Selbstverwirk­ lichung der Subjekte dar, die allerdings in hohem Maße von den intersub­ jektiven Rahmenbedingungen abhängig ist. Durch wechselseitige Anerken­ nung kann also laut Honneth die Freiheit der Menschen garantiert werden: „Die Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der Solidarität bilden intersubjektive Schutzvorrichtungen, die jene Bedingungen äußerer und in­ nerer Freiheit sichern, auf die der Prozeß einer ungezwungenen Artikulation und Realisierung von individuellen Lebenszielen angewiesen ist […].“49 Dabei muss allerdings beachtet werden, dass diese Konzeption trotz allem mit einem partikularistischen Element operiert. Denn wenn soziale Wert­ schätzung als dritte Anerkennungsweise zu der notwendigen Selbstschätzung der Individuen führen soll, lässt sich diese nur vor dem Hintergrund einer gesellschaftlich geteilten Wertekonstellation verorten, die jedoch offen und pluralistisch gestaltet sein muss, um alle Mitglieder einer politischen Ord­ nung inkludieren zu können.50 4. Fazit und Kritik: Der Kampf um Anerkennung als Prinzip moralischen Fortschritts? Honneths Anerkennungstheorie rief eine Vielzahl von akademischen Re­ aktionen hervor, die größtenteils positiver Natur waren.51 Ohne Zweifel ist Honneth das Verdienst anzurechnen, mit seinem Buch erstmals eine umfas­ sende Beschreibung des Konzepts der Anerkennung vorgelegt zu haben. Dabei versteht er es, auf der Basis ideengeschichtlicher Erkenntnisse Ent­ Honneth 1994, S. 271. S. 279. 50  Vgl. ebd. S. 284. 51  Vgl. beispielsweise Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Iden­ tität und Politik, Berlin 2010 und Jones, Peter: Equality, Recognition, and Differ­ ence, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy 9/2006, S. 23–46 sowie die Aufsatzsammlungen Schmidt am Busch, Hans-Christoph/Zurn, Christopher F. (Hrsg.): The Philosophy of Recognition. Historical and Contempo­ rary Perspectives, Lanham u. a. 2010, Seymour, Michael (Hrsg.): The Plural States of Recognition, Basingstoke/New York 2010 und van den Brink, Bert/Owen, David (Hrsg.): Recognition and Power, Axel Honneth and the Tradition of Critical Social Theory, Cambridge 2007. 48  Vgl.

49  Ebd.



II. Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth33

wicklungen und Prinzipien zu identifizieren, die für eine kritische Analyse der aktuellen Problemlage fruchtbar gemacht werden können. Dennoch weisen etliche Kommentator_innen auf die Existenz einiger ­ ffener Fragen hinsichtlich wichtiger Punkte der honnethschen Konzeption o hin. Am deutlichsten äußert sicherlich Nancy Fraser ihre Kritik an Honneths Ideen, indem sie die Vorherrschaft von Anerkennungskämpfen bei der Kon­ stitution sozialer Widerstände in Zweifel zieht. Honneth vernachlässigt ihr zufolge die ökonomische Komponente der strukturellen Ungerechtigkeit und läuft so Gefahr, wichtige gesellschaftliche Bewegungen in sein Modell nicht integrieren zu können.52 Stattdessen plädiert Fraser für ein zweidimensiona­ les Modell der Gerechtigkeit, in dem Umverteilung und Anerkennung gleichberechtigt nebeneinander bestehen.53 Dies ist ihr zufolge aufgrund der Tatsache geboten, dass Gruppen betreffende Gerechtigkeitsfragen immer sowohl materielle Ungleichverteilung als auch unangemessene Statuszu­ schreibungen beinhalten. Grundsätzlich lassen sich diese Dimensionen der Benachteiligungen laut Fraser überhaupt nicht trennscharf voneinander ab­ grenzen, da erstens Menschen meist gleichzeitig Mitglieder verschiedener Gruppen sind und zweitens eben diese Kategorisierungen in Ethnie, Ge­ schlecht oder Einkommensklasse häufig multiple Ungerechtigkeitsprozesse nach sich ziehen.54 Honneths Replik auf diese Kritik überrascht hinsichtlich seiner bisherigen Ausführungen ein wenig. Denn während er in Kampf um Anerkennung noch explizit davon spricht, dass materielle Verteilungsinte­ ressen und psychologische Anerkennungsbedürfnisse gleichrangig behandelt werden müssen55, ist er nun der Ansicht, Forderungen nach sozialer Umver­ teilung entspringen immer entweder dem Verlangen nach rechtlicher An­ erkennung oder nach sozialer Wertschätzung. Verteilungsprobleme müssen demnach immer mit Anerkennung gelöst werden.56 Als weiteren Kritikpunkt an Honneths Anerkennungstheorie lässt sich die von Peter Jones konstatierte Ambivalenz hinsichtlich des Gegenstands sozi­ aler Wertschätzung identifizieren.57 Denn zunächst scheint Honneth diese Form der Anerkennung auf den besonderen Beitrag des einzelnen Subjekts 52  Für eine ähnliche Kritik, allerdings mit anderem Ausgangspunkt vgl. Laden, Anthony Simon: Reasonable Deliberation, Constructive Power, and the Struggle for Recognition, in: van den Brink, Bert/Owen, David (Hrsg.) 2007, S. 288. 53  Vgl. Fraser/Honneth 2003, S. 17. 54  So kann beispielsweise eine Frau sowohl unter schlechter Bezahlung als auch unter sexistischer Degradierung leiden. Auch das coming out eines Menschen mit homosexueller Orientierung kann zu ökonomischen wie statusbedingten Nachteilen führen. Vgl. Fraser/Honneth 2003, S. 36–41. 55  Vgl. Honneth 1994, S. 264 f. 56  Vgl. Fraser/Honneth 2003, S. 193 ff. und S. 202. Vgl. dazu auch C. III. 3. b). 57  Vgl. Jones 2006, S. 37 f.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

zu gesamtgesellschaftlichen Zielen beschränken zu wollen. Allerdings be­ tont er gleichzeitig die individuelle, autonome Selbstverwirklichung, die als Grundlage jeder Anerkennungsforderung auf die Relevanz besonderer Iden­ titätsmerkmale ohne weitere gesellschaftliche Bedeutung hinweist.58 Wäh­ rend die erste Konzeption stark vom Wertehorizont der jeweiligen Gesell­ schaft abhängig ist und sich damit den Vorwurf des Ethnozentrismus ein­ handelt59, scheint letztere auf die Anerkennung von Differenz hinzuweisen, die dem liberalen Gleichheitsprinzip entgegensteht. Honneth distanziert sich deswegen später von dieser missverständlichen Haltung und verweist die Anerkennung unterschiedlicher Identitäten in den Bereich des Rechts, da der normative Anspruch hier nur mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung begründet werden kann.60 Soziale Wertschätzung dagegen lässt sich ihm zufolge nur noch durch Arbeit erlangen, die den gesellschaftlichen Nutzen fördert. Doch mit dieser Volte scheint er das Problem nur auf eine andere Ebene zu verlagern und nicht zu lösen. Denn wenn die Achtung für beson­ dere Leistungen und Eigenschaften der Subjekte tatsächlich unerlässlich für deren Persönlichkeitsentwicklung ist, sollte es in einer liberalen Demokratie möglich sein, deren Gewährung durch politische Prozesse zu garantieren. Zudem sind zahlreiche weitere Tätigkeiten denkbar, die zum gesamtgesell­ schaftlichen Wohl beitragen können.61 Honneth betont stattdessen aus­ schließlich die soziale Dimension der Arbeit, in der die Vergabe von Wert­ schätzung politisch höchstens durch die gesetzliche Festlegung von Min­ destlohngrenzen ausgedrückt werden kann. Da die monetäre Kompensation aber, wie in Abschnitt C gezeigt werden soll, nur eine mögliche Form der Anerkennungsgewährung darstellt und darüber hinaus Forderungen nach der positiven Affirmation von differenten Identitäten nicht angemessen beant­ worten kann, bleibt Honneth hier hinter seinem Ziel zurück, die ungestörte Selbstverwirklichung jedes Individuums anhand der drei Selbstverhältnisse im politischen Rahmen zu gewährleisten. Insgesamt bietet Honneths Anerkennungstheorie zwar einen sinnvollen Ausgangspunkt für die weitere Analyse, bedarf aber einer umfangreichen Ergänzung. Zum einen stellt sich seine philosophische Begriffsarbeit inso­ fern als verkürzt dar, dass er kaum den Versuch macht, „Anerkennung“ 58  Vgl.

ebd. S. 37 f. dazu auch Rösner, Hans-Uwe: Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein, Frankfurt a. M./New York 2002, S.  122 f. 60  Vgl. Fraser/Honneth 2003, S. 195. 61  Vgl. Honneth 2010, S. 78–102 und die Kritik von Heikki Ikäheimo in Ikäheimo, Heikki/Laitinen, Arto: Esteem for Contributions to the Common Good: The Role of Personifying Attitudes and Instrumental Value, in: Seymour, Michael (Hrsg.): The Plural States of Recognition, Basingstoke/New York 2010, S. 105. 59  Vgl.



III. Multikulturalistische Ansätze – Charles Taylor und Will Kymlicka 35

etymologisch, semantisch und kontextuell zu bestimmen. Vielmehr scheint Honneth den Begriff mit einer für den Fortgang seiner Argumentation hilf­ reichen Bedeutung belegen zu wollen, ohne dies jedoch angemessen be­ gründen zu können. Zum anderen bleibt die vorgenommene Sphärentrennung zu schemenhaft, um konkrete Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dabei liefert er zwar durch die Abgrenzung des entwicklungspsychologisch relevanten Bereichs der Liebe die Möglichkeit, sich je nach wissenschaftlicher Ausrichtung der Untersuchung einzuschränken. Denn wählt man einen sozialphilosophischen Ansatz wie Honneth, der den Anspruch hat, die gesamte Gesellschaftsstruk­ tur zu durchdringen, scheint die Beschäftigung mit diesen Mechanismen in der Intimsphäre geboten zu sein. Konzentriert man sich auf politiktheoreti­ sche Phänomene in Bezug auf den Anerkennungsbegriff, wie es in dieser Arbeit der Fall sein soll, kann der Bereich der elementaren Entwicklung des individuellen Selbstverhältnisses jedoch mit gutem Gewissen ausgespart werden. Auch die weitere Sphärenaufteilung, die Honneth vornimmt, er­ scheint zunächst angemessen. Wie sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, sind sowohl die Rechtsverhältnisse, als auch die Ebene sozialer Wert­ schätzung in einem Gemeinwesen politisch relevante Bereiche, die von Anerkennungsstrukturen geprägt werden. Will man allerdings eine normativ gehaltvolle und gleichzeitig praktisch anwendbare Begriffsanalyse vorneh­ men, wäre es falsch, bei dieser umfassenden, aber damit notwendigerweise skizzenhaften Theorie stehenzubleiben, ohne die konkreten politischen Ma­ nifestationen reziproker Anerkennungsbeziehungen in den Blick zu nehmen. Denn gerade eine Differenzierung, die verschiedene mögliche Dimensionen der politischen Anerkennung berücksichtigt, kann einerseits die Wirksam­ keit des Phänomens bestätigen und andererseits zu einem Bewertungsmaß­ stab führen, mit dem Gerechtigkeitsdefizite in bestehenden Ordnungen aufgedeckt werden können.

III. Multikulturalistische Ansätze – Charles Taylor und Will Kymlicka 1. Multikulturalismus im nordamerikanischen Kontext Eine solche praktische Ausdifferenzierung findet sich beispielsweise in Konzeptionen, die sich mit der Frage nach der richtigen Behandlung von nationalen und kulturellen Minderheiten in liberalen Staaten beschäftigen. Besonders in den USA und Kanada, zwei traditionellen Einwanderungslän­ dern, die darüber hinaus eine signifikante Population von Ureinwohnern aufweisen, wurde sich akademisch wie politisch intensiv mit dem Thema des Multikulturalismus auseinandergesetzt. Der Tenor dabei ist der honneth­

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

schen Ausgangsthese nicht unähnlich: Da der klassische Liberalismus das Individuum als isoliert und unabhängig von sozialen Zusammenhängen versteht, entwickelte sich die Vorstellung, dass durch formale politische und rechtliche Gleichheit sowie durch das Neutralitätsgebot des Staates eine gerechte Ordnung verwirklicht werden kann. Lässt sich nun allerdings die Fehlerhaftigkeit dieser Prämisse zeigen, indem die Relevanz von kulturel­ len, religiösen oder weltanschaulichen Bindungen für das Subjekt in seiner Persönlichkeits- und Autonomieentwicklung bewiesen wird, so stellt sich die Frage nach staatlich garantierten Sonderrechten, die Minderheitengrup­ pen eingeräumt werden, um deren Fortbestehen nicht zu gefährden.62 Somit soll also die Anerkennung anhand besonderer Eigenschaften, in diesem Fall die kulturellen Merkmale einer Person, durch rechtlich-politische Prozesse generiert werden, um die ungehinderte Autonomie der Individuen zu ermög­ lichen. Dass die bekanntesten Protagonisten des Multikulturalismus, Charles Taylor und Will Kymlicka, beide aus Kanada stammen, stellt sicherlich keinen Zufall dar. Kanada muss nicht nur seit langer Zeit mit der ungebro­ chenen Zuwanderung von Menschen aus allen möglichen Weltregionen zu­ rechtkommen, sondern weist auch einen moderaten Anteil an indigener Bevölkerung auf, die massiv unter historischen Ungerechtigkeiten zu leiden hatte. Aufgrund dieser politischen Realität wurden von den beiden Denkern Theorien und Vorschläge entwickelt, die multikulturelles Zusammenleben in einem pluralistisch organisiertem Staat ohne die Gefahr der zwangsläufigen Anpassung verschiedener Kulturen an die Mehrheitsgesellschaft möglich machen sollen. 2. Charles Taylors Politik der Anerkennung In seinem Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung von 1992 unternimmt Charles Taylor einen Parforceritt durch die westliche Phi­ losophiegeschichte, um das Anerkennungsparadigma angemessen begründen zu können. Als dessen Ausgangspunkt identifiziert er den historischen Be­ deutungswandel der Begriffe „Ehre“ und „Würde“. Während Ehre immer aufgrund der besonderen Leistung oder Abstammung eines Individuums verliehen wurde, stützt sich die Zuerkennung von Würde auf universelle 62  Vgl. dazu neben den im Folgenden zur Debatte stehenden Arbeiten von Taylor und Kymlicka auch Phillips, Anne: Multiculturalism without Culture, Princeton 2007, Kenny, Michael: The Politics of Identity. Liberal Political Theory and the Dilemmas of Difference, Cambridge 2004, Gutmann, Amy: The Challenge of Mul­ ticulturalism in Political Ethics, in: Philosophy and Public Affairs 22/1993, S. 171– 206, Boshammer, Susanne: Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit. Die moralische Begrün­ dung der Rechte von Minderheiten, Berlin/New York 2003.



III. Multikulturalistische Ansätze – Charles Taylor und Will Kymlicka 37

menschliche Charakteristika, die jeder unabhängig von ihrer Herkunft zu­ kommen. Die Identität des Subjekts generiert sich seitdem in der Interaktion mit den Anderen und ist nicht mehr durch die soziale Rolle festgelegt. In diesem „dialogischen Charakter menschlicher Existenz“63 sieht Taylor die anthropologische Grundkonstante der Moderne, die von der zeitgenössischen Philosophie allerdings vernachlässigt wurde.64 Die politischen Implikationen dieser neuen Sichtweise wurden laut Taylor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders evident. Soziale Wi­ derstandsbewegungen wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA oder der Feminismus forderten zunächst unter der Prämisse des Gleichheitsprinzips die volle rechtliche, politische und soziale Inklusion benachteiligter Grup­ pen. Doch gleichzeitig formierte sich der Gedanke, die eigene, unverwech­ selbare Identität zum Bezugspunkt staatlicher Anerkennung zu erheben und damit anstatt liberaler Differenz-Blindheit die positive Affirmation unter­ schiedlicher Lebenskonzeptionen zu verlangen. Für Taylor entsteht aus dieser Vermischung eine neue Form der Anerkennungspolitik: „Wir können das, was universell vorhanden ist – jeder Mensch hat eine Identität –, nur anerkennen, indem wir auch dem, was jedem Einzelnen eigentümlich ist, unsere Anerkennung zuteil werden lassen. Die aufs Allgemeine gerichtete Forderung wird zur Triebkraft der Anerkennung des Besonderen.“65 Im Anschluss daran formuliert Taylor das zentrale politische Problem, das die auf Differenz fokussierte Anerkennungstheorie mit sich bringt. Denn anstatt sich auf die universelle Gleichheit aller Menschen zu beziehen, wie es das Postulat der allgemeinen Menschenwürde tut, soll die staatliche Behandlung von Gruppen mit bestimmten Identitäten nun anhand deren Besonderheit festgelegt werden. Sowohl auf rechtlicher als auch auf politischer Ebene fordert die Politik der Differenz eine neue Form der differenzierenden Pra­ xis, die eben nicht alle Gesellschaftsmitglieder formal gleich behandelt, sondern auf der Basis unterschiedlicher Eigenschaften unterschiedliche Ansprüche gelten lässt.66 Doch die Kritik an der liberalen Differenzblindheit und angeblichen kulturellen Neutralität geht laut Taylor noch einen Schritt weiter. Anschließend an die These, jeder Kultur sei per se gleich viel 63  Taylor

2009, S. 19 [Hervorhebung i. O.]. ebd. S. 19 f. 65  Ebd. S. 26. 66  Vgl. ebd. S. 26 f. Vgl. auch die Formulierung von Linda Nicholson, die das von Taylor identifizierte Grundproblem prägnant auf den Punkt bringt: „It is the conflict between the modern assumption that rights are not based on what is spe­ cific to the individual and the equally modern need for the recognition of what is specific to individuals and groups that underlies many of our contemporary conflicts of public life.“ Nicholson, Linda: To be or not to be: Charles Taylor and the Politics of Recognition, in: Constellations 3/1996, S. 3. 64  Vgl.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

­Respekt entgegenzubringen, da niemand in der Lage ist, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, wird von dieser Denkrichtung die Möglichkeit zur Universalität überhaupt in Frage gestellt. Der Liberalismus, so der von Taylor beschriebene Vorwurf, der von einigen allgemeinen Prinzipien aus­ geht, stellt selbst ein Produkt einer historisch kontingenten Kultur dar und ist somit nichts anderes, als „[…] ein Partikularismus unter der Maske des Universellen.“67 Taylor fasst an dieser Stelle also prägnant zusammen, wel­ che politischen Implikationen eine philosophische Anerkennungstheorie haben kann. Hier entsteht eine Problemlage, die das gesamte Ausmaß dieser Debatte zum Vorschein kommen lässt. Denn mit der institutionellen Aner­ kennung besonderer Identitäten wird der Weg der Universalität zu Gunsten partikularer Überzeugungen verlassen. Nicht weniger als die ideelle Grund­ lage moderner liberaler Ordnungen steht somit auf dem Spiel, wenn das universelle Gleichheitsprinzip als rechtlich-politisches Fundament demokra­ tischer Gesellschaften aufgrund nicht aufzulösender Widersprüche in sich zusammenfällt. Anders als Axel Honneth stützt sich Taylor in seiner ideengeschichtlichen Analyse zunächst auf die Anerkennungstheorie Jean-Jacques Rousseaus, die dieser im Zuge seiner politikphilosophischen Schriften entwickelt hat. Für Taylor ist Rousseau einer der ersten Philosophen, der sich mit dem mensch­ lichen Bedürfnis nach Anerkennung näher auseinandergesetzt hat.68 Die Abhängigkeit von der Meinung anderer, die Rousseau im Zweiten Diskurs als Grundübel der menschlichen Entwicklungsgeschichte identifizierte69, besteht in erster Linie aus dem Verlangen nach Wertschätzung für besonde­ re Leistungen und Eigenschaften. Doch wenn genau diese Abhängigkeit verantwortlich für die Bildung von ungerechten Hierarchien in der Gesell­ schaft gemacht werden kann, muss Anerkennung irgendwie kanalisiert werden, um die Freiheit der Menschen in der politischen Gemeinschaft zu erhalten. Laut Taylor spielt dabei die Gleichheit eine entscheidende Rolle: Nur wenn alle Bürger einerseits durch den gemeinsamen politischen Prozess und andererseits durch institutionalisierte öffentliche Anerkennung gleicher­ maßen voneinander abhängig sind, lässt sich die Autonomie des Einzelnen garantieren. Rousseau skizziert so ein radikal egalitäres Bild von Anerken­ nung: „Eine vollkommen ausgewogene Gegenseitigkeit nimmt unserer Ab­ hängigkeit von der Meinung anderer den Stachel und macht sie vereinbar 67  Taylor

2009, S. 30. ebd. S. 31. Für eine fundierte Beschäftigung mit dem Anerkennungsthema bei Rousseau vgl. Neuhouser, Frederick: Rousseau’s Theodicy of Self-Love. Evil, Rationality, and the Drive for Recognition, New York 2008. 69  Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grund­ lagen der Ungleichheit unter den Menschen. Hrsg. und übers. von Philipp Rippel, Stuttgart 1998. 68  Vgl.



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mit Freiheit.“70 Dennoch hält Taylor dies für nicht ganz unproblematisch. Der Preis für die Freiheit des Individuums, die Rousseau sichern will, liegt demnach im Ausschluss jeglicher Differenz im politischen Gemeinwesen. Nur wenn die Bürger ein gemeinsames Ziel verfolgen, einen allgemeinen Willen bilden und Pluralisierungstendenzen widerstehen, entfaltet dieser Lösungsentwurf seine volle Funktionalität. Eine Funktionalität allerdings, die eher an die restriktive Ausrichtung einer Tyrannei erinnert, als an die Freiheit einer liberalen Demokratie.71 Nach dieser ideengeschichtlichen Ursachenforschung unternimmt Taylor nun den Versuch, die Grundrisse eines liberalen Denkmodells zu skizzieren, das die rousseausche Homogenisierung vermeidet und damit genügend Raum für die Anerkennung von Differenz zulässt. Am Beispiel der politi­ schen Praxis in Kanada entwickelt Taylor die Unterscheidung zwischen zwei Formen liberaler Staatlichkeit. Auf der einen Seite wird vor allem die Bedeutung von Rechten als Schutz des Individuums vor ungerechter Be­ handlung betont. Durch einen Katalog von Grundrechten wird dabei den Bürgern der gleiche Schutz vor Diskriminierung aufgrund irrelevanter Ei­ genschaften wie Ethnie oder Geschlecht garantiert. Als prominenter Vertre­ ter dieser Richtung erläutert der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin dies noch genauer: Er unterscheidet die Möglichkeiten des sub­ stanziellen Engagements für bestimmte partikulare Zwecke und des proze­ duralen Engagements für den fairen, aber ergebnisoffenen Diskurs innerhalb der politischen Gemeinschaft. Eine liberale Gesellschaft kann nur letzteres zu ihrem politischen Grundsatz erheben, da es sich ihr aufgrund ihres frei­ heitlichen Selbstverständnisses verbietet, inhaltlich festgelegte Anschauun­ gen institutionell zu verankern.72 Die Antwort auf die Herausforderung von kultureller Pluralität innerhalb einer politischen Gemeinschaft lautet in diesem Paradigma also: „Eine liberale Gesellschaft muss im Hinblick auf die Idee des guten Lebens neutral bleiben, sie muss sich darauf beschränken zu gewährleisten, dass die Bürger, gleichgültig, welche Anschauungen sie haben, fair miteinander umgehen und dass der Staat alle gleich behandelt.“73 Dies steht nun allerdings den Interessen bestimmter Gruppen entgegen, die – wie beispielsweise die frankophone Bevölkerung des kanadischen Bundesstaates Quebec – kollektive Zwecke verfolgen. Deren Ansicht nach muss ein Staat den Erhalt der eigenen Kultur, die oft eng an die jeweilige Muttersprache geknüpft ist, garantieren. Denn ohne den besonderen recht­ lichen Schutz vor der schleichenden Assimilierung fühlen sich kulturelle 70  Taylor

2009, S. 34. ebd. S. 36 f. 72  Vgl. ebd. S. 42 f. 73  Ebd. S. 43. 71  Vgl.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Minoritäten Taylor zufolge wehrlos der majoritätsbasierten demokratischen Willkür der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt.74 Als Alternative schlägt er nun jedoch nicht die radikale Abkehr von einer gleichheitsorientierten Rechtspolitik, sondern vielmehr eine Ausdifferenzierung dieses Prinzips vor. Während weiterhin fundamentale Grundrechte auf alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen verteilt werden müssen, gilt es, davon bestimm­ te Sonderrechte zu unterscheiden, die den jeweiligen Gruppen aufgrund ihrer besonderen geteilten Identität zukommen.75 Taylor stellt so zwei Libe­ ralismus-Typen gegenüber, von denen der erste, den er Rechte-Liberalismus nennt, die differenz-blinde Behandlung aller Menschen gleichermaßen be­ vorzugt, während der zweite Typ offen für die institutionelle Unterstützung kollektiver Ziele ist, sofern diese die Autonomie der einzelnen Individuen nicht unzulässig einschränken. Ohne dies näher zu begründen, plädiert Tay­ lor dezisionistisch für die zweite Variante.76 Im letzten Abschnitt seines Essays konzentriert sich Taylor auf die Fehler der ersten Liberalismus-Variante, geht aber nicht mehr auf die Vorteile der von ihm propagierten Alternative ein. Das Problem, das vorher schon ange­ deutet wurde, wird nun genauer ausbuchstabiert. Obwohl der so verstandene Liberalismus seine Unabhängigkeit von kulturellen und religiösen Einflüs­ sen versichert und Universalität beansprucht, bleibt er nichts anderes als eine bestimmte, historisch gewachsene Sicht der Dinge: „Auch der Libera­ lismus ist eine kämpferische Weltdeutung.“77 Aus diesem Vorwurf des Ethnozentrismus heraus entwickelt Taylor die Forderung, allen Kulturen, die über einen längeren Zeitraum auf der Erde existiert haben, grundsätzlich einen Wert zuzubilligen. Die mangelnde Bereitschaft, Produkte nicht-west­ licher Kulturkreise in den erzieherischen Kanon von Schulen und Universi­ täten aufzunehmen, zeugt ihm zufolge von einer ablehnenden Grundeinstel­ lung gegenüber fremden Werten und Prinzipien, die es zu korrigieren gilt. Dabei will Taylor jedoch nicht grundsätzlich die Zulässigkeit von Wertur­ teilen in Zweifel ziehen. Vielmehr soll die Annahme der Gleichwertigkeit aller Kulturen als „Ausgangshypothese“ fungieren, mit deren Hilfe das Studium fremder Praktiken begonnen werden kann, was im Idealfall eine „Horizontverschmelzung“ nach Hans-Georg Gadamer mit sich bringt, die die eigenen Wertmaßstäbe verändert.78 Dennoch muss Vorsicht geboten sein: Die weitestgehend ungeprüfte Gewährung von positiver Anerkennung für andere Kulturen wäre laut Taylor deren Vertretern gegenüber genauso 74  Vgl.

ebd. S. 45. ebd. S. 45 f. 76  Vgl. ebd. S. 47 f. 77  Ebd. S. 49. 78  Vgl. ebd. S. 53 f. 75  Vgl.



III. Multikulturalistische Ansätze – Charles Taylor und Will Kymlicka 41

demütigend wie ethnozentrisch. Denn sie würde dadurch einerseits gerade den Respekt vor der Autonomie der Individuen vermissen lassen, indem aus bloßem Schuldgefühl heraus eine eingehende Beschäftigung mit deren Wer­ ten nicht stattfindet. Andererseits würden so stillschweigend die eigenen Kriterien herangezogen, um Werturteile über andere Kulturen zu fällen. Denn die Forderung, positive Elemente in einer bestimmten Haltung zur Welt zu entdecken, krankt schon daran, dass diese immer nur positiv nach den eigenen, partikularen Maßstäben sein können. Eine Politik der Anerken­ nung, die die bedingungslose Wertschätzung aller Identitäten verlangt, führt laut Taylor also nicht nur ihren eigenen Gegenstand ad absurdum sondern kann auch mit dem Zwang zur Übernahme bestimmter Wertmaßstäbe en­ den.79 Zu angemessener Anerkennung von Differenz beitragen kann Taylor zufolge allerdings eine moralische Haltung, die von der Annahme der Gleichwertigkeit ausgeht und die Bereitschaft signalisiert, die eigenen Über­ zeugungen kritisch zu überprüfen.80 3. Will Kymlickas Multikulturalismus Ähnlich wie Taylor will auch Will Kymlicka die Vereinbarkeit der libera­ len Theorie mit den Herausforderungen moderner pluralistischer Gesellschaf­ ten demonstrieren. Bereits im Jahr 1989 legte Kymlicka mit Liberalism, Community and Culture eine Publikation vor, in der er den häufig als unüber­ brückbar wahrgenommenen Gegensatz zwischen Liberalismus und Kommu­ nitarismus auf ein Minimum zu reduzieren versuchte. Anknüpfend an die rawlssche Grundgüterkonzeption81 argumentiert Kymlicka hier, dass die Ein­ bettung in traditionelle kulturelle Zusammenhänge durchaus zu den funda­ mentalen Ansprüchen der Gesellschaftsmitglieder zählen kann. Denn nur durch die Möglichkeit, auf einer festen Orientierungsbasis die eigene Vorstel­ lung vom guten Leben evaluieren und gegebenenfalls verändern zu können, entsteht die volle Autonomie des Subjekts, also das höchste Ziel liberaler Denker überhaupt. Die kulturelle Struktur bildet für Kymlicka somit einen „Kontext der Wahlmöglichkeit“ (context of choice), dessen Bereitstellung und Sicherung als Grundgut im rawlsschen Sinne gelten kann.82 Die politi­ sche Konsequenz dieser theoretischen Argumentation ist weitreichend: Wenn 79  Vgl.

ebd. S. 56 ff. ebd. S. 59 f. 81  Rawls argumentiert, dass jeder Mensch bestimmte Grundgüter benötigt, um in einem Gemeinwesen seine Autonomie vollständig ausüben zu können. Dazu gehören individuelle Grundrechte genauso wie eine materielle Minimalversorgung. Eine The­ orie der Gerechtigkeit muss deswegen dafür Sorge tragen, dass diese Güter gleicher­ maßen verteilt werden. Vgl. dazu Rawls 2005, S. 179 ff. 82  Vgl. Kymlicka 1989, S. 164 ff. 80  Vgl.

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Gruppen mit besonderer kultureller Identität in der Lage sein sollen, diese Identität zu erhalten, dann muss ihnen von staatlicher Seite aus Anerkennung in Form von bestimmten Sonderrechten gewährt werden. Ansonsten wäre der Assimilationsdruck, den die Mehrheitsgesellschaft mit institutioneller Unter­ stützung ausübt, für viele kleinere Gruppen zu hoch, um die eigene kulturelle Zugehörigkeit weiterhin beibehalten zu können. Der Bezugspunkt bleibt für Kymlicka jedoch das Individuum. Ganz im liberalen Sinne ist es dessen Au­ tonomie, die durch die Einführung besonderer Rechte geschützt werden soll: „[…] [T]he very reason to respect a principle affirming the importance of cultural membership to minority groups is also a reason to respect a principle affirming the rights of individual members of this group.“83 In seinem Werk Multicultural Citizenship, A Liberal Theory of Minority Rights von 1995 plädiert Kymlicka dann folgerichtig für die Einrichtung besonderer Minderheitenrechte, allerdings weiterhin auf der Grundlage libe­ raler Prinzipien. Für ihn ist jedoch klar, dass die von vielen Liberalen vorgebrachte Idee der kulturellen und religiösen Neutralität des modernen Nationalstaates eine Illusion darstellt. Denn bewegt man sich weiterhin in­ nerhalb der klassischen liberalen Rechtskonzeption, die von den Unterschie­ den der einzelnen Individuen und Gruppen abstrahiert, um allen die gleichen Ansprüche zuzuschreiben, entwickelt sich laut Kymlicka eine unvermeid­ liche Tendenz zum öffentlichen Assimilationsdruck. Alleine mit der Festle­ gung einer Amtssprache bekennt sich ein Staat zu einer bestimmten Kultur, indem er ihr wichtigstes Element seiner gesamten Bevölkerung gewisserma­ ßen aufzwingt. Daraus folgt für Kymlicka an anderer Stelle: „Die Nutzung staatlicher Politik, um eine bestimmte gesellschaftliche Kultur oder be­ stimmte gesellschaftliche Kulturen zu fördern, ist ein unvermeidlicher Zug eines jeden modernen Staates.“84 Minderheiten mit differenten Identitäten bleibt somit nichts anderes übrig, als sich zumindest minimal an die vor­ herrschende Mehrheitskultur anzupassen.85 Dieser Entwicklung liegt laut Kymlicka die Tatsache zugrunde, dass territorial organisierte Gesellschaften eine Kultur ausbilden, die er societal culture86 nennt. Dieses Gemisch von gemeinsamer Sprache, Institutionen und Praktiken bildet die Grundlage für die Wahl der eigenen Konzeption des guten Lebens. Für Kymlicka ist eine societal culture „[…] a culture, which provides its members with meaning­ ful ways of life across the full range of human activities, including social, educational, religious, recreational, and economic life, encompassing both 83  Kymlicka

1989, S. 197. 1999, S. 27. 85  Vgl. dazu auch Kymlicka 1995, S. 110 f. 86  Da dieser Begriff nur unzureichend übersetzt werden kann, wird im Folgenden weiter der englische Ausdruck verwendet. 84  Kymlicka



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public and private spheres. These cultures tend to be territorially concentrat­ ed, and based on a shared language.“87 Ohne die Zugehörigkeit zu einer solchen gesellschaftlichen Kultur bleibt laut Kymlicka nicht nur die Persön­ lichkeits- und Identitätsentwicklung sondern auch die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit unvollständig, wie er an anderer Stelle betont: „Membership in a societal culture, then, is necessary for liberal freedom and equality.“88 Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sowohl nationale Minderheiten als auch die Mehrheitsgesellschaft eine societal culture aus­ bilden. Wird nun aber die Kultur der Mehrheitsgesellschaft zwangsweise auf alle Individuen ausgedehnt, wie es laut Kymlicka in einem differenzblinden liberalen System der Fall ist, verlieren kulturelle Minderheiten den eigenen context of choice und die Mitglieder dieser Gruppen ihre Autonomie: „For meaningful individual choice to be possible, individuals need not only ac­ cess to information, the capacity to reflectively evaluate it, and freedom of expression and association. They also need access to a societal culture.“89 Dementsprechend versucht Kymlicka, die Einführung von Sonderrechten, die den Erhalt und die Ausübung der eigenen Kultur garantieren können, theoretisch zu begründen. Voraussetzung dafür ist zunächst eine gleicher­ maßen inhaltliche wie begriffliche Differenzierung: In einem multikulturell geprägten Staat müssen zwei verschiedene Minoritätstypen unterschieden werden, mit denen dann in einem zweiten Schritt jeweils eine bestimmte Rechtskategorie in Verbindung gebracht wird. Relativ einfach können laut Kymlicka Autonomieregelungen für nationale Minderheiten (self-government rights) begründet werden. Da die UN-Charta das Selbstregierungsrecht für jedes Volk festschreibt, sollten auch Volksgruppen ohne eigenes Staatsterri­ torium in der Lage sein, ihre eigenen Angelegenheiten weitestgehend selbst zu bestimmen. Der Grund hierfür liegt zumeist in der geschichtlichen Situ­ ierung: Bei Staatsgründungen wurden die Territorien nationaler Minderhei­ ten häufig rücksichtslos vereinnahmt. Aufgrund dieser historischen Unge­ rechtigkeit ist für Kymlicka nicht ersichtlich, warum sich diese Gruppen der allgemeinen Gesetzgebung der neuen politischen Ordnung vollständig unter­ werfen sollten. Trotz gewisser Schwierigkeiten, ein Volk oder eine Nation exakt zu identifizieren, scheint also die staatliche Garantie partikularer Autonomie für historisch, territorial und kulturell definierte Volksgruppen geboten zu sein. Ein Blick auf die politische Praxis in den USA und Kana­ da bestätigt laut Kymlicka, dass in diesen Fragen ein Konsens besteht.90 87  Kymlicka

1995, S. 76. Will: Do we need a Liberal Theory of Minority Rights? In: Constel­ lations 4/1997, S. 75. 89  Kymlicka 1995, S. 84. 90  Vgl. ebd. S. 27 ff. Kymlicka nennt hier die Situation der Native Americans in den USA sowie den Sonderstatus von Québec in Kanada. Allerdings sagt dies nichts 88  Kymlicka,

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Komplizierter stellt sich die Situation dar, wenn die Rechte von kulturel­ len Gruppen, deren Mitglieder in einen bestehenden Staat immigriert sind, auf dem Prüfstand stehen (polyethnic rights). Denn der freiwillige Eintritt in eine vordefinierte Rechtssphäre beinhaltet Kymlicka zufolge das Be­ kenntnis, sich grundsätzlich den allgemeinen Regeln einer Gesellschaft un­ terordnen zu wollen.91 Mit der Entscheidung, das eigene Land zu verlassen, gibt das jeweilige Individuum somit bestimmte Rechte auf und kann deswe­ gen nicht erwarten, ähnlichen gruppenbezogenen Autonomiestatus, wie na­ tionale Minderheiten ihn genießen sollten, zu erlangen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Einwanderer sich vollständig an die vorherrschende Mehrheits­ kultur assimilieren müssten. Da wie oben beschrieben nach Kymlicka der kulturelle Hintergrund den elementaren Rahmen zur Wahl der selbstbe­ stimmten Konzeption des guten Lebens darstellt, muss auch Immigrantinnen die rechtliche Möglichkeit gewährt werden, die eigene Kultur zu erhalten und zu praktizieren. Die daraus resultierenden sogenannten polyethnischen Rechte umfassen politisch-rechtliche Maßnahmen wie Anti-Diskriminie­ rungsgesetze, öffentliche Finanzierung für bestimmte Praktiken oder Aus­ nahmeregelungen, wenn allgemeine Gesetze den religiösen Überzeugungen einer Gruppe entgegenstehen.92 Schließlich identifiziert Kymlicka noch eine dritte Form von Sonderrech­ ten, nämlich spezielle Repräsentationsrechte (special representation rights). Diese können sowohl für nationale Minderheiten als auch für Einwanderer­ gruppen gelten und bestehen meist aus Quotenregelungen für nationale, regionale oder lokale Parlamente. Als Argument hierfür wird die ungerech­ te Unterrepräsentation bestimmter Gruppen in den machtrelevanten staatli­ chen Institutionen vorgebracht. Die Festlegung von temporären Quoten soll diese Ungleichverteilung übergangsweise solange ausbalancieren, bis die über die Situation in anderen Ländern aus, die nationale Minderheiten integrieren müssen. Der Vorwurf, Kymlicka konzentriere sich zu sehr auf die politische Realität in Nordamerika trifft hier sicherlich zu. Vgl. dazu Parekh, Bhikhu: Dilemmas of a Multicultural Theory of Citizenship, in: Constellations 4/1997, S. 62. 91  Selbstverständlich stellt sich hier sofort die Frage, inwiefern man bei politisch, wirtschaftlich oder klimatisch bedingten Migrationsbewegungen von Freiwilligkeit sprechen kann (vgl. dazu auch Emcke, Carolin: Kollektive Identitäten. Sozialphilo­ sophische Grundlagen, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 62 f.). Kymlicka scheint jedoch von der zumindest potenziell vorhandenen Möglichkeit auszugehen, Auswan­ derer könnten ihr Zielland frei wählen. Ihm ist allerdings klar, dass Flüchtlinge nicht unter diese Kategorie fallen. Diese müssten eigentlich genau wie nationale Minder­ heiten den Schutz der eigenen Kultur genießen dürfen. Da hier jedoch meist eine Ungerechtigkeit des jeweiligen Heimatlandes vorliegt, kann schwerlich dem aufneh­ menden Land die Pflicht dazu zugeschrieben werden. Vgl. Kymlicka 1995, S. 63, S.  95 f. u. S.  98 f. 92  Vgl. ebd. S. 30 f.



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Machtstrukturen und das gesellschaftliche Bewusstsein dahingehend verän­ dert sind, dass gerechte Repräsentation ohne gesetzlichen Zwang erreicht werden kann.93 An dieser Stelle ist es nötig, die theoretische Begründung Kymlickas, die hinter seinem Plädoyer für die rechtliche Anerkennung von Minderheiten in liberalen Demokratien steht, genauer zu erläutern. Denn zum einen tritt er mit dem Anspruch auf, die Politik der Anerkennung mit klassischen libera­ len Positionen zu versöhnen. Zum anderen steht und fällt die Bewertung konkreter politischer und rechtlicher Maßnahmen grundsätzlich mit der Plausibilität der Rechtfertigung, auf der diese basieren. Die Ausgangshypothese Kymlickas soll an dieser Stelle kurz wiederholt werden: Die Einbettung in Kultur, Religion oder Weltanschauung stellt für das Individuum den unumgänglichen Kontext dar, in dem es sich bewegt. Kultur hat für Kymlicka also zwar einen instrumentellen Wert, aber keinen intrinsischen, denn ohne diesen sinnstiftenden Bezugsrahmen sind Menschen nicht vollständig in der Lage, autonom eine eigene Identität auszubilden, diese zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern. Wenn nun aber das Ziel eines liberalen Staates darin besteht, dem Individuum so viel Autonomie wie möglich zu gewähren, dann folgt daraus, dass kulturelle Einstellungen und Praktiken rechtlichen Schutz da benötigen, wo sie durch den Anpas­ sungsdruck der Mehrheitsgesellschaft vom Aussterben bedroht sind. Mit dieser Schlussfolgerung ergibt sich sogleich das erste Problem dieser Hal­ tung: Wie soll illiberales Verhalten innerhalb kultureller Gruppen behandelt werden? Denn wenn beispielsweise die Unterdrückung von Frauen, der Zwang zur Praktizierung bestimmter Rituale oder das Verbot, die eigene Gruppe zu verlassen, zur gängigen Praxis einer Minderheit gehören, dann kann kaum davon gesprochen werden, dass dies die Autonomie der Indivi­ duen fördere. Kymlickas Antwort darauf erscheint unbefriedigend: Es soll zwar eine Liberalisierung dieser Gruppen angestrebt werden, allerdings nicht durch staatlichen Zwang, da in die Autonomie der nationalen Minder­ heiten nicht ohne weiteres eingegriffen werden darf. Einwanderergruppen dagegen haben keinen Anspruch auf illiberale Praktiken innerhalb ihres kulturellen Kontextes, da sie mit ihrer freien Entscheidung, zu emigrieren, die Regeln des Ziellandes stillschweigend akzeptieren.94 Hier zeigt sich, dass die grundsätzlich durchaus notwendige Unterscheidung zwischen den verschiedenen Gruppen Kymlicka in Schwierigkeiten bringt. Denn wenn die staatliche Anerkennung des kulturellen Rahmens so wichtig für die Autono­ mie- und damit auch Persönlichkeitsentwicklung des Individuums ist, war­ um sollten dann Immigrantinnen nicht die gleichen Rechte genießen dürfen 93  Vgl. 94  Vgl.

ebd. S. 32 f. ebd. S. 94 f. und S. 164–170.

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wie nationale Minderheiten? Alleine der fragwürdige Hinweis auf deren freiwillige Auswanderung sowie die vage Vermutung, Mitglieder solcher Gruppen wären meist sowieso mit dem Verlangen nach Integration und Anpassung erfüllt, reichen nicht aus, um diesen die Möglichkeit zu nehmen, ein wesentliches Element ihrer Identität zu verwirklichen.95 Einen weiteren Eckpfeiler der Argumentation Kymlickas stellt das liberale Prinzip der Orientierung am Individuum als elementare politische Einheit dar. Zwar plädiert Kymlicka durchaus für die Einführung von Kollektivrech­ ten, auch wenn er diese Bezeichnung für irreführend hält96, deren Legitima­ tion stützt sich aber nicht auf Gründe des Schutzes kultureller Vielfalt wie bei Taylor, sondern auf die Möglichkeit der unbeschränkten Wahlfreiheit der Gruppenmitglieder. Das Individuum bleibt also ganz im liberalen Sinne der Bezugspunkt rechtfertigungstheoretischer Überlegungen.97 Daran anknüpfend ergibt sich ein drittes zentrales Element der liberalen Theorie Kymlickas: das Gleichheitspostulat. Denn überraschenderweise be­ zieht sich Kymlicka bei der Rechtfertigung von Sonderrechten zunächst auf die fundamentale Gleichheit aller Bürger. Das klassische liberale Argument, demzufolge jedes Gesellschaftsmitglied ungeachtet seiner kulturellen Iden­ tität die gleichen Rechte zugesprochen bekommt, stellt für ihn jedoch eine unzulässige Vereinfachung dar, die in der politischen Praxis sogar die Un­ gleichheit fördert. Beispielsweise kann die konsequente Anwendung der demokratischen Mehrheitsregel Angehörige bestimmter Minderheiten unge­ rechterweise benachteiligen, da deren Interessen in jeder Abstimmung, ob direktdemokratisch oder parlamentarisch, von der Mehrheitsgesellschaft übergangen werden können.98 Dies gilt gleichermaßen für nationale Minder­ heiten, die deswegen einen weitgehenden Autonomiestatus beanspruchen dürfen, wie für Immigrantengruppen mit einer besonderen Identität, die in den Entscheidungsstrukturen des Staates einigermaßen repräsentativ vertre­ ten seien sollten.99 Substanzielle Gleichheit erfordert also laut Kymlicka die zu dieser Kritik auch Emcke 2000, S. 62 f. zufolge trennt dieser Begriff nicht zwischen den internen Restrik­ tionsmöglichkeiten einer Gruppe (die nicht immer zulässig sind) und den externen Schutzmechanismen zum Erhalt der eigenen Kultur. Vgl. Kymlicka 1995, S. 45. 97  Vgl. zur Frage der Zulässigkeit von Kollektivrechten auch die Diskussion in C. III. 3. a). 98  Vgl. Kymlicka 1995, S. 108 f. 99  So lassen sich wie oben schon erwähnt beispielsweise temporäre Quotenrege­ lungen (affirmative action) begründen, die trotz ihrer offensichtlichen Bevorzugung einiger Individuen aufgrund der historischen Ungerechtigkeiten gegenüber deren Gruppen angemessen erscheinen. Kymlicka ist sich allerdings der Gefahr bewusst, die entsteht, wenn nur Vertretern einer bestimmten Gruppe die Möglichkeit zuge­ sprochen wird, diese angemessen zu repräsentieren. Vgl. Kymlicka 1995, S. 139 ff. 95  Vgl.

96  Kymlicka



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Einrichtung spezieller Entscheidungs- und Repräsentationsrechte für kultu­ relle Minderheiten, um deren speziellen Bedürfnissen angemessen begegnen zu können. 4. Fazit und Kritik: Die Fixierung auf rechtliche Anerkennung Sowohl Charles Taylor als auch Will Kymlicka haben mit ihren Entwür­ fen eine notwendige Debatte im akademischen Raum angestoßen, wie mo­ derne, multikulturell geprägte Gesellschaften mit ihren Minderheitengruppen umgehen sollten. Für beide spielt die rechtliche Anerkennung deren kultu­ reller Besonderheiten eine zentrale Rolle, auch wenn Taylor vor allem den potenziellen intrinsischen Wert von Kultur betont, während für Kymlicka die eigene Kultur als Fundament für die Autonomieentwicklung des Indivi­ duums dient und somit lediglich instrumentellen Wert besitzt. Beide betonen außerdem, dass anerkennungstheoretische Elemente mit klassischen libera­ len Positionen vereinbar sind. Denn weder die Einrichtung von kulturbezo­ genen Sonderrechten noch die temporäre Bevorzugung ehemals benachtei­ ligter Gruppen für politische Positionen und Ämter stellen für sie genuine Bedrohungen für die liberale Demokratie dar, sondern ergänzen diese viel­ mehr, um wahre Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen. Allerdings bleiben weite Teile des Multikulturalismus der beiden Philo­ sophen diskussionswürdig. Besonders Jürgen Habermas hat sich in seinem Kommentar zu Taylor, der jedoch auch als allgemeine Einschätzung mul­ tikultureller Theorien gelten kann, als Kritiker hervorgetan. In Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat versucht Habermas zu zeigen, dass Taylor eine falsche Unvereinbarkeit konstruiert, wenn er die abstrakte Anerkennung des Individuums ungeachtet dessen Identität und die beson­ dere Wertschätzung kultureller Praktiken gegenüberstellt. Denn laut Haber­ mas vernachlässigt der kanadische Philosoph die „Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie.“100 Dies bedeutet, dass in rechts­ staatlich organisierten Gesellschaften die Individuen als souveräne Autoren der Gesetze, denen sie gleichzeitig untergeordnet sind, fungieren müssen, um wahre Autonomie zu erlangen. Damit bleibt die liberale Theorie aber gerade sensibel gegenüber identitären Differenzen, da die Identität und In­ tegrität der einzelnen Bürgerinnen durch diese Doppelfunktion sogar im besonderen Maße geschützt wird. Nicht die Einrichtung neuer, systemfrem­ der Rechtstypen, sondern die konsequente Umsetzung der bestehenden li­ 100  Habermas, Jürgen: Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2009, S. 128 [Hervorhebung i. O.].

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beraldemokratischen Prinzipien sollte laut Habermas also die nötige Aner­ kennung garantieren.101 Darüber hinaus stellt sich für Habermas die Frage, inwiefern Kollektiv­ rechte überhaupt in einem auf Rechtsindividualismus zugeschnittenen libe­ ralen Staat verankert werden können. Zwar gibt er den Multikulturalisten insofern Recht, dass seiner Ansicht nach in jeder Gesellschaft der Rechts­ setzungsprozess auch von historisch gewachsenen, partikularen Vorstellun­ gen des guten Lebens bestimmt ist. Diese „ethische Imprägnierung des Rechtsstaats“102, die in politischen Diskursen ständig neu justiert werden muss, bedeutet jedoch gerade nicht, dass bestimmten kulturellen Praktiken und Überzeugungen der Vorzug gegeben wird. Durch ihre prozedurale Ori­ entierung bleibt die liberale Demokratie weiterhin der Neutralität hinsicht­ lich der rechtlichen Behandlung der Individuen verpflichtet: „Der Universa­ lismus der Rechtsprinzipien spiegelt sich in einem prozeduralen Konsens, der freilich in den Kontext einer jeweils historisch bestimmten politischen Kultur sozusagen verfassungspatriotisch eingebettet sein muss.“103 Aner­ kannt wird laut Habermas in einem solchen Staat also die Integrität der einzelnen Rechtsperson, die ohne kulturelle und soziale Zusammenhänge undenkbar ist. Die daraus durchaus resultierenden Ansprüche auf besondere Behandlung entsprechen allerdings allgemeiner und gleicher Anerkennung und nicht der besonderen Wertschätzung einer Kultur. Gleichberechtigte Koexistenz kann und sollte nach Habermas ohne Kollektivrechte geschaffen werden: „Selbst wenn solche Gruppenrechte im demokratischen Rechtsstaat zugelassen werden könnten, wären sie nicht nur unnötig, sondern normativ fragwürdig. Denn der Schutz von identitätsbildenden Lebensformen und Traditionen soll ja letztlich der Anerkennung ihrer Mitglieder dienen; er hat keineswegs den Sinn eines admi­ nistrativen Artenschutzes.“104

Habermas bewegt sich also weiterhin auf liberalem Boden, indem er die individuell orientierte Rechtsgleichheit und die Trennung zwischen einer ethisch-weltanschaulichen sowie einer politischen Ebene als wesentliche Prinzipien demokratischer Gesellschaften betont. Auch Kymlickas Ansatz wurde von verschiedenen Seiten scharf kriti­ siert. In ihrem Essay Is Multiculturalism Bad for Women? beschreibt Sus­ an Moller Okin die Vorbehalte, die von feministischer Seite der multikul­ turalistischen Forderung nach Gruppenrechten entgegengebracht werden 101  Vgl.

ebd. S. 128 f. S. 137. 103  Ebd. S. 149. 104  Ebd. S. 144. 102  Ebd.



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können.105 Ihr Argument beruht zunächst auf der Behauptung, die meisten Kulturen wären inhärent auf die Herrschaft des Mannes über die Frau aus­ gelegt. Dies, so Okin, zeige sich nicht nur in den einschlägigen religiösen Texten und Mythen der griechischen und römischen Antike sowie den mo­ notheistischen Weltreligionen, sondern auch im konkreten Umgang mit Frauen in vielen Teilen der Welt.106 Zudem identifiziert sie eine Tendenz zur „kulturalistischen Verteidigung“ (cultural defense) vor Gerichten, wenn dort – oft äußerst brutale – Gewaltverbrechen gegen Frauen verhandelt werden. Die Angeklagten versuchen laut Okin also vermehrt durch den Hinweis auf kulturelle und religiöse Traditionen, die ihnen die gewalttätige und demütigende Behandlung von Frauen gewissermaßen vorschreiben, ih­ rer rechtmäßigen Strafe zu entgehen.107 Akzeptiert man diese Prämissen, erscheint Kymlickas Argument nun in einem anderen Licht. Spezielle Son­ derrechte für kulturelle Minderheiten sollen ja aufgrund ihrer Relevanz für die ungestörte Ausbildung von Selbstachtung und Autonomie der einzelnen Individuen etabliert werden, scheinen so aber die patriarchalen und somit ungerechten Strukturen bestimmter Gruppen zu verstärken. Diese Struktu­ ren müssen also laut Okin als Kriterium für Gruppenrechte ernst genom­ men werden: „[…] [T]he degree to which each culture is patriarchal and its willingness to become less so should be crucial factors in judgment about the justification of group rights […].“108 Zwar macht Kymlicka deutlich, dass die offene Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen in Minderheitskulturen nicht zu rechtfertigen ist, übersieht aber Okin zu­ folge, dass dies häufig im Verborgenen, also im privaten Familienumfeld geschieht. Das Argument von Kymlicka, die „Mitgliedschaft“ in einer societal culture wäre aufgrund der dadurch ermöglichten Autonomie rechtlich schützenswert, kann sie somit nicht akzeptieren: „At least as important to the development of self-respect and self-esteem is our place within our culture. And at least as pertinent to our capacity to question our social roles is whether our culture instills in us and forces on us particular so­cial roles.“109 Der Gewährung von partikularen Sonderrechten für kulturelle 105  Vgl. Okin, Susan Moller: Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton 1999. Für einen Überblick zur feministischen und allgemeinen Kritik vgl. Strasser, Sabine/Holzleitner, Elisabeth (Hrsg.): Multikulturalismus queer gelesen. Zwangshei­ rat und gleichgeschlechtlich Ehe in pluralen Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York 2010 und darin insbesondere Strasser, Sabine: Ist der Multikulturalismus noch zu retten? Ein Konzept auf dem Prüfstand von Wissenschaft, Politik und Recht, in: Strasser/Holzleithner 2010, S. 342–366. 106  Vgl. ebd. S. 13–16. 107  Vgl. ebd. S. 17 ff. 108  Ebd. S. 21. 109  Ebd. S. 22.

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und religiöse Minderheiten steht Okin deswegen insbesondere aus feminis­ tischer Perspektive sehr skeptisch gegenüber.110 Dank dieser kritischen Anmerkungen von Habermas und Okin fällt eine gemeinsame Schwäche der beiden skizzierten multikulturalistischen Ansätze auf: die Fixierung auf rechtliche Maßnahmen. Während Axel Honneth diese Verkürzung durch einen umfassenden Ansatz vermeiden konnte, wird bei Taylor wie bei Kymlicka die politische Anerkennung besonderer Identitäten ausschließlich durch die staatliche Gewährung von Rechten ausgedrückt. Sie sind nicht willens, andere Arten, wie sich Anerkennung in einem poli­ tischen Zusammenhang äußern kann, mit einzubeziehen. Weder die von Habermas angemahnte intersubjektive Achtung innerhalb eines Diskurses politisch handelnder Subjekte noch die Wertschätzung gesellschaftlich nütz­ licher Leistungen spielt in ihren Konzeptionen eine größere Rolle. Beide Denker berauben sich mit diesem verengten Sichtfeld der Möglichkeit, Anerkennungsbeziehungen in einer liberalen Gesellschaft in ihrer ganzen Komplexität zu beschreiben und verharren theoretisch in einem bloßen Staat-Bürger-Antagonismus. Durch diese Eindimensionalität entgehen ihnen allerdings wesentliche Elemente der intersubjektiven Anerkennung als poli­ tisches Phänomen, deren Beschreibung zum besseren Verständnis sowie zu besseren Lösungsvorschlägen führen könnte. Denn häufig spielt sich Aner­ kennung unterhalb staatlicher Regulationsebenen ab und kann nicht allein auf rechtliche Maßnahmen bezogen werden. Im Gegenteil, der rein formaljuristische Schutz reicht oftmals nicht aus, Diskriminierung zu verhindern, da allgemein gesellschaftliche Akzeptanz fehlt. Die Beschränkung der bei­ den Denker darauf ist deswegen besonders vor dem Hintergrund über­ raschend, dass die Politik der Anerkennung sich vor allem als Reaktion auf die Existenz dieser Tatsache in westlichen Demokratien erst gebildet hat. Die multikulturellen Ansätze von Taylor und Kymlicka bleiben also unter­ komplex und sind somit nicht geeignet, das Problem der Anerkennung identitärer Differenzen in pluralistisch organisierten, liberal-demokratischen politischen Ordnungen angemessen zu erfassen.

IV. Die Politik der Differenz – Iris Marion Young 1. Kritik am Liberalismus – Verteilung versus Anerkennung Einen erweiterten Vorschlag zur politisch-praktischen Umgestaltung libe­ raler Staats- und Rechtskonstruktionen lieferte Iris Marion Young im Jahr 110  Selbstverständlich ließe sich dieses Argument ausweiten und nicht nur auf Frauen, sondern auf alle Individuen beziehen, die in einem kulturellen Zusammen­ hang unterdrückt oder benachteiligt werden.



