Grundzüge der Geopolitik in Anwendung auf Deutschland [Reprint 2019 ed.] 9783486760385, 9783486760378

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Grundzüge der Geopolitik in Anwendung auf Deutschland [Reprint 2019 ed.]
 9783486760385, 9783486760378

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
A. Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands und des Deutschtums
I. Das Wesen des Staates
II. Geographische Grundlagen des Staates
B. Geopolitische Fragen im Zusammenhang mit dem deutschen Volke
I. Deutschland als Weltmacht
II- Grotz- oder Rationaldeutschland
III. Frankreich und Deutschland
IV. Zusammenfaffung. Deutschland und die Wett

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Grundzüge der Geopolitik in Anwendung auf Deutschland von

Dr. Hans Simmer Mit 42 Abbildungen, Kartenskizzen, Karten und Tabellen

München und Berlin 1928 Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Dorwort. Es dürfte in Deutschland noch viel zu wenig bekannt sein, daß nur die Kenntnis der geopolitischen Zusammenhänge dem Staatsmann und Politiker den Weg weist zu nutzbringender, seinem Lande und Volke dienender Wirksamkeit. Ja, es sollte eigentlich jeder Staatsbürger, der wählen darf, wenigstens mit den Grundwahrheiten und -gesehen der Geopolitik vertraut gemacht werden, da er sonst unfähig ist, sich ein richtiges Urteil zu bilden und so seinen staatsbürgerlichen Pflichten in ersprießlicher Weise nach­ zukommen und den Staat wieder hochbringen zu helfen. Namentlich wir Deutsche, die wir so viel vom notwendigen Wiederauf­ bau-sprechen, haben uns mit der Geopolitik zu befassen, die allein uns das nötige Rüstzeug dazu liefert, die uns zeigt, welcher Weg aus unserer Not heraus zum Ziele, zur Wiederherstellung eines lebensstarken Staates, führt. Läßt doch die Geopolitik erkennen, wie eng die Beziehungen sind zwischen der politischen Kraft und dem Raum, zwischen den politischen Geschehnissen und dem Boden, womit sie erst das richtige Verständnis der Geschichte vermittelt. Außerdem ist es unerläßlich, daß wir die geographischen und geopolitischen Absichten und Pläne unserer ehemaligen Gegner und unserer Nachbarn, ihre' Einstellung zu grundlegenden, für uns lebenswichtigen geopolitischen Fragen kennen lernen, da wir ihnen nur dann erfolgreich begegnen können. Gerade der Weltkrieg hat gezeigt, wie wichtig für uns Deutsche geopoli­ tisches Wissen ist, wie verhängnisvoll dagegen geopolitische Unkenntnis sich aus­ wirkt. Daher hat das bayerische Unterrichtsministerium noch vor dem Ende des Krieges in der richtigen Erke.nntnis der Wichtigkeit geo- und weltpolitischer Grundlagen deren Behandlung in der 9. Klasse verlangt. Mit der vorliegenden Arbeit, dem Ergebnis achtjährigen Schaffens, bezweckt der Verfasser die Vermittlung grundlegender geopolitischer Kenntnisse und bereit stete Anwendung auf Deutschland und aufs deutsche Volk und schließlich die Darbietung einer zusammenfassenden systematischen Darstellung der geo­ politischen Geschehnisse auf deutschem Boden, im deutschen Volke und in der deutschen Geschichte in ihrem Zusammenhang. Auch der erste Teil, der

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Borwort.

die geographischen Grundlagen des Staates und geo- und weltpolitischer Pro­ bleme behandelt, gruppiert sich um einen Kern, um einen Mittelpunkt, und dieser ist das ganze deutsche Volk. Zuletzt wird das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland und das weltpolitische Streben dieses Nach­ barn näher erörtert, da es von Deutschlands Nöten nicht zri trennen ist. Auf Verlangen des Unterrichtsministeriums wurde noch ein Anhang beigefügt.

Durch diese Stoffverteilung bekommt der Deutsche, der angehende Akademiker, erst ein klares Bild von der riesengroßen Bedeutung des Ver­ hältnisses zwischen Boden und Menschen und zwischen Raum und politischer Kraft, ein Bild von der Kunst des politischen Handelns um Lebens­ raum auf der Erde. Damit gelangt er zur heilsamen Erkenntnis der vielen Sünden, die wir Deutsche gegen die geopolitischen Gesetze im Laufe einer langen Geschichte begangen haben, aber auch zu der Erkenntnis der wirklichen Lebensnot, in der alle Deutsche auf der Welt, besonders Europas, sich be­ finden, anderseits auch noch zu der Erkenntnis der Wege, die in Zukunft von den Deutschen einzuschlagen sind.

Im allgemeinen Teil wurde der von Supan in seiner Polit. Geogr. ge­ gebene Rahmen in großen Zügen beibehalten, da dessen Einteilung sehr über­ sichtlich erscheint. Aber es wurde vieles neu eingefügt und sachlich das meiste nach eigenen Ideen dargcstellt, wobei oft ganz neue Wege betreten wurden. Der lebendigen Anschaulichkeit dienen die 42 Abbildungen, Karten, Skizzen und Diagramme, vorwiegend Originalzeichnungen des Verfassers, deren klare Übersichtlichkeit den Leser fesseln und den Text vortrefflich erläutern soll. Es wurde ferner auf eine sachliche, aber lebhafte Darstellung Gewicht gelegt, wodurch die Aufmerksamkeit und Teilnahme des Lesers geweckt und die Span­ nung erhöht werden soll. Jede politische Einseitigkeit oder parteipolitische Ein­ stellung ist streng vermieden und man wird überall das Bestreben nach möglich­ ster Objektivität erkennen. Da der Stoff und damit auch das Buch bei aller Beschränkung auf das Wichtigste sehr umfangreich ist, dürfte hier eine neue unterrichtliche Me­ thode einzuschlagen sein, die gleichzeitig zu selbständigem Denken und Arbeiten, zu kritischer Untersuchung und zur Bildung eines eigenen Urteils erzieht. Das ist eine neue Art des Arbeitsunterrichtes. Die ganze Klasse hat den neuen Stoff selbständig zu Hause zu erarbeiten und ein Schüler sodann im Unterricht darüber zu berichten, unterstützt in anregender Ausspräche von den andern, geleitet vom Lehrer, der doch etwaige Erklärungen und Ergänzungen gibt. Zur Er­ leichterung der Übersichtlichkeit ist in dem Buche der Gedankengang, der rote Faden oder Plan überall deutlich im Druck hervorgehoben, so daß man sich leicht zu­ rechtfindet. Das Buch soll aber nicht nur den angehenden Akademiker und künftigen Führer des Volkes mit den notwendigsten Voraussetzungen zu ersprießlicher Wirk-

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Borwort.

fandest am Dienste des Vaterlandes bekanntmachen, nein, es soll — und das war sein ursprünglicher Zweck allen deutschen Staatsbürgern beiderlei Geschlechts, gleich welchen Standes und welcher politischer Überzeugung, das unentbehrliche Rüstzeug verschaffen, um die Nöten und Aufgaben des einzelnen wie des ganzen Volkes zu erkennen und darauf ihre politische und staatsbürgerliche Einstellung zu gründen. So möge das Buch der Führer sein, den viele schon schmerzlich entbehrt haben! Dem Verlag R. Oldenbourg gebührt wärmster Dank für die Druck­ legung und gute Ausstattung des Buches.

Der Verfasser.

Inhalt A. Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen deS Staates mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands und des Deutschtums I. Das Wesen des Staates. Aufgaben der Geopolitik II. Geographische Grundlagen des Staates 1. Die Gestalt der Staaten und Deutschland: a) Ein- und Mehrteiligkeit. b) Umrißformen, c) Grenze (Beschaffenheit, Stärke und Schwäche der Grenze, „Natürliche" Grenzen) ........................................................................ 2. Die Lage der Staaten und Deutschland: Breiten-, Geographische, Politische Lage (Binnen- und abgesonderte, Küstenlage, Meer- und Landengen. Durchgangsländer, Zentral- oder Mittellage) 3. Der Bau der Staaten und Deutschland

a) Physischer Bau: Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit, Bedeutung der Flüsse, Restlandschaften.................................................................................... b) Völkischer Bau und das deutsche Volk: der Lebenswille als Grundziel, der Kraft- oder Machtwille, die nationale Idee. Völkische Gleichartigkeit, Nationalstaat. Völker- oder Nationalitäten-, falscher Nationalstaat. Der Nationalitätsgedanke und das Selbstbestimmungsrecht. Das wahre Gesicht der Selbstbestimmung. Das Selbstbestimmungsrecht als Stören­ fried. Seine Durchführung. Rassenproblem. Nationale Minderheiten oder unerlöste Gebiete. Rechte der nationalen Minderheiten. Ihre Ver­ teilung und die der unterdrückten Völker. Bestrebungen der Minder­ heiten .................................................................................................................. c) Wirtschaftlicher Bau und Deutschland: Gesetzmäßigkeit der Erzeugnisse, Wechselbeziehungen zwischen Natur und Mensch. Ackerbau- und Indu­ striestaat. Krankheiten der Weltwirtschaft (Ol-Weltpolitik). Autarkie, Bruttoländer. Handel und Verkehr, Verkehrswege und -mittel, zwischen­ staatliche Verkehrsstraßen. Das Meer, Freiheit der Meere................. 4. Die Größe der Staaten und Deutschland a) Großmacht, Ausdehnungspolitik, das Denken in Räumen, b) Organisches und unorganisches Wachstum, c) Geopolitische Grundlagen der Aus­ breitung und Kolonisation, d) Hauptwege der Ausbreitung................. e) Überschätzung des Raumes, aktive und passive Räume, Raumersüllung. f) Bedeutung der Bevölkerung, Weltmacht, g) Arten und Bedeutung der Kolonien '................................................................................

5. Zusammenfassung. Literatur

B. Geopolitische Fragen im Zusammenhang mit dem deutschen Bolte I. Deutschland als Weltmacht

Seite 1—94

1—2 2—94

2—15

15—22 23—81

23—26

26—55

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81—90

90—93 93—94

95—272 95—157

1. Geopolitische Grundlagen Deutschlands vor 1914: Unser Recht auf Welt­ machtstellung. a) Einstige Hemmnisse, b) einstige Förderungen .... 95—97 2. Zwangsweg zur Weltwirtschaft und Weltpolitik. Gründe zur Erwerbung von Interessengebieten und Kolonien.................................................................... 97—100 3. Hauptwege deutscher Ausbreitung 100—114 Festländische Ausbreitung: a) Die geschichtliche und geographische Aus­ breitung der Deutschen nach Osten, b) Die Ausbreitung nach Südosten als Weltmacht .................................. '................................................................ 100—111 Ozeanische Ausbreitung, Aufblühen der Kolonien 111—114

VIII

Inhalt. Seite

4. Deutschland als Weltmacht: a) Außenhandel, Industrie, Weltverkehr, b) Bin­ nenverkehr. c) Zusammenfassung 5. Deutschlands Weltpolitik: a) Aufgaben der deutschen Weltpolitik, b) Ihre schwierige Lage, c) Mittel und Wege, Schwächen 6. Zusammenbruch: a) Die Schuld am Weltkriege b) Ursachen des Zusammen­ bruchs. c) Vernichtung unserer Weltmachtstellung, d) Unsere drückende Lage 7. Zukunftsmöglichkeiten: a) Aussichten einer Wiederaufrichtung, Geopolitische Hemmnisse und Förderungen, b) Die Wiederausrichtung eine Lebensfrage. c) Wege dazu. Literatur

II. Groß- oder Nationaldeutschland 1. Unser Recht auf Großdeutschland 2. Das Grenzlanddeutschtum a) Die Westmarken: Elsaß-Lothringen.

114—116 116—123

123—137

137—157 157—199 157—165 165—199

Saargebiet.

Luxemburg.

Arel,

b) Flandern, Holland 170—174 c) Die Nordmark 174—175 d) Die Ostmarken: Memelland (Litauen). Danzig, Westpreußen, Posen, Oberschlesien (Polen). Sudetendeutschland (Tschechei).............................175—187 e) Die Südmarken: Deutsch-Österreich. Ödenburg (Ungarn). Untersteier­ mark, Wochein und Tarvis—Pontafel (Südslavien). Deutsch-Südtirol (Italien). Liechtenstein 187—195 f) Die Deutschschweiz, g) Zusammenfassung. Literatur 195—199 III. Frankreich und Deutschland

1. 2. 3. 4.

Frankreichs Ausbreitung nach Osten. Literatur Frankreichs Zukunftspläne Französische Weltpolitik. Hauptwege der. Ausbreitung Bedeutung des französischen Kolonialreiches. Die schwarze Gefahr. Panasrika. Literatur...................................................................................................

IV. Zusammenfassung. Deutschland und die Welt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Allgemeines........................................................................................................... Europa Mittelmeersragen Der nahe Orient, Indischer Ozean Die ostasiatische Frage Der Stille Ozean Gegensätze zwischen den angelsächsischen Weltmächten Bedeutung des Deutschtums in der Welt. Literatur . .

199—232 199—215 215—222 222—227

227—232 232—259 232 232—237 237—239 239—245 245—252 252—253 253—256 256—259

A. Allgemeiner Teil.

Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands und des Deutschtums. I. Das Wesen des Staates. Aufgaben der Geopolitik. Der Staat ist (nach Supan) geographisch ein Natur wesen, ein fest begrenztes Gebiet, dessen Grundbestandteile Land und Volk bilden. Diese beiden stehen zueinander in engster, wechselseitiger Beziehung, die von der Staatsgewalt zu leiten und zu fördern ist. Das Volk sucht das Land oder den Raum zu erfüllen, auf dem es erst seinen Staat aufbauen kann. Dem Verhältnis zwischen den zwei Grundelementen wendet in erster Linie die Geopolitik ihre Aufmerksamkeit zu. Sie ist (nach Haushofer) die Wissen­ schaft von der politischen oder staatlichen Lebensform im Lebensraum, in ihrer Erdgebundenheit und Bedingtheit durch geschichtliche Bewegung oder die Kunst des politischen Handelns im Daseinsringen der staatlichen Lebens­ formen um Lebensraum auf der Erde. Sie gewährt also Einblick in die Lebensmöglichkeiten und Daseinsnotwen­ digkeiten eines Volkes, lehrt, welche Einflüsse aus der Natur des Lebens­ raumes eines Volkes heraus dessen Politik beeinflussen und dessen Ge­ schichte, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung bestimmen, und untersucht die engen Beziehungen zwischen der politischen Kraft und dem Raum. Da sie außerdem zeigt, wie sich die Macht über den Erdball verteilt und in ihrer Erdgebundenheit verschiebt, so ist sie die Vorbedingung nicht nur weit­ sichtiger Wirtschaftsführung, sondern auch der Weltpolitik. Die Geopolitik bedient sich als Hilfswissenschaften der politischen Geographie, deren praktische Anwendung sie eigentlich darstellt, der Länder- und Völkerkunde, manchmal auch der Geologie, mehr noch der Kultur- und Mrtschaftsgeographie und besonders der Geschichte. Ohne geopolitisches Denken ist eine richtige Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten unmöglich. Zu den äußeren geographischen Grundlagen des Staates rechnet man nach Supan Gestalt, Lage und Größe, zu den inneren zählt der Aufbau. Sie werden immer daraufhin angesehen, ob sie den Staat schwächen oder stärken.

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

Die Geschicke, das ganze Leben eines Volkes oder Staates, bestimmt entweder der gesunde Egoismus, der Selbsterhaltungstrieb, der aus den Lebensnotwendigkeiten erwachsene Lebenswille oder der ungesunde, un­ vernünftige Egoismus, geboren aus verwerflicher Leidenschaft, der mit Schlagworten arbeitet. Auch im Leben der Völker herrscht wie in der Natur ein fortwährender Kampf ums Dasein, der nicht selten zu kriegerischen Verwicklungen führt, zum Teil veranlaßt durch den Grundsatz: „Gewalt geht vor Recht", oder nur der Stärkere und Gesündere, der mit starkem Willen zum Leben Ausgestattete, hat ein Recht zu leben.. Man muß sich hüten, in der Geopolitik mit Sentimentalität zu arbeiten, die keinen starken Lebenswillen kennt, sondern es gilt auch für ein Volk im Sinne seiner Erhaltung der Spruch: Primum vivere, deinde philosophari.

II. Geographische Grundlagen des Staates. 1. Die Gestatt der Staaten und Deutschlands.

a) Ein- und Mehrteiligteit. Am Staatskörper tritt vor allem die Gestalt in Erscheinung. Nach der äußeren Gestalt, nach der Geschlossenheit, kann man (nach Supan) einfache und mehrteilige Staaten unterscheiden. Zu jenen gehören die Schweiz, Deutsch-Österreich, Belgien. Wenn die Grenzlinie ohne Unterbrechung in sich zurückläuft, so ist der einfache Staat am geschlossensten. Zu den einfachen Staaten können auch Länder mit durchbrochenen Grenz­ linien, also solche mit vorgelagerten, womöglich unselbständigen Küsten- oder Festlandsinseln gerechnet werden, wie Norwegen, Jugoslawien, Holland, wohl auch Schweden und Frankreich. Die einfachen Staaten sind naturgemäß stärker als die mehrteiligen. Mehrteilige Staaten bestehen aus mehreren räumlich getrennten Gebieten von gewisser Selbständigkeit. In der Regel, wie in Dänemark, übernimmt der größere Teil die politische Führung. Von Natur aus mehrteilig sind die Jnselund die meisten Halbinselstaaten. Diese besitzen einen festländischen Hauptteil (Italien, Griechenland, Dänemark), jene sind selten; denn große Staaten ent­ wickeln sich stets durch Ausdehnung nur aus Keinen und da bietet nur das Fest­ land Raum, da die bewohnbaren Inseln, außer Australien und Neuseeland, zu klein sind. Großbritannien und Japan sind zwar von Hause aus auch Insel­ staaten; beide waren aber mit ihrer insularen Existenz nicht zufrieden und suchten sich deshalb über das Festland auszudehnen: England ging nach Frankreich und später in alle außereuropäischen Erdteile, Japan nach Ostasien. So bilden sie also eine Mischung von Insel- und Kontinentalstaaten, deren politischer Kern aber insular ist, so daß man sie vielleicht als Jnselgroßstaaten ansprechen könnte. Die insulare Zersplitterung ist von Nachteil, der um so größer ist, je weiter die Teile voneinander entfernt sind; unter allen Umständen wird die Grenze verlängert, werden die Angriffspunkte vermehrt und wird dadurch die Verteidigung infolge Zersplitterung der Kräfte erschwert.

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1. Die Gestalt der Staaten und Deutschlands.

Das ist auch ein wichtiger Grund für die Halbinselstaaten sich ebenfalls auf dem festländischen Hauptteil auszubreiten, ihn zu vergrößern (Italien, Griechenland, Dänemark). Überdies fühlen sie sich, wie namentlich die Insel­ staaten, vom Festlande angezogen. Außerdem hat jeder Staat mit starkem Lebenswillen das Bestreben, unbeirrt durch Sentimentalität, sich auszudehnen, zumal wenn er merkt, daß der Lebensraum ansängt zu Nein zu werden. Am meisten benachteiligt sind die sogenannten Exklavenstaaten. Die Telle sind hier nicht durchs Meer, sondern durchs Land voneinander getrennt. Bis ins 19. Jahrhundert kamen sie in Europa, zumal in Deutschland, sehr häufig vor (auch Österreich bis 1918). Preußen behielt diesen CharaNer bis 1866, ja eigentlich bis heute (noch 148 En- und Exklaven). Eine zersplitterte Form weisen noch Sachsen (mit 14 EnNaven), Bayern, Oldenburg, Braunschweig (28) und Thüringen (7) auf. Der größte Exklavenstaat ist die Union mit den Exklaven Alaska, Hawaii und der Pana­ Polnischer Korridor makanalzone; dann kommt jetzt leider unser Vaterland selbst mit Ostpreu­ ßen, das damit eine lebensgefährliche Verstümmelung erlitten hat (Abb. 1 u. 4). Ist schon insulare Zerrissenheit ein Zeichen von Schwäche, so gilt das erst recht für ein Land, zwischen dessen Teilen fremde Staaten liegen (Belgien und Österreich vor 1792). Sie sind deshalb meist Herde der Unzufriedenheit und politischen Unruhe, besonders für die Nachbarn. Kluge Staatsmänner oder starker Lebenswille suchen daher diese zerstreuten Trümmer zu einem ge­ Abb. 1. Zerstückeltes Rumpfdeutschlaud schlossenen Gebäude zu vereinigen („Exklavenstaat"). (Preußen) oder gegen anliegende zu ver­ tauschen, ohne daß man das als Machtpolitik bezeichnen könnte. So wird die Union voraussichtlich eine räumliche Verbindung mit dem Panamakanal und wohl auch mit Alaska gewinnen, so suchte Joseph II. Belgien gegen das ärmere, aber benachbarte Bayern umzutauschen; solche Tauschhandlungen wurden beson­ ders zur Napoleonischen Zeit vorgenommen. Auch die Kolonialstaaten, d. h. die Staaten mit überseeischen Besitzungen, können rein territorial den mehrtelligen Staaten zugerechnet werden.

d) Umrißformen. Fast noch wichtiger als die Geschlossenheit ist die günstige Umrißform eines Staates. In ihr spiegeln sich aber nicht nur die Eigentümlichkeiten der Bodenbeschaffenheit oder der geschichtlichen Schicksale des Volkes fonbem manchmal auch die unglaubliche Willkür des Siegers wieder. Da eine kurze Grenze leichter zu verteidigen ist als eine lange, so ist die kreisförmige Gestalt die günstigste; ihr am nächsten kommt das Chinesische Reich. Nicht schlecht sind eckige geometrische Figuren, wie Quadrate (Spanien),

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

Fünfecke (Frankreich), Dreiecke (Uruguay,) Bierecke (Union, Rußland, Ru­ mänien). Im Gegensatz hierzu stehen die Longitudinalstaaten, welche die Form langer Streifen zeigen, wie das Reich Lothars, das ehemalige Österreich (noch obendrein recht zerrissen), die Tschechoslowakei, welche einen ausgestreckten, gekrümmten „Finger" darstellt (Abb. 5 u. 16), Großbritannien; bei einigen (Chile, Italien, Mbanien) ist augenscheinlich in erster Linie der Verlauf des Gebirges dafür verantwortlich. Ihre Grenze ist schwerer zu verteidigen als die der anderen Staaten. Das gilt namentlich auch von einer Abart dieser Formen, den sichelförmigen Staaten (Griechenland, Österreich). Die umfassende ehe­ malige österreichische Reichshälfte gewann daher erst durch das einst behäbig abgerundete Ungarn und durch Bosnien-Herzegowina eine natürliche Gestalt und einen festen Rückhalt (Abb. 2). Auch das ehemalige Rumänien hatte es daher nicht nur aus nationalen Gründen auf Siebenbürgen ab­ gesehen. Eine ganz willkürliche Form bekam Ungarn. Ungünstig ist ferner die ge­ buchtete oder gekeilte oder ge­ lappte Gestalt, wie wir das an Deutschland sehen. Deshalb ge­ schahen die Erwerbungen bei der zweiten Teilung Polens (Abb. 3) und deshalb suchten wir im Welt­ krieg mit Polen wieder in ein enges Abb. 2. Österreich („Sichelstaut"), Verhältnis zu kommen. Außer den Ungarn umklammernd. großen Lappen und Buchten besitzt Deutschland aber noch eine Unzahl kleinerer, die alle unsere Grenzen schwächen (Abb. 4). Die Umrißform erhöht oder schwächt nämlich in hohem Maße die Sicherheit und damit das Leben eines Staates. Ist sie ungünstig, so fühlt sich der Staat immer bedroht, kommt also nicht zur Ruhe und Zufriedenheit, glaubt vielmehr durch die Lebensnotwendigkeiten zu einer Besserung der Form ge­ zwungen zu sein. So kann die Umrißform die Politik eines Staates beeinflussen, tyenn das vielfach auch nur zur Verschleierung des ungesunden Egoismus dienen muß. Beim Vortreiben von Keilen oder beim Abschnüren von Lappen oder Zipfeln handelt es sich selten oder nie um Lebensnotwendigkeiten oder völkische Gründe, sondern um reine Machtpolitik. Angeblich um die „Form" zu verbessern, aus völkischen und andern Gründen, griff z. B. Italien na ch dem „Zipsel" Südtirol und aus den gleichen Gründen schauen viele Italiener nach den Schweizer Keilen, dem Kanton Tessin und dem südöst­ lichen Graubünden, wo 1797 die Franzosen durch Wegnahme von Bormio (Worms), Chiavenna (Clefen) und dem Beltlin die behäbige Mrundung an 3 Stellen zerstörten und eine gelappte Front erzeugten (t’lbb. 8). Das Längstal des Inn (Engadin)-Ma-

1. Tie Gestalt der Staaten und Deutschlands.

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loja-Bergell scheint sie zu reizen und nun führt eine weitere Straße, die von Mals (südlich der Reschenscheideck) durchs Münstertal, zum Engadin. Bon Reschenscheideck und Chiavenna aus ließe sich das ganze Tal leicht abdrücken. Manche Italiener erblicken eine Besserung der Form erst in der Grenze St. Gottharo-BodenseeAlpennordrand (Abb. 26) und sähen am liebsten außerdem eine Aufteilung des vor­ springenden Kantons Wallis zwischen sich und den Franzosen. Die Schweiz ist nämlich auch noch von Frankreich bedroht, und zwar vor allem in ihrer von diesem um­ klammerten Genfer Ecke. Diese ist, nachdem Frankreich 1919 die militärische Neutrali­ sation (seit 1815) des 1860 gewonnenen Gebietes südlich vom Genfer See (Hochsavoyens) und die drei Freizollzonen am Genfer See aufgehoben hat (jetzt riesige französische Zoll­ anlagen vor Genf), gefährdet. Genf, die natürliche Hauptstadt Savoyens, der heutige

A dr/'a

Abb. 3. Grenze Deutschlands 1500 mit Anteil an der Adria. Grenze nach der poln. Teilung.

Sitz des Völkerbundes, ist ja schon seit Jahrhunderten eines der vornehmsten Ziele französischer Annexions- und Durchdringungslust. 1914 lebten dort über 50000 Nationalfranzosen. Vorerst ist die Stadt Genf aus dem Verband ihres wirtschaftlichen Hinterlandes herausgerissen. Viele Tschechen meinen, sie könnten aus ihrer keilförmigen Enge zwischen Deutsch­ land und Österreich nur herauskommen durch Gewinnung des bayerischen Ostund österreichischen Nordzipfels (mit neuem Angriffskeil bei Regensburg: Mb. 5) und durch Aufteilung Schlesiens zwischen sich und den Polen. Da diese ihre selbst­ geschaffene Umrißform ebenfalls als unhaltbar und ihre Westflanke als bedroht ansehen, so glauben polnische Imperialisten diese verbessern zu können, wenn sie fast die ganze

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

Oder als Grenze erreichten (Abb. 5). Das von seinem Hauptteil abgeschnürte Ost­ preußen betrachten sie ohnehin schon als sichere Beute (1466!). Mr Deutsche haben 1815,1866, 1870 und 1919 die Gefährlichkeit der Keile oder Buchten und der Lappen im Gegensatz zu unseren Nachbarn nicht erkannt; es kam uns nicht zum Bewußtsein, daß bei der Festsetzung der Gestalt auch die Militärs und die Karte, also die Geographie, ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben, und versäumten dabei ein Großdeutschland, womöglich mit viereckiger Gestalt zu schaffen. Wir ahnten nicht, daß andere Völker, be­ sonders die Franzosen und Polen, wenn vielleicht auch unbewußt, Keil- und Abschnürungs-, nicht aber Erlösungs p o l i t i k gegen ihre Nachbarn trieben (Abb. 4),

daß sie die Grenze als Front betrachteten, in die man Keile vortreibt, um einmal die „Front" aufzurollen und aufzulockern und aus Gründen der Sicherheit, also mit „heiligem Rechte", den Gegner zur Zurücknahme seiner vorspringenden „Frontteile", zu zwingen und so die ungünstig gewordene Umrißform auszu­ gleichen. So wurde nicht ohne unser Verschulden die geradlinige Westgrenze gegen Ende des 15. Jahrhunderts und die durch die 2. und zum Teil noch durch die 3. Teilung Polens günstig (abgesehen vom unglücklichen Neuostpreußischen Zipfel) gestaltete Ostgrenze Preußens wieder zerstört (Abb. 3) und ein elsäs­ sischer, saarländischer und belgischer, ein tschechischer und polnischer Keil geschaffen,

1. Die Gestalt der Staaten und Deutschlands.

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ja, sogar ein Durchbruch durch unser Land gutgeheißen (Abb. 4), so daß unsere Grenzen Umklammerungen (Schlesien, Ostpreußen- Glatzer Kessel) und Flanken­ stößen (Pfalz und Rheinland, Westpreußen und Pommern) ausgesetzt sind. Schon vorhandene Keile wurden 1919 vertieft und im polnischen Korridor ein Durchbruch bewerkstelligt, wie solche schon manchem Lande zum Verhängnis geworden sind. Würde sich Österreich uns anschließen, so würde eine Flanken­ überwachsung, ja Umklammerung der Tschechei eintreten, die diese und Deutsch­ land wegen der Verschlechterung der Umrißform zu einem gegenseitig freundlichen Verhältnis zwingen würde. Daher der Widerstand der Tschechoslowakei, die sich übrigens einer leichten Flankenüberwachsung von Südsachsen rühmen kann, das manche dortige Heißsporne tschechisch machen wollen (Abb. 5). Während früher nur Ostpreußen durch den russisch-polnischen Keil bedroht war, bieten jetzt Deutschlands Umrisse an vielen Stellen sehr gefährliche Angriffsflächen für unsere Nachbarn dar und erhöhen unsere Unsicherheit. Im Westen besteht der elsässische Keil, damit man geographisch auf die Unsicher­ heit der lothringischen Flanken und die Notwendigkeit einer Buchtabgleichung, mindestens durch Gewinnung des ganzen linken Rheinufers, Hinweisen kann. Dagegen hoffen viele Deutsche, daß durch die Sicherheitspakte von Locarno 1925, durch die von uns der Versailler Vertrag und damit der Gebietsraub und die lebensgefährliche Umrißform, wenigstens der Keil im Südwesten, anerkannt wurden, dem Vordringen der Nachbarn ein Riegel vorgeschoben würde.

c) Grenze. Beschaffenheit der Grenze. Die Staatsgrenzen sind erstens Dauer- und zweitens politische Grenzen; jene trennen einen Staat von einem unbewohnbaren Gebiet, diese von einem anderen Staat. Die Dauergrenzen bilden also natürliche Grenzsäume, breite Naturschranken oder natürliche Hindernisse, die ein weiteres Verschieben der Grenze für immer oder für lange Zeit unmöglich machen. Zu ihnen gehören Meer, Eis, Wüste, riesige Urwälder und Sumpfgebiete. Einst bedeuteten sie einen gewissen Schutz, beim heutigen Stande der Technik ist dieser gering, wie sie auch die Ausdehnung eigentlich nicht mehr hindern. Sie können also über­ wunden werden: England ging über alle Meere, die ja heute sogar eine Völker­ brücke geworden sind, Spanien nach Amerika, Frankreich nach Nordafrika und durch die Sahara nach dem Sudan, Rußland in die Wüsten Asiens, Deutschland durch die Namib und die Pripetsümpfe, Belgien in den Kongo-Urwald. Da­ gegen schützt das Eis Rußland im Norden und hemmt das Vordringen in Grön­ land und der Antarktis, schützte die Wüste den Suezkanal vor den Deutschen, und Jnnerarabien und Lybien u. a. vor fremder Herrschaft. Viel wichtiger als die Dauer- sind die politischen Grenzen. Sie sind 1. ebenfalls meistens Naturgrenzen, die a) manchmal schon von Hause aus, also ursprüngliche, natürliche Grenzsäume sind, demnach einst ein weiteres Vordringen, wenigstens eine Zeitlang, hemmten, b) erst später zu Grenzen, Grenzlinien, d.h. mehr oder weniger breiten Streifen, oft aus Grenzsäumen

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

entstanden, gemacht wurden; 2. willkürliche, künstlich gezogene Grenz­ linien, wobei der stärkere Staat meist den Ausschlag gibt. 1. a) Die ursprünglichen politischen Grenzsäume waren von jeher bei Naturvölkern beliebt, wo sie aus menschenleeren oder -armen, herrenlosen, unwegsamen Urwäldern und Gebirgen, aus Sümpfen und Seen bestanden (vielfach in Afrika, auf Neuguinea; aber auch zwischen Indien und Tibet-Afgha­ nistan, zwischen Chile und Argentinien, China und Sibirien, früher Mexiko und Union, Frankreich und Spanien). Solche politischen Landsäume wurden nicht selten auch durch Verein­ barung aus Schutzbedürfnis abgegrenzt. Hier spielen Waldstreifen, Lich­ tungen und Ödländer eine wichtige Rolle. Dazu gehören die neutralen Zonen, z. B. auf der Landenge von Gibraltar, in Amerika, Asien, Südafrika. Im Versailler Frieden erzwangen die Feinde die Festsetzung einer 50 km breiten Zone rechts vom Rhein, in der Deutschland weder Truppen noch Befestigungen gestattet sind (Abb. 4). Merkwürdigerweise verläuft deren Ostgrenze weit auf dem Osthang von Schwarz- und Odenwald. Einem ähnlichen Bedürfnis dienen die sogenannten Pufferstaaten und viele neutrale Länder, wie Belgien (bis 1914), Holland, Albanien, Schweiz, Polen (1916 für, seit 1919 aber gegen uns), die baltischen Staaten, Afghanistan, Siam, Bessarabien; angeblich deshalb sollte auch eine „Rheinische Republik" geschaffen werden. Das heutige Deutschland ist eigentlich auch ein Pufferstaat, zu dem es von seiner Weltstellung herabgesunken ist. England schuf in Palästina auf Wunsch der Banken in Wallstreet und der Zionisten angeblich ein nationales jüdisches Zentrum, in Wirklichkeit einen Puffer- und gleichzeitig Durchgangsstaat zwischen Ägypten und Indien, der zugleich die Rolle eines britischen Vorpostens nach Osten zu spielen hat. b) Der zunehmende Verkehr, die wachsende Bevölkerung, die Sucht nach Äckern und Mineralschätzen, aber auch die fortschreitende geographische Er­ forschung ließen das trennende Grenzland früherer Zeiten immer mehr zu­ sammenschmelzen, bis sich schließlich aus dem Grenzsaum die Grenzlinie entwickelte. Diese mußte aber später ebensogut durch die Staatsmänner fest­ gelegt werden wie die anderen Naturgrenzlinien, die man nach Überein­ kunft aus Zweckmäßigkeitsgründen morphologischen Bodenverhältnissen anpaßte. Me politischen Grenzlinien stellen daher reine Machtgrenzen dar (Rhein­ bett und Jura gegen Frankreich). 2. In neuerer Zeit, besonders nach dem Weltkrieg, zog man oft ganz will­ kürliche Grenzlinien, die sich gar nicht an natürliche Verhältnisse anlehnen, so daß Markierung (mit Steinen, Pfählen, Gräben) notwendig ist (Deutsch­ land und Ungarn 1918). Früher errichtete man sogar Wälle und Mauern, welche die natürliche Grenze ersetzen sollten. Berühmte Kunstgrenzen waren die Chinesische Mauer, der Limes, Hadrianswall, die Trajanswälle und das Danewerk. Zu den künstlichen, aber ja nicht zu den natürlichen Grenzlinien zählt man mit Recht auch die völkischen Grenzen. Alle Grenzen, also die Dauerund politischen Grenzen, sind Bewegungsgrenzen. Nur ist die Grenzlinie emp­ findlicher als der Grenzsaum, der einer fortschreitenden Bewegung vorüber­ gehend Halt gebieten kann, bedarf deshalb einer genauen Festlegung.