IV. Die Politik der Differenz – Iris Marion Young51

1990. Mit ihrer Monographie Justice and the Politics of Difference legte sie gleichermaßen eine philosophische Rechtfertigung differenzierter Behand­ lung sozialer Gruppen wie ein politisches Programm zur Beseitigung von Unterdrückung in liberalen Demokratien vor.111 Anhand von soziologischen Analysen ungerechter Herrschafts- und Machtverhältnisse sowie identitäts­ geprägter Gruppenbildung formuliert sie hier scharfe Kritik am vorherr­ schenden Paradigma des politischen Liberalismus. Durch die engstirnige Konzentration auf rechtlichen Universalismus, Verteilungsgerechtigkeit und angebliche Differenz-Blindheit sei dieser nicht nur nicht in der Lage, die real existierende Unterdrückung der meisten Minderheiten sowie anderen Gruppierungen in den USA zu verhindern, sondern fördere sogar noch de­ ren unrechtmäßige Diskriminierung. Als Gegenmaßnahme propagiert Young die Abkehr vom formaljuristischen Gleichheitsdenken, das sich am Indivi­ duum orientiert: Anstatt der ausnahmslosen Gleichbehandlung aller Subjek­ te ohne Rücksicht auf deren kulturelle, religiöse oder anderweitig identitäts­ relevante Bezugsrahmen, soll die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen Son­ derrechte in verschiedenen Bereichen mit sich bringen. Ausgehend von der These, eine angemessene Gerechtigkeitstheorie sollte nicht mit der Verteilung von Gütern beginnen, sondern Macht- und Herr­ schaftsverhältnisse in den Mittelpunkt stellen, kritisiert Young zunächst die ihrer Meinung nach vorherrschenden liberalen Theorien rawlsscher Prä­ gung.112 Diese würden bereits in ihrer Prämisse einen ersten entscheidenden Fehler machen: Anstatt die Individuen als soziale Wesen zu sehen, die in zahlreichen familiären, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten einge­ bunden sind, schaffen sie künstlich atomisierte Subjekte, um die eigenen Rechtfertigungsanstrengungen zu erleichtern. Individuen werden laut Young also in dieser Sichtweise als isolierte Punkte ohne jede identitäre Einbettung betrachtet, denen zudem die soziale Verbindung mit Anderen gänzlich ab­ geht.113 Diesen wird dann durch einen meist prozedural bestimmten Vertei­ lungsschlüssel ein Bündel von Gütern zugesprochen, das vor allem materi­ elle Ressourcen sichern soll. Zwar zählt Rawls auch Dinge wie Grundrech­ te oder Selbstachtung zu den verteilungsrelevanten Grundgütern, bleibt damit für Young aber dennoch weit hinter den Erfordernissen einer Gerechtig­ keitstheorie zurück. Denn mit dieser Ausweitung des Verteilungsparadigmas auf Phänomene der sozialen Interaktion stößt ihr zufolge der besitzindividu­ alistisch geprägte Liberalismus an seine Grenzen: „Rights are not fruitfully conceived as possessions. Rights are relationships, not things; they are ins­ titutionally defined rules specifying what people can do in relation to one Young 1990. ebd. S. 3. 113  Vgl. ebd. S. 18. 111  Vgl.

112  Vgl.

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another. Rights refer to doing more than having, to social relationships that enable or constrain action.“114 Hier knüpft Young, ohne dies explizit kennt­ lich zu machen, an vorherige Anerkennungstheorien wie die von Fichte an: Erst die wechselseitige Anerkennung der Anderen als Rechtssubjekte kons­ tituiert den „Besitz“ von Rechten.115 Diese können eben nicht von außen zugeteilt und damit ein für alle Mal erworben, sondern müssen in der sozi­ alen Praxis ständig iterativ erneuert werden. Ohne die wiederholte Rückver­ sicherung der anderen Gesellschaftsmitglieder kann sich das Individuum nie seines vollwertigen Status sicher sein. Ein zweiter Kritikpunkt an klassischen liberalen Positionen betrifft deren Bekenntnis zu Neutralität und Unparteilichkeit. Dieses Ideal eröffnet laut Young, die damit ein gängiges feministisches Thema aufgreift, eine falsche und schädliche Dichotomie zwischen einer neutralen, von Vernunft be­ stimmten Öffentlichkeit und einem emotional geprägten privaten Raum. Durch einen vernunftbasierten, öffentlich orientierten Politikbegriff wird so Differenz zu Gunsten einer falschen Einheitlichkeit eingeebnet, damit sich Gruppen, deren Artikulation auf andere Arten stattfindet, kein Gehör ver­ schaffen können. Außerdem macht Young deutlich, dass sie die Universali­ tät der öffentlichen Sphäre und damit die Möglichkeit einer objektiven Evaluation politischer Prozesse für Einbildung hält: „The ideal of impartia­ lity is an idealist fiction. It is impossible to adopt an unsituated moral point of view, and if a point of view is situated, then it cannot be universal, it cannot stand apart from and understand all points of view.“116 Da sich nie­ mand außerhalb des Diskurses stellen kann, um mit objektivem Blick die Dinge unparteiisch zu bewerten, sieht Young in dem liberalen Versuch, dies nichtsdestotrotz zu tun, eine ungerechte Verallgemeinerung partikularer Prinzipien, die dafür geeignet sind, Differenz zu unterdrücken.117 2. Die Unterdrückung von sozialen Gruppen Da Youngs Argument auf der Prämisse basiert, dass der liberale Main­ stream zu einer Gesellschaftsform geführt hat, die zwar formal demokratisch organisiert ist, de facto aber eine große Anzahl von Menschen von der po­ litischen Entscheidungsfindung fernhält, muss sie plausibel demonstrieren 114  Ebd.

S. 25. Fichte 1966. 116  Young 1990, S. 104. Vgl. dazu auch Young, Iris Marion: Das politische Ge­ meinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des universalen Staats­ bürgerstatus, in: Nagl-Docekal, Herta/Pauer-Studer, Herlinde: Jenseits der Ge­ schlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 276. 117  Vgl. Young 1990, S. 110. 115  Vgl.



IV. Die Politik der Differenz – Iris Marion Young53

können, worin diese offensichtliche Ungerechtigkeit genau besteht. Dies versucht sie mit ihrem Konzept der Unterdrückung (oppression) von sozia­ len Gruppen (social groups) zu erreichen. Zunächst gilt es dabei zu spezifizieren, mit welchen Einheiten Young the­ oretisch operiert. Entgegen dem individualistisch geprägten Liberalismus legt sie ihr Augenmerk auf soziale Gruppen, die durch bestimmte geteilte Merk­ male ein gemeinsames Gefühl von Identität entwickeln. Young grenzt diese Form von Gemeinschaft explizit gegen zwei weitere, Aggregation (aggregate) und Assoziation (association), ab. Während eine Aggregation aus der Zu­ sammenlegung von Menschen anhand eines willkürlich ausgewählten Merk­ mals besteht, ohne dass ein Gefühl der Zusammengehörigkeit existiert, stellt eine Assoziation den freiwilligen Zusammenschluss von Individuen auf der Basis gemeinsamer Interessen zur besseren Durchsetzung dieser dar.118 Bei sozialen Gruppen sind Unterscheidungskriterien zu anderen Gruppen dage­ gen meist die gemeinsame Kultur oder Religion, soziale Praktiken oder Le­ bensstile, die von den Mitgliedern auf ähnliche Art und Weise ausgeübt wer­ den. Als entscheidend erweist sich nun die Annahme Youngs, dass Individuen durch diese „Geworfenheit“119 in ihrer Identitätsbildung wesentlich stärker beeinflusst werden, als liberale Denker zugeben wollen. Zwar besteht die Möglichkeit, die eigene Herkunft zu reflektieren und gegebenenfalls zu über­ winden, aber die Konstitution der Persönlichkeit und damit die Möglichkeit zur autonomen Lebensführung hängt elementar vom Kontext ab, in dem sich eine Person befindet und bewegt.120 Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Koexistenz von mehreren Gruppenidentitäten in einem Individuum sowie der ständigen identitären Neujustierung innerhalb einer sich wandelnden Ge­ sellschaft versucht Young allerdings zugleich dem Vorwurf des Essentialis­ mus zu entgehen, der bei der Annahme starrer Identitäten, die einen Men­ schen lebenslang festlegen, durchaus gerechtfertigt wäre. Doch welche Formen von ungerechten Machtbeziehungen existieren in liberalen Demokratien? Offensichtlich müssen diese unterhalb der offiziel­ len Institutionenebene stattfinden, da Struktur und Ausgestaltung der Ent­ scheidungsprozesse formell demokratisch gestaltet sind. Young unterscheidet deswegen fünf Arten der Unterdrückung, die einerseits tatsächlich vorhan­ dene Phänomene beschreiben, andererseits aber auch als Kriterium dienen sollen, um Ungerechtigkeit gegenüber bestimmten Gruppen entdecken zu können. 118  Vgl.

ebd. S. 43 ff. entleiht sich diesen Terminus bei Heidegger. Vgl. ebd. S. 46. 120  Vgl. ebd. S. 45 f. Wir sehen hier deutlich die Gemeinsamkeit zu den bisher behandelten Denkern, die alle gleichermaßen die Relevanz des im weitesten Sinne sozialen Kontexts für die Autonomieentwicklung des Individuums betonen. 119  Sie

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Als erste Form identifiziert Young die Ausbeutung (exploitation) von Ar­ beitskräften. Angelehnt an marxistische Analysen der Arbeitsverhältnisse versucht sie zu zeigen, dass Ausbeutung nicht per se in ungleicher Verteilung, sondern vor allem im Transfer von Arbeitsprodukten der herstellenden sozia­ len Gruppen zu unbeteiligten, machtvolleren Gruppen besteht. Das heißt, dass Energie und Kreativität der Besitzlosen ausgenutzt werden, um Status und Macht der Besitzenden zu sichern. Als Beispiele dafür nennt Young die ungleiche Lohnentwicklung der beiden Geschlechter oder die Zuordnung von dienenden Tätigkeiten zu bestimmten ethnischen Gruppen.121 Die zweite Möglichkeit, versteckte Unterdrückung auszuüben, besteht laut Young in der Marginalisierung (marginalization) von sozialen Gruppen. Wiederum begründet sie dies zunächst materialistisch: Individuen, die vom regulären Arbeitsmarkt aufgrund persönlicher Eigenschaften nahezu ausge­ schlossen werden, sehen sich starken finanziellen Problemen ausgesetzt. Doch die Ungerechtigkeit dieser Exklusion geht wesentlich tiefer. Zum ei­ nen können mangelnde materielle Möglichkeiten negativen Einfluss auf die Fähigkeit haben, die eigenen politischen Rechte vollständig zu nutzen. Durch die soziale Abhängigkeit von gesellschaftlichen Institutionen kann ein liberaler Paternalismus entstehen, der die Autonomie der Individuen unterminiert. Zum anderen wird dadurch den Mitgliedern bestimmter Grup­ pen die Möglichkeit genommen, innerhalb eines sozialen Zusammenhangs eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit auszuführen. Die damit verbundene Erfahrung mangelnder Anerkennung, oft noch verstärkt durch die demüti­ gende Wirkung staatlicher Wohlfahrtsleistungen, fügt Young zufolge den betroffenen Subjekten große Schäden in Selbstachtung und Selbstwertgefühl zu.122 Deutlich zu sehen ist diese Form der Ungerechtigkeit entlang der Linien ethnischer Zugehörigkeit, bleibt aber keineswegs darauf beschränkt. Auch alte Menschen, alleinerziehende Frauen und Menschen mit einer geis­ tigen oder körperlichen Behinderung werden laut Young marginalisiert.123 Den dritten Typ der strukturellen Unterdrückung sieht Young in der Machtlosigkeit (powerlessness) vieler Menschen, insbesondere der einfa­ chen Arbeiter. Denn deren Möglichkeiten, an Entscheidungen mitzuwirken, die die Organisation ihres Arbeitsplatzes und damit einen wesentlichen Teil ihres Lebens betreffen, sind ihr zufolge auf ein Minimum beschränkt. Da die Hierarchie von Firmen in den seltensten Fällen demokratischen 121  Vgl.

ebd. S. 49 ff. Parallelität zur Argumentation Honneths ist hier unverkennbar. Auch er hält die Möglichkeit zur sozialen Partizipation im Kontext von Arbeitsverhältnissen aufgrund ihrer identitätsrelevanten Wirkung für ein wesentliches Element anerken­ nungsorientierter Gerechtigkeit. Vgl. dazu B. II. 4. 123  Vgl. Young 1990, S. 53 ff. 122  Die



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Standards entspricht, werden deren Angestellte von grundlegenden Ent­ scheidungsprozessen ausgeschlossen.124 Erschwerend kommt hinzu, dass laut Young intersubjektiver Respekt vor allem professionellen, gut ausgebil­ deten Beschäftigten zukommt, während ungelernte Arbeiter meist mit weni­ ger Wertschätzung behandelt werden.125 Als vierte Form ungerechter Herrschaftsverhältnisse kann für Young der Kulturimperialismus (cultural imperialism) einer Mehrheitsgesellschaft gel­ ten. Anders als die bisher thematisierten Unterdrückungsmechanismen geht es dabei nicht um direkte Machtausübung, sondern eher um subtile Festle­ gungen innerhalb einer Gesellschaftsstruktur: „Cultural imperialism involves the universalization of a dominant group’s experience and culture, and its establishment as the norm.“126 Aufgrund ihrer Mehrheitsposition kann also eine Gruppe die eigenen kulturellen Vorstellungen zum allgemeinen Stan­ dard erheben, ohne dafür offen undemokratische oder ungerechte Maßnah­ men ergreifen zu müssen. Dadurch entsteht laut Young eine Dichotomie, die jeder sozialen Gruppe, die in ihren Praktiken von der angeblich universellen Norm abweicht, den Status des Anderen zuweist. Damit verbunden sind meist kulturelle und ethnische Stereotypen, die Mitgliedern von unterdrück­ ten Minderheiten unrechtmäßig eine bestimmte Identität zuschreiben. Für Young entfaltet sich hier ein Paradox, das durch die mangelnde Anerken­ nung der Verschiedenheit entsteht: Einerseits werden Individuen, die einen anderen kulturellen Hintergrund als die Mitglieder der Mehrheit besitzen, als sichtbare Andere gekennzeichnet, andererseits werden sie aufgrund der offi­ ziellen Weigerung, ihre Perspektiven und Weltanschauungen ernst zu neh­ men, in die politische Unsichtbarkeit gedrängt. Die Ungerechtigkeit des Kul­ turimperialismus besteht ihr zufolge also in folgender Tatsache: „[…] [T]he oppressed group’s own experience and interpretation of social life finds little expression that touches the dominant culture, while the same culture impo­ ses on the oppressed group its experience and interpretation of social life.“127 Am deutlichsten und krassesten äußert sich Unterdrückung in der fünften von Young identifizierten Form, der offenen psychischen und physischen Gewaltanwendung (violence). Entscheidend für die Einordnung als struktu­ relle Ungerechtigkeit ist dabei jedoch die Annahme Youngs, dass rassistisch, fremdenfeindlich oder sexistisch motivierte Übergriffe zwar meist von Ein­ zelpersonen ausgeübt, diesen aber durch das gesellschaftliche Umfeld die 124  Young verfolgt diesen Gedanken in einem späteren Kapitel weiter und fordert dort auch konsequenterweise die Demokratisierung des Arbeitsplatzes. Vgl. ebd. S.  223 f. 125  Vgl. ebd. S. 56 ff. 126  Ebd. S. 59. 127  Ebd. S. 60.

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Taten erleichtert werden. Wenn in Verbindung mit dem oben beschriebenen Kulturimperialismus ein allgemeines Klima der Furcht vor Andersheit exis­ tiert, muss ein Individuum Young zufolge durch die bloße Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in ständiger Angst vor willkürlicher Bedrohung leben. Auch dies kann unter die Kategorie mangelnder Anerkennung subsumiert werden: Die eigene Identität hilft dem Subjekt nicht bei der Persönlichkeitsund Autonomieentwicklung, sondern dient als Projektionsfläche für Hass und zieht damit verheerende psychologische Folgen nach sich.128 Mit dieser Typologisierung als Basis kann Young nun dazu übergehen, die politischen Folgerungen aus den gerechtigkeitstheoretischen Überlegun­ gen zu ziehen. Dabei wird deutlich, dass liberale Demokratien, wie sie heute bestehen, nach Youngs Ansicht große Teile ihrer Bevölkerung unter­ drücken. Denn wendet man nun ihre Kategorien als Kriterien für die Suche nach ungerechten Herrschaftsbeziehungen an und berücksichtigt man, dass ihr zufolge die Existenz eines davon ausreicht, um eine Gruppe als unter­ drückt zu bezeichnen, dann bleibt nur eine einzige soziale Gruppe übrig, die keine Unterdrückung erfährt: die mittelalten, gut verdienenden, weißen Männer.129 Young schließt daraus, dass wesentliche Prinzipien liberal-demo­ kratisch organisierter Gesellschaften überdacht und verändert werden müs­ sen, um Gerechtigkeit herzustellen. 3. Die Politik der Differenz Im bisherigen Verlauf der Argumentation wurde Gerechtigkeit negativ definiert: Mit der Auflistung verschiedener Ungerechtigkeiten, die sich alle um die beiden Fixpunkte Unterdrückung und Herrschaft drehen, versuchte Young zu zeigen, welche sozialen und politischen Praktiken innerhalb libe­ raler Demokratien kritisch betrachtet und letztendlich abgelehnt werden müssen. Doch sie scheut sich nicht, eine positive Beschreibung von Gerech­ tigkeit als Kriterium für eine neue normative Gesellschaftstheorie daraus zu destillieren. Gerechtigkeit besteht für Young aus den „[…] institutionalized conditions that make it possible for all to learn and use satisfying skills in socially recognized settings, to participate in decisionmaking, and to express their feelings, experience, and perspective on social life in context where others can listen.“130 Auf den ersten Blick scheint diese Definition klassi­ schen liberalen Positionen nicht zu widersprechen, denn demokratische Partizipation im Zuge allgemeiner Volkssouveränität sowie Chancengleich­ heit für alle Gesellschaftsmitglieder sind Prinzipien, die von der Aufklärung 128  Vgl.

ebd. S. 61 ff. ebd. S. 63 ff. 130  Ebd. S. 91. 129  Vgl.



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bis zum heutigen Tag von Liberalen vehement vertreten werden. Ganz im liberalen Sinne hält sie auch die Einschränkung demokratischer Entschei­ dungsfindung durch einen verfassungsrechtlichen Rahmen aufgrund der Gefahren uneingeschränkter Mehrheitsentscheidungen für Minderheiten für nötig.131 In der Folge wird jedoch deutlich, dass Young in der Interpretation dieser Grundsätze klar Stellung gegen gängige liberale Ordnungsentwürfe bezieht. Zum einen kritisiert sie die von John Rawls vorgebrachte Idee der öffentlichen Sphäre, die einen unparteiischen Raum für politische Debatten eröffnet, in dem auf identitätsbezogene Argumente zu Gunsten der Möglich­ keit einer Konsensfindung verzichtet wird.132 Wie bereits beschrieben kann es für Young keinen objektiven Standpunkt außerhalb der eigenen kulturel­ len Einbettung geben, weswegen Universalität und Neutralität des öffent­ lichen Raumes eine Illusion bleiben.133 Im Gegenteil, durch die Exklusion abweichender Norm- und Wertvorstellungen aus dem politischen Bereich bekennt sich die Gesellschaft eindeutig zu einer westlich-liberalen, männ­ lich geprägten Weltanschauung und schafft so die strukturellen Vorausset­ zungen zur Unterdrückung jeglicher Andersartigkeit. Auch Jürgen Habermas, so Youngs Ansicht, begeht mit seiner Idee der kommunikativen Ethik diesen Fehler. Zwar verlangt er die Inklusion aller Betroffenen in den Diskurs, auf dessen Regeln, die sich stark an der europäischen, männlichen Vorstellung von Rationalität orientieren, muss sich allerdings schon vorher geeinigt werden.134 Das liberale Ideal einer neutralen politischen Sphäre, in der Menschen nur im Zuge ihrer Identität als Bürger eines Gemeinwesens agie­ ren, vernünftig argumentieren und vom eigenen kulturellen Hintergrund zu Gunsten des Gemeinwohls abstrahieren, stellt für Young also eine Verfesti­ gung ideologischer Strukturen dar, die bestehende Machtverhältnisse konso­ lidiert. Im Gegensatz dazu propagiert sie eine partizipatorische Demokratie, die auf Inklusion basiert und betont die öffentliche Anerkennung von Dif­ ferenz: „[P]articipatory democrats must promote the ideal of a heterogene­ ous public, in which persons stand forth with their differences acknowledged and respected, though perhaps not completely understood, by others.“135 Dabei muss die scharfe Trennung zwischen Öffentlichkeit und privatem Raum aufgehoben werden, so dass in beiden Bereichen die gleichen Regeln gelten können. Young zufolge bildeten sich auf der Grundlage dieser Ansichten – aller­ dings eher intuitiv als theoretisch fundiert – in den fünfziger und sechziger 131  Vgl.

ebd. S. 93 f. für Genaueres dazu Rawls 2005. 133  Vgl. dazu B. IV. 2. 134  Vgl. Young 1990, S. 106 f. 135  Ebd. S. 119. 132  Vgl.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Jahren des 20. Jahrhunderts eine Reihe von sozialen Bewegungen in den USA. Ob Afro-Amerikaner, Frauen, indigene Ureinwohner oder Menschen mit homosexueller Orientierung – all diese Gruppen begannen angesichts realer Unterdrückungserfahrungen zu protestieren und eine gerechte Be­ handlung einzufordern. Aus Sicht der politischen Theorie ist dabei eine Tatsache besonders interessant: Die Bewegungen manifestierten sich aus dem Verlangen nach Gleichberechtigung und betonten deswegen zu Beginn den klassisch liberalen Gleichheitsgedanken, entwickelten sich dann aber hin zu Differenzbewegungen, die die identitären Besonderheiten ihrer Mit­ glieder öffentlich anerkannt wissen wollten.136 Anstatt den Platz in der po­ litisch-rechtlichen Struktur zu verlangen, der ihnen nach dem gängigen li­ beralen Gleichheitsprinzip eigentlich zustände, verlagerten sich viele soziale Widerstandsbewegungen also auf den Versuch, den liberalen Rahmen mit neuen Ansprüchen zu modifizieren, um ihn zu überwinden und damit Ge­ rechtigkeit zu erlangen. Diese Strategie folgt für Young konsequenterweise aus ihren theoretischen Überlegungen. Denn die Emanzipation unterdrückter Gruppen kann für sie nicht innerhalb einer Doktrin gelingen, die mit ihrer vorgeblichen Differenzblindheit in Wirklichkeit Andersartigkeit leugnet und den Individuen ihre Identität auf politischer Ebene vorenthält. Im Gegensatz zum Bekenntnis zu formaler Gleichheit muss deswegen ein radikaler Kul­ turpluralismus herrschen, in dem Differenzen positiv affirmiert werden: „The achievement of formal equality does not eliminate social differences, and rhetorical commitment to the sameness of persons makes it impossible even to name how those differences presently structure privilege and oppression.“137 Entscheidend ist dabei jedoch, dass die staatliche Anerken­ nung auf die sozialen Gruppen bezogen wird, da diese in gewissem Sinne den natürlichen Lebensraum der Individuen darstellen, ihre Identität konsti­ tuieren und für die Möglichkeit von Selbstachtung und Autonomie sorgen. Darauf aufbauend plädiert Young nun für eine ganze Reihe von konkreten politisch-rechtlichen Maßnahmen, die die Unterdrückung sozialer Gruppen zunächst abmildern und letztendlich ganz abschaffen sollen. Ähnlich wie im Multikulturalismus soll dafür eine Art duales Rechtssystem geschaffen wer­ den: Zwar bleiben weiterhin fundamentale Grundrechte für alle Bürger eines Staates bestehen, darüber hinaus erhalten jedoch bestimmte soziale Gruppen Sonderrechte.138 Anders als beispielsweise Kymlicka beschränkt sich Young allerdings nicht auf Einwandererinnen und Ureinwohner, die kulturell ver­ schieden von der Mehrheitsgesellschaft sind, sondern sie schließt Gruppen wie Frauen oder Menschen mit homosexueller Orientierung in ihre Forde­ 136  Vgl.

ebd. S. 158 ff. S. 164. 138  Vgl. ebd. S. 174. 137  Ebd.



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rung nach Anerkennung durch spezielle politische Rechte mit ein. Denn eine Gesellschaft, so Young, ist nur die Summe ihrer Gruppen und diese müssen sich gleichberechtigt gegenüberstehen: „Groups cannot be socially equal un­ less their specific experience, culture, and social contributions are publicly affirmed and recognized.“139 Konkret bedeutet das, dass entgegen klassischen Partizipationsidealen neue Formen der Mitbestimmung geschaffen werden müssen. Ein wesentlicher Punkt dabei sind spezielle Repräsentationsrechte. Unterdrückte Gruppen müssen laut Young die Möglichkeit haben, ihre Erfah­ rungen und Ansichten innerhalb der institutionellen Strukturen eines Staates zu Gehör zu bringen. Da durch die in einem demokratischen Repräsenta­ tionssystem vorherrschenden Mehrheitsregeln Minderheitengruppen meist nicht proportional zu ihrer Größe vertreten werden, sollten Quotenregelungen eingeführt werden, die sicherstellen, dass alle relevanten Identitätsgruppen inkludiert sind. Denn nur diese sind in der Lage, die eigenen Belange ange­ messen zu vertreten. Die damit verbundene positive Diskriminierung hält Young für ein temporär notwendiges Übel auf dem Weg zu wahrer Gerech­ tigkeit. Außerdem kritisiert sie den Gedanken, Positionen in der Arbeitswelt würden nur aufgrund von objektiv bewertbaren Qualifikationen vergeben. Jede Evaluierung von Leistung reflektiert ihrer Ansicht nach notwendiger­ weise die vorherrschende Mehrheitskultur und ist deswegen nicht in der La­ ge, Differenz angemessen miteinzubeziehen.140 Als Konsequenz dieser Über­ legungen schlägt Young die Etablierung von Vetorechten für Gruppen vor, die bei bestimmten Beschlüssen besonders betroffen sind. Damit würden Mehrheitsvoten verhindert werden, die durch die gängigen demokratischen Abstimmungsregeln zustande kommen und unterdrückend auf einen Teil der Bevölkerung wirken, der trotz seiner unmittelbaren Relevanz für die Ent­ scheidung keine eigene Majorität mobilisieren kann. Diese Maßnahmen, so Young, würden nicht nur prozedurale Fairness und die Inklusion aller Inter­ essen in die demokratische Deliberation garantieren, sondern auch durch die Einbeziehung verschiedenster Perspektiven soziales Wissen maximieren und somit zu gerechteren Ergebnissen führen.141 4. Fazit und Kritik: Gruppen oder Individuen? Rechte oder Anerkennung? Mit ihrem Versuch, die Anerkennung von Differenz als zentralen Gedan­ ken einer Gerechtigkeitstheorie zu verankern, knüpft Young nahtlos an die bisher behandelten Denker in ihrer Kritik an verteilungsorientierten und 139  Ebd.

S. 174. ebd. S. 197 u. S. 200–208. 141  Vgl. ebd. S. 184 ff. 140  Vgl.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

vorgeblich neutralen liberal-demokratischen Vorstellungen an. Dabei gelingt es ihr, mit dem Begriff der Unterdrückung ein kraftvolles Instrument der normativen Gesellschaftskritik zu schaffen, anhand dessen die realen Ver­ hältnisse einer politischen Ordnung genau überprüft werden müssen. Den­ noch lassen sich einige Punkte ihrer Theorie identifizieren, die in eine problematische Richtung weisen. Als erster Kritikpunkt an Youngs Konzeption muss ihre Beschreibung und Gewichtung sozialer Gruppen genannt werden. Anders als beispielswei­ se Axel Honneth legt sie den Schwerpunkt ihrer Argumentation nicht auf das Individuum, sondern beschäftigt sich vor allem mit der Gruppe als Analyseeinheit, da ihrer Ansicht nach die Einbettung in einen kulturellen und sozialen Kontext das Subjekt erst konstituiert. Anders als die behandel­ ten Vertreter des Multikulturalismus beschränkt sie sich jedoch nicht auf Immigrantinnen oder Ureinwohner, sondern weitet ihre Theorie auf gesell­ schaftliche Gruppen aus, die sich von der durch Machstrukturen festgelegten Norm in allen möglichen – kulturellen, körperlichen oder den Lebensstil betreffenden – Eigenschaften unterscheiden. Als problematisch erweist sich dabei dreierlei: Zum einen wird die Freiheit der Individuen zu Gunsten der Gleichheit der Gruppen vernachlässigt. Die Frage nach illiberalen Praktiken innerhalb einer Gruppe, wie sie beispielsweise Kymlicka stellt, taucht bei Young nicht auf. Genauso wenig thematisiert sie, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit ein Mitglied einer bestimmten Identitätsge­ meinschaft diese ohne hohe persönliche Kosten verlassen kann. Zweitens scheint sie der Auffassung zu sein, dass liberal-demokratische Repräsentativsysteme nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse und Ansichten der Menschen angemessen wiederzugeben. Denn die Forderung Youngs nach speziellen Repräsentationsquoten für jede relevante Minderheitengruppe be­ deutet nichts anderes als die Annahme einer epistemologischen Exklusivität der jeweiligen Gruppe, wenn es im demokratischen Entscheidungsprozess um Forderungen oder Probleme geht, die sie betreffen. Damit ist gemeint, dass ausschließlich die Gruppenmitglieder, die aufgrund ihrer besonderen Identität besondere Erfahrungen vorweisen können, jene wissens- und er­ kenntnisbezogenen Voraussetzungen besitzen, um die sie betreffenden politi­ sche Maßnahmen angemessen beurteilen zu können.142 Per definitionem lebt 142  Vgl. zur logischen Fehlerhaftigkeit dieser Prämisse Feher, Ferenc/Heller, Ag­ nes: Biopolitik, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 28: „Die Erfahrung der Mitglie­ der der Gruppe X (hier kann man die Identität einer beliebigen Gruppe einfügen) ist einzigartig; darum ist sie auch nur den Mitgliedern dieser Gruppe X zugänglich; folglich ist Gruppe X notwendig im Besitz einer besonderen Epistemologie. Schon dieses ‚folglich‘ ist alles andere als logisch schlüssig. Wenn die Erfahrung eines beliebigen Mitglieds einer bestimmten Gruppe allen anderen Mitgliedern derselben Gruppe zugänglich ist, dann ist eine besondere Epistemologie das letzte, was die



IV. Die Politik der Differenz – Iris Marion Young61

nun aber ein Repräsentationssystem davon, dass politische Meinungen und Interessen auch repräsentierbar sind; und das nicht unbedingt von geschlecht­ lich, kulturell oder sozial gleichartigen Repräsentanten. Mit einfachen Wor­ ten: Die Belange weißer Männer sollten im politischen Bereich zumindest potenziell genauso von schwarzen Frauen verstanden und verhandelt werden können, wie umgekehrt. Leugnet man dies jedoch und denkt die Argumenta­ tion konsequent zu Ende, dann wird in einer Demokratie auch die Wahl von Parteien oder sogar Einzelpersonen in Parlamente überflüssig, da niemand der zur Wahl Stehenden die politische Landschaft – die dann eigentlich auch nicht mehr politisch, sondern nur noch kulturell oder identitär ist – angemes­ sen abbilden kann. Die Alternative läge in der Idee des Auslosens von politi­ sche Ämtern und Parlamentsmandaten, unterstützt durch moderne Methoden der Demographie, um die exakte prozentuale Repräsentation aller Gesell­ schaftsgruppen zu gewährleisten. Ob dies die gerechte Machtverteilung in einem politischen Gemeinwesen fördert, scheint fraglich zu sein. Vielmehr erscheint es plausibel, dass sich eine politische Kultur der Identitätsinteressen durchsetzen würde, die im Zuge einer gesellschaftlichen Fragmentierung bei­ spielsweise kleine Gruppen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ver­ schwindend gering ist, wesentlich stärker benachteiligen würde, als dies in einem liberalen Repräsentationssystem der Fall ist. Drittens wirft die Argumentation Youngs die Frage nach der generellen Möglichkeit einer sozialen Gruppe, als Rechtssubjekt fungieren zu können, auf. Während beispielsweise Kymlicka der liberalen Tradition folgt und stets das Individuum als Trägerin und Nutznießer von speziellen Rechten betrachtet, scheint Young jeder Gruppe als Gesamtheit die Fähigkeit zu­ schreiben zu wollen, als politischer Akteur mit bestimmten Rechten ausge­ stattet zu sein. Doch lassen sich solche Kollektivrechte begründen? Susanne Boshammer, die einen interessenbasierten Rechtsbegriff vertritt, verneint dies. Zwar schließt sie nicht die Möglichkeit aus, gruppenspezifische Son­ derrechte seien moralisch geboten, diese beziehen sich ihr zufolge aber immer auf die grundlegenden Interessen der Individuen als Mitglieder be­ stimmter Gruppen. Ein soziales Kollektiv jedoch, dessen Angehörige auf­ grund von Fremd- oder Eigenzuschreibung eine ähnliche identitäre Ausrich­ tung aufweisen, kann aufgrund seines grundsätzlich differenten ontologi­ schen Status kein Interesse im genauen Sinn des Wortes besitzen.143 Mitglieder zur Kommunikation innerhalb der Gruppe benötigen – sie verstehen sich ja schon. Wenn die Erfahrung aber innerhalb der Gruppe nicht so zugänglich ist, wenn die Erfahrung von Mitglied A der Gruppe X dem Mitglied B der gleichen Gruppe verschlossen bleibt, dann ist sie auch nicht gruppenspezifisch; in diesem Fall verbindet die beiden nur die gute alte conditio humana.“ 143  Vgl. Boshammer 2003, S. 118–126 und C. III. 3. a). Boshammer betont an dieser Stelle außerdem, dass dies einen großen Unterschied zu Korporationen wie

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass auch Young – ähnlich wie Taylor und Kymlicka – den Fokus ihrer Konzeption auf die Rechtfer­ tigung einseitiger rechtlicher Maßnahmen zur Förderung unterdrückter Gruppen legt. Der Handlungsdruck, der sich aus der Analyse vorherrschen­ der Ungerechtigkeit ergibt, liegt hier praktisch ausschließlich auf Seiten des Staates. Young bemüht sich zwar, zu betonen, dass diese rechtlichen Mittel nicht ausreichen, um die Unterdrückung von Differenz in liberaldemokratischen Ordnungen vollkommen zu verbannen, ihre Vorschläge den notwendigen sozialen Wandel betreffend bleiben jedoch unvollständig und skizzenhaft. Sie beschränkt sich vor allem auf zwei Punkte: Zum ersten sollten gesellschaftsinterne Mechanismen wie zum Beispiel die Arbeitswelt demokratisiert werden, damit Partizipation nicht nur politisch ausgeübt werden kann. Zum zweiten spricht Young von einem etwas diffusen Ideal des urbanen Lebens, in dem Differenz und Vielfalt positiv anerkannt wer­ den und Menschen ohne Exklusion zusammen auskommen.144 Dabei hätte sie durch ihre Beschreibung von Rechten als Ausdruck sozialer Anerken­ nungsbeziehungen das theoretische Mittel an der Hand, mit dem die Mög­ lichkeit eines weiterführenden Konzepts intersubjektiver Anerkennung in­ nerhalb der Bürgerschaft denkbar wäre.145 Denn mit dem Begriff der An­ erkennung, dessen englisches Pendant „recognition“ Young eher selten benutzt, ließen sich die Rechtsverhältnisse der Mitglieder einer Gesellschaft jenseits von Verteilungs- und Güterrhetorik beschreiben. Stattdessen bleibt Young im weiteren Verlauf ihrer Argumentation ganz in dem von ihr ei­ gentlich abgelehnten Verteilungsparadigma liberaler Positionen gefangen, was sich vor allem daran zeigt, dass sie die Exklusion sozialer Gruppen mit der Zuteilung spezieller Sonderrechte ausbalancieren möchte. Diese eindimensionale Vorstellung, in der Anerkennung nur durch Rechte ausge­ drückt und nur vom Staat gewährt werden kann, scheint also ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Ihr Entwurf einer anerkennungstheo­ retischen Alternative zur liberal-demokratischen Gerechtigkeitsvorstellung vermag damit nicht zu überzeugen.

Gewerkschaften oder Verbänden darstellt, da diese die aggregierten Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Auch Young selbst würde diesen Vergleich für unzulässig hal­ ten: Einerseits geschieht der „Zusammenschluss“ sozialer Gruppen unfreiwillig und andererseits fehlt diesen jegliche organisierte Struktur, die Partizipation im Sinne einer korporativen Teilhabe ermöglichen würde. 144  Vgl. Young 1990, S. 223–238. 145  Vgl. ebd. S. 25.



V. Zwischenfazit: Die Ambivalenz der Anerkennung63

V. Zwischenfazit: Die Ambivalenz der Anerkennung Im bisherigen Verlauf der Arbeit wurde versucht, die Hauptströmungen der anerkennungstheoretischen Kritik am liberalen Paradigma darzustellen und zu problematisieren. Ziel war es nicht nur, deren inhärente Widersprü­ che oder fragwürdige Schlussfolgerungen zumindest ansatzweise herauszu­ arbeiten, sondern vor allem auch die Gemeinsamkeiten zu zeigen, die diese Konzeptionen in Bezug auf den Begriff der Anerkennung verknüpft. Zu diesem Zweck wurde im ersten Teil in groben Zügen die Theorie Axel Honneths skizziert, nach der intersubjektive Anerkennungsrelationen höchs­ te Relevanz im Leben und Zusammenleben der Menschen besitzen und der Kampf um die Wertschätzung der Anderen nicht nur auf persönlicher, son­ dern auch auf politisch-rechtlicher Ebene wesentlich zur politischen Kons­ tituierung sowie zum moralischen Fortschritt ganzer Gesellschaften beiträgt. Trotz einer gründlichen Analyse gelingt es Honneth jedoch nicht, den Ge­ genstand seiner Untersuchung exakt einzugrenzen. Das Phänomen der An­ erkennung scheint sich je nach Protagonisten, Ebene und Mittel unterschied­ lich zu entfalten. Im zweiten Teil wurde mit den multikulturalistischen Konzeptionen von Charles Taylor und Will Kymlicka die erste praktische Konkretisierung ei­ ner philosophischen Anerkennungstheorie behandelt. Dabei wurde deutlich, dass die Argumentation für die besondere Affirmation spezieller Eigenschaf­ ten der Individuen gravierende politische Konsequenzen nach sich zieht. Weder die angebliche Differenzblindheit des liberalen Staates, noch klassi­ sche Gleichheitsvorstellungen sind den beiden kanadischen Denkern zufolge geeignet, den besonderen Bedürfnissen kultureller Gruppen gerecht zu werden. Es fällt jedoch auf, dass Taylor und Kymlicka ihren Schwerpunkt auf die einseitig vom Staat gewährte Anerkennung in Form von Sonderrech­ ten legen, ohne dabei andere Dimensionen im Blick zu haben. Mit der Darstellung des an Differenz orientierten Politikverständnisses von Iris Marion Young im dritten Teil des Kapitels kann von einer Erwei­ terung und Zuspitzung der vorherigen Ansätze gesprochen werden. Indem Young aus der Kritik an der liberalen Fixierung auf Verteilungsgerechtigkeit und staatlicher Neutralität die Schlussfolgerung zieht, die besondere Aner­ kennung von Gruppen, die aus Mitgliedern mit ähnlicher Identität bestehen, müsse politisch und rechtlich institutionalisiert werden, wählt sie die radi­ kalere Variante einer Politik der Anerkennung. Doch sie bleibt hinter ihren eigenen Erwartungen zurück, wenn sie als Mittel, das Anerkennung garan­ tieren soll, das klassisch liberale Verteilungsgut „Rechte“ bemüht und nicht deutlich macht, auf welcher Ebene welche Form der Anerkennung ange­ bracht wäre.

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

Insgesamt muss nach der Analyse dreier wichtiger theoretischer Strömun­ gen anhand exemplarisch ausgewählter Autor_innen, die alle mehr oder weniger explizit mit dem Begriff „Anerkennung“ oder seinem englischen Pendant „recognition“ arbeiten, festgestellt werden, dass die Beschäftigung damit von Unklarheiten geprägt ist. Zwar versuchen alle im Zuge des eige­ nen Beitrags zur Debatte eine Begriffsdeutung vorzulegen, die zur eigenen theoretischen Stoßrichtung passt, verlieren dabei aber die Möglichkeit einer umfassenden, deskriptiv und normativ fundierten Konzeptbildung aus den Augen. Da der Anerkennungsbegriff in äußerst vielfältige und ambivalente Verwendungen aufgegliedert werden kann, reichen weder die zwar poly­ sphärisch angelegte, aber nicht ins Detail gehende Untersuchung von Hon­ neth, noch die eindimensionalen Konzeptionen multikulturalistischer oder differenzpolitischer Prägung aus, um einen theoretisch angemessenen, in­ haltlich gehaltvollen und gleichzeitig konkret anwendbaren Entwurf eines Anerkennungsbegriffs zu entwickeln. Deswegen soll im folgenden Kapitel dieser Arbeit zwar grundsätzlich an den bestehenden akademischen Diskurs über den Anerkennungsbegriff angeknüpft, dabei aber die genannten Kritik­ punkte adressiert und zumindest ansatzweise verbessert werden.

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn I. Methodische Vorüberlegung: Begriffsanalyse nach Giovanni Sartori 1. Die Komplexität der Begriffsbestimmung Wie im bisherigen Verlauf der Arbeit deutlich geworden sein sollte, ver­ langt die Beschäftigung mit dem philosophischen Konzept der Anerkennung nicht nur begriffliche Genauigkeit, sondern auch eine möglichst trennschar­ fe Differenzierung der verschiedenen Dimensionen und Ebenen, die ihm inhärent sein können. Denn sonst entsteht die Gefahr einer unreflektierten Nutzung, die nicht unbedingt zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beiträgt, sondern vielmehr die jeweiligen Positionen des Theoretikers oder der Theoretikerin unterstützt. Hinzu kommt die im Kontext globaler akade­ mischer Debatten unvermeidliche Schwierigkeit, philosophische Begriffe ohne größeren Verlust in andere Sprachen zu übersetzen. Dementsprechend hat die Analyse der bisher behandelten Denker_innen bereits gezeigt, dass demselben Wort unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden, ohne dies gebührend zu problematisieren oder andere mögliche Inhalte zu thema­ tisieren. Außerdem werden die verschiedenen Ebenen, auf denen Anerken­ nung wirksam werden kann, unüberlegt vermischt und so nicht nur ein besseres Verständnis dieses Phänomens unnötigerweise erschwert, sondern auch unzulässige Schlussfolgerungen hinsichtlich dessen politischer Impli­ kationen gezogen. Doch wie genau lässt sich eine zumindest annäherungsweise exakte De­ finition und Verwendung eines solch ambivalenten Begriffes erlangen? Welche Kriterien sind angemessen, um überhaupt von einer „richtigen“ Definition sprechen zu können? Ist ein solches Unterfangen in Zeiten der sprachlichen Vieldeutigkeit nicht von vorne herein zum Scheitern verurteilt? Hier soll der Versuch unternommen werden, eine Methodik der Begriffsana­ lyse darzustellen, mit deren Hilfe auch ein Terminus wie „Anerkennung“ angemessen eingrenzt werden kann, so dass eine sinnvolle Verwendung möglich wird. Damit verbunden ist die Angabe inhaltlicher Charakteristika, die dem Begriff zukommen, sei es durch die Zuschreibung einflussreicher Interpreten oder durch den intersubjektiven Gebrauch in relevanten Diskur­ sen. Alternativen dazu würden entweder den Verzicht auf selbstständige erkenn- und beschreibbare Begriffsbedeutungen implizieren oder aber den

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Sinngehalt eines Wortes auf die quantitativ messbare Verwendungspraxis in semantischen Kontexten reduzieren. Letztere, also die datenmäßige Erfas­ sung der Häufung eines bestimmten Wortes in einem Text, ist jedoch nicht geeignet, die nuancierte Verwendung des Begriffes herauszufiltern und muss sich mit vagen Sinnverknüpfungen zu verwandten Termini begnügen. Erste­ re, also die vollständige Aufgabe unabhängiger inhaltlicher Bedeutungsele­ mente, erhebt dagegen den jeweiligen Diskurs zum alleinigen Maßstab und verleugnet so den historisch gewachsenen Kern bestimmter Konzepte. Beide Vorgehensweisen scheinen somit Gefahr zu laufen, jeglichen substanziellen Inhalt aus Begriffen zu verbannen und damit einer semantischen und nor­ mativen Beliebigkeit den Boden zu bereiten. Die Vorlage für einen gangbaren Weg der Begriffsdefinition soll der ita­ lienische Philosoph Giovanni Sartori liefern, der in seinem Klassiker Demokratietheorie einige Überlegungen zu dieser methodischen Herausforderung angestellt hat.1 Bevor diese im Detail vorgestellt werden sollen, ist jedoch bereits die erste Warnung angebracht: Sartori bezieht sich in seiner Analyse zumeist auf den Begriff der Demokratie. Zwar sind einige der methodischen Betrachtungen durchaus allgemein gehalten und beanspruchen teilweise explizit universelle Gültigkeit2, aber der Untersuchungsgegenstand ändert sich in der gesamten Argumentation nicht. Eine analoge Behandlung des Begriffs der Anerkennung erscheint daher zunächst einmal als problema­ tisch. Zwei Gründe sprechen dennoch dafür, Sartoris Methode für den Zweck dieser Arbeit zu adaptieren: Zum einen lassen sich die Wurzeln des Anerkennungsbegriffs in der Ideengeschichte der westlichen Welt sehr weit zurückverfolgen. Selbstverständlich nicht so weit wie die des Universalbe­ griffs Demokratie, aber spätestens seit dem deutschen Idealismus spielt der Terminus in philosophischen Diskursen eine prominente Rolle. Ob nun als rechtskonstitutives Moment bei Fichte, als Bestandteil der Sittlichkeit bei Hegel und später bei Honneth, existenziell-ethisch gewendet bei Emmanuel Levinas und Judith Butler oder politisch-praktisch umgesetzt in akademi­ schen Strömungen wie dem Multikulturalismus: Der Begriff der Anerken­ nung kann auf eine lange Tradition der geistigen Beschäftigung verweisen.3 Zum zweiten kann die von Sartori im Hinblick auf die Demokratie konsta­ tierte „Verworrenheit“4 mit einiger Plausibilität auch auf Anerkennung an­ gewandt werden. Wie nicht nur die gerade genannten, höchst unterschied­ 1  Vgl. Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, übers. v. Hermann Vetter, Darm­ stadt 1997. 2  Vgl. beispielsweise ebd. S. 261. 3  Vgl. dazu Fichte 1966, Hegel 1986, Honneth 1994, Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987, Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M. 2007. 4  Vgl. Sartori 1997, S. 15.



I. Methodische Vorüberlegung: Begriffsanalyse nach Giovanni Sartori 67

lichen Verwendungsweisen, sondern vor allem auch das vorangegangene Kapitel nahelegen, lässt sich weder eine gemeinsame Kategorie ausmachen, in die das Wort eingeordnet werden könnte, noch besteht Einigkeit über dessen konkreten Inhalt. Es scheint also, dass die Ausgangslage der beiden Begrifflichkeiten „De­ mokratie“ und „Anerkennung“ trotz ihrer unbestreitbaren Unterschiede rela­ tiv ähnlich ist. Beide Wörter sind zunächst einmal positiv konnotiert, haben eine reichhaltige Tradition der philosophischen Verwendung vorzuweisen und lassen sich dennoch – oder gerade deshalb – innerhalb des jeweiligen Diskurses weder auf einen gemeinsamen inhaltlichen noch kategorialen Gebrauch festlegen. Die vollkommene Offenheit eines Begriffes, der will­ kürlich mit verschiedenen Bedeutungen belegt werden kann, wird jedoch von Sartori abgelehnt: „Daß ‚Demokratie‘ mehrere Bedeutungen haben kann, damit könnte man leben. Daß ‚Demokratie‘ aber einfach alles und jedes bedeuten kann, das ist zuviel.“5 Denn wenn ein Wort alles bedeuten und die unterschiedlichsten Praktiken rechtfertigen kann, „so ist der Aus­ druck sinnlos.“6 Die von Sartori gestellte Diagnose hinsichtlich des Demo­ kratiebegriffs lässt sich nun – dies sollte Abschnitt B gezeigt haben – auf den Begriff der Anerkennung übertragen: Die uneinheitliche Verwendung des Wortes, die unterschiedliche Gewichtung bestimmter Merkmale sowie die Vermischung verschiedener Analyseebenen führt zu einer Begriffsver­ wirrung, die einen Diskurs über den Terminus und seine politischen Ele­ mente und Konsequenzen erschwert. Nötig wird eine Definition.7 2. Die Willkür der Definition Wie lässt sich nun ein zunächst einmal freistehender Begriff, dessen Be­ deutung nicht offensichtlich ist, definieren? Für Sartori besteht der erste Schritt in einer Abgrenzung zu anderen, gegensätzlichen Termini: „Definie­ ren heißt also in erster Linie Grenzen ziehen, abgrenzen. Ein undefinierter 5  Ebd.

S. 15. S. 15. 7  Selbstverständlich existiert dazu auch eine Alternative: Es ist durchaus mög­ lich, gerade diese begriffliche Offenheit als positiv wahrzunehmen und innerhalb eines Deutungskampfes zu positionieren. Ein Wort wird so zum „umkämpften Be­ griff“, den es womöglich in Abgrenzung zu anderen und zur Verfolgung des eigenen akademischen Zweckes zu bestimmen gilt. Vgl. dazu beispielsweise Göhler, Ger­ hard/Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.): Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2. Auflage, Wiesbaden 2011. Ohne dies hier abschließend bewerten zu wollen, entstehen dennoch zwei Probleme: Einerseits bleibt unklar, ob die histo­ rische Formation eines Begriffes so gebührend zur Kenntnis genommen wird und andererseits scheinen die Chancen auf einen zielführenden akademischen Diskurs durch diese absichtlich herbeigeführte Verständigungsproblematik unnötig erschwert. 6  Ebd.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Begriff ist damit ein grenzenloser Begriff. Die Standardmethode zur Ab­ grenzung eines Begriffs ist die Definition e contrario, mit Hilfe des Ge­ gensatzes, d.  h. durch Angabe des Gegenteils, des Konträren oder des Kontradiktorischen.“8 Dies leuchtet unmittelbar ein: Um die inhaltliche Bedeutung eines Wortes zu erfassen, muss dessen Stellung im semantischen Kontext lokalisiert werden. Dafür besonders geeignet ist der Vergleich mit anderen Ausdrücken des gleichen Feldes, die gegenteilige oder abweichende Charakteristika aufweisen. Eine solche negative Definition kann jedoch nur der Ausgangspunkt für eine normative Begriffsanalyse sein, nicht aber deren Ansprüche erschöpfend erfüllen. Zwar stellt die Verortung eines Wortes im sprachlichen Feld eine notwendige Maßnahme dar, um dessen Bedeutung zu erfassen, hinreichend ist dies jedoch nicht, da ohne außerdiskursive Refe­ renzpunkte ein Zirkel entsteht, in dem sich jeder Begriff ausschließlich durch den Bezug auf andere definieren lässt.9 Hier soll jedoch nicht suggeriert werden, dass es eine unproblematische Alternative zur diskursreferentiellen Definition gäbe. Auch der positive Versuch, einem Begriff freistehend Inhalte zuzuschreiben, ist mit schwer­ wiegenden Problemen behaftet. Sartori nimmt sich auch dieser Heraus­ forderung an und unterscheidet zunächst einmal in Anlehnung an vorherige Kommentatoren, die er als „Oxford-Philosophen“ bezeichnet, „zwischen einer festsetzenden und einer lexikalischen oder lexikographischen De­ fi­ nition.“10 Erstere besteht in der willkürlichen Zuweisung eines Bedeutungs­ inhaltes zu einem bestimmten Wort. Die Definierende gibt also eine begrün­ dete Empfehlung ab, wie ein bestimmter Begriff am besten zu gebrauchen ist. Die lexikalische Definition dagegen orientiert sich, wie der Name bereits nahelegt, an der üblichen Verwendung innerhalb eines bestimmten Diskur­ ses, die häufig in Wörterbüchern niedergeschrieben ist.11 Während sich diese Art der Definition laut Sartori, der weiterhin die „Oxford-Philosophen“ paraphrasiert, auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen lässt, da dafür nur festgestellt werden muss, ob die kolportierte Gebrauchsweise auch den Tat­ sachen entspricht, können Festsetzungen nicht anhand dieses Kriteriums gemessen werden, da sie eben willkürlich sind und das solange berechtigt, wie sie ausdrücklich und konsequent vorgenommen werden.12 Sartori weicht nun allerdings von dieser Linie ab: Nicht nur die Vorschläge, einen Begriff mit einer bestimmten Bedeutung zu belegen, sind seiner Ansicht nach will­ kürlich, sondern auch die angeblich objektiven Sammlungen des tatsächli­ 8  Sartori

1997, S. 183. Definition ex negativo soll im Folgenden auch in dieser Arbeit den Aus­ gangspunkt für eine tiefergehende Begriffsanalyse darstellen. Vgl. dazu C. II. 10  Sartori 1997, S. 253. 11  Vgl. ebd. S. 253. 12  Vgl. ebd. S. 254. 9  Die



I. Methodische Vorüberlegung: Begriffsanalyse nach Giovanni Sartori 69

chen Gebrauches. Denn Lexika sammeln nur „Festsetzungen, die sich allge­ mein durchgesetzt haben.“13 Auch zwei Einwände gegen diese Ansicht greifen laut Sartori nicht: Weder sind lexikalische Definitionen frei von normgebenden Momenten, noch stellen sie eine unpersönliche Instanz dar, die losgelöst von Individuen agiert. Demnach ist jeder Versuch, einem Be­ griff eine Bedeutung zu geben, für Sartori eine festsetzende Definition. Die Frage, die sich daran jedoch unmittelbar anschließt, lautet: Nach welchen Kriterien kann eine solche Definition bewertet werden? Denn könnte man jedem Wort jede beliebige Bedeutung zuweisen, hätte dies Sartori zufolge gravierende Konsequenzen: „Entweder ist die Unterscheidung zwischen lexikographischen und festsetzenden Definitionen trivial und von geringer Bedeutung, oder man untergräbt die Spra­ che – die Kommunikation – und, wie ich glaube, das Denken. Wenn es völlig in Ordnung ist, einen Hund als ‚Katze‘ zu bezeichnen oder umgekehrt, solange nur die Festsetzung deutlich gemacht wird, dann gebe ich allerdings zu, daß die festsetzen­ de Definition etwas ganz und gar anderes ist als die nichtfestsetzende. Doch in diesem Fall rechtfertigt und erzeugt man eine Welt der Kommunikationslosigkeit.“14

Diese Form des Umgangs mit Sprache, die Sartori „Konventionalismus“ nennt, leidet ihm zufolge neben der gerade konstatierten Kommunikations­ verhinderung an weiteren Schwächen. Erstens greift der Einwand, Sprache sei ein Spiel und somit von der willkürlichen Erstellung bestimmter Spiel­ regeln abhängig, für Sartori nicht, da jedes Spiel nur dann sinnvoll ausge­ führt werden kann, wenn sich alle an die Regeln halten. Zweitens kann als Kriterium für die Anwendung einer Definition nicht deren Zweckmäßigkeit im Sinne bloßer konventionaler Verständigung gelten. Zweckmäßigkeit wird nach Sartori zumeist als kognitive Nützlichkeit verstanden, das heißt, von Nutzen für den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis, und weist somit keinen relevanten Unterschied zum Kriterium der Wahrheitsmäßigkeit auf. Denn wie Wahrheit philosophisch gefasst wird, scheint im Falle einer sol­ chen Begriffsanalyse unwichtig zu sein: „Für den Praktiker reduziert sich die Frage auf die der begründeten Behauptbarkeit […].“15 Drittens dürfen laut Sartori Definitionen nicht als Axiome verstanden werden, da sie weder die Voraussetzung für eine deduktive Argumentationskette, noch den not­ wendigen Ausgangspunkt einer Analyse darstellen. Und schließlich wendet er sich gegen die Vorstellung, es gäbe keine Alternative zum Konventiona­ lismus, da andernfalls die mittlerweile überholte Verwendung von metaphy­ sischen und essentialistischen Wesenheiten hervorgeholt werden müsse.16 Die Anhänger dieses Dualismus verstehen Sartori zufolge nicht, wie sich 13  Ebd.

S. 256. S. 257. 15  Ebd. S. 258 [Hervorhebung i. O.]. 16  Vgl. ebd. S. 258 ff. 14  Ebd.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

wissenschaftliche Sprachsysteme üblicherweise herausbilden: „In jedem Falle sind Sprachkonventionen das Ergebnis eines langen, überlegten und zweckgerichteten Auswahlvorgangs zwischen den bekannten und anerkann­ ten Bedeutungen eines Wortes und gelegentlich einer begründeten, nicht willkürlichen Neufestsetzung.“17 Die zunächst also angenommene grund­ sätzliche Willkür von Definitionen verwirft Sartori im Laufe seiner Argu­ mentation. Im Gegensatz dazu betont er die Eingebundenheit von Wörtern in ein Begriffssystem, in dem sie sich in ihrer Bedeutung wechselseitig beeinflussen. Jeder Ausdruck in einem – wie Sartori es nennt – „semanti­ schen Feld“ weist also auf benachbarte Ausdrücke hin und kann nur dann umdefiniert werden, wenn erstens die Bedeutung des Feldes nicht verloren geht und zweitens dessen damit verbundene Neuordnung zu größerer Klar­ heit beiträgt.18 Dem Vorwurf der Erneuerung metaphysischen Denkens begegnet Sartori dabei mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Sprache für menschliches Denken: „Läuft das auf eine Wiedererweckung des metaphysischen Wesens und absoluter Maßstäbe hinaus? Auf keinen Fall. Es bedeutet nur, daß wir mit Hilfe von Wör­ tern denken, daß Wörter unsere geistigen Brillengläser sind und daß ihre semantische Projektion eine Weise des Wahrnehmens und Begreifens von Dingen (Ge­ genständen, Vorgängen) enthält. Kurz, Wörter formen das Denken.“19

3. Wörter als Erfahrungsträger Nun fehlt für Sartori nur noch ein letzter Schritt, um den Irrweg des Konventionalismus zu umgehen und einem Begriff eine inhaltlich aussage­ kräftige Bedeutung zuschreiben zu können. Denn Sprache prägt nicht nur wesentlich das Denken, sondern dient ihm zufolge auch als Sammelbecken historischer Erfahrungen. Jeder Versuch in der Geschichte, Ideen mit kon­ kreten politischen Maßnahmen zu verknüpfen, hinterlässt demnach seine Spuren in der Sprache, die Sartori als „Vorratskammer früheren Prüfens und Lernens“ bezeichnet.20 Begriffe, so lässt sich dies wohl verstehen, stellen also ein historisch gewachsenes Wissensreservoir dar, aus dem die heutige Beschäftigung mit politisch-philosophischen Fragen schöpfen kann. Nun wird deutlich, warum Sartori das Vorhaben ablehnt, Wörter nach eigener Willkür zu definieren. Da jeder relevante Begriff bereits eine Viel­ zahl von geschichtlichen Erfahrungen in sich trägt, käme dessen vollständi­ ge inhaltliche Dekonstruktion einer geschichtsvergessenen Haltung gleich, 17  Ebd.