1. Die Gestalt der Staaten und Deutschlands.

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Zu den Naturgrenzen rechnet man also die meisten Grenzen, soweit sie eben von der Natur vorgezeichnet sind (natürliche Grenzsäume und -linien). Die politischen Grenzen, die also vertraglich festgesetzt sind, bezeichnete Briand als heilig und unberührbar, da sie papierene Grenzen seien. Stärke und Schwäche der Grenze. Eine Grenze soll so gelegt sein, daß hier die innere Wirksamkeit der angrenzenden Völker aufhört und völlig veränderte Verhältnisse Platz greifen. .Außerdem ist jede Grenzführung zu vermeiden, die der Nachbar als Bedrohung auffassen kann. Vor dem Weltkriege verliefen die Grenzen auch im großen und ganzen getreu dieser Forderung. Erst dieser hat alles ver­ wirrt und Grenzen geschaffen, die dieser Ansicht überall zuwiderlaufen, in die Lebensinteressen des Nachbarn hineinstoßen, seine Sicherheit bedrohen und so eine Quelle nie versiegender Zwistigkeiten bilden. Das gilt besonders von der deutschen Grenze gegen Polen, wo die Grenzlinien so willkürlich und wirr gezogen sind, daß man fast annehmen könnte, sie seien nur zur Schaffung dauernder Konflikte so bestimmt worden. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei Ungarn. Es läßt sich allerdings oft beim besten Willen keine alle Teile befriedigende Grenze ziehen, da Klima, Bodenformen, Gewässersysteme, Wirtschaft und sogar die Menschen von einem ins andere Land übergreifen. Trotzdem spricht man von Grenzen, die anzustreben seien, well sie ihre Auf­ gabe gut erfüllten. Welches ist nun ihre Aufgabe? Die Staatsgrenzen sollen (nach Supan) 1. deutlich trennen, 2. gegen feindliche Angriffe schützen und 3. trotzdem den beiderseitigen Verkehr möglichst wenig stören. Keine Grenze besitzt alle drei Eigenschaften zusammen, zumal 2 und 3 einander zu widersprechen scheinen, keine ist also absolut gut, selten ist aber auch eine ganz schlecht; gute und schlechte Grenzen sind eben relative Begriffe. Eine vorzüg­ liche Schutzgrenze kann verkehrshemmend und auch undeutlich sein, während eine gute Verkehrsgrenze hinwiederum oft der nötigen Schutzsicherheit und der deutlichen Trennung (deutsche Ostgrenze, Ungarn) entbehrt. Am ehesten erfüllen die Naturgrenzen wenigstens eine der drei ge­ nannten Bedingungen. Die sind mehr oder weniger deutliche Trennungs­ linien, erleichtern die Anlage von Verteidigungswerken und erschweren wenig­ stens für ein paar Tage den feindlichen Vormarsch. Auch die künstlichen Mauern und Wälle bildeten einst eine erkennbare Grenzlinie, schützten das dahinter liegende Land vor Überfällen und erleichterten die Grenzaufsicht. Eine gute Grenze bildet das Meer; doch ist es kein so schützender Mantel, wie man früher annahm und wie das einst auch zur Zeit unentwickelter Schiffahrt wirllich der Fall war. Aber es ist eine deutliche Trennungsfläche und dient in hervorragendem Maße dem Verkehr. Mit der Meeresgrenze besitzt auch das Angrenzen an wirllich neutrale Länder und Pufferstaaten eine gewisse Ähnlichkeit; es erfüllt alle drei Aufgaben meist in genügender Weise (s. Weltkrieg). Auch die Wüste bildet keine gute Grenze, besonders wenn sie von un­ zivilisierten Nomaden bewohnt wird (Arabische Wüste), doch sind einige Wüsten noch sichere Schutzgrenzen.

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Das gilt noch mehr vom Eis, das außerdem deutlich trennt; dagegen bleibt es dem Verkehr verschlossen, was jenen Vorteil wieder aufhebt. Ähnliches läßt sich von Urwäldern und riesigen Sumpfgebieten sagen, die noch heute dem Vordringen große Schwierigkeiten bereiten können. Flüsse erfreuten sich als Naturgrenzen stets einer besonderen Beliebt­ heit, wohl deshalb, weil sie weithin erkennbare Trennungslinien sind. Von einem gewissenSchutz durch den Fluß kann aber vielleicht nur dann gesprochen werden, wenn der Landverkehr nur an wenige Örtlichkeiten (Brücken und Furten) gebunden ist, besonders aber, wenn die Wassermassen ungeheuer groß, (Kongo) oder die Ufer weithin versumpft sind (untere Donau), oder schluchtartige, breite Erosionstäler bilden (Galizien). Doch wurden auch diese von jeher, namentlich im Weltkriege, manchmal rasch überwunden (Donau durch Goten; Wolga und die sibirischen Flüsse). Ein Fluß, der eine Ebene, auch breite Talebene durchfließt (Rhein), er­ füllt dagegen keine der drei Aufgaben. Daher ist z. B. der Rhein keine wahre Grenzlinie, ist es auch nie gewesen. Dazu kommt, daß der Rhein die Be­ wohner beider Ufer zum gewaltigen Verkehrsstrom zusammenschließt, daß ferner links und rechts vom Rhein gleiches Volk, gleiches Klima, gleiches Land und gleiche Kultur vorhanden ist, genau wie an der Rhone und mehr noch als am Po. Warum haben Frankreich und Italien dort nicht Halt gemacht? Sogar Eng­ länder mußten zugeben, daß die Landwirtschaft, die Denkmäler, Sprache und Bauweise im Elsaß sich in nichts von allem rechts des Rheins unterscheiden. Weil Frankreich selbst weiß, daß das Land am Rhein eine unteilbare Einheit ist, wollen viele Franzosen auch auf das rechte Ufer hlnübergreifen. Viel genannt als gute Naturgrenzen werden immer die Gebirge und Hauptwasserscheiden. Doch macht deren mannigfaltige Gestaltung das Pro­ blem der bedingt besten Naturgrenze verwickelt, ja die Hauptwasserscheide ist als solche schon längst widerlegt, daher abzulehnen. Denn scharfe Kämme, die zugleich Wasserscheiden bilden, bleiben auf das Hochgebirge beschränkt, sind also verhältnismäßig selten. Außerdem bildet dort die Zone der höchsten Gipfel oft keine zusammenhängende Kette (südchilenische Anden), so -aß die Wassercheide nicht auf den höchsten Ketten, sondern vielfach sogar ganz flach liegt, also og. Talwasserscheiden bildet (auf vielen Pässen). Dann muß dort erst wie auf netten Rücken, wo die Wasserscheide die Form eines Grenzsaumes annimmt, eine Linie gelegt werden, so daß die politische Grenze etwas vom Charakter einer natürlichen verliert. Gewiß bieten die hohen Kämme Schutz, aber ebensogut auch schluchtartige Talengen. Daher steigt die Grenze in ausgedehnten Ketten­ gebirgen oft in solche Täler hinab (Alpen), wie denn dort aus verschiedenen, manchmal auch politischen Gründen die Grenzlinie häufig von einem Kamme auf den anderen überspringt und dabei Täler durchquert, ohne dabei der Wasser­ scheide treu zu bleiben. Im Flachland ist der Einfluß der Wasserscheide auf die Grenze natürlich noch viel geringer als im Gebirge und tritt entschieden hinter dem deutlich er­ kennbaren Fluß zurück. Namentlich Italien vertritt den Standpunkt, daß die periadriatische Wasser­ scheide als „natürliche" Grenze seines Gebietes anzustreben sei. Es handelt sich hierbei

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besonders um das Tessin bis zum St. Gotthard, das von den drei zu erlösenden T allein noch nicht befreit ist, um Graubünden oder Teile davon (Mb. 7), Albanien und Dal­ matien. Deshalb mußte, z. T. wenigstens, auch Südtirol italienisch werden. Ein ander­ mal hieß es allerdings wieder, es sei aus strategischen Gründen geschehen! Andererseits denkt Italien aber nicht daran, die Gebiete aufzugeben, die an der französischen, schweize­ rischen und österreichischen Grenze über die Wasserscheiden „hinüberlappen".

Die Pässe bedeuten nicht Scheiden, sondern Verbindung, so daß Völker über die Pässe hinübergreifen (Deutsche über den Brenner, die Sudetenpässe, den Böhmerwald), und wenn sie nicht hinübergehen (St. Gotthard), so ist das Streben, die Pässe zu überwinden, so kräftig, daß die Staatenbildung auch über Sprach- und Bolkstumsgrenzen hinwegschreitet (über St. Gotthard zum Kanton Tessin). Wasserscheiden sind also auch aus diesem Grunde als Grenzen ein Widersinn (besonders Tirol im Brenner). Daß der Besitz der einen Seite des Passes auch den der anderen Seite erstrebenswert macht, ist eben zum geo­ politischen Gesetz geworden. So haben die Pässe der Karpathen im Weltkriege die Russen geradezu in die ungarische Tiefebene hinabgesogen! Daher denken viele Italiener entgegen ihrem Prinzip im Ernste nicht daran an den Pässen haltzumachen. Allerdings geschieht das aus Imperialismus, nicht aber des­ halb, weil sie sich ebenfalls dem genannten Gesetz nicht entziehen könnten. Die Gebirge bilden heute noch beliebte Grenzen (besonders Pyrenäen, Alpen, Skandinavisches Gebirge); doch gewähren sie wie die meisten anderen Naturgrenzen heutzutage und vielfach schon früher (Alpen gegen Italien) keinen dauernden Schutz. Das sieht man am besten an Spanien und Italien, die beide von der See und über die Gebirge wiederholt von Eroberern heimgefucht wurden, aber auch an Westdeutschland, das gerade die „schützenden" Ge­ birge im Westen an Frankreich verloren hat.

Aber schon von jeher dienen die Gebirge gewöhnlich eine Zeitlang, also vorübergehend, als Grenze (Vogesen, Maashöhen; Alpen; s. auch Entwick­ lung des Osmanischen Reiches), um dann überwunden zu werden (Völkerwande­ rung, Indien, Anden, Alpen zur Römerzeit); sie ziehen sogar die Völker an sich, besonders wenn Flüsse aus ihnen herausgehen, und verführen sie, zum Teil wohl aus Schutzbedürfnis, den Flüssen folgend, sich ihrer ganz zu bemächtigen (Hineinwachsen der Römer in den Appenin und der Osmanen in die Grenz­ gebirge, der Bayern in die Alpen, der Franzosen in die Vogesen), bis schließlich nicht Kamm und Wasserscheide, sondern bezeichnenderweise der entgegengesetzte Fuß eines Gebirges Grenze wird (stellenweise die Anden) oder richtiger der Rand, wo die Flüsse sich durch Engpässe den Weg ins Flachland oder ins Meer bahnen. Daher liegen die deutschen Naturgrenzen in den Alpen (nach Penck) nicht auf ihrem Hauptkamm, sondern an ihren südlichen Hängen (Berner Klause, in Friaul) und an der adriatischen'Pforte bei Triest oder an der Adria selbst! Italien hat daher (nach Penck) geographisch an den Alpen keinen Anteil, sie sind vielmehr in ihrer ganzen Ausdehnung dem mitteleuropäischen Gebiet zuzu­ sprechen. Auch die Bayern verlegten aus obigem Grunde früher die Grenze bis zum südlichen Alpenrande und viele Italiener betrachten nun, mitbestimmt durch die Umrißform, umgekehrt den nördlichen Alpenrand als ihnen „natürlich *nt>

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strategisch" erscheinende Grenze, nachdem sic bisher, im Widerspruch dazu, Kamm und Wasserscheide als die erstrebenswerten, so notlvendigen und vor­ trefflichen Naturgrenzen bezeichnet haben. Wie wird die Wasserscheide als Grenze gelobt, bis inan oben steht und findet, daß ein vorgelagertes Glacis zu ihrem Schutze nötig sei! Nicht umsonst sind die Italiener im Oktober 1918 in Innsbruck eingezogen, wenn sie Clemenceau auch bald wieder hinauswies. Nordtirol ist für sie das Vorgelände der Alpenfestung, die sie ganz besitzen ivollen! Daher suchen sie es wirtschaftlich zu durch-

Abb. 5. Die weitere Zerstücklung Deutschlands und die Balkanisierung (Pufferstaaten) Mitteleuropas nach tschechischen Plänen.

dringen (Plan der Errichtung eines italienischen Zollamtes in Innsbruck). So verließen auch die Franzosen die Maashöhen und die Vogesen, ihre eigent­ lichen und für sie wesentlich günstigeren Grenzen als für die Deutschen, weil sie ja die Kämme beherrschten. Und viele Tschechen schauen nun über Erzgebirge nach Sachsen und über Böhmerwald nach Bayern herein. Die Gebirge wirken eben wie die Flüsse nicht völkerscheidend (Alpenkamm). Schon daraus ersieht man,'was von dem lauten Ruf nach sogenannten „Natur"- oder richtiger „natürlichen" Grenzen zu halten ist. Unsere ehemaligen Gegner verstehen darunter nämlich nicht nur die wirklichen Naturgrenzen, besonders Gebirge und Flüsse, sondern auch die sogenannten nationalen oder völkischen, also künstliche Grenzen, ja sie rechnen zu den „natür­ lichen" Grenzen sogar historische und endlich seit 1919 (Versailles) auch strate­ gische (oder militärische) oder Sicherheitsgrenzen (besonders frei von fremden

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Keilen) und endlich sogar wirtschaftliche (Polen muß einen Zugang zum Meere haben.) Es war gerade Präsident Wilson, der von klar erkennbaren nationalen Grenzen redete und versprach, die Gebiete gerecht nach der Abstammung und der Volkszugehörigkeit der Bewohner zu verteilen.

Selbstverständlich spielt bei den „natürlichen Grenzen" die Umrißform eine große Rolle. Auf die Grenze selbst kommt es dabei gar nicht an, sondern auf die Bedeutung des zu gewinnenden Landes, worauf man im Namen der Natur und des Volkstums oder der Geschichte (Abb. 5) und Sicherheit oder Strategie Anspruch erheben „kann". Franzosen wollen deshalb das linke Rhein­ ufer mit Brückenköpfen auf dem rechten und mit dem Ruhrgebiet; endlich han­ delt es sich anscheinend oft auch darum, die Keil- und Abschnürungspolitik zu verschleiern.

Man denke nur an Frankreich, das einst die Gebirgsgrenzen verließ und den Rhein als wahre, natürliche Grenze pries. Das hinderte es aber nicht die Grenze zur Zeit Napoleons bis zur Elbe und zum Böhmerwald zu verlegen; auch jetzt wollen viele Franzosen am Rhein nicht Haltmachen, obwohl dieser als geschichtliche, was er nie war, und wahre strategische oder Sicherheitsgrenze bezeichnet wird. Napoleon überschritt auch die zwei anderen „Naturgrenzen", die Pyrenäen und Westalpen. Und die Engländer verlegten die westlichen „natürlichen Grenzen" Indiens von den Suleimanketten nach Persien, dann, wenigstens hypothetisch, nach dem Euphrat und jetzt bis ans Mittelmeer und zum Nil, die nördlichen vom Himalaya zum Tarimbecken. Deren amerikanische „Bettern" schoben die „Naturgrenze" ruckweise nach Westen vor und erblicken- sie jetzt im Süd- und Nordende Amerikas. Auch Italien wollte „natürliche Grenzen" haben, weshalb alsbald der Ruf erscholl von Italia fino al Brennero und den natürlichen Ansprüchen Italiens auf die gesamten Küstengebiete der Adria. Der zwischen Italien und Mbanien 1926 abgeschlossene Freundschaftsver­ trag von Tirana bezweckt für Rom die völlige Abriegelung der südlichen Adria. Dabei werden ebenfalls die Geschichte und , auch die Gewässerkunde und Geologie ass Zeugen genannt, um die Grenzen hinaus­ zuschieben, um die Machtentwicklung Italiens nach dem Osten, zunächst auf dem Balkan, zu begründen. So stammt nach italienischer Auffassung das Meerwasser der Adria vom Po und den übrigen italienischen Alpen­ flüssen, und die Adria wird einmal von deren Sinkstoffen ausgefüllt werden (Abb. 6). Eifrige Faszisten sind auf noch weit höhere Grenzen gekommen: sie behaupten nämlich, daß die italienische Grenze sogar von der unfehlbaren Hand Gottes gezeichnet sei und vielleicht sogar mit dem Limes der Römer Abb. 6, Wie Istrien im Laufe der Zeit zusammenfalle, überhaupt könne Rom auf mit der Lombardei verwächst. den früheren Umfang des Römischen Reiches Eine italienische Propagandalarte. Anspruch erheben (Abb. 7). Die „natürlichen Grenzen" wurzeln nicht in der Natur selbst, sondern in den Köpfen phantastischer Schwärmer, meistens aber in denen kälter Machtpolitiker oder Imperialisten, die nach einem kräftigen populären Schlag»vort suchen. Da außerdem nicht alle Staaten, am wenigsten Deutschland, Oster-

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reich, Ungarn und Bulgarien, ein Recht auf „Naturgrenzen" beanspruchen dürfen, so ist der Ruf nach ihnen nicht berechtigt. Das gilt ganz besonders von den historischen und strategischen Grenzen. Naturgrenzen sind heute im Zeitalter des Imperialismus nur mehr Jdealgrenzen, die sich aus den physischen und Völkerkarten recht gut aus­ nehmen, vielleicht aber gerade deshalb angestrebt werden müssen, nicht aber deswegen von den imperialistischen Staaten angestrebt werden. Sie entbehren ja eigentlich der inneren und äußeren Berechtigung, soweit nicht dadurch eine Besserung der Grenzen, Umrißform und Geschlossenheit, also kurz der Gestalt, erreicht wird, die jeder Staat anstreben darf und ev. sogar anstreben muß, wenn es eben seine Lebensnotwendigkeiten verlangen. Das gilt auch von den „völkischen" Grenzen, die im Kern ebenfalls eine gewisse Berechtigung haben, da jeder Staat seine Volksgenossen in sich einbezogen sehen will, besonders, wenn dadurch auch noch die Gestalt verbessert wird. Von ihnen wurde namentlich während des Weltkrieges gesprochen, selbst­ verständlich nur im Sinne der feindlichen Staaten. Sie sind so alt wie das Nationalitätsprinzip, wurden aber erst mit dessen starker Betonung durch die Entente während des Krieges ganz in den Vordergrund der Geopolitik gerückt. Die Gegner bezeichneten sie als „Lebensfragen" für ihre Staaten, aber nur — soweit dadurch fremde Gebiete einverleibt oder fremde Staaten aufgeteilt werden konnten. In Wirklichkeit hat kein Volk ein Anrecht auf eine ganz bestimmte Natur- oder „natürliche" Grenze, also auch nicht auf völkische und physische, weil kein Kulturstaat in allen Einzelheiten durch seine „natürlichen" Grenzen vom Nachbarlande abzugrenzen ist. Ein solches Prinzip kann daher von größtem Unheil und eine gefährliche Quelle politischer Unruhen werden, besonders wenn

Abb. 7. Die Idee der italienischen Mittelmeerherrschaft.

2. Die Lage der Staaten und Deutschland.

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dadurch der nackten Eroberungssucht ein wissenschaftliches Mäntelchen umge­ hängt oder wenn es bis in die äußersten Konsequenzen verfolgt wird. Solange allerdings unsere ehemaligen Gegner und die Neutralen von „Naturgrenzen" sprechen und sie anstreben, können wir nicht zurückbleiben, wenn wir nicht Objekt ihrer Bestrebungen werden wollen.

2. Die Lage der Staaten und Deutschland. Die Stärke oder Schwäche eines Staates wird in hohem Grade auch durch die Lage beeinflußt. Es kommen aber hier nur die mathematische, geographische und politische Lage in Betracht. a) Mathematische oder Breitenlage. Die geographische Breite ist in erster Linie entscheidend für das Klima und damit für den ganzen Staat; denn jede Staatenbildung ist im Grunde außer durch die Bodenbeschaffenheit nur noch durch das Klima bedingt, so daß man mit Recht auch von einer Klimalage sprechen kann. Das Klima beeinflußt auch die Gestalt, das Aussehen und den Charakter des Menschen (Indianer, Nordamerikaner). Sind Klima und Boden gut, so stärkt das einen Staat und umgekehrt. Allerdings trägt auch der Mensch noch viel zur Stärke bei, wie sich ja Klima und Menschen ergänzen müssen. Das gemäßigte Klima weckt im allgemeinen am meisten den Fleiß und die Lebensfreude des Menschen, schafft also die günstigsten Bedingungen zur Staatenbildung (Deutschland, Belgien, Holland, Union, China; dagegen weniger fleißig Kastilien, Frankreich, Rußland). Auch die subtropische Lage stärkt den Staat, da sie mannigfaltige Boden­ erzeugnisse aufweist (China, Japan), die aber wegen der Regenarmut gewöhn­ lich nur mit eisernem Fleiß dem Lande abgerungen werden können (bei Römern, Phöniziern, Babyloniern und Ägyptern, auch in Chile). Es ist daher geographisch wohl begründet, daß die Kultur der Men Welt in den Subtropen ihren Ursprung nahm und in der gemäßigten Zone ihre größte Blüte erreichte. Nachteilig ist die polare Lage (ausgenommen Süd-Island, sonst sind die Polarvölker wirtschaftlich und geistig sehr einfach) und die tropische Lage. Hier wirkt die feuchte Hitze erschlaffend und die Überfülle, namentlich die des Urwalds, ist vielfach kulturfeindlich und erhält den Menschen in angeborener Sorglosigkeit und Trägheit. Und doch gab es hier einmal reiche, blühende, auf hoher Kultur stehende Staaten: außer den Azteken- und Jnkareichen, die trockene Höhenlage hatten, Altindien, viele Sudanreiche, das Mayaland, das ehemalige Singalesenreich. Es kommt eben auch auf den Menschen an. Hat sich dieser dem Klima angepaßt (Indien), so können gewisse Jdeenverbindungen und religiöse Vorstellungen (Pazifismus und Kastenwesen, die Mystik) ungemein nachteilig wirken (auch auf Ceylon). Auch der moderne Kulturstaat wird also in seinem Leben wesentlich durch die Breitenlage bestimmt.

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b) Geographische Lage. Unter geographischer Lage versteht man die Lage irgendeines geographycyen Objektes zu einem beliebig anderen. Von großer Wichtigkeit ist die Meereslage, d. h. die Lage an einem Meere. Biel länger als das Meer hat die Wüste den menschlichen Überwindungs­ versuchen widerstanden. Sie wirkt noch heute in hohem Grade verkehrshindernd, und abschließend. Das sieht man an den Atlasländern, an der Kalahari, am Tarimbecken, an Tripolis. Allmählich wird aber auch die Wüste durch die Eisen­ bahn, überhaupt durch die modernen technischen Mittel dem Verkehr erschlossen, wie in Deutschsüdwestafrika und der Sahara, wo Frankreich alles aufbietet, um die Wüste zu überwinden (auch durch Tanks). Schwer angreifbar sind die große Oasengruppen umfassenden eigent­ lichen Wüstenstaaten. So schützte Ägypten int Weltkriege hauptsächlich der es umgebende Wüstengürtel (die Sinai- und Lydische Wüste) und Fessan und Tibesti werden bis in die letzten Tage von mehr oder weniger freien Völkern bewohnt, wie sich auch im Innern Arabiens die Unabhängigkeit der Halbinsel vorbereiten konnte. Freilich hat die Wüstenlage auch ihre Nachteile, indem sie die betreffen­ den Völker meist kultnrell zurückbleiben läßt. Stärke und Schwächehaltensichbei derHochgebirgslage ungefähr die Wagschale. Die Hochgebirgsschranke ist schon viel früher als bei der Wüste, durchbrochen worden (Alpen, Pyrenäen, Tienschan, Anden und Mexiko); die Hochgebirge schützen eben heute nicht mehr.. Und doch sind die Vorteile in klima­ tischer, wirtschaftlicher und völkischer Hinsicht nicht zu unterschätzen (Abessinien, Mexiko, Andenstaaten). Wenn ein Staat an einem Gebirge mit vielen Durchgangspässen liegt, so spricht man von einer Paßlage. Die Paßstaaten sind sehr zahlreich (Tirol das

Abb. 8. Die Schweiz als Puffer-, Pan-, Binnen-, Zentral- und Durchgangsstaat. Fluß- und gemüßigte Lage. Ter Süden gelappt und gefährdet. 1, 2, 3 Buchten Graubündens v. 17 9 7: Cbiavenna, Beltlinund Bormio.

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Paßland des Brenner usw., die Schweiz das des Gotthard usw. und des Jura, Graubünden das der Bündener Pässe) und bilden meistens Pufferstaaten. Sie erfreuen sich einer zusammenfassenden Kraft, die wirksamer ist als die Kraft der Sprachengrenze (Schweiz; Graubünden allein vereinigt kraft seiner Pässe drei Sprachvölker). Ihre Stärke liegt außerdem in der Eifersucht der angrenzen­ den Staaten (Afghanistan verdankte z. B. sein Bestehen bis 1918 dem britisch­ russischen Gegensatz), ihre Schwäche aber an der Abhängigkeit von diesen und an ihrem kleinen Umfang (Schweiz, Herzogtum Burgund). Ein sehr wichtiger Paßstaat ist Afghanistan zwischen dem russischen und britischen Weltreich; es ist im Besitze der Pässe zwischen diesen beiden, nämlich der Pässe, die von BritischJndien nach Russisch-Turkestan führen. Von großer Bedeutung für den Staat ist die Flußlage. Die einen Flüsse weisen, auch wenn sie nicht schiffbar sind, dem Menschen den Weg zum Meer (Frankreich), andere verknüpfen verschiedene Landschaften (Deutschland) oder ganze Länder (Osterreich-Ungarn nannte sich einst mit Recht den Donau­ staat), wie die Donau Mitteleuropa mit dem Orient, oder erschließen solche der Gesittung (Ägyptischer Sudan und Abessinien durch den Nil, viele amerikanische Ströme) und Kultur (Donau nach Osten), viele fördern durch ihre Schiffbarkeit den Verkehr. Daher bedeutet es einen großen Übelstand für einen Staat, wenn ein großer, schiffbarer Fluß verschiedenen Völkern angehört. Ein Fluß verknüpft mit seinen Zweigen die Bolksteile oder Völker, die sein Stromgebiet bewohnen, wie mit starken Banden (Österreich). Sie genießen durch ihren Fluß gemeinsame Vorteile, erleiden durch ihn gemeinsame Schick­ sale (Rhein!). Durch ihre ganze Geschichte zieht sich gleichsam ihr Fluß wie ein leitender Faden hin (Rhein). Immer und überall waren Flüsse die eigentlichen Lebensfäden; man darf vielleicht sogar behaupten, ein Volk ohne idealisierten Strom sei ein Volk ohne Geschichte und Dichtung. Wie der Römer den Tiber, der Franzose Loire und Garonne, so preisen wir unsere zwei Schicksalsströme: den Rhein und die Donau. Durch den Versailler Frieden wurden noch drei deutsche Ströme zu deutschen Schicksalsflüssen, die Elbe (Sudetendeutschland), die Oder (Oberschlesien) und die Weichsel (Danzig, Deutschpolen). Es gilt der Grundsatz: Ein Staat wird gestärkt, wenn ein Fluß ihm ganz angehört, besonders auch die Mündung, namentlich, wenn diese ins Meer führt, und er wird geschwächt, wenn das nicht der Fall ist. Ferner soll der Staat die Mündung besitzen, der die Quelle sein eigen nennt und umgekehrt (Elbe!). Daher wollen viele Franzosen, nachdem ihr Land nun zu unserem Nachteü am Rheine teilnimmt, sich mit dem bisher Errungenen nicht zufrieden geben, sondern die Beherrschung des ganzen Rheines anstreben, wie sie Belgien als Mündungs­ land von Schelde und Maas als ihr künftiges Eigen betrachten. Und viele Tschechen sehen in Hamburg eine tschechische Hafenstadt, weil die Elbe in ihrem Lande entspringt. Der uneinheitliche Besitz eines Flusses gibt also immer Anlaß zur politischen Unruhe. Es sei nur erinnert an den einstigen Mississippistreit zwischen Engländern und Franzosen, die zur Quelle auch die Mündung besetzten, an die Bedeutung des Nil, der Elbe, Oder und Weichsel (heute polnisch) und besonders Simm er, Grundzüge der Geopolitik.

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der Donau. Das Donauproblem führte zum Weltkriege. Die Anlieger an der Donau erfuhren im Laufe von Jahrhunderten, welche Nachteile eine Fluß­ lage in sich bergen kann. Wie viele Völker sind nicht die Donau auf- oder abwärts gezogen und mehrere haben versucht, sie ganz zu beherrschen. Öster­ reich strebte, ja mußte streben, im Laufe der Jahrhunderte immer weiter donau­ abwärts vorzudringen, nachdem es nun einmal Flußstaat geworden war. Es wuchs deshalb sogar aus dem Deutschen Reiche heraus und schaute immer nach der Donau, nach dem Osten. Das war geographisch ganz natürlich; deshalb mußte es die Donau frei halten und konnte auf dem Balkan keine frembe große Macht dulden. Und wir mußten mit Österreich verbündet bleiben, wenn wir nach Bagdad gehen wollten und weil wir doch auch an der Donau liegen. Auch der Donaumündungsstaat Rumänien, der seine Bedeutung nur dem Flusse ver­ dankt, war gezwungen, mit uns zusammenzugehen (Militärbündnis). Ein Fluß kann also die ganze Politik eines Staates entscheidend beeinflussen (auch Weichsel) und furchtbare Kriege Hervorrufen. Das sah man neuerdings deutlich wieder am Mossulproblem. Manche Staaten verdanken einem Fluß ihre Macht und Bedeutung, meist sogar ihr Dasein und ihre hohe Blüte (Ägypten, Babylonien und Assyrien, heute Mesopotamien, Kongokolonie, Siam, z. T. Venezuela und Belgien). Die Mederlande gelangten, als sie aus Handelsneid einst ihrem Mutterlande die Rheinmündung ver­ schlossen, durch das Rhein- und Scheldedelta über Gebühr zu hoher Bedeutung. In gleicher Weise beruht Rumäniens Weltstellung wenigstens großenteils auf der Herr­ schaft über das Donaudelta. Ein Land kann aber nur einen Fluß für sich beanspruchen, wenn es sich dämm auch kümmert. Polen z. B. behauptet, die Weichsel sei sein Lebens­ strom, sein Rückgrat, dieselbe Weichsel, die aus altpolmschem Gebiet säst unreguliert ist, während sie in Westpreußen musterhaft schiffbar gemacht war, bis dieses die Polen uns entrissen. c) Politische Lage. 1. Binnen- «nd abgesonderte Lage. Die zwei Extreme politischer Lage bilden die Binnen- und abgesonderte Lage. Dort ist ein Staat rings von (mächtigen) Ländern umgeben (Schweiz, Deutsch-Österreich, Afghanistan, Tibet, Armenien, das ehemalige Rußland), hier besteht er aus landfernen Inseln (Neu­ seeland) mitten im Weltmeere. Beide Lagen gelten als ungünstig. Ein Binnenstaat ist vom überseeischen Verkehr abgesperrt (Bemühungen der Schweiz im Weltkriege), braucht aber im Kriege ebensolche Feinde nicht zu fürchten. Er muß sich jedoch, besonders wenn er Puffer- oder Paßstaat ist, von den Welthändeln möglichst fern halten und sich mit allen Nachbarn gut stellen (Holland, Schweiz, Afghanistan), wenn er sich nicht einen mächtigen Beschützer sucht (Polen, Belgien, Tschechoslowakei). Zu den abgesonderten Ländern gehören auch die eigentlichen Wüstenstaaten. 2. Küstenlage. Staaten mit mehr oder weniger ausgedehnter Meeres­ küste besitzen Küstenlage. Dazu gehören a) die festlandnahen Insel­ staaten, b) die maritimen Festlandstaaten, die aus a) den Halbinsel-, i) den (maritimen) Zwischen- und y) den Randstaaten bestehen, und endlich

v) die festländischen Küstenstaaten. a) Die festlandnahen Inselstaaten (Großbritannien und Japan) werden sowohl vom Meer wie vom Festland angezogen, so daß sie eine

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zwiespältige und oft schwankende Politik einschlagen: sie schauen über das Fest­ land und über das Meer. b) Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den Halbinsel- (Spanien), die drei Fronten besitzen, und den Zwischen- oder Jsthmusstaaten, die zwischen zwei warmen Meeren liegen (Union, Mexiko, Frankeich, eigentlich auch Dänemark) und wegen ihrer vier Fronten sich einer ungemein günstigen Weltlage er­ freuen (besonders Frankeich und Union). Weniger trifft das auf die Rand­ staaten zu, d. h. auf die Küstenstaaten mit sehr langem Küstenrand (Norwegen, Rußland). Die Insel- und maritimen Festlandstaaten nennt man auch See- oder maritime Staaten, weil sie über eine ausgedehnte Küste verfügen. Groß sind seit der Meerbezwingung im Frieden die Vorteile einer solchen Lage, aber nur wenn es sich um das offene Meer handelt (ausgenommen Frankeich, für das auch das Mittelmeer ungeheuer wichtig ist, und auch Mexiko), nicht aber bei Binnen- (Schweden, Italien, Griechenland, Rußland) und unwirtlichen Meeren (Rußland). Denn das Meer ist eine Bölkerbrücke und äußerst verkehrs­ fördernd. Früher hemmte es den Verkehr außer bei kulturell hochstehenden Staaten (Mittelmeer). Außer dem Verkehr kann sich aber auch die Wirt­ schaft eines maritimen Staates infolge der Lage glänzend entwickeln (Holland, England, Amerika). Allerdings hängt hier vieles ab vom Lebenswillen eines Volkes (Normannen), vom Reichtum der Küstengliederung, von der wirtschaft­ lichen Bedeutung des Innern oder Hinterlandes, von dem Vorhandensein freier, schiffbarer Skommündungen und günstiger Gegenküsten (Ägäisches Meer, Atlantischer Ozean, Nordsee), von der Breitenlage und der Nähe wirt­ schaftlich hochentwickelter Staaten. Die Borteüe mehren sich also, wenn der Staat Durchgangs- oder Zenkalland ist (S. 22). Am günstigsten für die Entwicklung eines Staates ist die Insel- und Zwischenlage und unter Umständen (s. oben) auch die Halbinsellage (Spanien war erst Mittelmeer-, dann nach 1500 atlantische Weltmacht). So verdanken England, Japan und Frankeich der Meereslage ihre Weltmachtstellung, Dänemark der Nord- und Ostsee seine große Bedeutung. Noch günstiger liegen die Verhältnisse bei der Union und bei anderen amerikanischen Staaten (Kanada); auch Südafrika, Australien und Vorderindien ver­ danken der maritimen Lage einen guten Teil ihres Aufschwungs. Wirtschaftlich und militärisch bedeutet jede maritime Lage Isolierung (besonders Union); das gilt namentlich für die Inselstaaten, die sich darauf sehr viel einzubilden pflegten (England). In der Versorgung mit Lebensmitteln und Rohstoffen sind sie auch unabhängiger als andere Staaten. Aber schon hierin zeigen sich die Nachteile der maritimen Lage. Denn sie führt auch zur unmittelbaren Verbindung mit allen anderen Meeresküsten der Erde (außer den polaren), so daß ein maritimer Staat selbst mit dem fernsten unmittelbar in Krieg geraten kann; die Gefahr ist dann um so größer, je näher sie einander sind (England und Frankeich; Griechenland und Türkei; Union und Mexiko, China und Japan). Das Meer an sich bietet eben keinen Schutz; einen solchen bietet nur eine große Flotte, weshalb der Inselstaat genau so auf militärischen Schutz angewiesen ist wie der Binnen- oder festländische Küstenstaat. Mit Recht' hat daher Großbritannien sich nicht auf seine isolierte Lage verlassen, sondern 2*

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sich durch eine starke Flotte das Übergewicht auf dem Meere zu sichern gesucht. Ein isolierter Inselstaat kann sogar neben seiner Flotte zur Aufstellung einer großen Landmacht gezwungen werden. Dies mußte das auf seine isolierte Lage so stolze England erfahren. Wenn wir erst von der Waffe der U-Boote und Zeppeline und der 1914 artilleristisch der britischen gleichwertigen Kriegsflotte zur rechten Zeit den ausgiebigsten Gebrauch gemacht hätten! Schon zu unserer Abwehr in seiner Heimat brauchte England ein Heer. Ferner war es schon durch unsere milde Tauchbootblockade in Wirklichkeit, wenn auch nicht völlig isoliert, allerdings anders, als es sich das bis dahin vorgestellt hatte. Japan machte die umgekehrte Entwicklung mit: erst schuf es sich ein großes Heer, dann als es sich seiner maritimen Lage bewußt wurde, eine Kriegsflotte. Neben einer Flotte bedürfen besonders die Halbinsel-, Isthmus- und Rand­ staaten auch eines Landheeres, namentlich bei ungünstiger Grenze oder Umriß­ form. Aber auch die ausgedehnte Küste kann zum Verhängnis werden. Italien befindet sich, wie namentlich der Weltkrieg zeigte, mit seiner langen Küste, die im ungleichen Verhältnis zu seiner Größe und Macht steht, nahezu in Vasallen­ stellung gegenüber England und Griechenland war im Weltkrieg machtlos, weil es sich ohne Rücksicht auf seine hohe Maritimität zu viel mit kontinentalen Händeln beschäftigte. Spanien, Frankreich und Holland verloren im 17. und 18. Jahrhundert ihre Welt- oder Seeherrschaft oder Seegeltung, weil sie im Gegensatz zu England sich viel mehr dem Festland als der See zuwandten, sich also von jenem mehr angezogen fühlten. Die maritime Lage bedeutet aber keinesivegs erschöpfend die natürliche Seegeltung eines Staates. So weisen nur die an offenen Meeren gelegenen Randstaaten (Argentinien, Brasilien, Chile, Norwegen) eine günstige Lage auf im Gegensatz zu Randstaaten, die, wie Rußland, dem unwirtlichen Eise zugekehrt sind. Rußland nützt also seine hohe Maritimität nicht viel, weil der größere Teil seiner Küsten am monatelang zugefrorenen Eismeer liegt (Lage im Schatten) und die andern meist nur durch schmale Meeresstraßen, deren Schlüssel in den Händen fremder Mächte sind, mit dem offenen Ozean in Ver­ bindung treten können. Daher das Streben Rußlands ans Weltmeer zu gelangen (Wladiwostock, Port Arthur, Murmanküste, Hamburg!). Die großen Rand­ staaten besitzen übrigens auch eine selbständige, einseitige Kultur (Rußland, China, ähnlich Japan). Die Vorteile der maritimen Lage sind um so größer, je ungehinderter wichtige Meeresstraßen im Krieg und Frieden durchfahren werden können. Meer- und Landengen.

Durchgangsländer.

Eine große Bedeutung besitzen also die Meerengen (Calais, Gibraltar, Dardanellen), die wie manche Landengen Brennpunkte der Politik, Macht­ punkte, geworden sind. Beide sind natürlich um so wichtiger, je bedeutender die Länder sind, die sie trennen oder verbinden. Eine der hervorragendsten Erdstellen ist hier der Suezkanal. England bemächtigte sich schon 1706 und wieder 1707 Gibraltars (Abb. 9), um seither das Mittelmeer zu beherrschen. Dadurch wurde nämlich Spaniens nnd Frank-

2. Die Lage der Staaten und Deutschland.

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reichs Flotte im Mittelmeer lahmgelegt und heute sind alle am Mittelländischen Meer beteiligten Staaten wenigstens dort von England abhängig. Als die Königin Marie von England 1559 Calais verlor, soll sie an gebrochenem Herzen gestorben sein. Eng­ land ist es auch gewesen, das 1923 den Gedanken der Internationalisierung (f. Sueskanal 1914/18!) von Tanger und Umgebung durchsetzte gegen hie Wünsche Frankreichs, das eine rein französische Verwaltung im Auftrag des alleinigen „Souveräns", des Sultans, erstrebte. Schon 1809 erkannte England an, daß die Dardanellen nur von türkischen Kriegsschissen durchfahren werden dürften. 1841 wurden sie internationalisiert, aber 1856 und auf dem Berliner Kon­ greß wurde obige Bestimmung er­ neuert. England wußte, warum es 1915 nach Gallipoli und Ende 1918 als erste Macht nach den Dardanel­ len fuhr und im Frieden von Lau­ sanne die vollkommene Entmilitari­ sierung dieser Meeresstraße forderte und durchsetzte, unter schärfstem Pro­ test der Russen. England kontrolliert heute alle wichtigen Meerengen, wie die Bab-el-Mandeb-Straße durch Aden seit 1832, Singapore seit 1819, die Einfahrt in den Golf von Mexiko durch die Bahama seit 1646. Abb. 9. Meerenge von Gibraltar, SchlüsselpunU Rußland, der gefährlichste derbrit. Weltherrschaft. Tanger hauptsächl. unter Gegner Englands, war bis in die franz. Einfluß. Ceuta das Ziel franz. Wünsche. neueste Zeit überall durch Meer­ engen abgesperrt. Die Folge war das Verlangen der Russen, aus diesem „Drange der Engen" herauszukommen durch die Vorherrschaft auf dem Balkan, die Eroberung Konstantinopels und die Verbindung mit dem Ozean. So hat die Meerenge der Dardanellen Rußland hauptsächlich zur Teilnahme am Weltkrieg veranlaßt. Eine der hervorragendsten Landengen ist die von Sues. Der Sueskanal ist heute der Angelpunkt der britischen Weltherrschaft. Daher wurde 1882 Ägypten besetzt und zu dessen Sicherung der ägyptische Sudan, die Sinaihalb­ insel und Palästina britisch und die Westküste Arabiens damals britensreundlich. Die Landenge von Panama verknüpft Nord- mit Südamerika (Panamerikanis­ mus) durch den Panamakanal. Die interessierende Macht hat hier selbst gebaut im Gegensatz zumSueskanal. Aber sie trieb hier („StaatPanama") genau so em politisches Ränkespiel wie England in Ägypten. Übrigens wiederholte das die Union 1926/27 in Nicaragua. Dieses und Panama haben eben für Amerika die gleichgroße Bedeutung wie Gibraltar und Suez für Großbritannien. Nicaragua hat das Pech, daß sich hier alle Voraussetzungen für den Bau eines 2. pazifischen Kanals befinden, der ja das strategische Zentrum der Weltmacht der B. St. bildet. Daher beanspruchen die Ameri­ kaner auch das Aufsichtsrecht über den ganzen westindischen und mittelamerikanischen Gebietskomplex, einschließlich Mexikos, das man in Nicaragua so gut umfassen rann. Eine ähnliche Rolle wie die Landengen spielen die Durchgangsländer. Wichtig sind hier Persien, Afghanistan, Mesopotamien, Bessarabien, Deutsch-Osterreich, Schweiz und Deutschland. Die ersten drei bedeuten für England und Rußland eine

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

Etappe auf dem Wege nach Indien. Gleichen die Turchgangsländer, wie Ägypten, Syrien, Türkei, Nordarabien, den Zwischenstaaten, so besitzen sie wie diese eine Weltlage, da sie den Verkehr mit zwei Meeren vermitteln. Als Durchgangsländer dienen übrigens auch maritime Staaten, die dadurch die Vorteile ihrer Lage vermehren. Dazu gehören die Balkan-, Apenninen», Pyrenäenhalbinsel, Frankreich, Großbritannien. Es ist für ein Durchgangsland sehr schwer, seine Selbständigkeit oder Neutrali­ tät zu behaupten. Ein mächtiger Nachbar wird diese verletzen, wenn es sein Lebens­ wille verlangt. So beabsichtigte Frankreich im Weltkriege durch die Schweiz zu mar­ schieren und vieles deutet darauf hin, daß es in einem Kriege mit Italien em Durch­ zugsrecht durch jenes Land beanspruchen würde. Aber auch Italien ist nicht untätig Die neuen Autostraßen (durchs Tossatal), von Militärs gebaut, zielen unmittelbar auf die schweizerische Zentralfestung der Gotthardstellung.

Zentral- oder Mittellage. Die Durchgangsländer haben gleich vielen anderen Zentral- oder Mittel­ lage. Diese besitzt im Frieden große Vorteile, besonders wenn ein Land von hochentwickelten Staaten umgeben ist, wie Deutschland, Schweiz, Frank­ reich, Belgien (Abb. 10) oder zwischen sehr belebten, zu wich­ tigen Gegengestaden führenden Meeren liegt (Union, Japan, Großbritannien, Italien). c) Wiegen die Land­ grenzen bedeutendvor, so be­ sitzt dieser Staat eine festlän­ dische Küstenlage. Dastrifft auf unser Vaterland zu. Die Vorteile der Meereslage ver­ ringern sich hier mit dem ab­ nehmenden Maß der Küstenlänge. Diese ist verhältnismäßig gering, wenn nur eine mehr oder minder kurze Seite gegen das Mb. 10. Belgien- Mittel- und festländische Meer offen ist, oder wenn das Küstenlage. M. 1 : 6 Mill. „Fenster" auf ein Binnenmeer hinausgeht (Deutschland, Belgien, Rumänien, Südflawien). Eine solche Lage („Zwangsjacke") kann schon in Friedenszeiten die Entwicklung des Handels hemmen (einst Osterreich-Ungarn und jetzt Südflawien), im Kriege aber ver­ hängnisvoll werden, da die Küste, besonders wenn sie einem Nebenmeer ange­ hört, leicht verschließbar ist. Daß Deutschlands schwächster Punkt seine fest­ ländische Küstenlage ist, hat der Weltkrieg nur zu deutlich bewiesen. Ist es doch rings von mächtigen Staaten umgeben, die auch den einen Ausgang in die Welt versperren können. Für diese Staaten gilt es also in erster Linie die Nachteile der Küsten­ lage auszugleichen durch freundschaftliche Beziehungen mit den Nachbarn, Aufstellung einer Kriegsflotte und vor allem die eines mächtigen Heeres. So können also manche Staaten eine verschiedene politische Lage besitzen.

3. Der Bau der Staaten und Deutschland.

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3. Der Bau der Staaten und Deutschland. Allgemeines. Die Stärke oder Schwäche des Staates wird auch durch die Festigkeit seines Baues beeinflußt. Ein Staat hat nur Bestand, wenn auch innere Zusammen­ hänge vorhanden sind, wenn zwischen Land und Volk und deren Teilen un­ unterbrochen Wechselwirkungen stattfinden. Da der Staat aus Land und Volk besteht, unterscheiden wir hauptsächlich einen physischen, völkischen und wirtschaftlichen Aufbau.

a) Physischer Aufbau. Allgemeines. Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit. Das Gedeihen eines Staates hängt im hohen Maße vom physischen Aufbau ab. Bei der Aufstellung natürlicher Landschaften muß man sich hauptsächlich von der Oberflächengestaltung und dem Klima leiten lassen. Es gibt g e s ch l o s s e n e und offene Landschaften; diese sind durch verschieden breite Grenzsäume voneinander getrennt (Norddeutschland, besonders ostelbisches Tiefland), jene von Gebirgen umrahmt (Becken: Franken-Schwaben). Manche Landschaften sind nur nach einer Seite offen (die französischen Becken). Klima und Bodenart schaffen ebenfalls nicht selten in erster Linie verschiedene Landschaften (Ruß­ land). Da Mannigfaltigkeit der Grundzug unserer Erdoberfläche ist, so gibt es mehr ungleichartige als gleichartige Staaten. Eine gleichartige oder an­ nähernd gleichartige Bodenform besitzen als Ganzes betrachtet vorwiegend Klein- (Andorra), wenige Mittelstaaten (Norwegen, Dänemark, Niederlande, Böhmen, Ungarn) und nur ein Großstaat (Rußland). Aber auch sie sind meist gegliedert, wobei bald diese bald jene geographischen Faktoren eine RoNe spielen. Bei Rußland ergeben Flußanordnung, Klima, Pflanzenwelt und Boden­ art eine nordsüdlich angeordnete Gliederung in offene Landschaften, bei Nor­ wegen gliedert die Oberflächengestalt, bei den Niederlanden wieder die Boden­ art (Dünen-, Marsch- und Geestlandschaft). Der ungleichartige Bau eines Staates ist hauptsächlich ijt der Ober­ flächengestalt begründet; er setzt sich aus zwei oder mehreren verschiedenen Landschaften zusammen. Zu den zweigliedrigen Ländern gehören die süd­ amerikanischen Weststaaten (Gebirge und Tiefebene), wohl auch Italien. Bei den mehrgliedrigen Staaten können die Landschaften haufenweise auftreten (Frankreich) oder in Streifen nebeneinander liegen; hierbei kann der Bau dach(Bulgarien, auch Rumänien) oder mulden- (Union, Schweiz) oder stufenförmig (Deutschland und Belgien) bezeichnet werden. Manche Haufenstaaten besitzen Becken- oder Zellenform (Spanien, Böhmen und das ehemalige Ungarn). Die „Streifen" sind in der Regel selbst wieder zusammengesetzt, wie man an den dreien Deutschlands sehen kann. Auch das Klima und in Verbindung damit die Pflanzenwelt spielt neben der Bodengestalt im ungleichartigen Bau eine wichtige Rolle (Mexiko, Abessinien, Andenstaaten, Südafrika, Australien).

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

Ein gleichartiger Staatskörper ist anscheinend nicht fester und wider­ standsfähiger als ein ungleichartiger. Aber die (gleichartige) Ebene fördert den menschlichen Zusammenhang (Rußland) und die Bildung größerer Staaten, wie auch die Wirtschaft und den Verkehr. Allerdings treibt die riesenhafte Weite und Einförmigkeit seines Lebensraumes den Russen zur Resignation, stellt ihn auf das Jenseits ein und macht ihn zum willenlosen, leidenden Dulder, der über die Plagen des Diesseits sich in mystischer Ergebung hinwegsetzt. In der gleichartigen Flachlandschaft im Norden Deutschlands haben sich dagegen schon früher größere Staaten entwickelt und hier hat auch die politische Einigung des Reiches ihren Ausgang genommen. Bei einem gleichartigen Bau scheinen also hemmende Einflüsse weniger wirksam zu sein als bei einem ungleichartigen. Je geschlossener hier eine Land­ schaft ist, desto mehr sondert sie natürlich ab, je offener, desto günstiger ist sie für die Entwicklung zu einem großen Staat. Gefährlich wird dieser der zellen­ förmige Bau. Diesem Umstande darf man wohl die politische Zersplitterung des alten Griechenlands, Mazedoniens vor 1912, wie überhaupt des Balkans (auch Jugoflaviens) zuschreiben; daher rühren auch größtenteils die früheren Lostrennungsbestrebungen Böhmens und Ungarns von Österreich und die Ver­ schiedenheit der Bevölkerung Spaniens. Die Vielgestaltigkeit der deutschen Mittelgebirgszone hat ebenfalls zu deren politischen Auflockerung beigetragen im Gegensatz zum nördlichen Flachland. Und doch gehören die meisten früheren und jetzigen Weststaaten zu den ungleichartigen Ländern. Für den Aufbau ungleichartiger Länder sind eben außer der Oberflächen­ gestalt auch noch die anderen physischen Faktoren maßgebend, besonders die Flüsse. Durch diese entstehen verknüpfte Landschaften, welche den ungleich­ artigen Bau als günstig erscheinen lassen. So sind es hauptsächlich Weser, Elbe und Oder, die, gleichsinnig parallel angeordnet, den nördlichen mit dem mittleren Streifen Deutschlands zu einer Einheit verbunden haben; Böhmen gehört schon durch die Elbe geographisch zu Deutschland, zu dem es fast ein Jahrtausend gehört hatte. Daß der Rhein jetzt eine Ausnahme bildet, widerspricht den geographischen Bedingungen. Der Rhein war immer Deutschlands Strom. Er verknüpfte von jeher Südmit Norddeutschland. Hier wirkte der erste große deutsche Kaiser, der mächtige Karl, hier entstanden die Sagen von Siegfried und den Burgunden, an den Rhein ist von Anfang an die deutsche Dichtung geknüpft, hier lag jahrhundertelang das politische, wirtschaftliche (Rhein lange Hauptverkehrsstraße), überhaupt das kulturelle Schwer­ gewicht Deutschlands; in den rheinischen Städten haben sich die frühesten Anfänge des deutschen Bürgertums entwickelt, das der Welt die Kunst des Buchdrucks geschenkt hat. Hier steht der Kölner Dom, hier sind die Lungen des Landes, hier liegt der größte Binnenflußhafen Europas (Duisburg-Ruhrort), so daß Deutschland geradezu als der Rheinstaat bezeichnet werden muß. Deshalb wollte man vor 1914 eine deutsche Rhein­ mündung anlegen. Daß diese nicht uns gehört, ist ganz ungeographisch. Die einst spanischen und österreichischen Niederlande wurden über Gebühr reich, Antwerpen, besonders Amsterdam und Rotterdam groß durch den deutschen Rhein. Schon deshalb hätten wir 1648 weder die Quelle noch die Mündung des Rheines ver­ lieren sollen, hätten- vielmehr wenigstens diese später (1815 oder 1830) wieder zurück­ gewinnen müssen.

3. Der Bau der Staaten und Deurjchland.

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Da der Rhein zudem für die Entwicklung Deutschlands unentbehrlich ist, so muß er uns also ganz gehören, mit den beiderseitigen Uferländern, er kann nicht auf verschiedene Staaten verteilt sein. Das gleiche sagen viele Franzosen; sie wollen daher nicht am linken Ufer stehenbleiben, sondern schauen sogar nach der Schweiz und nach Holland (bis zur Emsmündung), das Napoleon einst als „Anschwemmungsland" des Rheines Frankreich einverleibte. So gab der Rhein bis heute Anlaß zu politischer Un­ ruhe, besonders seit Ludwig XIV. (zweimal Rheinbund, heute: Rheinische Republik?).

Auch Bayern hat nicht nur wegen der Pfalz das größte Interesse an einem deutschen Rhein, noch mehr dann, wenn einmock der Main-Donau-Kanal aus­ gebaut ist. Ein französischer Rheinstrom wäre so unnatürlich wie das „fran­ zösische" Elsaß. Daher wird Deutschland nie freiwillig auf dieses verzichten, da es damit auf einen Teil seines Lebensstromes verzichten würde. Das wäre aber Verrat am Vaterlande, eine Verkümmerung des Lebenswillens und würde unsere dauernde Verelendung bedeuten. Denn der Rhein ist Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze. Deutschland, namentlich Bayern, ist aber auch an der Donau interes­ siert. Wir haben wieder wie einst in den Zeiten der Karolinger den Donauweg einzuschlagen. Die Donau kann in gleicher Weise wie der Rhein als deutscher Schicksalsstrom bezeichnet werden. Es gibt keinen Fuß Boden längs der Donau, der nicht Spuren deutschen Geistes, deutscher Arbeit, deutschen Mrkens birgt. Die Donau verband mit ihren Nebenflüssen schirmförmig die Länder der ehemaligen österreich-ungarischen Monarchie zum Donaustaat und be­ einflußte in erster Linie, wie bei so vielen Flußstaaten dessen Politik. Leider waren sich in Österreich nur wenige über dessen Beruf zum Führer über die Völker der Donau Hot. Gerade diese Unklarheit und das Schwanken der Staats­ männer hat auch zum Untergang Österreichs beigetragen. Österreich lebte von der Donau, die zu Wasser und zu Land (Tal) eine wichtige Verkehrsader bildet. Daher schließen vielleicht einige Balkanstaaten, da sie wirtschaft­ lich aufeinander angewiesen sind, einen „Donaubund" oder einen „Donauzollverein". Auch Engländer und besonders Franzosen suchen seit 1918 ssinen politischen oder rich tiger wirtschaftlichen Donaubund mit oder ohne Süddeutschland zu gründen, in Wahrheit aber nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen, uns nachteiligen Gründen, besonders um für immer eine Angliederung Österreichs an Deutschland zu verhindern und gleichzeitig unsere eine Flanke zu bedrohen. Höchstens wollte oder will man noch ein mit Österreich vereintes Großbayern, das die Donau natürlich ver­ binde, um Deutschland zu zerreißen. Beiden Plänen steht aber Italien feindlich gegen­ über, da jenes Schwierigkeiten in der Südtirolet Frage machen könnte, und der „Donau­ bund" die Wiedererstehung des Reiches bedeuten würde, dessen Beseitigung der Haupt­ erfolg des Krieges für Italien gewesen war. In vielen Ländern verbinden die Flüsse Landschaften. So üben auch in Rußland die strahlig angeordneten Ströme eine große bindende Kraft aus. Daher widerspricht die Wegnahme des ägyptischen Sudans durch England den geographischen Erfordernissen; denn dieser gehört durch den Nil zu Ägypten. Die Flüsse spielen also nicht nur in der Grenzführung und Lage, sondern auch im Aufbau der Staaten eine große Rolle. Die Aufteilung eines Staates in Landschaften geht gewöhnlich nicht restlos vor sich. Es bleiben Gebiete übrig, die physisch, organisch nicht zu ihm, sondern zu benachbarten Ländern gehören, dann oft als lose Anhängsel,

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

als zerrissene Landschaften, ihn eher schwächen als stärken. Ihre Angliederung ist meist das Werk ländergieriger Politiker. So besaß Osterreich-Ungarn in der Po-Ebene und in Galizien sowie der Bukowina Länder, die mit seiner Lebensader in keiner organischen Verbindung standen und daher dem Staate zur Last fielen. Eine ähnliche geographische Unnatürlichkeit bildete und bildet jetzt wieder das französische Elsaß und eine ähnliche Stelle besitzt Frankreich in Französisch-Flandern. Hier zeigt sich deutlich, wie unnatürlich die von den Franzosen georderten „natürlichen" Grenzen sind. Wie früher Österreich unorganisch und ungeographisch über die Karpathen hin­ übergriff, so verfielen nun die Rumänen mit ihrem Einbruch in Ungarn in den gleichen Fehler. Auch die Dobrudscha hat geographisch mit der rumänischen Ebene nichts zu tun. Entgegen allen Gesetzen des physischen Baues entstand die Tschecho-Slowakei, die daher eine geographische Unnatürlichkeit darstellt. Dieser Staat strebt nämlich nach allen Seiten auseinander, durch die Elbe und Oder nach Deutschland, durch March und Karpathenflüsse zur Donau und damit nach Österreich und Ungarn. Nichts verbindet die vier Landschaften, nicht einmal eine Eisenbahn oder Straße. Auch das Tessin und Engadin—Bergelltal gehört organisch nicht zur Schweiz (Abb. 8), was italienische Chauvinisten veranlaßt, oort eifrig Propaganda für Italien zu treiben.

b) Völkischer Bau und das deutsche Volk. Der Lebenswille als Grundziel. Der Machtwille. Die nationale Idee. Der physische Aufbau beeinflußt aber nicht allein und nicht in erster Linie die Staatsbildung, vielmehr ist der völkische Aufbau für den inneren Zusammenhalt von größter Wichtigkeit; liegt doch die Kraft des Staates allein im Volke. Das Leben des Staates befindet sich nach Kjellen in der Hand der Indi­ viduen. „Es steht in ihrer Macht es zu stärken oder zu schwächen, es zu ver­ längern oder zu verkürzen." Das Hauptmerkmal oder das Rückgrat eines Volkes ist sein Lebens­ wille, der einheitlich und energisch das ganze Volk umfaßt und so zum Ge­ samtwillen wird. Er ist gleichbedeutend mit dem Grundziel, das ein Volk haben muß, wenn es diesen Namen verdienen will. Dieses Grundziel, dieser Lebenswille ist auf die Erhaltung und Verbesserung der Lebensnotwendigkeiten und -bedingungen gerichtet (Selbsterhaltungstrieb), also auf die beständige Sicherung des Bestandes des Staates und die Festhaltung des Lebensraumes (Lebensbehauptung). Ein solches Bestreben ist gleich­ bedeutend mit der Verteidigung der Ehre eines Volkes. Ja, der Lebens­ wille oder die Lebensnotwendigkeiten und -bedingungen verlangen nicht bloß einen Raum, in dem das Volk bestehen kann, sondern fordern nicht selten ge­ bieterisch eine Verbesserung oder Erweiterung der geographischen Grundlagen, namentlich eine Vergrößerung des Lebensraumes. Daher definiert auch Kjellen das Wesen des Staates als eine Kraft, die Fortschritt schafft, von allen Kräften die größte.

Wider den Lebenswillen, den Selbsterhaltungstrieb, ist es daher gegen ein auf­ gezwungenes Schicksal, wie z. B. die Knechtschaft Deutschlands, nicht energisch anzu­ kämpfen; wider den Lebenswillen, augenblicklich nur an sich zn denken und die

3. Der Bau der Staaten und Deutschland.

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Millionen von Volksgenossen zu vergessen, die in Fremdherrschaft leben, wider die Selbsterhaltung nur auf eine Handvoll deutscher Erde zu verzichten, sich den Lebensraum verkleinern zu lassen; denn das bedeutet Verlust des Lebenswillens und sichere Ver­ elendung. Jetzt geht es um unsern Lebenswillen, den man von außen und von innen zu zer­ brechen sucht. Durch Beschneiden des Lebensraumes und durch andauernden politischen Dmck (Ruhrbesetzung, Dawesplan, Locarno, Bedrückung der Deutschen in Polen, Böhmen) sollen die inneren Kräfte der Abwehr allmählich abgestumpft und schließlich zum Absterben gebracht werden. Ein Volk aber, das Anspruch auf diesen Namen erhebt, kann sich seinen Lebenswillen nicht rauben, nicht zermürben lassen, wie früher China und Indien; es darf nicht müde werden, in der Meinung, daß ja doch jeder Mderstand aussichtslos erscheint, oder gar in der Selbsttäuschung, daß seine Lage nicht gar so schlimm sei. Die Zukunft eines Volkes, dessen Lebenswillen allmählich erlischt, ist endgMig besiegelt, was schon Macchiavelli seststellte. Denn alle Lebewesen, einzelne Menschen wie Völker und Staaten — das sagt uns die Biologie — sind nur so stark, wie ihr Lebenswille oder die Stelle ihrer geringsten Widerstandsfähigkeit. Die Entwicklung geht über den mangelhaft bewährten Willen zum Leben im entscheidenden Augenblick des Kampfes ums Dasein zur Tagesordnung über und zwar durch den Verlust der Selbständigkeit, wenn nicht gar des Lebens des Unbewährten! Manche Deutsche verurteilen deshalb den Verzicht auf deutsches Land und deutsche Brüder, den wir in Locarno ausgesprochen haben, weil er ein Zeichen von Schwäche, von negativem Lebenswillen sei, mindestens aber diesen schwäche. Daher habe Frankreich nach 1870 keinen Sicherheitspakt abgeschlossen. Der Lebenswille kann sich auch als Abwehrwille zur Behauptung des Lebensraumes äußern, wie in Deutschland im August 1914. Ist dieser aber nicht gleichbedeutend mit dem Siegeswillen (in Frankreich 1914/18), so erlahmt er oder läßt sich durch zerstörende Tendenzen zermürben (bei uns 1917 und 1918). Die wenigsten Deutschen besaßen durch die Schuld der politischen Führung gegen Ende des Weltkrieges noch einen Siegeswillen, nach der Vernichtung die meisten aber das größte Vertrauen zum Vernichter. Sehr viel hängt hier von der Staatsführung ab. Sie kann ein mutlos gewordenes Volk wieder mit heißem Lebens- und Siegeswillen beleben (Frankreich 1917). Das Instrument des Lebenswillens bilden die Legionen. Denn im Daseinskämpfe, im rauhen Spiel der Politik, spricht das letzte Wort immer das Heer. Daher ohne Heer kein Staat, weil dann keine wahre Betätigung des Lebenswillens, ohne Heer keine Aussicht auf gesunde Entwicklung und Geltung, ohne Heer überhaupt keine Freiheit. Wenn daher ein Volk einen wirk­ lichen Staat mit Lebenswillen bilden will, muß es militärische Macht besitzen. Das ist die Grundbedingung, wenn der Lebenswille zum einheitlichen, zum Ge­ samtwillen erstarken und Früchte tragen soll. Daher kann nur ein freies Volk von einem Lebenswillen sprechen. Folglich denken aber auch unsere ehemaligen Gegner nicht im entferntesten daran, abzurüsten, organisieren vielmehr seit Jahren eine militärische Ausbildung der Jugend (Amerika, Frankreich, Italien, Böhmen, Polen), wie sie durch nichts mehr überboten werden kann. Wenn man also einen Staat vernichten will, nimmt man ihm das Heer,

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Allgemeiner Teil. Geographische oder natürliche Grundlagen des Staates usw.

die Waffen und die militärische Ausbildung (Deutschland). Kriege lassen sich im Kampf ums Dasein nicht aus der Welt schaffen, so bedauerlich das sein mag. Sie sind eigentlich, was auch die Geologie und Paläontologie beweisen, etwas Naturgegebenes, wenn nicht gar Naturnotwendiges. Auch in der Tierwelt regiert das Gesetz des Willens zur Macht und die Geschichte ist, wenigstens großen­ teils, das Ergebnis des Willens zur Macht. Von einem richtigen Lebenswillen kann also nur gesprochen werden, wenn der Lebenswille mit dem Kraft- oder Macht willen, d. h. dem Willen zur Macht und dem Glauben an die eigene Kraft, jene zu erringen und zu behaupten, eine unlösliche Einheit, die Gesamtenergie, bildet, für die die Worte Schopen­ hauers gelten: „Der Wille ist die Welt". Man muß wissen, daß alle Politik Machtpolitik ist, daß alle Auseinandersetzungen zwischen Staaten und Völkern nur durch Macht entschieden werden und deshalb Schwäche Vernichtung be­ deutet. Das Machtinstrument oder die Verkörperung des Machtwillens ist das Heer. Wirtschaftliche und geistige Macht kommen erst in zweiter Linie. Das er-, faßte man voll und ganz in den ehemaligen Feindstaaten, besonders in Frank­ reich und England während des Weltkrieges, wo Kriegs- und Machtwille sich durch nichts beugen ließ. In diesem Sinne sagte und) der amerikanische Präsident Coolidge, daß die Nationen ins Verderben stürzen würden, welche die militärischen Dinge vernachlässigten oder geringschätzten. Man hat aber streng zu unterscheiden zwischen Imperialismus, d. h. Herrschsucht, und Kraft- oder Machtwillen. Für Mussolini z. B. ist anscheinend beides das gleiche, wenn er sagt, jedes Volk, das leben wolle, müsse ein gewisses Machtgefühl entwickeln und imperälistische Ziele verfolgen. Es ist dabei müßig, weitschweifig zu untersuchen, ob der Machtwille ein politisches oder metaphysisd)es Prinzip sei.