S. 260. ebd. S. 260 f. 19  Ebd. S. 261 [Hervorhebung i. O.]. 20  Ebd. S. 262. 18  Vgl.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung71

die jegliche Formen des Wissens, die über Jahrhunderte hinweg erlangt wurden, als veraltete und damit unnütze Informationen abtun würde. Wie­ derum bezogen auf den Begriff der Demokratie – aber auch darüber hinaus­ gehend – schreibt Sartori deswegen: „Die Kernbedeutung des Wortes ist weder eine Festsetzung noch willkürlich, da sie historisch verwurzelt und hergeleitet ist. Genauer: Wörter wie ‚Demokratie‘ sind Kurzberichte, die eine Idee davon vermitteln sollen, wie man sich als erfahrener Mensch in Dingen verhalten soll, in denen jede Generation zunächst ohne Erfahrung anfängt.“21 Wörter, Begriffe, Ausdrücke und Wendungen können dieser Ansicht nach also als „Erfahrungsträger“ verstanden werden, die bei der Orientierung im zugegeben immer undurchsichtiger werdenden Dickicht der zeitgenössischen Sprach- und Deutungsproblematik helfen können. Dabei betont Sartori, dass nicht einfach historische Bedeutungen unkritisch über­ nommen werden sollen: Vielmehr gilt es, diese zu prüfen und im Lichte historischer, politischer und philosophischer Erkenntnisse gegebenenfalls anzupassen.22 Nur so kann seiner Ansicht nach eine sinnvolle Verbindung von praktikabler Definition, wahrheitsgemäßer Beschreibung und normati­ ver Analyseausrichtung gefunden werden. Programmatisch stellt Sartori diese Auffassung, an der sich die folgenden Überlegungen dieser Arbeit orientieren werden, im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches tref­ fend dar: „Das Geflecht von Politik und Demokratie beruht auf Ideen und Idealen, die durch eine theoretische Diskussion gestaltet und aussortiert (aufrechterhalten oder fallengelassen) werden, die bei Platon und Aristoteles angefangen hat und von Generation zu Generation selektiv vermittels Wörtern (Begriffen) weitergegeben wurde, die geronnene Erfahrungen sind. Ohne eine solche historische Wissensak­ kumulation hätten wir heute nichts in der Hand und nicht einmal die Umrisse der liberalen Demokratien vor uns, die wir aufbauen konnten.“23

II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung 1. Analytische Vorgehensweise Da die von Sartori vorgesehene ideengeschichtliche Beschäftigung mit dem Begriff der Anerkennung bereits zum Teil explizit, zum Teil implizit im ersten Teil der Arbeit vorgenommen wurde24, soll nun in einem weiteren 21  Ebd.

S. 263 [Hervorhebung i. O.]. ebd. S. 263. 23  Ebd. S. 7 [Hervorhebung i. O.]. 24  Die behandelten Autor_innen berufen sich alle in der einen oder anderen Hin­ sicht auf ideengeschichtliche Vorarbeit. Natürlich ersetzt dies keine ausführliche historische Untersuchung des Begriffs der Anerkennung, sondern vermag nur Ele­ 22  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Schritt der Ausdruck „Anerkennung“ von anderen, in den Debatten häufig auftauchenden Begriffen unterschieden werden. Denn mit dieser methodi­ schen Einordnung in das „semantische Feld“, wie Sartori es nennt, lässt sich trotz der unbestreitbaren Schwierigkeiten, die der Definitionsversuch eines solch ambivalenten Konzepts mit sich bringt, zumindest der Bereich, in dem sich Anerkennung bewegen kann, näher bestimmen. Eine solche Annähe­ rung besitzt einen entscheidenden Vorteil: Während eine exakte Definition, die alle Eventualitäten beinhaltet, ein unflexibles Begriffskorsett schnüren würde, das dem je nach Verwendung und Bedeutungszuschreibung anders verstandenen Begriff der Anerkennung nicht gerecht werden könnte, scheint der Versuch einer Eingrenzung zunächst geeigneter zu sein, um eine hinrei­ chend gehaltvolle Bestimmung zu liefern und gleichzeitig genug Spielraum zur weiteren Bearbeitung zu erhalten.25 Aber welche Begriffe oder Konzep­ te kommen dafür in Frage? Gerade wenn der Begriff in kritischer Distanz zu paradigmatischen Li­ beralismustheorien positioniert wird, sollte eine Abgrenzung zur häufig als liberale Tugend bezeichneten Toleranz einerseits und zum meist als uni­ verselle Moralnorm verstandenen Gebot des Respekts andererseits erfol­ gen. Die Auswahl der beiden Kontrollbegriffe orientiert sich dabei an zwei Kriterien, von denen ersteres formeller und letzteres inhaltlicher Na­ tur ist: Erstens ergibt die Durchsicht der einschlägigen Fachliteratur eine signifikante Häufung dieser Begriffe, wenn Anerkennung behandelt wird.26 Beide scheinen eine nicht unwesentliche Rolle in der politisch-philosophi­ schen Bearbeitung des Themas zu spielen. Dabei ist es zunächst zweitran­ gig, welche inhaltliche Ausrichtung der oder die jeweilige Autor_in ver­ folgt, denn alleine die bereits in den Titeln der genannten Publikationen erkennbare Nähe von Toleranz und Respekt zu Anerkennung zeigt, warum mente und Motive zu kennzeichnen, die in der weiteren Analyse aufscheinen wer­ den. Damit ist jedoch schon viel gewonnen, denn die folgenden Überlegungen ste­ hen somit auf einem – wenn auch nicht überall solidem – Fundament, von dem aus die Einbettung in das „semantische Feld“ gelingen kann. 25  Die Methode ähnelt in gewisser Hinsicht der mathematischen Praxis der Ap­ proximation, die beispielsweise bei nicht exakt lösbaren Differentialgleichungen mit einer Näherung arbeitet. 26  Dies sollte nicht als quantitativ verifizierte Aussage missverstanden werden. Dennoch fällt bei der Beschäftigung mit der relevanten Literatur die relative Häu­ figkeit der genannten Begriffe auf. Vgl. beispielsweise Düweke 2008, Forst, Rainer: „To Tolerate Means to Insult“, Toleration, Recognition, and Emancipation, in: van den Brink, Bert/Owen, David (Hrsg.): Recognition and Power, Axel Honneth and the Tradition of Critical Social Theory, Cambridge 2007, Galeotti 2002, Galeotti, Anna Elisabetta: Respect as Recognition: Some Political Implications, in: Seymour, Michael (Hrsg.): The Plural States of Recognition, Basingstoke/New York 2010, Schmetkamp 2012.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung73

eine Differenzierung mit Hilfe dieser Termini geboten sein könnte. Zwei­ tens lässt sich auch eine engere inhaltliche Verwandtschaft nicht leugnen. „Toleranz“, „Respekt“ und „Anerkennung“ stellen theoretische Konzepte dar, die als Lösungsansätze in einer spezifischen Problemsituation verwen­ det werden: dem Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Identitäten. Als Ziel ist dabei allen dreien gemeinsam, dass trotz der un­ aufhebbaren Präsenz verschiedener Weltanschauungen, Religionen, Kultu­ ren und sozialen Stellungen die friedliche Koexistenz der Menschen inner­ halb eines bestimmten Rahmens funktionieren kann. Zwar steckt jedes Konzept diesen Rahmen anders ab und auch die Mittel, um diesen Zu­ stand zu erreichen, sind unterschiedlich, aber die Begründungen folgen dem gleichen Muster.27 Insofern scheint auch die inhaltliche Nähe für die Auswahl der beiden begrifflichen Kontrollvariablen „Toleranz“ und „Res­ pekt“ zu sprechen. Als zweiter, umfangreicherer Schritt wird dann der Begriff der Anerken­ nung in seine verschiedenen politischen Dimensionen ausdifferenziert, um eine belastbare Ausgangsposition für die weitere Argumentation zu erhalten. Hier gilt es vor allem Gegenstand, Absender und Adressat sowie Mittel und Werkzeuge der Anerkennung zu unterscheiden.28 Mit anderen Worten: Was wird anerkannt oder als was wird jemand anerkannt? Wer erkennt an und wer wird anerkannt? Und wodurch wird anerkannt? Jeder dieser Fragen lassen sich drei Ebenen zuordnen, die politische Relevanz besitzen und, wie zu zeigen sein wird, zum Kern des heutigen freiheitlichen Demokratiever­ ständnisses gehören. Erstens muss unterschieden werden, aufgrund welcher Eigenschaften und als was Menschen überhaupt anerkannt werden. Während die wechselseiti­ ge Akzeptanz als Person gleichermaßen von universellen, allen potenziell gemeinsamen Charakteristika und der intersubjektiven Bereitschaft zur An­ 27  Zudem berufen sie sich meist auf einen weiteren fundamentalen Begriff der politischen Philosophie, nämlich den der Gerechtigkeit. Sicherlich wäre es in einem umfassenden Schritt wünschenswert, die analysierten Konzepte in eine Gerechtig­ keitstheorie einzubetten, was hier allerdings nicht geleistet werden kann. 28  Natürlich wären auch noch andere Formen der Ausdifferenzierung denkbar. Stephan Voswinkel unterscheidet beispielsweise zwischen Zielen und Modi von An­ erkennung. Während das Ziel einer Protagonistin aus der Bestätigung des eigenen Selbstbildes, der Würdigung des von ihr vermittelten Bildes oder einem instrumen­ tellen Vorteil bestehen kann, existieren Voswinkel zufolge vier unterschiedliche Modi, nämlich Achtung, Wertschätzung, Bewunderung und Würdigung. Vgl. Voswinkel, Stephan: Anerkennung und Reputation. Die Dramaturgie industrieller Bezie­ hungen. Mit einer Fallstudie zum „Bündnis für Arbeit“, Konstanz 2001, S. 31. Diese Unterteilung lässt sich jedoch eher soziologisch erklären und stellt damit für eine dezidiert politisch-philosophische Untersuchung, wie sie hier angestrebt wird, keinen passenden Analyserahmen bereit.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

erkennung abzuhängen scheint, betrifft die Anerkennung Anderer als Iden­ titätsträger die jeweilige Besonderheit aufgrund eines religiösen, kulturel­ len, sozialen oder körperlichen Hintergrundes. Des Weiteren können Men­ schen im politischen Raum als Leistungserbringer anerkannt werden. Hier steht vor allem die Frage nach der Art der erbrachten Leistung im Vorder­ grund, um mit hinreichender Legitimität Anerkennung dafür beanspruchen zu können. In der zweiten Dimension werden die möglichen Anerkennungsquellen behandelt, um deren Rolle innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens genauer zu analysieren. Als wichtigster und wirkmächtigster Spender von Anerkennung müssen sicherlich der Staat und seine Repräsentantinnen gel­ ten. In vielfältiger Art und Weise ist es diesen möglich, Menschen in den drei oben genannten Erscheinungsformen anzuerkennen oder ihnen die Anerkennung zu verweigern. Doch auch wenn der Staat eine wesentliche Anerkennungsquelle darstellt, so ist er keineswegs die Einzige. Auch die Gesellschaft im Ganzen ist in der Lage, individuell oder kollektiv Anerken­ nung auszusprechen. Wenn es gelingt, diesen umfassenden Begriff weiter zu spezifizieren, können damit durchaus Anerkennungsbeziehungen erfasst werden, die bei der eindimensionalen Konzentration auf staatliche Stellen übersehen werden müssen. Als dritter Komplex, der als Anerkennungsspender operieren kann, soll hier die Bürgerschaft analysiert werden. Mit diesem Begriff wird hier die Gesamtheit der Menschen innerhalb eines Gemeinwesens, die in ihrer Ei­ genschaft als Bürger durch gemeinsames politisches Handeln an der Souve­ ränität partizipieren, bezeichnet. Damit unterscheidet sich diese Einheit nicht nur von reiner Staatlichkeit, der als bestimmendes Merkmal die Auto­ rität des Offiziellen zukommt, sondern auch von der Gesellschaft und ihren Mitgliedern, die nicht notwendigerweise politisch tätig sein müssen. Eine solche Bürgerschaft konstituiert sich dann auch nur in dem Moment, in dem politisch gehandelt wird und ist nur dann in der Lage, Menschen in den genannten Formen anzuerkennen. Mit Hilfe dieser Differenzierung sollen vor allem drei Dinge erreicht werden: Zum ersten soll eine Matrix erstellt werden, die die möglichst ex­ akte Einordnung der verschiedenen politischen Dimensionen der Anerken­ nung erleichtert. Ein solches Schema kann als Schablone dienen, um ver­ schiedenste Beispiele anerkennungsrelevanter Maßnahmen und Debatten innerhalb eines politischen Gemeinwesens zu erfassen und zu verstehen. Anknüpfend daran lässt sich so zum zweiten ein Instrument der konstrukti­ ven Kritik im Sinne einer Gerechtigkeitstheorie entwickeln. Wenn nämlich bestimmte Defizite festgestellt werden, können diese mit Verweis auf die jeweiligen Anerkennungsbereiche nicht nur theoretisch begründet, sondern



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung75

auch mit Verbesserungsvorschlägen bedacht werden. Zum dritten soll so die Hauptthese dieser Arbeit auf eine solide Argumentationsbasis gestellt wer­ den. Ziel ist es einerseits, zu zeigen, dass bestimmte Formen der Anerken­ nung nicht ohne weiteres mit den grundlegenden Prinzipien, an denen sich freiheitliche Demokratien orientieren, in Einklang zu bringen sind. Anderer­ seits muss dies jedoch weder zu einer gerechtigkeitstheoretischen Problema­ tisierung der liberal-demokratischen Grundordnung, noch zu einer pauscha­ len Ablehnung anerkennungspolitischer Forderungen führen. Im Gegenteil: Mit Hilfe der vorgenommenen Differenzierung soll demonstriert werden, dass Formen der Anerkennung, die in einem Bereich nicht gewährt werden können, ohne mit wesentlichen liberal-demokratischen Grundsätzen in Kon­ flikt zu geraten, durch andere Arten und auf anderen Ebenen der Anerken­ nung kompensiert werden können. Damit wird hier ein multidimensionaler Ansatz vertreten, der Theorien der politischen Anerkennung von der einsei­ tigen Konzentration auf den Staat als Quelle und die kulturelle Differenz als Gegenstand zu lösen versucht. 2. Der Begriff der Toleranz a) Ein kurzer (ideen-)geschichtlicher Hintergrund Als ersten Kandidaten für einen Vergleich sollte man den Begriff „Tole­ ranz“ in Betracht ziehen. Seit der aufklärerischen Erkenntnis, dass keine der konkurrierenden Weltsichten per se vorzuziehen sei und der damit verbun­ denen Forderung, die jeweilige Religion oder Weltanschauung als Privatsa­ che, die für den öffentlichen Diskurs sowie den Umgang mit den Mitmen­ schen höchstens nachrangige Bedeutung besitzt, zu behandeln, wird dieser Ausdruck in liberalen Diskursen und darüber hinaus immer wieder bemüht, um das Prinzip friedlichen Zusammenlebens innerhalb einer heterogenen Gesellschaft zu beschreiben. Ursprünglich bezog sich Toleranz vor allem auf die Religion: Seit der Spaltung der christlichen Kirche durch die Reformation musste das Zusam­ menleben in den europäischen König- und Fürstentümern neu geregelt werden. Der plötzlich aufgekommenen Pluralität der Konfessionen, die be­ kanntermaßen zu zahlreichen blutigen Auseinandersetzungen geführt hatte, wurde jedoch auch geistesgeschichtlich mit neuen Ideen begegnet. Denker wie Erasmus von Rotterdam, Jean Bodin, sowie später Baruch de Spinoza und John Locke beschäftigten sich mit dem Toleranzbegriff, um den innen­ politischen Religionskonflikten etwas entgegenzusetzen. Besonders Locke prägte mit seinem Brief A Letter Concerning Toleration von 1689 die Vor­ stellung, dass sich jeder Bürger eines Gemeinwesens bei der Wahl seines Glaubens nur seinem Gewissen verantworten kann und deswegen ein abso­

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

lutes Recht auf freie Religionsausübung besitzt.29 Auch wenn uns Lockes Ansicht, Toleranz höre da auf, wo gar nicht an Gott geglaubt wird, da so keine Versprechen oder Eide mehr möglich seien, heutzutage wohl eher nicht mehr unmittelbar einleuchtet, ebnete er den Weg für eine umfassen­ dere Konzeption von Toleranz, die in der Aufklärung in Angriff genommen wurde. Besonders der Atheist Voltaire, aber auch Jean-Jacques Rousseau und Gotthold Ephraim Lessing in Nathan der Weise (1779) plädierten für einen toleranten Umgang mit verschiedenen Religionen und Weltanschauun­ gen.30 Heute hat sich der Begriff der Toleranz im akademischen und politischen Diskurs weitgehend ausdifferenziert. Durch Globalisierung, Migration und weltweite Vernetzung hat sich eine Situation entwickelt, in der innerhalb eines staatlichen Rahmens verschiedene Lebensentwürfe, Weltanschauungen und Religionen aufeinander treffen. Die Differenzen zwischen den Bürgern können sich dabei auf die vielfältigsten Identitätsebenen beziehen, wie Kul­ tur, sozialer Status, sexuelle Orientierung oder Körperlichkeit, um nur eini­ ge zu nennen. Trotz dieser Heterogenität wird immer wieder versucht, nicht nur eine friedliche Koexistenz zu ermöglichen, sondern diese auch Gerech­ tigkeitskriterien anzupassen. Wenn die Haltungen zu Ethik und Moral inner­ halb einer Gesellschaft jedoch so stark divergieren, dass ein Konsens zu bestimmten Fragen des Zusammenlebens nicht erreichbar erscheint, bietet sich die Duldung anderer Ansichten bei gleichzeitigem Festhalten an den eigenen Überzeugungen als modus vivendi an. Hier knüpfen liberale Theo­ rien an der Tradition an: Toleranz wird als soziale Tugend verstanden, die eine gewaltfreie Koexistenz in pluralistisch geprägten Staaten erleichtert. Der Einsicht folgend, dass niemand die letztgültige Autorität in Glaubens­ fragen für sich beanspruchen kann, legt beispielsweise John Rawls dar, warum bestimmte Einstellungen und Haltungen in der politischen Sphäre toleriert werden sollten. Dabei unterscheidet er fünf Gegebenheiten, die zusammen die „Bürden des Urteilens“ (burdens of judgement) bilden und die Möglichkeit von vernünftigen Meinungsverschiedenheiten bezüglich weltanschaulichen Fragen eröffnen: die Belege für eine Meinung können widersprüchlich und / oder komplex sein, die relative Gewichtung eines Ar­ guments kann variieren, die verwendeten Begrifflichkeiten können vage und unscharf sein, der persönliche Hintergrund kann bei der Einschätzung eines Arguments eine Rolle spielen und eine Gesamtbewertung des Sachverhalts kann trotz einzelner stichhaltiger Argumente schwierig sein.31 Ohne die 29  Vgl. in der deutschen Übersetzung Locke, John: Ein Brief über die Toleranz, Hamburg 1996. 30  Vgl. zur Geschichte der Toleranz Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt. Ge­ schichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2003. 31  Vgl. dazu Rawls 2003, S. 68 f.



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weitere Konzeption von Rawls an dieser Stelle gebührend berücksichtigen zu können, sind es doch diese Schwierigkeiten, die, wenn sie als plausibel akzeptiert werden, vernünftigerweise zu einer Haltung der Toleranz führen sollten.32 b) Rechtsgültigkeit und Ablehnungskomponente In der akademischen Ausgestaltung des Konzepts sind besonders drei wichtige Charakteristika zu beachten: Zum ersten handelt es sich bei Tole­ ranz nicht um einen Rechtsbegriff im engen Sinne. Auch wenn dies in öf­ fentlichen Diskussionen leicht vergessen wird, kann sich somit kein Bürger eines demokratischen Staates umfassend auf einen legitimen Rechtsanspruch berufen, in seinen Praktiken toleriert zu werden. Rüdiger Bubner weist da­ rauf hin, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland den Begriff der Toleranz nicht kennt und verwendet diese Erkenntnis als Untermauerung für sein Argument, Toleranz könne nicht gesetzlich vorgeschrieben werden: „Toleranz heißt Duldung, Ertragen, und eine solche Leistung kann ein Ein­ zelner und eine Gesellschaft nur aus freien Stücken erbringen. Zu Toleranz kann niemand im strengen Sinn verpflichtet werden. Eine Rechtskategorie steckt in ihr nicht.“33 Die häufig vorgenommene Bezeichnung der Toleranz als „soziale Tugend“ vermag diese Tatsache noch zu illustrieren. Denn ge­ meint ist damit eine wohlwollende Haltung der Tolerierenden gegenüber Weltanschauungen, die sie nicht teilen, mit dem Ziel, den innergesellschaft­ lichen Frieden zu fördern und zu erhalten. Tun sie dies nicht und handeln damit also nach dieser Sprechweise nicht tugendhaft, müssen sie zunächst keine rechtlichen Konsequenzen fürchten. Rechtliche Relevanz entfaltet die Weigerung, Toleranz auszuüben nur dann, wenn damit Sprechakte oder Handlungen verbunden sind, die in die Grund-, Freiheits- oder Persönlich­ keitsrechte der betroffenen Person eingreifen. Zum zweiten stellt Toleranz immer nur die Reaktion auf die vorhergehen­ de moralische Ablehnung einer Praktik, eines Verhaltens oder einer Einstel­ lung von Anderen dar. Denn nur für den Fall, dass man etwas mit der ei­ 32  Der Vollständigkeit halber muss allerdings an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass auch Stimmen existieren, die diese Form der Toleranzbegründung und -ausübung ablehnen. Slavoj Žižek kritisiert beispielsweise die liberale oder „multi­ kulturelle“ Toleranz scharf, indem er sie einerseits mit einem Ideologieverdacht belegt und ihr andererseits attestiert, zur unerwünschten Entpolitisierung der Ökono­ mie beizutragen. Vgl. dazu Žižek, Slavoj: Ein Plädoyer für die Intoleranz, 4. Aufla­ ge, Wien 2009. 33  Bubner, Rüdiger: Zur Dialektik der Toleranz, in: Forst, Rainer (Hrsg.): Tole­ ranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt a. M. 2000, S. 48.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

genen Weltanschauung nicht vereinbaren kann, besteht überhaupt die Not­ wendigkeit, dies dann zu tolerieren. Rainer Forst schreibt deswegen folge­ richtig: „Eine jede sinnvolle Verwendung von T[oleranz] enthält eine ‚Ablehnungs-Komponente‘: Die zu tolerierenden Praktiken oder Überzeu­ gungen müssen normativ verurteilt werden. Ohne diese Komponente lägen entweder Indifferenz oder Bejahung, nicht aber T[oleranz] vor.“34 Eine ge­ nuine Wertschätzung für fremde Kulturen, Religionen oder Lebenseinstel­ lungen, wie von den meisten Befürwortern einer Politik der Anerkennung mit verschiedenen Begründungen gefordert, scheint damit gerade nicht stattzufinden.35 Auch für Heiner Hastedt, der den Versuch unternimmt, den Wert der Toleranz mit inhaltlicher Substanz zu füllen, kann Toleranz nicht ohne die vorherige moralisch motivierte Ablehnung einer Einstellung statt­ finden: „Toleranz muss schwerfallen. Toleranz die leichtfällt, ist keine; denn nur Abgelehntes kann der Toleranz unterliegen.“36 Auch wenn es im ersten Moment anders klingt, hält sich Hastedt an diese Einschränkung. Seine Definition von Toleranz lautet: „ ‚Toleranz‘ bedeutet zugleich Ablehnung und Geltenlassen von Haltungen und Handlungen von Personen mit dem Ergebnis einer Duldung oder einer friedlich bleibenden Koexistenz, eventuell sogar gesteigert bis hin zum gegenseitigen Respekt. Toleranz unterscheidet sich sowohl von Anerkennung und Wertschätzung – denen das Moment der Ablehnung fehlt – als auch von bloßer Gleichgültigkeit und Beziehungslosigkeit.“37

Gegenseitiger Respekt, der Hastedt zufolge aus Toleranz erwachsen kann, ist nämlich im Gegensatz zur Wertschätzung durchaus auf der Basis einer vorherigen Ablehnung der gegenüberstehenden Haltung möglich, da er sich anstatt auf Verhaltensweisen auf den Personenstatus in seiner autonomen Verfassung bezieht. Dementsprechend lässt sich Toleranz einerseits inhalt­ lich bedeutungsvoller definieren, anstatt den Begriff als bloße Duldung des sozialen Friedens willen oder als reine Indifferenz zu verstehen, kann aber andererseits keine genuin wertschätzende Position einnehmen: „Toleranz ähnelt so einem Balanceakt zwischen dem (halben) Zulassen und der (fort­ 34  Forst, Rainer: Toleranz, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Phi­ losophie, Bd. A–H, Hamburg 2010, S. 2753. 35  Trotzdem unterscheidet Forst nach dieser anfänglichen Definition später vier verschiedene Toleranz-konzeptionen mit den zusätzlichen Begriffen „Erlaubnis“, „Koexistenz“, „Respekt“ sowie „Wertschätzung“. Damit deckt er ein breites Spekt­ rum des Verhaltens gegenüber differenten Lebensformen ab, das von der reinen Duldung über gehaltvollere Arten der Toleranz bis hin zur zumindest partiellen normativen Akzeptanz anderer Traditionen und Praktiken reicht (vgl. dazu ebd. S. 2756). Vgl. zur Kritik an dieser Differenzierung C. II. 2. d). 36  Vgl. Hastedt, Heiner: Toleranz, Stuttgart 2012, S. 14. 37  Ebd. S. 13 [Hervorhebung i. O.].



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung79

bestehenden) Ablehnung; sie ist etwas Drittes zwischen reiner Ablehnung und echter Zustimmung.“38 c) Objekte der Toleranz und Machtbeziehungen Dennoch muss auch Hastedt in seiner Definition zugeben, dass gegenseiti­ ger Respekt nicht die übliche Weiterentwicklung von Toleranz, sondern eher ein eigenständiges Prinzip bildet. Dies hat mit der dritten Eigenschaft von Toleranz zu tun, die die Entwicklung einer besonderen Relation zwischen den involvierten Parteien betrifft. Denn Toleranz kann sich aufgrund seiner Struktur nicht auf Personen beziehen, sondern nur auf deren Verhalten, Hand­ lungen und Einstellungen. Toleriert werden Praktiken, nicht Menschen. Wie Susanne Schmetkamp plausibel darlegt, können deswegen nur Überzeugun­ gen Gegenstand von Toleranz sein, weil nur hier die Ablehnungskomponente greift.39 Am Beispiel eines Menschen mit körperlicher oder geistiger Behin­ derung verdeutlicht sie dies: Hier würde man – abgesehen von der ethischen Fragwürdigkeit – einen kategorialen Fehler begehen, spräche man davon, diese Person zu tolerieren. Denn die Ablehnung, die ohne Probleme bestimm­ ten politischen oder weltanschaulichen Einstellungen der betroffenen Person entgegengebracht werden kann, lässt sich nicht in begründeter Weise auf die Person selbst beziehen: „Wir können jemandes Lebensweise, jemandes Plä­ ne, Ziele, Überzeugungen, Meinungen, Glauben ablehnen, die jemand frei­ willig gewählt hat. Wir können aber nicht jemand dafür ablehnen, dass er im Rollstuhl sitzt oder das Down-Syndrom aufweist.“40 Personen, so Schmet­ kamp weiter, müssen dementsprechend als Objekte von Respekt und Aner­ kennung, nicht von Toleranz begriffen werden.41 Diese Tatsache bedeutet jedoch auch, dass sich in der Aktion des Tolerie­ rens häufig keine Wechselseitigkeit feststellen lässt. Zwar ist es denkbar, dass in einer politischen Gemeinschaft zwei oder mehrere gleich starke Gruppen bestehen und diese sich zur Erhaltung des sozialen Friedens in ih­ ren Praktiken gegenseitig tolerieren müssen. Jedoch stellt dieses Gleichge­ wicht zumeist nur eine fragile Gesellschaftskonstruktion dar, einen modus vivendi, der dann zusammenbricht, wenn eine der Gruppen genug Macht auf sich vereinen kann.42 Viel häufiger allerdings stehen die heutigen demokra­ tischen Staaten vor der Situation, dass neben einer relativ stabilen und ein­ 38  Ebd.

S. 14. Schmetkamp 2012, S. 99–101. 40  Vgl. ebd. S. 100. 41  Vgl. ebd. S. 101. 42  Vgl. dazu auch Forst 2003, S. 44. 39  Vgl.

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heitlichen Bevölkerungsmehrheit eine Vielzahl von Minderheitengruppen existiert, die sich in Religion, Weltanschauung und Traditionen von dieser unterscheiden. So befindet sich meist nur eine Seite, nämlich die Mehrheit, in der Position, Toleranz willkürlich zu gewähren, während die andere Seite darauf hoffen muss, dass ihre Überzeugungen und die daraus resultierenden Handlungen toleriert werden. Es entsteht eine asymmetrische Beziehung, die bestehende Machtverhältnisse einerseits reflektiert und andererseits ver­ stärkt.43 Denn kulturelle oder religiöse Minderheiten in einer politischen Gemeinschaft sind zum einen in ihrem Selbstverhältnis stark von der Mei­ nung der Mehrheitsgesellschaft abhängig und erhalten zum anderen er­ schwerten Zugang zu partizipatorischen Institutionen, da ihnen das notwen­ dige Vertrauen – etwa um gewählt zu werden – aufgrund ihrer Identität nicht entgegengebracht wird. So gesehen kann Toleranz also nicht nur zur Unter­ stützung ungerechter Herrschaftsstrukturen beitragen, sondern auch die Be­ troffenen demütigen, wenn nämlich deren Vorstellungen des guten Lebens als moralisch verwerflich verurteilt, aber – von einer Attitüde der morali­ schen Überlegenheit begleitet – geduldet werden. Wendy Brown erkennt diese Gefahr und schreibt deswegen: „Das Objekt der Toleranz wird gerade dadurch, dass es toleriert wird, so konstruiert, als sei es marginal, unterlegen, anders, als stünde es außerhalb der Gemeinschaft und sei dieser zumindest in gewisser Weise feindlich gesinnt.“44 Unter Berufung auf Michel Foucault geht Brown sogar noch einen Schritt weiter. Ihr zufolge bedingt das liberale Paradigma der Toleranz eine äußerst problematische Kategorisierung von Menschen, die anhand der Praktiken, die sie ausüben, identifiziert werden. Foucaults Beispiel des Menschen mit homosexueller Orientierung dient da­ bei als Illustration: Während Homosexualität früher rein als verbotene Handlung betrachtet wurde, hat sich demnach mittlerweile die Auffassung durch­ gesetzt, diese Disposition würde die Identität der Einzelnen wesentlich be­ stimmen. Brown folgt dieser Analyse, wenn sie schreibt: „Bestimmte Prakti­ ken und Erfahrungen, zu denen wir auch Überzeugungen zählen können, werden als notwendiger Bestandteil grundlegender Subjekttypen aufge­ fasst.“45 Das Konzept der Toleranz, so Brown, in dem von einer fundamen­ talen Unvereinbarkeit von verschiedenen Lebensentwürfen ausgegangen wird, wandelt sich nun von einer handlungs- zu einer personenbezogenen Duldung. Dies hat jedoch zur Folge, dass sich innerhalb einer Gesellschaft Gräben auftun, die nicht mehr entlang von Meinungen und Praktiken, son­ dern von essentialistischen Identitätskonzeptionen verlaufen: dazu Galeotti 2002, S. 20 ff. und Forst 2007, S. 220. Wendy: Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität, in: Forst, Rainer (Hrsg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt a. M. 2000, S. 261. 45  Ebd. S. 274. 43  Vgl.

44  Brown,



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung81 „Die Feindschaft oder Infragestellung findet nicht lediglich auf der Ebene der Überzeugungen oder der Erfahrungen statt, sondern auf der Ebene von Personen, weil die Person und die Überzeugungen vermischt und auf der Ebene des Person­ seins anhand von Merkmalen und Praktiken mit einem Index versehen werden.“46

So verstandene Toleranz trägt laut Brown also gleichsam selbsterhaltend dazu bei, starre Identitäten der Andersheit erst zu erschaffen und zu verfes­ tigen, um diese dann wiederum tolerieren zu können. Noch problematischer wird dies, wenn man die oben bereits angesprochenen Machtverhältnisse zwischen den involvierten Parteien betrachtet. Denn gerade im Fall staatlich ausgeübter Toleranz wird so per Ausschlussverfahren eine scheinbar neutra­ le Norm konstituiert, die alle davon abweichenden Lebensentwürfe als an­ ders und fremd marginalisiert. Daraus können laut Brown ungerechte Herr­ schaftsbeziehungen resultieren: „Der diskursive Effekt einer Toleranz, die auf Identitäten bezogen wird, besteht sowohl darin, als Effekt von Ungleich­ heit und Unterordnung eine Gruppe zu konstituieren, als auch darin, die Hegemonie der herrschenden, nicht-gekennzeichneten Gruppe zu festigen.“47 Ein Paradigma der Toleranz, das solch gleichermaßen essentialistische, frag­ mentierende und marginalisierende Tendenzen aufweist, stellt für Brown somit eine besorgniserregende Praxis dar, die es abzulehnen gilt. Nicht nur dass dadurch die Rechte der Betroffenen verletzt werden, auch antidemo­ kratische Machtverhältnisse und fälschlicherweise naturalisierende Identi­ tätsvorstellungen können so entstehen.48 Damit tritt der erste Unterschied zwischen Toleranz und Anerkennung deutlich zu Tage: Während „etwas zu tolerieren“ bedeutet, zunächst einmal aufgrund einer als höher bewerteten Verpflichtung gegenüber dem sozialen Frieden keine Maßnahmen gegen das als „falsch“ beurteilte Verhalten ein­ zuleiten, geht Anerkennung viel weiter. Indem andere Personen oder Le­ benskonzeptionen als grundsätzlich wertvoll affirmiert werden, können moralische, rechtliche und politische Verpflichtungen entstehen. Dies könn­ ten Anhänger des Toleranzbegriffs jedoch mit dem Hinweis auf geltendes Recht anzweifeln. Obwohl wie oben gesehen Toleranz eigentlich nicht als Rechtskategorie gelten kann, existiert durchaus eine rechtliche Entsprechung dafür. Diese findet sich im Diskriminierungsverbot, das beispielsweise im europäischen Recht fest verankert ist. In der EU-Grundrechtscharta von 2000 heißt es: „Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Haut­ farbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Spra­ che, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen An­ 46  Ebd.

S. 274. S. 276. 48  Vgl. ebd. S. 281. 47  Ebd.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

schauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.“49

Die vormals soziale Tugend wird so gesetzgeberisch jedoch nur in ein Zwischending umgewandelt, das nicht mehr bloß Duldung, aber auch noch nicht vollständige Anerkennung bedeutet. Dementsprechend vermag es die­ se rein negative Bestimmung in den Augen der Fürsprecher einer Politik der Anerkennung nicht, die Gefahren der sozialen Stigmatisierung von differen­ ten Individuen und Gruppen einzudämmen. Ein Satz von Johann Wolfgang von Goethe drückt diese Haltung pointiert aus: „Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“50 Zweitens etabliert sich durch Anerkennung eine reziproke Beziehung zwischen Personen, während Toleranz meist nur einseitig gegenüber be­ stimmten Praktiken gewährt werden kann. So werden zum einen, wie oben anhand Wendy Browns Analyse beschrieben, ungerechte Macht- und Herr­ schaftsverhältnisse zementiert, anstatt einen wechselseitigen und gleichbe­ rechtigten Interaktionszusammenhang herzustellen. Zum anderen zeigt sich daran der verengte Fokus von Toleranz: Individuen und ihr Personenstatus haben in dieser Konzeption keinen Platz, da sich die Duldung nur auf Ein­ stellungen und Handlungen bezieht. Ein weitergehendes Prinzip der gesamt­ gesellschaftlichen wechselseitigen Achtung der legitimen Ansprüche jedes Mitglieds einer politischen Ordnung scheint deswegen mit dem Begriff der Toleranz nicht begründbar zu sein. d) Der Versuch der Verbindung von Toleranz und Anerkennung Die oben beschriebenen Unzulänglichkeiten des Toleranzbegriffs haben einige Kommentatoren dazu bewegt, eine gehaltvollere Version des Kon­ zepts vorzulegen. Stellvertretend sollen hier die Versuche von Anna Elisa­ betta Galeotti und Rainer Forst, die beide dem Begriff der Toleranz eine umfangreichere normative Bedeutung zuschreiben, analysiert werden.51 Galeotti zeigt sich in ihrem Versuch, Toleranz als Anerkennung zu den­ ken, empfänglich für die oben beschriebenen Schwierigkeiten einer Kon­ zeption, die Toleranz mit Duldung gleichsetzt. Ihrer Ansicht nach muss 49  Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2000, abgerufen unter www. europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf, Stand: 15.03.2014. 50  Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen, Werke 6, Frankfurt 1981, S. 507. 51  Vgl. Galeotti 2002 und Forst 2003.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung83

anhand des Kriteriums der vollständigen politischen und gesellschaftlichen Inklusion von Individuen mit differenten Identitäten überprüft werden, ob das öffentliche Tolerieren alternativer Lebensentwürfe eine gerechte Be­ handlung darstellt.52 Da für Galeotti jedoch die bloße Duldung Differenzen unsichtbar werden lässt, entstehen äußerst ungünstige Bedingungen für die Entwicklung der vollen Autonomie, Selbstachtung und Würde von Mitglie­ dern gesellschaftlicher Minderheiten. Eine so verstandene staatliche Tole­ ranzpolitik würde also weiterhin Personen aufgrund ihrer Andersheit be­ nachteiligen.53 Dementsprechend plädiert Galeotti für eine inklusionsfördernde Art der öffentlichen Toleranz, die durch ihren Symbolcharakter den betroffenen Menschen die Anerkennung zukommen lässt, die aus Gerechtigkeitsgründen geboten ist. Als entscheidend scheint sich dabei die Sichtbarkeit von Diffe­ renz im öffentlichen Raum zu erweisen: „[B]y admitting different behavior into the public domain, toleration symbolically affirms the legitimacy of that behaviour and of the corresponding identity in the public domain.“54 Während Galeotti zufolge nämlich Angehörige der normsetzenden Mehrheit sich ohne Probleme in der Öffentlichkeit bewegen und artikulieren können, bleibt Menschen mit differenter Identität diese Form der politischen Partizi­ pation verwehrt. Versteht man jedoch staatlich ausgeübte Toleranz als sym­ bolische Anerkennung von Differenz, lässt sich ihr zufolge die Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder in einem pluralistisch geprägten Gemeinwesen erreichen.55 Nun stellt sich allerdings die Frage, warum Galeotti überhaupt noch den Terminus „Toleranz“ verwendet. Denn obwohl sie symbolische Anerken­ nung wohl zu Recht in den Rang eines Gerechtigkeitskriteriums für libera­ le politische Ordnungen erhebt56, hat ihre Konzeption nicht mehr viel mit der ursprünglichen, von Ablehnungskomponente und Einseitigkeit geprägten Bedeutung von Toleranz zu tun. Vielmehr bewegt sich Galeotti hin zu einer auf wechselseitiger Anerkennung basierenden Form eines Gemeinwesens, in dem der Staat die Differenzen der Bürger genauso wertschätzt, wie die Bürger ihre politische Rolle annehmen und den öffentlichen Diskursraum als primären Bereich des politischen Entscheidungsprozesses akzeptieren. Der Versuch, diese Situation weiterhin mit dem Begriff der Toleranz zu belegen, scheint eher zu einer unnützen Vermischung als zu einer möglichst trennscharfen Differenzierung von Bedeutungen beizutragen. Galeotti 2002, S. 5 f. ebd. S. 45. 54  Ebd. S. 101. 55  Vgl. ebd. S. 101 f. 56  Vgl. zur symbolischen Anerkennung auch C. III. 3. c). 52  Vgl. 53  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Auch Rainer Forst begegnet dem Begriff der Toleranz ergebnisoffen und versucht, ihn durch eine differenzierte Analyse über die Grundbedeutung hinaus zu erweitern. Dazu unterscheidet er idealtypisch zwischen vier ver­ schiedenen Toleranzkonzeptionen, die die unterschiedlichen Spektren des Umgangs mit von der eigenen Überzeugung abweichenden Weltanschauun­ gen abdecken sollen.57 Zum einen kann als Minimalerfordernis die Erlaubnis-Konzeption der Toleranz gelten, bei der jemand analog zur obigen Be­ schreibung trotz der eigentlichen Ablehnung wesentlicher Elemente einer Meinung oder Praktik einer Anderen diese duldet und keine Maßnahmen ergreift, um seine eigene Vorstellung vom Guten durchzusetzen. Diese Form der Toleranz entsteht laut Forst meist dann, wenn sich ein Staat weltan­ schaulich positioniert, aber Menschen mit alternativen Lebensentwürfen innerhalb seines Gebietes weder verfolgt noch anderweitig benachteiligt.58 Allerdings schreibt Forst dieser Konzeption von Toleranz die gleiche unter­ drückende Wirkung zu, die oben bereits genauer ausgeführt wurde. Denn die Entscheidung, was toleriert wird und was nicht, liegt in diesem Fall bei der staatlichen Autorität. Minderheiten sehen sich so zumindest potenziell staatlicher Willkür ausgesetzt, ohne dieser als Anspruchstellende begegnen zu können. Forst führt als Beispiel die mangelnde Gleichstellung homo­ sexueller Paare in Deutschland an, die zwar mittlerweile rechtlich anerkann­ te Lebenspartnerschaften eingehen können, welche jedoch der traditionellen Ehe zwischen Mann und Frau nicht vollständig entsprechen.59 Damit wird laut Forst zwar Toleranz ausgeübt, die sich aber auf die bloße Erlaubnis beschränkt und somit unterdrückende Tendenzen aufweist: „Die Toleranz­ situation ist somit nicht-reziprok: Die eine Seite erlaubt der anderen gewis­ se Abweichungen, solange die politisch dominante Stellung der erlaubnis­ gebenden Seite nicht angetastet wird.“60 Die zweite Form der Toleranz bezeichnet Forst als Koexistenz-Konzeption. Hier besteht zwar weiterhin die grundsätzliche Ablehnung gegenüber den Überzeugungen anderer, die Relation zwischen den Parteien verändert sich jedoch: Es gibt in dieser Situation keine übermächtige Gruppe mehr, die die eigenen Vorstellungen des guten Lebens durchsetzen könnte, aber aus gutem Willen oder pragmatischen Gründen einige Minderheiten toleriert, sondern es stehen sich in etwa gleichstarke Seiten gegenüber, die zur Vermeidung von Konflikten gegenseitig Toleranz ausüben.61 Laut Forst entfällt hier allerdings meist die Möglichkeit, Toleranz aus anderen als pragmatischen Forst 2003, S. 42. Forst 2007, S. 219. 59  Vgl. ebd. S. 221 f. 60  Vgl. Forst 2003, S. 43. 61  Vgl. ebd. S. 44. 57  Vgl. 58  Vgl.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung85

Gründen – also beispielsweise aufgrund der normativen Überzeugung, das Gewissen der Einzelnen sei achtenswert – zu gewähren. Da die Anderen nur aus strategischen Gründen bis zur Erlangung der Vorherrschaft geduldet werden, ist politische Instabilität die Folge.62 Als dritte Möglichkeit, Toleranz auszuüben, identifiziert Forst die Respekt-Konzeption. Diese geht „von einer moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen aus“63 und bezieht sich somit im Wesentlichen auf die universelle Moral­ norm des Respekts vor Personen. Für diese Toleranz-Konzeption unterschei­ det Forst zwei Alternativen: Entweder entsteht der zugrunde liegende Res­ pekt durch die wechselseitige Anerkennung der Menschen als rechtlich und moralisch Gleiche innerhalb einer politischen Ordnung, was laut Forst an ein vom rawlsschen Liberalismus geprägtes Modell der formalen Gleichheit erinnert, in dem öffentliche und private Identität der Bürger strikt getrennt werden und weltanschaulich motivierte Argumente im politischen Diskurs keinen Platz haben. Oder aber die Anerkennung bezieht sich auf das Indi­ viduum als autonomes Wesen, das eine eigene Konzeption des guten Lebens verfolgen kann. Diese Begründung folgt eher der Überzeugung, dass durch die liberale Sphärentrennung bestimmte, meist mehrheitsgesellschaftlich akzeptierte, Lebensformen bevorzugt werden, weswegen differente Identitä­ ten im politischen Raum besonders berücksichtigt werden müssen.64 Dass diese Definition jedoch bereits weit über den Begriff der Toleranz hinaus­ weist und eigentlich mit Prinzipien wie gegenseitigem Respekt und rezipro­ ker Anerkennung verbunden werden müsste, scheint Forst trotz seiner wie­ derholten Verwendung dieser Ausdrücke nicht zu glauben: „Wechselseitige Toleranz impliziert diesem Verständnis nach, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen.“65 Ähnliches gilt für Forsts viertes Modell, das er Wertschätzungs-Konzeption nennt. Diese lässt sich demnach dann erkennen, wenn Überzeugungen und Praktiken, die für Mitglieder einer bestimmten Kultur identitätskonsti­ tutiv sind, nicht nur geduldet, sondern sogar für wertvoll gehalten werden. Forst leugnet jedoch nicht, dass sich diese Form der Toleranz bereits an der Grenze zu gehaltvolleren, mit dem Begriff der Toleranz nicht mehr fassbaren Konzeptionen befindet. So darf den betroffenen Weltanschauun­ gen oder Lebenseinstellungen die Wertschätzung nicht uneingeschränkt 62  Vgl.

ebd. S. 44. S. 45. 64  Vgl. ebd. S. 45 ff. 65  Ebd. S. 47 [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 63  Ebd.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

entgegengebracht werden, wenn sie noch unter diesem Ausdruck subsum­ miert werden soll. Die oben beschriebene Ablehnungskomponente besteht also weiterhin, bezieht sich hier allerdings nur noch auf bestimmte Teil­ aspekte einer Identität.66 Durch den Versuch von Rainer Forst, Toleranz substantiell zu denken, anstatt den Begriff als bloße Duldung zu übersetzen, wird deutlich, dass sich die Motivation zur Tolerierung von Überzeugungen und Praktiken als äußerst relevant für die terminologische Analyse erweist. Denn fußt diese auf pragmatischen Überlegungen, die einzig und alleine den sozialen Frie­ den innerhalb einer Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen, kann wohl kaum von einem tiefer liegenden moralischen Respekt für die Person als Träger einer bestimmter Weltanschauung gesprochen werden. Toleriert man jedoch, weil man den fundamentalen Anspruch jedes Menschen anerkennt, der autonome Autor seiner eigenen Vorstellung eines guten Lebens zu sein, dann stellt Toleranz nur eine Reaktion auf die vorher etablierte universelle moralische Pflicht zur Achtung jeder Person dar, die trotz der Ablehnung bestimmter Überzeugungen unbedingt erfolgen muss. Konsequenterweise sollte man deswegen in einer Betrachtung der normativen Bedeutung, Ver­ wendung und Wirkmächtigkeit dieser Konzepte im politischen Raum versu­ chen, klar zu differenzieren, anstatt durch Kombinationen der verschiedenen Begriffe Missverständnisse zu befördern. Obwohl sich Toleranz, Respekt und Anerkennung in einigen Bereichen sicherlich überlappen, erscheint es erfolgversprechender, die Begriffe getrennt voneinander zu untersuchen, um ihre Beziehung zueinander besser beschreiben sowie ihre eigenständigen Eigenschaften deutlicher herausstellen zu können. 3. Der Begriff des Respekts a) Ideengeschichtlicher Hintergrund Eine zweite Möglichkeit, den Ausdruck „Anerkennung“ einzugrenzen, bietet sich bei der Analyse des Terminus „Respekt“. Meist synonym zu dem Begriff der Achtung gebraucht, existiert eine weit zurückreichende Tradition der Beschäftigung mit Respekt und seinen Implikationen. Respekt oder Achtung wird dabei meist als moralische Haltung verstanden, die in Reak­ tion auf die zugeschriebene unveräußerliche Würde für jeden Menschen ein bestimmtes Verhalten gegenüber dem anderen fordert. Dies kann von der basalen Bereitschaft, seine Mitmenschen als gleichwertige Gegenüber zu behandeln, bis hin zur Akzeptanz gleicher grundlegender Rechte innerhalb eines globalen Kontextes reichen. 66  Vgl.

ebd. S. 47 f.



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Der deutsche Philosoph Immanuel Kant kann sicherlich als einfluss­ reichster Autor in der ideengeschichtlichen Beschäftigung mit Respekt be­ zeichnet werden. Seine Konzeption von Achtung wurde weithin rezipiert und bildete lange Zeit die Grundlage jedes neuen Versuchs, dieses Thema zu bearbeiten. Dabei begründet Kant die universelle Moralnorm des Res­ pekts vor anderen Personen zunächst mit dem Hinweis auf das allgemeine Moralgesetz. Die grundlegende Achtung gilt laut Kant diesem Gesetz, nicht dem Gegenüber an sich: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit et cetera), wovon jene uns das Beispiel giebt.“67 Da die Person also als Vernunftwesen nach dem morali­ schen Gesetz handeln kann und somit eine Instanz desselben darstellt, richtet sich der Respekt in einem zweiten Schritt auch auf sie. Dies bedeu­ tet jedoch nicht unbedingt, dass hier Respekt „zweiter Klasse“ vorliegt. Aufgrund der Fähigkeit des Menschen, das moralische Gesetz erkennen und danach handeln zu können, kommt ihm als Gattungswesen laut Kant ein fundamentaler Wert zu, weswegen sowohl er als auch seine Mitmenschen ihm mit der gebührenden Achtung begegnen müssen. Die berühmte Zweck­ formel des Kategorischen Imperativs resultiert dann auch aus dieser Über­ legung: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“68 Damit ist jedoch noch nicht gesagt, worin der Grund dafür liegt, warum Respekt als Moralnorm universelle Gültigkeit beanspru­ chen kann. Kant zufolge erfüllt das menschlichen Vermögen, selbstgesetzte Zwecke und Ziele zu verfolgen und somit autonom handeln zu können, diese Funktion: Da der Mensch damit seine Freiheit, die im Gehorsam ge­ genüber dem selbst gegebenen Gesetz besteht, beweisen kann, erlangt er einen Wert und eine Würde, die seinen legitimen Anspruch auf Respekt konstituiert.69 Wie erwähnt erlangte Kants Konzeption eine große Wirkmächtigkeit im kontinentaleuropäischen Kontext. Nicht nur der philosophische Diskurs, sondern auch konkrete politische Maßnahmen und Rechtssetzungen orien­ tierten und orientieren sich weiterhin an dem Gedanken, die Möglichkeit zum autonomen Handeln als Basis für das Konzept der Menschenwürde und dieses wiederum als Basis für den allgemeinen Anspruch auf universellen 67  Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Göttingen 2004, AA IV, 401. 68  Ebd. 428. 69  Auf den wohlbekannten Einwand, diese Konzeption schließe einerseits Men­ schen, deren Vernunftfähigkeit vollständig oder teilweise eingeschränkt ist (z. B. Neugeborene, komatöse Patienten, etc.) und andererseits Tiere aus dem Bereich der Moral aus, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu und zur kurzen Zusammenfassung der kantschen Ethik Schmetkamp 2012, S. 52–61.

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Respekt zu begreifen.70 Dennoch gilt es, eine genauere Begriffsanalyse jenseits von politischer Rhetorik und ideengeschichtlicher Bestimmtheit durchzuführen, um eine trennscharfe Unterscheidung zu den Begriffen der Toleranz einerseits und der Anerkennung andererseits zu erhalten. b) Respekt als universelle Moralnorm Zunächst stellt sich die Frage, auf welcher Ebene sich Respekt zumeist ansiedelt und welche konkreten Konsequenzen dies haben kann. Denn der Begriff des Respekts wird grundsätzlich universell konzipiert und betrifft damit vor allem den Bereich allgemeingültiger moralischer Normen, die ungeachtet politischer und kultureller Ausdifferenzierungen bestehen. Wie bei Kant bereits deutlich wird, handelt es sich bei der unbedingten Pflicht zur Achtung um eine moralphilosophische Kategorie, deren theoretische Wirksamkeit die gesamte Gattung Mensch umfasst. Jegliche Beziehung zwischen zwei Individuen wird demzufolge vom grundlegenden Gebot strukturiert, den anderen als Mensch und Person zu respektieren. Susanne Schmetkamp hält Achtung deswegen für ein „normatives Prinzip, welches allen moralischen Kontexten zugrunde liegt und allen moralischen Adressa­ ten gegenüber als geschuldet begründet werden kann.“71 Natürlich schaffte die Idee des universellen Respekts auch Raum für praktische Regelungen und verfassungsmäßig garantierte Rechte in beste­ henden politischen Ordnungen, aber eine genuine Orientierung an den Er­ fordernissen pluralistischer Gemeinwesen fehlt diesem Konzept fast gänz­ lich. Die globale Ausrichtung von Respekt scheint die Möglichkeit zu ver­ hindern, den Begriff als Diskussionsgrundlage für die konkreten politischen Schwierigkeiten einer heterogenen Gesellschaft zu verwenden. Zwar lässt sich bei Respekt eine intersubjektive Ebene erkennen, auf der sich zwei Interaktionspartner mit gleichen Ansprüchen begegnen, doch diese bleibt so universell, dass keine konkreten politischen Forderungen daraus ableitbar werden. Da Respekt als allgemeine Moralnorm konzipiert ist, die bei jedem Menschen Gültigkeit besitzt, kann eine gerechtfertigte Forderung danach nicht ohne weiteres auf der nationalen Gesetzesebene ihren Niederschlag finden. Zwar bildet die Idee, jeder Mensch müsse aufgrund seiner inhären­ ten Würde gleichermaßen respektiert werden, einerseits eine wesentliche Grundlage für Bürger- und Menschenrechte, andererseits verhindert jedoch genau diese Allgemeinheit, dass sich betroffene Individuen innerhalb eines 70  Ein offensichtliches Beispiel für die bis heute andauernde politische Rezep­tion Kants liefert sicherlich die in der Einleitung erwähnte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. 71  Schmetkamp 2012, S. 50.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung89

politischen Gemeinwesens auf diese Norm berufen können. Anerkennung dagegen liefert genau das: Wenn sich die Bürger eines Staates im intersub­ jektiven Kontext anerkennen, dann ergibt sich daraus eine konkrete Ver­ pflichtung, die anderen als gleichberechtigt und gleichwertig zu behandeln. Mit der Bereitschaft anzuerkennen, muss eine Person genauso akzeptieren, dass innerhalb eines konkreten politischen Rahmens bestimmte Verhältnisse und Forderungen gerechtfertigt sein können. Genauso bedeutet die Anerken­ nung bestimmter Gruppen von Seiten des Staates eine Selbstverpflichtung, Regelungen zu deren angemessener Behandlung zu schaffen. Außerdem scheint sich Respekt auf menschliche Eigenschaften zu bezie­ hen, die allen gemeinsam sind. Nicht etwa die eigene Identität, ob kulturell, religiös oder sozial bestimmt, bildet den Gegenstand angemessenen Res­ pekts, sondern vielmehr die Teilhabe an der abstrakten Einheit der mensch­ lichen Wesen. Die universelle Ausrichtung des Konzepts lässt auch nichts anderes zu: Da die Pflicht zur Achtung in jedem vorstellbaren moralischen Kontext gelten soll, kommen als Bezugspunkte nur die allgemein geteilten Charakteristika in Frage, denen normative Relevanz zugeschrieben wird. Anna Elisabetta Galeotti bezeichnet deswegen diese Art von Respekt als generalisierenden Akt der Anerkennung, der zwar die gemeinsame Mensch­ lichkeit im Anderen respektiert, die Individualität des Anderen jedoch über­ sieht.72 c) Respekt als bi-personale Struktur der Anerkennung Damit wird bereits deutlich, dass Respekt auch als Teil einer umfassen­ deren Anerkennungskonzeption gedacht werden kann. Dies liegt vor al­ lem – im Gegensatz beispielsweise zur Toleranz – an der hier bestehenden Ergänzung um den Standpunkt einer zweiten Person, wie Stephen Darwall betont: „The dignity of persons […] is the second-personal standing of an equal: the authority to make claims and demands of one another as equal free and rational agents. And respect for this dignity is an acknowledgment of this authority that is itself second-personal.“73 Die menschliche Würde wird von Darwall also ähnlich wie bei Kant konzipiert: Sie hängt im We­ sentlichen von der Möglichkeit ab, basierend auf einer selbstbestimmten Lebensführung legitime Ansprüche an Andere stellen zu können. Dement­ sprechend stellt diese Würde gleichzeitig die Begründung und den Gegen­ stand des Respekts als unbedingtes moralisches Erfordernis dar. Bei der argumentativen Herleitung menschlicher Würde weicht Darwall nun jedoch Galeotti 2010, S. 83. Stephen: Respect and the Second-Person Standpoint, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association, 78/2004, S. 43. 72  Vgl.