Das Grundziel eines unterdrückten Volkes kann sich demnach nur im Freiheitswillen äußern, der natürlich ein einheitlicher, ein Gesamtwille sein und sich auf dem geschlossenen Machtwillen der Nation aufbauen muß, wenn ein Erfolg erzielt werden soll. Es sei hier erinnert an die Türkei und die Araber (Wahabiten) nach dem Weltkrieg, an die Marokkaner des Rif, die Drusen, Chinesen, Ägypter, Polen, Balkanvölker, Ungarn, Italiener, Armenier, Deutschen 1813, Irländer und Cherusker. Ein Volk, das einen ausgesprochenen einheit­ lichen Lebens- und Kraftwillen besitzt, kann die ganze Welt erobern (England und Union). Es ist interessant, daß der Lebens- und Freiheitswille auch durch Fremde geweckt, mindestens aber gefördert werden kann. So ist anscheinend der chinesische Freiheitsdrang vorwiegend das Ergebnis der 20jährigen Arbeit amerikanischer Missionare, Professoren usw. Die Lebenskraft eines Volkes wird gestärkt, wenn dieses neben dem Grund­ ziel, dem Lebenswillen, noch 1. ein anderes hohes Ziel besitzt, eine nationale oder Bolksidee, einen Staatsgedanken, d. h. eine Ansicht von seinem Beruf oder Lebenszweck. Geht diese Idee in Fleisch und Blut über, so bildet sie eine große, staatserhaltende, triebhafte Macht. Idee und militärische Kraft (oder Macht) bilden sodann eine feste Einheit und sind die Grundelemente der Politik eines Volkes, die sie zu den größten Anstrengungen befähigen. Das sehen wir an den Briten, die sick) schon seit 200 Jahren für das geborene.

3. Der Bau der Staaten und Deutschland.

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von der göttlichen Vorsehung bestimmte Weltherrschastsvolk halten. Bei der Ver­ wirklichung dieser Idee sind alle Briten einig, da gibt es nur eine Partei. Bei den Franzosen findet man gleich mehrere Ideen: la gloire, la grande Nation, „Hauptträger der Zivilisation, Hauptanrecht auf Weltherrschaft, mindestens auf die Herrschaft über Europa, der Revanchegedanke, der Glaube das mit Poesie begabteste, geistvollste, tapferste und ritterlichste Volk, kurz die geistige und seelische Spitze oer Menschheit zu sein, und nicht zuletzt Anrecht auf den Rhein!" Obwohl die Zwietracht zwischen den Parteien hier so groß ist wie bei uns, finden sie sich doch immer wieder zu der Verwirklichung oder Bekräftigung obiger Ideen zusammen. Den Russen war zur Idee geworden die Gewinnung Konstantinopels, den Nord­ amerikanern die Erreichung der finanziellen Weltherrschaft und politischen und wirt­ schaftlichen Beherrschung des Pazifischen Ozeans, den Polen der Gedanke an das Selbstbestimmungsrecht der Völker, der es ihnen u. a. ermöglichte, wieder zu einem Staate zu gelangen, und viele Italiener glauben, sie müßten als Neurömer die Vor­ machtstellung im Mittelmeer bekommen (Abb. 7). Auch bei uns redet man von einem einheitlichen Freiheitswillen und einem höhe­ ren Ziel, einer nationalen Idee. Ein kulturelles Ziel, wie es vielfach, namentlich auch von den ehemaligen Feinden, empfohlen wird, ist allerdings ungenügend. Früher, vor 1914, war unser Ziel Friede um jeden Preis und Freiheit der Meere. Wurzelt eine solche „Friedensliebe" in Charakterschwäche, so kann sie zum Verderben führen (in Karthago vor 149 v. Chr., in Deutschland vor 1914). Während des Weltkrieges besaß weder die deutsche Regierung noch das Parlament und das Volk ein klares Kriegsziel und einen geschlossenen Machtwillen, ohne den kein Volk siegen kann. Wir zogen in den Krieg unter der lahmen Parole des „Verteidigungs­ krieges", der wir später, 1917, die unglückliche der „Verständigung" folgen ließen, und verloren im Kriege sogar teilweise den Lebenswillen, der vorher schon nicht all­ gemein lebendig war. Die (russische) Sowjetregierung verzichtete dagegen aus den reinen Kommunismus zugunsten der Macht, des Machtwillens oder der Stärkung ihrer weltpolitischen Machtstellung. Die Lebenskraft eines Volkes kann auch gefördert werden 2. durch das dynastische Gefühl (einst in Preußen, Bayern), 3. durch die Gleichheit der Religion, 4. die Vaterlandsliebe oder den Patriotismus (Bayern 1705, Polen, Franzosen), 5. die staatliche Einigung, 6. den Nationalismus oder das tiefe Nationalbewußtsein, d. h. die Selbstachtung (und nicht Angriffs­ lust) und hohe Selbsteinschätzung, also den Stolz auf sein Volk und dessen Leistungen (Franzosen,Amerikaner, Polen), 7. durch gemeinsame Interessen und endlich 8. durch den Gedanken an eine große Vergangenheit. Zu 3.: Nicht umsonst verlangten die Römer, Türken, Franzosen, Spanier (zu ihrem Schaden im 16. Jahrhundert), Engländer die gleiche Religion; ebenso handelten die Araber, die in Afrika überall, wohin sie kamen, den Mohammedanismus einführten. Nicht umsonst galt früher der Grundsatz: cujus regio, eius religio. Die katholische Religion hat die Iren in ihrem Kampfe um die Freiheit und gegen die Assimilierung ungemein gestärkt. Die Religions­ verschiedenheit hat dagegen Deutschland, Indien bis heute schwer geschadet. Das kleine Volk der Drusen, das nur wenig über 100000 Seelen zählt, wagte es . 1925 in den Freiheitskampf gegen das mächtige Frankreich einzutreten, weil ihm seine Religion ein unerschütterliches Selbstvertrauen und ein festes Vertrauen auf den end­ gültigen Sieg verliehen hat. Die Drusen sind (nach Horten) der unerschütterlichen Überzeugung, die einzig wahre Religion zu besitzen, aus der sich die endgültige Welt-

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Allgemeiner Teil. @eo, 1924 für 1,2 Milliarden solche Erzeugnisse einführen mußten, jetzt ausschließlich aus fremden Ländern. Ostafrika lieferte schon 1914 Sisalhanf weit über unseren Bedarf, die Insel Nauru, die mit ihrem heutigen Wert von 120—125 Milliarden M. allein unsere ganze Verschuldung begleichen könnte, würde für viele Menschenalter den gesamten Weltbedarf der Landwirtschaft an Phosphaten decken, in Ostasrika und auf DeutschNeuguinea wurde Gold im Werte von vielen Milliarden gefunden und allein die Kokospalmen könnten uns lückenws mit Pflanzenfett versorgen. 1935 hätten unsere Kolonien bereits ungeheure Mengen von Häuten und Fellen, Futtermitteln (Mais, Ölkuchen), aber auch von Fleisch und Wolle geliefert. „Alle die vielen Milliarden, die wir heute als Hörige des Auslandes abführen müssen um diese kolonialen Erzeugnisse zu einem uns diktierten Preise einzukaufen, könnten dem deutschen Volksvermögen erhalten bleiben" (Obst). So versteht man, daß Engländer den Wert der deutschen Schutzgebiete auf 100 Milliarden M. und darüber beziffern.

So trefflich wurde in zäher Friedensarbeit vorgesorgt. Wohl mußten wir Aufstände, zum Teil durch fremde Ränke genährt, niederwerfen; trotzdem gelang es uns, das Vertrauen der meisten Eingeborenen zu gewinnen. S i m m>e r, Grundzüge der Geopolitik.

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Geopolitische Frage». I. Deutschland als Weltmacht.

Denn diese wurden nicht ausgcbeutct und niedergehalten, sondern man ließ sich in jeder Weise die Hebung ihrer kulturellen, sozialeir und gesundheitlichen Lage angelegen sein, in kluger Berücksichtigung ihrer sittlichen und geistigen Anschauungen.

Daß wir die Eingeborenen gerecht behandelten, zeigt die treue Gefolgschaft, welche die Heldenschar Lettow-Vorbecks während des ganzen Weltkrieges in Ostafrika in den Schwarzen fand, beweisen die Proteste der Samoaner und Kameruner gegen den Besitzwechsel sowie die begeisterte Begrüßung deutscher Schiffe und deutscher Missionare bei ihrem Wiedererscheinen. Daher konnte auch Cecil Rhodes einst sagen, daß gleich nach den Engländern die Deutschen die besten Kolonisten seien — aber nur unter britischer Flagge! Andere Engländer nannten die Deutschen sogar die besten Kolonisten, die es gäbe, und bezeichneten die deutsche Kolonialtätigkeit als mustergültig (Dannert).

4. Deutschland als Weltmacht. a) Außenhandel. Industrie.

Weltverkehr (Nordsee).

Deutschland war eine Weltmacht geworden, unsere Schule und unsere Arbeit hatten uns den Weltmarkt geöffnet. Der deutsche Gesamtaußenhandel war mit mehr als 20 Milliarden M. der zweitgrößte der Welt, der hinter dem britischen nur um 6 Milliarden zurückblieb. Dabei war er zu zwei Drittel des Wertes Seehandel und führte zu einem Drittel (7 Milliarden M.) über den Ozean. Uber diesen bezogen wir unsere meisten Rohstoffe für unsere In­ dustrie, aber auch Nahrungs- und Genußmittel; über das Weltmeer gingen im Gegentausch für mehr als 2 Milliarden M. deutsche Jndustrieerzeugnisse und ebenso viel Mark entfielen für uns auf Schiffsfrachteneinnahmen. Deutschland war nun fast Industriestaat. Gab doch die Industrie beinahe der Hälfte der Bewohner, die Exportindustrie und Schiffahrt allein rund 14 Millionen Menschen Arbeit und Brot. Dafür war aber nur ein Teil der Industrie bodenständig (Eisen), der größere dagegen reine Veredelungs­ industrie, also vom Welthandel, der Weltwirtschaft und dem Welt- oder ozea­ nischen Verkehr, namentlich vom Bezüge tropischer Rohstoffe abhängig.

So war Deutschland trotz seiner höchst entwickelten Landwirtschaft vom autarkischen Wirtschaftsideal noch weit entfernt. Jetzt rächte sich, daß. wir so spät in die Weltpolitik (Erwerbung von Kolonien) eingetreten waren. Anderseits konnte ein jeder bei gutem Willen erkennen, daß Kolonien eine Lebensfrage für uns bedeuteten, aber auch daß wir von der Weltwirtschaft abhingen und daher Weltpolitik treiben mußten. Dazu soll allerdings nicht verschwiegen werden, daß die deutsche Landwirtschaft den Bedarf an Lebensmitteln hätte decken können, wenn sie noch intensiver gearbeitet hätte. Die Nordsee, dieses ungünstige Nebenmeer, aber diese tüchtige Schule für den deutschen Seemann, hatten wir ganz in den Dienst unseres Welthandels und unseres Weltverkehrs gezwungen. Ihre durch deutschen Fleiß zu groß­ artigen Häfen ausgebauten Seestädte unterhielten, zum Teil vom Reiche unter­ stützt, regelmäßige Verbindungen nach allen Ländern der Erde. Die deutsche Handelsflotte war von ein paar 100000 Register-Tonnen vor 1870 auf mehr

4. Deutschland als Weltmacht.

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als 5 Millionen Brutto-Register-Tonnen 1914 angewachsen. Eine unter­ geordnete Nolle spielte natürlich für den Weltverkehr die Ostsee, wenn auch der Nordostseekanal die Nachteile etwas auszugleichen suchte. Durch den Bau des Dortmund-Ems-Kanals suchte man einen Ausgang nach dem deutschen Emden zu schassen und auch die Anlage einer deutschen Rheinmündung wäre Wirklichkeit geworden, wenn nicht der Weltkrieg unglücklich geendet hätte,

b) Binnenverkehr.

Auch der handelspolitisch so wichtige Binnenverkehr, der durch die Ent­ wicklung Deutschlands zum Durchgangsland der europäischen Handels-, In­ dustrie- und Ackerbaustaaten schon aus kleinen Anfängen einen solchen Aufschwung genommen hatte, wurde durch den Welthandel gefördert. Deutschland war hauptsächlich dank seines unvergleichlichen Stromsystems zum Stapel- und Umschlagplatz Europas geworden. Die Anlage von Eisenbahnen, die auch eine große strategische Bedeutung erlangten, wurde begünstigt durch die Bodengestalt des Landes und die Lage im Herzen Europas, durch die teils offenen teils paßreichen Grenzen, die Binnen­ schiffahrt durch die großen Flüsse und den ostwestlichen Verlauf der Quertäler. Dadurch waren im norddeutschen Flachland die natürlichen Bedingungen zur Verknüpfung der Flüsse durch Kanäle gegeben. In der Gesamtlänge der Gsenbahnen (auf 1 qkm über 120 km Eisenbahnen) wurde Deutschland nur von der Union, im Post-, Telegraphen- und Telephonwesen von keinem europäischen und im Luftverkehr von gar keinem Staate übertroffen. Mit Deutschlands Unterstützung wurden Gotthardund Simplontunnel gebaut, so daß der Rheinweg eine Fortsetzung bis Genua fand und dieses zum Ausfuhrhafen für deutsche, besonders rheinische Erzeugnisse machte. Die Brennerbahn ergänzte die Linie Berlin—Rom, die Tauernbahn die von Berlin nach Triest. Die Linien Paris— und London—Peking sowie ParisKonstantinopel, die sich nach Arabien und Mesopotamien fortsetzen sollten, durchzogen Deutschland. Die Funkstation Nauen stellte Verbindungen mit der ganzen Welt her. c) Zusammenfassung. Alles staunte über unsere Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet, über das schnelle und kräftige Wachstum unserer Industrie, unseres Handels und Verkehrs, ohne daß wir darüber wie England die Landwirtschaft vernachlässigt hätten. Das.war ein Glück für uns; denn wären wir zum reinen Industriestaat geworden —1870 beschäftigte Deutschland als ausgesprochener Agrarstaat mehr als die Hälfte der Bewohner in der Landwirtschaft gegenüber einem Drittel vor 1914 — so wären wir wohl ausgehungert worden. Im Bewußtsein unserer Stärke freuten wir uns des schnellen Aufblühens unserer Volkswirtschaft, unserer Industrie, die in vieler Hinsicht eine führende Stellung in der Welt einnahm, freuten uns der großen Erfolge im Welt­ handel und der Seeschiffahrt, worin wir England bereits zum Teil den Rang abgelaufen hatten, freuten wir uns aber auch des wachsenden Wohl­ standes, der seit 1871 in solchem Maße gestiegen war, daß Deutschland in bezug auf allgemeine wirtschaftliche Kraft und auf Kapitalreichtum Frankreich weit überholt hatte und sich bereits den englischen Verhältnissen näherte.

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Die deutsche Wirtschaft umspannte ja mit ihren Interessen und Leistungen die Welt, hatte sich in manchen Zweigen einen ersten, in allen einen zweiten oder dritten Platz erobert. Über See lag unser Kolonialbesitz, der nun eine Lebensnotwendigkeit für uns bedeutete, auf und über dem Ozean hatten wir außerdem große Interessen und politische Beziehungen, deren Gesamtpflege eine Lebensfrage für uns war. England, die beiden Amerika, ganz Afrika südlich von der Sahara, Süd- und Ostasien, Australien sind ja nur auf dem Seewege, allenfalls noch auf dem Luftwege zu erreichen. Die ganze überseeische Schiffahrt, unsere mächtige Handelsflotte, der Schiffsbau, unser überseeischer Handel, die für ihn arbeitende Exportindustrie, die überseeischen Banken, Unternehmungen, alles war nur von der Betätigung über See abhängig. Gewaltige Vorteile zog Deutschland aus dieser Art Weltwirtschaft, aus der Berührung mit deni Meer, besonders das beispiellose Aufblühen der Industrie und Seeschiffahrt und damit Mittel für soziale Fürsorge und sichere Existenz der deutschen Bevölkerung.

5. Deutschlands Weltpolitik. a) Aufgaben der deutschen Weltpolitik. So trieben wir Weltwirtschaft, weil wir dazu gezwungen waren. Die riesigen wirtschaftlichen Leistungen des deutschen Volkes zwangen wiederum in erster Linie das junge Reich zur Weltpolitik. Diese hatte also vor allem die Aufgabe, für die Interessen einzutreten, die deutsche Unternehmungslust, deutscher Gewerbefleiß und kaufmännischer Wagemut in aller Herren Länder geschaffen hatten, also unsere Weltwirtschaft, unseren Handel und unsere Kolonien zu stützen und zu schützen. Dazu waren die zwei Wege, ganz besonders der ozeanische, freizuhalten, vor allem auch im Kriege zu sichern. Diesem Zwecke diente die deutsche Handels­ flotte, die durch eine mächtige Kriegsflotte, fast einhalb so groß wie die britische, geschützt war. Die Nachteile unserer geographischen Lage sollten durch die Kriegsflotte und das Heer ausgeglichen werden. Bon großer Bedeutung war auch die Erwerbung Helgolands. Erst dadurch wurde der Grundstein zu unserer wirtschaftlichen Betätigung über See gelegt, Helgoland und die Kriegsflotte konnten Deutschland decken und England von der deutschen Küste fernhalten, wenn sie auch die Sperre des ozeanischen Weges nicht zu hindern vermochten. Die deutsche Regierung ließ sich deshalb seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch durch britische Einwendungen nicht in der Vergrößerung der Kriegsflotte beirren, suchte eine andere Regelung des Seekriegsrechtes, aber ohne Erfolg, bei England zu erreichen und setzte sich besonders für die Politik der offenen Tür ein — einer Lebensfrage für Deutschland —, da die meisten Großstaaten sich durch hohe Schutzzölle abzu­ sperren suchten. Manche einsichtsvolle Männer verlangten auch die Ver­ stärkung unserer auswärtigen Flotte, um die Kolonien nicht schutzlos dem Feinde preiszugeben, mehr eigene und im Kriege sichere Kabel und eigene Stützpunkte um auch in Kriegszeiten den Seeweg offen halten zu können und sprachen von der Verwirklichung der Freiheit der Meere. Im 19. Jahrhundert war von 1815—1870 und noch darüber hinaus die große, die internationale Politik, europäisch, wenn auch zu ihrem Bereich natürlich noch das

5. Deutschlands Weltpolitik.

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Mittelmeer und der nahe Orient gehörten; nur England und Rußland trieben daneben auch Weltpolitik. Selbst die Kolonialpolitik der Großmächte in den 80et Jahren änderte daran noch nicht viel; allerdings ging die Aufteilung Afrikas nicht ohne politische Gegensätze und Reibungen ab. Das wurde anders, als mit dem japanisch-chinesischen Kriege zu den europäischen Brennpunkten die ostasiatischen Probleme in Fluß kamen. Es galt nun das Gleichgewicht unter den Großmächten, zu denen sich jetzt Union und Japan gesellten, aufrecht zu erhalten. Das europäische Staatensystem ist so zu einem Weltstaatensystem geworden. Deutschland konnte aber nicht müßig zusehen, wie die Welt wieder einmal weg­ gegeben werde, da es zu großer wirtschaftlicher Bedeutung, emporgestiegen war. So erschien auch Deutschland auf dem Plan, wenn ihm auch seiner politischen Entwicklung nach der Übergang zur Weltpolitik ferner lag als den anderen Weltstaaten.

b) Schwierige Lage der deutschen Weltpolitik. Unsere Weltpolitik befand sich aber von Anfang an in einer viel schwie­ rigeren L a g e als die der anderen Weltmächte. Das hing schon damit zusammen, daß Deutschland als letzte der Großmächte in die Weltpolitik eintrat, als die besten Stücke der Welt bereits verteilt waren. Auch Bismarck sah noch die Hauptaufgabe in der Konsolidierung der errungenen Einheit, stellte daher die Kontinental- über die Weltpolitik; denn er erkannte mit klarem Auge die Eigen­ art der politischen Lage Deutschlands, das ohne unmittelbare koloniale Ausdehnungsmöglichkeit im Gegensatz zu den umliegenden Großmächten schwer gegen feindliche Bündnisse zu sichern war. Deshalb begünstigte er, um Frankeich vom Rhein abzulenken und versöhnlich zu stimmen, die franzözische Ausbreitung in Afrika und Asien und suchte bei der endlichen Erwer­ bung der afrikanisch-deutschen Besitzungen englische Interessen und Empfind­ lichkeiten zu s ch o n e n. Gleichwohl bedeutete das eine Schwäche in der deutschen Weltpolitik, als wir damit unsere eigene koloniale Ausdehnung allzulange ver­ säumten und gleichzeitig unserem Gegner Frankeich wieder zu einer achtung­ gebietenden Stellung als Kolonial- und Weltmacht verhalfen, ihn so in hohem Maße stärken und seinen Ehrgeiz und Ausdehnungsdrang steigerten, außerdem unsere englischen Vettern doch nicht für uns gewannen. Einen wunden Punkt bildete ferner der ozeanische Weg. Konnten sich die Nach­ teile unserer Weltwirtschaft hier schon im Frieden unangenehm bemerkbar machen, in­ dem wir von den Zuständen der mit uns in Beziehung stehenden Länder abhängig waren, so erhöhten sie sich im Kriege. Mancher, der erkannte, wie sehr unser Gedeihen, unsere Industrie größtenteils vom Belieben Englands, von der Zufuhr britischer Roh­ stoffe abhing, sah mit Sorge in die Zukunft, als unser Verhältnis zu England seit dem Eintritt in die Kolonialpolitik immer unerfreulicher wurde. Den Engländern und Franzosen war bis 1871 zum tiefeingewurzelten GlaübensgrundsaH geworden, die Vorsehung habe das deutsche Volk dazu berufen „in aller Friedlichkeit zu denken und zu dichten", auf keinen Fall aber mit England und Frankeich je um die Macht in Europa oder gar in fremden Erdteilen, also um die Macht auf dem Welt- und Geldmarke, zu rivalisieren noch seine Zukunft auf dem Wasser zu suchen. Dazu kam noch, daß bei uns selbst die meisten kein Verständnis besaßen für die Lebensnotwendigkeit deutscher Weltpolitik und Weltwirtschaft,

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Geopolitische Fragen. I. Teutschland als Weltmacht.

für die Einheit von Lebenswillen, Idee und Machtwillen, ja, daß nicht einmal der Lebenswille ein einheitlicher, geschlossener Gesamtwille war. In unserer Lage im Herzen Europas konnten wir die gefährliche Bahn der Weltpolitik nur betreten, wenn wir die wirtschaftliche Selbständigkeit, die Autarkie des eigenen Landes, einigermaßen gesichert sahen. Daß das wenigstens zum Teil geschah gegen den Willen der Doktrinäre des Frei­ handels und derer, die eine Erstarkung des Reiches prinzipiell bekämpften und eine Berechtigung der Weltpolitik nur den anderen zucrkannten, ist mit ein Hauptverdienst Bismarcks, dessen Zollt ari f die großartige Umwälzung im Wirtschaftsleben herbeiführte. Zu der Zollgesetzgebung kam dann seit 1881 die für alle Länder vorbildlich gewordene soziale Gesetzgebung, die ein ungeheures Wachstum des Wohl­ standes der Gesamtbevölkerung, nicht einzelner wie in England, zur Folge hatte, c) Mittel und Wege der deutschen Wcltpolitik. Ihre Schwächen.

Mit dem Kaisertelegramm an Krüger (1896) ist Deutschland wohl zum ersten Male entscheidend in die Weltpolitik eingetreten. Diesen Anspruch hat es dann weiterhin aufrechterhalten. Es griff seit 1895 in die ostasiatischen Händel ein (1895/96 japanisch-chinesischer Krieg), erwarb 1897 Kiautschou und beanspruchte Schantung als Interessensphäre. Bald sicherte es sich in den Karolinen und auf Samoa, im Großen Ozean, dem Meere der Zukunft, Stützpunkte und erzwang in China den Grundsatz der offenen Türe. Kurz vor­ her hatte der Kaiser in Damaskus (1898) ein weltpolitisches Programm durch­ blicken lassen. Seither pflegte er mit größter Sorgfalt, aber nicht immer geschickt, die Beziehungen zur Türkei. So hatte Deutschland die beiden Hauptbühnen der Weltgeschichte, den nahen und fernen Orient, beschritten. Als die Marokko­ krise ausbrach. (1905), schwang sich der Schwerpunkt der Weltpolitik plötzlich von Ostasien wieder nach Westen, und zwar wieder durch den deutschen Kaiser (1905 in Tanger), der uns ja den Weg in die Welt eigentlich erst gewiesen hatte. Schon bei den ersten weltpolitischen Unternehmungen in der Türkei (be­ sonders 1898), in Persien, China und Afrika stießen wir auf Schwierigkeiten, indem wir mit Rückwirkungen auf das Verhältnis zu Rußland, England und Frankreich zu rechnen hatten, welche dadurch zum Teil zu einem engeren Zusammengehen, zu einer Verständigung, veranlaßt wurden. So fanden 1904 koloniale Abmachungen statt zwischen England und Frankreich (1907 Tripelentente), obwohl das Berlin bisher für unmöglich gehalten hatte. Von 1907 ab war nunmehr Deutschland in dieselbe Vereinsamung geraten, wie früher Frankreich durch Bismarck und die West- und zum Teil auch die Ostgrenze war offen, durch keine Bündnisse geschützt. Als Deutschland 1905 zum erstenmal der kolonialen Ausdehnung Frank­ reichs selbst entgegentrat, weil es zukunftsreiche Länder nicht völlig unter fremden Einfluß fallen lassen wollte, trat die eigenartige Lage der auswärtigen Politik des Reiches im Zusammenhang zwischen kontinentalpolitischen Rücksichten und weltpolitischen Interessen klar zutage.

Das zeigte sich namentlich auf der Konferenz von Algeciras (1906), wo Deutsch­ land außer Frankreich und Rußland auch England geschlossen gegenüberstand, das sich u. a. wegen der weltpolitischen Absichten Deutschlands, dessen naher und ferner Orientpolitik und dessen Flottenbaues Frankreich genähert hatte.

s. Deutschlands Weltpolitik.

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England war aber schon vorher Deutschlands Feind, weil es in diesem seinen Hauptrivalen auf dem Weltmarkt und dem Weltmeer sah. Deshalb ging auch von England der Gedanke der Einkreisung aus, die ein eisernes Band um Deutschland in Europa legen sollte. Besonders in der Unzufriedenheit über die Bagdadbahn, die der geplanten Ver­ bindung Kairo—Kalkutta einen Riegel vorzuschieben schien, Rußland nach seiner An­ sicht letzten Endes an der Zertrümmerung der Türkei hinderte und endlich auch den Konkurrenten des englischen Suezkanals und der russischen Sibirischen Bahn bildete, fanden sich die alten Gegner Rußland und England (1907), denen sich Frankreich beigesellte. Und doch konnten und durften wir unsere Orientpolitik nicht aufgeben. Seit 1907 wandte eben, durch England veranlaßt, Rußland seine Aufmerk­ samkeit wieder dem nahen Orient zu und geriet dadurch in Konflikt mit Österreich, in den wir als dessen Bundesgenossen zwangsläufig hineingezogen wurden.

Ist Deutschland wegen seiner Stärke nicht angreifbar, so müssen die Rück­ wirkungen der deutschen Weltpolitik auf ein Zusammengehen der Mächte aus­ bleiben. Von 1906 bis zum Februarabkommen 1909 sah sich Deutschland einer Gruppierung von Mächten gegenüber, so oft es gegen Frankreich wegen Marokko einschreiten wollte, war daher außer in der marokkanischen auch noch in anderen Fragen lahmgelegt, während es eifrig als Friedensstörer verdächtigt wurde. Die schließlich für uns noch leidliche Liquidation (1911) der Marokkofrage, die gleichsam ein Netz über die deutsche Bewegungsfreiheit geworfen hatte, zeigte deutlich, daß das Deutsche Reich aus diesem politischen circulus vitiosus, wonach es bei der Weltpolitik sich immer durch konti­ nentalpolitische Rücksichten eingeschränkt fühlte, heraus, daß es freie Hand bekommen mußte, ohne kontinental gebunden zu sein, wenn es sich nicht seinen Lebenswillen ertöten lassen wollte. Außerdem mußte es sich vor allemvon England unabhängig zu machen suchen, anstatt um dessen Freund­ schaft zu betteln. Da aber die wirtschaftliche Ausdehnung und der Lebenswille des Volkes hinausdrängten, also Weltpolitik getrieben werden mußte, während ander­ seits die weltpolitische Bewegungsfreiheit Deutschlands um so größer ist, je unabhängiger seine kontinentale Stellung von der Gruppierung der Mächte ist, so galt es einen der sieben Wege zu beschreiten, die allein zum Ziele führen konnten.

Es galt also erstens entweder eine mächtige, der britischen gleichwertige oder überlegene Kriegsflotte zu schaffen, um den Seeweg freihalten zu können, oder zweitens ein großes, Heer aufzustellen, das jeder möglichen Konstellation die Aussichten des Sieges böte, also sich entweder eine überragende Stellung zur See oder noch besser zu Land zu sichern, wenn sich schon nicht beides er­ reichen ließ; denn Weltpolitik setzt Machtpolitik, den Besitz politischer und militärischer Macht, voraus. Sonst blieb uns noch die Möglichkeit, voll­ wertige Bündnisse einzugehen, und zwar entweder drittens mit Rußland, wodurch wir uns eine feste kontinentale Stellung geschaffen, oder viertens mit Österreich und womöglich den Balkanstaaten, wobei aber eine Art Ober­ aufsicht über die dortigen militärischen Verhältnisse und dazu die Vergrößerung des eigenen Heeres Vorbedingung bilden mußten, oder ohne größere Kriegs-

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

flotte fünftens mit England. Hier wäre der See-, dort der Landweg offen gewesen, der für uns im Kriege noch wichtiger war als jener. Einige meinten, wir dürften „den Draht mit Rußland nicht abreißen" lassen (1892, neue Ver­ suche 1904,1905 und 1910 blieben ohne Erfolg), sollten dieses vielmehr sechstens immer wieder auf seine ureigene, asiatische, britenfeindliche Aufgabe Hin­ weisen. Andere hinwiederum, wir sollten uns siebentens einen mehrjährigen Vorrat der wichtigsten Lebensmittel und Rohstoffe sichern, um alle Bedürfnisse selbst decken zu können, also die Selbstversorgung zu gewinnen. Keinen der sieben einzig möglichen Wege hat unsere Politik beschritten, mit Recht nicht den fünften. Wohl hatten wir die zweitgrößte Kriegsflotte und ein starkes Heer; aber die allgemeine Wehrpflicht stand bei der starken Be­ völkerungszunahme im Gegensatz zu Frankreich und trotz aller Mahnungen des Großen Generalstabes schon lange nur mehr auf dem Papier, so daß die französische Rüstung die unsere bedeutend überragte und zu Kriegsbeginn um 470 Reserve- und Landwehr-Bataillone mehr aufwies als die unsere. Trotz­ dem fürchtete man uns, aber nur so lange, bis sich die Feinde völlig geeinigt hatten, zumal unsere Flotte von Anfang an nur defensive Bestimmung haben sollte.

Bei einem Bündnis oder Freundschaftsverhältnis mit Rußland hätten wir wohl in gewissem Sinne dessen „Degen" bilden müssen, hätten uns aber nach dem Muster des Bismarckschen Vertrages größere Unabhängigkeit gesichert. Wenn wir auch in die schließliche Zertrümmerung Österreichs, dessen Zerfall für jeden Sehenden sonnenklar war, und wohl auch der Türkei hätten einwilligen müssen, so wäre hieraus doch der kontinentale Bezug von Rohstoffen und Lebensmitteln und der Weg nach fernerem, notwendigem Lebensraum, nach dem Osten, frei gewesen. Welch glänzende Aussichten! Wohl hatten wir uns mit Österreich und sogar mit Italien verbündet; aber dieses dachte nie daran, seiner Bündnispflicht nachzukommen, da es bestimmte Ziele am Mittelmeer verfolgte (1902 Abmachungen mit Frankreich), konnte es wegen seiner geographischen Lage eigentlich auch in dem Augenblick nicht mehr, da es den Kanonen Englands preisgegeben war. Ferner hatten wir unterlassen uns über die politische und militärische Macht Österreichs ein richtiges Bild zu machen und der Slawisierung des Reichs durch Habsburg (aus Eifersucht gegen Deutschland) Halt zu gebieten. Vor dem fünften Wege hatte schon Bismarck gewarnt. Ms Degen Englands hätten wir auf eine ausgedehnte Flottenpolitik sowohl wie auf Ausdehnung unserer Weltwirtschaft verzichten müssen, wären daher immer in Abhängigkeit geblieben; ja als englischer Landsknecht hätten wir uns ungemein geschwächt ohne selbst etwas bekommen zu haben. England hätte uns nichts nützen, uns nicht unterstützen können. Zudem waren die britischen Bündnisangevote (1898 und 1901) nie ernst gemeint. Man wollte uns z. B. 1901 nur in einen Krieg gegen Ruß­ land hineinhetzen! England gab uns aber 1912 nicht einmal eine Antwort, als wir ihnr offiziell eine Flottenrüstung 2:3 vorschlugen. Nur 1909 scheint eine Flottenverständi­ gung mit ihm möglich gewesen zu sein. Aber unsere wachsende Seemachtstellung hätte, wenn sie richtig in unsere Politik eingesetzt worden wäre, (nach Tirpiz) unser Verhält­ nis zu England trotzdem auf eine stabile Grundlage gestellt und die Kriegslust in Eng­ land eher gedämpft. Aus alledem ersieht man, daß Deutschland dank seiner ungünstigen geo­ graphischen Lage und der damit im Zusammenhang stehenden Verkettung von Welt- mit Kontinentalpolitik einer ungeheuren Entfaltung wirklicher

5. Deutschlands Weltpolitik.

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Machtmittel oder eines vollwertigen Bündnisses bedurfte, um Weltpolitik treiben zu können. Warum betraten wir nun keinen der sieben Wege, machten vielmehr uns trotz unserer Lage das gewaltige Zarenreich zugleich das meerbeherr­ schende England zu Feinden? Das hatte seinen Grund in der dem Deutschen von jeher'innewohnenden Friedensliebe, Gutmütigkeit und politischen

Selbstbeschränkung und Verständnislosigkeit, weshalb wir auch von einem Präventivkrieg (am günstigsten 1904) nichts wissen wollten, ferner in dem ge­ ringen Nationalismus weiter Kreise und der Ziel- und Jdeelosigkeit. Leider dachte bei uns nur die ein Teil des Volkes national, während der Ar­ beiterstand zum großen Teil international fühlte, vom Weltbürgertum träumte. Daß das deutsche Volk Anspruch auf Macht erheben dürfe und zugleich eine Mission für die Menschheit zu erfüllen habe, hatte bei der tiefen Masse der Deutschen noch keinen Widerhall gefunden. Der Weltmachttrieb war beim deutschen Volke noch nicht in vollem Ernste erwacht, wenn er ihm überhaupt im Blute liegt. Zum Kummer der weitschauenden Großdeutschen hielten wohl die meisten dafür, uns baldigst wieder aus der Welt auf uns selbst zurüHuziehen. Daher kamen die Halb­ heiten in der Heeres-, Flotten- und äußeren Politik. So scheuten wir uns, mit Rußland bindende Abmachungen zu treffen, um England nicht vor den Kopf zu stoßen, und umgekehrt. Man glaubte, auch ohne offizielles Bündnis fest auf dem russischen Stuhl zu sitzen. „Unsere Weltpolitik, in die wir, geistig zerrissen, ohne einen deutschen Mythus eingetreten waren, war schließlich nichts weiter als eine Auswirkung der Wirtschaft mit einem Minimum an politischem Zusatz, letzten Endes eine Überwucherung des Staates durch die Wirtschaft" (v. Müller). Heute glauben ja noch viele, wenn nicht die meisten Deutschen an das ur­ alte Märchen, daß man Weltwirtschaft treiben könne ohne Weltpolitik und diese ohne Machtpolitik, daß uns also der britische Rivale ruhig hätte gewähren lassen, wenn wir ihn durch unsere Flottenentwicklung nicht „gereizt" hätten. Sie vergessen ganz, daß er nur deshalb gegen das Flottenbesetz Sturm gelaufen ist, weil er uns machtlos wünschte, um uns zur geeigneten Zeit die wirtschaftlichen Bindungen auferlegen zu können, daß der britische Neid, der schließlich zu offener Kriegsstimmung gegen uns führte, nicht erst ein Kind der deutschen Flottenpolitik war, sondern schon in der 70 er Jahren aufgetaucht ist, als Deutschland anfing, ernsthafter Handelskonkurrent zu werden. Trotz der Einkreisungspolitik der Feinde, trotz der ununterbrochenen Rü­ stungen Frankreichs und Rußlands konnten die meisten Deutschen nicht recht an einen Krieg glauben, hegten vielmehr besonders über die Stellungnahme Rußlands und Englands, ja sogar Italiens, die unglaublichsten Illusionen und meinten, man könne unmöglich die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, das sich doch nur in friedlicher und bescheidener Tätigkeit einen „Platz an der Sonne" zu erobern suchte, stören wollen! Seit 1904 verhielten wir uns dann auch außenpolitisch ganz passiv (System der passiven Defensive), wir sahen den Ring sich schließen, rührten aber keinen Finger, ihn rechtzeitig durch veränderte Machtgruppierung zu zerbrechen. Ja, viele taten im Reichstag alles, uns das zaristische Rußland noch mehr zu entfremden und die Regierung betrieb die von Anfang an unfruchtbare Politik der Versöhnung mit England.

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Geopolitische Fragen. 1. Deutschland als Weltmacht.

Die lange Zeit des Friedens hatte uns vor allem die Gefahr übersehen lassen, die für uns in der englischen Seeherrschaft lag. Auch unsere Regierung glaubte nicht an einen Krieg mit England, das (Grey) diesen schon seit 1904 gegen uns vorbereitete, hat sich wohl auch niemals das Unheil vorgestellt, das schon im Laufe des Weltkrieges und zuletzt durch den Friedensschluß über unsere Schiffahrt, unseren überseeischen Handel und Besitz hereingebrochen, ist. Man wunderte sich sogar, das; die Briten sich über die Neutralität des Suez­ kanals, dieser mächtigsten DÜrchgangsstraße des Weltverkehrs, hinwegsetzten. Und als man England, das unter Bruch jeglichen Völkerrechts den Krieg gegen die deutschen Frauen, Kinder, Greise und Kranken sowie gegen das deutsche private Eigen­ tum führte, mit gleicher Münze hätte heimzahlen können, da scheute die unentwegt weiter betriebene Politik der Versöhnung mit England, aber auch deutsche Vertrauens­ seligkeit, Entschlußlosigkeit und deutsches Humanitätsgefühl vor dem Einsetzen des rück­ sichtslosesten, folgerichtigen und rechtzeitigen ll-Boots- und Luftschiffkrieges zurück, um Feinde (und Neutrale) zu schonen, nicht zu reizen und versöhnlicher zu stimmen. Da der Il-Bootskrieg am 1. Februar 1917, also ein Jahr zu spät für den Erfolg ein­ setzte, so kam es nicht zur Brechung der englischen Seeherrschast. Und dabei gestehen heute britische Adniirale zu, das; England in unserer Lage namentlich den b-Bootskrieg rücksichtslos auch gegen Neutrale und als Handelskrieg geführt hätte, da die Verwendung der 1)-Boote als korrekt bezeichnet werden müsse. Im Gegensatz hierzu erkannte man, welche Mängel unseren Kolonien anhafteten, und empfand besonders schmerzlich den Mangel eines Zusammenhanges mit und unter ihnen sowie ihr Unvermögen, unsere Bedürfnisse auch nur annähernd zu befriedigen. Wir strebten daher und auch aus politisch-militärischen Gründen in den letzten Jahren vor dem Weltkriege nach einer Vergrößerung, einem Zusammenschluß und einer verkehrsgeographischen Abrundung unseres Kolonialbesitzes und zwar an der einzig möglichen Stelle, in Afrika. Nachdem Deutschland seit 1911 die Internatio­ nalisierung der Bagdadbahn jenseits Bagdads zugestanden und anderseits der Marokko­ vertrag Kamerun einen Zugang zum Kongobecken geöffnet hatte, suchte uns Eng­ land seit 1912 mit der Aussicht auf Erwerbung portugiesischer Kolonien in Afrika, die ihm doch gar nicht gehörten, und des Kongostaates, woraus übrigens Frankreich das Vorkaufsrecht besaß, zu ködern und mit diesen Borspielungen uns von der Weltpolitik, besonders von der Lösung der ostasiatischen Frage, abzuziehen und in kontinentale Schwierigkeiten zu verwickeln. In Wirklichkeit dachte es nicht im leisesten daran, auch wenn es gekonnt hätte, uns zu einem von einem Ozean zum anderen sich erstreckenden Riesenkolonialreich oder zu einem langgestreckten Reich an der At­ lantischen Küste zu verhelfen, das doch über die Kap-Kairobahn einen Querbalken gelegt hätte. Es erreichte aber, daß unsere Regierung die Flotte nicht allzusehr verstärkte.

Regierung und Reichstag verstanden es leider nicht, den deutschen Nationa­ lismus, den politischen Geltungsdrang gewisser Volkskreise, der mit der Ent­ stehung weltpolitischer Interessen ebenfalls eine weltpolitische Orientierung erfahren hatte und nun unaufhörlich gewachsen ivar, zur Sicherung unserer Weltgeltung anszuwerten. Er hätte nämlich der Regierung bei richtiger Be­ gründung statt schroffer Ablehnung auch eine noch größere Verstärkung mili­ tärischer Machtmittel nicht verweigert, obwohl er ans Mangel an politischem Sinn sich über den verwickelten politischen circulus vitiosus nicht klar war. Klar waren sich die Einsichtigen, es gäbe nichts Berechtigteres und geschicht­ lich Notwendigeres als die Errichtung einer strafsen deutschen Weltmacht

6. Zusammenbruch.

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in Mitteleuropa, da nur durch eine solche vor allem das deutsche Volk zu seinem Rechte als Faktor in der Weiterentwicklung der Menschheit gelangen konnte.

6. Zusammenbruch. a) Die Schuld am Weltkriege. Da kam der Weltkrieg, den in erster Linie russische Ländergier (der russische Panslawismus und der russisch-serbische Vertrag), französische Rach­ sucht und britischer See- und Handelsneid über uns gebracht hatten.

Lloyd George sagte bei der Gründung der Entente 1904: „Dieses wird mit Krieg endigen", und 1912 persönlich zu Ssasanow, daß England alles daran setzen würde, um der deutschen Machtstellung den fühlbarsten Schlag zuzufügen. England gönnte uns nicht das bescheidene Plätzchen an der Sonne und sah durch unsere Lebens­ kraft und Arbeitsfähigkeit, durch unsere wirtschaftliche Ausdehnung die weitere englische Ausbeutung der Welt außerordentlich bedroht, fürchtete, um den Mehrwert in der Weltwirtschaft gebracht zu werden. Der wirtschaftliche Nebenbuhler, der „allzu viel Waren machte", war ihm unbequem geworden. Ta Deutschland aufgehört hatte, schwach zu sein, sich sogar in Kleinasien und Mesopotamien zwischen britischem Gebiet ein wirtschaftliches Interessengebiet sichem wollte, da England und Frankreich fürchteten, das relativ schwache Deutschland könnte an kolonialer Ausdehnung das Ver­ säumte nachholen, während anderseits diese zwei Weltmächte in ihrer überseeischen Aus­ breitung fortfahren wollten, sprach man von einer „Störung des europäischen Gleich­ gewichts" durch Deutschland, das doch dieses nach dem Sturz Bismarcks zum Segen Englands wie immer wieder hergestellt hatte. England und Frankreich betrachteten eben als eine Störung schon das bloße Vorhandensein der deutschen Weltmacht, die sie ohnehin als ein „Unrecht, als ein Verbrechen gegen die richtige Weltordnung" ansahen. Frankreich suchte sich außerdem zu rächen, weil cs 1870 das linke Rhein­ ufer nicht gewann und die deutsche Einheit nicht verhindern konnte. Schon 1912 planten Poincare und Iswolski die Eroberung des Elsaß und der Dardanellen (be­ sondere Abmachungen zwischen Poincare—Delcassc und Iswolski—Ssasanow 1913) und Rußland glaubte, daß der Weg nach Konstantinopel und nach Österreich, das mit der Türkei zertrümmert werden sollte, nur über Berlin führen könne. Der russische Außenminister Ssasanow berichtete denn auch am 8. Dezember 1913 an den Zaren, daß die Meerengenfrage nur auf dem Wege über europäische Verwicklungen, d. h. über den Weltkrieg gegen die Mittelmächte, zu lösen sei.

Also reine Macht- und Gewalt- und bloße Geschäftspolitik ent­ fesselten den Weltkrieg. Während alle unsere Gegner selbst nach Raum­ erweiterung strebten — Deutschland sollte ebenfalls verkleinert und seiner Kolonien beraubt, wenn nicht ganz zertrümmert und vernichtet werden, —, klagten sie uns der Weltherrschaftspläne und der Entfesselung des Welt­ krieges an, während Frankreich und Rußland schon seit 1910 mit Überlegung einen Offensivkrieg gegen Deutschland vorbereiteten und England schon 14 Mo­ nate vor Kriegsbeginn seine Handelsschiffe zu bewaffnen begann. Dabei kannten wir nur als einziges Ziel: Frieden um jeden Preis, freie Hand, Erhaltung des Status quo und Freiheit der Meere auf friedlichem Wege, freien Handel und den friedlichen Erwerb von neuen Absatzmärkten (Morel). Zuletzt griff dann, als die Entscheidung des Kriegsglückes nur durch kräftige Hilfe zugunsten der Gegner herbeigeführt werden konnte, die Union ein mit

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Geopolitische Frage». I. Deutschland als Weltmacht.

dem Zweck,denwirtschaftlichen Gegnerzu vernichten, aber wie jene unter einem Schlagwort, nämlich als „Kreuzzug der Demokratie gegen die militärische Autokratie, für die Zivilisation und den ewigen Frieden".

b) Ursachen des Zusammenbruchs. Nun rächte sich, daß wir „Nurfriedenspolitik" getrieben, uns wirtschaftlich und politisch, zum Teil auch militärisch auf den Krieg nicht vorbereitet oder ihn, der unvermeidlich war, nicht früher als Präventivkrieg geführt hatten, sondern ruhig zusahen, wie überall auf der Erde die Feinde sich rüsteten. Durch unsere politischen Ungeschicklichkeiten sind wir geradezu in den Krieg hineingetaumelt.

Sofort wurden die Mängel unserer Weltwirtschaft und Weltpolitik, unserer geographischen Lage offenbar. Zunächst wurde uns der ozeanische Weg versperrt und damit auch die Verbindung mit unseren Kolonien unter­ brochen. Sogleich mußten wir auf allen Seiten erkennen, wie stark und zahl­ reich die Bande waren, die uns mit der ganzen Welt, besonders den tropischen Wirtschaftsgebieten verknüpften. Durch die unmenschliche britische Blockierung entstanden Krankheiten und Hungersnot.

Nachdem uns auch die Herstellung eines kontinentalen Weges, wenigstens nach Afrika, durch unsere kriegerischen Mißerfolge in Palästina und Syrien unmöglich gemacht worden war, sahen wir uns von der Welt abgeschlossen, unsere Weltbetätigung ausgelöscht. Zu Fehlern in der Kriegsführung zu Land, namentlich der unglücklichen Ermattungsstrategie und den Fehlern im Westen 1914, wo wir den Sieg schon in Händen hatten („das Ende des briti­ schen Weltreichs stand greifbar vor uns, wenn Deutschland die Kanalküste in seine Hand bekam": French), im Osten 1914 und 1915, wo zwanzig bis vierund­ zwanzig aus der Westfront herausgezogene Divisionen damcüs die russische Armee vernichtet und den Kriegseintritt Italiens und Rumäniens verhindert hätten, und im Westen 1916 (Verdun) kamen noch schwere Unterlassungssünden im bl-Boots-, Luftschiff- und Seekrieg. Man konnte sich entgegen Tirpitz nicht zu einem rücksichtslosen, vollen und rechtzeitigen Flotteneinsatz entschließen. Was zur See entgegen den Mahnungen und Warnungen Tirpitz' versäumt wurde, ist unverantwortlich. Es hätte auch im Oktober 1918 ein ganz anderes Bild ergeben, wenn die Flotte zum Schluß noch gezeigt hätte, daß sie kampffähig sei. Wenn die Flotte nicht geleistet hat, was ihrem Schöpfer Tirpitz vorgeschwebt hatte, so lag das allein an der politischen Leitung und ihrer Führung. So verhinderte 1915 Bethmannscher Geist, unser Schicksal durch Einsatz der Flotte zu ändern zu einer Zeit, da wir artilleristisch und an Panzerung den Engländern noch überlegen waren. Diese gestehen selbst, daß „die deutsche Artillerie und das deutsche Torpedo schießen noch 1916 auf einem höheren Standard waren als irgendeiner." Besonders im (l-Bootskrieg offenbarte unsere Politik nach Tirpitz in einem Wirrsal von Befehlen, Gegenbefehlen, starker Geste und schwächlicher Nachgiebigkeit eine Schwäche und Kopf losigkeit, die unsere Gegner in ihren Forderungen immer maßloser werden ließ und unsere Il-Bootskommandanten in eine geradezu verzweifelte Lage brachte.

Dazu gesellten sich neue diplomatische Sünden der vollkommen un­ fähigen Regierung, welche die Aussichten auf den Endsieg verdunkelten.

6. Zusammenbruch.

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So wurde durch die Ungeschicklichkeit ungeeigneter Männer der Siegeswille der Feinde gestärkt (Friedensresolutionen, Bekanntwerden der Czerninschen Denkschrift, Verständigungsfriede), so daß England und Frankreich für keinen Ver­ ständigungsfrieden zu haben waren (daher war auch der päpstliche Friedensschritt 1917 schon von vornherein zum Scheitern verurteilt), wurde durch ungeschickte Staatskunst die Möglichkeit einer Beendigung des Krieges mit dem zaristischen Rußland vereitelt, falls eine solche bei dem Einfluß des britischen Botschafters überhaupt je bestand. Das geschah besonders durch die unglückselige Proklamation (1916) der Unabhängigkeit Polens, wodurch wir Rußland tödlich beleidigten und gleich­ zeitig zu unserem Schaden eine polnische Jrredenta herangezüchtet hätten, auch wenn uns der Sieg zugefalleü wäre. Unsere entschlußlose, kleinmütige und von falschen Vorstellungen vom Wesen des Krieges getragene, weltfremde Ohnmachtspolitik, die kein Vertrauen in die Waffe (besonders die des l)-Bootes) und keinen Glauben an den Sieg hatte, verlängerte den Krieg ins Ungemessene. Aber auch im Innern ließ die Regierung die Zügel am Boden schleifen und brachte uns so um den Endsieg. „Wir waren wohl ein deutscher Staat, aber kein deutsches Volk, wir hatten nicht gewußt, daß ein Staat ein Bauwerk ist, das bei schweren Erschütterungen zusammenstürzen kann, während das Volk ein Baum ist, der stehen bleibt. Wir haben uns daher auf die Machtmittel des Staates verlassen, haben aber nicht aus den inneren Kraftquellen des Volkes geschöpft" (Max Halbe). Dieses versagte, weil es nicht, wie in den Feindesländern mit wirllichem Lebens-, Kriegs-, Macht- und Sieges­ willen, also einem Kriegsziel, einer Losung, erfüllt wurde, weil es wie Regierung und Parlament nicht geopolitisch denken gelernt hatte, sondern bloß seinen Lebensraum verteidigen wollte. Das eigene Volk hat vielmehr sogar selbst am Enderfolg gezweifelt und dies den Gegnern deutlich gezeigt; sonst wäre sogar der verspätet begonnene ll-Bootskrieg noch erfolgreich gewesen. Bei der langen Kriegsdauer wurde infolge der fortgeschrittenen Auszehrung und inneren Zerklüftung die deutsche Nervenkraft zermürbt und der Siegeswille, soweit er (bei wenigen) vorhanden war, erschüttert. Es rächte sich aber auch, daß die so großzügig begonnene soziale Fürsorge nicht abgeschlossen, daß die politische Gleichstellung aller Deutschen nicht ganz durchgeführt worden war und daß die Regierung in der Polen- und Reichsland­ politik keine glückliche Hand gehabt hatte. Daher lockerte sich die innere Festigkeit, die infolge der Absonderung des Volkes in drei Stände nur künstlich aufrecht erhalten worden war. Die Front wäre aber trotz alledem nicht zusammevgebrochen, wenn das Volk durchgehalten, wenn es sich nicht von den äußeren und leider auch von inneren Feinden hätte verhetzen und verführen lassen.

Hierher gehört die feindliche Lügenpropaganda 1917 für den „Verständigungs­ frieden", der die schwache Parole vom „Verteidigungskampf" ablöste, der Munitions­ arbeiterstreik Januar 1918, die Meuterei 1917 auf der Kriegsflotte gegen den „kapi­ talistischen Krieg", die Vereitelung 1918 des aussichtsreichen Flottenvorstoßes, der nach den Urteilen Sachverständiger die besten Aussichten für einen deutschen Seesieg geboten hätte, die Auslieferung unserer schönen Kriegsflotte, der Glaube an die 14 Punkte Wilsons, besonders an das Selbstbestimmungsrecht aller Völker. Hinter der Front wurde bewußt auf die Zertrümmerung der deutschen Wehrmacht und Machtstellung hingearbeitet, wurde die Machtpolitik der Feinde als gerecht, jede

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Machtpolitik, ja der Machtwille Deutschlands aber als Berbrechen erklärt, da er uns völlig widerstrebe, während ihm der Gegner ans innerster 9?atin fröhnen müsse. Kein Volk der Welt war bisher so töricht zu glauben, daß man sich durch Verleugnung seines Lebens- und Machtwillens, durch einseitiges Be­ endigen des Krieges und durch Vernichtung des Heeres, des Instru­ mentes des Lebenswillens, glänzende Friedensbedingungen, die Frei­ heit und ruhige Fortentwicklung erkaufen könne. Das deutsche Volk beging diesen Selbstmord. Es glaubte nur, was die Feinde sagten, glaubte, daß die anderen von ihm gar nichts wollten, , sondern einzig und allein seinen Militarismus bekämpften, glaubte, daß es nicht um das Heimatland, um sein eigenes Wohl, sondern nur um das der Reichen und der herrschenden Klassen gehe. Genährt wurde diese ganz ungeopolitischc Stimmung durch angebliche Patrioten, das Spinnetz der Kriegsgesellschaften, unehrliche Aufkäufer, Angehörige' der Schwer­ industrie und des Osfizierkorps.

Was zum Zusammenbruch und zum folgenden Niedergang geführt hat, war also (nach Steinhaufen) vor allem das Versagen der Menschen links und rechts, die Unzu­ länglichkeit der Führung, der Mangel an schöpferischen Personen und einer inneren Volksgemeinschaft. Dafür gab es nur illusionistische Vertrauensseligkeit, oft Unter­ würfigkeit gegenüber den Feinden, kurz, lauter Erbfehler unserer Nation.

Aber ohne die Revolution wären die Waffenstillstands- und dann später die Friedensbedingungen ganz anders ausgefallen, zumal die Feinde bereits am Ende ihrer §üaft angelangt und vollkommen kriegsmüde waren (England befand sich am kritischsten Punkt seiner Geschichte), so daß wir diese zum Verständigungsfrieden hätten zwingen können. So sagt Oberst House, der Freund Wilsons, daß die Alliierten außerstande gewesen wären, uns einen Versailler Frieden zu diktieren, wenn wir noch bis Frühjahr 1919 weiter gekämpft hätten, was uns (am Rhein) leicht möglich gewesen wäre, und daß sich auf das deutsche Waffenstillstandsverlangen hin die Premiers von England, Frank­ reich und Italien gegen Fortsetzung des Krieges ausgesprochen hätten.

Infolge der Revolution hatten wir nns aber durch Auflösung jeder Ord­ nung und Zucht dem Feinde wehrlos überliefert. Und im Innern machte sich nun in allen Schichten des Volkes der sittliche Niedergang bemerkbar. Milliarden kostbaren Volksgutes wurden verschleudert, Milliarden und sogar Lebensmittel ins Ausland verschoben, die Waren um hohen Gewinn dorthin verkauft (oft unter dem Inlandspreis: Dumping), unbekümmert um die steten Preissteigerungen im Innern, ja manche führten das Volk bewußt in die Knechtschaft, um sich an der Macht zu erhalten. Die revolutionäre Regierung war unfähig, diesem Selbstmord des deutschen Volkes zu steuern. Unter solchem Zeichen standen die Friedensver­ handlungen !

c) Die Vernichtung unserer Weltmachtstcllung. Durch den Krieg, erst vollends aber durch die unselige Revolution während des Waffenstillstandes und durch die Unterzeichnung des Versailler Vertrages (22. Juni 1919), die uns die Feinde nicht einmal zugetraut hatten, wurde unsere ganze überseeische Betätigung, unsere Weltmachtstellung vernichtet. Schon während des Krieges waren unsere Seeschiffahrt und unser Seeverkehr, außer in der Ostsee, hauptsächlich von England erdrosselt worden. Die auf

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seine Veranlassung und aus Habgier mit Deutschland in den Kriegszustand eingetretenen zahlreichen Staaten haben im Verein mit England überall die deutschen Schiffe und Hafenanlagen geraubt und behalten, die Nieder­ lassungen deutscher Kaufleute, Fabrikanten und Banken samt den Geschäfts­ büchern beschlagnahmt, die Firmen liquidiert, die Inhaber meist mit grau­ samer Härte gefangengesetzt und zuletzt mittellos abgeschoben, überdies noch unsere Auslandsguthaben weggenommen. Ebenso hielt England alle neutralen Schiffe an um die Deutschen darauf festzunehmen und die deutschen Postsendungen zu rauben. Der Friedensvertrag hat unserer Handelsflotte den Todesstoß ver­ setzt; denn wir mußten von den noch vorhandenen 2,8 Millionen Register­ tonnen alle Schiffe über 1600, 50% zwischen 1000 und 1600 Registertonnen und selbst viele Flußfahrzeuge abliefern, so daß uns nur 100000 Registertonnen an Schiffen über 1000 Registertonnen verblieben. Ein Teil unserer Handelsflotte wurde uns während des Wasfenstillstands unter dem Vorwand von Lebensmittelsendungen erpreßt, zuletzt, um die Wiederaufrichtung unseres Überseeverkehrs zu verhindern, uns auch noch ein Teil der Schwimmdocks (275000 Tonnen) und Hasenanlagen abgezwungen und Deutschland verpflichtet, 5 Jahre lang jährlich 200000 Registertonnen für das Ausland auf dem kümmerlichen Rest seiner Werften ohne die finanzielle Möglichkeit der Einfuhr von Rohmaterial zu erbauen. Vom zweiten sank so die Handelsflotte auf den vierzehnten Platz herab (Abb. 23).

Helgoland, dieser Felsen von Stein und Eisen, der empfindlichste Nerv Deutschlands, wird nunmehr nach der Schleifung seiner unüberwindlichen Be­ festigungen zerfallen, da keine Schutzbauten mehr vorgenommen werden dürfen, so daß wieder wie vor der Erwerbung dieser Insel für England die tägliche und nächtliche Möglichkeit besteht, den deutschen Handel zu beunruhigen. Die Seegrenze wurde von 1800 auf 1488 km, d. i. um 17%, verkürzt. Da die Kriegsflotte keine Handelsschiffahrt mehr zu schützen hat, so wurde sie uns von den Feinden auch restlos genommen, d. h. wir haben sie, die stärksten Schiffe dec Welt, kampflos ausgeliefert. Die gefürchteten Hl-Boote, deren Verwendung wir ganz zwecklos schon vorher eingestellt hatten, wurden sämtlich den Gegnern, hauptsächlich England, überwiesen, das auch die deutschen Kabel an sich nahm. Allein die Vernichtung unserer überseeischen Interessen mit ihrer Abhängigkeit von ungeheuer wichtigen wirtschaftlichen Verhältnissen der Heimat mußte zur Verarmung Deutschlands führen. Unser stolzes Heer, das beste der Welt, das Hauptinstrument unseres Kraftwillens und unserer Weltpolitik, haben wir selbst zerstört, da wir für immer auf Welt- und Machtpolitik freiwillig verzichteten! Wir lieferten daher unser gesamtes Kriegsmaterial, unsere Waffen und Munition aus oder vernichteten sie und zerstörten Festungen und schwere Geschütze, Flugzeuge und -motore (28000), wodurch wir uns selbst wehrlos machten.

Entgegen den feierlichen Zusicherungen in den 14 Punkten Wilsons hat man uns auch noch unsere Kolonien genommen und unter England, Frank­ reich, Belgien, Australien, Neuseeland und Japan verteilt, nachdem man unter Bruch der Kongoakte den Krieg auch dorthin verpflanzt und deutsche Helden, weiße Frauen und Kinder durch Schwarze hatte mißhandeln lassen. Das Privat-

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eigentum unserer Kulturpioniere (viele 100 Millionen Mark im Wert) wurde enteignet und verkauft oder vielmehr verschleudert (in Ostafrika 520 Millionen M. um 24 Mill., vor allem an Inder!) und diesen die Wiedereinreise verboten. Die Wegnahme unserer Kolonien wurde mit solgenden fünf unwahren Be­ hauptungen begründet: erstens mit der Bedrückung der Eingeborenen durch die deutsche Kolomalverwaltung, zweitens mit ihrer Militarisierung durch Deutsch­ land, drittens mit Deutschlands kolonisatorischer Unfähigkeit, viertens mit der Bedrohung des Welthandels durch strategische Stützpunkte, fünftens mit der Be­ hauptung, die deutsche Volkswirtschaft sei in keiner Weise auf den Besitz eigener Kolonien angewiesen. Auf Grund dieser Kolonialschuldlügen verzichtete Deutsch­ land durch Artikel 119 des Versailler Vertrags auf alle seine Rechte und Ansprüche hinsichtlich seiner überseeischen Besitzungen zugunsten der Alliierten. Und im Artikel 22 der Satzung des Völkerbundes werden obige Behauptungen wiederholt und verstärkt, indem es u. a. heißt: Das Wohlergehen und die Entwicklung der Bewohner der ehemals deutschen Kolonien bilden eine heilige Aufgabe der Zivili­ sation. Der beste Weg ist die Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen, die am besten imstande sind, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen. Damit wurde Punkt 5 des Wilsonprogramms vom 8. Januar 1918 einfach beseitigt, der bestimmte: „Freie, weitherzige und absolut unparteiische Regelung aller kolonialen Ansprüche, beruhend auf der genauen Beob­ achtung des Grundsatzes, daß bei Entscheidung aller derartigen Souveränitätsfragen die Interessen der betreffenden Bevölkerung ebenso ins Gewicht fallen müsse wie die gerechten Ansprüche der Regierung, deren Rechtstitel zur Entscheidung steht." Außerdem wurde das Reich verstümmelt, reicher Bodenschätze beraubt, Millionen von Volksgenossen wurden entrechtet, die Rheinlande der Willkür einer fremden Besatzung unterstellt (Abb. 21), die Grenzen im Osten und Westen schutzlos gemacht, ja ll,8°/0 der Gesamtfläche mit 14,2 Millionen Deutschen (23,3°/0) entmilitarisiert.

Auch der kontinentale Weg zum Welthandel war vernichtet. Der Weg nach Konstantinopel führt jetzt großenteils durch vor kurzem noch feindlich gesinnte Staaten. Die mit deutschem Geld und deutschem Unter­ nehmungsgeist erbauten anatolischen Bahnen (Abb. 41) hat man uns genommen.

Doch nicht nur die Weltverkehrslinien wollte man uns unterbinden, uns aus dem freien Weltverkehr und kaufmännischen Wettbewerb ausschließen, nein, auch den Binnenverkehr suchte man lahmzulegen, um eine Wieder­ aufrichtung deutscher Wirtschaft für immer unmöglich zu machen. Diesem Zwecke diente die verlangte Ablieferung von 150000 Eisenbahnwagen und 5000 Lokomotiven, die ein trauriges Verkehrselend bedingten und wie die land­ wirtschaftlichen Maschinen vielfach zu Alteisen geworden sind.

Auch die Binnenschiffahrt wurde durch den Versailler Vertrag aufs tiefste erschüttert. Über unsere Ströme Memel, Oder, Elbe, Rhein, Donau und den Nordvstseekanal gebieten internationale Ausschüsse. Wir haben auf unseren Flüssen weniger oder nicht mehr Rechte als die Chinesen auf den ihrigen. Auf Rhein, Elbe und Oder schwimmen französische Kriegsschiffe, auf dem deutschen Rheine, der größten deutschen Schiffahrtsstraße, weht nun die französische Flagge und in der Rheinkommission führt Frankreich den Vorsitz, während wir

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nur den 5. Teil der Stimmen besitzen. Die meisten deutschen Rheinschiffe, Hafen­ anlagen und Wasserrechte mußten Frankreich übereignet werden. Dieses unterband oder hemmte mit Belgien bis 1925 die deutsche Rheinschiffahrt und besetzte den wichtigen Hafen Kehl. Beide verlangten von uns fortgesetzt neuen Schiffsraum, zwangen die deutschen Gesellschaften zu verlustreichen Leistungen und schufen sich selbst eine große Rheinflotte auf Kosten der deutschen Rheinschiffahrt. Frankreich macht nun den Straßburger Hafen zu einem der größten Binnenhäfen. Franzosen und Belgier haben sich namentlich 1918—25 gegen den von ihnen selbst

Simm er, Grundzü§e der Geopolitik.

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verkündeten Grundsatz der Freiheit der Rheinschifsahrt vergangen, die durch die im „Friedensvertrag" sanktionierte Mannheimer Rheinschiffahrtsakte von 1868 völker­ rechtlich garantiert ist. Die Internationalisierung des Rheins steht daher im Widerspruch zu diesen Schiffahrtsakten. Ja, Frankreich will den Rhein wie die hohe See sogar als staatenlos behandelt sehen!

Me die Rhein-, so wurde auch die Elbschiffahrt internationalisiert und den Tschechen muß in Hamburg und Stettin ein Umschlagplatz, eine Freizone auf 99 Jahre, eventuell mit Souveränitätsrechten, eingeräumt werden. Die Tschechen verlangen sogar eigene Kai-Anlagen in Kosel an der Oder, wo die Schiffahrt praktisch beginnt. So wurden ihnen auf Kosten des Deutschen Reiches die Wege zur Nord- und Ostsee freigemacht, so daß sie nunmehr einen freien Zugang zum Meere haben. Zur Hebung ihres Überseehandels erhielt die Tschecho-Slowakei auch gleich einen Gmndstock zur künftigen Handelsflotte in Gestalt von 48 Elb- und 12 Ozeandampfern, die das Deutsche Reich an sie übereignen mußte.