73  Darwall,

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

von Kant ab. Denn nicht mehr das objektiv bestehende allgemeine Moral­ gesetz fungiert als Letztbegründung für die Pflicht zum Respekt, sondern die intersubjektive Übereinstimmung, jedem Mitglied der Gattung Mensch bestimmte Attribute zuzusprechen und diese mit einem moralischen Status zu verknüpfen. Zwar bleibt damit die kantische Vorstellung einer Gat­ tungsethik, die nicht ohne weiteres auf nicht-menschliche Wesen ausgewei­ tet werden kann, erhalten, aber der Standpunkt einer zweiten Person ersetzt das allgemeine Gesetz.74 Darwall vermeidet so die metaphysische Überhö­ hung des Respektsbegriffs, indem er die entscheidenden Kriterien der Wür­ de und des Personenstatus als relational konzipiert: „To be a person just is to have the authority to address demands as a person to other persons, and to be addressed by them, within a community of mutually accountab­ le equals.“75 Akzeptiert man nun allerdings diesen Versuch, die moralische Pflicht zum Respekt mit Hilfe intersubjektiver, reziproker Anerkennungsbeziehungen zu begründen, als valide moralphilosophische Konzeption in Zeiten fehlender metaphysischer Gewissheiten, zeigt sich, dass der Begriff des Respekts dem der Anerkennung nachgeordnet sein muss. Denn wenn sowohl der Grund für den Anspruch auf Achtung als auch ihr Gegenstand, nämlich die menschliche Würde sowie der allgemeine Personenstatus, von der geleiste­ ten Zuschreibung durch die restliche Kommunikationsgemeinschaft abhängt, dann entsteht Respekt nur in der wechselseitigen Anerkennung dieser Ei­ genschaften. Anstatt bestimmte, von der Wertsetzung der Menschen unab­ hängige, „objektive“ Fixpunkte wie eine religiöse Gottesvorstellung oder naturrechtliche Konstanten als Orientierung für die Begründung der univer­ sellen Pflicht zur respektvollen Behandlung des Gegenübers heranziehen zu können, existiert so bloß noch die Möglichkeit, die intersubjektiv geteilte Zuweisung eines moralischen Status anhand gemeinsamer Eigenschaften zum entscheidenden Kriterium zu befördern. Auch die Formulierung von Susanne Schmetkamp legt dies nahe, selbst wenn sie weiterhin an dem Begriff des Respekts bzw. der Achtung festhalten will: „Menschliche Personen zu achten, heißt, deren moralischen Status anzuerkennen, welcher sich aus ihrer Würde und ihrem Anspruch, in grundlegenden Hinsichten ernst genommen und angemessen berücksichtigt zu werden, konstituiert.“76 Selbstverständlich wird durch diese Art, die moralische Reaktion des Respekts zu beschreiben, einem auf der Kontingenz bestimmter Werte ba­ sierenden Relativismus nicht viel entgegengesetzt. Solch für das soziale Zusammenleben fundamental wichtige Dinge wie die gleiche universelle 74  Vgl.

ebd. S. 54. S. 51 [Hervorhebungen i. O.]. 76  Schmetkamp 2012, S. 85 [Hervorhebung i. O.]. 75  Ebd.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung91

Achtung aller Menschen von der allgemeinen intersubjektiven Anerken­ nung dieses Prinzips abhängig zu machen, so könnte man argumentieren, würde nicht nur theoretisch den Versuch einer gehaltvollen Moralphiloso­ phie ad absurdum führen, sondern konkret ein Einfallstor für all diejenigen darstellen, die bestimmten Gruppen die grundlegenden Menschenrechte verweigern wollen. Dennoch erscheint es zunächst angebracht, Respekt als nachgeordnetes Prinzip zu verstehen. Denn die Geltung einer solchen Norm hängt nun einmal davon ab, ob sich genügend Individuen finden, die diese auch anerkennen und sich somit verpflichten, danach zu handeln. Wie der Blick in die politische Praxis zeigt, nützt die abstrakte Postulie­ rung von Menschenrechten nicht viel, wenn diese von den Machthabern eines Landes nicht akzeptiert werden. Ähnlich verhält es sich mit Grund­ rechten in einem Staat, auch wenn diese offiziell garantiert werden: Solan­ ge nicht die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung anerkennt, dass ihre Mitbürgerinnen den gleichen legitimen Anspruch auf einen bestimmten moralischen Status geltend machen können, werden Minderheiten trotz staatlichen Schutzes benachteiligt und diskriminiert werden. Die intersub­ jektive Zuschreibung von Eigenschaften, die Würde und Personenstatus aller Menschen begründen, scheint also für die Geltung der universellen Moralnorm des Respekts entscheidend zu sein. 4. Der Begriff der Anerkennung a) Lexikalische und etymologische Annäherung an den Begriff Nach dieser Abgrenzungsarbeit soll nun der Begriff der Anerkennung selbst im Mittelpunkt stehen. Die Gegenüberstellung mit den beiden Termi­ ni „Toleranz“ und „Respekt“ konnte bereits einige Anhaltspunkte liefern, die für eine genauere Begriffsdefinition von Nutzen sein können. Dennoch reicht dies nicht aus, um eine im Sinne von Sartori umfassende inhaltliche Bedeutungsanalyse bewerkstelligen zu können. Einer akademischen Be­ schäftigung mit dem Terminus bleibt also nichts anderes übrig, als eine definitorische Annäherung zu wagen, die sowohl die grundlegende lexikali­ sche und etymologische Wortbedeutung als auch die vielfältige diskursive Nutzung im Blick haben muss. Zunächst erscheint es deswegen ratsam, sich die enzyklopädische Defini­ tion des Begriffes zu vergegenwärtigen. Der philosophische Terminus Aner­ kennung meint demnach „eine Beziehung, die sich auf Personen richtet, durch die das Erkennen eine prak­ tische Dimension erhält: Es strukturiert das Selbst und das Zwischenverhältnis und lässt dadurch Verpflichtungen entstehen. A[nerkennung] umfasst das Verhält­ nis zum Anderen, das von der Respektierung als Rechtsperson oder der Zustim­

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

mung von Wünschen bis zur Würdigung seiner Leistungen bzw. Wohltaten und dem entsprechenden Lob bzw. Danksagung reicht.“77

Anhand dieser zugegebenermaßen vagen Formulierung lassen sich zu­ nächst drei grundlegende Charakteristika von Anerkennung festhalten: Ers­ tens handelt es sich bei Anerkennungsverhältnissen immer um intersubjektive Beziehungen, die mit der Vorstellung eines atomistischen Individualismus nicht zu vereinbaren sind. Die Bildung eines fundamentalen Selbstbewusst­ seins vollzieht sich also nicht in einem von der Außenwelt abgeschlossenen Denkprozess, sondern ist wesentlich auf die wechselseitige Wahrnehmung und Affirmation zweier oder mehrerer Personen angewiesen. Wie sich jedoch personale Identität auf diesem Weg genau entwickeln kann, bleibt vorerst unbestimmt. Zweitens scheint Anerkennung über die rein epistemologische Ebene des Erkennens hinauszugehen und normativen Charakter anzunehmen. Das Moment des Anerkennens ist also bereits mit einer normativen Rück­ kopplung verknüpft, die der anerkennenden Person Verpflichtungen auferle­ gen kann. In welcher Form die so entstehenden Handlungsimperative sich ausgestalten, hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab. So können bei­ spielsweise die gegenseitigen Pflichten der als Rechtspersonen anerkannten Individuen untereinander ganz andere Formen annehmen, als die Wertschät­ zung einer Person aufgrund ihrer besonderen Leistungen. Drittens verrät der letzte Satz der Definition bereits die Unbestimmtheit und Ambivalenz des Begriffs. Anerkennung scheint weder auf die Sphäre der Politik beschränkt zu sein, noch auf nur einer Bedeutungsebene zu existieren. Eine weitere Schwierigkeit tritt auf, wenn Wörter verschiedener Sprachen das gleiche Konzept bezeichnen sollen. Denn das deutsche Wort „Anerken­ nung“ scheint einen engeren Bedeutungsrahmen als der in der anglo-ameri­ kanischen Literatur verwendete Terminus recognition zu besitzen. Letzteres bezeichnet nämlich, wie es der lateinische Wortstamm bereits nahelegt, zunächst einmal nur die kognitive Leistung des (Wieder-)Erkennens bzw. der „Zur-Kenntnisnahme“ eines Dings oder einer Tatsache. Insofern ergibt sich aus der reinen Wortbedeutung des englischen Terminus auf den ersten Blick keine normative Wirkung; stattdessen wird eine erkenntnisorientierte Verstandesleistung beschrieben.78 Demgegenüber steht allerdings einerseits die Verwendung des Wortes in der akademischen Diskussion: Recognition wird, wie Abschnitt B gezeigt hat, entweder explizit oder zumindest unter­ schwellig normativ aufgeladen, wodurch die Bedeutung des Begriffs sowohl 77  Amengual, Gabriel: Anerkennung, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklo­ pädie Philosophie, Bd. A–H, Hamburg 2010, S. 91. 78  Vgl. dazu auch Laitinen, Arto: Interpersonal Recognition and Responsiveness to Relevant Differences, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy 9/2006, S. 49.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung93

eine Erweiterung als auch eine Positionierung im politischen Diskurs er­ fährt. Andererseits kann auch im Begriff selbst die Anlage einer gewissen Normativität verortet werden: Denn zum einen liegt dem Erkennen bereits die Bestätigung der Existenz des Erkannten zu Grunde und zum anderen entsteht durch diesen Akt die unausgesprochene Aufforderung, sich zu die­ sem irgendwie zu verhalten. Der identifizierende Blick kann also zumindest als Beginn einer von Normativität strukturierten Beziehung zwischen zwei oder mehreren Subjekten verstanden werden.79 Aus diesem Grund gilt es bei einer theoretischen Betrachtung der poli­ tisch-normativen Dimension von Anerkennung über den bloßen Wortsinn hinaus die verschiedenen Bedeutungsebenen im Blick zu haben, die dem Konzept im akademischen Diskurs zugesprochen werden. Da sowohl die möglichen Konsequenzen gewährter Anerkennung als auch die Unterschei­ dung zwischen politischer und allgemeiner Anerkennung für die Fragestel­ lung dieser Arbeit hohe Relevanz besitzen, muss also im Folgenden eine Annäherung an den Begriff der Anerkennung versucht werden. Ganz im Sinne von Sartori wird die philosophische Lexikondefinition hier nur als Ausgangspunkt genommen, um von dort aus eine umfassendere Bestim­ mung anhand des „semantischen Feldes“, in dem sich der Begriff bewegt, vorzunehmen. Dabei werden ideengeschichtliche Verwendungen, die Ab­ grenzung zu anderen Termini sowie begrifflich-theoretische Analysen mitei­ nander kombiniert, um eine inhaltlich gehaltvolle, aber dennoch nicht willkürlich festsetzende Definition zu erreichen. Auf diesem Weg soll einer­ seits ein wenig Licht in die konstatierte „Begriffsverwirrung“ gebracht und andererseits eine solide Grundlage geschaffen werden, auf der die politi­ schen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs plausibel dargelegt und ana­ lysiert werden können. b) Fundamentalität und Reziprozität Das erste Charakteristikum des Anerkennungsbegriffs wurde im obigen Abschnitt bereits angedeutet: seine Fundamentalität. Damit ist gemeint, dass bereits die grundlegenden zwischenmenschlichen Beziehungen durch Akte der Anerkennung epistemologisch und normativ strukturiert werden. Auf der epistemologischen Ebene zeigt sich dies folgendermaßen: Im Moment des Erkennens liegt bereits die Affirmation dessen, was erkannt wird. Indem man diesen kognitiv einer bestimmten Kategorie – etwa Mensch, Person oder Sache – zuordnet, wird Anerkennung im Sinne einer grundlegenden Statuszuschreibung vollzogen. Gleichzeitig erkennt das ein­ 79  Vgl.

auch Schmetkamp 2012, S. 111.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

geordnete Subjekt, falls es ein Mensch ist, einen selbst als Mitglied der gleichen Gattung an und etabliert somit eine wechselseitige Anerkennungs­ beziehung zwischen zwei Individuen. Laut Hegel bildet diese Intersubjekti­ vität nicht nur die Basis für die eigene Identitäts- und Personenkonstitution, sondern bringt sogar die Bedingung der Möglichkeit zu reziprok ausgeübter Rationalität hervor. Vernünftige Subjekte, so Hegel, entstehen nur in der andauernden, den Status des anderen bestätigenden Anerkennungsbewegung zwischen den Menschen. Hegel legt dies in seiner Herr-Knecht-Dialektik anschaulich dar: Beide Parteien sind in ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Status auf die Anerkennung des Anderen angewiesen. Der Knecht ist nur Knecht, weil es den Herrn gibt, der ihn als Knecht wahrnimmt, und umge­ kehrt.80 Betrachtet man Anerkennung auf dieser fundamentalen Ebene, er­ scheinen Respekt oder Toleranz nur als nachgeordnete Möglichkeiten, mit Differenz umzugehen. Denn um jemanden in seiner Autonomie respektieren zu können, muss zunächst sein grundlegender moralischer Status als Person anerkannt werden. Auch das normativ relevante Tolerieren von Überzeugun­ gen funktioniert nur dann, wenn zuvor ein wechselseitiges Anerkennungs­ verhältnis etabliert worden ist, das wiederum die Basis für den respektvollen Umgang miteinander bildet. Es lässt sich nun zudem zeigen, dass diese Anerkennungsstruktur den politischen Verhältnissen eines demokratischen Gemeinwesens zu Grunde liegt. Denn die fundamentale Autonomie, der Anspruch auf Grundrechte oder die ungehinderte Ausübung politischer Partizipation – all diese Dinge hängen zu einem wesentlichen Anteil von intersubjektiver Anerkennung innerhalb des politischen Rahmens ab. Die staatliche Garantie der Grund­ rechte beispielsweise, muss – so unerlässlich sie auch ist – durch die wech­ selseitige Anerkennung der Gesellschaftsmitglieder untereinander als an­ spruchsberechtigte Personen mit politisch-moralisch relevanten Eigenschaf­ ten ergänzt werden, um volle Wirksamkeit zu erlangen. Wäre dies nicht der Fall, würden bestimmte Gruppen, denen von der Mehrheitsgesellschaft die Anerkennung des vollen politischen Status verweigert wird, trotz formaler Gleichbehandlung ausgegrenzt und unrechtmäßig unterdrückt werden.81 Hegel 1986, S. 145–155. historisches Beispiel können hier die in Abschnitt B bereits erwähnten Strukturen in den USA gelten, die den Boden für die neuen sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts geschaffen haben. Während zu Zeiten der Bürgerrechtsbewe­ gung schwarzen US-Amerikanerinnen formal die gleichen Rechte zustanden, verhin­ derte das Fehlen substanzieller Anerkennungsbeziehungen zwischen ihnen und der weißen Mehrheitsbevölkerung ihre wahrhaftige Gleichstellung und tut dies wohl noch bis heute. Auch der Umgang der deutschen Gesellschaft mit eingebürgerten Migranten ist nicht immer von dieser grundsätzlichen politischen Anerkennung ge­ prägt. 80  Vgl. 81  Als



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung95

Anerkennung scheint also die moralischen, rechtlichen und politischen Beziehungen zwischen Menschen zu strukturieren. Dabei entwickelt sich zumeist eine intersubjektive Dynamik der Anerkennungsforderung und An­ erkennungsgewährung, wie Susanne Schmetkamp feststellt: „Der Anerken­ nende ist im Moment der Anerkennungsforderung aufgerufen, zu beurteilen, welches Objekt in welcher Situation das normativ adäquate Anerkennungs­ subjekt ist.“82 Durch ihre bloße Existenz fordert die Eine also die Andere auf, normativ angemessen zu reagieren und ihr gegebenenfalls bestimmte Eigenschaften oder einen bestimmten Status zuzuschreiben. Da dies gleich­ zeitig auch umgekehrt passiert, entstehen durch den erfolgreichen Akt der Anerkennung wechselseitige Verpflichtungen hinsichtlich der Behandlung des Gegenübers. Hier spielt also Reziprozität eine wichtige Rolle. Solange sich Anerkennungsbeziehungen nur einseitig entwickeln, kann der beim Begriff der Toleranz bereits beschriebenen Gefahr der Hierarchiebildung und -verstärkung kaum etwas entgegnet werden. Zudem scheint Wechselsei­ tigkeit im Konzept der Anerkennung geradezu notwendigerweise enthalten zu sein: Will man von einer gelungenen Anerkennungsbeziehung sprechen, die handlungsrelevante Konsequenzen nach sich ziehen soll, müssen beide Parteien den normativen Schritt der grundlegenden Affirmation des Gegen­ übers vollziehen. Dies lässt sich sowohl für Individualbeziehungen anneh­ men, als auch für abstraktere Verhältnisse, wie sie im politischen Bereich einer Demokratie vorkommen können. Wenn der demokratische Staat seinen Bürgern Anerkennung beispielsweise in Form von Rechten gewährt, müssen die so Anerkannten gleichzeitig die legitime Autorität des Staates in diesen Fragen akzeptieren, um eine erfolgreiche Anerkennungsbeziehung zu etab­ lieren. Ohne die Anerkennung der Mitglieder einer politischen Ordnung als rechtmäßige Adressaten bestimmter Grund- und Freiheitsrechte einerseits und der Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols andererseits würden in diesem Fall entweder autoritäre Unterdrückung oder bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen.83 Analog gilt das Primat der Wechselseitigkeit übri­ gens auch, wenn es um persönliche Wertschätzung geht, die ja auch eine Form von (unpolitischer) Anerkennung darstellt: Ein Lob ist nur dann etwas wert, wenn es von jemandem kommt, den man als kompetente Instanz im betreffenden Bereich anerkennt.

Schmetkamp 2012, S. 122. beide Zustände ließen sich sicherlich so viele historische und aktuelle Beispiele finden, dass deren Aufzählung den Rahmen dieser Anmerkung sprengen würde. 82  Vgl. 83  Für

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

c) Affirmation und Wirkung Daran anschließend muss man zweitens festhalten, dass Anerkennung immer ein Moment der Affirmation beinhaltet. Damit ist nicht gesagt, was oder wer bejaht wird, aber die grundsätzliche Haltung zum Anerkennungs­ gegenstand muss aus der Begriffslogik heraus positiv sein. Dies kann sich wiederum auf die rein epistemologische Ebene beziehen – also dass man etwas für wahr oder existent hält – oder auf die hier wichtigere moralische und politische Ebene. Besonders deutlich wird diese Begriffseigenschaft, wenn man sie erneut mit den beiden bereits behandelten Konzepten abgleicht. Toleranz, so wurde festgestellt, beinhaltet notwendigerweise eine Ablehnungskomponente: Zwar verzichtet in einer moralisch anspruchsvollen Toleranzkonzeption der Tole­ rierende auf Maßnahmen gegen die in Frage kommenden Überzeugungen oder Praktiken, weil er die Autonomie des Betroffenen respektiert, aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass er sie für falsch hält. Respekt oder Aner­ kennung dagegen beinhalten einerseits die grundlegende Bejahung des mora­ lischen Status des Anderen, die mit eigenen Verpflichtungen einhergeht.84 Andererseits besitzt nur Anerkennung das begriffliche Potenzial, andere Per­ sonen in ihren besonderen Konzeptionen des guten Lebens positiv wertzu­ schätzen und sie damit in ihrer Identität und Persönlichkeitsbildung zu bestä­ tigen. Wird Anerkennung so partikular verstanden, scheint sie jedoch ein äu­ ßerst anspruchsvolles Konzept darzustellen, das – wie noch zu zeigen sein wird – besonders im politischen Raum an seine Grenzen stoßen kann. Eine weitere Besonderheit der Anerkennung besteht in ihrer konstruktiven Wirkung auf die Identität der Betroffenen. Da Anerkennung meist als drei­ stellige Relation auftritt – x erkennt y als z an – konstituiert ihre Gewährung eine soziale Realität hinsichtlich der Art und Weise, wie der Anerkannte gesehen wird und sich selbst sieht.85 Um dies zu verdeutlichen, kann man sich noch einmal die fundamentale Anerkennungsbeziehung zwischen zwei Menschen abstrakt vor Augen halten: Zunächst einmal bewegen sich zwei Lebewesen x und y im Raum, die durch Sinnesorgane in der Lage sind, ihre Umwelt wahrzunehmen. Erblickt nun das eine Wesen das andere, be­ ginnt ein Erkennungsprozess, der wechselseitig vonstatten geht. Indem x sein Gegenüber y in bestimmte Kategorien einordnet – man könnte auch sagen identifiziert – macht er aus diesem etwas anderes als es bisher war. Gleichzeitig verändert sich jedoch auch das Bild, das x von sich selbst hat. Denn im Abgleich mit dem anderen Wesen manifestiert sich durch die Re­ 84  Vgl. 85  Vgl.

Schmetkamp 2012, S. 98. dazu Bedorf 2010, S. 122 f.



II. Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung97

gistrierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden ein konturiertes Selbstbild. Im Falle einer gelungenen Anerkennung dominieren zunächst die Gemein­ samkeiten: Aufgrund ähnlicher Eigenschaften schreibt x seinem Gegenüber y den Status eines Menschen zu, womit dieser aus sozialer Sicht schon nicht mehr das bloße biologische Wesen von vorher ist. Normalerweise geht diese Identifikation in einem zweiten Schritt mit der Anerkennung des An­ deren als Person mit bestimmten moralischen Fähigkeiten und Ansprüchen einher.86 Auch dies bedeutet eine Veränderung der ursprünglichen Identität der beiden Protagonisten. Diese wird vollends offensichtlich, wenn die un­ terschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zum Distinktionsmerkmal werden. So erlangen Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, Kultur oder se­ xuelle Orientierung soziale Relevanz und werden durch die Anerkennung des anderen zu identitätsbestimmenden Merkmalen gemacht. Aus y wird – zumindest innerhalb eines intersubjektiven Bedeutungsrahmens – z, allein durch die Anerkennung von x. Selbstverständlich findet dieser Prozess niemals in Reinform zwischen zwei Menschen statt, da sowohl Anerken­ nungsforderungen als auch -erwartungen bereits gesellschaftlich vorstruktu­ riert sind. Dennoch kann diese Visualisierung einer gelungenen Anerken­ nungsbeziehung dabei helfen, die konstituierende Wirkung auf die Identitä­ ten der Partizipierenden zu verdeutlichen. d) Der Versuch einer positiven Bestimmung von Anerkennung Die bisherige Analyse zeigt: Der Begriff der Anerkennung scheint sich aus vier konstitutiven Merkmalen zusammenzusetzen, nämlich Fundamenta­ lität, Reziprozität, Affirmation und konstitutive Wirkung. Wie die obige Definition der „Enzyklopädie Philosophie“ andeutet, strukturieren Akte der Anerkennung zunächst die Beziehungen zwischen Personen, indem glei­ chermaßen auf Dasein und moralische Bedeutung der Anderen reagiert wird. In dieser fundamental-kognitiven Handlung wird sowohl die eigene Existenz intersubjektiv konstituiert und bestätigt, als auch die Andere als identitätstragendes Subjekt affirmiert. Verlässt man die personale Ebene, lässt sich Anerkennung auch als die jeweiligen Relationen zwischen Institu­ tionen, Gruppen sowie anderen, nicht klar abgegrenzten, politischen Einhei­ ten wie Gesellschaft oder Bürgerschaft verstehen. Kennzeichnend für Anerkennung ist weiterhin die ihr inhärente Rezipro­ zität. Wie oben gezeigt wurde, hängt das Gelingen einer Anerkennungsbe­ 86  Wohlgemerkt gilt dies für den Normalfall gelungener Anerkennung. Grenzfäl­ le wie menschliche Föten oder Komapatienten, bei denen nicht nur nicht von Wech­ selseitigkeit gesprochen werden kann, sondern auch die einseitige Anerkennung fraglich ist, sollen hier außen vor bleiben.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

ziehung wesentlich davon ab, dass beide Seiten gleichermaßen oder zumin­ dest auf ähnliche Art und Weise die jeweils andere akzeptieren. Einseitige Anerkennung ist auf der fundamentalen Ebene nicht möglich, da ohne die Affirmation des Anderen das eigene Selbstbewusstsein und damit die Mög­ lichkeit zur Subjektivität nur unvollkommen ausgebildet wird. Selbstver­ ständlich kann es jedoch gerade in konkreteren Anerkennungsbereichen zu Situationen kommen, in denen eine Person die andere anerkennt, während dies nicht reziprok erwidert wird. Der Rassist beispielsweise, der von den meisten Menschen in seiner persönlichen Autonomie trotz ihrer vehementen Ablehnung seiner Überzeugungen anerkannt wird, tut dies bei Angehörigen anderer Ethnien als seiner eigenen nicht. Ein Argument, von der Wechsel­ seitigkeit als konstitutives Merkmal von Anerkennung abzusehen, stellt dies allerdings nicht dar. Im Gegenteil, solche Beispiele zeigen eindrücklich, dass der Versuch, eine Anerkennungsstruktur zu schaffen, dann scheitert, wenn keine Reziprozität vorliegt. Als drittes Charakteristikum soll hier die dem Anerkennungsbegriff inne­ wohnende Affirmationsleistung genannt werden. Denn wie beschrieben geht der gelungene Akt des Anerkennens über ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen hinaus, indem dabei nicht nur die Existenz der Anderen registriert, sondern auch auf deren moralisch relevante Ansprüche reagiert wird. Im Moment der Anerkennung erfolgt also in irgendeiner Weise eine Bejahung des Ge­ genübers, so basal und folgenarm diese auch sein mag. Dementsprechend lässt sich Anerkennung kaum als normativ neutrales Konzept verstehen. Ganz gleich, ob sie gewährt oder verweigert wird – immer wird eine wert­ setzende Antwort auf die moralischen Erfordernisse der Situation des Auf­ einandertreffens mit einem normativ bedeutsamen Anderen gegeben. Arno Laitinen bringt diese Ansicht auf den Punkt, wenn er schreibt: „[W]e can understand adequate regard in terms of responsiveness to the real normative relevance to the features of the other.“87 Viertens wirkt Anerkennung in einem wesentlich größeren Maße als die Ausführung der anderen beiden Begriffe konstitutiv auf Selbstverhältnis und Identität der Anerkannten. Mit der Bestätigung der Anderen in ihrer Exis­ tenz, ihrem Status und ihrer normativen Relevanz beginnt diese sowohl fundamentales Selbstvertrauen als auch einen Sinn für ihre rechtmäßigen Ansprüche zu entwickeln. Umgekehrt kann die Verweigerung von Anerken­ nung dazu führen, dass Menschen nicht genug Selbstachtung ausbilden, um autonom handeln zu können. 87  Laitinen, Arto: On the Scope of „Recognition“: The Role of Adequate Regard and Mutuality, in: Schmidt am Busch, Hans-Christoph/Zurn, Christopher F. (Hrsg.): The Philosophy of Recognition. Historical and Contemporary Perspectives, Lanham u. a. 2010, S. 325. Vgl. dazu auch Schmetkamp 2012, S. 122.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung99

Anhand dieser vier wesentlichen Merkmale des Anerkennungsbegriffes lässt sich eine weitere Eigenschaft feststellen: Insgesamt scheint Anerken­ nung im Vergleich zu den oben beschriebenen Termini derjenige zu sein, der die konkretesten Auswirkungen auf politische Ordnungen haben kann. Während man mit Toleranz nur versucht, einen modus vivendi innerhalb einer heterogenen Gesellschaft zu finden und damit Konflikten aus dem Weg geht, bewegt sich Respekt vor allem auf einer universellen, abstrakten Ebene, die nicht ohne weiteres auf reale politische Verhältnisse übertragen werden kann. Anerkennung kann stattdessen als normative Reaktion auf die Erfordernisse pluralistisch orientierter Staaten beschrieben werden, die ver­ sucht, praktische Konflikte durch den Rekurs auf gerechtigkeitstheoretische Überlegungen zu lösen. Dabei entstehen weitaus anspruchsvollere Hand­ lungsverpflichtungen als bei den anderen beiden Konzepten. Nicht umsonst wird der Begriff auch in der Sprache der internationalen Beziehungen be­ nutzt: Erkennt ein Staat oder die Staatengemeinschaft einen anderen an, so ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen im Umgang miteinander und der anerkannte Staat kann seine Ansprüche in wesentlich stärkerem Maße geltend machen. Damit wird nun auch deutlich, dass dem Begriff der Anerkennung ein entscheidendes Charakteristikum inhärent ist, das zwar Teil der anderen beiden Ausdrücke ist, diese aber nicht bestimmt: Anerkennung besitzt das Potenzial, genuin politisch zu wirken. Sowohl der Akt der Anerkennung und des Anerkanntwerdens, als auch die Konsequenzen daraus für beide Seiten stellen Handlungen und Maßnahmen dar, die den konkreten Bezug auf ei­ nen politischen Kontext ermöglichen. Was das im Detail bedeutet, soll der nächste Abschnitt zeigen, in dem die Dimensionen dieses Phänomens einer differenzierten Analyse unterzogen werden.

III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung 1. Drei Anerkennungsgegenstände – Personenstatus, Identität, Leistung Der nächste Schritt wäre nun also, die spezifischen Dimensionen des Begriffs der Anerkennung im Hinblick auf ihre politische Qualität heraus­ zuarbeiten. Denn die vorangegangene Definition vermag zwar einen abs­ trakten Eindruck von der Bedeutung des Begriffs zu vermitteln, muss aber als Ausgangspunkt genommen werden, um konkrete Verwendungsweisen in politischen Kontexten entdecken zu können. Im Sinne der Analysemethode von Sartori gilt es, das semantische Feld, das durch „Anerkennung“ konsti­ tuiert wird, in dem sich „Anerkennung“ aber auch in Interaktion mit anderen Begriffen, Werten und Konzeptionen bewegt, offenzulegen. Nur so lässt

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

sich eine inhaltlich substanzielle, aber von metaphysischen Spekulationen unabhängige Begriffsbestimmung durchführen. Dabei wird sich die Arbeit im Folgenden jedoch auf den politischen Bedeutungsraum beschränken. Obwohl die bisherige Definition durchaus als umfassend bezeichnet werden kann, würde eine Feldprüfung, die sich mit allen möglichen philosophisch relevanten Sinngehalten des Begriffs beschäftigt, ein zu umfangreiches ­Unterfangen darstellen. Abgesehen davon entfaltet Anerkennung gerade in politischen Beziehungen einerseits aufgrund ihrer Wechselseitigkeit eine besondere Relevanz, andererseits durch ihren Verpflichtungscharakter eine starke Wirksamkeit.88 Wie diese Relation exakter dargestellt werden kann, wird sich in den nächsten Abschnitten zeigen. Die erste Kategorie, anhand derer Anerkennung eingeordnet werden soll, kann mit der Frage nach ihrem Gegenstand eingeleitet werden. Was wird überhaupt anerkannt? Und wenn man sich auf menschliche Wesen als mög­ liche Adressaten beschränkt, bedeutet dies gleichermaßen: Als was wird jemand anerkannt? Denn notwendigerweise generiert der Akt der Anerken­ nung immer eine Projektion auf das anerkannte Objekt, die diesem aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten einen bestimmten Status zu­ weist.89 Dies kann sich sowohl als allgemeine, gleichheitsorientierte Perso­ nenkonzeption äußern, als auch aufgrund besonderer Identitätsmerkmale Differenz in den Vordergrund stellen. Zusätzlich lässt sich eine weitere Ebene unterscheiden, auf der die entscheidende Frage lautet: Wofür wird jemand anerkannt? Denn auch die Wertschätzung von Leistungen oder Cha­ raktereigenschaften eines Menschen lässt sich unter Anerkennung subsumie­ ren und zieht womöglich politische Konsequenzen nach sich. Im Folgenden sollen die daraus resultierenden Möglichkeiten der Aner­ kennungsgewährung in ihren Ausgestaltungen untersucht und auf ihre poli­ tische Relevanz hin überprüft werden. Von vornherein soll dabei einerseits die allgemeine Anerkennung eines Menschen als Mensch ausgeschlossen werden. Diese Zuschreibung einer Gattungszugehörigkeit, die wohlgemerkt 88  Selbstverständlich schließt sich daran sofort die Frage an, wie denn „Politik“ oder „das Politische“ überhaupt gefasst wird. In dieser Arbeit soll ein relativ enger Politikbegriff verwendet werden, der sich an den grundlegenden Institutionen und Beziehungen gesellschaftlichen Zusammenlebens orientiert. Damit werden beispiels­ weise familiäre oder globale Verhältnisse ausgeklammert. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass darin kein Potenzial für eine anerkennungsorientierte, politisch-phi­ losophische Analyse läge, aber die Behandlung dieser Themenkomplexe würde so­ wohl außerhalb des Rahmens dieser Arbeit fallen, als auch die geplante Ausdifferen­ zierung übermäßig verkomplizieren. 89  Wie Thomas Bedorf genauer ausführt, handelt es sich also immer um eine dreistellige Anerkennungsrelation: A erkennt B als C an. Worin das C in dieser Formel besteht, ist jedoch meist umstritten. Vgl. Bedorf 2010, S. 122 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung101

vielfältige moralische Verpflichtungen nach sich ziehen kann, weist zumeist auf eine globale Ebene hin, auf der universelle Gleichheit unabhängig von nationalen oder regionalen Kontexten postuliert wird. Da sich diese Art der Anerkennung also in einer anderen Sphäre als die hier behandelte Heraus­ forderung der heterogenen Zusammensetzung eines relativ abgeschlossenen Gemeinwesens bewegt, kann sie guten Gewissens ausgespart werden. Ande­ rerseits wird auch die von Axel Honneth mit dem Begriff „Liebe“ gekenn­ zeichnete Dimension von Anerkennung aus der Analyse herausfallen, da es sich dabei offensichtlich um die bereits erwähnte familiäre Sphäre handelt, deren detaillierte Einbeziehung am Ziel dieser Arbeit vorbeiführen dürfte. a) Die Anerkennung als Person Bei der Betrachtung personenbezogener Anerkennung fällt zunächst ein­ mal ein scheinbares Paradoxon ins Auge: Beinahe alle Verfechter einer Politik oder Theorie der Anerkennung gehen von der Annahme aus, dass zur vollständigen Persönlichkeitsbildung im Sinne einer ungestörten Entwick­ lung autonomer Handlungsfähigkeiten fundamentale Anerkennungsbezie­ hungen die Grundvoraussetzung bilden, fordern jedoch gleichzeitig Aner­ kennung als angemessene normative Reaktion auf die bereits existierende personale Struktur des Gegenübers. Axel Honneth beispielsweise beschreibt, wie die unbedingte Anerkennung der Bedürfnisnatur des Kindes durch die Mutter zu dessen Möglichkeit beiträgt, ein gesundes Selbstverhältnis auszu­ bilden, das sowohl die individuelle Handlungsfreiheit als auch die intersub­ jektive Sozialkompetenz nachhaltig beeinflusst.90 Will Kymlicka betont zudem die Wichtigkeit der Anerkennung kultureller Identitäten für die per­ sönlichkeitsgenerierende Autonomie des Subjektes.91 Akzeptiert man nun die Annahme, dass in der philosophischen Konzeption des Begriffs „Person“ immer der Gedanke einer grundlegenden Autonomiefähigkeit enthalten ist, die sich unter anderem im Vermögen, moralische Urteile fällen zu können, äußert92, so kommt man nicht umhin zu fragen, ob Anerkennung nun je­ manden ontologisch erst zur Person macht oder vielmehr als Reaktion auf dessen Person-Sein ein normatives Erfordernis darstellt. Heikki Ikäheimo beantwortet diese Frage, indem er beiden Seiten glei­ chermaßen Relevanz zuschreibt. Ihm zufolge erweist sich Anerkennung sowohl ontologisch als auch ethisch als Grundbedürfnis menschlichen Le­ Honneth 1994, S. 63 f. Kymlicka 1989, S. 164 ff. 92  Vgl. dazu beispielsweise Sturma, Dieter: Person/Persönlichkeit, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Bd. A–H, Hamburg 2010, S. 1922– 1925. 90  Vgl. 91  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

bens.93 Dabei unterscheidet er zwischen der axiologischen Dimension von Anerkennung, die essentielle Bausteine für die Entwicklung des Selbstbe­ wusstseins eines Menschen bereithält, und der deontischen Dimension, durch die mit Hilfe intersubjektiver Prozesse Normstrukturen etabliert werden, die der Personalität der Subjekte zu moralischer Signifikanz verhel­ fen. Während Menschen also einerseits durch Anerkennung zu Personen im Sinne der Möglichkeit autonomen Handelns werden, erlangen sie anderer­ seits nur durch die Akzeptanz Anderer vollen Personenstatus im Sinne der Berechtigung zu moralischen Ansprüchen.94 Da sich ersteres vor allem auf die vorpolitische, familiäre Ebene von Anerkennung bezieht und somit de­ ren Untersuchung nicht direkt zur Zielsetzung der Arbeit beitragen würde, soll im weiteren Verlauf des Abschnitts die Frage nach der moralischen Wirkung von Anerkennungsbeziehungen unter Personen im Vordergrund stehen. Ikäheimos finnischer Kollege Arto Laitinen liefert dafür eine weitere in­ teressante Unterscheidung. Seiner Ansicht nach besteht die traditionelle Personenkonzeption der westlichen Philosophie in der „monadischen Sicht­ weise“ (monadic view), nach der ein (nicht notwendigerweise menschliches) Wesen bestimmte Fähigkeiten (capacities) benötigt, um als Person gelten zu können.95 Typischerweise gehört dazu einerseits die Vorstellung von Sub­ jektivität, die Selbstbewusstsein, Selbstreflexion, Vernunft- und Emotionsfä­ higkeit sowie das Vorhandensein einer Werthierarchie einschließt, und ande­ rerseits die Möglichkeit zu freier Aktion und Interaktion.96 Vereint ein Wesen diese Eigenschaften nun zu einem bestimmten Grad in sich, generiert diese Tatsache einen normativen Druck zur moralisch angemessenen Reak­ tion darauf. In diesem Moment kommt Anerkennung ins Spiel: „One ‚re­ cognizes‘ others when one responds sufficiently adequately to the norma­tive significance of their relevant capacities […].“97 Damit sieht die „Kausal­ kette“ der moralischen Verpflichtungswirkung folgendermaßen aus: Ein Wesen wird durch den Besitz bestimmter Fähigkeiten zur Person, was wiederum normative Anforderungen an andere Personen kreiert, die darauf mit adäquater Anerkennung reagieren.98 93  Vgl. Ikäheimo, Heikki: Making the Best of What We Are: Recognition as an Ontological and Ethical Concept, in: Schmidt am Busch, Hans-Christoph/Zurn, Christopher F. (Hrsg.): The Philosophy of Recognition. Historical and Contempora­ ry Perspectives, Lanham u. a. 2010, S. 346. 94  Vgl. ebd. S. 346 f. 95  Vgl. Laitinen, Arto: Sorting Out Aspects of Personhood. Capacities, Norma­ tivity and Recognition, in: Journal of Consciousness Studies 14/2007, S. 248 f. 96  Vgl. ebd. S. 252. 97  Ebd. S. 254. 98  Vgl. ebd. S. 258 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung103

Doch dies stellt für Laitinen nur eine Seite der Medaille dar. Denn zu­ sätzlich zu diesem traditionellen, monadischen Ansatz identifiziert er eine neue, von ihm „dyadische Sichtweise“ (dyadic view) genannte Auffassung. Diese beschreibt er folgendermaßen: „The idea is that persons are necessarily participants in practices where they are regarded as persons. A crucial aspect of treating others as persons is to include them in normative practices, give them responsibility or to have such recognitive attitudes as gratefulness, blame, respect, concern or esteem towards them.“99

Das bedeutet also, dass nicht alleine die Existenz bestimmter Fähigkeiten das Personsein konstitutiert, sondern dass auch die intersubjektive Inklusion in wertsetzende Praktiken eine wichtige Rolle dabei spielt. Denn der Perso­ nenstatus eines Wesens hängt immer auch davon ab, ob andere Personen diesen anerkennen und die normativen Konsequenzen daraus ziehen. Würde man diese dyadische Personenkonzeption nun absolut verstehen, ergäbe sich allerdings das Problem, dass beispielsweise die Opfer eines offenen, gesell­ schaftlich weitgehend akzeptierten Rassismus theoretisch nicht als volle Personen gelten könnten. Denn wenn die überwältigende Mehrheit einer Gesellschaft einer kleinen Gruppe aufgrund ethnischer Merkmale die volle Anerkennung verweigert, wirkt sich dies nach einer streng dyadischen Per­ sonenkonzeption äußerst negativ auf deren moralischen und rechtlichen Status aus. Laitinen plädiert deswegen für eine Verbindung der beiden Auf­ fassungen, die auf der Einsicht basiert, dass der Personenstatus eines Wesens in verschiedenen Graden realisiert sein kann. Dabei fungieren die Fähigkei­ ten als Fundament, von dem aus die volle Personwerdung durch Anerken­ nung vollzogen wird: „The individuals are not fully actual persons if they are not recognized, but they ought to be recognized because they have the relevant capacities.“100 Die intersubjektive Anerkennung der Anderen, die eine normative Reaktion auf bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten dar­ stellt, ermöglicht also erst die Realisierung des Potenzials, das in diesen angelegt ist. In diesem Sinne lässt sich auch die Ungerechtigkeit beschrei­ ben, die Menschen – wie beim Beispiel des Rassismus – durch die man­ gelnde Anerkennung als Personen zugefügt wird. Es bleibt also zunächst festzuhalten, dass die Anerkennung des Gegen­ übers als Person mindestens zwei Dimensionen besitzt. Einerseits beein­ flusst sie den ontologischen Status des Anderen fundamental, indem dieser sich erst durch externe Anerkennung als autonomes Wesen begreifen kann. Andererseits entstehen dadurch gewissermaßen zeitgleich moralisch rele­ vante Anforderungen an beide Interaktionspartner, die durch die Anerken­ nung eines normativ gehaltvollen Personenstatus des Anderen angemessen 99  Ebd.

S. 253. S. 260 [Hervorhebung i. O.].

100  Ebd.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

beantwortet wird. Damit ist jedoch bisher nur eine Grundstruktur der Aner­ kennung als Person beschrieben, die noch nicht viel über die politische Relevanz des Konzeptes aussagt. Denn der moralische Status, der mit dem Begriff „Person“ belegt wird, scheint zunächst einmal ein universeller zu sein, der allen (potenziellen) Trägern bestimmter Eigenschaften und Fähig­ keiten gleichermaßen zukommt und zukommen sollte. Rainer Forst unterscheidet zu diesem Zweck vier verschiedene Möglich­ keiten, wie Menschen als Personen anerkannt werden können.101 Die erste Form des Person-Seins ähnelt der obigen Beschreibung von Laitinen, wird allerdings von Forst kantisch gewendet. Im Kontext des gemeinsamen Menschseins ergibt sich die Anerkennung eines Individuums als moralische Person im Sinne einer Zugehörigkeit zur Menschheit. Diese abstrakte Ka­ tegorie dient bei Forst (wie auch bei Kant) zur Erklärung, wie die eigene Selbstachtung und die Achtung der Mitmenschen zusammenhängen. Die so verstandene Anerkennung des Anderen und des Selbst als Person bezieht sich demnach immer auch auf die Idee einer Menschheit an sich und schreibt den Anerkannten den Status von „Autoren und Adressaten morali­ scher Normen“102 zu. Mit der zweiten Anerkennungsform bewegt sich Forst nun in die Rich­ tung einer politischen Konzeption. In signifikanter Ähnlichkeit zur zweiten Ebene der Anerkennung bei Axel Honneth hält Forst die Akzeptanz des Anderen als Rechtsperson für eine wesentliche Dimension eines politischen Gemeinwesens. Als entscheidender Bezugspunkt erweist sich dabei die da­ raus resultierende Autonomiefähigkeit des Individuums: „Als Rechtsperson anerkannt zu sein heißt, nach Maßgabe des Rechts in seiner persönlichen Autonomie respektiert zu werden, sein Leben selbst zu bestimmen.“103 In Anlehnung an einen Gedanken von Iris Marion Young definiert Forst die in Frage kommenden Rechte als Beziehungen zwischen den Bürgern, da nur die gegenseitige Anerkennung der Anderen als Rechtspersonen eine voll­ ständige Garantie dieser Rechte liefern kann. Daraus folgt dann allerdings, dass dieses Konzept der Rechtsperson notwendigerweise das Gleichheits­ prinzip impliziert.104 Da die reziproke Gewährung legitimer Ansprüche nur dann ohne Hierarchisierungen funktionieren kann, wenn sie von Gleichen 101  Aufgrund der hier verfolgten Argumentationslinie werden die vier Möglich­ keiten im Folgenden nicht in der von Forst vorgeschlagenen Reihenfolge dargestellt. Dadurch ergeben sich jedoch keinerlei Sinnverschiebungen. Vgl. Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a. M. 1996. S. 424–435. 102  Ebd. S. 433. 103  Ebd. S. 430. 104  Vgl. ebd. S. 430.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung105

gegenüber Gleichen vorgenommen wird, ergibt sich aus dieser Form der Anerkennung eine wichtige Rechtfertigungsfigur für gleichheitsbasierte Maßnahmen. Die dritte Möglichkeit, als Person anerkannt zu werden, betrifft laut Forst die Staatsbürgerschaft. Auf dieser Ebene vollzieht sich eine wechsel­ seitige Anerkennung der Bürger untereinander, die Dimensionen der politi­ schen Teilnahme und der sozialen Teilhabe umfasst, um ein Zusammenleben in Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung zu garantieren. Der Bür­ ger eines Staates zu sein, bedeutet in diesem Fall also den Erwerb des le­ gitimen Anspruchs an alle anderen Mitglieder der Gesellschaft, den eigenen Status als Person mit grundlegenden (Bürger-)Rechten anzuerkennen.105 Als interessant für eines der Ziele der Arbeit, nämlich die genuin politische Dimension von Anerkennung herauszuarbeiten, erweist sich nun Forsts Zuschreibung, die letztgenannte, staatsbürgerliche Form der Anerkennung wäre die eigentlich politische. Er grenzt diese einerseits von Konzepten der sozialen Wertschätzung ab, wie sie beispielsweise Axel Honneth entwirft, da diese seiner Meinung nach mit Maßstäben und Werten operieren müs­ sen, die selbst häufig Gegenstand sozialer Konflikte sind und somit keine politische Solidarität generieren können. Andererseits kann auch der mora­ lisch geforderte Respekt vor der Autonomie einer Person nicht als genuin politisch gelten, da dies selbst ohne politisch-rechtlichen Ordnungsrahmen ein normatives Erfordernis darstellt.106 Wirklich politisch ist Anerkennung in diesem Sinne also nur dann, wenn sie die Inklusion eines Individuums in ein Gemeinwesen konstituiert: „Diese politische Anerkennung bezeichnet das gegenseitige Verantwortlichsein von Bürgern, die sich als ethisch diffe­ rente, rechtlich gleiche und politisch und sozial gleichberechtigte Mitglieder der politischen Gemeinschaft in einem substanziell gehaltvollen Sinne an­ erkennen […].“107 Als vierte Möglichkeit identifiziert Forst die Anerkennung als ethische Person. Mit diesem Begriff soll die Orientierung des Individuums an einer bestimmten Vorstellung des guten Lebens beschrieben werden. Dabei zeigt sich für Forst, dass die Selbstverwirklichung im Rahmen partikularer Wert­ maßstäbe von der Anerkennung der Anderen für diesen eigenen Lebensweg abhängt. In modernen, pluralistisch geprägten Gesellschaften erscheint es jedoch zunehmend schwieriger, von Mitgliedern der eigenen politischen Gemeinschaft genuine Anerkennung für besondere normative Einstellungen fordern zu können oder gar zu erhalten, weswegen die Bildung von vielfäl­ tigen „Anerkennungsgemeinschaften“ innerhalb einer Gesellschaft, bei de­ 105  Vgl.

ebd. S. 432 f. ebd. S. 420 ff. 107  Ebd. S. 423 [Hervorhebung i. O.]. 106  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

nen die eigene Identität auch über die Abgrenzung zu anderen Gruppen erfolgt, Forst zufolge nicht unüblich ist.108 Es ist jedoch fraglich, ob diese Form der Anerkennung tatsächlich unter dem Begriff der „Person“ subsum­ miert werden sollte. Denn anstatt von universell geteilten Eigenschaften oder Fähigkeiten auszugehen, orientieren sich sowohl Forderungen nach, als auch die Gewährung von Anerkennung an den differenten Identitäten der jeweiligen Betroffenen. In dieser Arbeit soll diese Dimension der Anerken­ nung deswegen erst im nächsten Abschnitt diskutiert werden, wenn es dar­ um geht, als was Menschen über ihren allgemeinen Personenstatus hinaus anerkannt werden können.109 Um dies zusammenzufassen: Spricht man von Anerkennung als Person, kann zunächst einmal zweierlei gemeint sein. Erstens bedeutet dies, dass Individuen sich gegenseitig als Wesen mit bestimmten Merkmalen anerken­ nen und damit eine Voraussetzung schaffen, einerseits für die Ausbildung eines ungestörten Selbstverhältnisses und -bewusstseins des Gegenübers und damit anderseits auch für die Wahrnehmung des Anderen als legitimen Au­ tor universell gültiger normativer Ansprüche. Zweitens kann durch die An­ erkennung eines Subjektes als Person diesem die Möglichkeit zugeschrieben werden, innerhalb eines begrenzten politischen Ordnungsrahmens rechtmä­ ßige Forderungen gegenüber den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft stellen zu dürfen. Dies geschieht in liberalen Staaten normalerweise zum einen durch die Garantie eines Sets von Grundrechten und zum anderen durch die allgemeine politische Teilhabe im Sinne einer klassischen Volks­ souveränität. Damit wird klar, dass diese Form der Anerkennung als Person, die im eigentlichen Sinne im politischen Raum wirksam wird, keine Abkehr von klassischen liberalen Prinzipien darstellt, sondern höchstens eine Um­ formulierung in anerkennungstheoretische Sprache. Denn die freiwillige Einigung auf Gerechtigkeits- und Ordnungsprinzipien, wie sie alle liberalen Vertragstheoretiker für die Errichtung eines gerechten politischen Gemein­ wesens vorausgesetzt haben, erscheint in diesem Vokabular eben als rezip­ roke Anerkennung der Mitglieder untereinander gleichermaßen als Rechts­ personen und teilhabeberechtigte Bürger. Doch wie passen andere Formen von Anerkennung in dieses liberale Bild? Wie oben bereits angesprochen wurde, verweist die Einteilung von Rainer Forst auf eine wichtige Dimen­ sion, die bisher unberücksichtigt geblieben ist. Die Anerkennung eines Wesens als ethische Person, die eine bestimmte Konzeption des guten Le­ bens verfolgt, scheint nämlich, wie auch Forst mit seiner Verwendung dieser Kategorie zeigt, bisher nicht im liberalen Politikverständnis aufzutauchen. In Abschnitt B. dieser Arbeit wurde beschrieben, dass dies genau der 108  Vgl. 109  Vgl.

ebd. S. 424–428. dazu C. III. 1. b).



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung107

­ ritikpunkt vieler Theoretiker und Praktiker der Anerkennung am liberalen K Paradigma darstellt. Diese fordern deswegen die Inklusion identitätsrelevan­ ter Merkmale und Eigenschaften sowie Gruppenzugehörigkeiten in den Bereich politischer und staatlicher Anerkennung. b) Die Anerkennung als Identitätsträgerin Bevor im Detail auf die Dimension der Anerkennung, in der die Identität von Menschen im Mittelpunkt steht, eingegangen werden kann, gilt es zu­ nächst eine grundsätzliche Frage zu klären: Kann der Begriff der Identität als Analysekategorie gefahrlos angewandt werden, oder birgt er nicht viel­ mehr solch große Schwierigkeiten in sich, dass von einer Verwendung in diesem Kontext abgesehen werden sollte? Dahinter steht die mittlerweile vielfach vertretene Auffassung, der Begriff „Identität“ wäre nicht nur zu starr, um die multiplen Loyalitätsverpflichtun­ gen (post-)moderner Individuen angemessen abzubilden, sondern würde durch seine Benutzung zudem zur Verfestigung von sozial konstruierten Identitätszuschreibungen führen, die von den betroffenen Gruppen oder Einzelpersonen eigentlich abgelehnt werden. Damit würde der Begriff ei­ nem falschen Essentialismus Vorschub leisten, der sowohl die heutigen Lebensrealitäten verkennt als auch eine theoretische Rückentwicklung dar­ stellt.110 Erschwerend kommt die unbestreitbare Vielfalt von Entstehungsund Ausübungsmöglichkeiten der eigenen Identität hinzu, die nicht klar zu trennen sind, sondern meist ineinander greifen. Richard Jenkins zeigt bei­ spielsweise, dass individuelle genauso wie kollektive Identitäten wesentlich von den Phänomenen der Ähnlichkeit und der Differenz abhängen. Jede identitätsrelevante Persönlichkeitsbildung besteht demnach aus einem Pro­ zess der eigenen Abgrenzung zu anderen und umgekehrt: „[S]imiliarity and difference are the dynamic principles of identification, and are at the heart of the human world.“111 Dabei muss laut Jenkins allerdings beachtet wer­ den, dass individuelle Identitätsbildung vor allem auf der Differenz zu an­ deren basiert, während kollektive Einheiten meist ihre Gemeinsamkeiten betonen.112 Bei der Entwicklung von Kollektividentitäten, die von Theoreti­ kern der Anerkennung meist als Gegenstand ihrer Forderungen bestimmt werden, lassen sich erneut unterschiedliche Prozesse erkennen. Carolin 110  Vgl. zur Diskussion dieser Problematik exemplarisch Appiah, Kwame Antho­ ny: The Ethics of Identity, Princeton 2005, S. 100, Emcke 2000, S. 222–249, Jenkins, Richard: Social Identity, 3. Auflage, London/New York 2008, S. 14 f. und Kenny 2004. 111  Jenkins 2008, S. 18. 112  Vgl. ebd. S. 38.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Emcke zeigt im Detail, dass vor allem zwischen einer bewussten, positiv konnotierten Selbstidentifizierung und einer von außen zugeschriebenen, zumeist implizit abwertenden Etikettierung unterschieden werden kann. Während erstere für Emcke die kritische Distanz des Individuums gegen­ über der eigenen Herkunft erfordert und damit auch eine reflexive Selbst­ wahrnehmung mit der Option auf einen Identitätswechsel ermöglicht, stellt letztere eine subjektivierende Konstruktion der Anderen dar, die zumeist zur Gruppenbildung anhand moralisch eigentlich irrelevanter, stereotypisieren­ der Merkmale führt.113 Gerade diese ungerechte Form der Identitätszu­ schreibung, die meist auch noch aufgrund der Wichtigkeit intersubjektiver Anerkennung von der Internalisierung der betroffenen Mitglieder begleitet wird, legt schließlich in ihrer Konsequenz nahe, auf den Begriff der Identi­ tät zu verzichten und mit flexibleren Konzepten zu arbeiten. Dennoch soll hier weiterhin mit diesem Ausdruck operiert werden. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens lassen sich die zweifellos vorhandenen Gefahren durch eine vorsichtige Verwendung eindämmen. Während ein starrer Identitätsbegriff tatsächlich weder Lebensrealitäten noch soziologi­ sche Erkenntnisse plausibel abbilden kann, vermag das ständige Bewusst­ sein um die Prozesshaftigkeit, Flexibilität und Vielschichtigkeit des Phäno­ mens eine angemessene Benutzung zu unterstützen. Zweitens birgt der Be­ griff bei sachgemäßer Anwendung eine Vielzahl von Analyse- und Theore­ tisierungsmöglichkeiten. Da er kulturelle, religiöse, körperliche und soziale Merkmale von Individuen in sich vereinen kann, ohne zu einseitig oder verallgemeinernd zu werden, lässt sich mit ihm die Relevanz dieser Eigen­ schaften – sowie der intersubjektiven Reaktionen darauf – für die autonome und selbstbestimmte Lebensführung der Menschen passend darstellen. Denn für die Beschreibung dieser Dimension von Anerkennung ist es von großem Vorteil, nicht nur die Herkunft, Kultur oder Religion der Individuen als Gegenstand der eventuell zu gewährenden Anerkennung zu behandeln, son­ dern auch körperliche und soziale Differenz im Blick zu behalten, um alle Facetten, die für die eigene und fremde Wahrnehmung des Selbst entschei­ dend sind, zu inkorporieren. Es scheint noch eine weitere Vorsichtsmaßnahme bei der Beschäftigung mit dem Begriff der Identität angebracht zu sein. Denn bisher ist unklar geblieben, was überhaupt der Gegenstand der geforderten Anerkennung sein kann. Drei Kandidaten kämen dabei in Frage: der jeweilige identitätsbestimmende Hin­ tergrund, also beispielsweise Kultur, Religion, soziale Stellung oder Körper­ lichkeit des Individuums, die Identität in all ihrer Hybridität und Prozesshaf­ tigkeit selbst, oder das Subjekt als Träger einer solchen Identität und damit als Person, die fähig zur ethisch selbstbestimmten Lebensführung ist. 113  Vgl.