Danzig mit Gebiet ist nunmehr Freistaat und die dort mündende Weichsel als Schiffahrtsweg den Polen überlassen worden. Auch über die Schiff­ fahrt auf Donau und Oder, ja sogar über unsere Häfen wachen internationale Kommissionen, da nach Teil 12 des Versailler Vertrages auch diese beiden Flüsse zu internationalen Verkehrsstraßen erklärt sind. Man hat sogar den Inn internationalisieren wollen! So wurden wir der freien Verfügung über unsere Wasserstraßen und auch der über unsere Eisenbahnen beraubt. Der Friedensvertrag von Versailles knebelt uns auch auf dem Gebiete der Luftschiffahrt und verbietet uns, die Erfolge unserer Wissenschaft und Technik voll und ganz auszubauen. Im Mai 1926 hat Deutschland bloß die Gleichberechtigung für die Entwicklung seiner zivilen Luftfahrt erhalten. Sonst darf die deutsche Industrie für sich keine Luftschiffe, keine Maschinen über eine gewisse ?8-Zahl hinaus für Flugzeuge und auch nur entsprechende Dkeselmotore bauen und Deutschland ist nach wie vor verpflichtet, dem Völkerbünde die Liste der deutschen Zivilluftschiffahrt zur Verfügung zu stellen. Und was könnten unsere Luftschiffe leisten! Das Luftschiff L59, das dem heldenhaften Lettow-Vorbeck in Ostafrika Hilfe bringen sollte, hat im No­ vember 1917 in 86V4 Stunden mit einer Nutzlast von. 13900 1 6620 km zurück­ gelegt, die der Entfernung Hamburg—New Aork entsprechen. Da das Schiff noch Betriebsstoff für eine doppelt so lange Fahrt heimbrachte, ist damit erwiesen, daß wir Reisen über ganze Kontinente hätten machen können (S. 77 f.). Die stolzen deutschen Luftschiffe (16) und Flugzeuge (18300) mit den dazu gehörigen Instrumenten mußten bis auf 60 zum Minensuchen bestimmte Seeflugzeuae von uns selbst vernichtet oder ausgeliefert werden. So brachten 1924 Deutsche selbst den letzten Zeppelin, den wir abliefern mußten, in großartigem Flug über den Ozean. Dabei hätte Z. R. III zu den 8000 km, die er zurückgelegt hat, noch 2000 km fliegen können. Mit dem für eine spanische Gesellschaft zu erbauenden L. Z. 127 will man wiederholt in beiden Richtungen den Atlantik überfliegen und in 12% Tagen einen Flug runtz um die Welt unternehmen.

d) Unsere drückende Lage. Der Versailler „Friede", der in der Geschichte kein Beispiel hat, be­ zweckte unsere Vernichtung. Während Frankreich, das unter Napoleon I.

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ganz Eurpoa ausgepreßt hatte, 1814/15 vollkommen geschont und 1871 von Bismarck mit einem überaus milden Frieden bedacht worden war, zielt es heute durch seinen Frieden auf unser Herz. Da wir keine allgemeine Wehrpflicht mehr besitzen, sind wir in militärischer und politischer Hinsicht und in den Augen der Welt auch keine Nation, kein richtiger Staat mehr. Während ringsum alles bis aus die Zähne bewaffnet ist, sind wir vollkommen Waffen- und wehrlos. Dabei stehen die 63 Millionen Deutschen nicht hinter den Engländern in der ganzen Welt zurück. Dazu sitzt der Kriegsfeind noch immer am Rhein, den er nur unter lebens­ beengenden Bedingungen für uns verlassen will. Die Verkleinerung des Reichsgebietes mit der Errichtung unmöglicher, ganz offener Grenzen, die vollkommene Abrüstung, die Fernhaltung Öster­ reichs, die Aufrichtung eines Blockes von Oststaaten als Rückenbedrohung, die Besetzung des Rhein- und Saarlandes und die Errichtung einer neutralen Zone, unerfüllbare Schadenersatzforderungen, kurz alle Bestimmungen von Versailles liefen und laufen darauf hinaus, Deutschland zu verkrüppeln und schließlich politisch, wirtschaftlich und völkisch zugrunde zu richten. Wir sind nun nicht nur weltpolitisch tot, sondern kämpfen auch wirt­ schaftlich einen schweren, wenn nicht einen Berzweiflungskampf.

Man hat uns alles genommen, den größten Teil unserer Erzlager, die Kriegs­ und Handelsflotte, die Kolonien, so daß unsere Industrie auf die mageren Rohstoff­ quellen unseres verengten Heimatbodens angewiesen ist, Kundennsten, Patente, 12 Milliarden Mark Auslandskapital, die Möglichkeit billiger Rohstoffversorgung, Roh­ stoffe und andere riesige Werte in den abgetretenen Gebieten. Der Friedensvertrag, der uns wirtschaftlich versklavt und finanziell in ewiger Schuldknechtschaft hält, sucht uns, wenn auch vergeblich, auszuschließen von der freien Weltwirtschaft. Um die deutsche Konkurrenz zu erdrosseln verlangten ja die Feinoe von uns die Zerstörung des auf Milliarden Goldmark gewerteten wirtschaftlichen Rüstzeuges (bei Krupp allein mußten für 150 Millionen M. Maschinen planmäßig vernichtet werden und bei 4% der geschädigten Fabriken betrug der Schaden fast 3 Milliarden). Was die Wirtschaft heute erarbeitet, gibt sie in überspannten Zinssätzen wieder ans Ausland. Für die 2 Millionen Arbeitslosen im Sommer 1926 mußten fast anderthalb MMarden Mark aufgewendet werden. Französische Großkapitalisten, Macht­ politiker und Großindustrielle wollen in ihrer Verblendung unsere politische und wirtschaftliche Vernichtung, wollen den Hungertod von Millionen Deutscher — sagte doch Clemenceau, es gäbe 20 Millionen Deutsche zu vieh die entweder für Frankrerch arbeiten oder verhungern sollen. England und die Union wollen uns zwar am Leben lassen, aber nur so weit, daß wir ihnen nicht schaden, daß wir jedoch als arbeitspslichtiges Volk für ihr Großkapital und die Finanzierung der Schuld, die Frank­ reich und die anderen Schuldner ihnen zu zahlenhaben, und für die von Amerika geliehenen Kapitalien arbeiten. Amerika hat eben bei seinem Kampf um Absatzgebiete auch ein gewisses Interesse an der Niederhaltung der deutschen Industrie, wenn auch manche dortigen Kreise, die Farmer und Baumwollpflanzer, wiederum ein lebhaftes und wachsendes Interesse an der Wiederbelebung des gesamten europäischen Marktes haben. Gewisse Kreise in England und Frankreich würden zu ihrem Besten die deutsche Industrie am liebsten vernichten, weshalb ihr im Dawesplan unmenschliche Lasten auferlegt wurden. Sie möchten Deutschland zur statt-

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Geopolitische Fragen. I Deutschland als Weltmacht.

zösisch-britischen Empfangs- oder Jndustriekolonie herabdrücken, wobei sisie sich mit den Absichten Amerikas begegnen.

Trvtzdent soll das arme Deutschland, dessen reines Bolksvermögenn zum Teil durch die Inflation und Valutanot von 320, nach anderen 190 auuf 150 oder kaum mehr als 80 Milliarden gesunken ist, nach dem Londoner Zah­ lungsplan (1921) 132 Milliarden Goldmark, nach dem Dawesplan Gemerationen weiter bezahlen, nachdem die letzten Lasten aus der Franzzosenzeit 1806—13 erst 1871 aus der französischen Kriegsentschädigung abgenonnmen werden konnten. Ursprünglich verlangte man 226, ja Lloyd George i schlug sogar 500 Milliarden vor, obwohl der in Frankreich angerichtete Schladen höchstens auf 7—10 Milliarden geschätzt werden kann und von Framzosen selbst nur mit 15 bis 24 Milliarden angegeben wird. Dabei durfte uns nach dem Waffenstillstands- oder Vorfriedensoertrag vom 5>. Nov. 1918 gar keine Kriegsschuldenzahlung auferlegt werden. Die sogenannte Wieder­ gutmachung des Versailler Vertrages bezieht sich daher lediglich auf die Wiederher­ stellung des zerstörten Kriegsgebietes. Darauf hatten die Kriegsgeschädigten siogleich nicht weniger als 186 Milliarden Goldmark verlangt!

Wir mußten 1919/24 alljährlich Milliarden für die Besatzungstrmppen und überwachenden Ententekommissionen aufbringen, mußten die ver­ schiedensten Gegenstände, vom Fischlaich über Vieh, Rohstoffe und Waren (landwirtschaftliche Maschinen) bis zu ganzen Fabriken liefern.

Dabei erstickte Belgien zeitweise in deutschen Koblen, mußte Serbien aus Platz­ mangel die gelieferten Milchkühe abschlachten und.das Fleisch nach Italien verschleudern, das selbst von den gelieferten 29000 Ochsen und 8000 Pferden 12000 Stück einfach nicht an den Mann bringen konnte. 2% Jahre (1923—25) hausten Franzosen und Belgier im Ruhrgebiet, in das sie unter nichtigstem Borwand am 11. Januar 1923 eingebrochen waren, in einer Weise, die jeder Beschreibung spottet. Deutsches Blut färbte die rheinische Erde, über 75000 Deutsche wurden von Haus und Hof vertrieben, mehr als 700 Jahre Gefängnis verhängt, dem ganzen Lande ein unermeß­ licher Schaden zugefügt, für den kein Ersatz geleistet wurde. Hunderttausende wollte man zwingen, unter fremdem Befehl und für fremde Interessen zu arbeiten. Schon glaubte man in Frankreich der wirtschaftlichen Vernichtung und politischen Zertrümmerung Deutschlands nahe zu sein; aber das wichtige politische Ziel, die Abtrennung des linken Rheinufers wurde doch nicht erreicht. Um uns womöglich in eine Politik der Selbstzerstömng hineinzutreiben mußte Deutschland entgegen dem Versailler Frieden alsbald statt einer monatlich 2 Mil­ lionen t Kohlen abliefern, gleichviel, ob die Industrie verblutete, Arbeitslosigkeit und Hungersnot entstand. Infolge des beispiellosen Schieber- und Schmuggelhandels und durch die Aisfuhr der notwendigsten und die Einfuhr zum Teil entbehrlicher Güter (1919 für rund 8 Mil­ liarden M. Zigaretten und Schokolade) herrschte nun eine riesenhafte Teuerung, die Unterernährung, ja Verarmung weiter Kreise im Gefolge hatte. Mit dem Ruhreinbruch der Franzosen und dem passiven Widerstand nachte sodann die Inflation weitere Fortschritte; krasser Materialismus nachte sich breit, das internationale Kapital, ausländisches und inländisches Schirber-

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tum veranstalteten 1919—24 einen Ausverkauf Deutschlands, bis dieses durch die sogenannten Aufwertungsgesetze schließlich den größten Bankerott der Welt machte. Wir haben in der Inflation 25 Milliarden an Werten und dazu 5 Milliarden an Betriebskapital ausgeführt, worauf die eigentliche Ursache unserer Kreditnot zurückzuführen ist, nicht aber auf den verlorenen Krieg. Mn ist der in Generationen erworbene Wohlstand dahin und eine vollkommene, nicht vorteilhafte Umschichtung der Vermögen eingetreten. „Die deutsche Rasse wird vernichtet, im Jahre 1940 körperlich ganz degeneriert fein", triumphierten Engländer, „weit Deutschland Weltmacht werden wollte!" Schon die britische Hungerblockade, die durch die Schuld der Revolution auch nach dem November 1919 noch andauerte, hatte auf die deutsche Bevölkemng verheerend eingewirkt. Durch die Abtretung landwirtschaftlich wertvoller Überschußgebiete, durch die Verminderung der Anbaufläche, Erntemenge (1919: 8,5 Millionen t Brot­ getreide gegen 22,5 Millionen t im Jahre 1913) und der Kaufkraft der Bevölkerung hatte sich außerdem die Sterblichkeit erschütternd vermehrt (mit 1,6 Millionen toten Soldaten 1914 bis 1. Juli 1920 rund 7 Millionen Bevölkerungsverlust). Durch die Inflation und den Staatsbankerott sind Millionen vollkommen verarmt, die einst zum Teil große Vermögen besaßen, und viele verhungert oder an Unterernähmng gestorben. Und täglich hält der Tod reiche Ernte unter den Arbeitslosen (besonders durch Tuberkulose) und Verarmten (zahlreiche Selbstmorde, Unterernährung). Jahrelang standen bis 20000 farbige Franzosen am Rhein und verübten ungestraft die größten Greueltaten; aber auch weiße Franzosen (Rheinlandkommission) drang­ salieren noch immer Bewohner im besetzten Gebiete.

Wohl hat der Dawesplan 1924 der Willkür, womit man Deutschland

behandeln zu können glaubte, ein Ende bereitet. Aber dadurch sind wir der Vasallenstaat, die Kolonie einer internationalen, hauptsächlich amerikanischen privaten Bankiersgruppe (besonders Morgans) geworden, welche nun die Eintreibung der deutschen Tribute besorgt.

Das Dawesgutachten wurde also nicht ersonnen, um uns zu helfen, sondern um die deutsche Wirtschaft im Rahmen des deutschen Raumes aus der deutschen Hand in die ihrige zu bekommen. Es besteht ja auch der berüchtigte Artikel 231 des Versailler Diktats weiter, wonach Deutschland mit allen Vermögenswerten und Ein­ nahmequellen des Reiches und der Bundesstaaten an erster Stelle für die Bezahlung Deutschland wird nun durch einen fremden Kommissar verwaltet, den Generalagenten für die Reparationen, in dessen Hand die Finanzund Verkehrshoheit und das Gesetzgebungsrecht in letzter Instanz vereinigt sind. Reichsbank und Reichsbahn sind der Aufsicht des Reiches entzogen.

Der Generalagent kontrolliert die verpfändeten Zölle und Steuern, die Reichs­ bank, die Währung, die Industrie, die Eisenbahn, den Handel, die Gehaltspolitik und Erwerbslosenfürsorge und kann sogar neue Sanktionen anwenden. Durch den Dawes­ plan mußten wir auf unsere wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit ver­ zichten. Das ganze deutsche Wirtschaftsleben steht nun unter Zwangsherrschaft. Stabilisierung der Währung, Gleichgewicht des Haushaltes und aktive Handelsbilanz schrieb uns der Dawesplan vor, um Reparationen leisten zu können. Infolge der in Amerika beschafften Kredite von mehr als 10 Milliarden M., die wir doch nur durch vermehrte Ausfuhr wieder begleichen können (1926 schon über 300 Mill. M. Zinsen), find wir wirtschaftlich eine amerikanische Finanzkolonie geworden. Daher sagte

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Churchill, daß Deutschland bald der einzige Schuldenzahler sei, und der Amerikaner Wellack bemerkte, daß Amerika mit der finanziellen Eroberung Deutschlands die größten außenpolitischen Erfolge seit Washingtons Tod erreicht habe. Das arme Deutschland soll nach dem Dawes-Zahlungsplan von 1924 vom 1. September 1928 an jährlich rund 2,5 Milliarden Mark, d. i. über x/4 der gesamten Reichsausgaben und auf den Kopf rund 40 M., bezahlen, während das reiche England mit seinen kolonialen Goldgruben, seiner gewÄtigen Handels­ flotte, nur mit größter Mühe 600 Millionen jährlich an Amerika zurückerstatten kann und die anderen „Siegerstaaten" bis jetzt überhaupt noch nichts oder nur sehr wenig zurückbezahlt haben! Ihnen allen hat Amerika im ganzen fast 70 Milliarden M. geschenkt, während wir immer weiter zahlen müssen. Bis Ende 1927 betrugen unsere direkten anrechnungsfähigen Leistungen ohne den Wert der verlorenen Länder schon 68,7 Milliarden Goldmark (nach amerikanischer Schätzung rund 48, nach französischer nur 28), wobei das liquidierte deutsche Eigentum im Ausland von uns nur auf 12 Milliarden angesetzt ist. Mit den indirekten Leistungen ist die Reparationsschuld von 132 Milliarden schon längst getilgt (Abb. 21).

Der Erlös der Liquidationen, der überall absichtlich sehr niedrig angegeben (in Frankreich und Elsaß-Lothringen will man für über 4,5 Milliarden Goldmark deutsches Friedenseigentum nur 300 Millionen gelöst haben), in den meisten Ländern wohl auch großenteils durch die „Verwaltungskosten" aufgezehrt wurde, wurde bisher nur in ganz lächerlichen Beträgen auf das Reparationskonto gutgeschrieben. So in Frankreich bis zum 31. März 1926 nur 13 Millionen Goldmark, in Italien gar nur 2 von 235 Mil­ lionen Friedenswert, nur von England 730 Millionen. Neuerdings (1927) hat eine internationale Schiedskommission entschieden, daß der Reparationsfonds des Dawesplanes die Lasten der deutschen Liquidationsschäden nicht zu tragen habe! Man will uns also das liquidierte Eigentum nicht anrechnen. Nachdem die Franzosen selbst ihren ganzen Schaden auf 24 Milliarden angesetzt haben, ist es doch nach unseren bisherigen Leistungen widersinnig, daß wir noch weiterhin, in Ewigkeit, Wiedergumachung bezahlen sollen. Sogar Mussolini hatte eine Festlegung auf etwa 40—50 Milliarden ver­ langt, die wir nun schon längst bezahlt hätten. Nach der Meinung des Auslandes sollen wir wenigstens noch 62 Jahre die Daweszahlungen leisten; allgemein aber regen sich Stimmen, die schon im Interesse der Kultur für eine baldigste Festlegung der deutschen Zahlungen eintreten. (Noch 20—35 Milliarden.) In den drei ersten Dawesjahren hat Deutschland 3420 Millionen Goldmark bezahlt (700 in fremder Währung, 1100 in Sachlieferungen, also 1800 Millionen M. Kapitalentzug). Das vierte Dawesjahr kostet uns 1750 Millionen, sodann sind (nun­ mehr ermäßigt) immer 2395,8 Millionen, d. i. täglich 7 Millionen M., zu bezahlen, d. i. das gesamte deutsche Einkommensteuerauskommen, das Kernstück der Reichsein­ nahmen. Belgien hat von uns bereits über 2 Milliarden, Frankreich über 1300, 1926/27 505,2 Mill., d. i. 42% des deutschen Tributs erhalten, und soll nunmehr 54% bekommen. Von den 1220 Millionen 1925/26 wurden 35%, von den 1200 (1465) Mill. 1926/27 sogar 57% im Interesse der fremden Industrie bar transferiert (besonders an England). Da die Reparationskohlen billiger geliefert werden, muß das Reich noch ganz oder großenteils die Differenz tragen (täglich ya Mill. M). Beiträge zu den Daweszahlungen liefert der Reichshaushalt (von 1928 ab %), die Reichsbahngesellschaft, welche Verkehrssteuern (Vs) und Zinsen ihrer 11 Mil-

6. Zusammenbruch.

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Barben Reparationsschuldverschreibungen (über y4) entrichten muß (1927/28 zusammen 950 Mill.), sowie die Industrie, welche die ihr auferlegte 5 Milliardenschuld (y8) zu verzinsen hat (im letzten Jahr 250 und im 4. Jahr 300 Millionen). Unsere Regierung machte Frankreich den Vorschlag für beschleunigte früh­ zeitige Räumung der besetzten Gebiete eine teilweise oder ganze Begebung der Eisenbahnobligationen zugunsten Frankreichs vorzunehmen, obwohl dadurch eine Revision des Dawesplanes erschwert würde. Der Wert der Reichsbahn ist nämlich im Dawesplan mit 26 Milliarden veranschlagt; diese setzen sich zusammen aus 13 Milliarden Stamm-, 2 Milliarden Vorzugsaktien und 11 Milliarden Schuldverschreibungen oder Obligationen. Die Stammaktien befinden sich im unveräußerlichen Besitz der Reichsbahn, die 2 Mlliar­ den Vorzugsaktien sollten im Falle eines Verkaufs zu V4 dem Reich, zu % der Reichs­ bahn zugute kommen, die den Erlös erforderlichenfalls für ihre Zwecke verwenden dürfte. Sie kommen für „Reparationszwecke" unter keinen Umständen in Frage. Eisenbahnobligationen dagegen sind von vornherein für „Reparations­ leistungen bestimmt"; sie sind in voller Höhe von 11 Milliarden dem Treuhänder ausgeliefert worden, sind also im Besitz und Eigentum der „Gläubiger". Die Zinsund Tilgungsbeträge (5% + 1% vom 4. Jahr ab) werden laut Dawesplan von der Reichsbahn aufgebraucht und als Reparationen in Höhe von 660 Mllionen Mark bezahlt. Diese Papiere stellen also eine Schuld von Staat zu Staat dar, was sich erst Lnoern würde im Falle eines Verkaufes, worauf dann Privatgläubiger an die Stelle von Staaten treten würden. Eine Mehrleistung ist durch Änderung der Besitzverhält­ nisse für Deutschland ausgeschlossen, zumal den Obligationen auch dann der Schutz des Transfers erhalten bliebe. Dieser verleiht dem Generalagenten die Aufgabe, Zinszahlungen zu verhindern, falls durch solche die deutsche Währung gefährdet würde. Der Umfang des früher so großen Absatzmarktes in Rußland ist jetzt fast bedeutungslos, das private Kapital ist begrenzt, der Lebensraum viel zu eng, die heimische Rohstoffbasis erheblich verschmälert, die Kosten der Lebenshaltung und der Rohstoffpreise hoch, die Konkurrenz riesengroß, die deutschen Grenzen sind von Zollschranken umgeben, ja die ganze Weltwirtschaft ist krank, besonders ist die Kaufkraft vermindert. Daher sind die Ausfuhraussichten, namentlich in den wichtigsten Industriezweigen wesentlich ungünstiger als vor dem Kriege. Dazu haben wir auch das raumwirtschaftliche Denken ver­ loren und uns von den internationalen Wirtschaftsgedanken anziehen lassen, so daß wir nun unsere Wirtschaft zu internationalisieren suchen und an die Illusion einer international geregelten Arbeitsteilung glauben. Durch die Revolution und Inflation hat sich obendrein die deutsche Volks- und Staatswirtschaft übermäßig entwickelt. Die Ausgaben und damit der Steuerdruck sind daher viel zu hoch. 1927 mußten z. B. an (Steuern und sozialen Lasten 18 Milliarden (gegen 6 im viel größeren und reichen Friedensstaat) aufgebracht werden. Die Industrie lieferte schon 1925 vielfach bis 63% ihres steuerbaren Ein­ kommens und 5,5 % ihres Kapitals an den Steuerfiskus ab, d. i. bis 11 mal so viel Steuer als 1913. Industrie und Landwirtschaft müssen dazu Riesensummen zur Verzinsung ihrer Anleihen aufbringen (Verschuldung der Landwirtschaft 1926 bereits 10 Milliarden). Unser Kapital, das wir noch gerettet und wieder angesammelt haben, ist nicht groß genug, um für die Reparationszahlungen und die aufgenommenen Kredite aufzukommen. So hat sich das Gesamtbetriebsvermögen der auf­ bringungspflichtigen Wirtschaft von 1924/27 um 18l/2°/0 auf 41 Milliarden Mark vermindert.

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Unsere jährlichen Verbindlichkeiten an das Ausland betragen mit dem Einfuhr­ überschuß 1927 nicht weniger als 5 Milliarden, die ihr Gegengewicht hauptsächlich in den Anleihen finden. Dazu kommen noch die Daweslasten, die Zinsen für die Schulden der Landwirtschaft und die Aufwertungsverpslichtungen, zusammen 4 y2 Milliarden, d. i. mehr als das Doppelte der Borkriegszinsen. Insgesamt werden also dem Reiche alljährlich 9y> oder mindestens 7ys Milliarden M. entzogen.

Das Gleichgewicht im Staatshaushalt, die Stabilität der Valuta, die Er­ füllung des Dawesplanes und der anderen Verbindlichkeiten sowie das Aufblühen der Wirtschaft, alles war bisher nur mit Hilfe der auslän­ dischen Kredite möglich. Mit neuen Schulden haben wir alte bezahlt. Auch den Rest der Kredite haben wir mehr für Berbrauchszwecke als für die Erzeugung verwendet. Was dann, wenn wir für Anleihen keine Sicherheiten mehr bieten können? Unter solchen Bedingungen haben wir also den unbegrenzten Tribut­ forderungen der Kriegsfeinde nachzukommen. Deutschland kann aber diesen Tribut nur durch den Überschußwert seiner Ausfuhr über die Einfuhr, und zwar nur mit Fertigfabrikaten bezahlen; dabei soll die Industrie mehr als zweimal so viel Wa­ -15 ren exportieren wie 1913/14 und 1927 (von Einfuhr -1h 6,7 Milliard.) oder drei­ -13 mal so viel wie 1925 -12 (Abb. 22). Lebende Tiere Ausfuhr -11 Anderseits unterbindet man ihr die Konkurrenz-10 Lebensmittel möglichkeit, verwehrt den Getränke -9 deutschen Waren mit allen Mitteln die Aufnahme und % -8 sucht ihnen auch die neu­ 7 tralen und kolonialen Märk­ te streitig zu machen. Oder 6 Rohstoffe u. werden die „Gläubiger" ge­ Hatbf Waren -5 statten, daß wir die Arbeitszeit verlängem und die Ko­ h X sten der Erzeugung gewal­ 3 tig verringern, um die Welt 2 mit Waren überschwemmen 1 zu können, dadurch aber Fertigwaren 1 ihre Industrie zu minieren Golda Silber jj|g_ •0 oder wenigstens um den 1913 1925 1927 1913 1925 1927 ganzen Profit zu bringen und die internationale Ar­ beitslosigkeit katastrophal anschwellen zu lassen? ü

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MbV. 22. Der keusche Außenhandel 1913/27. Einfuhr 1913: 11,2 Milliarden Ml. „ 1927: 10,0 „ (Borkriegswert) Ausfuhr 1913:10,2 " ( .. ) „ 1927: 7,0

Wenn sie das nicht wollen und wenn sie die deutschen Waren, in die sich jede Zahlung

7. Zukunftsmöglichkeiten.

137

letztlich umsetzt, nicht mehr entgegennehmen wollen, müßten sie in eine Revision des Dawesplanes willigen oder ganz auf Reparationen ver­ zichten, sofern sie nicht ein verarmtes, unstetes und zerrissenes Deutschland, aber auch ein friedenloses Europa wünschen sollten. Der Dawesplan wird daher niemals durch „Erfüllung" in die Tat umgesetzt werden können. Er würde nur weitere Sanktionen im Gefolge haben. Auf jeden Fall wird das deutsche Volk in seinem Schatten auch bei größtem Fleiße verkümmern.

7. Zukunftsmöglichkeiten. a) Aussichten

einer

Wiederausrichtung. Geopolitische Förderungen.

Hemmnisse

und

Die Entente wacht darüber, daß der Versailler Friede von uns gehalten wird, beansprucht aber für sich das Recht, ihn nach Gutdünken zu halten oder zu verletzen. In Locarno (1925) erkannten wir (nach Briand) nochmals den Versailler Frieden an, damit auch die „Kriegsschuld" Deutschlands, an­ erkannten die Aufrechterhaltung des territorialen status quo an der französischund belgisch-deutschen Grenze, also den Verlust deutschen Gebietes, und die Beobachtung der Entmilitarisierung derRheinlandzone. Wir billigten Frankreich sogar zu, daß es „Anspruch aus erhöhte Sicherheit" habe, da.alle Besetzungen und Gewaltmaßnahmen damit begründet würden, und erllärten bisher in der Hoffnung auf Gegenleistungen unsere B e r e it w ill i g k e i t, alle Fo r d e r un g e n der Kriegsgegner zu erfüllen.

Um die Interalliierte Militärkommission, die entgegen den Bestimmungen des Friedens nicht zum Abzug zu bewegen war, los zu werden, willigten wir 1927 in die weitere Schleifung und Zerstömng von Festungsanlagen im Osten, wodurch wir nun Poleneinsällen fast wehrlos gegenüberstehen, zumal die ungenügenden Festungen nicht weiter ausgebaut werden dürfen. Außerdem wurde Deutschland 1927 ein drücken­ des Kriegsmaterialgesetz auferlegt, wonach u. a. die Ein- und Ausfuhr und der Handel mit jeglichem Kriegsmaterial verboten, dessen Herstellung nur auf den aller­ notwendigsten Bedarf der Reichswehr beschränkt und die Aufstapelung ganz unter­ sagt wurde. Dabei werden zum sogenannten Kriegsgerät Halbfabrikate gerechnet, welche dazu Verwendung finden „könnten"; in Wirklichkeit will man dadurch die wichtigstey deutschen Industriezweige lahmlegen, um die unbequeme Konkurrenz im Welt­ handel ausgeschaltet zu sehen. Von Seite unserer ehemaligen Gegner erhielten wir dafür die Bescheinigung, uns nun restlos entwaffnet zu haben. England und Frankreich betrachten eben, getreu ihrer dreihundertjährigen Auslandspolitik, Deutschlands politische Spaltung und Machtlosigkeit als die alleinseligmachende Weltordnung, wollen daher nicht dulden, daß je wider ein selbständiges, starkes Deutschland im Herzen Europas erstehe. Schon im Namen des „europäischen Gleichgewichts" muß das verhindert werden! Mein wegen unserer geographischen Lage werden uns diese zwei Mächte aus stetem Willen nie erstarken, auf keinen Fall aber wieder Welt­ macht werden lassen. England nimmt sogar ein. mächtiges Frankreich mit in den Kauf, wenn nur Deutschland nicht mehr hochkommt, da es durch Frankreich nicht in seiner Weltpolitik gestört wird, wenn sich dieses in Europa verausgibt.

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Leider ist der Sturz aus stolzer Höhe zu groß, der Zusammenbruch zu riesen­ haft, die Masse des Volkes zu gleichgültig, sind die politischen Ansichten zu verworren, als daß ein Aufstieg zu alter Größe wahrscheinlich erscheint. Schon unsere innerpolitischen Gegensätze sind so scharf, daß sie einen Wieder­ aufstieg ungemein erschweren. Ein Volk, das vielfach seinen Nationalstolz eingebüßt hat, das es fertig bringt, sich selbst, namentlich während der Revolutionszeit, zu entmannen, eigenhändig seine Waffen und Festungen zu zerstören, kann doch kaum Anspruch darauf machen, wieder eine bedeutende wirtschaftliche und politische Stellung in der Welt einzunehmen! Wir sind das einzige Volk auf der Welt ohne einheitlichen Lebens­ willen, ein Volk, das nicht einmal seinen Lebensraum festhalten will (Elsaß-Lothringen!), ein Volk ohne Freiheitswillen, ein Volk, das sich anscheinend schon apathisch mit seinem SchicksÄ abgefunden hat, ja seine Knechtung durchs Ausland gar nicht fühlt, ein Volk ohne Machtwillen, aber mit dem pazifistischen Ruf, ähnlich dem der karthagischen Friedenspartei: „Nie wieder Krieg! Friede um jeden Preis, die Feinde werden uns nicht untergehen lassen!" Mr sind ein Volk mit der ganz verkehrten Parole: die Mrtschaft, nicht die „Politik, kann uns retten", während ringsum alles aüf unseren Tod lauert und schon die Politik unser Schicksal fast nicht mehr bestimmen kann, ein Volk ohne nationale Idee, ohne Ziel, ohne Nationalismus, während ringsum in ollen Ländern alle Parteien streng nationalistisch eingestellt sind. Dazu kommen noch die meisten anderen geographischen Hemmnisse, wie sie schon früher bestanden haben (auch Helgoland hat seinen Wert verloren). Außerdem wollen wir nicht vergessen, daß der Wiederaufbau unseres Wirtschaftslebens fast ausschließ­ lich vom fremden Willen, daß nämlich die Industrie, zumal bei der Ver­ schmälerung des Raumes und der Rohstoffbasis, von der Rohstoffeinfuhr aus den fremden Ländern, also von des Auslands Gnaden abhängt. Bestehen nun keine Möglichkeiten und Aussichten, unsere alte Größe wieder zu erlangen? Vielfach sind noch die alten Förderungen (S. 96) und geographischen und ideellen Grundlagen vorhanden. Es gibt noch viele Deutsche, welche wirklich national denken und fühlen und von einem einheitlichen Lebens-, Freiheits- und Kraftwillen erfüllt sind. Überall zeigt sich auch das eifrige Bestreben, unsere Industrie, unseren Handel wieder auf den Weltmarkt einzustellen, überhaupt unsere Wirtschaft mit dem alten Vorkriegsmut, mit kühnem Unternehmungsgeist und llugem Pfadfinder­ sinn wieder in die Höhe zu bringen. Daher nahm schon am 1. Januar 1924 unsere Handelsflotte wieder den 6. — heute mit 3,3 Mill. R.-T. bereits den 4. Platz — in der Welt ein (außerdem liegen schon wieder 500000 R.-T. auf Stapel), nachdem wir 1918 von der 2. auf die 14. Stelle herabgesunken waren. Deutschland ist das einzige Land, das eine starke Verlleinerung seiner Handelsflotte gegenüber früher erfahren hat, was auch im Interesse der deutschen Zahlungsbilanz sehr zu bedauern ist (Tab. 23). Viele Staaten weisen eine starke Ver­ größerung auf, namentlich die Union, die 1923 sogar noch 12 ys Mill. Br.-R.-T. besaß.

Der Wiederaufbau der Handelsflotte ist eine der gewaltigsten Groß­ taten Deutschlands nach dem Kriege und beweist eine zukunftsvolle Lebens­ energie, zeigt aber auch, wie sehr Deutschland mit der See verwachsen war.

7. Zukunftsmöglichkeiten.

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Abb. 23. Handelsflotten 1926 in Mill. Brutto-Reg. T. (ä 2,83 cbm).

In kurzer Zeit wurde die verlorengegangene Stellung im Weltverkehr fast ganz wieder zurückerobert.

In gesunder gegenseitiger Zusammenarbeit wuchsen unsere Linienredereien langsam wieder in den Ring der Weltwirtschaft hinein. Sehr wichtig ist die Qualität dieser neuen Nachkriegsflotte (16,5% der Welttonnage ist unter 5 Jahre alt). 1921 beförderte der Nordd. Llovd 2004, 1926 115656 Passagiere. Trotz dieser Bemühungen gehören aber immer noch 66°/0 der den unteren Elbestrom befahrenden Schiffe dem Auslande an, da es den Engländern ge­ lungen war, den deutschen Außenhandel fast restlos zu vernichten. Aber die Scheinflotte ist schon wieder zu 41% deutsch und nur mehr zu 17% franz.-belg.

Erstaunliches haben wir im Flugwesen geleistet. Obwohl oder gerade weil wir aller Flugzeuge beraubt wurden, nehmen wir zur größten Enttäuschung der Kriegsgegner heute hierin den 1. Platz in der Welt ein. Mit der allmählichen Milderung des Einreiseverbotes begann wieder ein langsamer Aufbau der deutschen Überseeinteressen.

Alle Vorkriegsbesitze waren in fremden Händen und so galt es, unter drückenden Bedingungen überall von vorn anzufangen. In den französischen Kolonien und Man­ datsgebieten ist für Deutsche auch jetzt noch so viel wie kein Platz, obwohl nach dem Vertrag vom August 1926 Deutsche und ihre Schiffe dort keiner Ausnahmebehandlung mehr unterworfen sein sollen. Die schönen deutschen Pflanzungen in den gesamt­ britischen Mandatsländern, besonders in Kamerun und der Südsee, sind während und nach dem Krieg vollkommen verwahrlost. Die englische Regierung versuchte schon vor Jahren die in Kamerun gelegenen zu versteigern, ohne einen Käufer dafür zu finden, da Deutsche nach den Statuten des Versailler Vertrages damals ausgeschlossen waren. Inzwischen sind fast alle alten Besitzungen in Britisch-Kamerun auf einer Versteigerung von Deutschen zurückgekauft worden. So steht zu hoffen, daß wenigstens dort der deutsche Pflanzer wieder erfolgreich arbeiten kann. Ebenso ist auch deutschen Missionsgesellschaften gestattet worden, in den englischen Kolonien und Mandatsgebieten ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen. In Deutsch­ ostafrika verlangen aber die Engländer von den Deutschen (bereits wieder über 600) ungefähr das Zehnfache des früheren Bodenpreises und beschränken den ver­ käuflichen Grund.

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Geopolitische Frager. I. Deutschland als Weltmacht.

So hat das Deutschtum in Afrika, aber auch in allen übrigen Ländern der Welt tatkräftig Fuß gefaßt, besonders in Süd- und Mittelamerika, in Japan und China (wieder deutsche Schulen), selbst in Indien (insgesamt wieder gegen 300 Deutsche) und Ceylon.

b) Die Wiederaufrichtung einer Lebensfrage. Doch das genügt nicht, wir sind gezwungen, wieder ungehindert Welt­ wirtschaft zu treiben, unsere überseeische Tätigkeit mindestens wieder im früheren Umfang aufzunehmen, wenn wir aus unserem Elend herauskommen, wenn wir nicht ein Volk von beschränkter Denkungsart werden, ja schließlich nicht trotz allem untergehen wollen. Auch ein Wiedererstarken im Innern und das des deutschen Handels in Europa würde nicht genügen, um unsere Welt­ wirtschaft wieder in die Höhe zu bringen, um uns vor dem Untergang zu be­ wahren. Dazu bedarf es des Handels mit der übrigen Welt. Glaube ja niemand, daß Deutschland, daß ein 60-Millionenvolk niemals untergehen könne, schon deshalb nicht, weil es angeblich andere Völker (Frank­ reich usw.) mit in den Strudel reißen würde. Es wird im Gegenteil ganz bestimmt untergehen, wenn es nicht den Willen hat, nicht Objekt, sondern Herr, d. h. Subjekt (der Weltpolitik) zu sein, wenn es nicht wieder wirtschaftlich und politisch Weltmacht wird, wenn es keinen Lebenswillen besitzt. Heute geht der Kampf nicht mehr um den Raum, sondern um mehr, um das Leben! Wir sehen uns also genötigt, wieder Weltwirtschaft zu treiben, wie früher, aus den gleichen geopolitischen Gründen wie damals (S. 97 f.), ja heute mehr als je! Denn der Lebensraum ist enger als 1914, die Roh­ stoffbasis geringer, der Zwang zur Auswanderung größer. Dabei werden Deutsche in manchen Ländern noch immer ungern ausgenommen und sie sollen auch nicht auswandern, um unserem Volkstum und unserem Wieder­ aufstieg, der Betätigung des Kraftwillens, erhalten jii bleiben und nicht unsere größten Konkurrenten durch ihre Intelligenz zu stärken. Welthandel und Volksernährung stehen in unverkennbarem Zusammen­ hänge. Wenn es uns daher nicht gelingt den Weltmarkt wieder ganz zurückzugewinnen, wenn wir hauptsächlich auf die Verarbeitung der konti­ nentalen Rohstoffe und den europäischen Markt angewiesen bleiben, so sind über 20 Millionen Deutsche, die heute durch die Industrie ihren Lebensunterhalt haben, ohne Lohn und Brot, sind zur Auswanderung, oder da eine solche in größerem Umfang unmöglich ist, zur Verelendung verurteilt. Unser Volk kann aber nur ernährt werden, wenn uns die ganze Welt offen steht. Denn ein großer Teil der Industrie, die 1913 für 6y. Milliarden M. fertige Waren aussührte, arbeitete für den Weltmarkt und bezog, was noch wichtiger ist, fast zwei Drittel der eingeführten Rohstoffe (6,3 Milliarden M.) aus außereuro­ päischen Gebieten (Mb. 22). Der Welthandel vermittelte die vor dem Kriege aus tunb 20 Milliarden M. gewertete Ein- und Ausfuhr. Industrie, Handel und Schiff­ fahrt haben also dem deutschen Wirtschaftsleben die weltwirtschaftlichen Formen gewonnen, sie müssen die Rückeroberung des ganzen Weltmarktes anstreben, wenn sie weiterhin zwei Drittel der Deutschen ernähren sollen. Dank der großen Tüchtigkeit des deutschen Volkes hat ja bereits ein Aufblühen oder vielleicht richtiger eine große Belebung der Wirtschaft

7. Zukunstsmöglichkeiten.

14t

stattgefunden, die das Staunen und die Bewunderung der ganzen Welt erregten, zumal wir erst seit 1924 mit den Weltmärkten wieder Fühlung nehmen konnten und die Neuorientierung der Wirtschaft äußerst große Opfer kostete. Me unterstützten Arbeitslosen sind 1927 von 2 Millionen auf 500000 zurückge­ gangen. Doch erstreckte sich die Belebung der Wirtschaft in der Hauptsache auf den Binnenmarkt, der % der auf weit über 16 Milliarden gewerteten deutschen In» dustrieprodukte aufnimmt. Mer es zeugt von einer gesunden, starken Kraft unseres Volkes, daß jetzt schon wieder die Friedenserzeugung in der Industrie erreicht worden ist. An Kohlen wurden 1927 303 Mill, t gefördert gegen 277 Mill 1913 (allerdings Steinkohlen nur 153 Mill, t gegen 190 1913, aber fast 12% der Welt- und 1/t der amerikanischen För­ derung); die Erzeugung von Roheisen betrug 13,1 Mill, t (-- 15% der Welt) gegen 10,9 1913, die von Rohstahl 16,3 (fast 17%) gegen 12,2 1913. Erstaunlich ist auch, daß unser Volk in zwei Jahren (1924/25) wieder eine bewundernswerte Weltwirt­ schaft aufgebaut hat und daß der Außenhandel 1927 fast wieder Friedenshöhe erreichte (Abb. 22), wenn auch die Ausfuhr deutscher Waren gegenüber 1925 nur um 1V« Milliarden M. und gegen 1926 kaum gesteigert werden konnte und ihren früheren Wert noch nicht erreicht hat. Aber trotzdem, welch beispiellose Leistungen! Allerdings darf man nicht übersehen, daß unsere schnelle wirtschaftliche Gesun­ dung wie die Zahlung der Reparationen nur durch die Ausländsanleihen möglich gemacht worden war, die anderseits wieder den verstärkten Import hervorgerufen haben, so daß einige sogar von einer Scheinblüte sprechen, weil es ein Leben auf geborgter Grundlage war. Auch scheint die Konjunktur, wenigstens vorläufig, bereits zum Stillstand gekommen zu sein. Die Zahl der Arbeitslosen ist wenigstens von 500000 (Oktober 1927) wieder auf 1,3 Mill. (Febr. 1928) gestiegen. Das deutsche Volk bedarf aber auch zur gedeihlichen Entwicklung seiner Volkswirtschaft und seiner Kultur, für seine Stellung in der Welt unbedingt eines seiner Zahl, seiner Bedürfnisse und seiner Leistungsfähigkeit entsprechen­ den Kolonialbesitzes, muß daher alles daran setzen, seine Kolonien wieder zu erlangen, wenn es nicht verkümmern will.

Heute gelten die Gründe, die uns seinerzeit zum Erwerb von Kolonien zwangen (S. 98 ff.), in verstärktem Maße. Wenn wir nie Kolonien besessen hätten, heute wären sie notwendig; denn wie sich unsere Ernährungslage durch den Verlust von landwirtschaftlichen Überschußgebieten verschlechtert hat, so ge­ staltet sich auch die zum Bezug von ausländischen Nahrungsmitteln erforder­ liche Ausfuhr von Jndustrieerzeugnissen schwieriger, schon deshalb, weil wir auch industrielle Rohstoffgebiete verloren haben und das infolge der rücksichtslosen Durchführung des Versailler Diktats völlig verarmte deutsche Volk nicht mehr in der Lage ist, mit seinen geringen Mitteln die für seine Wirt­ schaft benötigten Kolonialprodukte auf dem Weltmarkt zu erstehen. Nah­ rungsmittel und Rohstoffe könnten aber zu einem erheblichen Teil aus unseren Kolonien bezogen werden. Mehr als je bedeutet mithin eigener Kolonialbesitz, in welchem der Deutsche sich die notwendigen Kolonialerzeug­ nisse selbst erarbeiten kann, eine unbedingte Lebensnotwendigkeit für das deutsche Volk, deren bleibender Verlust aber erhöhte Arbeit (zur Hebung der Ausfuhr) und beschränkte Lebenshaltung (zur Verminderung der Einfuhr), während die Wiedergewinnung uns zur Autarkie, zum Wiederaufstieg verhelfen würde.

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Wir brauchen also unsere Kolonien aus ernährungs- und wirtschaftspoliti­ schen Notwendigkeiten heraus. Deshalb wurden sie uns ja auch genommen, und deshalb will man sie uns nicht mehr zurückgeben, am wenigsten unser größter wirtschaftlicher Gegner, England. Zugleich aber würden eigene koloniale Sied­ lungsgebiete heute das Ventil für unseren Bevölkerungsüberschuß bilden. Wir haben nämlich einen großen Bevölkerungsüberschuß (Arbeiter und Gebildete), weil wir kein Heer, keine entwicklungsfähigen Industriezweige und verminderten Absatz besitzen, die Wirtschaft konzentrieren und rationalisieren und durch Zusammenschnüren der Grenzen eine unerträgliche Verkleinerung des Lebensraumes (1910: 122,9 auf 1 qkm, 1925 aber 132,9), dafür aber einen mächtigen Zustrom der im Ausland und in den Grenzländern Vertriebenen (über 1 y2 Millionen) erfahren haben. Trotz des sinkenden Geburtenüberschusses (1925 kaum 80 auf 1000 Einwohner gegen 151 im Jahre 1901), besteht daher ein starkes Überangebot an Arbeitskräften (1924 33 Millionen gegen 27 im Jahre 1907; int Jahre 1941 werden es fast 50 Millionen sein), wozu auch Die allgemeine Verarmung viel beiträgt. Heute leben von 1000 qm Boden 4 Hol­ länder, 5 Belgier, 8 Franzosen, 10 Engländer und 180 Deutsche! Wir haben aber nicht zu viel Menschen, sondern zu wenig Raum. Unsere Brüder können wir jedoch nicht verhungern lassen, sondern müssen für sie ein Betätigungsfeld finden. Daher sendet Deutschland viele seiner Kinder ins Ausland, da es unter den gegen­ wärtigen Verhältnissen nicht genug exportieren kann, um die erforderlichen Lebens­ mittel für seine überschüssige Bevölkerung herbeizuschasfen und da uns die Mittel fehlen um innere Kolonisation zu treiben. Unsere Auswanderer können wir aber wiederum nicht als Böllerdünger untergehen lassen, wie einst die Mehrzahl dergermanischen Stämme zum Blutdünger für die romanischen Völler geworden sind. Als Bismarck in Frankfurt den Frieden schrieb, war er sich voll bewußt, daß er den Franzosen irgendeinen Ausweg aus dem Niederbruch gewähren müßte. Aus seinem passiven Druck ist so gewissermaßen die französische Besied­ lung Nord- und Westafrikas entstanden. Jedes Nachkriegsjahr erweist deutlicher, welchen Fehler man mit der prinzipiellen Einsperrung der Deutschen innerhalb ihrer geschmälerten Landesgrenzen gemacht hat. Uns fehlt der Ausweg. Ob wohl die Explosion wieder kommt, wie sie einst bei den eingesperrten Germanen zwangsläufig eingetreten ist? Vorläufig sickert es überall durch. Der uralte germanische Wandertrieb pulsiert voll. Die Deutschen gehen schon wieder über die ganze Erde, um zum Teil zugmnde- oder in fremdem Volkstum auf­ zugehen. Heute bewegt sich die Auswanderungszahl zwischen 60 bis 70000. Aber es kehren auch alljährlich ungefähr halb so viel Deutsche aus der Fremde wieder heim (1925: 33000 gegen 62828 Auswanderer.

Das sind fast ohne Ausnahme „Erfolglose", die nun wieder den deutschen Arbeits­ markt belasten. Und Deutschland fehlen die erforderlichen Mittel, um unter seiner Garantie geschlossene Siedlungen in der Fremde anlegen zu lassen, soweit das bei der Größe des eigenen Ödlandes überhaupt verantwortet werden könnte.

Deutschland braucht also Kolonien, um den Bevölkerungsüberschuß aufzunehmen, aber auch um seinen Reparationsverpflichtungen nachkommen zu können, falls seinen Gläubigern wirklich daran gelegen ist. Wir haben außer­ dem ein heiliges Recht auf Kolonien, da wir sie im vielfachen Gegensatz zu anderen Ländern nicht durch Raub und rohe Gewalt, sondern auf ganz rechtmäßige Weise erworben haben. Zudem gilt auch für unsere Kolonien das Recht der Selbstbestimmung.

7. Zukunstsmöglichkeiten.

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Unser Recht auf Kolonien gründet sich jedoch nicht nur auf unsere wirt­ schaftlichen und völkischen Bedürfnisse und auf unser Recht sondern auch auf unsere kulturellen Leistungen, die den Neid unserer ehemaligen Feinde, besonders der Engländer, erweckten. Das deutsche Volk hat seine Befähigung zu kolonisatorischer Arbeit erbracht, trotz der unwahren Behauptungen der Kriegsgegner. Wir haben gezeigt, daß wir mehr als die mit Kolonialbesitz über­ sättigten anderen Nationen kolonisieren können, wir haben keinen Raubbau ge­ trieben, wir haben ja schon im Mittelalter beinahe halb Europa in ein blühendes Kulturland verwandelt. Deutscher Geist und deutsches Wissen, deutsche Forschung, deutsche Kultur, die sich jetzt nicht oder nur schwer in tropischen Gegenden be­ tätigen können (besonders gegen Krankheiten, wo wir bahnbrechend gewirkt haben), würden dann wieder zur Geltung kommen, wenn wir die Kolonien erhielten. Sie müssen uns wieder gehören, weil deutsche Forscher den tropischen Ge­ bieten auch die größten ideellen Dienste leisten. In den Jahren 1920/24 ist als wirksames Heilmittel gegen die Schlafkrankheit in Deutschland das Präparat „Bayer 205" entdeckt und von deutschen Ärzten in Fernando Po,- in Rhodesien und Britisch-Ostafrika erprobt worden. Zum Segen von Tausenden geht es nunmehr hinaus in den schwarzen Erdteil unter dem Namen „Germanin". So kommt jetzt die Erlösung vom größten Übel von der Nation, der man die Fähigkeit, im Geiste der Menschlichkeit zu kolonisieren, abgesprochen hat. Wir sind es ferner auch unseren Kulturpionieren und Landsleuten, die in den Kolonien ihr Leben für den deutschen Gedanken eingesetzt und deutsches Wesen zu Ehren gebracht haben, schuldig, die Länder nicht für immer dahin­ fahren zu lassen, die sie erkämpft und verteidigt, für die sie Riesenopfer an Gut und Blut gebrächt haben. Es bedeutet aber auch für die Eingeborenen der ehemaligen Kolonien, die wieder nach uns verlangen, ja, für die ganze Zivilisation ein Unglück, wenn das Unrecht nicht wieder gut gemacht wird. Denn die „fortgeschrittenen Nationen" haben die heilige Aufgabe der Zivilisation nicht erfaßt, sondern völlig versagt. Allenthalben bemerkt man in den Mandats­ gebieten, namentlich in Togo, Kamerun und den Südseeinseln eine Vemichtung der von uns geschaffenen Werte, einen Stillstand, meist aber einen Mckgang der Wirtschaft, eine Vernachlässigung und Schädigung der Eingeborenen auf dem Gebiete der sozialen und kulturellen Fürsorge, der Rechts-, wie vor allem der Gesundheitspflege. So ist die ganze Mandatsherrschaft zu einer Verkennung der Grundsätze der Bölkerbundssatzung geworden, die in Frankreich dadurch noch auf den Gipfel gehoben wurde, daß es die eingeborene Bevölkemng seiner Mandatsgebiete Kamerun und Togo genau so der Militarisierung unterwirft wie die Bewohner seiner eigenen Kolonien. Wir erheben daher wieder Anspruch auf unsere Kolonien, weil es im Interesse der Eingeborenen wie der ganzen Menschheit liegt; daß das große deutsche Kulturvolk nicht ausgeschlossen bleibt von der Erziehung und Entwicklung der primitiven Völker, aber auch von der wirtschaftlichen Medererweckung der Kolonien. Unser Volk hält immer mehr an dem Gedanken fest, daß Deutschland ohne Kolonien, überhaupt ohne geographische Ausbreitung, nicht leben kann, daß das organische Wachstum, die notwendige Erweiterung des Lebens­ raumes am besten durch die Rückgewinnung der Kolonien gesichert wird.

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Wir wollen zum mindesten erreichen, daß wir wenigstens die wichtigsten davon wiederbekommen. Außerdem ist die Liquidation deutschen Privateigentums rückgängig zu machen sowie jeder Deutsche in den bisherigen Kolonien wieder zuzulassen. Die Wiedererlangung unserer Kolonien ist eine Ehren- und Lebens-, aber auch eine rein nationale Frage. Würde sich das ganze Volk für die Rückgabe der Kolonien aussprechen, wäre das der Beweis für das Vorhandensein eines tatkräftigen Lebenswillens, aber auch eines Zieles, welches hinwiederum unser Volk zu einer mit einheitlichem Willen beseelten Masse machen würde.

Deutschland hätte daher seinen Eintritt in den Völkerbund, wie das sogar Eng­ länder erwartet haben wollen, von der Übertragung von Kolonialmandaten, wenn nicht von der Mckgabe seiner Kolonien abhängig machen sollen. Ist es denn nicht ein Widersinn, daß dem menschenarmen Frankreich, das schon seinen früheren Riesenkolonialbesitz nicht erschließen konnte, daher dieses Übermaß an Kolonien fast nicht mehr zu ertragen vermochte, noch Kamerun und Togo zugeteilt wurde?

Die Weltwirtschaft, der Besitz von Kolonien, hat aber zur Voraus­ setzung, daß ein Staat Welt- und Machtpolitik treibt. Wiederum sind es im allgemeinen die gleichen geopolitischen Gründe wie vor 1914, die uns dazu zwingen. Weltpolitik und Weltwirtschaft bilden eine wunderbare Einheit. Die Betätigung der Weltpolitik ist daher eine eherne Notwendigkeit für unsere EntwiÄung als selbständiges, seiner Wesensart sich bewußtes Volk, sie ist für uns heute eine Lebensnotwendigkeit, sie ist unser Schicksal. Es kann und darf uns nicht gleichgültig sein, was draußen in der Welt geschieht. Ein Volk von solch enormer Tüchtigkeit, Lebens- und Arbeitskraft, wie das deutsche trotz der Revolution, kann sich die noch offenen weltpolitischen Betätigungsgebiete nicht verbauen lassen. Sollten unsere ehemaligen Feinde keine Einsicht zeigen, so wird einst der wiedererwachte Lebensdrang des deutschen Volkes alle Schranken beseitigen.

c) Wege zur Wiederausrichtung. Hoffentlich wird noch das ganze deutsche Volk zur Einsicht gelangen, daß es gezwungen ist, die frühere Weltmachtstellung wieder aufzubauen. Einige Wege hierzu wurden bereits angedeutet. Deutschland muß von Grund aus anders werden! Wir brauchen vor allem die sittliche Erneuerung, die innere Wiedergeburt der entarteten Teile unseres Volkes im Sinne einer Abkehr von dem alles beherrschenden Materialismus, vom ausschließlichen Streben nach Gewinn und Vergnügen, vom krassen Egoismus, politischen Strebertum und maßlosen politischen Ehrgeiz. Der gute alte Geist der Pflicht­ treue, der Disziplin und Unterordnung, auch unter die Staatsautorität, der Geist der freiwilligen Gesetzlichkeit und der gesetzlichen Freiheit, muß in uns wieder oder endlich lebendig werden. Die Zeit des ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwungs vor 1914 war bei uns gleich wie in anderen Ländern die einer kulturellen Verflachung. Eine solche hat aber auch zu allen Zeiten den Niedergang eines Volkes eingeleitet. Unser Schichal, unsere künftige Weltgeltung hängt daher an der Frage, ob der alte Idealismus, der Glaube an ein Höheres eine neue Form finden wird. Dann werden wir auch unsere nationale Selbstachtung und Würde,-unser nationales Selbstbewußtsein wiederfinden, dann wird auch ein zielbewußter Natio-

7. ZukunftsMöglichkeiten.

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nalismus, ein gemeinsames, starkes Nationalgefühl, eine nationale Selbstbesinnung und ein einheitlicher Nationalstolz wieder erwachen, der bei allen anderen Völkern alle Parteiunterschiede überragt; wir werden die Einheit des Volkes im Glauben an sich selbst gewinnen, uns geschlossen wieder als Nation, als Volk fühlen, wenn wir den gänzlichen Niedergang der kulturellen Vertiefung, wie ihn vollends die Revolution gebracht hat, überwunden haben. Wir müssen endlich einsehen, daß eine wahre, echte Demokratie national sein muß.

Wir wollen uns mit dem Willen zur Staatsnation erfüllen, daher nicht müde werden, immer wieder auf das von den einstigen Feinden so ge­ priesene Selbstbestimmungsrecht der Völker hinzuweisen und dessen An­ wendung auch auf uns zu verlangen. Warum soll es auch gerade uns vorent­ halten bseiben? Erst dann würden wir einen wirllichen, deutschen Nationalstaat, ein Großdeutschland schauen, das wir mit aller Kraft anstreben wollen, und erst dann herrscht Friede, ohne daß Sicherungen notwendig würden. Wir wollen endlich mehr als bisher eine innige Verbindung mit dem Grenz- und Auslanddeutschtum eingehen! Die Ausländsdeutschen haben von jeher mehr fürs Deutschtum getan als die im Inland. Nur solche Deutsche dürfen auswandern, die deutsch bleiben wollen. Erinnern wir uns doch tagtäglich, daß wir schon einmal eine geschlossene Nation gewesen sind! Unser Volk, das bisher eine politische Naivität sondersgleichen an den Tag legte, das noch immer eine rein gefühlsmäßige, romantische und ganz unpolitische Einstellung besaß, wird gründlich Umkehr halten müssen; es wird endlich ein­ sehen, daß das Wesen des Staates Ausdruck eines nationalen Lebenswillens, eines einheitlichen Gesamtwillens ist, daß aber ein Lebenswille, dieses Grundziel eines Volkes, ohne geschlossenen Macht- und Kraftwillen wesen­ los ist, schon deshalb, weil er sonst den Lebensraum nicht sichern, und wenn not­ wendig, nicht erweitern kann, daß also unter allen Umständen wieder die Ein­ führung der allgemeinen Wehrpflicht, die Wiederherstellung des deutschen Wehrrechtes, zu erzwingen ist, wenigstens so lange, bis die andern das Ver­ sprechen der Abrüstung eingelöst haben! Nur mit einem Heer sind wir wieder ein Volk und ein Staat, der nicht mehr mißhandelt wird, sind wir im Besitz von Kraft und Macht, sodaß wir Politik treiben können. Wehrfähig, wehrwillig, wehrhaft sein, ist die Form der Vaterlandsliebe (Roth). Wir wollen endlich begreifen, daß „der Wille zur Macht stärker ist als alle Theorie" (O. Spengler), daß nur ein starker Lebenswille, ein starker Wille zur Macht, zur Kraft uns aus einer versklavten zu einer freien Nation machen kann; denn nur siebefähigen zu übermenschlichen Kraftäußerungen (Türkei, Karthago 148).

Wir werden endlich begreifen lernen, daß es keine internationale Wirt­ schaftspolitik ohne Machtpolitik gibt. Wir wollen aber auch einsehen, daß kein Friede mit unseren Nachbarn ohne Machtausgleich erreichbar ist, daß alles Gerede von Deutschland als ebenbürtiger Großmacht im Völker­ bünde leerer Schall, eine Illusion ist, so lange wir kein Heer haben. Wir verzichten daher nicht auf die einzige sichere Deutung im Kampfe ums Dasein, auf unser angeborenes soldatisches Übergewicht, das die Feinde über 1000 Jahre anerkennen mußten. Es geht um Macht in der Welt und frei und groß werden nur die Völker, welche die Macht besitzen, ihr Recht zu verteidigen. 10 Simmer, Grundzüge der Geopolitik.

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

Es war daher falsch und wirkungslos, daß wir 1923 beim Ruhreinbruch wie der Orient zum Mittel des Streiks, Boykotts und des passiven Widerstandes schritten. Der Glaube, daß wirtschaftliche Strafte und Kampfmittel Gewalt und politische Macht zu überwinden vermögen, ist ganz undeutsch. Nur aktiver Widerstand, d. h. das Schwert, entscheidet letzten Endes über Freiheit und Besitz. Noch immer ging ein Volk zugrunde, das den Wirtschaftsgeist über seine völkischen und ethischen Ideale stellte (Karthago). Jede Politik, die sich auf soziale und wirtschaftliche Fragen stützt, aber den Boden vergißt, bleibt wurzellos; und ein Volk, das den politischen Wert des Bodens nicht kennt und diesen sich entwinden läßt, muß (nach Haushofer) in einer harten Schule erst politisch erzogen werden. Es genügt aber nicht die Aufstellung einer starken Wehrmacht, sondern alle Kräfte des Staates müssen restlos zur Verteidigung und zur Erringung der Freiheit herangezogen werden. Es ist notwendig, daß das ganze Volk den nationalen Willen zum Leben, den geschlossenen Willen hat, alles zum Wohl des Vaterlandes zu opfern. Wir alle sehen ein, daß wir wie jedes große Volk mit großen inneren Kämpfen und großes allgemein menschlichen Aufgaben das universale politische Entwicklungs­ stadium der Weltmacht wieder zu erreichen haben; dann können wir nicht untergehen. Ohne Machtbewußtsein, ohne Machtwillen, kann von einem Lebens­ willen, diesem Grundziel eines Staates, nicht gesprochen werden, ebensowenig aber auch, wenn sich der Lebenswille nicht vor allem als einheitlicher Freiheitswille äußert. Er muß zunächst unser Grundziel, unser geschlossener, nationaler Wille sein, hervorgegangen also aus dem Machtwillen, aus der Wehrhaftmachung des Volkes. Unsere Devise soll lauten: Lieber tot als Sklave! anstatt: Lieber Sllave als tot! Es handelt sich daher vor allem darum, unsere Unab­ hängigkeit und Freiheit, die Befreiung von den auferlegten Fesseln, aber auch die Zurückeroberung einer großen, einflußreichen Weltstellung wieder­ zugewinnen. Durch mannhaftes, deutsches Auftreten, durch wahrhaft deutsche Politik werden wir allen feindlichen Drohungen zum Trotz das erreichen, was die Russen, Türken und Iren für ihr Land erreicht haben.

Wir werden uns den tätigen Willen zur nationalen Selbstbehauptung und zur nationalen Freiheit nicht zermürben und zerstören lassen, wir wollen nicht willen­ los werden, nicht unsere Verelendung als vermeintlich unabänderliches Schicksal hin­ nehmen, noch uns an die Ungeheuerlichkeit des Versailler Vertrages gewöhnen, sondern wir machen uns frei von der Hypnose des Nichtkönnens, da wir sonst wirklich endgMig verloren sind. Mr ein freies Volk, nur ein Volk, das Vertrauen zur eigenen Kraft besitzt, kann sich eines Lebenswillens rühmen.

Dazu gehört nach Oswald Spengler ein richtiger Geschichtsunterricht, der „streng, täglich, jahrelang betrieben werden muß und auch die antike und mittelalterliche Ge­ schichte unter vergleichende und realpolitische Gesichtspunkte stellt." Er darf keine materialistische Auffassung haben, sondern muß „eine starke, tägliche, tiefe Erziehung des Nationalbewußtseins bedeuten, muß zeigen, daß alle Politik Machtpolitik ist und Schwäche Vernichtung bedeutet." Die geschichtliche Erkenntnis wird uns nach Spengler endlich auch ein deutsches Recht schaffen. „Was uns Deutschen fehlt — jm Gegensatz zu England — ist die lange, schweigende Erziehung des Volkes durch sein eigenes, aus seinem Blut geborenes, mit ihm gewachsenes Recht. Das römische Recht hat uns verdorben. An der Spitze dieses Rechtes sollte die Ehre stehen!"

7. Zukunstsmöglichkeiten.

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Wir wollen unser Land wieder frei sehen von fremden Truppen, verlangen aber auch Genugtuung für das schwere Unrecht, das man uns durch den Versailler Vertrag angetan hat, verlangen vor- allem Wiedergutmachung des Un­ rechtes, das an uns seit Jahr und Tag verübt worden ist. Wir wollen wieder Herr über unsere Flüsse und Kanäle und über unsere Eisenbahnen sein!

Daher fort mit jeder Kontrolle, sott mit der Überwachung und Bevormundung durch die Botschafterkonferenz, fort mit dem Jnvestigationsrecht des Völkerbundes, das die Interalliierte M.-K. am 1. Februar 1927 abgelöst hat, fort mit den „fremden technischen Sachverständigen", die an deren Stelle mit den deutschen Behörden „ins Benehmen zu treten haben! Dieser „wirksamen" Investigation oder „Nachforschung" des Völkerbundsrates (mit dauernder französischer Mehrheit), die mit Mehrheitsbeschluß eingesetzt werden kann, müssen die zuständigen deutschen Behörden unverzüglich ihre Mitwirkung leihen (Genfer Vereinbarung vom 11. Dezember 1926). Dabei dürfen der Jnvestigationskommission keine Deutschen, wohl aber Tschechen und Polen angehören und ein französischer General hat den Vorsitz zu übernehmen. Ein dauernder Wiederaufstieg ist ferner nur möglich, wenn weite Volks­ schichten von ihrer pazifistischen Schwärmerei zur Wirklichkeit zurückkehren. Mr wollen uns nicht mehr dem unwürdigen Wahne hingeben, durch größtes Ent­ gegenkommen die aufrichtige Freundschaft der ehemaligen Feinde zu gewinnen. In Zukunft soll es nur eine Rücksicht für uns geben, die auf unser Volk und die Notwendigkeiten seiner Lebensbedingungen! Bisher haben wir zu unserem Schaden eine Politik einseitiger „Verständigung" getrieben, haben den ehemaligen Feinden immer wieder neue Angebote gemacht und ihre Forderungen angenommen, Ein Volk kann aber nicht immer passiv bleiben, wie wir und das karthagische, ist vielmehr gezwungen, eine nationale, aktive Politik zu treiben und mannhaft und geschlossen Nein zu sagen.

Im Kampf ums Dasein, ums Leben, gibt es streng genommen eigentlich keine dauernde Verständigung; sie bleibt leider wohl immer ein schöner Traum! Der mit dem schwächeren Lebenswillen Begabte wird rücksichtslos vernichtet. So ist es im Tier- und Menschenleben, wo sich niemand vom anderen, vom Kon­ kurrenten, zu seinem Schaden übertreffen und in den Hintergrund drängen läßt. So oft wir uns übrigens in der langen Geschichte mit Frankreich verständigt oder gar ver­ bündet haben, waren wir immer die Leidtragenden. Nicht ein Pakt, auch nicht, wenn er Sicherheitspakt heißt (1925), kann uns Erleichterung, kann uns z. B. die Freiheit der Rheinlande bringen; nicht der Eintritt in den „Völkerbund kann uns irgendwie sichern: sichern kann uns einzig und allein die eigene Kraft. Wir denken daher nicht daran, freiwillig auf den geringsten Lebensraum, auf einen einzigen Volksgenossen zu ver­ zichten, denn damit würden wir nur einen Verzicht unseres Lebenswillens bekunden, nie und nimmermehr aber eine Verständigung mit unseren ehemaligen Feinden erreichen. Es ist daher auch nichts verderblicher als das Schlagwort einer Versöhnungspolitik, die nicht die anderen, sondern wir, die „Ohnmächtigen", wollen. Mit den französischen Machtpolitikern ist anscheinend jede Möglichkeit einer ehrlichen, dauernden Versöhnung oder Verständigung ausgeschlossen, obwohl beide Völker, in ehrlichem Bunde vereint, den ewigen Frieden garantieren könnten. Wir haben ja das ehrliche Bedürfnis und Bestreben, mit den io*

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Geopolitische Fragen. I. Teutschland als Weltmacht.