Emcke 2000, S. 211–232.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung109

Ersteres scheint sich nur bedingt als Kategorie der politischen Anerken­ nung zu eignen. Zwar lässt sich eine politische Ordnung denken, in der der Staat gleichermaßen alle verschiedenen Einflüsse auf die Identitäten der Bürger anerkennt. Wie oben beschrieben, versuchen beispielsweise Multi­ kulturalist_innen eine solche Konzeption auszugestalten, in der von staat­ licher Seite vor allem durch die Gewährung bestimmter Sonderrechte die Anerkennung zumindest der jeweiligen Kultur garantiert wird.114 Doch von gleicher Seite wird eingewandt, dass jeder Staat eine gewisse Vorentschei­ dung für eine Mehrheitskultur trifft, und sei es nur durch die Wahl der Amtssprache.115 Zudem erweist sich die genuine Anerkennung von Lebens­ formen, die den eigenen widersprechen, als ungleich schwieriger, wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft dies untereinander leisten sollen. Es wäre kaum zielführend, von diesen zu erwarten, ihre festen moralischen Überzeu­ gungen beiseite zu schieben und besonders in religiösen oder kulturellen Fragen die Ansichten ihrer Mitbürger so anzuerkennen, dass diese in politi­ schen Diskussions- und Entscheidungsprozessen als legitime und überzeu­ gende Gründe gelten können. Denn die geforderte Anerkennung würde eben nicht die Person als Autorin rechtfertigbarer politischer Ansprüche betreffen, sondern sich auf die Kultur oder weltanschauliche Einstellung des jeweili­ gen Gegenübers selbst beziehen. Dies, so muss selbst Charles Taylor ein­ räumen, kann nicht a priori verlangt werden, da sonst jegliches Urteilen über andere moralisch relevante Ansichten hinfällig und entweder einem ungezügelten Kulturrelativismus oder einem ethnozentrischen Weltbild das Wort geredet würde.116 Selbstverständlich wäre zum besseren Verständnis differenter Identitäten eine grundsätzlich positive Herangehensweise bei der Evaluierung von Kulturen, die allein durch ihre langfristige Existenz Rele­ vanz vermuten lassen, verbunden mit einer „Horizontverschmelzung“, wie sie Charles Taylor mit Gadamer fordert117, wünschenswert. Dies scheint jedoch eine äußerst anspruchsvolle Forderung zu sein, wenn man bedenkt, dass dabei alle Menschen ungeachtet ihrer individuellen Sozialisation zu interkultureller Verständigung aufgerufen werden, ohne dies in rechtliche Formen oder Verpflichtungen zu fassen. So kann man darin vielleicht eine akademische Hoffnung, nicht jedoch ein belastbares politisches Fundament für ein friedliches Zusammenleben innerhalb einer heterogenen Gemein­ schaft sehen. Auch die Anerkennung der Identität selbst erweist sich im politischen Bereich aus mehreren zusammenhängenden Gründen als problematisch. 114  Vgl.

dazu B. III. beispielsweise Kymlicka 1999, S. 23 ff. 116  Vgl. Taylor 2009, S. 55 f. 117  Vgl. ebd. S. 54. 115  Vgl.

110

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Zum ersten gilt hier die Warnung, die oben bereits anklang, besonders: Identitäten sind häufig instabile und hybride Gebilde, deren Manifestation sich ständig neu in diskursiven Verfahren vollzieht. Thomas Bedorf be­ schreibt drei Phänomene, die diese Tatsache illustrieren. Erstens unterliegt Identität seiner Ansicht nach einem „Stiftungsparadox“. Um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten, benötigt eine besondere Identität die Anerken­ nung anderer – sei es der eigenen Gruppenmitgliedern, der Mitbürger oder des Staates – und bildet sich somit erst in einem andauernden Prozess: „Damit ist aber gesagt, daß Identität gerade nicht vorweg als Bündel von Kriterien, Haltungen, Überzeugungen und Praktiken bereits besteht, sondern sich erst im Prozess der Anerkennung konstituieren kann.“118 Zweitens er­ innert Bedorf an die „Ursprungskontingenz“, die Jacques Derrida bezüglich der eigenen Sprache ausgemacht hat. Mit dessen Hinweis auf die fundamen­ tale Eigentümlichkeit jedes Idioms lässt sich demnach feststellen, dass in­ nerhalb kultureller Gruppen, die Sprache als wesentliches Merkmal ihrer Identität ansehen, dennoch jeder Einzelne mit einer nicht-aufhebbaren Dif­ ferenz ausgestattet ist. Die Forderung nach der Anerkennung einer solch in sich nicht geschlossenen Identität kommt deswegen immer auch einem Appell an die illusionäre Einheitlichkeit gleich: „Kulturelle Identität […] entspricht einer phantasmatischen Erwartung, die die Einheit, die sie sich selbst verspricht, niemals ganz einlösen kann und daher in ihrem Begriff selbst eine Differenz, eine Andersheit einträgt, die sie nur machtvoll qua Ausgrenzung tilgen kann.“119 Als drittes Problem betont Bedorf die Idee der „Nicht-Identität der Identität“, die er Jean-Luc Nancy zuschreibt. Dieser versteht Kulturbildung als Prozess der Vermischung, aus der sich gleichzei­ tig Identität und Differenz ergeben. Ursprüngliche Kulturen existieren für Nancy nicht als fixe Einheit, sondern sind immer nur in einer dynamischen Entwicklung anhand von verschiedenen Einflüssen im Entstehen begriffen. Das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft, in der verschiedene kulturelle Gruppen für das, was sie vorgeblich sind, anerkannt werden, wäre demnach nur ein weiterer unpassender Essentialismus.120 Eine politische Anerken­ nung, die einer Festlegung gleichkommen würde, erscheint also schon auf­ grund der Flexibilität ihres Gegenstandes als schwierig. Daraus folgt dann zweitens, dass die Anerkennung einer Identität diese niemals in ihrer Ge­ samtheit erfassen kann und deswegen immer ein Moment der „Verkennung“ beinhaltet. Wie Thomas Bedorf ausführt, bedeutet dieser Begriff nicht, dass der Anerkennungsprozess misslungen oder in eine falsche Richtung gelau­ fen wäre, sondern bezeichnet vielmehr eine diesem inhärente strukturelle 118  Bedorf

2010, S. 104 f. S. 109. 120  Vgl. ebd. S. 110 f. 119  Ebd.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung111

Dissonanz, die den Anderen einschränkt: „Mit Verkennung ist jedoch ge­ meint, daß auch die erfolgreiche Anerkennung den Anderen zu einem iden­ tifizierten Anderen macht und diese Identität die Andersheit des Anderen notwendigerweise limitiert.“121 Würde man trotz dieser Erkenntnisse versu­ chen, Identitäten im politischen Rahmen institutionell anzuerkennen, stiege damit natürlich auch das Risiko, sowohl ungewollt zugeschriebene Identitä­ ten als auch vormals flexible Gruppengrenzen zu verfestigen und damit Individuen in ihrer Autonomie einzuschränken. Daran zeigt sich dann drit­ tens, wie schwierig es wäre, geeignete politische Maßnahmen zur Anerken­ nung verschiedener Identitäten zu finden. Da politische Rechts- und Ent­ scheidungsstrukturen eines gewissen Maßes an Stabilität bedürfen, der Ge­ genstand institutioneller Anerkennungsbeziehungen hier jedoch alles andere als fassbar und leicht einzugrenzen wäre, würde sich ein Vereinfachungs­ druck ergeben, der der Komplexität der Sache nicht gerecht werden würde. Auf politischer Ebene bleibt also nur die dritte Form der Identitätsaner­ kennung übrig, in der nicht etwa der identitätsbestimmende Hintergrund oder die Identität selbst, sondern das Individuum als Träger einer Identität anerkannt wird. Diese relationale Bestimmung hat den Vorteil, dass es sich ohne Widerspruch vorstellen lässt, wie sowohl der Staat als auch die Bürger untereinander Anerkennung gegenüber Subjekten mit differenten Identitäten gewähren können, denn die geleistete Anerkennung bezieht sich hierbei auf die Relevanz, die der kulturelle, religiöse oder soziale Hintergrund für das Individuum entfaltet. Weder ist dabei die Aufgabe der eigenen moralischen Überzeugungen von Nöten, noch überwiegt die Gefahr der einseitigen Be­ vorzugung bestimmter Gruppen durch den Staat. Nichtsdestotrotz geht diese Art der Anerkennung weit über das hinaus, was im vorherigen Abschnitt beschrieben wurde. Denn dem Individuum wird damit nicht aufgrund ge­ meinsamer Merkmale der gleiche universelle oder auf eine politische Ge­ meinschaft beschränkte Personenstatus zugesprochen: Vielmehr bildet hier die identitäre Differenz der Menschen die Basis für eine besondere Form der Anerkennung. Dies führt jedoch zu einer Problematik, die im speziellen die liberalen Ausformungen westlicher Demokratien betrifft. Denn mit die­ ser Strategie wird den oben beschriebenen Schwierigkeiten zwar aus dem Weg gegangen, aber auch die Frage aufgeworfen, inwiefern liberale politi­ sche Prinzipien mit dieser Art der Anerkennung vereinbar sind. Die Kritik an der rawlsschen Konzeption des politischen Liberalismus ist mittlerweile wohlbekannt und weitverbreitet. Angesichts der Herausforde­ rung durch den unbestreitbaren Weltanschauungspluralismus innerhalb der westlichen Demokratien konzipiert Rawls einen Lösungsvorschlag, der auf 121  Vgl.

ebd. S. 146.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

der Abstraktion partikularer Identitäten im politischen Raum basiert. Der overlapping consensus, der die politische Sphäre konstituiert, kann sich nicht auf Lehren stützen, die für sich einen umfassenden Wahrheitsanspruch reklamieren, sondern muss einem rein politischen (statt metaphysischen) Prinzip folgen, das sich auf eine bestimmte Form des öffentlichen Vernunft­ gebrauchs beruft.122 Von Kritikern wird besonders ein Punkt betont: An­ scheinend erwartet Rawls von den Individuen, dass diese in der politischen Interaktion ihren eigenen kulturellen, religiösen oder sozialen Hintergrund beiseitelassen und nur Argumente und Gründe für ihre Ansichten gelten lassen, die innerhalb eines pluralistischen intersubjektiven Zusammenhanges vollständig nachvollziehbar sind. Dabei übersieht er jedoch zum einen die Signifikanz der individuellen Identität der Subjekte und reduziert diese zu körper-, kultur- und beziehungslosen Vernunftbürgern. Zum anderen, so die Kritik, geht damit der eigentliche Gegenstand von Politik verloren, nämlich die diskursive und durchaus kämpferische Verständigung über Werte.123 Besonders den erstgenannten Kritikpunkt greift nun eine akademische und politische Richtung auf, die häufig mit dem Schlagwort „Identitäts­ politik“ umschrieben wird.124 Diese geht von einer grundlegenden Prämisse aus: Die Identität eines Menschen stellt unabhängig von der Art ihrer Kon­ stitution einen solch wesentlichen Faktor in dessen Konzeption eines guten Lebens dar, dass sie im politischen Bereich nicht ignoriert werden darf. Wie Anthony Appiah ausführt, scheinen sich Individuen bei der Identitätsbildung häufig an selbstgeschaffenen Drehbüchern (scripts) und Erzählungen (narratives) zu orientieren, mit denen sie die Komplexität ihres Lebens und der Welt reduzieren und somit Handlungsmöglichkeiten generieren.125 Die so angenommene Identität kann also als wichtige Voraussetzung einer autono­ men Lebensführung betrachtet werden, bedarf dafür aber zusätzlich der Bestätigung im intersubjektiven Zusammenhang. Wie bereits beschrieben, argumentiert Will Kymlicka ähnlich: Die kulturelle und soziale Einbindung eines Subjektes ermöglicht diesem erst die volle Ausbildung seines Hand­ lungspotenzials, da nur so ein bedeutsamer context of choice entsteht. Die Relevanz dieses Kontextes, der bei Kymlicka zumeist kulturell gedacht ist, ergibt sich also aus der Signifikanz für das Individuum, nicht aus einer angenommenen Werthaftigkeit der jeweiligen Kultur an sich.126 122  Hier wird sich auf das Werk Political Liberalism von 1993 bezogen (vgl. Rawls 2005). Für eine detailliertere Zusammenfassung vgl. beispielsweise Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung, 3. Auflage, Hamburg 2008. 123  Vgl. dazu beispielsweise die Darstellungen in Emcke 2000, S. 32–45 und Kenny 2004, S. 51–58. 124  Vgl. dazu den Überblick in Kenny 2004, S. 1–16. 125  Vgl. Appiah 2005, S. 22. 126  Vgl. B. III. 3.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung113

Die Forderung nach politischer Berücksichtigung von Identitäten erscheint mit einigen weiteren Zwischenschritten nun plausibel begründet: Wenn man davon ausgeht, dass die individuelle Identität ein wesentliches Element der autonomen Lebensführung darstellt, und zudem akzeptiert, dass moderne liberal-demokratische Staaten nicht bloß die reine Existenzsicherung ihrer Bürger, sondern vielmehr die Ermöglichung eines würdevollen Lebens jedes Gesellschaftsmitglieds als Zielsetzung annehmen, muss man nur noch Wür­ de eng mit Autonomie verknüpfen, um daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, die Anerkennung der Menschen als Identitätsträger wäre politisch angebracht. Dennoch existieren mindestens drei gewichtige Argumente gegen eine solche Forderung. Erstens kann nicht von jeder Identität behauptet werden, sie wäre für die Autonomie ihres Trägers förderlich. Carolin Emcke identi­ fiziert zu Recht die Kategorie der nicht-intentionalen, subjektivierenden Konstruktion von Identitäten, bei der die Betroffenen entweder durch ste­ reotype Vorverurteilung oder durch bewusste manipulative Aussagen pejo­ rativ einer Gruppe zugeordnet werden. Damit werden diese nicht nur in ihren Handlungsmöglichkeiten im Sinne der Kreierung eigener scripts drastisch eingeschränkt, sondern durch die ungerechte Etikettierung auch in ihrer Persönlichkeit verletzt. Eine institutionalisierte Anerkennung von Men­ schen anhand ihrer Identität würde deswegen für die Individuen ein gerin­ geres Maß an Autonomie hervorbringen.127 Ein anschauliches Beispiel für diesen Freiheitsentzug liefert Emcke in der Analyse von Sartres Betrachtungen zur Judenfrage.128 Sartre schließt hier an seine Überlegungen zum Blick des Anderen an, der das Subjekt in seinem Sein konstruiert und damit dessen Freiheit negiert. Wenn der Antisemit also einen Menschen mit dem sozialen Etikett „Jude“ versieht129, zwingt er diesen in eine Identität, die sich nicht mehr ablegen lässt. Selbst die Aufgabe der jüdischen Religion kann daran nichts ändern, wie die Verfolgung und Ermordung von Konver­ titen im Dritten Reich auf schrecklich eindrucksvolle Weise gezeigt hat. Durch diese Fremdzuschreibung wird also „der Jude“ als soziale Kategorie erst erschaffen, wie Sartre deutlich macht: „Der Jude ist der Mensch, den die anderen als solchen betrachten.“130 Dies bringt weitreichende psycholo­ gische und politische Konsequenzen mit sich: Zum einen werden die Be­ troffenen objektiviert und sind gezwungen, die äußere Bezeichnungslogik Emcke 2000, S. 228–236. zum folgenden Absatz ebd. S. 100–121. 129  Diese Etikettierung als Vorstufe des Holocaust wechselte im Dritten Reich bekanntermaßen fließend von der reinen Blickkonstruktion zur materiellen Markie­ rung in Form der Zwangskennzeichnung durch einen gelben Stern auf der Kleidung. 130  Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage, Psychoanalyse des Antisemi­ tismus, Zürich 1948, S. 61. 127  Vgl. 128  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

ihrer Gegner zu internalisieren, um sich adäquat wehren zu können. Denn nur wenn sie als Träger einer bestimmten Identität soziale Existenz bean­ spruchen können, bewegen sie sich auf einem festen Fundament, von dem aus intersubjektive Interaktion, politische Argumentation und Interessenver­ folgung möglich ist: „Der Jude war nicht frei, Jude zu sein oder nicht.“131 Zum anderen wird so den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe, wie oben bereits angedeutet, die Fähigkeit zur freien Erschaffung und Gestaltung ih­ res eigenen Lebens genommen. Die Scripts und Narratives werden von außen vorgegeben, im Falle der Juden zudem in äußerst negativer Weise.132 Die individuellen Möglichkeiten autonomen Handelns können also durch die soziale und politische Fixierung bestimmter Identitäten stark einge­ schränkt werden. Zweitens stellt sich die Frage, ob die Umsetzung der geforderten Aner­ kennung nicht in Bereiche eingreift, die aus liberaler Sicht mit guten Grün­ den dem staatlichen Zugriff bisher vorenthalten wurden. Denn durch die institutionelle Zuschreibung bestimmter Identitätsmerkmale werden diese vormals privaten Eigenschaften unweigerlich politisiert. Anthony Appiah befürchtet deshalb eine mögliche Verletzung der persönlichen Sphäre: „The politics of recognition, if pursued with excessive zeal, can seem to require that one’s skin color, one’s sexual body, should be politically acknowledged in ways that make it hard for those who want to treat their skin and their sexual body as personal dimensions of the self. […] Even though my race and my sexu­ ality may be elements of my individuality, someone who demands that I organize my life around these things is not an ally of individuality.“133

Die politisch gehaltvolle Anerkennung einer Person als Identitätsträger würde dieser Meinung nach also dazu führen, dass Rückzugsräume, in de­ nen kulturelle, religiöse, soziale oder körperliche Eigenschaften privat blei­ ben sollen, abgeschafft werden könnten. Drittens wird daran anschließend deutlich, wie Anerkennungsforderungen und liberale Prinzipien aufeinandertreffen und sich womöglich unvereinbar gegenüberstehen. So entwickelt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem liberalen Neutralitätsprinzip und der anerkennungspolitischen Zielsetzung, durch die staatliche Affirmation differenter Identitäten deren Trägern ein autonomes Leben zu ermöglichen. Die Verpflichtung des Staates zur religi­ ösen und weltanschaulichen Neutralität in der Behandlung seiner Bürger wird von verschiedensten Stellen als ein fundamentaler Eckpfeiler liberaler 131  Ebd.

S. 69. hier beschriebene Praxis der Kategorisierung muss nicht unbedingt mit negativen Vorurteilen verbunden sein. Doch auch positiv konnotierte Stereotypen können freiheitsbeschränkend wirken. 133  Appiah 2005, S. 110. 132  Die



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung115

Staatlichkeit betrachtet.134 Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, staatliche Behörden und Institutionen sollten jedem Bürger die gleiche Men­ ge an Achtung und Rücksicht zukommen lassen, um dessen grundlegende Ausstattung an Rechten zu bestätigen und ihn auf vernünftige und intersub­ jektiv nachvollziehbare Weise zur Befolgung der Gesetze anzuhalten. So schreibt der liberale Rechtsphilosoph Ronald Dworkin: „A political community that exercises dominion over its own citizens, and de­ mands from them allegiance and obedience to its laws, must take up an impartial objective attitude towards them all, and each of its citizens must vote, and its officials must enact laws and form governmental policies, with that responsibility in mind.“135

Um diese „unparteiliche, objektive Einstellung“ gegenüber allen Bürgern konkret zu erreichen, sollte der Staat demnach weder bestimmte partikulare Lebensformen fördern, noch andere, alternative Konzeptionen des guten Lebens in ihrer freien Entwicklung behindern. Damit scheint eine so ver­ standene Neutralität unvereinbar mit der Forderung nach staatlicher Aner­ kennung von Identitätsträgern zu sein, die sich in einer rechtlichen oder gesellschaftlichen Sonderbehandlung äußert. Dieser ziemlich strikten Bestimmung von Neutralität wird jedoch von vielen Seiten akademische Weltfremdheit vorgeworfen. Bernd Ladwig ist beispielsweise der Meinung, dass liberale Staaten durchaus bestimmte Ver­ haltensweisen unterstützen und dies auch sollen: „Auch der liberale Staat nimmt Partei, wo immer er aktiv die Bedingungen vernünftiger Selbstbe­ stimmung von Personen fördert.“136 Mit dem Bekenntnis zur Autonomie seiner Bürger folgt dieser Auffassung nach der Staat also einer offeneren Interpretation von Neutralität, die auf dem Boden von Gleichheits- und Antidiskriminierungsgrundsatz dennoch eine ethisch relevante Positionie­ rung erlaubt. Dieser „ethische Liberalismus“ verpflichtet sich damit der Förderung eines selbstbestimmten, reflektierten und jederzeit umkehrbaren Lebenswegs: „Er nimmt an, dass ein gutes immer auch ein selbstbestimmt geführtes Leben ist.“137 Damit ist, so argumentiert Ladwig weiter, jedoch nicht notwendigerweise eine antireligiöse oder antitraditionelle Haltung verbunden. Denn wenn beispielsweise eine Glaubensrichtung die Möglich­ keit zur vernünftigen Abwägung, kritischen Überprüfung und gegebenenfalls Revidierung eigener Positionen beinhaltet, lassen sich keine plausiblen 134  Vgl. beispielsweise Dworkin 2000, Galeotti 1998, Huster, Stefan: Die ethi­ sche Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002, oder Ladwig, Bernd: Das islamische Kopftuch und die Gerechtigkeit, in: Ar­ chiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96/2010, S. 17–33. 135  Dworkin 2000, S. 6. 136  Ladwig 2010, S. 22. 137  Ebd. S. 22.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Gründe für eine negative Einstellung ihr gegenüber finden. Entscheidend dabei ist für Ladwig jedoch, dass ein Diskurs über die Beurteilung verschie­ dener Lebenskonzeptionen immer ergebnisoffen geführt werden muss. Denn Neutralität des Staates bedeutet eben nicht, dass am Ende einer Debatte oder eines Rechtssetzungsprozesses stets die Gleichheit im Ergebnis gewahrt wird. Vielmehr muss der Prozess selbst unter gleicher Achtung und Berück­ sichtigung aller Bürger stattfinden, um das liberale Neutralitätskriterium zu erfüllen.138 Lässt sich mit diesem Versuch eines weniger anspruchsvollen Maßstabs der Neutralität nun besser für eine staatliche Sonderbehandlung von Mitbür­ gern argumentieren, die eine von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Vorstellung des guten Lebens vertreten? Sicherlich wird dadurch die Be­ gründung politischer Maßnahmen erleichtert, die die Benachteiligung von Menschen mit differenten Identitäten ausgleichen sollen. Denn die gleiche Achtung und Rücksicht gegenüber jedem Bürger verpflichtet den Staat, offenkundige Nachteile zu eliminieren. Menschen mit körperlichen Beein­ trächtigungen haben dadurch beispielsweise ein Anrecht auf größtmögliche Mobilität, muslimischen Frauen darf die soziale Teilhabe trotz des Tragens religiöser Symbole nicht verwehrt werden und homosexuellen Paaren muss die Möglichkeit einer rechtlich anerkannten Verantwortungsgemeinschaft offen stehen. All diese Maßnahmen werden rechtfertigungslogisch von der notwendigen Anerkennung der Betroffenen als Identitätsträger abgedeckt, da sie auf deren Gleichstellung mit den strukturell bevorzugten Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft hinarbeiten. Die rechtliche Sonderstellung bleibt den­ noch aufgrund der oben beschriebenen Unwägbarkeiten fragwürdig.139 c) Die Anerkennung als Erbringer von Leistungen Bevor zur Analyse der verschiedenen Anerkennungsquellen übergegangen werden kann, muss ein weiterer Anerkennungsgegenstand behandelt wer­ den, der in der akademischen Diskussion aufgrund der Omnipräsenz kultu­ reller Differenzthematiken häufig etwas zu kurz kommt. Es handelt sich um die Anerkennung von bestimmten Leistungen, die Individuen sozusagen aus eigener Kraft heraus erbringen und ähnelt als verdienstabhängige Form demensprechend auch einem meritokratischen Verteilungsprinzip. Diese Kategorie kann jedoch grundsätzlich sportliche Höchstleistungen genauso umfassen wie die alltägliche Lohnarbeit oder ehrenamtliche Betätigungen, da jede dieser Tätigkeiten auf eine bestimmte Art gesellschaftlich anerkannt 138  Vgl. ebd. S. 23. Auch Anthony Appiah vertritt eine solche Form der staatli­ chen Neutralität. Vgl. dazu Appiah 2005, S. 94 f. 139  Vgl. dazu auch C. III. 2. a).



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung117

wird oder werden könnte. Dennoch muss auch hier wieder betont werden, dass die in Frage kommende Anerkennung die Person als Erbringerin dieser Leistungen betreffen muss, um politische Signifikanz zu generieren.140 Denn die Anerkennung der Tat oder des Werks an sich ist zwar möglich, nicht jedoch spezifisch dem politischen Bereich zuzuordnen. Beispielhaft ausge­ drückt: Die Bewunderung eines Fußballspielers betrifft dessen Spiel auf dem Platz an sich und ist damit von rein sportlichem Interesse, während sich seine exorbitante Bezahlung, die gesellschaftliche Relevanz entfaltet, an ihn als Vollbringer dieser Leistung richtet. Wie bereits gesehen, bildet die Sphäre der sozialen Wertschätzung von Leistung die dritte Anerkennungsebene bei Axel Honneth.141 Während Liebe jedem Menschen und rechtliche Anerkennung zumindest innerhalb einer partikularen staatlichen Ordnung jeder Person zukommen sollte, wird im Bereich der Solidarität hinsichtlich der Tätigkeiten der Subjekte differen­ ziert und hierarchisiert. Honneth orientiert sich dabei ausdrücklich an dem Kriterium der sozialen Nützlichkeit, auch wenn diese von ihm zunächst nicht rein ökonomisch definiert wird. Vielmehr will Honneth diesen Maß­ stab als gemeinwohlorientiertes Prinzip verstanden wissen, das den indivi­ duellen Beitrag des Einzelnen zum gesellschaftlichen Handeln honoriert: „[…] [S]ich in diesem Sinne symmetrisch wertzuschätzen heißt, sich rezip­ rok im Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Eigen­ schaften des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis er­ scheinen lassen.“142 Dennoch beschränkt sich Honneth in der Folge vor allem auf den Bereich der Arbeit, wenn er von sozialer Wertschätzung spricht.143 Zugespitzt formuliert würde das bedeuten, dass sich demnach nicht nur das anzuerkennende Verdienst des Individuums, sondern auch dessen Möglichkeit zur Selbstschätzung alleine an seinem Beitrag zum Bruttosozialprodukt bemisst. Hans-Christoph Schmidt am Busch kritisiert diese Ansicht, indem er auf die Unterscheidung zwischen der Wertschätzung einer Person als Inhaber spezifischer Fähigkeiten und der Wertschätzung als Erbringer gesellschaft­ lich nützlicher Leistungen hinweist. Da ihm zufolge die Voraussetzung zur Selbstschätzung vor allem an der Bewertung der eigenen Fähigkeiten hängt, können beispielsweise die Ausübenden sogenannter „einfacher“ Tätigkeiten kaum ein angemessenes Selbstwertgefühl entwickeln.144 Denn werden in dazu auch Ikäheimo/Laitinen 2010, S. 103. dazu B. II. 2. 142  Honneth 1994, S. 209 f. 143  Vgl. dazu auch Honneth 2010. 144  Vgl. Schmidt am Busch, Hans-Christoph: „Anerkennung“ als Prinzip der Kri­ tischen Theorie, Berlin 2011, S. 45. 140  Vgl. 141  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

der gesellschaftlich vorherrschenden Meinung solche Tätigkeiten mit dem Verdikt der Anspruchslosigkeit belegt, werden die betroffenen Personen daran gehindert, das eigene Können als positives und somit potenziell schät­ zenswertes Element des Selbst zu betrachten. Zudem stellt Schmidt am Busch die berechtigte Frage, wer denn überhaupt den gesellschaftlichen Nutzen einer Tätigkeit bestimmt. Dies scheint in einem kapitalistischen System der Markt zu sein. Problematisch wird dies für ihn allerdings, wenn man bedenkt, dass Märkte – abgesehen davon, dass sie durch Ideologien verzerrt sein können – zwar den Nutzen ermitteln, ihn aber nicht angemes­ sen abbilden können.145 Das oben genannte Beispiel des Fußballspielers mag hier wieder als Illustration dienen: Während sein Gehalt zweifellos vom Markt ermittelt wurde, lässt sich der Nutzen seiner Tätigkeit für die Gemeinschaft damit nicht ohne weiteres bestimmen. Außerdem entsteht laut Schmidt am Busch durch die Fixierung auf monetäre Anerkennungsgewäh­ rung ein weiteres Problem. Da individuelle Einkommen in einer Gesellschaft immer relational zu den Einkommen anderer gesehen werden, entsteht durch den honnethschen Kampf um Anerkennung in den Menschen das Verlangen, entweder das eigene Gehalt zu erhöhen oder das der anderen zu verringern: „In einer Gesellschaft, in der die Menschen sich gemäß dem Nutzen ihrer Arbeits­ leistung wertschätzen und in der dieser Nutzen marktwirtschaftlich ermittelt wird, ist ein Akteur in anerkennungstheoretischer Hinsicht besser gestellt, wenn sein Einkommen steigt und / oder das Einkommen von anderen sinkt. Folglich hat ein solcher Akteur anerkennungsbedingt einen Grund, nach einer Verbesserung seines Einkommens zu streben und zu einer Verringerung des Einkommens von anderen beizutragen.“146

Dadurch entwickelt sich jedoch eine Dynamik, die ein Spannungsverhält­ nis zwischen zwei Sphären der Anerkennung erzeugt. Mit der Suche nach finanzieller Besserstellung wächst demnach die Gefahr, dass bestimmte Mitglieder der Gesellschaft die Anerkennung der Anderen als legitime Emp­ fänger bestimmter sozialer Rechte verweigern.147 Neid oder Missgunst könnten somit zu gängigen sozialen Empfindungen werden und politische Anerkennungsbeziehungen wesentlich erschweren. So hängt beispielsweise die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, auch davon ab, ob die Mitglieder einer Gesellschaft die Sozialleistungen für finanziell Schwächere, die aus diesen Steuern bestritten werden, für gerechtfertigt halten. Auch Iris Marion Young kritisiert die Orientierung an einem meritokra­ tischen Prinzip bei der Verteilung sowohl von finanziellen Ressourcen als auch von Anerkennung. Ihr zufolge fungiert das Kriterium des Verdiensts 145  Vgl.

ebd. S. 53. S. 54. 147  Vgl. ebd. S. 55 f. 146  Ebd.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung119

als zentrales Argument für die Hierarchisierung innerhalb der Arbeitswelt, generiert dadurch allerdings eine Reihe von Ungerechtigkeiten. Da die rele­ vanten Qualifikationen bei der Bewerbung für eine Arbeitsstelle nicht unab­ hängig von vorherrschenden kulturellen Wertvorstellungen gemessen werden können, müssen Mitglieder von – in Youngs Einschätzung – unterdrückten Gruppen zwangsläufig arbeitsbezogene Diskriminierung erfahren. Die in Universität und Arbeitswelt angewandten Testverfahren zur Feststellung der Eignung eines Bewerbers sind für Young also Ausdruck einer partikularen Weltsicht, die mit Hilfe der bestehenden Herrschaftsstrukturen in Politik und Ökonomie Menschen mit differenten Identitäten aufgezwungen wird. Zudem besteht ihr zufolge eine unzulässige Kategorisierung arbeitsteiliger Prozesse, die mit Einschätzungen über die Intelligenz der Ausübenden ein­ hergeht.148 Die Einteilung in angeblich höherwertige Arbeiten und einfache oder „niedere“ Tätigkeiten führt so laut Young zur Hierarchisierung der Arbeitswelt, die durch ungleiche Macht-, Gehalts- und Anerkennungsvertei­ lung verkörpert wird. Nur die weitgehende Demokratisierung der Arbeits­ verhältnisse und die temporäre Bevorzugung bisher Benachteiligter könnte diese strukturelle Ungerechtigkeit verhindern.149 Obwohl Youngs Lösung eher unausgereift erscheint, spricht sie doch das wesentliche Problem der Anerkennung von bestimmten Leistungen an: Sie kann per definitionem nicht gleichmäßig verteilt werden, da als Kriterium für die Gewährung dieser Art von Anerkennung das – an welchen Maßstä­ ben auch immer gemessene – partikulare Verdienst der Individuen herange­ zogen werden muss. Erkennt beispielsweise der Staat im Verbund mit marktwirtschaftlichen Kräften bestimmte Leistungsträger_innen durch die Festlegung hoher Gehälter an, die im Missverhältnis zum Einkommen vieler anderer Gesellschaftsmitglieder stehen, dann besteht die Gefahr einer sozi­ alen Fragmentierung, die dem Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft abträglich wäre. Zudem würde dies die Anerkennungsbeziehungen der Bür­ ger untereinander deutlich schwächen, da diese aufgrund der Ungleichver­ teilung von Anerkennung selbst nicht mehr gewillt wären, ihre Mitbürger anhand deren Leistungen zu achten. Dass dieses Szenario keiner dystopi­ schen Fantasievorstellung entspringt, lässt sich mit Blick auf die gegenwär­ tigen gesellschaftlichen Verhältnisse der westlichen Industriestaaten feststel­ len: Debatten sowohl über die Diäten oder Renten von Politikern, als auch über Löhne und Bonuszahlungen an Unternehmensvorstände sind in vielen Staaten regelmäßig an der Tagesordnung. Die politische Anerkennung von 148  Vgl. für eine ähnliche Kritik Nagel, Thomas: Bevorzugung gegen Benachtei­ ligung? In: Rössler, Beate (Hrsg.): Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilo­ sophische Kontroverse, Frankfurt/New York 1993, S. 67 f. 149  Vgl. Young 1990, S. 200–223.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

bestimmten Leistungen, ob einseitig von staatlicher Seite durch finanzielle Mittel gewährt oder reziprok innerhalb der Bürgerschaft gefordert, erweist sich aufgrund ihrer immanenten Asymmetrie also als äußerst problematisch. Dennoch lässt sich die Relevanz dieser Anerkennungsform für die Selbst­ achtung vieler Individuen nicht einfach von der Hand weisen. So bedeutet zum Beispiel der Verlust der Arbeitsstelle für die meisten Menschen nicht nur materielle Einbußen, sondern generiert vor allem ein Gefühl der Nutzlosig­ keit. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Viele Menschen betrachten ihren Beruf als eine direkte Quelle für die eigene Identitätsentwicklung. Wer je­ mand ist, hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil davon ab, was sie macht. Wird nun allerdings eine Tätigkeit öffentlich abgewertet, sei es durch schlech­ te Bezahlung oder geringes Ansehen, hat dies höchstwahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Selbstachtung des Ausübenden.150 Axel Honneth schreibt deswegen nicht zu Unrecht: „Nach wie vor macht die Mehrheit der Bevölkerung die eigene soziale Identität primär von der Rolle im organisier­ ten Arbeitsprozess abhängig […]. […] Arbeitslosigkeit wird weiterhin als ein soziales Stigma und ein individueller Makel erfahren, prekäre Beschäfti­ gungsverhältnisse werden als belastend empfunden […].“151 Noch ambivalenter wird die Situation, wenn man über die engen Grenzen der Arbeitswelt hinausblickt. Sicherlich spielt diese eine große Rolle, wenn es um die Anerkennung von Leistungen geht, aber Beiträge zum Gemein­ wohl lassen sich in vielen anderen Bereichen genauso finden. Die Liste relevanter Tätigkeiten reicht hier vom klassischen Ehrenamt im Verein oder Verband über karitative Arbeit bei geringer Bezahlung bis hin zu politi­ schem oder bürgerschaftlichem Engagement. Auch hier bildet die offizielle Wertschätzung dieser Bemühungen um das gesamtgesellschaftliche Wohl einen signifikanten Faktor für Motivationslage und Selbstachtung der Indi­ viduen. Nicht umsonst werden regelmäßig Ehrungen von staatlicher Seite aus veranstaltet, um ehrenamtlichen Helfern in allen möglichen Bereichen Anerkennung zukommen zu lassen. Würde dies nicht passieren, könnte die sowieso schon geringe Beteiligung an ehrenamtlichen Initiativen und Pro­ grammen weiter zurückgehen.152 Welches Fazit lässt sich also zu dieser Form der Anerkennung ziehen? Wie beschrieben entsteht hier ein Problem der Gleichheit: Wendet man die Aner­ kennung für Leistungen auf gemeinwohlfördernde Beiträge im Rahmen der 150  Vgl. dazu als Überblick Kurtz, Thomas: Berufssoziologie, Bielefeld 2002, sowie die verschiedenen Beiträge in: Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York 2009. 151  Honneth 2010, S. 79. 152  Vgl. dazu auch C. III. 3. c).



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung121

Arbeitsstelle an, entsteht die Gefahr der gesellschaftlichen Fragmentierung sowie einer erhöhten Präsenz von Neidgefühlen im gesellschaftlichen Kon­ text, da Anerkennung – ob finanzieller oder symbolischer Art – notwendiger­ weise ungleich verteilt wird. Betrachtet man andere Tätigkeitsbereiche wie den des Ehrenamts, entsteht der plausible Eindruck, öffentliche Anerkennung sei hier vernünftigerweise nicht wegzudenken. Doch auch damit findet natür­ lich eine Hierarchisierung von Anerkennung statt, die möglicherweise zu pro­ blematischen Entwicklungen führt. Sicherlich würde niemand ernsthaft be­ streiten, die so geehrten Mitglieder einer Gesellschaft hätten dies nicht ver­ dient, doch was ist mit jenen, deren Zeit von der Sicherung ihres Lebensun­ terhalts vollständig konsumiert wird? Diese Menschen haben womöglich Interesse an gemeinnütziger Arbeit, doch für sie besteht keine Gelegenheit der Verwirklichung. In Verbindung mit der Ausübung einer sogenannten „niederen“ Tätigkeit ist es durchaus möglich, dass diese Individuen in der Ausbildung eines gesunden Selbstverhältnisses, die den Arbeitsplatz als Iden­ titätsquelle genauso umfassen kann, wie das Bewusstsein, einen sinnvollen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl zu leisten, empfindlich gestört werden, was Serge Paugam mit dem Begriff der „Prekarisierung“ beschreibt: „Die Lohnabhängigen sind in einer prekären Lage, weil ihre Arbeit sie an Vorga­ ben des Arbeitgebers scheitern lässt und weil ihnen die Arbeit belanglos, schlecht bezahlt und innerhalb des Unternehmens wenig anerkannt erscheint. Da ihr Bei­ trag zur gesellschaftlichen Produktion keinerlei Anerkennung erfährt, beschleicht sie das Gefühl, mehr oder weniger unnütz zu sein.“153

Unter anderem aus diesen Gründen skizziert Arno Laitinen eine alterna­ tive theoretische Rechtfertigung für die Anerkennung einer Person als Er­ bringer gesellschaftlich nützlicher Leistungen. Ihm zufolge können Men­ schen, die in dieser Form anerkannt werden, als Mittel zum (gemeinwohl­ orientierten) Zweck gesehen werden, ohne dabei darauf reduziert zu werden. Er schlägt deswegen in einer Umformulierung des kantschen Kategorischen Imperativs vor, dass Menschen niemals nur als Zwecke behandelt werden sollten, sondern ihnen ermöglicht werden soll, als Mittel nützlich für das Gemeinwohl sein zu können und dafür durch soziale Wertschätzung aner­ kannt zu werden.154 Diese sicherlich etwas vage Formulierung scheint einen entscheidenden Vorteil gegenüber den bisher behandelten Legitimationsver­ suchen zu haben: Durch die auf fundamentaler Ebene gleichermaßen ver­ teilte Anerkennung für das vorhandene Potenzial eines jeden Gesellschafts­ mitglieds, etwas für die Gemeinschaft tun zu können, wird die Hierarchisie­ rung der späteren, leistungsbezogenen Anerkennung aufgrund der tatsächli­ 153  Paugam, Serge: Die Herausforderung der organischen Solidarität durch die Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung, in: Castel/Dörre 2009, S. 175. 154  Vgl. Ikäheimo/Laitinen 2010, S. 114.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

chen Beiträge zum Gemeinwohl, deutlich abgeschwächt. Gerade im Hinblick auf das Selbstverhältnis der Individuen scheint sich somit zumindest eine fundamentale Basis der Anerkennung legen zu lassen, die sowohl die Aner­ kennungsbedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen berück­ sichtigt, als auch den besonderen Leistungen Einzelner Rechnung trägt. Zudem verlagert sich der erste Ansatzpunkt für Kritik auf die sozialen Umstände: Nicht das Individuum, das sein vorhandenes Vermögen, zum gesamtgesellschaftlichen Wohl beizutragen, nicht ausschöpft, sondern die Strukturen, die womöglich einen Hinderungsgrund darstellen, gilt es zu­ nächst im Blick zu haben. Konkret könnte diese theoretische Herangehens­ weise bedeuten, dass beispielsweise Arbeitslosen- und Sozialhilfe weder als Almosen noch als staatliche Überlebenssicherung gedacht wird, sondern als Möglichkeit, den Betroffenen die Chance zur Ergreifung sinnvoller Tätig­ keiten zu geben. Diese könnten einerseits im Bereich des Ehrenamts oder der Nachbarschaftshilfe liegen, andererseits aber auch in der Lohnarbeit. Transferleistungen würden so zu einer Form des Empowerment, die allen Hilfsbedürftigen gleichermaßen zukommt und sie damit aufgrund ihres Po­ tenzials im Sinne von Laitinen anerkennt. 2. Drei Anerkennungsquellen – Staat, Gesellschaft, Mitbürgerinnen Nachdem nun deutlich geworden sein sollte, dass der Gegenstand politi­ scher Anerkennung stark variieren kann und damit gegebenenfalls Schwie­ rigkeiten in der Vereinbarkeit von klassischen liberalen Prinzipien mit For­ derungen nach der Ausdehnung von Anerkennungsbeziehungen nach sich zieht, müssen im nächsten Abschnitt die möglichen Quellen von Anerken­ nung im Fokus stehen. Denn auch die politische Relevanz der Akteure, die Anerkennung gewähren, versteht sich nicht von selbst, sondern bedarf einer genauen Analyse. In der aktuellen Debatte steht zumeist der Staat als primärer Verteiler von Anerkennung im Mittelpunkt. Seien es Grund- oder Sonderrechte, finanzi­ elle Förderung oder symbolische Wertschätzung – die individuellen und kollektiven Forderungen nach angemessener Behandlung betreffen vor allem die Handlungsbereiche und -möglichkeiten staatlicher Gewalt. In der Theo­ rierichtung des Multikulturalismus lässt sich diese Tendenz besonders deut­ lich erkennen: Kulturelle Minderheiten sollen – mal aus Gründen der Erhal­ tung wertvoller Traditionen, mal wegen der Signifikanz eines Einbettungs­ hintergrundes für das Individuum – durch staatliche Intervention geschützt und gefördert werden. Nun stellt der Staat in seiner Gesamtheit ohne Zweifel eine wichtige Anlaufstelle für Anerkennungsforderungen dar. Eine Vielzahl von Werkzeugen, mit denen die notwendige Achtung aller Bürger



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung123

garantiert werden soll, wie beispielsweise die Zuweisung von Rechten, kann nur über die gesetzgeberischen Kompetenzen staatlicher Organe wirksam werden. Im ersten Teil dieses Abschnitts soll deswegen analysiert werden, wie staatliche Anerkennung funktioniert und wie sich diese mit liberalen Politikvorstellungen verträgt. Dennoch würde die einseitige Konzentration auf den Staat als alleinige Anerkennungsquelle zu kurz greifen. In der politischen Sphäre einer freiheit­ lichen Ordnung existieren mindestens zwei weitere Ebenen, auf denen rezi­ proke Anerkennungsbeziehungen eine wichtige Rolle spielen. Die erste kann unter den Begriff „Gesellschaft“ gefasst werden, auch wenn dies noch nicht viel über die Art der Relationen aussagt. Wir haben jedoch bereits gesehen, was diese Kategorie einschließen kann: Soziales Ansehen aufgrund gesell­ schaftlich wertgeschätzter Tätigkeiten oder Stellungen gehört genauso dazu wie die intersubjektive Anerkennung für beeindruckende individuelle Leis­ tungen. Entscheidend ist bei beiden Formen, dass die in Frage kommende Anerkennung von gesellschaftlichen Akteuren in all ihrer Pluralität gewährt wird. Nicht Volksvertreter in offiziellen Ämtern, sondern Individuen mit völ­ lig verschiedenen Positionen und Hintergründen fungieren auf dieser Ebene als anerkennungsspendende Personen. Im zweiten Teil dieses Abschnitts sol­ len diese beschrieben und vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Wirkung auf politische Anerkennungsprozesse thematisiert werden. Als weitere, dritte potenzielle Anerkennungsquelle können die Bürger eines demokratischen Verfassungsstaats selbst gelten. Den Unterschied zu Staat und Gesellschaft einerseits, sowie rein individuellen Beziehungen andererseits, macht hier die Position aus, auf deren Grundlage ein Subjekt Anerkennung gewährt. Während bisher die Rede von Amtsträgern und Ge­ sellschaftsmitgliedern war, soll mit bürgerlicher Anerkennung die Einstel­ lung bezeichnet werden, die Menschen im Prozess der politischen Teilhabe den anderen Partizipierenden dieses Prozesses entgegen bringen. Die Bür­ gerinnen eines Staates können, so soll zumindest im dritten Teil dieses Abschnitts argumentiert werden, in ihrer gewissermaßen politischen Identi­ tät als Souveränitätsausübende ein Netz von Anerkennungsbeziehungen schaffen, das nicht nur hinsichtlich des Selbstverständnisses der Individuen, sondern auch für die gerechtigkeitstheoretische Bewertung politischer Aner­ kennung an sich einiges an Relevanz entfaltet. a) Staatlich gewährte Anerkennung Besonders in ihrer multikulturalistischen Spielart richten sich die akade­ mischen und politischen Argumentationen der Politik der Anerkennung auf den Staat als primären Akteur gerechtigkeitsrelevanter Prozesse, da die

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Verfechter dieser Richtung zumeist die institutionelle Manifestation wichti­ ger Anerkennungsleistungen gegenüber kulturell differenten Staatsbürgerin­ nen propagieren. Dies muss in erster Linie durch legislatives und exekutives Handeln vollzogen werden. So ist beispielsweise die Einrichtung spezieller Sonderrechte für kulturelle Gruppen aus dieser Sicht genauso Staatsaufgabe wie die Durchsetzung von Barrierefreiheit für körperlich Beeinträchtigte oder die quotenmäßige Förderung der Gleichstellung von Frauen. Nimmt man liberale Positionen, wie sie etwa von John Rawls oder Ro­ nald Dworkin formuliert wurden, als Ausgangspunkt, lassen sich durchaus Anerkennungsleistungen des Staates identifizieren. Beide betonen die staat­ liche Rolle in der Zuschreibung von fundamentalen Grundrechten, die jedem Bürger eines Staates gleichermaßen zukommen müssen.155 Dworkin formu­ liert explizit, welche Prinzipien hinter dieser Auffassung stehen und wie diese aus liberaler Sicht ausgestaltet sein müssen: „Die Regierung muß diejenigen, die sie regiert, mit Rücksicht behandeln, das heißt als menschliche Wesen, die des Leidens und der Enttäuschung fähig sind, und mit Achtung, das heißt als menschliche Wesen, die in der Lage sind, sich nach intelligenten Konzeptionen davon, wie sie ihr Leben leben sollten, selbst zu formen und entsprechend zu handeln. Die Regierung muß Leute nicht nur mit Rücksicht und Achtung behandeln, sondern mit gleicher Rücksicht und Achtung. Sie darf nicht Güter oder Möglichkeiten deswegen ungleich verteilen, weil einige Bürger Anspruch auf mehr haben, weil sie mehr der Berücksichtigung wert sind. Sie darf nicht die Freiheit aufgrund dessen beschränken, daß die Konzeption vom guten Leben, die ein Bürger einer bestimmten Gruppe hat, vortrefflicher oder hochwertiger ist als eine andere.“156

Die Achtung, von der Dworkin hier spricht, kann in anerkennungstheore­ tischer Sprache ohne die ursprüngliche Bedeutung zu verfälschen zu der bereits beschriebenen Anerkennung der Menschen als Personen umformu­ liert werden, da beiden Konzepten die Berücksichtigung der Autonomiefä­ higkeit der Individuen zu Grunde liegt.157 Der Staat muss durch seine exe­ kutive Gestaltungsmacht also dafür sorgen, dass jeder Bürger gleichermaßen als Person anerkannt wird. Diese Auffassung wurde von den Vertretern einer Anerkennungspolitik aus verschiedenen Gründen kritisiert. Dahinter steht zumeist ein alternatives Staatsverständnis, das liberale Elemente mit rechtlich fixiertem Minderhei­ tenschutz und staatlicher Einflussnahme bei gesellschaftspolitischen Themen kombiniert. Für Will Kymlicka, der, wie gesehen, bestimmte liberale Prin­ zipien um multikulturalistische Einrichtungen ergänzt sehen will, gibt es Rawls 1971 u. 2005 und Dworkin 1984. 1984, S. 439. 157  Vgl. dazu C. III. 1. b). 155  Vgl.

156  Dworkin



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung125

beispielsweise keinen Zweifel, dass sowohl Ureinwohner als auch Einwan­ derer ihre Anerkennungsforderungen an den Staat richten müssen. Durch die zentrale Institution der Staatsbürgerschaft hat dieser zunächst die Möglich­ keit, Individuen in sein Hoheitsgebiet zu inkludieren und ihnen ein Set an Bürgerrechten zuzuweisen.158 Diese grundlegende staatliche Anerkennung bleibt laut Kymlicka jedoch in den Zeiten pluralistischer Gesellschaftsmo­ delle unvollständig: Da jede staatliche Politik notwendigerweise die kultu­ rellen Traditionen der Mehrheitsgesellschaft fördert, wird Mitgliedern kultu­ reller Minderheiten die ungestörte Ausübung bestimmter Praktiken (wenn auch zum Teil ungewollt) verwehrt. Alleine mit der Festlegung auf eine Amtssprache erschwert der Staat den Menschen, die diese Sprache nicht oder nur unzureichend beherrschen, die vollwertige Teilnahme am politi­ schen und öffentlichen Leben und kann somit einem wichtigen Anerken­ nungskriterium nicht gerecht werden.159 Konsequenterweise muss in Kymlickas Konzeption für dieses auf staatlicher Ebene entstandene Problem wiederum der Staat Abhilfe schaffen. Mit der Einrichtung von Sonderrech­ ten für Einwanderergruppen soll deren Anspruch auf staatliche Anerkennung ihrer differenten Identität Rechnung getragen werden. Darunter fallen für Kymlicka Anti-Diskriminierungsgesetze genauso wie die öffentliche Finan­ zierung von kulturellen Praktiken oder Ausnahmeregelungen für Gesetze, die beispielsweise die Ausübung religiöser Überzeugungen von Immigranten einschränken würden.160 Aber auch diese Sonderregelungen entsprechen grundsätzlich einer Vorstellung, die sich an der rechtlich-institutionellen Ausrichtung liberaler Staatsverständnisse orientiert. Der Fokus von Iris Marion Young, die sonst als scharfe Kritikerin libera­ ler Staats- und Rechtskonzeptionen auftritt, liegt ebenfalls auf dem Staat als primärer Quelle notwendiger Anerkennung. Da in liberalen Staaten Men­ schen mit differenten Identitäten aus verschiedenen strukturellen Gründen häufig unterdrückt werden, bedarf es ihr zufolge einer Abkehr von liberalen Prinzipien wie staatlicher Neutralität oder Differenzblindheit, um durch die positive Affirmation von Differenz politische Gerechtigkeit zu verwirkli­ chen.161 Ihre Pläne zur Realisierung dieser theoretischen Konstruktion be­ wegen sich jedoch nahe an den skizzierten Vorschlägen Kymlickas, wenn auch auf Gruppen jedweder Identität erweitert. Das bedeutet, Young behan­ delt trotz ihrer grundsätzlichen Ablehnung verteilungsbezogener Rechtszu­ weisungen den Staat als wesentlichen Akteur, wenn es um die angemessenen Maßnahmen zur Anerkennung unterdrückter Minderheitengruppen geht. Kymlicka 1999, S. 20–27. ebd. S. 23 ff. 160  Vgl. ebd. S. 30 f. 161  Vgl. dazu B. IV. 158  Vgl. 159  Vgl.

126

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Dementsprechend beziehen sich ihre Forderungen vor allem auf das klassi­ sche Mittel des Staates, um Anerkennung zu gewähren, nämlich gesetzlich festgelegte Regelungen. Diese reichen von der finanziellen Förderung der Selbstorganisation unterdrückter Gruppen über Ausnahmebestimmungen für Minderheiten bei bestimmten Gesetzen bis hin zur Einführung von Quoten in öffentlichen Arbeitsbereichen.162 Gerade diese Beispiele machen deutlich, wie stark Young trotz aller Kritik weiterhin auf den Staat fixiert bleibt: Dieser hat aus Gründen der Gerechtigkeit nicht nur dafür zu sorgen, dass Menschen mit differenten Identitäten von möglicherweise identitätshem­ menden Gesetzen unbeeinträchtigt bleiben, sondern er soll auch deren Zu­ gang zu öffentlichen Ämtern und Positionen durch einen direkten gesetz­ lichen Eingriff ermöglichen. So muss für Young durch staatliches Handeln politische Anerkennung im Sinne einer identitätsbezogenen Wertschätzung zumindest vorübergehend garantiert werden, um die Unterdrückungsmecha­ nismen zu verhindern, die sie der liberalen Staatskonstruktion allerdings als strukturell inhärent diagnostiziert. Vergleicht man diese Positionen nun mit den oben dargestellten Eckpfei­ lern der liberalen Theorie, lässt sich oberflächlich betrachtet kein großer Unterschied erkennen. Allerdings stellt sich die Frage, welche Formen der Anerkennung der Staat überhaupt bereitstellen kann. Wie bereits beschrie­ ben, bezieht sich die Kritik am liberalen Paradigma auf die Annahme, dass trotz der formell-rechtlichen Achtung gegenüber allen Bürgern, diejenigen, deren Identität sich von der Mehrheitsgesellschaft signifikant unterscheidet, aufgrund der mangelnden speziellen Wertschätzung ihrer Kultur, Religion oder sozialen Stellung benachteiligt werden. Wenn man jedoch diese Be­ reiche gewissermaßen dem Anerkennungsmonopol des Staates unterordnet, wie es Kymlicka und Young tun, übersieht man die grundsätzliche theore­ tische Dimension, die hinter dieser Problematik steht. Während liberale Vorstellungen persönliche und körperliche Eigenschaften der Individuen wie die kulturell-religiöse Überzeugung, die sexuelle Orientierung oder die Hautfarbe von öffentlichen politischen Zusammenhängen zumeist fernhalten möchten und als privat definieren, würde die institutionalisierte Anerken­ nung dieser Attribute das staatliche Engreifen in diese Sphäre bedeuten. Denn um angemessen Anerkennung gewähren zu können, müsste der Staat nicht nur genaue Daten zu Herkunft, Religionszugehörigkeit oder intimen Kontakten der Menschen sammeln, sondern würde diese zudem durch die 162  Vgl. Young 1990, S. 184  f. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass Young zusätzlich besondere Repräsentationsmechanis­ men in staatlichen Organen sowie die Möglichkeit von gruppenbezogenen Vetorech­ ten vorschlägt. Diese politischen Mittel, um Anerkennung zu gewähren, gehen über die rein rechtliche Form hinaus und sollen deswegen in C. III. 2. c) genauer behan­ delt werden.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung127

gesetzliche Registrierung veröffentlichen. Die ungarischen Philosophen Fe­ renc Fehér und Agnes Heller beschreiben am Beispiel dessen, was sie „Biopolitik“ nennen, die Gefahr, die sie damit verknüpfen. Die Konzentra­ tion auf die Gruppeneinteilung anhand körperlicher Merkmale (etwa Frauen oder people of color) und den damit verbundenen staatlichen Zugriff auf intime Details der individuellen Leben kritisieren sie mit harten Worten: „Eine totale Politisierung der Privatsphäre (und der ‚Intimsphäre‘) und da­ mit die praktische Verschmelzung des Privaten, des Intimen und des Öffent­ lichen würden dem Individuum auch noch den letzten Freiraum nehmen und das Leben zu einem Gefängnis oder zu einem KZ machen.“163 Auch wenn diese Formulierung etwas übertrieben erscheint, regt der Grundtenor der Aussage doch zur kritischen Überprüfung allzu leichtfertiger Anerkennungs­ forderungen an. Denn entweder werden die Eigenschaften, die dafür häufig herangezogen werden, durch staatliche Anerkennung aus ihrer schützenden Privatheit herausbefördert und ans Tageslicht der Öffentlichkeit gebracht. Oder man beschränkt sich auf die staatliche Anerkennung der Autonomie­ fähigkeit des Individuums, muss dann aber ganz im Sinne liberaler Konzep­ tionen weiterhin von differenten Identitäten soweit abstrahieren, dass ihr Inhalt gänzlich irrelevant bleibt. Nicht umsonst warnen Fehér und Heller davor, dass trotz formal bestehender demokratischer Institutionen ein Klima des Totalitarismus den öffentlichen Diskurs bestimmen kann, wenn indivi­ duelle Charakteristika zur anerkennungspolitischen Kategorie erhoben wer­ den und damit staatlich bestimmte Politik bis ins Intime hinein allgegenwär­ tig wird.164 Sie verweisen in diesem Zusammenhang mit Isiah Berlin auf eine wesentliche Errungenschaft der liberalen Tradition: die Möglichkeit, „frei von Politik zu sein, wenn wir es so wünschen.“165 Die normativen Schwierigkeiten einer solchen staatlich gewährten Aner­ kennung für Identitätsträger lassen sich an dem Beispiel von staatlichen Quotenregelungen illustrieren. Während in Deutschland Parteien und Uni­ versitäten bereits seit längerem bestimmte Kontingente für Mitglieder oder Angestellte weiblichen Geschlechts bereitstellen, wurde im Jahr 2012 die Debatte über die Frage, ob Frauen durch eine gesetzliche Quote der Zugang zu privilegierten Positionen in führenden Unternehmen erleichtert werden sollte, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit hitzig geführt. Dabei wurde die Diskussion zum einen durch das hohe Emotionalisierungspotenzial die­ ses Themas und zum anderen durch die wiederholte Vermischung verschie­ dener Argumentationsebenen erschwert. Dass Firmen mit vielen Frauen in der Führungsetage erfolgreicher arbeiten, kann beispielsweise argumenta­ Fehér/Heller 1995, S. 43. ebd. S. 51. 165  Ebd. S. 44. 163  Vgl. 164  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

tionslogisch nicht als Gegenargument für gerechtigkeitsbezogene Bedenken hinsichtlich der Gleichbehandlung von Mann und Frau vorgebracht werden. Rein ökonomische Gründe, die für die Mehrbeschäftigung von Frauen spre­ chen mögen, sollen deswegen im Folgenden vernachlässigt werden. Unge­ achtet dessen ist der Bezug zu den vorherigen theoretischen Überlegungen klar: Eine vormals private Eigenschaft – in diesem Fall das biologische Geschlecht – wird durch die staatliche Regelungsmaßnahme in den Rang eines politisch relevanten Charakteristikums erhoben. Gerechtfertigt wird dies zumeist mit zwei Arten von Begründungen: Entweder dient der Hin­ weis auf die vergangene Diskriminierung der Frauen in der Gesellschaft und auf dem öffentlichen und privatwirtschaftlichen Arbeitsmarkt als Basis für eine temporär angelegte Ungleichbehandlung durch Quoten, um die Be­ nachteiligung wieder auszugleichen. Die Bevorzugung durch Quotenrege­ lungen soll also demnach früheres Unrecht wiedergutmachen. Oder die ge­ genwärtige Verteilung der Positionen wird bezüglich des Geschlechterver­ hältnisses als ungerecht beurteilt und zielt damit auf die jetzige und zukünf­ tige Verfasstheit einer Gesellschaft ab.166 Das erste Argument zeigt noch einmal deutlich die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn Anerkennung auf Gruppen anhand eines geteilten Merkmals bezogen wird. Denn mit der gesetzlichen Bevorzugung von Frauen als Wiedergutmachung früheren Un­ rechts versucht der Gesetzgeber die vorangegangene strukturelle Diskrimi­ nierung, die alle Frauen als Gruppe gleichermaßen traf, bei heutigen Einzel­ fällen auszugleichen. Die weiblichen Individuen, die heute davon profitieren, haben in den allermeisten Fällen keinerlei Benachteiligung erfahren, wäh­ rend die Männer, die aufgrund dieser Regelungen nicht eingestellt werden, weder zur früheren Unterdrückung beigetragen noch sonst irgendetwas getan haben, was diese ungleiche Behandlung rechtfertigen würde.167 Aber auch das zweite Argument kämpft mit rechtfertigungslogischen Schwierigkeiten. Will man nämlich die Unterrepräsentation von Frauen in den politischen und privatwirtschaftlichen Führungsetagen als Ungerechtig­ keit bezeichnen, muss man zunächst, um eine plausible Argumentation zu verfolgen, das Merkmal des Geschlechts in den Rang einer politisch rele­ vanten Größe erheben. Denn nur wenn die biologische und soziale Verfasst­ heit des Individuums im öffentlichen Leben überhaupt eine Rolle spielt, kann eine kritische Gerechtigkeitskonzeption anhand solcher Kategorien den gegenwärtigen Gesellschaftszustand analysieren. Selbstverständlich existie­ ren Situationen, in denen dies passieren muss. Wenn Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung offen 166  Vgl. dazu Rössler, Beate: Quotierung und Gerechtigkeit: Ein Überblick über die Debatte, in: Rössler 1993, S. 16. 167  Vgl. ebd. S. 17 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung129

benachteiligt werden, ist es nicht nur die Aufgabe normativ-abstrakter Über­ legungen, sondern auch rechtlich-verbindlicher Maßnahmen, dagegen vor­ zugehen. Wenn allerdings durch eine generelle Quotierung den betroffenen Individuen keine Wahl mehr bleibt, ob sie ihre Geschlechtsidentität in der Öffentlichkeit verhandelt, oder sie als politisch irrelevante Privatsache sehen wollen, dann entsteht ein Problem, dass die Vereinbarkeit von liberal-demo­ kratischen Prinzipien mit solchen Quotenregelungen betrifft.168 Eine Frau kann sich so in der Verfolgung einer privatwirtschaftlichen Karriere nicht von Politik frei machen, nur weil sie durch Zufall bestimmte Geschlechts­ merkmale aufweist. Nun könnte man natürlich einwenden, dass diejenigen Männer (und womöglich Frauen), die die ungerechten Strukturen geschaffen und aufrechterhalten haben, das Geschlecht bereits zur politisch relevanten Eigenschaft gemacht haben und das Entgegenwirken durch staatlich durch­ gesetzte Quoten dieses Faktum nur aufgreift, nicht aber selbst erst kreiert. Während erstere Aussage sicherlich als plausible Analyse der gesellschaftli­ chen Umstände vergangener Jahrzehnte gelten kann, stellt sie doch keine belastbare Grundlage dar, um die Schlussfolgerung des zweiten Teils des Satzes zu ziehen. Die bloße Tatsache, dass frühere Generationen das Ge­ schlecht als Anlass zur Ungleichbehandlung genommen haben, liefert keine hinreichende Rechtfertigung, dies heute wieder zu tun. Im Gegenteil, die Bekräftigung der Relevanz dieses Merkmales kann zu einer weiteren Ver­ festigung der Sichtweise führen, dass die Eignung für bestimmte Positionen in Politik und Wirtschaft auch vom Geschlecht abhängt. Selbst die meisten Befürworter der Frauenquote lehnen aus diesen Gründen ständige Quoten ab und schränken ihre Forderungen dahingehend ein, dass die Benachteili­ gung von Frauen durch den staatlichen Eingriff nur temporär reguliert werden sollte, bis eine annähernde Gleichbehandlung hergestellt ist.169 Es zeigt sich also, dass eine Politik der Anerkennung, wenn sie sich auf den Staat als alleinige Quelle von Achtung beschränkt, entweder keinerlei signifikante Unterschiede zu liberalen Theorien aufweist, oder – durch die Wahl eines anderen Anerkennungsgegenstandes – sich zwar vom Liberalis­ mus abhebt, dadurch aber Probleme hinsichtlich der Selbst- und Fremd­ wahrnehmung der betroffenen Individuen generiert, die nicht zu unterschät­ zen sind. Es scheinen sich nun zwei alternative Betrachtungsweisen aufzu­ drängen: Entweder wird eine Entscheidung für eine der beiden Seiten nötig, um die jeweiligen politischen Maßnahmen angemessen rechtfertigen zu können, oder es entsteht ein Dilemma zwischen grundsätzlich legitimen Anerkennungsforderungen auf der einen und bewährten liberalen Gleich­ heitsvorstellungen auf der anderen Seite. Doch diese dualistische Sichtweise 168  Vgl. 169  Vgl.

dazu auch Appiah 2005, S. 110. dazu die verschiedenen Beiträge in Rössler 1993.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

entwickelt sich nur dann, wenn man den Anerkennungsbegriff eindimensio­ nal auf den Staat als Anerkennungsquelle konzipiert. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, können jedoch auch andere Instanzen politisch relevante Anerkennung gewähren. b) Gesellschaftliche Anerkennung Die gesellschaftliche Ebene der Anerkennung stellt sicherlich einen schwer abzugrenzenden Bereich dar. Da grundsätzlich jeder gesellschaftli­ che Akteur – ob Individuum, Gruppe oder Assoziation – als Spender von Wertschätzung in Frage kommt und dadurch gleichzeitig ein Netz von rezi­ proken intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen entsteht, gilt es, eine Vielzahl von sozialen Relationen im Auge zu behalten. Um trotz dieser Schwierigkeit dennoch den Versuch einer Analyse wagen zu können, muss zunächst klar sein, welche Anerkennungsformen und -geber für diese Di­ mension nicht als relevant erscheinen. Zum einen spielt der Staat mit seinen rechtlichen Möglichkeiten hier nur eine untergeordnete Rolle. Zwar muss dieser, um ein Mindestmaß an freier Interaktion innerhalb der Gesellschaft zu gewährleisten, einen rechtlichen Rahmen schaffen, der sowohl den Indi­ viduen bestimmte Grundrechte garantiert, als auch potenzielle materielle Ressourcen bereitstellt, die diese Grundrechte unterfüttern. Die eigentlichen Anerkennungsquellen stammen jedoch aus der Mitte der Gesellschaft und sind in ihrer Verteilung von Wertschätzung nicht primär auf rechtliche Maß­ nahmen angewiesen. Zum zweiten muss auch die Anerkennung, die sich auf politische Teilhabe bezieht, in diesem Abschnitt ausgeklammert werden. Ohne weiteres lässt sich die Möglichkeit gesellschaftlicher Anerkennungs­ beziehungen denken, ohne dass der Staat dazu notwendigerweise den Bür­ gern diskriminierungs- und barrierefreien Zugang zu ihrer Souveränitätsaus­ übung garantieren müsste oder die Bürger selbst dies ihren Mitbürgern zu­ gestehen würden. Anerkennungsbeziehungen, die im Zusammenhang mit politischem Engagement entstehen, sollen deswegen erst im nächsten Ab­ schnitt thematisiert werden. Drittens werden hier Vermittlungsformen von Anerkennung wie die traditionellen und neuen Medien ausgeklammert. Es wird davon ausgegangen, dass die Funktion dieser Kommunikationsträger darin besteht, die anerkennungsbezogene Sprache der gesellschaftlichen Kräfte möglichst unverändert zu transportieren und öffentlich zu machen. Dass dies eine vereinfachende Annahme darstellt, ist selbstverständlich. Dennoch kann durchaus argumentiert werden, dass der Anerkennungsimpuls in jedem Fall von Akteuren ausgeht, die sich ohne große Medienbindung in der Gesellschaft bewegen. Selbst wenn Massenmedien eigene politische Agenden verfolgen oder einflussreiche Gruppen diese dazu nutzen, ihre Interessen öffentlich zu befördern, braucht es doch Rezipientinnen, die da­



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung131

durch zu anerkennungsrelevanten Reaktionen angeregt werden. Und gerade bei den sozialen Medien zeigt sich eine wesentlich größere Fragmentierung der Anerkennungsbeziehungen, die weder alten Medienlogiken noch vorge­ fertigten Interessens- oder Meinungsartikulationen folgt, sondern die, zwar massenhaft geäußerte, aber doch individuelle Anerkennungs- oder Missach­ tungsbekundung in den Vordergrund stellt. Damit ist nun zwar der Analysegegenstand eingegrenzt, aber weiterhin zu abstrakt und unterbestimmt. Es stellt sich zunächst die Frage, welche gesell­ schaftlichen Anerkennungsquellen überhaupt unterschieden werden können. Eine erste offensichtliche Antwort darauf wäre: Die Individuen selbst erken­ nen im gesellschaftlichen Kontext andere Subjekte als Identitäts- und Leis­ tungsträger in irgendeiner Art und Weise an. Ob dies jedoch tatsächlich ge­ schieht, hängt im Wesentlichen von willkürlichen Faktoren ab. Da damit we­ der die Anerkennung der anderen als Personen, noch als teilhabeberechtigte Bürger gemeint sein kann, orientiert sich individuelle gesellschaftliche Wert­ schätzung zunächst an persönlichen Vorlieben und stellt so keine allgemeine, öffentlich-politische Form der Anerkennung dar. Je nach kultureller, sozialer oder persönlicher Neigung variiert beispielsweise die Bereitschaft, den her­ ausragenden Fußballspieler für seine Leistungen eher als die Künstlerin oder die öffentlich Intellektuelle anzuerkennen. Korrespondierend dazu kann kei­ ner dieser Akteure einen legitimen Anspruch auf die Wertschätzung seiner Arbeit durch zufällig bestimmte Mitglieder der Gesellschaft formulieren. Ähnlich verhält es sich mit der gesellschaftlichen Anerkennung von Be­ rufsgruppen. Auch hier verteilen Individuen ihre Achtung relativ willkürlich, wenn auch meist mit einer vagen und unvollständigen Vorstellung vom Gemeinwohlnutzen der Tätigkeiten begründet. Die Tatsache, dass Ärzte und Lehrerinnen in den Rankings beruflichen Ansehens häufig ganz vorne ste­ hen, während Politiker, deren Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Wohl sicher nicht geringer einzuschätzen ist, die hinteren Plätze einnehmen, mag dies verdeutlichen.170 Dennoch zeigt dieses Beispiel, dass Individuen als politische Anerkennungsquelle im gesellschaftlichen Kontext fungieren kön­ nen. Die Beurteilung der politischen Relevanz hängt allerdings vom Gegen­ stand ihrer Anerkennung ab. Wie gesehen scheint die Erbringung individu­ eller (Höchst-)Leistungen an sich dafür nur bedingt geeignet zu sein, da die Wertschätzung dieser je nach persönlichem Interesse sehr stark variieren kann. Als angemessener Kandidat für individuelle politische Anerkennungs­ gewährung kann dagegen ein Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Wohler­ gehen gelten. Während die individuellen Leistungen rein partikular ausge­ 170  Vgl. die Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2011, abrufbar unter: www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/prd_1102.pdf, Stand: 15.08. 2012.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

richtet sind, liegen hier Motivation, angestrebtes Ergebnis oder beides auf der Ebene des Gemeinwohls. Die berufliche Tätigkeit stellt dabei aber nur eine Möglichkeit dar, wie eine Person Anerkennung von anderen Mitglie­ dern der Gesellschaft erlangen kann. Im gleichen oder sogar noch stärkeren Maße, da von der Notwendigkeit der Unterhaltssicherung abgekoppelt, verlangt die freiwillige Ausübung eines Ehrenamts eine normative Reaktion der anderen als Individuen.171 Ähnlich ambivalent stellt sich die Situation dar, wenn der Blick auf Grup­ pen gerichtet wird, die sich aufgrund bestimmter geteilter Merkmale oder Eigenschaften selbst formieren oder von anderen durch Abgrenzung ge­ schaffen werden. Folgt man dem Modell von Iris Marion Young, die vor allem anhand der Kriterien der unfreiwilligen Zugehörigkeit, der geteilten Identität und dem geringen Institutionalisierungsgrad soziale Gruppen von Assoziationen unterscheidet172, dann lässt sich feststellen, dass damit Aner­ kennungskontexte entstehen, die für die Selbstachtung des Individuums hohe Signifikanz aufweisen. Besonders hinsichtlich der Anerkennung als Identitätsträger bieten soziale Gruppen den Rahmen, innerhalb dessen sich das Subjekt einem Mindestmaß an Anerkennung gewiss sein und deswegen ein gesundes Selbstverhältnis entwickeln kann. Es muss jedoch beachtet werden, dass entgegen der gängigen Stoßrichtung multikulturalistischer und identitätspolitischer Argumentationen Kultur und Religion mitnichten die gesamte Bandbreite solcher gruppenbezogenen Loyalitätsstrukturen abbilden können. Zwar spielen diese weltanschaulichen Hintergründe sicherlich eine große Rolle bei der Selbst- und Fremdverortung der Individuen im gesell­ schaftlichen Kontext, aber durch die beinahe ausschließliche Konzentration darauf geraten ebenso wichtige Faktoren aus dem Blick. Zum ersten darf die Signifikanz körperlicher Merkmale bei der Gruppenbildung nicht ver­ nachlässigt werden. Ob Hautfarbe, körperliche Beeinträchtigung oder sexu­ elle Orientierung – all diese identitätsrelevanten Charakteristika führen zur Ausbildung von lose verbundenen Gemeinschaften, innerhalb derer sich Anerkennungsbeziehungen entwickeln. Doch auch der alte Begriff der Klas­ se sollte hier nicht einfach außer Acht gelassen werden. Zwar hat sich na­ türlich die Sozialstruktur in der postmodernen Gesellschaft vielfältig ausdif­ ferenziert, aber die Klassenzugehörigkeit stellt weiterhin eine wesentliche Quelle individueller Identitätsentwicklung dar. Gesellschaftliche Anerken­ nung gegenüber anderen hängt demnach in nicht zu unterschätzender Weise von der sozialen Schicht ab, in der sich die Subjekte bewegen. Dabei 171  Vgl. dazu Heck, Alexander: Auf der Suche nach Anerkennung. Deutung, Be­ deutung, Ziele und Kontexte von Anerkennung im gesellschaftstheoretischen Dis­ kurs, Münster 2003, Kap. IV. 172  Vgl. Young 1990, S. 43 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung133

spielen nicht nur die Einkommensverhältnisse, sondern auch die Art der beruflichen Tätigkeit sowie der Bildungsgrad der Personen eine große Rol­ le. Häufig sind die Anerkennungsspender sogar eher in der Lage, Wertschät­ zung über kulturelle Grenzen hinweg zu gewähren, während soziale Bar­ rieren in dieser Hinsicht schwieriger zu überwinden sind. Die Dominanz schichtinterner Verbindungen im Bereich der freundschaftlichen und intimen Beziehungen ist nur ein lebensweltliches Beispiel, das diese These unter­ mauern kann.173 Schließlich darf trotz aller gebotenen Vorsicht auch die freie Entscheidung der Individuen in Bezug auf ihre Gruppenzugehörigkeit nicht unterschätzt werden. Persönliche Vorlieben für bestimmte Sportarten, Freizeitaktivitäten oder popkulturelle Phänomene generieren Gruppen, deren Zusammengehörigkeitsgefühl und Anerkennungspotenzial eine das Selbst­ verhältnis prägende Bedeutung haben kann. Pointiert ausgedrückt: Es ist durchaus möglich, dass zwei Fans eines Fußballclubs trotz bestehender kultureller, religiöser oder sozialer Differenzen ein stärkeres wechselseitiges Anerkennungsverhältnis ausbilden, als zwei in diesen Hinsichten relativ ähnliche Anhänger rivalisierender Vereine. Behält man diese Ausdifferenzie­ rung gruppenbezogener Anerkennungsstrukturen im Blick, ergeben sich nun Konsequenzen für die Einschätzung der Frage, ob damit auch politische Anerkennung gemeint sein kann. Denn obwohl die Protagonisten gesell­ schaftlicher Anerkennung ohne weiteres zu politischen Akteuren werden können, etwa wenn gruppenspezifische Rechte gefordert werden, spielten sich die bisher beschriebenen Phänomene zunächst auf einer subpolitischen Ebene ab. Weder beziehen sich die jeweiligen Gruppierungen als Anerken­ nungsquellen bei ihrer Wertschätzung auf politische Handlungen oder Iden­ titäten, noch bilden sie eine institutionalisierte, kollektive Handlungseinheit, die im politischen Prozess als solche wahrgenommen wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie zu letzterem nicht fähig wären. Auf diese Weise entstünde jedoch eine andere Form gesellschaftlicher Anerken­ nungsquellen, nämlich die oben bereits erwähnte Assoziation. Als Assoziati­ on kann eine Gruppe dann gelten, wenn ihre Mitglieder sich freiwillig und unter Verfolgung bestimmter Interessen zusammenschließen. Diese gebün­ delte Interessenvertretung kann zur teilweisen oder vollständigen Institutio­ nalisierung der Assoziation führen, muss dies jedoch nicht zwingend. Wäh­ rend etwa Gewerkschaften als politisches Organ der Lohnarbeiter in Deutsch­ land mittlerweile einen festen Platz im Institutionengefüge einnehmen, sind Umweltorganisationen und Nicht-Regierungsorganisationen wie Greenpeace oder Amnesty International häufig zwar in beratender Funktion bereits in po­ litische Prozesse eingebunden, aber nicht vollständig integriert. Gesellschaft­ 173  Vgl. dazu Teckenberg, Wolfgang: Wer heiratet wen? Sozialstruktur und Part­ nerwahl, Opladen 2000.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

liche Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker pflegen dagegen nur einen losen Kontakt mit staatlichen Behörden und arbeiten weitgehend selbstständig. Gemeinsam ist diesen Vereinigungen jedoch, dass sie in der Lage sind, Anerkennungsräume zu schaffen und als verteilende Akteure ge­ sellschaftlicher Anerkennung fungieren können. Durch vielfältige Instrumen­ te konstituieren sie also nicht nur eine Gemeinschaft, die ihren eigenen ­Angehörigen exklusive Anerkennung zuerkennt, sondern erweitern auch die Anerkennungsmöglichkeiten assoziationsexterner Gesellschaftsmitglieder enorm: Diese können sich aufgrund der Existenz der Assoziationen durch ein bestimmtes Verhalten, finanzielle Unterstützung oder aktives Engagement (für in diesem Fall häufig, aber nicht ausschließlich) partikulare Ziele in ihrer Eigenschaft als gesellschaftlich verantwortlich Handelnde anerkannt wissen. Wer von sich aus die Umwelt schützt, Bedürftigen spendet oder auf Demons­ trationen in Tarifkonflikten mitmarschiert, erhält die dementsprechende Wert­ schätzung der jeweiligen Assoziation und gewährt gleichzeitig selbst Aner­ kennung für Gleichgesinnte. Es entsteht also ein wechselseitiger Anerken­ nungsraum, der zur Verteilung sozialer Wertschätzung beiträgt. In der bisherigen Argumentation waren die Ziele und Werte, die durch Engagement Unterstützung erhalten, noch weitgehend partikularer Natur. Ein Blick in die Literatur zeigt jedoch, dass besonders die Wertschätzung aufgrund eines wie auch immer gearteten gemeinwohlorientierten Handelns als relevant für die gesellschaftliche Dimension der Anerkennung gelten kann.174 Dementsprechend muss ehrenamtliche Arbeit sicherlich als die klassische Verkörperung einer gesamtgesellschaftlichen Anerkennungsrela­ tion bezeichnet werden. Denn mit dem damit verbundenen Einsatz für das Gemeinwohl entsteht nicht nur die Möglichkeit für Individuen, den eigenen Lebensplan auf die Bedürfnisse anderer abzustimmen und damit Selbst­ schätzung zu erlangen, sondern es bildet sich auch ein gesellschaftliches Solidaritätsnetz, das Anerkennung an die Menschen verteilt. Alexander Heck, der unter dem Begriff „Intermediäres Engagement“ ehrenamtliche Arbeit und politisch-bürgerschaftliche Aktivität zusammenfasst, beschreibt dies folgendermaßen: „Intermediäre Engagements haben eine integrierende Funktion, weil sie kohäsive Kraft hinsichtlich des Selbst und seiner Identi­ tät in Form von Selbstachtung sowie hinsichtlich der Gesellschaft in Form von Solidarität besitzen bzw. erzeugen helfen.“175 Für Heck bewegt sich dieses Engagement genau an der Schnittstelle zwischen Staat, Markt und Gesellschaft und kann auf das Konzept der Zivilgesellschaft zurückgeführt werden. Damit ist meist im weitesten Sinne ein öffentlicher Raum gemeint, 174  Vgl. etwa Honneth 1994, 209  f., Ikäheimo/Laitinen 2010 oder Schmidt am Busch 2011, S. 45 f. 175  Heck 2003, S. 329.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung135

der durch Verbände, Vereine und sonstige Zusammenschlüsse konstituiert wird und eine Vermittlerrolle zwischen staatlichen Organen, marktwirt­ schaftlichen Mechanismen und gesellschaftlichen sowie individuellen An­ sprüchen einnimmt. Gerade in Zeiten immer stärkeren Sozialabbaus kommt dieser Sphäre laut Heck eine Schlüsselrolle zu: Während durch offizielle Ämter und Institutionen zwar die Grundsicherung gewährleistet wird, sind weitergehende Formen der Selbst- und Fremdhilfe nur über ehrenamtliches Engagement zu erreichen.176 Entscheidend dabei ist nun, dass dadurch er­ gänzend zur staatlich verteilten Anerkennung sowohl Anerkennung in Form von Hilfe für Bedürftige, als auch die gesellschaftliche Wertschätzung für Beiträge zum Gemeinwohl hinzukommen. Somit entsteht eine Vielzahl von wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft, die staatliche und marktwirtschaftliche „Versorgungslücken“ schließen kön­ nen.177 Das klassische Ehrenamt spielt dabei eine wesentliche Rolle. So sorgen beispielsweise Sportvereine für die flächendeckende Bewegungs­ erziehung von Kindern ohne kommerzielle Interessen, Selbsthilfegruppen bieten Menschen in Not eine unentgeltliche Möglichkeit zur Linderung ihrer Probleme und Kulturvereine versuchen, zwischen Gesellschaftsmitgliedern mit differenten Identitäten zu vermitteln. Die Wahl der Beispiele zeigt au­ ßerdem, dass sich diese Form der gesellschaftlichen Wertschätzung von staatlichen Anerkennungsprozessen abhebt, indem sie sich vor allem an immateriellen Anerkennungsansprüchen der Individuen orientiert, während die materielle und rechtliche „Anerkennungsversorgung“ weiterhin durch den Staat geleistet wird. Für Heck lässt sich deswegen ein uneingeschränkt positives Fazit hinsichtlich der Konsequenzen ehrenamtlicher und bürger­ schaftlicher Aktivitäten ziehen: „Intermediäres Engagement besitzt eine insgesamt stabilisierende, dem Selbst gegenüber eine identitätsunterstützen­ de und dem Gemeinwesen gegenüber eine integrative Funktion.“178 Allerdings darf ein möglicher Einwand nicht ausgespart werden: Wenn sich die für Selbstachtung und Persönlichkeitsentwicklung so wichtige Aner­ kennung an dem bemisst, was ein gesamtgesellschaftlicher Konsens als ge­ meinwohlfördernd definiert, bleiben alternative Formen unentgeltlicher Tä­ tigkeiten möglicherweise unbemerkt. Heck weist selbst auf dieses Problem hin: „Der Anerkennungsprozess der Ehre und der darin zum Ausdruck kom­ mende Wunsch nach sozialer Wertschätzung ist in seiner Realisation und in seiner inhaltlichen Ausgestaltung von dem jeweils gegebenen, intersubjektiv geteilten Wertehorizont der Gesellschaft abhängig.“179 Das Ausmaß dieser 176  Vgl.

ebd. S. 327 f. u. S. 333 f. ebd. S. 343 f. u. S. 351. 178  Ebd. S. 392. 179  Ebd. S. 366. 177  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Tatsache zeigt sich beispielsweise in der Debatte, wie mit Müttern oder Vä­ tern umgegangen werden sollte, die zugunsten der Kindererziehung auf eine Arbeitsstelle verzichten. Trotz der mit guten Gründen anzunehmenden ge­ samtgesellschaftlichen Nützlichkeit dieser Aktivität wendet sich das öffent­ liche Bewusstsein erst nach und nach dieser Problematik zu. Zudem bleibt die Debatte meist auf finanzielle Aspekte beschränkt, ohne die symbolische Ebene der Wertschätzung zu berücksichtigen. Auch der Umgang mit Men­ schen, die ihre Angehörigen im Alter pflegen und damit staatliche Pflegekas­ sen massiv entlasten, folgt diesem Schema. Wenn überhaupt, wird über ma­ terielle Kompensationen nachgedacht, während gesellschaftlich anerkennen­ de Maßnahmen, die den Betroffenen häufig genauso wichtig wären, ausblei­ ben. Es scheint jedoch, als ob dieses Problem schwer zu lösen sei: Zwar kann der Staat bestimmte Impulse und Anreize zur Beeinflussung gesell­ schaftlicher Meinungen setzen, aber ein Bewusstseins- und Mentalitätswan­ del hängt von so vielen Faktoren ab, dass einseitiger Druck nicht unbedingt erfolgsversprechend sein muss. Zudem geht es hier vor allem um gesell­ schaftliche Anerkennungsbeziehungen, die per definitionem den einzelnen Mitgliedern nicht staatlich aufgezwungen werden können. Dennoch gibt der Blick auf verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland über die letzten Jahrzehnte Anlass zum Optimismus. Anscheinend vermögen ge­ zielte Anstöße einer politischen Debatte durchaus tieferliegende Einstellun­ gen in der Mehrheitsbevölkerung zu verändern. Beispielhaft dafür zu nennen wären kontroverse Themen wie Immigration und Integration, Gleichbehand­ lung von homosexuellen Paaren oder Sterbehilfe. Dies funktioniert jedoch nicht ohne die ständige Rückversicherung in politischen Prozessen. Denn um einerseits die Institutionalisierung bestimmter Ansichten zu erreichen und andererseits dabei gleichberechtigte Partizipation zu erhalten, ist bürger­ schaftliches Engagement unerlässlich. Nicht ohne Grund sieht Heck klassi­ sches Ehrenamt und politisches Engagement außerhalb der gängigen Institu­ tionen als eng verzahntes Geflecht an, das als Gesamtheit zum Aufbau von wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen in einer Gesellschaft beitragen kann.180 Hier soll im Folgenden jedoch dem bürgerschaftlichen Engagement ein eigener Abschnitt gewidmet werden, um dessen Relevanz für die politi­ sche Dimension von Anerkennung gesondert herauszuarbeiten. c) Bürgerschaftliche Anerkennung Wie oben bereits erwähnt befindet sich der Komplex „Intermediäres En­ gagement“ an der Schnittstelle zwischen staatlicher, marktwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Keine der drei Sphären scheint alleine 180  Vgl.

ebd. S. 333 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung137

in der Lage zu sein, politische Anerkennungsforderungen der Mitglieder eines politischen Verbundes angemessen zu beantworten. Während staatli­ che Stellen nur begrenzte Mittel der Anerkennungsverteilung zur Verfügung haben und der Markt zwar den monetären Wert, nicht aber den gesellschaft­ lichen Nutzen einer Tätigkeit ermitteln kann, fehlt der gesellschaftlichen Wertschätzung häufig die rechtlich-institutionelle Fundierung für ihre volle Entfaltung. Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten der einzelnen Bereiche und ihrer mangelnden Vernetzung entstehen ohne die Vermittlung eines weiteren Handlungsraumes Anerkennungsdefizite. Ein mögliches Beispiel hierfür sind Sozialhilfeempfänger, deren Rechtsanspruch auf Unterstützung zwar staatlich anerkannt wird, die aber häufig aufgrund von leistungsorientierten Einstellungen an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Doch welche Dimension der Anerkennung wäre geeignet, um diese Effekte zu verhindern oder wenigstens abzumildern? Hier soll im Folgenden die These vertreten werden, dass besonders das bürgerschaftliche Engagement für politische Ziele und Werte in der Lage ist, Räume zu schaffen, in denen die Kombination von staatlicher, marktwirtschaftlicher, gesellschaftlicher und eben politischer Anerkennung gelingen kann. Durch die Konstitution einer solchen Sphäre können nämlich nicht nur rein rechtliche und materi­ elle Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder adäquater behandelt, sondern auch partizipatorische Ansprüche, die politische Teilhabe und Mitgestaltung beinhalten, inkludiert werden. Der erste Schritt für diese Entwicklung hängt mit einer zumindest teil­ weisen Entstaatlichung der Politik zusammen. Denn wie gesehen vermag rein staatliche Politik es nicht, die Anerkennungsbedürfnisse der Bürger vollständig zu befriedigen, auch und gerade dann nicht, wenn dahinter die Motivation zur politischen Teilhabe steht. Die regelmäßige Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen, wie sie eine repräsentative Demokratie vor­ sieht, scheint immer weniger den Mitgestaltungsansprüchen der Bürger zu genügen. So entsteht etwas, das man vielleicht als „doppelte Anerken­ nungslücke“ bezeichnen könnte: Zwar bestehen weiterhin partizipatorische Mechanismen, die den Mitgliedern einer demokratischen Ordnung formale politische Anerkennung zukommen lassen, aber die Funktion letzterer als aktive und souveräne Mitgesetzgeber scheint dennoch geschwächt zu sein. Zugleich mangelt es in der Bürgerschaft an Anerkennung der Mitbürger als legitime Urheber von rechtlichen und sozialen Ansprüchen, wenn diese nur als Schemata staatlicher Verteilung gedacht werden. Ein Umstand, der besonders zu Krisenerscheinungen in modernen Demokratien beiträgt, da dadurch Fragmentierungstendenzen innerhalb einer Gesellschaft gestärkt werden. Diese Lücke kann nun das bürgerschaftliche Engagement füllen, wenn damit ein Instrument geschaffen wird, das zwischen Staat und dessen Re­

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

präsentanten sowie politisch aktiven Bürgern vermittelt. Das heißt jedoch nicht unbedingt, dass dieses Ziel bewusst verfolgt werden muss, denn die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement speist sich aus vielen ver­ schiedenen Motivationslagen: Individuelles Interesse auf lokaler Ebene, gemeinwohlorientierter Einsatz für höhere Werte oder die Schaffung von politischem Gestaltungsraum können beispielsweise dazugehören.181 Ent­ scheidend für die Konstitution eines politischen Anerkennungsraumes ist jedoch ein Ziel, das all diesen Aktionsformen gemeinsam sein sollte und von Alexander Heck so formuliert wird: „Ein wichtiges wertebezogenes Merkmal in der Idee bürgerschaftlichen Engagements ist der Umstand, dass sich jedes Subjekt als wertvoll hinsichtlich seiner Leistungen und Fähigkei­ ten für die Gesellschaft erfahren können sollte.“182 Es handelt sich also um eine Form der politischen Wertschätzung, die von Staat und Gesellschaft gewährt wird. Denn um diese zu verwirklichen, sind diese Sphären beson­ ders gefordert: Nur wenn die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliche Partizipation durch deren Vertreter so gestaltet werden, dass die handelnden Akteure sich in ihrem Engagement anerkannt wissen, lässt sich hier von einer sinnvollen Ergänzung der Politik durch einen weiteren Anerkennungs­ raum sprechen. Mitglieder einer Bürgerinitiative beispielsweise, die gegen den Bau einer neuen Startbahn für den lokalen Flughafen demonstrieren, werden kaum ihr politisches Anerkennungsbedürfnis als befriedigt bezeich­ nen, wenn ihre Bedenken in den Planungsgremien ungehört übergangen werden. Genauso schlägt die Suche nach Anerkennung von Aktivisten für ein besseres Asylrecht fehl, wenn ihnen von weiten Teilen der Gesellschaft mangelndes Problembewusstsein entgegengebracht wird. Der Vorteil dieser bürgerschaftlichen Bewegungen ist jedoch, nicht aus­ schließlich auf die Anerkennung offizieller Stellen angewiesen zu sein: Sie produzieren nämlich aus sich heraus Anerkennung, die die engagierten Mitglieder und Sympathisanten sich wechselseitig entgegenbringen. Durch die gemeinsame politische Aktivität können identitäre Differenzen, die zu­ vor noch die gegenseitige Wertschätzung erschwert haben, in den Hinter­ grund treten und Platz für eine Art der Kooperation schaffen, die auf der Basis gemeinsamer Interessen operiert, aber im Zuge dessen einen dynami­ schen Anerkennungsraum konstituiert. Denn Unterschiede in körperlicher, kultureller oder sozialer Identität werden in der Anerkennungspraxis dann irrelevant, wenn die betroffenen Personen gemeinsam politisch handeln. In der Bürgerinitiative zur Verhinderung einer neuen Startbahn des Flughafens können beispielsweise Muslime und Christen, denen sonst aufgrund ihrer verschiedenen religiösen Weltbilder und kulturellen Traditionen die rezipro­ 181  Vgl.

182  Ebd.

ebd. S. 371. S. 374.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung139

ke Anerkennung schwerfällt, zu einer Art der politischen Zusammenarbeit finden, durch die dem Mitstreiter notwendigerweise Anerkennung zuteil­ wird. Notwendigerweise deshalb, weil die erfolgsorientierte Kooperation im politischen Zusammenhang, also das gemeinsame Verfolgen eines politi­ schen Ziels, jeden Partizipanten gewissermaßen dazu nötigt, den Anderen ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenzubringen und ihnen die Fähigkeit einzuräumen, politische Urteile fällen sowie legitime Ansprüche stellen zu können. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Anerkennung der Anderen als politische Personen, die zur Partizipation berechtigt sind. In einem weiteren Sinne könnte man sogar von der Konstitution eines politischen Anerken­ nungsraumes sprechen, wenn sich zwei Initiativen mit gegensätzlichen Zielen gegenüberstehen, da der freiwillige Eintritt in den geregelten politi­ schen Wettbewerb bereits voraussetzt, die Berechtigung des Kontrahenten, politische Ansprüche stellen zu dürfen, anzuerkennen. Heck bezeichnet bürgerschaftliches Engagement aus diesen Gründen zu Recht als „Praxisfeld wechselseitiger Anerkennung.“183 Man könnte nun einwenden, die üblichen Partizipationsmechanismen freiheitlicher Ordnungen, namentlich Wahlen und Abstimmungen, würden bereits die skizzierten Wirkungen hinsichtlich der bürgerschaftlichen Aner­ kennung besitzen. Schließlich bedeutet auch hier die geregelte Teilnahme am politischen Prozess das stillschweigende Einverständnis mit der Annah­ me, alle Bürger besäßen gleichermaßen das Recht, ihre politischen Interes­ sen zu verfolgen. Zudem könnte man auch die traditionelle Parteiarbeit als Konstitution eines Anerkennungsraumes deuten, da hier genauso Personen mit verschiedenen Identitäten zusammenkommen, um gemeinsam politische Ziele zu verfolgen. Diese Einwände haben sicherlich ihre Berechtigung: Auch demokratische Institutionen sind in der Lage, politische Anerkennung zu verteilen. Ein Verzicht auf diese Mechanismen wäre kaum förderlich für die gesamte politische Anerkennungssphäre. Dennoch bedarf es einer Er­ gänzung durch bürgerschaftliche Partizipation, um Anerkennungslücken zu schließen. Diese alternativen Formen der Mitbestimmung besitzen dabei drei wichtige Alleinstellungsmerkmale gegenüber formaler Teilhabe: Erstens findet die Kooperation hier auf einer Ebene statt, die zumeist auf persönli­ chen Beziehungen der Handelnden basiert. Die körperliche und geistige Nähe der Engagierten vereinfacht die Bildung reziproker Anerkennungsre­ lationen enorm. Zweitens bilden sich beim lokalen Engagement für speziel­ le Anliegen häufig Allianzen, die in klassischen politischen Prozessen so nicht vorkommen. Wie bereits angedeutet, kann beispielsweise die Opposi­ tion zu bestimmten Bauprojekten Menschen zusammenbringen, die große Unterschiede hinsichtlich ihrer Herkunft, Kultur oder sozialen Stellung 183  Ebd.

S. 386.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

aufweisen. Drittens und vielleicht am wichtigsten: Im Gegensatz zu den meisten Wahlen ist bürgerschaftliches Engagement nicht unbedingt an den Besitz der jeweiligen Staatsbürgerschaft des Landes gebunden. Auch Men­ schen mit einem ausländischen Pass können so am politischen Prozess teilnehmen, ihre Interessen artikulieren und sich damit als anerkannt erfah­ ren. Der Beitrag, den bürgerschaftliches Engagement in Form von politi­ scher Aktivität zur sozialen und kulturellen Integration eines Landes leistet, ist deswegen nicht zu unterschätzen.184 Bereits vor der offiziellen rechtli­ chen Anerkennung durch den Staat und seine Organe kann so ein Anerken­ nungsraum entstehen, in dem Menschen mit differenten Identitäten politi­ sche Wertschätzung erhalten. Als Beispiel für eine gelungene Zwischenform traditioneller demokrati­ scher Institutionen und neuer bürgerschaftlicher Anerkennung kann das in einigen europäischen Ländern bestehende kommunale Wahlrecht für NichtStaatsbürger gelten. Während Angehörige der Europäischen Union (EU) bereits in allen anderen EU-Ländern über das aktive und passive Wahlrecht in Kommunal- und Europawahlen verfügen185, gehen einige Staaten wie Schweden, Dänemark oder die Niederlande noch weiter und gewähren auch Menschen aus Drittstaaten lokale Partizipationsmöglichkeiten.186 Die tradi­ tionelle Verbindung von Staatsbürgerschaft und Wahlrecht wird hier also zumindest auf kommunaler Ebene zu Gunsten stärkerer Integration und größerer Anerkennung aufgegeben. Denn es ist zum einen unschwer zu er­ kennen, dass die staatliche und gesellschaftliche Bereitschaft, im Land le­ benden Ausländerinnen politische Mitsprache einzuräumen, diesen bürger­ schaftliche Anerkennung zuspricht, die das klassische Staatsbürgerprinzip nicht bereitstellen kann. Menschen mit differenten Identitäten können sich so ohne Zuhilfenahme von Sonderrechten politisch geachtet fühlen. Zum anderen, so das Argument der Befürworterinnen, führt genau diese Art der Anerkennung zu einem höheren Maß an Integration von Migranten, da diese so nicht nur für den politischen Diskurs ihres Gastlandes sensibilisiert werden, sondern sogar direkt in das politische Geschehen eingreifen dürfen. Die aktive souveräne Selbstbestimmung, von der theoretisch häufig die Rede ist, wird hier praktisch umgesetzt.187 184  Vgl.

ebd. S. 389 f. dazu Artikel 22 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, abgerufen unter: http://dejure.org/gesetze/AEUV/22.html, Stand: 13.09.2012. 186  Vgl. Benhabib, Seyla: Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a. M. 2008, S. 153 f. 187  Vgl. zur wohl gelungenen Praxis in Amsterdam Tillie, Jean/Slijper, Boris: Immigrant political integration and ethnic civic communities in Amsterdam, in: Ben­ habib, Seyla/Shapiro, Ian/Petranović, Danilo (Hrsg.): Identities, affiliations, and al­ legiances, Cambridge 2007, S. 206–225. 185  Vgl.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung141

Auch wenn das Thema derzeit in kaum einem Land auf der aktuellen politischen Agenda steht, wird durchaus von einigen Kommentator_innen die Auffassung vertreten, ein allgemeines Wahlrecht für Ausländer wäre auch für nationale Parlamente geboten. Robert van Ooyen plädiert beispiels­ weise für eine Revision der traditionellen Sichtweise des „Staatsvolkes“, die seiner Ansicht nach auf unzulässige Art und Weise den Begriff des Volkes mit der Vorstellung einheitlicher nationaler Gleichheit verbindet.188 Der politische Status der Mitglieder einer Gesellschaft müsste van Ooyen zufol­ ge, orientiert an den Ideen des Verfassungsrechtlers Hans Kelsen, anhand der Zugehörigkeit zu einem Rechtsgebiet bestimmt werden. Nicht die Ab­ stammung, der Geburtsort oder sonstige kontingente Merkmale sollen also über die Möglichkeit zur politischen Teilhabe entscheiden, sondern alleine die Bereitschaft, sich den geltenden Gesetzen zu unterwerfen: „Der politische Status des Bürgers in der Gesellschaft wird folglich durch die Normunterwerfung konstituiert: Muss man dauerhaft die Gesetze eines Landes befolgen, dann ist man nach dieser normativen Staatstheorie natürlich auch Bür­ gerin oder Bürger des Landes, also Inländer. […] Bürgerschaft entsteht durch oder ist Rechtsgenossenschaft.“189

Gleichheit wird für van Ooyen dementsprechend nicht durch Nationalität bestimmt, sondern entwickelt sich aus der Freiheit aller, unter dem selbst­ gegebenen Gesetz zusammenzuleben. Das umfassende Wahlrecht für alle Mitglieder dieser Rechtsgemeinschaft ist dabei nur der Ausdruck dieser Freiheit.190 Eine ähnliche Argumentation vertreten Robin Celikates und Hilal Sezgin in einem ZEIT-Artikel aus dem Jahr 2009. Da politische Herrschaft nur dann legitim ist, so ihre an Rousseau angelehnte Formulierung des „Kern[s] jeder normativen Demokratietheorie“191, wenn die Menschen diese in voller Souveränität selbst ausüben, scheint ein Land, in dem fünf Millionen Aus­ länder_innen an der politischen Partizipation durch Wahlen gehindert wer­ den, keine rechtmäßigen staatlichen Hoheitsbefugnisse sein eigen nennen zu können. Auch der Hinweis auf die Verbindung von Staatsbürgerschaft und Wahlrecht überzeugt Celikates und Sezgin nicht: Denn wer sich den gelten­ den Gesetzen unterwirft und damit seine Zustimmung signalisiert, muss an 188  Vgl. van Ooyen, Robert Chr.: Nicht Integration, sondern Partizipation: das Ausländerwahlrecht als Menschenrecht einer liberalen Theorie des Staatsvolks, in: Internationale Politik und Gesellschaft 1/2011, S. 137. 189  Ebd. S. 139. 190  Vgl. ebd. S. 139 f. 191  Vgl. Celikates, Robin/Sezgin, Hilal: Freie Wahl für freie Mitbürger. Erst wenn auch die hier lebenden Ausländer wählen dürfen, darf sich Deutschland eine Demo­ kratie nennen, in: Die ZEIT 26/2009, abgerufen unter: www.zeit.de/2009/26/OpEd, S. 1, Stand: 17.09.2012.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

ihrem Zustandekommen teilhaben, um als politisch frei gelten zu können.192 Deutschland, genauso wie alle anderen sogenannten westlichen Demokrati­ en mit Ausnahme von Island, kann in der Konsequenz dieser Argumentation laut Celikates und Sezgin nicht als voll demokratisch bezeichnet werden. Die Exklusion eines beträchtlichen Anteils der Bevölkerung von dem wich­ tigsten politischen Partizipationsmechanismus verhindert dies: „[Das Wahl­ recht] ist das Grundrecht eines jeden, der auf dem Gebiet eines nichtauto­ ritären Staates lebt. Und allein der ungehinderte Zugang der gesamten Be­ völkerung zu diesem Grundrecht erlaubt dem Staat, sich eine Demokratie, und seinen Bürgern, sich frei zu nennen.“193 Nicht nur der Unwille oder die Unfähigkeit politischer Parteien, diese Überlegungen politisch durchzusetzen, sondern auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss für das Fehlen einer solchen Wahlrechts­ regelung verantwortlich gemacht werden. Im Jahr 1990, also noch vor der europaweiten Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürgerinnen, entschieden die Richter, dass eine Gesetzesinitiative zur Einführung des Ausländerwahlrechts auf kommunaler Ebene in Schleswig-Holstein als ver­ fassungswidrig einzustufen sei, da die Trennung „zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt“ vom Grundgesetz nicht abgedeckt würde.194 Allerdings ver­ wiesen sie in der Urteilsbegründung auf die alternative Möglichkeit, den Zugang für ansässige Ausländer zur deutschen Staatsbürgerschaft zu erleich­ tern, was im Jahr 2000 durch die rot-grüne Bundesregierung auf den Weg gebracht wurde. Damit wurde zwar das recht rigorose und häufig kontrain­ tuitive Prinzip der Abstammung zu Gunsten eines liberaleren, am Geburtsort orientierten Staatsbürgerschaftsrechts ersetzt, aber die Pflicht, sich für die Zugehörigkeit zu einem Land zu entscheiden, anstatt eine doppelte Staats­ bürgerschaft zu erlauben, besteht weiterhin.195 Der Mangel an Anerkennung, der durch die in der Gesellschaft weiter bestehenden Vorurteile gegenüber Ausländern besteht, kann somit in Deutschland auf politischer Ebene nur unzureichend ausgeglichen werden. Eine Regelung, die den im Land leben­ den Nicht-Staatsangehörigen die Wahl ermöglichen würde, könnte nicht nur Gerechtigkeitsdefizite in der Behandlung von Ausländern, die von wichtigen 192  Vgl.

ebd. S. 2. S. 3. 194  van Ooyen 2011, S. 139 f. 195  Vgl. ebd. S. 141. Diese Regelung scheint jedoch in Kürze dahingehend geän­ dert zu werden, dass für bestimmte Menschen ausländischer Herkunft die Options­ pflicht abgeschafft wird. Dafür müssen jedoch Voraussetzungen wie der achtjährige Aufenthalt in Deutschland erfüllt werden. Die vollständige Beseitigung des Ent­ scheidungszwangs wird also wohl nicht erfolgen. Vgl. dazu www.tagesschau.de/ inland/doppelte-staatsbuergerschaft100.html, Stand: 08.04.2014. 193  Ebd.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung143

staatsbürgerlichen Pflichten wie dem Steuerzahlen oder dem Gehorsam ge­ genüber den gesetzlichen Bestimmungen durchaus betroffen sind, eliminie­ ren, sondern auch deren Partizipationsbereitschaft am politischen System ihres Gastlandes steigern und damit zu einer größeren Inklusivität führen. Unabhängig von der sicherlich diskussionswürdigen Frage, ob der demokra­ tische Status des deutschen Staates durch das Fehlen einer solchen Bestim­ mung essentiell beschädigt wird, wäre damit zumindest ein wichtiger Schritt zur politisch-bürgerschaftlichen Anerkennung von Mitgliedern der Gesell­ schaft mit differenten Identitäten erreicht. 3. Anerkennungsmittel – Rechte, Verteilung, Wertschätzung Es sollte nun deutlich geworden sein, dass politische Anerkennung auch hinsichtlich der jeweiligen Spender in mehreren Dimensionen stattfindet und sich je nach Ebene ihr Fokus und ihre Konsequenzen stark verändern können. Für die politiktheoretische Beschäftigung mit diesem Konzept er­ gibt sich daraus die Notwendigkeit einer möglichst exakten Einordung, da andernfalls unklar bleibt, auf welcher Begriffsebene man sich gerade bewegt und dadurch Missverständnisse entstehen können. Dies darf jedoch gerade dann nicht passieren, wenn hierbei zusätzlich normative Schlussfolgerungen gezogen werden sollen. Um der Gefahr einer solchen Ungenauigkeit entge­ genzuwirken, gilt es im Folgenden noch herauszuarbeiten, welche Mittel im politischen Prozess zur Verfügung stehen, um Anerkennung auszudrücken. Denn auch diese unterscheiden sich je nach Art und Quelle der in Frage kommenden Wertschätzung. Die erste und gängigste Möglichkeit, politische Anerkennung auszudrü­ cken, besteht in der Zuteilung von bestimmten Rechten und korrespondiert damit zumeist mit der ersten Anerkennungsquelle, dem Staat. Denn norma­ lerweise müssen Grund- und Bürgerrechte staatlich garantiert werden, um eine Basis für alle weiteren Formen von politischer Anerkennung zu schaf­ fen. Allerdings benötigt die rechtebezogene Wertschätzung mehr als bloße Sicherung durch den Staat: Ohne die wechselseitige Anerkennung inner­ halb der Bürgerschaft, bei der jedes Mitglied die Anderen als Rechtsper­ sonen sieht, deren grundlegenden Freiheits- und Gerechtigkeitsbedürfnisse Legitimität beanspruchen können, wird eine nur staatlich gewährte Rechts­ sicherheit nicht ausreichen. Des Weiteren sollte nach Adressat und Art der Rechte unterschieden werden. Während individuelle Grundrechte, die allen Angehörigen einer politischen Ordnung gleichermaßen zukommen, die klassische Form liberaler Anerkennung durch den Staat darstellen, werden, wie in Abschnitt B gezeigt, mittlerweile Forderungen nach speziellen Gruppenrechten laut, die sowohl in Reichweite als auch in Inhalt partiku­ larer Natur sind. Besonders im Fokus wird dabei die Frage stehen, welche

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Arten von Entitäten überhaupt plausibel als Rechtsträger bezeichnet wer­ den können. Eine zweite Form der politischen Anerkennungsgewährung scheint die Verteilung von materiellen Gütern darzustellen. Auch hier gibt es in einem freiheitlichen System verschiedene Quellen, die an der Distribution beteiligt sind, allen voran der Markt und der Sozialstaat. Die Frage allerdings, inwie­ fern Verteilung als angemessener Ersatz bzw. nötige Ergänzung für andere Anerkennungsformen gelten kann oder vielleicht sogar eine unabhängige Gerechtigkeitssphäre darstellt, die mit Anerkennung wenig zu tun hat, muss gesondert betrachtet werden. Drittens lässt sich politische Anerkennung durch Formen sozialer Wert­ schätzung, die meist symbolische Gestalt annehmen, ausdrücken. Damit sind vor allem öffentliche Ehrbekundungen gemeint, die anhand der ver­ schiedenen Anerkennungsgegenstände gegenüber Mitgliedern der Gesell­ schaft ausgesprochen werden und keine unmittelbaren rechtlichen oder materiellen Vorteile mit sich bringen. In der Praxis können solche Maßnah­ men in den verschiedensten politikrelevanten Sphären stattfinden: Die un­ verbindliche Anhörung betroffener Gruppen bei bestimmten Gesetzgebungs­ prozessen gehört genauso dazu wie die öffentliche Würdigung ehrenamtli­ cher Kräfte oder die sprachsymbolische Inklusion kultureller Minderheiten. a) Rechte als „Währung“ der Anerkennung Der wohl wichtigste Ausdruck von politischer Anerkennung gegenüber Individuen besteht in der verfassungsmäßigen Garantie bestimmter Grundund Freiheitsrechte.196 Den Mitgliedern einer politischen Ordnung wird so versichert, dass sie offiziell als unabhängige Urheber von moralischen und politischen Ansprüchen anerkannt werden und mit der Erfüllung grundle­ gender Bedürfnisse rechnen können. Susanne Boshammer formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Rechte bringen die Anerkanntheit ihrer Träger als Mitglieder der Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck […].“197 Dabei spielt der Staat eine wesentliche Rolle: Ohne dessen Anerkennung, Schutz und Durchsetzungsgewalt bleiben diese Rechte wirkungslos, da ihre Verlet­ zung keine Konsequenzen mit sich bringen würde. Dementsprechend bildet diese Rechtskonzeption in der Tradition des politischen Liberalismus, des­ sen Orientierungspunkt immer die Freiheit des Einzelnen im Gemeinwesen 196  Weder das traditionelle Konzept des Naturrechts, noch die neuere intersubjek­ tive Zuschreibung von Menschenrechten soll hier Thema sein, da sich der Abschnitt auf Rechte konzentriert, die innerhalb eines politischen Gemeinwesens garantiert werden können. 197  Boshammer 2003, S. 46.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung145

war, den Fixpunkt, von dem aus alle weiteren Überlegungen gestartet wer­ den. Rechte werden hier als Verteilungsgüter behandelt, die der Staat seinen Bürgern in gerechter Art und Weise zuteilt und zu deren Achtung und Ge­ währleistung er sich verpflichtet. In Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls, der Neuformulierung seines Werks Eine Theorie der Gerechtigkeit, tritt diese Haltung im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz deutlich zutage: „Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.“198 Dieses Prinzip kommt durch eine hypothetische Entscheidungsprozedur zustande, in der alle Beteiligten unter dem „Schleier des Nichtwissens“ stehen, um die Fairness der zu wählenden Grundstruktur einer Gesellschaft zu garantieren und sollte Eingang in den Verfassungstext eines Staates finden.199 Auch Ronald Dworkin, der zweite große Vertreter des politischen Liberalismus, schlägt in Sovereign Virtue ein Gedanken­ experiment zur theoretischen Beurteilung von Verteilungsfragen vor. Seiner Ansicht nach lässt sich dies am besten mit einer hypothetischen Auktion bewerkstelligen, in der jeder Teilnehmer mit dem gleichen Geldbetrag star­ tet, diesen aber in unterschiedlicher Höhe in Versicherungen investieren kann, die zufällige Benachteiligungen ausgleichen sollen. Freiheit wird von Dworkin allerdings nicht als Ressource behandelt, die ersteigert werden kann, sondern hält eine Brückenfunktion zwischen staatlichem Regulations­ system und Verteilungsmechanismus. Freiheitsrechte fungieren gewisserma­ ßen als unabhängige Vorbedingung für Gleichheit und Gerechtigkeit im Sinne des Gedankenexperiments: „Liberty is crucial to political justice be­ cause a community that does not protect the liberty of its members does not – cannot – treat them with equal concern on the best understanding of what that means.“200 Trotz unterschiedlicher theoretischer Rechtfertigungen bilden individuelle Grund- und Freiheitsrechte in der liberalen Denktradition also zumeist den Kern einer Staatsauffassung, die den Schutz dieser Rechte als oberste staat­ liche Aufgabe ansieht. Die prominente Stellung grundlegender Rechte in vielen demokratischen Verfassungen der westlichen Welt verdeutlicht zu­ dem, dass diese theoretischen Überlegungen auch praktisch umgesetzt wur­ den.201 Zwei Charakteristika der liberalen Rechtstheorie treten dabei beson­ ders hervor: Zum ersten gelten nur die Individuen selbst als mögliche 198  Vgl. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. 2003, S. 78. 199  Vgl. für eine kurze Zusammenfassung dieses Konzepts ebd. S. 38–44. 200  Dworkin 2000, S. 181. Dies stellt eine natürlich äußerst vereinfachte Version der dworkinschen Argumentation dar. Vgl. für die Einzelheiten Dworkin 2000, S. 65–183. 201  Vgl. beispielsweise das deutsche Grundgesetz Art. 2-20.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Rechtsträger, also als Entität, die überhaupt plausibel als Empfänger der Rechtsverteilung in Frage kommt. Weder Gruppen noch Assoziationen kön­ nen dieser Ansicht nach in den Genuss grundlegender Bürgerrechte kom­ men. Zweitens scheint die Quelle dieser Rechte – nach der anfänglichen hypothetischen Legitimierung durch eine Vertragssituation – sowie die Ga­ rantie für ihre Durchsetzung immer der Staat zu sein. Menschen erhalten ihre Rechte durch die staatliche Autorität, erwarten von dieser deren Ge­ währleistung und können sie notfalls vor staatlichen Institutionen einklagen. Die Zuteilung der Staatsbürgerschaft ist für diese Ansicht wohl das beste Beispiel. Doch beide Merkmale haben deutliche Kritik von anerkennungs­ bezogener Seite hervorgerufen: Weder könne die rechtliche Orientierung am Individuum den legitimen Ansprüchen bestimmter Gruppen innerhalb der Gesellschaft angemessen begegnen, noch seien Rechte ein bloßes Gut, des­ sen Verteilungsmonopol allein beim Staat liege. Beide Vorwürfe müssen deswegen zunächst gesondert geprüft werden, bevor der Versuch einer Neu­ bewertung dieser Kritik unternommen werden kann. Vertreter einer anerkennungsorientierten Politik kritisieren an der libera­ len Rechtsauffassung unter anderem die Zentrierung auf das Individuum als alleinig möglichen Rechtsträger. Identitätsbasierte Gruppen, so ihre Auffas­ sung, sollten genauso in der Lage sein, als Bezugsgrößen grundlegender Rechte zu gelten, ohne sich dafür administrativ organisieren zu müssen. Daran knüpft dann die Forderung an, solchen Gruppen spezifische Sonder­ rechte zukommen zu lassen, die ihrer Religion, Kultur oder sozialen Tradi­ tion die angemessene staatliche Anerkennung garantieren. Doch lässt sich die Forderung nach Kollektivrechten philosophisch plau­ sibel begründen? Susanne Boshammer hat den Versuch unternommen, diese Frage zu beantworten. Sie unterscheidet zu diesem Zweck zunächst zwei Möglichkeiten der Rechtsbegründung: Während die Autonomiekonzeption auf dem Kriterium einer möglichst freien Wahl für den Rechtsträger basiert, steht bei der Interessenkonzeption der Wert des Wohlergehens im Mittel­ punkt. Boshammer entscheidet sich für letztere, da der Begriff des Interesses ihrer Ansicht nach umfassender die grundlegenden Bedürfnisse der Men­ schen in einer politischen Ordnung ausdrücken kann und in Verbindung mit der Annahme einer grundsätzlichen Werthaftigkeit des Individuums bei­ spielsweise Fragen der autonomen Lebensführung mit einschließt.202 Ausge­ hend davon geht es nun darum, die möglichen Rechtssubjekte zu bestimmen. Während die Zuschreibung individueller Rechte zu einzelnen Personen logisch relativ unproblematisch erscheint, entstehen wesentlich größere ­ Schwierigkeiten bei dem Versuch, Gruppen als interessengeleitet und intrin­ sisch werthaft darzustellen, um ihren Anspruch auf Sonderrechte zu begrün­ 202  Vgl.

Boshammer 2003, S. 34 ff.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung147

den. Zunächst gilt es dafür zu differenzieren, bei welchen Arten von Grup­ pen dies überhaupt in Frage kommt. Boshammer macht dabei deutlich, dass freiwillige Assoziationen, die aufgrund gemeinsamer politischer Interessen gegründet werden, keine geeignete Einheit für Kollektivrechte darstellen, da sie weder die Identitätsbildung des Einzelnen dominieren, noch strukturell ein Abhängigkeitsverhältnis konstituieren, von dem sich seine Mitglieder schwer lösen könnten.203 Auch bloße natürliche Gruppen, die beispielsweise durch gemeinsame körperliche Merkmale entstehen können, qualifizieren sich allein dadurch noch nicht für eine weitere Analyse. Dafür ist erforder­ lich, dass diese Gemeinsamkeit nicht nur ästhetische, sondern auch soziale Relevanz entfaltet. Menschen, die zufälligerweise die gleiche Haarfarbe haben und so eine Gruppe bilden, können also kaum als potenzieller Rechts­ träger in Frage kommen, während dies bei Gruppen mit der gleichen Haut­ farbe aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung, die diesem Merkmal zu­ geschrieben wird, eher diskutiert werden muss. Boshammer führt deswegen eine weitere Kategorie ein: die konstitutive Gemeinschaft. Wer Mitglied einer solchen ist, teilt seine Geschichte, Kultur und häufig Religion mit einer bestimmten Anzahl von anderen Menschen, kennt diese aber nicht notwendigerweise persönlich und hat sich meist nicht frei entschieden, zu dieser Gruppe zu gehören. Seine Identität wird also wesentlich durch die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft geprägt.204 Wie bereits in Abschnitt B dieser Arbeit deutlich wurde, sind es diese konstitutiven Gemeinschaften, die im Zentrum der Forderung nach Kollek­ tivrechten stehen. Argumentiert wird dabei meistens entweder mit der Beto­ nung auf der Signifikanz eines kulturellen und sozialen Hintergrundes für das Individuum (Kollektivgüterargument), oder aber mit dem Versuch, den intrinsischen Wert einer sozialen Gruppe zu begründen (Kollektivsubjektar­ gument), wie Boshammer erläutert.205 Letzteres stellt jedoch ihrer Ansicht nach einen kategorialen Fehler dar: Da konstitutive Gemeinschaften in ihrer Existenz absolut von ihren Mitgliedern abhängig sind, können sie kein ei­ genständiges Subjekt darstellen, das Interessen besitzt, die einen Rechtsan­ spruch generieren. Mit dieser Zuschreibung eines unterschiedlichen „onto­ logischen Status“ will Boshammer jedoch nicht die Signifikanz einer solchen 203  Vgl.

ebd. S. 80 f. ebd. S. 83–87. Diese Definition entspricht zwar im Wesentlichen den Konzepten von Will Kymlicka und Iris Marion Young, wie sie in Abschnitt B. der Arbeit dargestellt sind, geht aber insofern darüber hinaus, dass sie als Ausgangs­ punkt einer Analyse genommen wird, inwiefern eine solche Gruppe überhaupt Rech­ te haben kann. Diese Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit einer Gruppe, als Rechtssubjekt zu fungieren, wird von den beiden genannten Denker_innen nicht thematisiert. 205  Vgl. Boshammer 2003, S. 115 f. 204  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Gruppe, die sie vielmehr ausdrücklich anerkennt, leugnen. Einzig der Grund dafür liegt eben nicht in der Werthaftigkeit einer Kultur an sich, die man, wenn man sich nicht dem Vorwurf des Ethnozentrismus aussetzen will, grundsätzlich auch für Gruppen mit illiberalen Praktiken annehmen muss, sondern in ihrer einbettenden und identitätsgenerierenden Wirkung auf das Individuum. Der Wert einer kulturellen oder sozialen Gemeinschaft liegt deswegen laut Boshammer immer in seiner Bedeutung für den Menschen: Dessen Bedürfnis, in einem sozialen Zusammenhang zu existieren, der eine sinnvolle Interpretation der Welt und der menschlichen Beziehungen anbie­ tet, hält sie für die zentrale Kategorie, wenn die Forderung nach Kollektiv­ rechten erhoben wird. Wie bereits in Abschnitt B beschrieben, entsteht ein gesundes und ungestörtes Selbstverhältnis zunächst nur im dia- oder poly­ logischen Prozess innerhalb intersubjektiver Relationen in begrenzten Ge­ meinschaften, woraufhin die Individuen erst volle Autonomie erlangen können. Susanne Boshammer sieht deswegen in der Zugehörigkeit zu einer solchen konstitutiven Gemeinschaft ein soziales Grundgut im rawlsschen Sinne, das es von gesetzgeberischer Seite aus zu schützen gilt.206 Doch benötigt man dafür wirklich Kollektivrechte? Im Gegensatz zum Versuch, Kulturen als in sich wertvoll zu begreifen, scheint die Orientierung am Nutzen für den Einzelnen argumentativ zwar erfolgversprechender zu sein, aber dennoch bestehen auch hier Zweifel an der Plausibilität. Zunächst scheint unklar, ob der individuelle Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer konstitutiven Gemeinschaft speziell für den eigenen sozialen Hintergrund oder nur für irgendeine kulturelle Einbettung gilt. Denn das konstruktivisti­ sche Argument, die Identität werde im Wesentlichen vom Aufwachsen in traditionellen Umfeldern geprägt, kann aus logischen Gründen keinen Un­ terschied zwischen den verschiedenen Religionen, Kulturen oder sozialen Schichten machen. Da sich damit also theoretisch plausibel auch die Legi­ timität einer vollständige Assimilierung an die vorherrschende Mehrheits­ kultur begründen ließe, scheint dieses Argument eher unangemessen zu sein.207 Außerdem greift laut Boshammer auch hier die Warnung vor einer allzu essentialistischen Lesart identitärer Bezugssysteme: Da sich Menschen heutzutage mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Lebensentwürfen kon­ frontiert sehen und selbst meist mehrere Identitäten und Loyalitäten ausbil­ den, würde ein Schutz unflexibler Kultur- und Traditionsräume eher zur Verringerung der Autonomie des Einzelnen beitragen. Gerade diese Dyna­ mik sorgt zudem dafür, dass konstitutive Gemeinschaften sich durch Wand­ lung erneuern und so ihre Existenz aus sich heraus garantieren und recht­ fertigen. Ein Kollektivrecht zum vollständigen Erhalt unbeweglicher Kultu­ 206  Vgl. 207  Vgl.

ebd. S. 146. ebd. S. 153 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung149

ren würde jedenfalls einem gleichsam zoologisch inspirierten Artenschutz ähneln, wie ihn Jürgen Habermas zu Recht kritisiert.208 Boshammer kommt aus diesen Gründen zu dem Schluss, dass Kollektiv­ rechte nicht möglich sind, soziale Gruppen also keine Rechte haben können. Dies ist ihrer Ansicht nach aber auch überhaupt nicht notwendig, da der legitime Anspruch auf die Einbettung in soziale Zusammenhänge zunächst einmal ohne weiteres durch klassisch liberale Individualrechte garantiert werden kann. Autonome Selbst- und politische Mitbestimmung sowie die Anerkennung als Person werden demnach durch individuelle Grund- und Freiheitsrechte gewährleistet. Allerdings stoßen diese an ihre Grenzen, wenn der juristischen Gleichbehandlung faktische Benachteiligungen gegenüber­ stehen. Anhänger einer Religion, die von ihnen das öffentliche Bekenntnis anhand bestimmter Kleidungsstücke fordert, sind bei einem Verbot der Zurschaustellung religiöser Symbole anderen Menschen gegenüber eben benachteiligt, wenn diese keiner solchen Verpflichtung unterliegen. Bos­ hammer unternimmt deswegen eine weitere Analyse, um die Zulässigkeit rechtlicher Mittel zum Ausdruck von Anerkennung genauer zu bestimmen. Denn wenn Gruppen schon keine Rechte haben können, wäre es doch viel­ leicht möglich, dass man Individuen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit – die zugegebenermaßen nicht immer einfach zu bestimmen ist – spezielle Sonderrechte zukommen lässt, die bestehende Ungerechtigkeiten ausglei­ chen sollen. Boshammer unterscheidet zu diesem Zweck drei Arten von moralisch-politischen Argumentationsstrategien, die dem individuellen An­ spruch auf solche Rechte Legitimation zuschreiben. Vertreter des Kompensationsarguments sehen vorangegangene Ungerech­ tigkeiten als Hauptgrund an, warum Menschen durch ihre Gruppenzugehö­ rigkeit besondere Rechte erhalten sollten. So rechtfertigt beispielsweise demnach die unbestreitbare Tatsache, dass Frauen bisher auf dem Arbeits­ markt benachteiligt wurden, die Einführung einer festen Quote, um diese Ungleichbehandlung offiziell anzuerkennen und zu kompensieren. Dahinter steht die Überlegung, den von individuellen Mitgliedern einer sozialen Gruppe erlittenen Schaden finanzieller und psychologischer Art durch ihre rechtliche Bevorzugung wiedergutzumachen. Problematisch an dieser Argu­ mentation ist allerdings, wie Boshammer betont, die Frage der juristischen Haftbarkeit. Denn da historisches Unrecht individuell überprüfbar sein muss, um Kompensationsforderungen zu begründen, würden langwierige empirische Studien nötig sein, um die einzelne Benachteiligung zu bewei­ sen. Doch nicht nur das: Auch der oder die Verursacher des Schadens müssten einwandfrei identifiziert werden, um persönliche Verantwortung festzustellen, die sich in legitimen Kompensationsmaßnahmen niederschla­ 208  Vgl.

dazu Habermas 2009, S. 105.

150

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

gen könnte.209 Laut Boshammer zeigen diese Schwierigkeiten zudem einen Denkfehler in der Argumentation auf: Das historische Unrecht wird ihr zufolge immer individuell erlitten und kann deswegen nicht über heutige Gruppenmitglieder kompensatorisch ausgeglichen werden. Denn die Frau­ en, die vor einiger Zeit aufgrund ihres Geschlechts nicht eingestellt wurden oder weniger Gehalt bekamen, würden heute von einer Quote nicht mehr profitieren. Da außerdem genauso Angehörige der Mehrheitsgesellschaft in der Vergangenheit ungerechte Behandlung erfahren haben können, wäre die Zuschreibung von speziellen Sonderrechten auf der Basis der Gruppen­ zugehörigkeit des Individuums aus Kompensationsgründen der falsche Weg.210 Bessere Chancen, Sonderrechte philosophisch plausibel zu begründen, bestehen sicherlich, wenn man sich an der liberalen Prämisse der substan­ ziellen Chancengleichheit orientiert. In vielen Fällen reicht eben, so das Argument, die formaljuristische Gleichheit nicht aus, um ein gerechtes Er­ gebnis zu erzielen. Da in einer demokratischen Gesellschaft die Interessen der Mehrheit aus strukturellen Gründen immer im Vorteil sind, muss der Staat demnach dafür sorgen, dass die Mitglieder minoritärer Gruppen in bestimmten Gebieten gezielt bevorzugt werden, um dadurch überhaupt die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe zu erhalten.211 Durch feste Repräsentationsorgane, parlamentarischen Quoten oder speziell zugeschnit­ tene Einzelrechte beispielsweise könnte garantiert werden, dass die Interes­ senartikulation dieser Individuen nicht ungehört bleibt und ihnen angemes­ sene politische Anerkennung zukommt. Allerdings entstehen hier Probleme, wenn man diese Interessen genauer definieren will. Wie Boshammer aus­ führt, steht bei diesem Argument die Vermutung in Hintergrund, die Inter­ essen der einzelnen Mitglieder einer Gruppe seien in sich homogen und deren Berücksichtigung könnte demensprechend rechtlich allgemein gefasst werden. Abgesehen vom Zweifel, ob dies den empirischen Tatsachen auch entspricht, wird so den Individuen ihre grundlegende Autonomie zumindest teilweise abgesprochen, da divergierende Bedürfnisse innerhalb einer Grup­ pe nicht zur Kenntnis genommen werden. Nur wenn sich ein bestimmtes Interesse konkretisieren lässt und eine Bevorzugung darüber hinaus nur 209  Vgl. Boshammer 2003, S. 195. Um sich die gesamte Problematik zu verdeut­ lichen, muss man nur an die endlosen Prozesse um die Entschädigungszahlungen an die Opfer der deutschen Nazi-Diktatur denken. Wenn selbst bei einem solch deutli­ chen Unrecht die juristisch einwandfreie Kompensation mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, scheint die Wiedergutmachung wesentlich komplexerer Ungerechtig­ keiten kaum durchführbar zu sein. 210  Vgl. ebd. S. 200. 211  Vgl. ebd. S. 204 f. Vgl. dazu auch die Diskussion der verschiedenen Argumen­ te für feste Quoten in Rössler 1993.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung151

temporärer Natur zum Ausgleich faktischer Benachteiligung wäre, lässt sich laut Boshammer über die Einrichtung von Sonderrechten auf Basis des Chancengleichheitsarguments nachdenken.212 Dennoch greifen auch hier die bereits beschriebenen Vorbehalte hinsichtlich der staatlichen Anerkennung als Identitätsträger. Zum einen werden Menschen so rechtlich in eine Iden­ titätskategorie gepresst, die ihnen vielleicht nicht gerecht wird. Zum anderen verändert das Recht den Status besonderer Eigenschaften: Diese werden nicht mehr als private Charakteristika verstanden, sondern müssen im öf­ fentlichen Raum verhandelt werden.213 Das dritte Argument stützt sich auf die bereits ausgeführte Signifikanz der kulturellen, religiösen oder sozialen Prägung eines Individuums durch sein Umfeld. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe spielt demnach eine so wichtige Rolle im Leben eines Menschen, dass sie politisch-rechtlichen Schutz genießen sollte. Behandelt man die Mitgliedschaft in einer konstitu­ tiven Gemeinschaft als soziales Grundgut, das jedem Bürger eines Staates rechtmäßig zusteht, muss allerdings weder Rekurs auf die bereits abgelehn­ ten Kollektivrechte genommen, noch von speziellen Sonderrechten gespro­ chen werden. Das klassisch liberale Recht des Einzelnen, ein sinnvolles und bedeutsames Leben zu führen, reicht vollkommen aus, um eine Ausnahme­ regelungen von allgemeinen Vorschriften zu begründen.214 So scheint das Verbot der öffentlichen Zurschaustellung religiöser Symbole nicht etwa das Recht einer religiösen Gruppe im Ganzen zu verletzen, sondern vielmehr das der einzelnen Person, die einen legitimen Anspruch auf die autonome Gestaltung ihres eigenen Lebens hat. Dabei treten jedoch zwei Schwierig­ keiten auf: Zum einen darf politische Anerkennung in Form von Sonder­ rechten für Mitglieder kultureller Minderheiten keine grundsätzlichen Rechtsnormen eines Staates außer Kraft setzen. Wenn also beispielsweise durch bestimmte Praktiken die Freiheit, die körperliche Unversehrtheit oder das Leben eines Menschen in Gefahr gerät, gilt es in der Abwägung von Grundrechten Prioritäten zu setzen, die der Komplexität der Sache gerecht werden. Zum zweiten erheben einige Kritiker_innen den Einwand, liberale Mehrheitsgesellschaften würden trotz der von ihnen propagierten weltan­ schaulichen Neutralität eine ganz bestimmte Konzeption des guten Lebens verfolgen und damit unweigerlich alternative Lebensentwürfe unterdrücken. Sicherlich lässt sich plausibel begründen, dass auch der Liberalismus eine Weltanschauung unter vielen darstellt; und dennoch trifft diese Kritik nicht den Kern der Sache. Wie Boshammer ausführt, verpflichtet sich der politi­ sche Liberalismus zwar der Neutralität, er tut dies jedoch nicht aus neutra­ Boshammer 2003, S. 215 f. dazu C. III. 1. b) und C. III. 2. a). 214  Vgl. Boshammer 2003, S. 220 f. 212  Vgl. 213  Vgl.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

len Gründen. Dennoch kann eine neutrale Behandlung der Probleme des Zusammenlebens innerhalb einer politischen Ordnung gelingen, wenn von staatlicher Seite aus trotz eigener Position vernünftig abgewogen wird, ohne dabei von vornherein eine Seite zu bevorzugen.215 Wie auch immer man diese Argumente im Endeffekt bewerten und ge­ wichten mag, der vollständigen rechtlichen Anerkennung aller Gesellschafts­ mitglieder in all ihrer Verschiedenheit werden immer Rechtskonflikte, Ab­ wägungsentscheidungen und Umsetzungsprobleme entgegenstehen. Um die daraus resultierende Gefahr von Ungerechtigkeiten sowie einer gesellschaft­ lichen Fragmentierung zu minimieren, scheinen anerkennungsorientierte Maßnahmen nötig, die über die engen Grenzen rechtlicher Achtung hinaus­ gehen. Da diese, wie an anderer Stelle bereits angedeutet, zumeist nur als einseitige Relation zwischen Bürger und Staat behandelt wird, sollten bei der Frage nach der gerechten Behandlung von Menschen mit unterschiedli­ chen Identitäten immer reziproke gesamtgesellschaftliche und teilhaberele­ vante Anerkennungsräume mit einbezogen werden. b) Güterverteilung als Anerkennung Auch wenn die staatliche Zuteilung bestimmter Rechte sicherlich den offensichtlichsten und folgenreichsten Ausdruck politischer Anerkennung darstellt, dürfen andere Formen der Anerkennungsgewährung nicht vernach­ lässigt werden. Gerade die in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem so wichtige materielle Verteilung, die angefangen bei einer staatlich garantier­ ten Grundversorgung über marktwirtschaftlich ermittelte Gehälter bis hin zur Besteuerung der Bürger ein weites Spektrum unterschiedlicher Bereiche tangiert, sollte unter dem Gesichtspunkt der politischen Anerkennung ana­ lysiert werden. Doch lässt sich Verteilung überhaupt mit dem Begriff der Anerkennung in Einklang bringen? Mit anderen Worten: Kann man den Anspruch auf materielle Zuwendungen, ob marktwirtschaftlich oder staat­ lich festgelegt, als Teil einer größeren, ideell orientierten Anerkennungsde­ batte betrachten, oder stellt die Güterverteilung vielmehr einen eigenständi­ gen Bereich dar, der einer gesonderten Behandlung bedürfte? Immerhin blicken wir auf eine immense ideengeschichtliche Tradition zurück, die den Kampf um die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen in den Mittelpunkt der Beschäftigung mit politischer Theorie rückt.216 215  Vgl.

ebd. S. 224.

ist hier zuallererst Marx zu nennen, der bekanntermaßen die Verteilung der Produktionsmittel in einer Gesellschaft als obersten Gerechtig­ keitsmaßstab betrachtete. Die übrigen Beispiele dieser Sichtweise sind so zahlreich, dass es müßig wäre, sie hier aufzuzählen. 216  Selbstverständlich



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung153

Aus diesem Grund bezweifelt auch Nancy Fraser, dass eine Anerken­ nungstheorie wie die von Axel Honneth in vollem Umfang den Anforderun­ gen einer modernen Gerechtigkeitstheorie standhalten kann. Ausführlich legt sie in der Diskussion mit Honneth dar, dass Umverteilungs- und Aner­ kennungsmaßnahmen nicht auf eine der beiden reduziert werden können, ohne den Fokus einer an Gerechtigkeit orientierten politischen Theorie un­ zulässig zu verengen.217 Ihrer Ansicht nach würde nämlich ein Anerken­ nungskonzept, das Umverteilung einfach inkorporiert, die Zweidimensiona­ lität der vorhandenen Problemlage vernachlässigen. Da die Ungerechtigkeit, die aufgrund der unangemessenen Behandlung von Menschen mit differen­ ter Identität durch die Mehrheitsgesellschaft entsteht, sich immer sowohl auf den rechtlichen und gesellschaftlichen Status, als auch auf die materiel­ le Versorgung auswirkt, kann die Lösung nicht in der Konzentration auf nur eine der beiden Ebenen liegen.218 Das Beispiel der Gleichberechtigung von Frauen mag verdeutlichen, was Fraser damit meint: Wenn ideelle Formen der mangelnden Anerkennung, die beispielsweise in der Verweigerung des Wahlrechts, der Hinderung an der Teilnahme am öffentlichen Leben oder der Reduzierung auf ein Objekt männlicher sexueller Begierde bestehen können, abgeschafft werden und gleiche Anerkennung installiert wird, ist damit nur die Hälfte des Erforderlichen erreicht. Denn genauso müssen materielle Formen der Benachteiligung, wie beispielsweise die ungerecht­ fertigte ungleiche Bezahlung männlicher und weiblicher Arbeitskräfte bei gleicher Eignung und Leistung, durch Umverteilung ausgeglichen werden, um Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen herzustellen. Dabei darf laut Fra­ ser jedoch die Wechselwirkung der beiden Gerechtigkeitssphären nicht vernachlässigt werden: Wie der Fall der Sozialhilfe zeigt, können sich Um­ verteilungsmechanismen auch auf Anerkennung auswirken. Zwar wird hier seitens des Staates die materielle Grundversorgung für jeden Menschen garantiert, dies geht jedoch einher mit einem Absinken des gesellschaftli­ chen Status, was bis hin zur Stigmatisierung durch die anderen Gesell­ schaftsmitglieder führen kann. Umgekehrt kann die rechtliche Anerkennung von bisher nicht akzeptierten Lebensformen materielle Vorteile mit sich bringen. So würde beispielsweise die vollständige Gleichstellung homose­ xueller Partnerschaften mit der traditionellen Ehe die üblichen Steuerver­ günstigungen für diese nach sich ziehen. Es zeigt sich also, dass Fraser Umverteilung und Anerkennung zwar als wesentliche Angelegenheiten der Gerechtigkeit versteht, aber sie auf unter­ schiedlichen Ebenen verortet. Zwar bedingen sie sich wie gesehen gegen­ seitig, müssen aber dennoch getrennt behandelt werden, um eine kritische 217  Vgl. 218  Vgl.

Fraser 2003, S. 17. ebd. S. 36 ff.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Evaluation bestehender Gesellschaftsformen zu ermöglichen. Fraser entwi­ ckelt daraus den Vorschlag, anhand des Kriteriums der „partizipatorischen Parität“ politische und gesellschaftliche Institutionen zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern. Dies bedeutet ihrer Ansicht nach, dass sowohl die objektive Bedingung der ausreichenden materiellen Grundsicherung, als auch die der intersubjektiven Anerkennung differenter Identitätsträger erfüllt sein muss, um von einer gerechten Gesellschaft sprechen zu können.219 Dieser Zweiteilung widerspricht Axel Honneth im gleichen Band ganz entschieden. Für ihn stellt sich, wie bereits in Abschnitt B teilweise ausge­ führt, die historische Situation wie folgt dar: Obwohl gesellschaftliche Konflikte verschiedene Auslöser und Ausformungen haben können, liegen ihnen immer Anerkennungskämpfe zugrunde, die sozialpsychologisch tiefer als alle Umverteilungsbestrebungen greifen.220 Wenn Menschen gegen die herrschende Ordnungen protestieren, rebellieren oder revoltieren, geht es seiner Ansicht nach also nicht so sehr um eine materielle Grundsicherung, sondern vielmehr um die offensichtliche Missachtung des rechtmäßigen Anspruchs der Individuen an den Staat: „Die Subjekte nehmen institutionel­ le Vorgänge dann als soziales Unrecht wahr, wenn sie dadurch Aspekte ihrer Persönlichkeit mißachtet sehen, auf deren Anerkennung sie ein Anrecht zu haben glauben.“221 Honneth ist deswegen davon überzeugt, dass mit der Begrifflichkeit der Anerkennung soziale Unrechterfahrungen wesentlich besser analysiert werden können, als dies mit dem Kriterium der ökonomi­ schen Klassenzugehörigkeit der Fall wäre. Demensprechend meint Honneth, Distributionskonflikte unter dem umfas­ senderen Label der Anerkennungskämpfe fassen zu können. Die politische Initiative zur Verbesserung der materiellen Lebensumstände speist sich sei­ ner Ansicht nach eben immer aus der moralisch bedeutsamen Erfahrung, um die Erfüllung legitimer Ansprüche betrogen zu werden. Er vertritt aus die­ sem Grund im Gegensatz zu Fraser einen „moraltheoretischen Monismus“, der sich auf Anerkennung als fundamentales Legitimationsprinzip der kapi­ talistischen Gesellschaft beruft.222 Gerechtigkeitstheorien dürfen sich dem­ nach eben nicht mehr auf die bloße Verteilung beziehen, sondern müssen als wesentliches Kriterium immer den Gesichtspunkt der angemessenen Anerkennung berücksichtigen. Honneth schreibt an anderer Stelle: „Das Distributionsparadigma, das […] [die heute herrschenden Gerechtigkeitstheo­ rien] zugrunde legen, hat sich als nicht geeignet erwiesen, das Material der Ge­ 219  Vgl.

ebd. S. 55. dazu auch Honneth, Axel: Das Gewebe der Gerechtigkeit. Über die Grenzen des zeitgenössischen Prozeduralismus, in: Ders. 2010, S. 64. 221  Honneth 2003, S. 156. 222  Vgl. ebd. S. 186. 220  Vgl.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung155 rechtigkeit in der Moderne angemessen zu bestimmen: Statt von ‚Gütern‘ sollten wir von Anerkennungsbeziehungen sprechen, statt an ‚Verteilung‘ sollten wir an andere Muster der Gewährung von Gerechtigkeit denken.“223

Tatsächlich scheint die Sprache der Anerkennung geeignet zu sein, Ver­ teilungsfragen zu behandeln. Die Annahme Honneths, vor allem die mora­ lische Empörung der Menschen aufgrund mangelnder Achtung vor ihren rechtmäßigen Ansprüchen führe zu sozialen Konflikten, entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität, wenn man historische und aktuelle Entwicklungen betrachtet. Natürlich sollte man nicht vergessen, dass materielle Forderun­ gen dann für sich alleine stehen, wenn es um die bloße Existenzsicherung geht. Der politische Versuch, Umverteilung zu erreichen, um den eigenen Hungertod abzuwenden, kann schwerlich unter der Prämisse der Anerken­ nung gefasst werden. Da dies jedoch seit einiger Zeit zumindest in den hier im Mittelpunkt stehenden freiheitlichen Demokratien der westlichen Welt nicht mehr vorkommt, kann durchaus weiterhin mit dem Überbegriff der Anerkennung operiert werden, wenn es um Verteilungskonflikte in diesen Gesellschaften geht. Ein Beispiel für die Orientierung am Paradigma der Anerkennung bei Fragen, die die materielle Grundversorgung betreffen, bietet die rechtliche und politische Praxis der Sozialhilfe in Deutschland. Während sich deren monetäre Höhe zwar am errechneten Existenzminimum bemisst und damit den materiellen Aspekt betont, lassen sich sowohl der grundsätzliche An­ spruch darauf als auch die zahlreichen Zusatzleistungen hinsichtlich sozialer Teilhabe nur mit einer noch genauer zu bestimmenden Anerkennungsver­ pflichtung des Staates begründen. Dies kann einerseits aus den rechtlichen Regelungen herausgelesen werden: Nicht etwa das bloße Überleben der erwerbsunfähigen Menschen im bundesdeutschen Staat fungiert hier als fundamentales Anspruchskriterium für Sozialhilfe, sondern vielmehr die Orientierung an einem würdevollen Leben. Im zwölften Buch (XII) des Sozialgesetzbuches (SGB) heißt es: „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.“224 Dies birgt nun jedoch mehr Implikati­ onen, als es zunächst vielleicht den Anschein macht. Denn hier wird anhand einer Idee, nämlich der Würde des Menschen, ein Rechtsprinzip begründet. Die materielle Grundsicherung – so wichtig sie als praktischer Ausdruck dieser theoretischen Überlegung ist – kann also nur als nachrangiges Mittel betrachtet werden, das dazu geeignet ist, das vorrangige Prinzip in die Tat umzusetzen. Mit anderen Worten: Will man die Gewährung von Sozialhilfe philosophisch rechtfertigen, muss man sich auf die grundlegende Ebene 223  Honneth

2010, S. 63.

224  www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__1.html,

Stand: 12.11.13.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

der – in diesem Fall staatlichen – Anerkennung der Betroffenen als Men­ schen und Personen beziehen, um einen kategorialen Argumentationsfehler zu vermeiden. Alleine diese moralisch-politische Verpflichtung kann als Rechtfertigung dafür dienen, warum das menschliche Existenzminimum überhaupt vom Staat garantiert werden sollte. Die Plausibilität dieser These wird zudem unterstützt, wenn man die gängige Sozialhilfepraxis berücksich­ tigt. Während die rein finanzielle Unterstützung die grundsätzliche Unab­ hängigkeit und damit die relative Autonomie der Beziehenden sichern soll, halten begleitende Leistungen wie Hilfen für Schulbesuch oder Vereinszu­ gehörigkeit die Möglichkeit offen, am sozialen Leben trotz finanzieller Einschränkungen teilnehmen zu können. Auch dies – so könnte man sa­ gen – zielt vor allem darauf ab, die Leistungsempfänger als in ihrem Mensch- und Personsein anzuerkennen und ihnen damit ein autonomes Leben zu erleichtern. Zugleich speist sich in westlichen Demokratien auch die Forderung der Betroffenen oder deren Fürsprecher nach Sozialleistungen – falls sie denn öffentlich artikuliert wird – zumeist nicht aus der unmittelbaren Notwendig­ keit materieller Unterstützung. Selbstverständlich mag diese gegeben sein, aber der Hinweis auf Not und Leid vieler Menschen erscheint in der Stoß­ richtung eher als Appell an das Mitleid und die Wohltätigkeit Bessergestell­ ter, anstatt mit legitimen Ansprüchen als Argumentationsfigur zur operieren. Dies ist beispielsweise die Funktion der Kampagnen verschiedener global tätiger Hilfsorganisationen, die häufig mit visueller Unterstützung zu Recht das Leid vieler Menschen anprangern und so Empathie und damit Spenden­ bereitschaft beim Betrachter hervorrufen möchten. Wenn überhaupt, dann werden diese Aufrufe nur äußerst selten von philosophischen Rechtferti­ gungsmustern wie dem Verweis auf die Universalität der Menschenrechte oder ähnlichem flankiert. Geht es aber um die Verteilung innerhalb einer Gesellschaft, wird meist auf das ideelle Prinzip rekurriert, dass jedes Mit­ glied einer gerechten politischen Ordnung als vollwertige Person und damit als Träger individueller, politischer und in diesem Fall vor allem sozialer Rechte anerkannt werden muss. Diese anerkennungstheoretische Perspektive auf konkrete Verteilungsfragen beschränkt sich wohlgemerkt nicht auf den akademischen Bereich. So wird beispielsweise im Koalitionsvertrag zwi­ schen den bundesdeutschen Parteien CDU, CSU und SPD für die 18. Le­ gislaturperiode Folgendes formuliert: „Die Menschen in unserem Land müssen sich auf die sozialen Sicherungssysteme verlassen können. Sie sind entscheidend für die gerechte Anerkennung der vielfältigen Leistungen der Menschen, ob in der Arbeit oder für die Familie.“225 225  Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, abgerufen unter: www.bundesregierung.de/Content/DE/_



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung157

An diesem Beispiel zeigt sich jedoch erneut, dass die einseitige Anerken­ nung des Staates für seine Bürger nicht ausreicht, um deren vollständige Autonomie zu garantieren. Da der Status eines Sozialhilfeempfängers in den meisten westlichen Gesellschaften immer noch mit einem Stigma verbunden ist, haben es diese Menschen schwer, Selbstachtung zu entwickeln. Ihre soziale Position, die nicht weniger zur Identitätsprägung beiträgt als bei­ spielsweise Kultur oder Tradition, wird intersubjektiv mit einer negativen Bedeutung belegt und so außerhalb des gesellschaftlich notwendigen Aner­ kennungsraumes gestellt. Der staatliche Ausdruck von Anerkennung durch Güterverteilung – so wichtig diese für sich genommen ist – müsste also, um den Anforderungen einer gerechten Behandlung der Bürger zu entsprechen, von einer Vielzahl von Maßnahmen begleitet sein, die den Gehalt der sym­ bolischen Anerkennung im intersubjektiven Rahmen einer politischen Ge­ meinschaft erhöhen. Dafür wäre zum Beispiel bereits hilfreich, Sozialhilfe­ empfänger in der öffentlichen Diskussion als anspruchsberechtigte Personen darzustellen, anstatt sie mit dem Generalverdacht von Faulheit und Betrugs­ absicht zu belegen. Da bisher nur von staatlicher Sozialpolitik als Anerkennungsquelle die Rede war, wurde eine weitere Möglichkeit der Verteilung außer Acht gelas­ sen: Auch der Markt ist in der Lage, Anerkennung beispielsweise durch die Festlegung von Gehältern auszudrücken. Selbstverständlich wirkt sich auch hier die Entlohnung für bestimmte Tätigkeiten zunächst einmal direkt auf die Existenzsicherung der Betroffenen aus und betrifft damit die materielle Verteilung. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass mit der Auf­ nahme einer bezahlten Arbeit in westlichen Demokratien das bloße Überle­ ben gesichert ist und Konflikte vielmehr über die angemessene Höhe der Bezahlung ausbrechen. Dies scheint umso wichtiger zu sein, wenn man das hohe Identifikationspotenzial berücksichtigt, das die Menschen traditionell mit Arbeitsplatz und Gehalt verknüpfen. Was man tut und wie viel Geld man dafür erhält, spielt eine große Rolle im Selbstbild und der Selbst­ achtungsfähigkeit eines Individuums.226 Es könnte nun eingewendet werden, dass diese Form des Anerkennungs­ ausdrucks nur die individuelle Leistung des jeweiligen Arbeitnehmers be­ trifft und damit kaum oder höchstens mittelbar zum Bereich der politischen Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsvertrag.pdf;jsessionid=AF84552817D11EF1FD3 EB2F7947E1D07.s1t2?__blob=publicationFile&v=2, S. 10, Stand: 08.12.2013 [Her­ vorhebung durch den Verfasser]. 226  Vgl. für einen Überblick der Entwicklung und Bedeutung der Erwerbsarbeit in Deutschland Daheim, Hansjürgen: Berufliche Arbeit im Übergang von der Indus­ trie- zur Dienstleistungsgesellschaft, in: Kurtz, Thomas (Hrsg.): Aspekte des Berufs in der Moderne, Opladen 2001, S. 21–38.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Anerkennung gezählt werden kann.227 Dieser Einwand hat einerseits seine Berechtigung, denn die Entscheidung über die Höhe der individuellen Ent­ lohnung bleibt im privatwirtschaftlichen Sektor in einer nur begrenzt regu­ lierten Marktwirtschaft dem Marktgeschehen überlassen. Die mit dem Ge­ halt verbundene Anerkennung bemisst sich also an ökonomischen Vorgän­ gen, die aus einem komplexen Zusammenspiel von Angebot, Nachfrage, Leistung und Konjunktur bestehen. Politische Regulation zum Zweck der nutzenorientierten Anerkennung, so scheint es, spielt hier nur eine unterge­ ordnete Rolle. Andererseits existieren durchaus politische Mechanismen, durch die der Gesetzgeber und die Regierung Anerkennung für Arbeitneh­ mer ausdrücken können. Ganz abgesehen vom öffentlichen Dienst, wo der Staat direkt als Arbeitgeber fungiert und Gehälter, Pensionen und Boni festlegt, kann beispielsweise die Einführung des Mindestlohns für alle Be­ rufsbereiche als Instrument gesehen werden, mit dem die Arbeit, die der Markt aus verschiedenen Gründen geringschätzt, anerkennungstechnisch aufgewertet wird. So würde eine gesetzliche Regelung die Güterverteilung beeinflussen, dies aber auf der Basis von anerkennungstheoretischen Über­ legungen tun: Nur weil den Arbeitnehmern ein legitimer Anspruch auf eine angemessene Anerkennung ihrer Tätigkeit zugesprochen wird, folgen daraus materielle Konsequenzen. Auch hier zeigt sich allerdings wieder die funda­ mentale Abhängigkeit anerkennungsorientierter Maßnahmen von einer ge­ sellschaftlichen Reziprozität. Nur wenn der Anspruch des Individuums auf eine Entlohnung in bestimmter Höhe in einer Gesellschaft intersubjektiv anerkannt wird, lässt sich erstens dies auch politisch durchsetzen und zwei­ tens eine Stigmatisierung der Betroffenen vermeiden, die die gewonnene materielle Sicherung konterkarieren würde. c) Soziale Wertschätzung als symbolische Anerkennung Wie bereits gesehen, reichen staatlich-rechtliche sowie gesellschaftlichmarktwirtschaftliche Anerkennung nicht aus, um den Bedürfnissen und Ansprüchen der Mitglieder einer pluralistischen politischen Ordnung ange­ messen zu begegnen. Zusätzlich zu diesen Formen der Anerkennung, die sich wie beschrieben in vielfältiger Weise ausdrücken lassen, legen ge­ rechtigkeitstheoretische Überlegungen nahe, weitere Mittel der Anerken­ nungsgewährung in Demokratien zu analysieren. Dafür kommen vor allem zwei Möglichkeiten in Frage, die sich gegenseitig bedingen: zum einen die gegenseitige soziale Wertschätzung innerhalb einer Gesellschaft und 227  Wenn man allerdings jede Arbeit als Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Wohl betrachtet, lässt sich auch hier ein Bezug zum Politischen herstellen. Vgl. dazu die Diskussion in C. III. 2. c).



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung159

zum zweiten symbolische Anerkennungsformen in verschiedenen Ausprä­ gungen. Soziale Wertschätzung lässt sich als Anerkennung verstehen, die aufgrund besonderer Leistungen zum allgemeinen Nutzen gewährt wird. Damit müs­ sen jedoch nicht nur die Tätigkeiten gemeint sein, die gleichzeitig zur eige­ nen Existenzsicherung geboten sind, sondern auch solche, die unabhängig vom eigenen Nutzen zum Wohle der Gemeinschaft ausgeübt werden.228 Gerade letzteres scheint das Potenzial zu besitzen, im politischen Bereich rein rechtliche Anerkennung so zu ergänzen, dass sich Individuen in ihrem Selbstbild und ihrer Lebensausrichtung bestätigt wissen können. Denn mit dem bürgerschaftlichen Engagement für bestimmte Sachthemen und Maß­ nahmen, hilfsbedürftige Menschen oder sonstige öffentliche Angelegenhei­ ten entsteht wie bereits oben beschrieben nicht nur für die Engagierten die Möglichkeit eines Anerkennungszuwachses, als dessen Quelle Staat und Gesellschaft fungieren, sondern auch die Adressaten dieser Zuwendung er­ fahren sich als intersubjektiv wertgeschätzt und sind so in der Lage, voran­ gegangene Stigmatisierungen zu überwinden. Selbstverständlich lässt sich soziale Wertschätzung auch institutionalisie­ ren und so zu einer Anerkennungsform umwandeln, die auf rechtlicher Fi­ xierung basiert und vom Gesetzgeber zugeteilt wird. Die vom Staat gewähr­ te Möglichkeit, Spenden für wohltätige Zwecke steuerlich abzusetzen, kann als gutes Beispiel dafür gelten. Hier wird die Bereitschaft, Bedürftigen fi­ nanziell zu helfen, im staatlichen Steuerrecht honoriert und damit gezeigt, dass eine solche Haltung anerkannt wird. Ähnliches gilt für die Stellung von Vereinen im deutschen Recht: Auch hier wird durch finanzielle Vorteile die Wertschätzung einer am Gemeinwohl orientierten Organisation ausgedrückt. So schreibt die ehemalige deutsche Justizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger im Vorwort zu dem von ihrem Ministerium im Jahr 2013 herausgegebenen Leitfaden für Vereinsrecht: „Bürgerschaftliches Engagement in Vereinen ist ein wichtiger Beitrag zum Zusam­ menhalt unserer Gesellschaft. Viele Vereine greifen mit ihren Zwecken gesell­ schaftliche Entwicklungen und Tendenzen auf und fördern sie nicht nur zum Nutzen ihrer Mitglieder, sondern auch zu dem der Gesellschaft. […] Die vielfäl­ tige und große Vereinslandschaft in Deutschland verdient daher ebenso Anerken­ nung wie jeder Einzelne, der sich in einem Verein engagiert.“229

Da diese Formen der Anerkennung jedoch zumindest in Deutschland allgemein etabliert sind und bereits zur Realisierung von gerechten Aner­ 228  Vgl.

dazu C. III. 2. c). der Justiz: Leitfaden zum Vereinsrecht, Berlin 2013, abge­ rufen unter: www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/DE/Leitfaden_ Vereinsrecht.pdf?__blob=publicationFile, Stand: 27.03.14. 229  Bundesministerium

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

kennungsverhältnissen beitragen, sollen im Weiteren andere, potenzielle Möglichkeiten sozialer Anerkennung im Fokus stehen. Als besonders interessant erweist sich dafür ein Bereich, der sich zwi­ schen institutionell-rechtlicher, marktwirtschaftlich-ökonomischer und ge­ sellschaftlich-bürgerschaftlicher Anerkennung hin und her bewegt und damit besonderes Potenzial zur Ergänzung anderer Anerkennungsebenen in sich trägt. Gemeint sind symbolische Formen der Anerkennung, die, anstatt ge­ setzliche Fixierung, finanzielle Vorteile oder politische Einflussmöglichkei­ ten zu versprechen, mit ideeller Wertschätzung zur Entwicklung von Selbst­ achtung bei den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft beitragen ­können. Symbolische Anerkennung findet sich meist dort, wo Institutionali­ sierung an ihre Grenzen stößt: Da das menschliche Bedürfnis nach Wert­ schätzung weiterreicht, als feste gesetzliche Regelungen oder politische Teilhaberechte abdecken können, sind symbolische Formen der Achtung nötig, um diese Lücken zu schließen. Besonders deutlich wird das Potenzi­ al dieser Anerkennungsformen, wenn man deren große Reichweite beachtet. Sowohl alle hier behandelten Anerkennungssubjekte, also Personen, Identi­ tätsträger und Leistungserbringer, als auch alle Anerkennungsquellen, also Staat, Gesellschaft und souveräne Bürger, können in irgendeiner Art und Weise symbolische Anerkennung verteilen oder empfangen. Relevant wird dies vor allem bei der Frage nach der differenten Identität vieler Gesell­ schaftsmitglieder: Wie bereits gesehen, kann die rechtliche Anerkennung von Menschen mit unterschiedlicher Kultur, Religion oder sozialer Herkunft nur bis zu einem bestimmten Grad realisiert werden, da sonst grundlegende Prinzipien liberaler politischer Ordnungen auf dem Spiel stehen.230 Zum einen, wie bereits beschrieben, können institutionalisierte politische Partizi­ pationsmöglichkeiten für die Betroffenen diese Unzulänglichkeit abfedern – direkte Teilhabemechanismen sowie zivilgesellschaftliche Organisationsfor­ men scheinen dafür geeignet zu sein.231 Zum anderen lässt sich hier über symbolische Anerkennung das erreichen, was rechtlich-institutionell nicht möglich erscheint, ohne bestimmte Grundsätze aufzugeben: die politische Bestätigung von Individuen in ihrer Selbstachtung, die diesen die Aussicht auf die Entwicklung vollständiger Autonomie verspricht. Aus naheliegenden Gründen soll dies am Beispiel von muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland im Folgenden erläutert werden. Durch die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit ist es Individuen jeder Glaubensrichtung, die nicht als verfassungsfeindlich eingestuft wird, möglich, ihre religiösen Praktiken auszuüben, solange dadurch die Freiheit anderer nicht eingeschränkt wird. Diese Menschen werden also von staat­ 230  Vgl. 231  Vgl.

dazu C. III. 1. b) und C. III. 2. a). dazu C. III. 2. c).



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung161

licher Seite aus rein rechtlich als Träger bestimmter religiöser Identitäten anerkannt und können sich so der Grundlage eines positiven Selbstverhält­ nisses sicher sein. Dies gilt selbstverständlich für Christen und Muslime in Deutschland gleichermaßen. Dennoch stellen die Anhänger christlicher Glaubensrichtungen in diesem Land die Mehrheit dar und nehmen so eine herausragende Position im öffentlichen Diskurs ein. So entsteht die Gefahr einer Hegemonialstellung der in diesem Fall religiös definierten Mehrheits­ gesellschaft, die damit Politik und öffentliche Meinung dominieren kann. Die Folgen für Mitglieder religiöser Minderheiten können weit reichen: Trotz ihrer in der Verfassung festgeschriebenen Freiheitsrechte können sie in der Ausübung ihrer Religion durch den Unwillen der Mehrheit, bestimm­ te Praktiken zu respektieren, behindert werden. Für Muslime kann dies beispielsweise bedeuten, im Fastenmonat Ramadan trotz körperlicher Schwächung in ihrem Betrieb schwere Arbeit verrichten zu müssen. Musli­ mische Frauen sehen sich womöglich einer Stigmatisierung ausgesetzt, die sich in sozialer Meidung oder offener Ablehnung äußert, weil sie öffentlich das Kopftuch als Symbol ihres Glaubens tragen. Kinder könnten Probleme in der Schule bekommen, da für ihre täglichen Gebete nicht der geeignete Raum vorhanden ist. Das anerkennungstheoretische Problem an diesen Sze­ narien, die keineswegs fiktiv sind, besteht in der Schwierigkeit, rechtliche und gesellschaftliche Abhilfe zu schaffen. Wir haben bereits gesehen, dass die Einrichtung spezieller Sonderrechte für Mitglieder kultureller Gruppen nicht nur an den Grundfesten des liberalen Staats- und Politikverständnisses rütteln, sondern auch unerwünschte Nebenwirkungen für die Identität der Individuen nach sich ziehen können.232 Auch mit dem Hinweis auf indivi­ duelle Grund- und Freiheitsrechte lassen sich höchstens Einzelfallabwägun­ gen begründen, die allerdings je nach Situation auch zu Ungunsten der Betroffenen ausfallen können. Außerdem kann auch Anerkennung aus der Gesellschaft hier nur schwer eingefordert werden: Zwar entstehen durch die beabsichtigte oder unbeabsichtigte Ausgrenzung minoritärer Gruppen Aner­ kennungsräume innerhalb dieser Gruppen, die den Individuen eine Möglich­ keit eröffnen, trotz mangelnder Anerkennung von außen ein positives Selbstverhältnis zu bewahren, aber dies trägt eher zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung bei, die im Auseinanderbrechen umfassender Anerken­ nungsrelationen besteht. Dennoch existieren symbolische Formen der Anerkennung, die diese Lü­ cken wieder schließen können. Ein vielversprechender Kandidat dafür ist die Einrichtung offizieller Gesprächsrunden, die Menschen mit differenten Identitäten ein Forum verschaffen, in dem sie sprechen können und gehört werden. Bürgerversammlungen, Migrantenverbände oder Kulturvereine sind 232  Vgl.

dazu C. III. 1. b).

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

nur einige Beispiele für diese Gremien, die zwar keinerlei politische Ent­ scheidungsmacht besitzen, dafür aber ihren Partizipanten ein Gefühl der Relevanz vermitteln, das diesen häufig im öffentlichen Diskurs fehlt. Die Quellen dieser symbolischen Anerkennung sind dabei vielfältig: Der Staat in Form der Kommunen als Ausrichter solcher Gesprächsrunden, die Gesell­ schaft beispielsweise in Form von medialer Aufmerksamkeit für die Anlie­ gen kultureller Minderheiten und die Mitbürger, indem sie den rechtmäßigen Anspruch der Muslime auf eine politische Meinung und deren öffentliche Hörbarkeit anerkennen. Eine weitere Möglichkeit, symbolische Anerken­ nung zu verteilen, besteht in der Erhöhung der öffentlich-medialen Präsenz von Muslimen. Während der Zentralrat der Juden in Deutschland aus ver­ ständlichen Gründen eine besondere Stellung in der deutschen Öffentlichkeit einnimmt, sich regelmäßig zu kontroversen Themen äußert und prominente Mitglieder und Fürsprecher besitzt, gilt dies für den Koordinationsrat der Muslime in Deutschland bisher nur in höchst eingeschränkter Weise. Dieser ist zwar staatlich anerkannt und fungiert als unregelmäßiger Gesprächspart­ ner der Bundesregierung und des Bundestags, es mangelt jedoch an inter­ subjektiver Anerkennung in Gesellschaft und Bürgerschaft. Auch der Dialog in der deutschen Islamkonferenz, an der verschiedene organisierte Gruppen, aber auch Einzelpersonen teilnehmen, steht immer wieder in der Kritik.233 Als dritte Art, symbolisch Menschen mit differenten Identitäten anzuerken­ nen, kann der Versuch gelten, bestehende Vorurteile in diesem Fall gegen­ über Muslimen abzubauen. Dazu gehören Informationsveranstaltungen über den Islam als Religion und Weltanschauung, lokale und regionale Diskussi­ onsrunden mit muslimischen Partizipanten oder auch die erhöhte Sichtbar­ keit von Frauen mit Kopftüchern in der Öffentlichkeit. Schließlich besteht viertens die Möglichkeit, durch öffentliche Sprechakte symbolische Aner­ kennung zu verteilen. Wenn nämlich Repräsentanten des deutschen Staates oder gesellschaftlich relevante Akteure öffentlich der muslimischen Bevöl­ kerung ihre Relevanz in der deutschen Gesellschaft versichern, kann dies nicht nur den Betroffenen Anerkennung vermitteln, sondern auch ein Anstoß für die christlich geprägte Bevölkerung sein, individuell im höheren Maße Anerkennung zu verteilen. Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff am 3. Oktober 2010 ist ein gutes Beispiel dafür. Wulff bekräftigte darin, dass „der Islam […] inzwischen auch zu Deutschland [gehört]“234 und rief mit der bloßen Aussprache einer Tatsache bei vielen Muslimen das Gefühl des Anerkanntseins hervor. Gleichzeitig entstand da­ 233  Vgl. dazu exemplarisch Hummitzsch, Thomas: Deutschland: Islamkonferenz und Integrationsgipfel provozieren Kritik, in: Migration und Bevökerung 5/2013, S.  5 f. 234  www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wulff-rede-im-wortlaut-der-islamgehoert-zu-deutschland-seite-3/3553232-3.html, Stand: 03.09.2012.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung163

durch eine bundesweite Debatte der Selbstversicherung, in der – trotz eini­ ger plumper, fremdenfeindlicher Äußerungen sowie kruder Kommentare zur „deutschen Leitkultur“ – eingefahrene Sichtweisen zur Tradition deutscher Kultur und Staatlichkeit reflektiert und zum Teil revidiert werden konn­ ten.235 All diese symbolischen Aktionen tragen dazu bei, dass Mitglieder einer Gesellschaft, die sonst üblicherweise mit Ausgrenzungserfahrungen zu kämpfen haben, Anerkennung von ihren Mitbürgern sowie den offiziellen Behörden spüren und so ein positives Selbstverhältnis entwickeln können. Ein interessantes Beispiel für diese Form der symbolischen Anerkennung stellen die im Jahr 2012 geschlossenen Verträge der Stadt Hamburg mit den muslimischen Dachverbänden sowie der alevitischen Gemeinde dar. Diesen Verträgen, in denen verschiedene Bereiche der gemeinschaftlichen Koexis­ tenz von Muslimen und Christen abgedeckt sind, wird in einer Erläuterung explizit keine neue rechterschaffende Wirkung zugesprochen. Vielmehr sollen sie als symbolische Handlung verstanden werden: „Die Verträge sind eine Geste. Die Stadt erkennt an, dass es den Islam in Ham­ burg gibt und Hamburgerinnen und Hamburger muslimischen und alevitischen Glaubens gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger unseres Gemeinwesens sind. Die Verträge schaffen unabhängig von bereits bestehendem Recht Klarheit in verschiedenen Bereichen des religiösen Zusammenlebens.“236

Der zitierte Abschnitt zeigt deutlich, dass es in den Verträgen darum geht, Menschen mit differenten religiösen Identitäten auf eine besondere Art und Weise anzuerkennen, die von der bestehenden Rechtslage nicht geleistet werden kann. Das dortige Bekenntnis zur allgemeinen Rechtsgleichheit scheint nämlich in den Augen der Hamburger Verantwortlichen nicht dafür geeignet zu sein, die nötigen Ausgestaltungsmöglichkeiten von Anerkennung zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig demonstriert die Analyse des Wort­ lauts der Verträge die oben bereits betonte unerlässliche Wechselseitigkeit von Anerkennungsrelationen. Während die Stadt Hamburg in Artikel 1 ihre Anerkennung gegenüber muslimischen Bürgern mit dem Bekenntnis zum Schutz und zur Förderung der freien Religionsausübung ausdrückt, ver­ 235  Vgl. für Kommentare Politiker verschiedener Parteizugehörigkeit zwei Artikel in der Süddeutschen Zeitung unter www.sueddeutsche.de/politik/islamdebatteunionsgranden-legen-wulff-rede-aus-1.1009667 und www.sueddeutsche.de/politik/kri tik-an-wulff-rede-ueber-islam-es-gilt-das-grundgesetz-und-nicht-die-scharia-1.10090 94, Stand: 04.09.2012. Vgl. außerdem exemplarisch zur Debatte Assheuer, Thomas: Die neuen Feinde. Das Gerede von der „christlich-jüdischen Leitkultur“ schürt dem Fremdenhass, in: DIE ZEIT, 43/2010, abgerufen unter: www.zeit.de/2010/43/ Leitkultur, Stand: 27.03.14. 236  Senatskanzlei Hamburg: Fragen und Antworten zu den Verträgen Hamburgs mit den muslimischen Verbänden und der Alevitischen Gemeinde, 14. August 2012, S. 1.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

pflichten sich die muslimischen Verbände in Artikel 2, die verfassten Wer­ tegrundlagen der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen. Insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Toleranz gegenüber Anders­ denkenden, die freiheitliche-demokratische Grundordnung sowie die Gleich­ berechtigung von Mann und Frau werden hier explizit genannt.237 Ähnliches gilt für den konkreten Inhalt der Verträge. Auch hier liegt der Fokus auf einem symbolischen Anerkennungsraum, der in reziproker Weise zwischen der Stadt und den muslimischen Verbänden konstituiert wird. So wird diesen beispielsweise seitens der Stadt zugesichert, islamische Bil­ dungs- und Kultureinrichtungen unterhalten zu dürfen, wenn sie sich un­ eingeschränkt zum „staatlichen Schulwesen, der allgemeinen Schulpflicht und der umfassenden Teilnahme am Unterricht staatlicher Schulen“ beken­ nen.238 Darüber hinaus enthalten die Verträge weitere symbolische Bestim­ mungen, die von der Achtung islamischer Feiertage (Artikel 3) über die religiöse Betreuung in besonderen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Heimen oder Justizvollzugsanstalten (Artikel 7) bis hin zur Erlaubnis und Ermöglichung traditioneller Bestattungsrituale der gläubigen Muslime rei­ chen (Artikel 10).239 Als interessant im Kontext der obigen theoretischen Überlegungen erweist sich auch Artikel 8 und 9 der Verträge. In Artikel 8 wird die Bereitschaft der Stadt Hamburg ausgedrückt, Muslimen stärker als bisher Gehör in Rundfunk und Medien zu verschaffen, sowie darauf hinzu­ wirken, Vertretern der islamischen Religion Mitsprachemöglichkeiten in den medialen Aufsichtsgremien (z. B. Rundfunkräten) einzuräumen.240 Der oben dargestellten Relevanz einer erhöhten Sichtbarkeit und öffentlichen Präsenz von Menschen mit differenten Identitäten im Kontext anerkennungsbezoge­ ner Gerechtigkeitsvorstellungen wird hier also Rechnung getragen. In Arti­ kel 9 verspricht die Stadt Hamburg zudem, sich im Rahmen geltender Rechts- und Gleichbehandlungsgrundsätze aktiv für die Bereitstellung adä­ quater Gebetsräume in Form von traditionell gestalteten Moscheen einzuset­ zen, sowie die Akzeptanz der Gesamtbevölkerung für solche Einrichtungen zu stärken.241 Auch diese Maßnahmen schaffen weder rechtliche Verbind­ lichkeiten noch Sonderrechte oder Privilegien für eine bestimmte Gruppe, sondern drücken politische Anerkennung rein symbolhaft aus. Schließlich 237  Vgl. Senat Hamburg: Vertrag zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg, dem DITIB-Landesverband Hamburg, SCHURA – Rat der Islamischen Gemein­ schaften in Hamburg und dem Verband der Islamischen Kulturzentren, 14. August 2012, S. 2. 238  Ebd. S. 4. 239  Vgl. ebd. S. 3–9. 240  Vgl. ebd. S. 6 f. 241  Vgl. ebd. S. 7 f.



III. Die politischen Dimensionen der Anerkennung165

enthalten die Verträge in Artikel 11 ein klares Bekenntnis zur formellen und informellen Zusammenarbeit auf lokalpolitischer Ebene. Der Wortlaut zeigt deutlich, dass der oben beschriebene Vorschlag, durch die frühzeitige Ein­ bindung betroffener Gruppen bei Gesetzesvorhaben politische Anerkennung zu gewähren, ohne die theoretisch und praktisch bedenklichen Mittel der speziellen Bevorzugung oder Vetomöglichkeit zu bemühen, hier seine Ent­ sprechung findet: „Die Vertragsparteien werden bedarfsabhängig Gespräche zur Intensivierung ihrer Beziehungen führen. Sie werden sich außerdem vor der Regelung von Angelegen­ heiten, die die beiderseitigen Interessen berühren, miteinander ins Benehmen set­ zen und zur Besprechung solcher Angelegenheiten zur Verfügung stehen. Dies gilt auch für Gesetzesvorhaben des Senats, die Belange der islamischen Religionsge­ meinschaften unmittelbar berühren.“242

In Verbindung mit der Einrichtung eines Beauftragten der muslimischen Verbände, der erster Ansprechpartner für den Senat und die Bürgerschaft der Stadt Hamburg sein soll, stellt diese Bestimmung also einen Versuch dar, durch die umfassende Einbindung der Hamburger Muslime in Mei­ nungsbildungs- und Entscheidungsprozesse ihnen symbolisch politische Anerkennung zukommen zu lassen. Insgesamt können die Hamburger Ver­ träge als ein hervorragendes Beispiel dafür gelten, wie auf politischer Ebe­ ne wechselseitig Anerkennung geleistet werden kann, ohne dafür grundle­ gende Prinzipien des freiheitlichen Staats- und Rechtsverständnisses umfor­ mulieren oder sogar aufgeben zu müssen. Es zeigt sich also, dass symbolische Anerkennung nicht nur in vielfältiger Art und Weise gewährt werden, sondern auch von jeder der oben identifi­ zierten Anerkennungsquellen ausgehen kann. Dadurch bewegt sie sich in einem ebenso großen Aufgabenfeld wie sie Wirkmächtigkeit entfaltet. Viele Unzulänglichkeiten der rechtlichen Anerkennung, die aus den Grenzen libe­ raler Prinzipien resultieren, können dadurch womöglich kompensiert wer­ den. Denn besonders bei Anerkennungsfragen, die zu einem beträchtlichen Teil sozialpsychologische Einstellungen und Erfahrungen der Individuen betreffen, vermögen symbolpolitische Maßnahmen einen großen Beitrag zur angemessenen Behandlung der Mitglieder einer politischen Ordnung zu leisten.

242  Ebd.

S. 10.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien 1. Eine idealtypische Schematisierung der politischen Dimensionen von Anerkennung Als Ausgangspunkt der Argumentation in diesem Abschnitt wurde die Erkenntnis dargestellt, dass trotz der vielfachen Verwendung des Anerken­ nungsbegriffes bisher weder eine allgemein akzeptierte Bedeutung im aka­ demischen Bereich existiert, noch eine klare Abgrenzung verschiedener Sphären wie der epistemologischen, universell-moralischen und politischen Ebene vorgenommen wurde. Es wurde die Notwendigkeit einer umfangrei­ chen und kleinteiligen Differenzierung des Anerkennungsbegriffes postuliert, um ihn auf seine politische Existenz und normative Wirksamkeit hin zu überprüfen. Durch die Abgrenzung zu anderen gerechtigkeitsrelevanten Ter­ mini konnten seine Konturen geschärft und eine Basis für die weitere Aus­ differenzierung geschaffen werden. Für diese erschien es unumgänglich, unter Berücksichtigung der entscheidenden Akteure einer politischen Ge­ meinschaft ein Raster zu erstellen, in dem die Dimensionen des Begriffes zunächst unabhängig voneinander analysiert und mit konkreten Beispielen verknüpft wurden. Dabei wurde deutlich, dass je nach Anerkennungsgegen­ stand, Anerkennungsquelle und Anerkennungsmittel unterschiedliche Erfor­ dernisse und Verpflichtungen hinsichtlich einer gerechten politischen Ord­ nung entstehen können. Will man dies auf vereinfachte Art schematisch darstellen, könnten die politischen Dimensionen der Anerkennung in libera­ len Demokratien wie in Tab. 1 aussehen. 2. Die Schematisierung als Hilfsmittel der Kritik Selbstverständlich muss diese Matrix mit einiger Vorsicht betrachtet wer­ den. In der politischen Realität überlappen sich diese Dimensionen nicht nur, sondern es existieren sicher auch Beispiele, die sich nicht ohne weiteres nur einer Kategorie zuordnen lassen. So kann man beispielsweise den An­ erkennungsbereich „Schule und Bildung“ sicherlich sowohl unter staatlicher als auch gesellschaftlicher Anerkennung subsumieren. Dass diese Ebene nicht nur in Hinsicht auf die reelle Chancengleichheit, sondern auch als möglicher Ort zur Herstellung von Anerkennungsrelationen gerechtigkeits­ relevant ist, liegt auf der Hand. Denn gerade in der Schule werden die politischen Fundamente gelegt, die innerhalb des Anerkennungsschemas zur Anwendung kommen. So soll beispielsweise die Inklusion behinderter Men­ schen in Regelschulen nicht nur deren Chancen auf bessere Bildung, son­ dern vor allem ihre symbolische Akzeptanz durch den Rest der Gesellschaft fördern. Ähnliches kann für die besonders in den USA vielfach diskutierte

Rechtlich-Formal (Grundrechte), Rechtlich-Politisch (Wahlen, Partizipation)

Symbolisch (Verträge, ideelle / finanzielle Unterstützung, Sprechakte)

Distributiv (Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Mindestlohn), Symbolisch (Würdigungen)

Person

Identitätsträgerin

Leistungserbringer

Anerkennungsgegenstand

Anerkennungsquelle Staat

Rechtlich-Politisch (Teilhabe­ mechanismen, direkt-demo­ kratische Bewegungen) Rechtlich-Politisch (Partizipa­ tion, gemeinsames politisches Handeln, Ausweitung des Wahlrechts) Symbolisch (Ehrenamt, Würdigungen)

Institutionell-Symbolisch (Vereine, Verbände, Gruppen, öffentliche Informations­ veranstaltungen) Distributiv (Gehalt), Symbolisch (Ansehen für bestimmte Berufsgruppen, Ehrenamt)

Bürgerschaft

Institutionell-Symbolisch (Vereine, Verbände, Gruppen)

Gesellschaft

Tab. 1: Politische Dimensionen der Anerkennung in freiheitlichen Demokratien

IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien167

168

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Öffnung des traditionellen Literaturkanons an Universitäten gelten. Abgese­ hen vom akademischen Gewinn wird durch die intensivere Beschäftigung mit dem Denken, den Traditionen und den Praktiken anderer Kulturen nicht nur deren Angehörigen symbolische Anerkennung zugesprochen, sondern es wird auch ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das die bürgerschaftliche Akzeptanz differenter Bürgerinnen als legitime Mitglieder des Souveräns erleichtert. Nun werden die Lehrpläne in Deutschland bekanntlich von den Kultusministerien der einzelnen Bundesländer bestimmt und können somit als Beispiel staatlicher Anerkennung gelten. Der Staat – im Fall des Föde­ ralismus in Gestalt der einzelnen Länder – verteilt hier nicht nur rechtlichformale Anerkennung, indem er das grundlegende Recht auf Bildung für alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft verwirklicht, sondern er kann eben auch symbolische Akzeptanz durch eine bestimmte inhaltliche Gestal­ tung und Durchführung der schulischen sowie weiterführenden Ausbildung aussprechen. Diese wirkt sich andererseits jedoch auch auf Gesellschaft und Bürgerschaft aus. Denn diese gewähren ihren Mitgliedern je nach Stand der kulturellen bzw. politischen Bildung symbolische, symbolisch-institutionelle oder rechtlich-politische Anerkennung. Das Beispiel zeigt, wie die verschiedenen Anerkennungsrelationen und -räume ineinander übergehen können. Doch es zeigt auch, dass mit Hilfe des hier erarbeiteten Modells die Ebenen einzeln betrachtet und analysiert werden können. Hier soll die Ansicht vertreten werden, dass eine solche idealtypische Schematisierung insbesondere drei Vorteile mit sich bringt, die etwaige Nachteile aufwiegen können: Erstens kann damit demonstriert wer­ den, dass die Betrachtung politischer Gerechtigkeitsfragen im Spiegel einer anerkennungsbezogenen Sprache durchaus den realen Problemstellungen demokratischer Ordnungen angemessen ist. Im Gegensatz zu einer rein verteilungsorientierten Gerechtigkeitsvorstellung vermag diese Art der Theo­riebildung eine Vielzahl von politisch relevanten Sphären und Dimen­ sionen zu inkludieren, ohne dabei Kernbereiche der Gerechtigkeit zu ver­ nachlässigen. Sicherlich ließe sich die vorgenommene Einteilung weiter ausdifferenzieren, allerdings auf die Gefahr hin, den Überblick zu verlieren. Bleibt man jedoch bei der vorliegenden Konzeption, so scheint der Fokus weder zu kleinteilig noch zu unscharf zu werden, da einerseits immer die Relation zu gesamtgesellschaftlichen Fragen erhalten bleibt und andererseits die präzise Beschäftigung mit Teilaspekten ermöglicht wird. Zweitens macht es diese Vorgehensweise – so zumindest die Hoffnung – nun möglich, die meisten konkreten politischen Anerkennungsmaßnahmen zielsicher einem bestimmten Bereich zuzuweisen, indem Quelle und Adres­ sat der Anerkennung identifiziert werden. Da in der öffentlichen Debatte Gerechtigkeitsfragen meist vollkommen ungeordnet diskutiert werden, also in Unkenntnis oder Vermischung der theoretischen Grundlagen, steht es der



IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien169

politischen Philosophie, sofern sie für sich aktuelle Relevanz beanspruchen möchte, gut zu Gesicht, für klare Abgrenzungen hinsichtlich Akteuren, Ad­ ressaten und Mitteln zu sorgen. Drittens – und womöglich am wichtigsten – scheint das Anerkennungs­ schema geeignet zu sein, Hilfestellungen beim Ansatzpunkt für gerechtig­ keitsbezogenen Kritik an politischen und gesellschaftlichen Praktiken zu leisten, ohne dafür ein umfassendes System errichten zu müssen. Denn die nun leichter zu stellende Diagnose der mangelnden Anerkennung in einem bestimmten Bereich bietet eine Vielzahl von theoretischen Anknüpfungs­ punkten, die von der Kritik an überzogenen Anerkennungsforderungen über die Anpassung politischer Verfahrensweisen bis hin zur – im Folgenden noch zu explizierenden – Möglichkeit multidimensionaler Kompensation reichen. 3. Die Möglichkeit multidimensionaler Kompensation Die vorgenommene Ausdifferenzierung der verschiedenen Anerkennungs­ dimensionen bringt also einige Vorteile in der theoretischen Erfassung, Ausformulierung und Weiterentwicklung politischer Zusammenhänge. Hält man die vorliegende Argumentation für plausibel, lässt sich begründet be­ haupten, dass Anerkennungsbeziehungen stets zumindest anteilig politische Relationen beeinflussen oder diese sogar konstituieren.243 Seien es Rechts­ verhältnisse, Partizipationsmechanismen oder symbolhafte Aktionsformen – immer hängt das Gelingen und damit die Bewertung nach dem Kriterium der Gerechtigkeit von der erfolgreichen Errichtung und Absicherung von Anerkennungsräumen ab. Und meist lassen sich in diesen Räumen verschie­ dene Quellen, Adressaten und Mittel oder Ausdrucksweisen der Anerken­ nung identifizieren. Die handlungstheoretische und semantische Konzentra­ tion auf den Begriff der Anerkennung ermöglicht also eine umfassende Perspektive auf den Bereich des Politischen, der für die normative Arbeit der politischen Philosophie so wichtig ist. Die ständige Rückversicherung anhand eines Grundprinzips, das in der Lage ist, zur sinnvollen Ausfüllung der immer wieder konstatierten inhaltlichen Leere politischer Gerechtig­ keitskonzeptionen beizutragen, kann dabei sowohl die Orientierung inner­ halb komplexer normativer Zusammenhänge erleichtern, als auch eine 243  Damit soll ausdrücklich nicht gesagt werden, dass hier die verschiedenen Anerkennungssphären und -kämpfe als Bewegungsprinzip menschlicher Gesellschaf­ ten im Allgemeinen verstanden werden, wie das beispielsweise bei Axel Honneth der Fall ist. Diese Arbeit beschäftigt sich mit einem begrenzten Bereich des Politischen und erhebt nicht den Anspruch, Sozietäten in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Vgl. zu Honneth B. II.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Grundlage für valide und konstruktive Kritik bilden. Dennoch subsumiert die vorliegende Analyse nicht einfach eigentlich zu trennende Bereiche unter den Begriff der Anerkennung und vermischt so Ebenen, die aus plau­ siblen Gründen auseinander gehalten werden sollten. Im Gegenteil: Zwar ist es richtig, dass der Begriff der Anerkennung eine Bezugsgröße bildet, zu der sich die verschiedenen politischen Ebenen und Dimensionen irgendwie verhalten, aber genau das muss in der kleinteiligen Untersuchung eben die­ ser Ebenen und Dimensionen herausbearbeitet werden. Mit anderen Worten, die Ausdifferenzierung des Begriffs ist – so zumindest die Überzeugung, die in dieser Arbeit vertreten wird – absolut notwendig, um der Komplexität von Anerkennungsbeziehungen in liberal-demokratischen politischen Ord­ nungen gerecht zu werden. Denn in freiheitlichen Gesellschaften sind es eben diese Beziehungen, die sich je nach Quelle, Adressat und Ausdruck der Anerkennung unterschiedlich ausformen und somit einen wesentlichen Bestandteil theoretischer Gerechtigkeitsüberlegungen ausmachen sollten. Gerade, wenn die politische Philosophie eine kritische Stoßrichtung behal­ ten will, ohne jedoch sämtliche Herrschaftsverhältnisse von vornherein zu verdammen, kann die vorgenommene Einteilung dabei helfen, nicht nur ungerechte Zustände selbst, sondern auch deren Protagonisten zu identifizie­ ren. Anstatt also analytisch schwer zugängliche gesellschaftliche Macht­ strukturen für normativ unhaltbare Situationen verantwortlich zu machen und sich damit der Möglichkeit einer konstruktiv orientierten Bewertung zu berauben, können in dem hier vorgeschlagenen Modell sowohl Akteure als auch Betroffene relativ exakt bestimmt und eine weiterführende Bearbeitung der Problematik so erleichtert werden.244 Welche Vorgehensweise ist aber nun geboten, wenn tatsächlich auf einer bestimmten Anerkennungsebene Ungerechtigkeiten konstatiert werden? Was wäre zu tun, wenn konkrete politische Verhältnisse anhand des vorgeschla­ genen Kritikmodells überprüft werden und sich daraus die Erkenntnis ergibt, bestimmten Individuen oder Gruppen kommt in einer bestimmten Dimensi­ on keine oder nur mangelhafte Anerkennung zu? Die naheliegende Reaktion wäre sicherlich, zum einen den Sollzustand zu definieren und zum anderen den oder die Verantwortlichen für diese Situation zu bestimmen und daran anknüpfend Anerkennungsforderungen praktischer oder akademischer Natur zu erheben. Mit dieser Beschreibung könnte man beispielsweise die Aner­ 244  Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich spielen Machtstrukturen in Anerkennungsfragen eine wichtige Rolle. Während sich jedoch mit Hilfe des hier vertretenen Modells konkrete Anhaltspunkte für strukturell unge­ rechte Zustände anhand der akteursbasierten Handlungen erkennen lassen, bleiben Machtbeziehungen oft diffus und verweigern sich der eingehenden theoretischen Analyse. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, dass die vorgenommene Ausdiffe­ renzierung nicht als Ausgangspunkt einer solchen Bearbeitung dienen könnte.



IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien171

kennungskämpfe der neuen sozialen Bewegungen charakterisieren, die am Anfang dieser Arbeit erwähnt wurden. So kann die Strategie der Bürger­ rechtsbewegung in den USA im Nachhinein durchaus als anerkennungsori­ entierte, kognitiv und praktisch ausgeprägte Handlungsfolge betrachtet werden. Aus der Erkenntnis, in der so wichtigen Sphäre des Rechts nur mangelhafte Anerkennung zugesprochen zu bekommen und der Identifikati­ on der Verantwortlichen, nämlich des US-amerikanische Rechtssystems und dessen Apologeten, resultiert die öffentliche Forderung nach Gleichberech­ tigung und die Mobilmachung der eigenen Unterstützerinnen. Auch die in Abschnitt B dieser Arbeit behandelten Theoretiker_innen scheinen eine solche Reaktion zu bevorzugen oder zumindest als legitim zu begreifen. Während Honneth in seinem gesellschaftstheoretischen Ansatz in solchen Kämpfen ein geschichtliches Bewegungsprinzip und die Quelle moralischen Fortschritts ausmacht, fokussieren sich Taylor, Kymlicka und Young zumeist auf die konkrete Verbesserung der rechtlichen Lage benachteiligter Grup­ pen, namentlich durch die handelnden staatlichen Institutionen. Doch wie genau kann die Legitimität solcher Anerkennungsforderungen beurteilt werden? Schließlich ist sicherlich nicht jeder Versuch, politische Anerkennung zu erlangen, so gerechtfertigt, wie es bei der schwarzen Bür­ gerrechtsbewegung der Fall war. Hinzu kommt, wie in dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde, dass bestimmte Ausdrucksweisen der Anerkennung für bestimmte Adressaten eine Reihe von Problemen mit sich bringen, die zum Teil mit Grundprinzipien liberal-demokratischer Gemeinwesen kollidie­ ren. So wurde hier beispielsweise argumentiert, dass die staatlich-rechtliche Anerkennung von Individuen als Trägern einer ethnischen oder kulturellen Identität und ein damit verbundener besonderer Rechtsstatus einerseits mit Gleichheitserfordernissen in Konflikt kommen und andererseits die Betrof­ fenen in ihrer Andersheit noch stärker marginalisieren und sogar stigmati­ sieren kann.245 Doch selbst in einer solchen Situation könnten sich nach eingehender Prüfung die erhobenen Anerkennungsforderungen zumindest zum Teil als gerechtfertigt erweisen. Wie sollte man also angemessen vor­ gehen, wenn grundsätzlich plausibel argumentiert werden kann, dass es auf einer bestimmten Ebene an Anerkennung mangelt, aber die mögliche Ge­ genmaßnahme auf dieser Ebene genauso plausibel als unvereinbar mit ver­ wandten Gerechtigkeitsprinzipien abgelehnt werden kann? Für dieses scheinbare Dilemma soll hier eine Lösung vorgeschlagen wer­ den, die ihre Berechtigung weder aus einer pragmatistisch orientierten Fal­ lentscheidung je nach Sachlage, noch aus einer theoretischen Abwägung verschiedener Werte und der damit im Endeffekt verbundenen Höherschät­ zung bestimmter Prinzipien erhält. Ersteres hat ohne Zweifel seinen Reiz: 245  Vgl.

dazu vor allem die C. III. 1. b) und C. III. 2. a).

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

Ohne zu tief in die philosophischen Tiefen der Wertbegründung abtauchen zu müssen, können so politische Gerechtigkeitsangelegenheiten anhand ei­ ner Mischung aus Sachzwängen und unideologischen, intuitiv einleuchten­ den Überlegungen bewältigt werden. Der Nachteil einer solchen Vorgehens­ weise liegt jedoch auch auf der Hand. Fehlt nämlich eine plausible theore­ tische Begründung für die normativen Entscheidungskriterien für politische Maßnahmen, hängt der Status der Konsequenzen im besten Fall vom rich­ tigen Gespür der handelnden Personen, meist jedoch wahrscheinlich von inhärenten Machtstrukturen ab und kann so kaum grundlegende Gerechtig­ keitsmaßstäbe erfüllen. Die zweite Möglichkeit, also eine Letztbewertung der konfligierenden Werte, wäre selbstverständlich grundsätzlich dafür ge­ eignet, der Problematik zu entgegnen, scheint jedoch in den genannten Fällen nicht angemessen zu sein. Zum einen wurde hier versucht zu zeigen, dass die vorliegenden Spannungsverhältnisse sich nicht immer daraus erge­ ben, dass Werte miteinander in Konflikt kommen, die konstitutive Bestand­ teile unterschiedlicher Gesellschaftskonzeptionen wären, sondern vielmehr häufig aus der Uneinigkeit über die angemessenen Mittel zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels resultieren. Während politische Anerkennungsfor­ derungen zwar meist die partikularen Identitäten der Individuen als schüt­ zenswert deklarieren und die Verteidiger differenz-blinder Strukturen uni­ versale Eigenschaften als entscheidendes Kriterium in Position bringen, zielen beide doch vor allem auf die Autonomie der Individuen sowie deren Recht auf eine Behandlung als Gleiche ab. Die Kontroversen entzünden sich in diesem Fall also an der Einschätzung des Weges, nicht an unter­ schiedlichen Zielvorstellungen. Zum anderen gibt es natürlich auch Situati­ onen, in denen Prinzipien aufeinandertreffen, die ohne die – theoretisch fundierbare – Entscheidung für eine Seite nicht aufzulösen sind. Ob bei­ spielsweise die Trennung zwischen Öffentlichkeit und privatem Raum, die in der liberalen Tradition einen hohen Stellenwert besitzt, zu Gunsten eines breiter angelegten Politikverständnisses aufgeben werden soll, stellt eine Frage dar, die einerseits hohe Relevanz für die Beschäftigung mit Anerken­ nung entfaltet, aber andererseits ohne die dazugehörige Richtungsentschei­ dung kaum zu beantworten ist. Ein dritter Weg, mit diesem Dilemma umzugehen, ist der Versuch zu zeigen, dass es sich gar nicht um ein solches handelt. Dies scheint zwar auf den ersten Blick so, bleibt jedoch nur plausibel, wenn man die verschiede­ nen politischen Dimensionen der Anerkennung einzeln betrachtet und be­ wertet. Nur wenn man beispielsweise die formal-rechtliche Sphäre als in sich geschlossen behandelt, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Erkenntnis, die Einführung kulturell basierter Sonderrechte wäre unverein­ bar mit wesentlichen liberal-demokratischen Prinzipien, ein potenziell un­ lösbares Problem darstellt. Erweitert man jedoch die Perspektive auf die



IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien173

verschiedenen Anerkennungsdimensionen der hier vorgeschlagenen Matrix, lässt sich womöglich feststellen, dass Anerkennungslücken durch sphären­ übergreifende Kompensationsmechanismen geschlossen werden können. Der hier vertretene Vorschlag lautet also mit anderen Worten: Anhand der politischen Begriffsanalyse und des vorgestellten Schemas lassen sich unge­ rechte Anerkennungsverhältnisse – inklusive der relativ genauen Zuordnung der betroffenen Personen oder Institutionen – in den einzelnen Sphären feststellen. Diese Erkenntnis kann einerseits mit Hilfe übergeordneter Prin­ zipien in normative Kritik münden, die innerhalb des jeweiligen Anerken­ nungsraumes greift. Wenn, um ein einfaches Beispiel zu nennen, bestimmten Individuen die Teilnahme an Wahlen verweigert wird, stellt dies eine aner­ kennungsbezogene Ungerechtigkeit dar, die nur durch die vollständige In­ klusion der Betroffenen aufgehoben werden kann. Die kritische Analyse kann jedoch auch zunächst mit der Anerkennungsmatrix rückgekoppelt werden, um so mögliche Einflüsse über die – aus konzeptionellen Gründen gezogenen – Grenzen hinweg auszumachen. Gerechtigkeitsdefizite auf der einen Ebene können, so die These, durch Maßnahmen oder Vorkehrungen auf einer anderen Ebene kompensiert werden. Will man also den Gerechtig­ keitsstatus einer gesamten Gesellschaft bewerten, sollte man einen multidi­ mensionalen Ansatz verfolgen, der alle möglichen Anerkennungsräume samt der entsprechenden Quellen, Adressaten und Mittel mit einbezieht. Wie stellt sich dies nun konkret dar? Wie bereits angedeutet soll hier nicht die Auffassung vertreten werden, dass grundsätzlich alle Anerken­ nungslücken anderweitig kompensiert werden könnten. Fehlt die staatliche Anerkennung für bestimmte Individuen oder Gruppen in Form von basalen Grund- und Menschenrechten, hilft es nur bedingt, wenn diese dafür in ihren Leistungen beispielsweise durch ein marktübliches Gehalt wertge­ schätzt werden. Das Gleiche gilt auch umgekehrt: Der de jure bestehende rechtsstaatliche Schutz für alle Bürgerinnen bedeutet wenig, wenn de facto eine oder mehrere Gruppen durch die gesellschaftliche Mehrheit ausgegrenzt oder stigmatisiert wird. Dennoch gibt es viele Fälle, in denen die übergrei­ fende Kompensation von Anerkennungslücken funktionieren kann. Ein Beispiel wäre die bundesdeutsche Asylpraxis. Wenn notleidende Menschen nach Deutschland fliehen und Asyl beantragen, werden diese zunächst in Wohnheimen untergebracht und mit einschränkenden Auflagen belegt; so dürfen sie sich beispielsweise weder frei bewegen, noch haben sie ein Mit­ spracherecht bei den Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen oder die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.246 Man könnte also kri­ tisch feststellen: Asylbewerbern werden basale Grundrechte und somit die 246  Vgl. dazu § 55–§ 61 des Asylverfahrensgesetzes von 1992, abrufbar unter www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/, Stand: 03.04.14.

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

formal-rechtliche Anerkennung durch den Staat verweigert. Würde man nun nur diese eine Sphäre, in der der Staat als einzige Anerkennungsquelle fun­ giert, in die Überlegung mit einbeziehen, könnte die Konsequenz nicht an­ ders lauten, als dass diesen Menschen eben ein bestimmter rechtlicher Sta­ tus – analog zu anderen im Land lebenden Menschen ohne deutsche Staats­ bürgerschaft – zugestanden werden sollte. Wenn man nun aber die Annahme akzeptiert, dies sei rechtlich und politisch zumindest vorerst nicht möglich, da zunächst bestimmte Aufnahmemechanismen greifen, Anträge entschie­ den, sowie die verschiedenen Aufenthaltstitel festgelegt werden müssen, scheint man wieder vor einem Dilemma zu stehen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier soll selbstverständlich nicht die Auffassung vertreten werden, jedwede Behandlung von Menschen, die Asyl suchen, sei angemes­ sen. Doch selbst Vereine wie Pro Asyl fordern keine sofortige, umfassende rechtliche Gleichstellung für Flüchtlinge, sondern vielmehr ein gerechtes Asylverfahren, die Verbesserung des Bleiberechts und eine andere Abschie­ bepraxis.247 Aber auch Neuerungen in diesen Bereichen würden nichts an der Tatsache ändern, dass es nicht anerkannten Flüchtlingen auf rechtlicher Ebene eben an Anerkennung mangelt, weswegen die Notwendigkeit zur Kompensation in anderen Dimensionen weiterhin bestehen bleibt. Das scheinbare Dilemma stellt sich also folgendermaßen dar: Einerseits wird Asylbewerberinnen grundlegende Anerkennung verweigert und diese somit ungerecht behandelt, andererseits lässt sich dieses Problem anschei­ nend nicht auf der rechtlichen Ebene lösen. Orientiert man sich jedoch an der Anerkennungsmatrix, fallen andere Bereiche auf, in denen diesen Menschen Anerkennung gewährt werden kann. Besonders symbolische Anerkennung spielt in diesem Kontext eine wichtige Rolle: Wenn staatliche und gesell­ schaftliche Akteure beispielsweise durch Sprechakte ihre Bereitschaft aus­ drücken, Asylbewerberinnen als Personen mit Ansprüchen anzuerkennen und sie in ihrer Besonderheit wertzuschätzen, kann dies zur Stärkung der Selbst­ achtung der Betroffenen beitragen und damit dem dahinter stehenden Prinzip der autonomen Lebensführung jedes Einzelnen gerecht werden. Wenn sich Neuankömmlinge, ermutigt durch das Sprechen und Handeln der Gesell­ schaftsmitglieder, willkommen fühlen, kann dies, so die These, als Kompen­ sation von – wohlgemerkt vorübergehenden – Rechtseinschränkungen wir­ ken. Dies drückt sich auch in dem Begriff „Willkommenskultur“ aus, der mittlerweile sowohl Eingang in die sozio-politische Forschung, als auch in konkrete Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger gefunden hat.248 247  Vgl. dazu beispielsweise www.proasyl.de/de/themen/bleiberecht/ und www. proasyl.de/de/themen/abschiebungshaft/, Stand: 28.09.15. 248  Vgl. dazu TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung: Willkommens­ kultur in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in Deutschland, Gütersloh 2012, abgerufen unter www.bertelsmann-stiftung.de/file



IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien175

Wie Volker Heins und Burak Çopur beschreiben, handelt es sich hier in erster Linie nicht um Anerkennungsmaßnahmen im rechtlichen Sektor, auch wenn verschiedene gesetzliche Veränderungen bezüglich der Berufsqualifikation von Zuwanderern die Entwicklung begleiten.249 Viel wichtiger ist für die Au­ toren der Vollzug einer „ethischen Wende“, die darin bestehen soll, auf die Codierung von Migrantinnen als Fremde zu verzichten und einen offenen und freundlichen Umgang mit ihnen zu pflegen.250 Dazu sind zwar rechtliche Maßnahmen nötig, „[…] aber nur als Signal und Ermöglichungsbedingung für eine neue Ethik der Institutionen.“251 Ganz im Sinne der begrifflichen Unterscheidung in dieser Arbeit folgern die Autoren dementsprechend: „Will­ kommenskultur meint eher Anerkennung und Wertschätzung als bloße Duldung.“252 Betrachtet man die Flüchtlingskrise im Sommer 2015, zeigt sich das ge­ samte Ausmaß der Problematik, aber auch das Potenzial, das in der hier vertretenen anerkennungsorientierten Sichtweise steckt. Erneut muss festge­ halten werden: Sicher lassen sich einerseits mit guten Argumenten restrikti­ ve Regelungen hinsichtlich der freien Wohnortswahl oder der Arbeitserlaub­ nis für Flüchtlinge bereits innerhalb der hier beschriebenen Anerkennungs­ dimensionen kritisieren. Das bedeutet, es mangelt an rechtlicher Anerken­ nung von staatlicher Seite, was einen plausiblen Grund für die normative Fragwürdigkeit der Situation darstellen kann. Andererseits scheinen ange­ sichts der Flüchtlingszahlen bestimmte, grundsätzlich strittige Maßnahmen wie die Unterbringung in Sammelstellen oder die Aufteilung auf mehrere Bundesländer durch Quoten zumindest temporär gerechtfertigt zu sein. Auf die damit verbundene Minderung von staatlicher Anerkennung wird in Deutschland nun jedoch durch die erstaunliche Welle der Hilfsbereitschaft aus der Gesellschaft und der politischen Bürgerschaft reagiert, womit – wie­ derum zumindest temporär – eine dimensionsübergreifende Kompensation generiert wird. Die Vielzahl von Unterstützungsangeboten, die die ganze Bandbreite zwischen materieller, ideeller und symbolischer Förderung abde­ admin/files/Projekte/28_Einwanderung_und_Vielfalt/Emnid_Willkommenskultur.pdf, Stand: 28.09.15, sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Willkommensund Anerkennungskultur. Handlungsempfehlungen und Praxisbeispiele. Abschlussbe­ richt Runder Tisch „Aufnahmegesellschaft“, Nürnberg 2013, abgerufen unter www. bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/abschlussbericht-run der-tisch-aufnahmegesellschaft.pdf?__blob=publicationFile, Stand: 28.09.15. 249  Vgl. Heins, Volker M./Çopur, Burak: Willkommenskultur. Eine ethische Wen­ de in der Zuwanderungspolitik? In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Sonderband Ethik und Politikmanagement, 2014, S. 173. 250  Vgl. ebd. S. 170. 251  Ebd. S. 171. 252  Ebd. S. 170.

176

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

cken253, liefern Anerkennungsformen, die außerhalb der rechtlich-staatlichen Sphäre liegen, aber deswegen nicht unbedingt deutlich weniger wirksam sind. Nun mag symbolische Anerkennung alleine als zu schwach erscheinen, gravierende Eingriffe in die persönliche Rechtssphäre auszugleichen. Auch hier bietet jedoch die übergreifende Sichtweise der Matrix weitere Vorschlä­ ge, welche Maßnahmen weiterhin zur Kompensation geeignet wären. So können beispielsweise Asylbewerber nicht nur symbolisch als Personen, sondern auch durch die Teilhabe am Arbeitsmarkt als Leistungserbringerin­ nen anerkannt werden. Durch die Bereitstellung einer Arbeitserlaubnis und den gesellschaftlichen Willen, diese Menschen für bestimmte Tätigkeiten anzustellen und zu entlohnen, könnte deren Selbstwertgefühl weiter steigen. Ein Pilotprojekt in diesem Sinne fand im Jahr 2013 in Schwäbisch Gmünd statt.254 Durch Umbauarbeiten hatte der dortige Bahnhof seine Barrierefrei­ heit vorübergehend eingebüßt. Die Stadt und die Deutsche Bahn stellen daraufhin auf freiwilliger Basis Asylbewerber an, um die Reisenden beim Koffertragen zu unterstützen. Nachdem scharfe Kritik an der ungenügenden Bezahlung der Helfer, die aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes nur 1,05 Euro pro Stunde verdienen dürfen255, laut geworden war, wurde das Projekt wieder eingestellt. Trotz der sicherlich mangelhaften Entlohnung trug die Arbeitsmöglichkeit jedoch anscheinend dazu bei, in einem wechsel­ seitigen Verhältnis die gesellschaftliche Anerkennung und die damit verbun­ dene Selbstachtung der Teilnehmer zu erhöhen. Ein Sprecher des Arbeits­ kreises Asyl256 wird im Internetauftritt des SPIEGELS folgendermaßen wiedergegeben: „Die Asylbewerber fühlen sich dadurch enorm aufgewertet und werden als gleichberechtigte Kollegen wahrgenommen.“257 Bei diesem Zitat wird deutlich, dass sowohl die besondere Wertschätzung für eine Leis­ tung, als auch die allgemeine Behandlung als Gleiche durch verschiedene Quellen – in diesem Fall die regulären Bahnmitarbeiter, die offiziellen Stel­ len der Stadt sowie die Reisenden – gewährleistet werden kann. Noch einmal muss betont werden, dass all diese dimensionsübergreifen­ den Anerkennungsformen selbstverständlich weder gravierenden Rechtsver­ 253  Vgl. dazu die Übersicht unter www.tagesschau.de/fluechtlingsprojekte/, Stand: 06.10.15. 254  Vgl. dazu den Artikel auf SPIEGEL ONLINE unter www.spiegel.de/politik/ deutschland/bahn-laesst-fluechtlinge-in-schwaebisch-gmuend-nicht-mehr-koffer-tra gen-a-912899.html, Stand: 31.12.13. 255  Vgl. das Gesetz unter www.gesetze-im-internet.de/asylblg/__5.html, Stand: 31.12.13. 256  Nebenbei bemerkt: Auch ein solcher Verein bedeutet natürlich sowohl symbo­ lische als auch materielle Anerkennung für Asylbewerber. 257  www.spiegel.de/politik/deutschland/bahn-laesst-fluechtlinge-in-schwaebischgmuend-nicht-mehr-koffer-tragen-a-912899.html.



IV. Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien177

letzungen kompensieren können oder sollen, noch als Verschleierung für diese, die weiterhin einen zentralen Gegenstand politischer und sozialer Kritik bilden müssen, benutzt werden dürfen. Dennoch lässt sich unmittel­ bar nachvollziehen, dass damit relevante Anerkennungsbeziehungen entste­ hen, die den Beteiligten Würde und Autonomie, die durch beschwerliche Fluchtrouten und schwierige Aufnahmesituationen womöglich beschädigt wurden, zunächst wiederhergestellt werden können.258 Ein weiteres Beispiel zur Illustration der hier vorgeschlagenen theoreti­ schen Herangehensweise an gerechtigkeitsrelevante Anerkennungsrelationen betrifft die bereits häufiger erwähnte Problematik der kulturellen Differenz innerhalb eines politischen Gemeinwesens. Wie an anderer Stelle genauer erörtert, ergeben sich potenziell unlösbare Spannungsverhältnisse, wenn die Forderung nach gruppenspezifischen Rechten aufgrund kultureller Beson­ derheiten auf das grundlegend an Differenzblindheit orientierte liberale Demokratieverständnis trifft.259 Wie gezeigt wurde, scheinen der rechtlichen Institutionalisierung von Sonderbehandlungen trotz ihrer womöglich partiel­ len Erfolgsaussichten plausible philosophische Gründe entgegen zu stehen. Die Beibehaltung der Trennung von öffentlichem und privatem Raum, die Erhebung intimer Eigenschaften zu politischen Kategorien oder die Schwie­ rigkeiten, Gruppen widerspruchsfrei als Rechtssubjekte zu erachten, sind nur einige davon. Wieder ergäbe sich in der eindimensionalen Sichtweise ein Dilemma, da in sich stimmige, aber gegenläufige politische Forderungen innerhalb einer Sphäre aufeinandertreffen. Zieht man jedoch andere Aner­ kennungsdimensionen heran, eröffnet sich neue Wege, die Betroffenen als Identitätsträgerinnen anzuerkennen, ohne dies in einer problematischen Weise rechtlich zu manifestieren. Auch hier muss zunächst die symbolische Anerkennung durch Staat oder Gesellschaft genannt werden. Die bereits behandelten Beispiele der sprachlichen Zuwendung durch den damaligen deutschen Bundespräsidenten und des Vertrages der Stadt Hamburg mit muslimischen Verbänden zeugen davon.260 Hier werden Menschen, die eine andere Religion und andere Praktiken als die Mehrheitsgesellschaft aufwei­ sen, symbolisch als Identitätsträger anerkannt, ohne jedoch einen neuen rechtlichen Status zu generieren. Eine weitere Möglichkeit, die noch stärke­ re konkrete Auswirkungen nach sich zieht, ist die Einrichtung partizipativer Mechanismen für Menschen ohne Staatsbürgerschaft des Landes, in dem sie leben. Das bereits behandelte kommunale Wahlrecht für diese Menschen 258  Die hier abgegebene Einschätzung zur Flüchtlingssituation in Deutschland ist auf dem Stand vom 1. Dezember 2015. Aktuellere Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 259  Vgl. dazu C. III. 1. c), C. III. 2. a) und C. III. 3. a). 260  Vgl. dazu C. III. 3. c).

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C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn

stellt einen solchen Mechanismus dar.261 Den kulturell differenten Individu­ en wird so zugestanden, an politischen Entscheidungen entweder der Kom­ mune oder sogar des Bundeslandes, in der oder dem sie wohnen und arbei­ ten, mitzuwirken. Die mangelnde staatliche Anerkennung, die ihnen also womöglich durch die Vorenthaltung bestimmter kultursensibler Rechte auf der rechtlich-formalen Ebene widerfährt, kann so durch rechtlich-politische Maßnahmen kompensiert werden. Auch der dritte Bereich einer solchen Kompensation wurde bereits thematisiert: Die bürgerschaftliche Anerken­ nung von Menschen mit von der Mehrheitsgesellschaft verschiedenen Iden­ titäten als gleichberechtigte Mitglieder eines politischen Partizipationsrau­ mes vermag diesen nicht nur die eigene Selbstachtung zu garantieren, son­ dern ihnen auch die konkrete Aussicht auf Mitsprache und Mitwirkung an politischen Entscheidungen, die sie selbst betreffen, zu verschaffen. In Bürgerinitiativen, direkt-demokratischen Abstimmungen oder der Zusam­ menarbeit von Repräsentationsorganen verschiedener Gruppen kann so ge­ sellschaftliche und bürgerschaftliche Anerkennung entstehen, die diejenigen Unausgewogenheiten in der rechtlich-formalen Dimension, die dort nicht ohne weiteres verändert werden können, ausbalanciert.

261  Vgl.

dazu C. III. 2. c).

D. Schluss In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, mit Hilfe einer theoretischen Begriffsanalyse und -bestimmung den philosophischen Terminus „Anerken­ nung“ näher zu definieren, sowie dessen politische Relevanz herauszufil­ tern, ohne dabei hinsichtlich der unterschiedlichen akademischen Strömun­ gen, die diesen Begriff begleiten, eine endgültige Entscheidung treffen zu müssen. Vielmehr sollte plausibel begründet werden, warum trotz der in der Literatur bisher durchaus intensiven Beschäftigung mit dem Thema ei­ ne differenzierte Perspektive auf anerkennungsbezogene Gerechtigkeits­ theorien nötig ist. Im Zuge dessen wurde vorgeschlagen, die politischen Dimensionen der Anerkennung anhand eines Schemas zu analysieren, das sich an der Identifikation von Adressaten, Quellen und Mitteln derselben orientiert, um damit eine multidimensionale normative Sichtweise zu er­ möglichen, die Gerechtigkeitsdefizite in Form von Anerkennungslücken entdecken, konstruktiv kritisieren sowie eventuelle Kompensationswege aufzeigen kann. Zu diesem Zweck wurde zunächst anhand der Analyse einschlägiger An­ erkennungstheorien einerseits die theoretische Unterbestimmung des Begrif­ fes, andererseits die vorherrschende Eindimensionalität in der politischphilosophischen Auseinandersetzung festgestellt. Auf der Basis dieser Er­ kenntnis wurde dann versucht, durch eine umfassende Begriffsarbeit die Ambivalenz des Ausdrucks zu verringern und ihn für weitere, politisch re­ levante Untersuchungen nutzbar zu machen. Methodisch orientierte sich dieses Vorgehen an den Überlegungen von Giovanni Sartori, der aller an­ geblicher Beliebigkeit und Willkür zum Trotz anhand bestimmter Kriterien Begriffen Bedeutungsinhalte zuschreiben möchte, die sich zumindest teil­ weise unabhängig vom jeweiligen Diskurs erhalten können. Daraufhin sollte durch die Abgrenzung des Begriffs der Anerkennung von zwei ande­ ren, ähnlich verorteten Begriffen – „Toleranz“ und „Respekt“ – dessen Profil geschärft werden, um den Versuch einer positiven Definition wagen zu können. Dies bildete wiederum den Ausgangspunkt für die theoretische Ausdifferenzierung von Anerkennung in seine verschiedenen politischen Dimensionen. Anhand der oben genannten Einteilungskategorien wurde eine Matrix erstellt, deren Elemente stets durch konkrete politische Beispiele illustriert wurden. Mit Hilfe der theoretisch gewonnenen Erkenntnisse der Arbeit wurde schließlich die These formuliert, dass entstehende Anerken­ nungslücken, die nicht eindimensional zu schließen sind, möglicherweise

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D. Schluss

durch eine multidimensionale Kompensation aufgewogen oder zumindest in ihrer destruktiven Wirkung abgeschwächt werden können. Hält man nun diese Argumentation für plausibel, kommt man nicht um­ hin, zu fragen, in welche Richtung und in welcher Form die akademische Forschung weiter an diesem Problemkomplex arbeiten sollte. Zum einen ist sicher empirische Forschung von Nöten, die die hier vorgebrachten theore­ tischen Begründungen unterstützt und um neue Aspekte bereichert. Dabei werden mehr Disziplinen benötigt, als nur die Politikwissenschaft oder die Philosophie. Die Frage, inwiefern mangelnde Anerkennung in einer be­ stimmten Dimension die betroffenen Individuen in ihrem Selbstverhältnis beeinträchtigt und welche Kompensationsmaßnamen dies ausgleichen kön­ nen, muss beispielsweise gleichermaßen von Soziologen und Psychologin­ nen gestellt werden. Doch auch die theoretische Beschäftigung mit dem Thema kann von der interdisziplinären Zusammenarbeit nur profitieren. Die gerechte Entlohnung gesellschaftlich wertvoller Arbeit darf zum Beispiel genauso in den Wirtschaftswissenschaften eine Rolle spielen, wie die Frage nach der Identitätsbildung durch wechselseitige Anerkennung in den Kultur­ wissenschaften. Aber welche Anknüpfungspunkte liefert der hier ausgearbeitete Vorschlag für die politische Philosophie? Hier sollen kurz drei Möglichkeiten skizziert werden, wie dieser Entwurf konstruktiv fortgeführt oder in bestehende The­ orien eingepasst werden kann. Erstens ist sicherlich eine weitere Ausdiffe­ renzierung oder Verfeinerung der politischen Dimensionen von Anerkennung sinnvoll. Die in dieser Arbeit vorgeschlagene Matrix stellt notwendigerwei­ se eine grobe Vereinfachung dar und ist deswegen nicht immer in der Lage, den komplexen Anerkennungsverhältnissen in freiheitlichen Ordnungen ­gebührend Rechnung zu tragen. Ein kleinteiliger Ausbau dieses Vorschlags könnte dementsprechend sinnvoll sein. Besonders die Beziehungen der Akteure innerhalb der einzelnen Anerkennungsräume, aber auch die Rela­ tionen zwischen diesen bedürfen einer detaillierteren Analyse, als sie hier vorgenommen werden konnte. So könnte das wechselseitige Verhältnis von Bürgerin und Staat genauso Gegenstand einer tieferen philosophischen Aus­ gestaltung werden, wie die Beziehungen der Bürger untereinander im Be­ reich der bürgerschaftlichen Anerkennung. Auch die Rolle von gesellschaft­ lichen Assoziationen in anerkennungsrelevanten Kontexten könnte noch genauer herausgearbeitet werden. Zweitens muss die Kompensationsthese dieser Arbeit noch genauer über­ prüft werden. Beispielsweise wäre eine normative Gewichtung der einzelnen Dimensionen wünschenswert, um die Ausgleichsmöglichkeiten genauer be­ stimmen zu können: Welche Anerkennungslücken sind gravierender als an­ dere? Welche lassen sich womöglich keinesfalls durch Anerkennung in an­



D. Schluss181

deren Dimensionen kompensieren? Wo besteht zunächst dimensionsinterner Nachholbedarf, bevor eine übergreifende Evaluation in Erwägung gezogen werden kann? All diese Fragen könnten in anschließenden Forschungspro­ jekten mit normativ-kritischer Stoßrichtung im Mittelpunkt stehen. Drittens besteht die Möglichkeit, die vorgeschlagene multidimensionale Perspektive in den Rahmen einer weiter gefassten Gerechtigkeitstheorie einzupassen. Zur Erinnerung: Die Kompensationsthese geht davon aus, dass alle behandelten politischen Bereiche grundsätzlich einer Anerkennungslo­ gik folgen und somit durch ein übergeordnetes Prinzip vergleichbar sind. Dies steht jedoch im Gegensatz zu Gerechtigkeitstheorien, die anstatt uni­ versal gültigen Kriterien vielmehr individuelle, den verschiedenen Sphären angemessene Handlungsnormen identifizieren wollen.1 Um eine plausible argumentative Begründung für den umfassenden Ansatz zu erlangen, wäre eine grundlegende philosophische Beschäftigung damit ratsam. Eine Voraus­ setzung ist dafür jedoch unerlässlich: Die Politikwissenschaft und insbeson­ dere der Teilbereich der politischen Philosophie sollte nicht der allzu gegen­ wärtigen Versuchung nachgeben, ihre traditionelle normative Kompetenz zu Gunsten deskriptiver Analysen aufzugeben und fortan als wertfreie Wissen­ schaft zu firmieren. Im Gegenteil, gerade die normativ orientierte wissen­ schaftliche Forschung sollte – bei aller gebotenen Vorsicht – gestärkt wer­ den, um weiterhin essentielle Gerechtigkeitsfragen angemessen bearbeiten und somit nicht nur eine eigene Relevanz, sondern auch einen Wert für die theoretische Erfassung und die praktische Umsetzung von Politik entfalten zu können.

1  Vgl. dafür exemplarisch Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, o. O. 1983.

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Sach- und Personenregister Achtung  20, 25, 28, 31, 34, 50, 73, 82, 85–91, 104, 115, 116, 122, 124, 126, 129, 131, 145, 152, 155, 160, 164 Akzeptanz  8, 30, 50, 73, 78, 86, 95, 102, 104, 164, 166 Anti-Kolonialbewegung  15 Appiah, Anthony  107, 112, 114, 116, 129, 182 Assimilation  19 Aufklärung  17, 25, 56, 76 Autonomie  15, 21, 22, 25, 31, 34, 36, 38, 40, 41, 43, 45, 47, 49, 53, 54, 58, 78, 83, 85–87, 94, 96, 98, 101–105, 108, 111–115, 146, 148, 150, 151, 156, 157, 160, 172, 174, 177 Bedorf, Thomas  32, 96, 100, 110, 182 Begriffsanalyse  35, 65, 68, 69, 88, 173, 179 Benhabib, Seyla  17, 140, 182, 187 Berlin, Isiah  32, 36, 117, 127, 159, 182, 187 Bodin, Jean  75 Boshammer, Susanne  36, 61, 144, 146–151, 182 Brown, Wendy  80–82, 182 Bubner, Rüdiger  77, 182 Bürgerrechtsbewegung  15, 17, 37, 94, 171 Bürgerschaft  62, 74, 97, 120, 137, 141, 143, 162, 165, 167, 168, 175 Butler, Judith  66, 183 Celikates, Robin  141, 142, 183 Chancengleichheit  56, 150, 166 context of choice  41, 43, 112 Çopur, Burak  175, 184

Darwall, Stephen  89, 90, 183 Deliberation  33, 59, 185 Derrida, Jacques  110 deutscher Idealismus  8, 66 Differenz  12, 17, 20, 28, 34, 37, 39, 41, 47, 50–52, 56–59, 62, 63, 75, 76, 83, 94, 100, 107, 108, 110, 111, 125, 133, 138, 177, 182, 185 Differenzblindheit  37, 43, 58, 63, 125, 177 Dworkin, Ronald  17, 24, 39, 115, 124, 145, 183 Ehre  25, 26, 36, 135 Emcke, Carolin  44, 46, 107, 108, 112, 113, 183 epistemologische Exklusivität  60 Erasmus von Rotterdam  75 Essentialismus  53, 69, 80, 107, 110, 148 Ethnozentrismus  28, 34, 41, 148 Exklusion  19, 54, 57, 62, 142 Fehér, Ferenc  127, 183 Feminismus  15–17, 37, 48–50, 52, 182, 186, 188 Fichte, Johann Gottlieb  8, 52, 66, 183 Forst, Rainer  72, 76–80, 82, 84–86, 104–106, 182, 183 Foucault, Michel  80 Fraser, Nancy  31, 33, 34, 153, 154, 184 Freiheit  7, 8, 15, 17, 18, 21, 24, 32, 38, 43, 47, 60, 87, 113, 124, 141, 144, 151, 160 Gadamer, Hans-Georg  40, 109 Galeotti, Anna Elisabetta  19, 72, 80, 82, 83, 89, 115, 184

190

Sach- und Personenregister

Gerechtigkeit  7, 33, 36, 41, 54, 56, 58, 59, 73, 104, 115, 119, 125, 128, 145, 153–155, 168, 169, 182–186 Gleichheit  15, 26, 28, 36–38, 43, 46, 47, 58, 60, 85, 101, 116, 120, 141, 145, 150, 185 Globalisierung  15, 76 Goethe, Johann Wolfgang von  82, 184 Grundrechte  18, 40, 41, 51, 58, 82, 94, 130, 143, 167, 173, 183 Habermas, Jürgen  47, 48, 50, 57, 149, 184 Hastedt, Heiner  78, 79, 184 Heck, Alexander  132, 134–136, 138, 139, 184 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  8, 9, 12, 16, 19–21, 23, 24, 25, 66, 94, 184 Heins, Volker  175, 184 Heller, Agnes  60, 127, 183 Hobbes, Thomas  16 Honneth, Axel  8–10, 12, 19–35, 38, 50, 54, 60, 63, 64, 66, 72, 101, 104, 105, 117, 120, 134, 153–155, 169, 171, 183–185, 187 Horizontverschmelzung  40, 109 Identität  18, 20, 21, 26, 30–32, 34, 37, 38, 40–42, 44–47, 50, 51, 53, 55–58, 60, 61, 63, 73, 80, 81, 83, 85, 86, 89, 92, 96–99, 101, 106–114, 116, 119, 120, 123, 125–127, 131, 133, 135, 138–140, 143, 147, 148, 152, 153, 160–164, 171, 172, 178, 182, 183, 186 Identitätsbildung  31, 53, 107, 112, 147, 180 Identitätsträger_in  74, 107, 113, 114, 116, 127, 132, 151, 154, 160, 167, 177 Ikäheimo, Heikki  34, 101, 102, 117, 121, 134, 184, 185 Inklusion  17, 26, 37, 57, 59, 83, 103, 105, 107, 144, 166, 173 Jenkins, Richard  107, 185

Jones, Peter  32, 33, 185 Kant, Immanuel  9, 16, 87–90, 104, 185 Kelsen, Hans  141 Kollektivrechte  46, 48, 61, 146–149, 151 Kommunitarismus  16–18, 28, 32, 41, 104, 182, 183 Konventionalismus  69, 70 Kritische Theorie  16, 117, 187 Kulturimperialismus  55, 56 Kymlicka, Will  10, 12, 19, 35, 36, 41–50, 58, 60–63, 101, 109, 112, 124, 125, 126, 147, 171, 185 Ladwig, Bernd  115, 116, 185 Laitinen, Arno  34, 92, 98, 102–104, 117, 121, 122, 134, 185 Leistungserbringer_in  74, 160, 167 Lessing, Gotthold Ephraim  76 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine  159 Levinas, Emmanuel  66, 185 liberale Demokratie  15–17, 19, 34, 39, 45, 47, 48, 50, 51, 53, 56, 60, 62, 71, 75, 113, 129, 166, 170, 172 Liberalismus  9, 15, 16, 18, 36, 38, 40, 41, 50, 51, 53, 85, 104, 111, 115, 129, 144, 151, 183 Liebe  9, 12, 22, 23, 28, 32, 35, 101, 117 Locke, John  9, 16, 75, 76, 186 Marginalisierung  19, 54, 81 Mead, George Herbert  18, 20–22, 24, 25, 186 Menschenrechte  7, 8, 15, 88, 91, 156 Menschenwürde  17, 27, 37, 87, 164 Mill, John Stuart  16 Missachtung  28–30, 154 Moderne  17, 25, 27, 29, 37, 155, 157, 183, 185 Multikulturalismus  10, 12, 19, 35, 36, 41, 47–50, 58, 60, 63, 64, 66, 109, 122–124, 132, 184–187



Sach- und Personenregister191

Nancy, Jean-Luc  110 Okin, Susan Moller  48–50, 186 Paternalismus  54 Paugam, Serge  121, 186 Politik der Anerkennung  17, 19, 20, 36, 37, 41, 45, 47, 50, 63, 78, 82, 123, 124, 129, 184, 187 polyethnic rights  44 Rationalität  57, 94 Rawls, John  9, 16–18, 24, 41, 51, 57, 76, 77, 111, 112, 124, 145, 182, 185, 186 Recht  7, 9, 12, 15, 17, 18, 22–26, 28, 29, 32, 34, 36, 40, 42, 44–46, 48, 49, 54, 59, 62, 63, 76, 81, 83, 86, 88, 94, 104, 111, 113, 115, 118, 133, 139, 140, 143–147, 149, 151, 152, 156, 159, 163, 164, 168, 171, 172, 178, 182, 185, 187 Rechtsgemeinschaft  25, 141, 144 Rechtsperson  22, 24, 48, 91, 104 Rechtsstaat  16, 17, 47, 48, 184 Rechtssubjekt  8, 22, 24, 25, 52, 61, 146, 147, 177 recognition  17, 19, 31–34, 37, 38, 62, 64, 72, 92, 98, 102, 114, 183–187 Respekt  9, 12, 18, 38, 41, 55, 72, 78, 79, 85–91, 94, 96, 99, 105, 179, 183, 187 Rousseau, Jean-Jacques  16, 38, 39, 76, 141, 186 Sartori, Giovanni  10, 12, 65–71, 91, 93, 99, 179, 186 Sartre, Jean-Paul  113, 186 Schmetkamp, Susanne  9, 72, 79, 87, 88, 90, 93, 95, 96, 98, 187 Schmidt am Busch, Hans-Christoph  32, 98, 102, 117, 118, 134, 184, 185, 187 Selbstachtung  22, 23, 29, 31, 49, 51, 54, 58, 83, 98, 104, 120, 132, 134, 135, 157, 160, 174, 176, 178 Selbstschätzung  27, 30, 31, 117, 134 Selbstvertrauen  24, 31, 98

self-government rights  43 Sezgin, Hilal  141, 142, 183 Sittlichkeit  20, 28, 32, 66 societal culture  42, 49 Solidarität  9, 12, 22, 23, 26–28, 32, 105, 117, 121, 134, 186 Souveränität  74, 141 soziale Gruppe  12, 18, 27, 51–56, 58, 61, 132, 147, 149 Spinoza, Baruch de  75 Stigmatisierung  82, 153, 158, 161 Subjekt  8, 18, 19–25, 27–30, 32–34, 36, 37, 41, 50, 51, 54, 56, 60, 93, 94, 97, 102, 108, 111–113, 117, 123, 131, 132, 138, 147, 154 Taylor, Charles  10, 12, 19, 25, 35–41, 46, 47, 50, 62, 63, 109, 171, 184, 186, 187 Toleranz  12, 27, 72, 75–86, 88, 89, 91, 94–96, 99, 164, 179, 182–184, 186 Umverteilung  31, 33, 153, 155, 184 Universalismus  48, 51 Unterdrückung  19, 45, 51–56, 58, 60, 62, 95, 128 van Ooyen, Robert  141, 142, 187 Verteilungsgerechtigkeit  51, 63 Volkssouveränität  15, 56, 106 Voltaire  76 Wertschätzung  7, 10, 18, 20, 22, 25–28, 30, 32, 33, 35, 38, 41, 47, 48, 50, 55, 63, 73, 78, 85, 92, 95, 100, 105, 117, 120–122, 126, 130, 131, 133–135, 137, 138, 140, 143, 144, 158,–160, 175, 176, 183 Wulff, Christian  162 Würde  7, 15, 25, 36, 83, 86–91, 103, 111, 113, 120, 155, 177 Young, Iris Marion  10, 12, 19, 20, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 104, 118, 119, 125, 126, 132, 147, 171, 188