Franzosen, die den Namen eines deutschen Volksstammes führen, dauernd in Frieden zu leben, schon in Anbetracht dessen, daß die Welt groß genug ist, um beiden Völkern Platz zu gewähren. Aber Frankreich will das linke Rheinufer nur räumen und sich nur und so lange „verständigen", so lange seinem Leben, seinem Bestand der Untergang droht. Dieses Entgegenkommen würde es sich aber so teuer erkaufen lassen, daß es für uns schon im voraus den Wert verloren hätte.

Sollte der Sicherheitspakt wirkliche Sicherheit verbürgen, müßte all das, was an Unrecht zwischen Deutschland und der Gegenseite liegt, ausgräumt, müßte vor allem wirkliche Gleichberechtigung mit Frankreich hergestellt werden. Ohne das gibt es keine wahre und dauernde Sicherheit, keine Verständigung; sie würde immer auf unsere Kosten gehen. Das zeigt ja deutlicher als alles andere gerade der Versailler Friede. Wäre er wirklich ein Friede des Rechtes, so wäre ein Sicherheitspakt überflüssig. Frankreich fühlt sich nur deswegen unsicher und sicherungsbedürftig, weil es kein gutes Gewissen hat. Wir wollen kein Unrecht von Frankreich, aber wir wollen anderseits auch unser Recht, das wir vor dem Richtcrstuhle der Welt verlangen können. Wir wollen fernerhin nicht mehr das Ausland würdelos umschmeicheln, was uns nur dessen Verachtung einträgt, sondern gerade ihm gegenüber mehr Selbst­ achtung zeigen. Damit geben >vir auch den Deutschen im Auslande und in den uns entrissenen Gebieten eine moralische Stütze, die sie als Vorkämpfer des deutschen Gedankens in der Welt erivarten dürfen. Unser Ansehen, unsere Würde und Ehre wollen wir also wieder aufrichten! Wir verlassen uns aber auch nicht auf eine bessere Einsicht der ein­ stigen Feinde.

Es wäre ja trügerisch, wollten wir daraus bauen, daß England vielleicht noch einmal einsehen werde, daß es ohne große eigene Schädigung ein industrielles Aus­ nahmegebiet wie das deutsche aus die Tauer unschwer entbehren kann, also schon deshalb die deutsche Industrie nicht verkümmern dürfe, trügerisch die Meinung, daß ein bolsche­ wistisches Deutschland eine große Gefahr für Frankreich, ja ganz Europa bedeuten könnte, trügerisch aber auch die Meinung, daß ein verarmtes, beständig unter feind­ lichem Druck stehendes Deutschland ein Unglück für ganz Europa bedeuten werde! Solchen Erwägungen sind beide Mächte wohl immer unzugänglich. Im Gegenteil wollen wir nie vergessen, daß unser wirtschastlicher Hauptgegncr England ist. Neben militärischer Kraft, neben dem Grundziel des Lebens- und Freiheits­ willens wollen wir auch ein höheres Ziel, eine nationale Idee, einen Staats­ gedanken haben. Als solcher gilt vor allem: Freiheit und Recht, Erweiterung des Lebensraumes und ein Großdeutschland. Außerdem könnte noch die Ansicht gelten, daß der Deutsche dank seiner Leistungen, seiner Intelligenz und seines Fleißes an der Spitze der Kultur marschiert, daher berechtigt ist, auch machtpolitisch an der Spitze in der Welt zu stehen! Es ist aber eine Illusion zu glauben, daß eine Nation sich ungestraft auf die Pflege geistiger Güter beschränken und dem Staat, der Politik, den Rücken drehen könne. Daher wird nur ein energischer Staatsmann die geschlossene Einheit des Volkes zur Durchführung einer nationalen Idee finden oder erzwingen. Nicht hoch genug einzuschätzen ist ferner der große erzieherische und wirt­ schaftliche Wert der allgemeinen Wehrpflicht, die unser Volk heute schon

7. Zukunstsinöglichkeite».

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deshalb notwendiger hat als je. Das Heer der Arbeitslosen würde verschwinden und die Jugend reichen seelischen und körperlichen Gewinn davontragen.

Und dann wollen wir wieder ein einig Volk von Brüdern werden, wir wollen wenigstens in außenpolitischen Dingen ein geschlossenes, nationales Zusammengehörigkeitsgefühl bekunden.

Selbst dem Ausland gegenüber machen wir uns ja verächtlich durch unsere Un­ einigkeit, durch den Haß gegen die eigenen Volksgenossen, den Grundzug unseres Cha­ rakters, durch den maßlos gehässigen Parteikampf, die würdelose Selbstbezichtigung und Denunziationslust. Wir werden also, wenn wir nicht Selbstmord begehen wollen, den Bolschewismus und jede Klassenherrschaft ablehnen, alle Sonderinteressen zurück­ stellen und uns unter dem gemeinsamen nationalen Banner der Freiheit und des Machtwillens als einiges Volk scharen! Viele von uns haben sich endlich loszulösen von der Phraseologie der „internationalen Bruderparteien", die ihren einzigen Gläubiger in Deutschland findet. Die Klassengegensätze aber werden durch Fortführung der Sozialreform eine Versöhnung und einen Ausgleich erfahren, es darf wie in Amerika keinen Klassenkampf mehr geben, es muß vielmehr ein sozialer Neubau ge­ schaffen werden, um endlich die so notwendige Volks- und Abwehrgemeinschaft aufzurichten, um den inneren Frieden zu festigen, der uns allein vor dem völligen Untergang bewahren kann, ohne den aber auch die nationale Befreiung undenkbar ist. Wir wollen nicht in den Fehler der anderen Demokratien verfallen, eine Parteiherrschast aufkommen zu lassen, die bei unserem Erbübel, der Zwie­ tracht, doch nur zu zerfleischenden Parteikämpfen führen und die selbstsüchtigen innerpolitischen Ziele den Lebensnotwendigkeiten der Nation überordnen würde, sondern wünschen eine starke, so gut tute möglich selbständig über den Parteien stehende und verantwortungswillige Regierung.

Es ist notwendig, daß Arbeit und Kapital sich versöhnen, daß ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden herbeigeführt wird, daß die Arbeits­ kraft vor Ausbeutung und Raubbau geschützt, eine Beteiligung der Arbeiter und Angestellten an der Kapital- und Kreditwirtschaft ins Auge gefaßt wird.

Die Einheit des Reiches muß erhalten bleiben, die gemeinsame Not uns einig finden in Nord und Süd. Wir wollen ein starkes Reich unter kräftiger Führung, die allein die sittliche Erneuerung bringen kann. Das Land macht aber nicht stark der extreme Unitarismus, sondern das föderalistische Prinzip, wobei den Ländern Freiheit der EntwiÄung gesichert sein soll. Um zur Wiederaufrichtung erträglicher Lebensverhältnisse zu gelangen, werden Industrie und Landwirtschaft sich die Steigerung und Ver­ billigung der Erzeugung angelegen sein lassen. Daher wollen wir unser Wirtschaftsleben mit dem Schutz unserer Landwirtschaft, die uns den not­ wendigen, vom Ausland unabhängig machenden Ernährungsraum und damit unsere wirtschaftliche Selbständigkeit sichert, zu beleben suchen. Da das Rückgrat unserer Ernährung, ja der ganzen Volkswirtschaft, unsere heimische Landwirtschaft bleibt, so ist die Wiederherstellung der landwirtschaftlichen Er­ zeugungskraft (heute nur mehr wenig über 2/3 gegen früher), eine ganz intensive Bewirtschaftung des Bodens eine der ersten Voraussetzungen des Wiederaufstiegs (Einfuhr an Lebensmitteln und Getränken 1926 rund 3,6, 1927 sogar 4,35 Milliarden M.). Als Rückgrat der inländischen Kauf-

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

kraft soll die Landwirtschaft möglichst stark gemacht werden. Pflug und Schwert war die deutsche Tugend; sie soll es wieder werden, nicht aber Geld und Rede! Bei dem großen Absatzmangcl ist die Absatzfähigkeit der Industrie fast genau so groß, wie die Aufnahmefähigkeit der Landwirtschaft. Arbeiten doch weite Industrie­ zweige heute nur mehr für den Jnlandabsatz. Eine Politik des Wideraufsnegs muß sich also zielbewußt auf den Binnenmarkt, auf die Intensivierung der Landwirt­ schaft mit dem Ziel der Selbsternährung unseres Volkes und der Herstellung eines wachsenden Binnenmarktes für Jndustrieprodukte einstellen. Vor dem Kriege war die ganze Welt unser Feld. Selbst in den fernsten Ländern waren die deutschen Erzeugnisse trotz Fracht und Zoll wegen ihrer erstaunlichen Billig­ keit und ihrer Güte bekannt und gesucht. Dieses große Geheimnis der Billigkeit lag aber nur in der Massenproduktion, in unserer Arbeit und unserem Fleiß. Rastlos sauste die Maschine, kleiner Verdienst — großer Absatz, war meist das Geschäftsprinzip. Die Revolution hat damit zu unserem Schaden aufgeräumt. Der Kaufmann und Landwirt, der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber müssen daher wieder zur alten Genügsamkeit und Ehrlichkeit zurückkehren, Händler und Erzeuger müssen sich mit einem mäßigen Gewinn zufrieden geben, statt nach schnellem Gewinn zu jagen. Dann kann ein Rückgang der hohen Preise und damit eine Erniedrigung der Löhne eintreten, wodurch wieder die Billigkeit und Absatzfähigkeit der Waren erhöht würde. Wir wollen ferner Vercdelungsindustrie treiben, den Gegensatz von Masse und Qualität überbrücken, also deutsche Qualitätswaren, deu^che Arbeit

ausführen, Werte schaffen und die Ausfuhr vermehren, um die viel zu zahl­ reiche Bevölkerung zu ernähren und unsere Riesenkredite zu tilgen. Dazu brauchen wir aber Rohstoffe und Halbfabrikate; diese können wir jedoch nur bezahlen, wenn wir vor allem mehr, billiger und solide arbeiten, unsere Maschinen verbessern, die Erzeugung vereinfachen und in ihren Leistungen steigern, be­ sonders durch Zusammenschluß der Betriebe, in der Erkenntnis, daß nur durch Ausschaltung jedes Leerlaufes Vereinfachung und Verbilligung erzielt werden kann. Außerdem gilt das, was schon früher (©.58 u. 72) gesagt wurde. Überall in der deutschen Industrie ist man denn bereits bestrebt, durch Konzen­ tration und größtmögliche Rationalisierung die beste und zugleich billigste Er­ zeugung zu schaffen, wodurch wir zum Teil unsern Platz im Welthandel wieder zurück­ erobert haben. Den größten Erfolg der Nachkriegszeit hat für uns die Entwicklung der chemischen Industrie gebracht, die eine Reihe neuer Wege betreten hat, so daß heute Deutschland im chemischen Welthandel an erster Stelle steht. Die Versteinerung des Erzeugungsapparates und die Anpassung an die Aufnahmemärste hat allerdings die Stillegung getverblicher und industrieller Betriebe und das Anwachsen der Arbeitslosenziffer zur Folge. Die Ausfuhr leidet eben wie unsere ganze Wirtschaft an den Rankheiten der Welt­ wirtschaft und am Mangel an Betriebskapital. Daher spielt billiger und langfristiger Kredit eine große Rolle, wodurch die so wichtige Einfuhr von Rohstoffen und Halbfabrikaten erleichtert wird (1927 daher über 7 Milliarden). Die Einfuhr ausländischer Fertigwaren, die von Luxusgegenständen und Genußmitteln ist jedoch aus ein Minimum einzuschränken.

Die Steigerung der Produktionsleistung, die Ausfuhr von Ferttgwaren und die Spartätigkeit, auch wenn diese dem Gegner wieder zugute kommt (Erhöhung der

7. Zukunftsmöglichkeiten.

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Daweszahlungen auf Grund des „Wohlstandindex" oder „großen Besserungsscheins"), bilden die Voraussetzung der unerläßlichen heimischen Kapitalbildung. Das Bankgewerbe hat sich daher zum Teil schon umgestellt und im Groß­ handel macht der Konzentrationsgedanke Fortschritte. Verbilligung der Ware ist das große Ziel, dem Industrie und Handel zustreben. Unser Wirtschaftsleben kann aber nicht gesunden, wenn der riesige, un­ tragbare Steuerdruck anhält, der auf Versailler Vertrag zurückgeht. Anderseits werden wir uns hüten, die Wittschaft einseitig auf reinen Export, auf Rentabilität aus dem Ausland einzustellen. Denn der Export ist (nach Bang) nur gesund, wenn er in der Ausfuhr von Wirtschaftsüberschüssen besteht und wenn der Weltmarkt als Austauschmarkt von solchen Überschüssen besteht. Wir haben daher nicht nur raumpolitisch, fonbent auch wieder raumwirtschaftlich zu denken. Wir werden nur wieder ein Welt Volk werden und bleiben, wenn wir eine zu allen Zeiten offene Verbindung mit der übrigen Erde besitzen. Denn jede politische und wirtschaftliche ^Betätigung in fremden Erdteilen, namentlich jeder Kolonialbesitz, setzt regelmäßigen Verkehr mit diesen voraus. Der deutsche Staatsbaum ist daher bemüht, seine hungrigen Wurzeln wieder nach fernen Ländern auszusenden, wir suchen die wirtschaftlichen und völkischen Beziehungen mit den llberseeländern wieder zu Pflegen, kurz Weltwirtschaft

zu treiben. Dazuistaber diewirkliche Freiheit derMeeresowie der Grundsatz der offenen Tür und der Besitz eines eigenen Kabelnetzes anzustreben — der Anfang wurde schon gemacht —, wenn auch der drahtlose Verkehr Übersee­ verbindungen herstellt und so unserem Weltverkehr und Welthandel dient. In bezug auf unsere handelspolitischen Beziehungen standen wir eben­ falls vor einem Trümmerfeld. Die meisten unserer Handelsverttäge sind ab­ getan. Die ehemaligen Feindstaaten genossen bis 1. Januar 1925 ganz einfettig völlige Meistbegünstigung. Aber seit 10. Januar 1925 haben wir wieder Freiheit in der Abschließung von Handelsverträgen. Mit den meisten Staaten Europas kam es auch zum Abschluß befriedigender Handelsverträge. Mlerdings haben sich die meisten mit mehr oder weniger hohen Zollschutzmauern

umgeben. England und die Union, wohin 1913 18 und 7,8% unserer Ausfuhr gingen, suchen die deutsche Einfuhr zu erschweren und Frankreich hofft im stillen weiter auf Verewigung der für uns bestehenden Passivität des beiderseitigen Handels, weshalb der endlich (1927) abgeschlossnee Handelsvertrag manchen deutschen Wirtschafts­ zweigen schwere Wunden schlägt. Polen, das doch ohne Deutschland nicht leben und nicht sterben kann — Deutschland ist der Hauptlieferant und -Abnehmer Polens und die polnische Industrie ist ohne deutsche Maschinen- und Ersatzteile einfach nicht lebens­ fähig —, hat sich noch zu keinem Handelsabkommen entschließen können.

Die Einbuße, die unser Weltmarkt durch die Zerttümmerung OsterreichUngarns erlitten hat, wird wenigstens teilweise durch die Nachfolgestaaten, besonders Ungarn, wieder etwas ausgeglichen. Es gilt nun in Ausnutzung unserer geographischen Lage im Herzen Europas zu versuchen, eine innige wirtschaflliche Verflechtung der Heineren Nachbarstaaten mit Deutschland herbeizuführen, womöglich zu einer Zusammenfassung der mitteleuropäischen Wirtschaftskräfte zu gelangen. Auch über See, in Südamerika, bietet sich ein lohnendes Feld für wirtschaftliche Betätigung.

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Geopolitische Fragen. 1. Deutschland als Weltmacht.

Um nicht Millionen tüchtiger Volksgenossen dadurch zu verlieren, daß wir das Volk ohne Raum sind, sollten Siedlungs- und Arbeitsgebiete geschaffen, soll die Bevölkerung aus eigenem Grund und Boden ernährt werden. Das geschieht 1. durch Steigerung der Erträge der Landwirtschaft und 2. durch Erweiterung des Bodens. Zweifellos ist eine Intensivierung in der Landwirt­ schaft möglich und auch die Besiedlung wirklicher Ödländer noch weiter ausbaufähig. Es wäre der Landwirtschaft bei großer Intensivierung sogar möglich aus dem Boden so viel herauszuholen, wie Deutschland braucht, wobei ly2 Millionen Menschen mehr beschäftigt werden könnten und auch für die Industrie durch den gesteigerten Bedarf an Düngemitteln, Maschinen Arbeitsmöglichkeiten geschaffen würden. Doch auch die intensive Landwirtschaft und die innere Siedlung würden auf die Dauer niemals ausreichen, auch wenn die Grenzsiedlung im Osten und in Deutsch­ österreich, also die Auffüllung der Grenzmarken mit deutschen Dörfern, unter finan­ ziellen Opfern des Reiches Fortschritte machen sollte, Deutschland bei fortschreitender Bevölkerungszunahme zu ernähren. Woher soll das Reich das Geld zur intensiven Politik nehmen und wie soll die Landwirtschaft ihren Betrieb intensiv gestalten — gerade die intensiv­ sten Betriebe treiben dem Ruine entgegen und geben daher die persönliche Bewirtschaftung auf —, wenn sie immer mehr verschuldet und ihr Ver­ mögen einbüßt (bereits zu 1/3)? Da ist überaus bedenklich, daß das landwirt­ schaftliche Kulturland gegen 1913 bereits um 9151 ha zurückgegangen ist. So wird sich immer wieder das Problem der Auswanderung ergeben, wenn uns der Lebenswille nicht doch einmal zwingt, uns auf irgendeine Weise Raum zu beschaffen. Wir wollen daher nicht aufhören, die uns entgegen allem Recht ge­ nommenen Kolonien und Grenzgebiete wieder zurückzufordern.

Das Beispiel Frankreichs mag uns mit der tröstlichen Hoffnung erfüllen, daß uns die Zukunft hierin zufriedenstellen wird; denn jenes Land war auch einmal, freilich nicht aller, aber fast aller Kolonien beraubt und hat sich dennoch wieder zu einer Kolonialmacht von Weltbedeutung emporgearbeitet. Und England zeigt, wie man es machen muß, um bei geringstem Einsatz eigener Kräfte größte Erfolge zu erzielen. Lernen wir von England! Hoffentlich wird die Unhaltbarkeit der heutigen Weltver­ teilung in nicht allzu langer Zeit dahin führen, daß das deutsche Volk bei der unvermeid­ lichen Neuverteilung den ihm nötigen Lebensraum erhält. Wir wollen von den „kolonialen Milliardären", welche aus Menschenmangel ihre riesigen Kolonien nicht erschließen können (Frankreich und Portugal), zu erreichen suchen, daß sie uns, die Lebensstarken, ihre Kolonien vertraglich ausbeuten lassen. Außerdem sehen wir uns auch nach Betätigung in angrenzenden Ländern um. Wir wollen mit Rußland, mit dem wir zusammengehören, enge Beziehungen pflegen (Versuche 1923 und 1926), aber auch wünschen, daß dort wieder geordnete Verhältnisse herrschen, da sich, zunächst wenigstens, hier allein neben den politischen Aussichten auch unbegrenzte wirtschaftliche darbieten. Unsere Zukunft läßt sich ein­ deutig nur auf ein gutes Verhältnis zum Osten, besonders zu Rußland, aufbauen. Wir lassen uns daher nie zur Teilnahme am Kampf der Angelsachsen oder Franzosen gegen die Russen bestimmen. Wir wollen alles daransetzen, daß die deutsche Kultur in den Randstaaten wieder das wird, was sie gewesen ist, auf daß diese Länder, die natür­ liche Brücke zu Rußland, aufs engste mit uns verbunden bleiben. Nicht umsonst fürchten die einstigen Feinde so sehr, daß Deutsche und Russen und vielleicht auch noch die Japaner sich finden könnten; denn dann hätte ihre Vor­ herrschaft ein Ende. Die Westmächte würden aber auch erkennen, daß Deutschland auch

7. Zukunftsmöglichkeiten.

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einen Willen, einen Lebenswillen, und noch wirtschaftliche, sogar weltwirtschaftliche und machtpolitische Möglichkeiten besitzt, daß dessen verfehlte, rein wirtschaftliche Denkweise zu einer politischen sich gewandelt hat, daß Deutschland wieder aktive Politik treibt ohne die ein Staat nicht leben kann. Bisher hat Deutschland seine Freunde unter den ehemaligen Feinden gesucht, obwohl es mit der westlichen Orientierung von jeher die schlimmsten Erfahrungen ge­ macht hat. Es dürfte aber heute mehr noch als vor dem Kriege ein verhängnisvoller Fehler sein zu meinen, wir könnten mit allen, dem Westen und dem Osten, gleich innige Freundschaft Pflegen, zumal uns jener nicht das geben kann, was wir brauchen.

Wir werden also der bisherigen westlichen wohl eine starke, zielbewußte östliche, vor allem russische Politik gegenüberstellen müssen. Eine wichtige Rolle wird hierbei dem „Donauland" Deutsch-Österreich zufallen, das „eine Pulsader im Herzen Deutschlands" sein soll. Die Donauländer könnten vermehrte Abnehmer unserer Erzeugnisse werden. Unsere Ausfuhr nach dem Ostraum ist aber heute um 16°/0 geringer als 1914 und beträgt nur 9°/0. Für uns bieten sich namentlich in der Ukraine, an deren Ein- und Ausfuhr wir vor 1914 am stärksten beteiligt waren, unbegrenzte wirtschaftliche Ausbreitungsmöglichkeiten. Dieses Land könnte uns Rohstoffe in großen Mengen liefern, während wir seinen Waren­ hunger befriedigen würden. Schon deshalb sind wir an der Wiederherstellung normaler Verhältnisse im ehemaligen Rußland interessiert. Die Übervölkerung, die sich auch durch den Geburtenrückgang nicht eindämmen läßt, ist schlimmer geworden als je und der frühere eiserne Ring ist noch enger geschmiedet. Uns wird die Eruption aufgezwungen. Nun kann aber der Osten Europas, der einst zweifellos ein für Deutsche geeignetes Siedlungsgebiet war, heute infolge des fast überspannten Nationalismus der dort wohnenden Völker von uns nicht mehr besiedelt werden. Manche denken sich das auch nicht so; nach Barthel z. B. sollen wir nicht mit dem Westen ein längst begrabenes Abendland erneuern, sondern nach dem Westen eine Mauer des Vertrauens schaffen, die unsere kulturelle Ausdehnung nach Osten als ungefährlich, ja als wünschenswert erkennen könne; denn im Osten bestehe bis China das dringende Bedürfnis, durch europäische Errungenschaften auf allen Gebieten befmchtet zu werden und die natürlichen Reichtümer erschlossen zu sehen. Diese Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem Osten sei ebenso vernünftig wie der Gedanke, ein Heil noch im Westen zu suchen, unvernünftig wäre. In Siebenbürgen, .im Kaukasus, an der Wolga, in Sibirien stünden verfrühte Vorposten eines kommenden Zeitalters (der „Ostwendung Deutschlands"), da Deutschland im Osten für sich und die Welt nützliche Arbeit "leiste. Aber wie stellt sich Barthel diese „kulturelle" Ausdehnung, die kulturelle Befruchtung vor, auf daß sie unseren Lebensnotwendigkeiten gerecht wird? Glaubt er, daß es uns nach tausend­ jähriger vergeblicher Mühe gelingt, gerade jetzt die „Vertrauensmauer" aufzurichten? Da muß uns zuerst unser Recht werden! Wir können und werden aus der mißlichen Lage nicht herauskommen, so lange Versailler Friede und Dawes­ plan uns niederhalten und versklaven. Darum lautet unser erster und vor­ dringlichster, in voller Einmütigkeit gefaßter Wunsch: Weg mit dem auf dem erpreßten Schuldbekenntnis aufgebauten Verfklavungsfrieden, weg mit dem Dawesplan, fort mit der Kriegs- und. Kolonialschuldlüge, fort mit allen Reparationen! Dafür Regelung und Wiedergutmachung der Weltkriegsschäden auf Grund der solidarischen Haftung aller am Kriege schuldigen Völker! Fort mit der feindlichen Besatzung und Bedrückung, fort mit der Erfüllungspolitik

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Geopolitische Fragen. 1. Deutschland als Weltmacht.

UM jeden Preis, die unsere Ketten nur verstärkt, fort mit jeglicher Kontroll­ schikane, so lange nicht auch die anderen kontrolliert werden, fort mit der Ab­ rüstung, solange die anderen Wettrüsten, fort mit den Schikanen des Kriegsmaterialgefetzes, mit der Demilitarisierung der Rheinlandzone, fort mit der Überwachung der Rheinlande und der 50-km-Zone — aber Wiedergutmachung des uns zugefügttzn Unrechtes! Wir wollen überall laut erllären, daß alle am Versailler „Vertrag" beteiligten gegnerischen Regierungen ihr verpfändetes Wort eines Friedens auf Grund der 14 Punkte Wilsons nicht gehalten haben.

Sonst sind die Aussichten für die Zukunft hoffnungslos, hoffnungs­ los auch für viele Staaten Europas. Es wird sich bald Herausstellen, daß der Dawesplan undurchführbar ist, da die Welt nicht gewillt sein wird, ge­ wissermaßen alle Schutzmauern von Land zu Land niederzureißen, um einem ganz freien internationalen Güteraustausch Platz zu machen (S. 136 f.).

Wohl hat die Geldflüssigkeit 1926/27 den Gesundungsprozeß der deutschen Wirtschaft gefördert; aber sie war nur eine Krankheitserscheinung, da sie nicht aus Über­ schüssen oer Wirtschaft, sondern aus Leihgeschäften stammte! Wenn Deutschland die Reparationen zahlen könnte oder wenn die Alliierten ihre Schulden bei Amerika abzudecken in der Lage wären, würde Amerika als Mlgläubiger mit Jndustrieprodukten überschwemmt werden, da die Zahlungen meist in Waren und nicht in Gold geleistet werden können. Für die Vereinigten Staaten sind nach dem Amerikaner Baker offene Märkte wichtiger als die Dollars, die man ihnen schuldet. Es darf aber auch nicht wieder zu den alten machtpolitischen Sanktionen zurück­ gekehrt werden. Nach dem Schweden Cassel gibt es nur freie Handelspolitik und Schuldenstreichung. Vielleicht gibt sich das internationale, hauptsächlich amerikanische Großkapital doch noch mit den bisherigen Riesengewinnen des Weltkrieges zufrieden itttb verzichtet auf alle Kriegsschulden, einschließlich der deutschen Reparationen.

Die französischen Chauvinisten wollen von einer Herabsetzung der 132Milliardenschuld nichts wissen, obwohl ihnen durch Amerika 50, den Engländern 30 und Italien 80°/, der Schulden nachgelassen worden sind. Was erst noch, wenn diese Summe zu 5% verzinst werden muß? Aus diesem Grunde meinen auch manche Franzosen, die Schuld mache immer noch 132 Milliarden aus! Eventuell ließen sich französische Kreise noch auf Übernahme der alliierten Schulden von 46,6 Milliarden M (1924) durch Deutschland, vermehrt um 8 Milliarden für den Wiederaufbau ein. Sie vergessen dabei, daß die inter­ alliierten Schulden sich seither auf 31,25 Milliarden vermindert haben.

Auch eine Revision des Dawesplanes, Versailler Friedens und die Festsetzung einer einigermaßen vernünftigen Endsumme, was sogar der Reparationsagent verlangt, kann uns nicht viel nützen. Denn auch dann würden die Reparationen nur auf geborgter Grundlage geleistet werden können, wie heute der Bartransfer entgegen den Bestimmungen aus geborgten Devisen geschieht, ohne Rücksicht auf den deutschen Kapitalmarkt und die deutsche Wähmng. Wenn diese Übung nicht aufhört, fällt allerdings der Dawesplan, doch geht vorher die deutsche Volks­ wirtschaft zugrunde. Vor allem gilt llarer und offener Widerruf des Artikels 231, des Funda­ mentes des Versailler Vertrages, der Deutschlands Mleinschuld am Weltkriege ausspricht und der daher unser ganzes Elend verschuldet!

7. Zukunftsmöglichleiten.

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Da wir keinen Machtkrieg führen können, so wollen wir einen geistigen gegen die Schuldlüge führen; denn wenn wir diese auf uns sitzen lassen, werden wir auch vor der Nachwelt und Geschichte unrecht behalten und als Volk untergehen. Wenn es uns gelänge, die Kriegsgegner zur Aufrollung der Schuldftage zu bringen, die ja zu unseren Gunsten ausfallen würde, so würden alle Versailler Bestimmungen und mit ihnen auch die Dawesverpflichtungen fallen.

Ast es denn nicht widersinnig, daß wir nach diesem Artikel an Polen, das wir befreiten, an Rumänien, das uns, fernem Verbündeten, den Krieg erklärte, an England und Japan, die uns überfielen, und an Italien „Reparationen" bezahlen, an Italien, das eidlich mit uns verbündet war und stolz darauf ist, den Krieg gewollt, vorbereitet und gemacht zu haben, diesen Krieg, der ihm reiche deutsche Landstriche, „Hilfe und Popularität verschafft und lang ersehnte Wünsche erfüllt hat" (Mussolini). Italien hat mit den 87 Millionen M. 1926 bereits über 3 Mlliarden Lire erhalten und wäre nun zufrieden, würde keinen weiteren „barbarischen Kriegstribut" fordern („Tribuna"), aber wir müssen nach Versailler Vertrag weiter zahlen, da wir ja am Kriege schuld sind! Und Montenegro kam 1927 in die größte Verlegenheit, als es von uns 15 Millionen erhielt, da es nicht wußte, was es mit diesem Goldsegen anfangen solle. Mit dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund (10. September 1926) „gilt" es als gleichberechtigt mit allen anderen Staaten. Da doch der Völkerbund Ehrlichkeit und Recht darstellt, muß Deutschland auch gleichberechtigt sein in der Machtpolitik, also in der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, im Anspruch auf geographische Ausbreitung, muß nach Art. 10 auch die Un­ versehrtheit seines Gebietes und seine politische Unabhängigkeit gewährleistet sein, so daß die deutsche Erde wieder frei wird, müssen die tödlichen Grenzen, muß der Borwurf der Mleinschuld am Kriege verschwinden. Oder will man ein von waffenstarrenden Nachbarn umringtes Volk wehrlos er­ halten und unter dem Druck dieses Waffenringes „friedliche Mitarbeit" von ihm for­ dern und es gleichzeitig für „gleichberechtigt" erllären? Mr bestehen auf dem Recht der Gleichberechtigung und verlangen von Frankreich, so lange es auf unserer Entwaffnung besteht, eine paritätische Entmilitarisierung auch einer entsprechenden französischen Zone und gleicherweise noch eine französische Schutzzone von 50 km! Sogar Engländer und Franzosen bezeichnen es als einen ganz unmöglichen Zustand, daß Deutschland dauernd einen restlos entwaffneten Staat inmitten schwer gerüsteter Nachbarn bilden könne, weshalb bald eine allgemeine Abrüstung durchzuführen sei. Obgleich es heißt, daß Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied im Völlerbund sitze, und obgleich es allen seinen Verpflichtungen aus dem Versailler Diktat lange vor der Zeit nachgekommen ist, stehen noch immer, entgegen aller Verpflichtung und allem Recht fremde Truppen auf deutscher Erde. Wer kann an die Ehrnchkeit eines Berständigungswillens von Seiten Frankreichs und an die Gleichberechtigung im Völkerbünde glauben, wenn dieses Land ausgerechnet zu einer Zeit, da wir uns ganz wehrlos machen mußten (1927), durch ein einstimmig angenommenes Gesetz im Kriegs­ fall die ganze Bevölkerung völlig in den Dienst der Landesverteidigung stellt, wobei jede individuelle Freiheit aufbehoben wird? Wie soll da eine Verständigung zustande kommen, wenn Frankreich Befestigungswerke von Dünnrchen bis Mülhausen gegen einen Nachbarn errichtet, der bis „zur Nacktheit" entwaffnet ist? Frankreich mißtraut sogar unserer Ohnmacht, während wir Deutsche allen Gmnd hätten, dem gewaltigen, doch nur gegen uns gerichteten französischen Militarismus zu mißtrauen! Muß doch jeder Franzose vom 6. Lebensjahre ab körperlich ausgebildet werden und sind doch beide Geschlechter bis zum 49. Lebensjabr für den Krieg vor-

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Geopolitische Fragen. I. Deutschland als Weltmacht.

zubilden. Dieser neue Militarismus, der bei unseren östlichen Nachbarn begeisterten Widerhall findet, ist selbst nach englischem Zeugnis in hohem Maße furchterregend; denn es ist ein Militarismus der Angst und dieser ist tödlicher als Gift. Das deutsche Volk wird in seiner Mehrheit niemals einwilligen, daß im Rhein­ land an Stelle der feindlichen Besatzung bis 1935 eine alliierte Kontrolle und hernach eine internationale oder eine solche des Völkerbundes für dauernd eingeführt werde.

Erst wenn Deutschland bei seiner Ohnmacht im Völkerbund kein Sonder­ dasein mehr führt, sondern in die Lage versetzt ist, seinen Nachbarn gleich gerüstet gegenüberzustehen oder wenn die Gegner endlich nach Teil V des Versailler Vertrages in die allgemeine und gleichmäßige Abrüstung ein­ willigen, kann ehrlich von einer Verständigung und Gleichberechtigung gespro­ chen werden: aber auch erst dann wird eine Befriedigung Europas eintreten.

Literatur. Sieger, Die geographischen Voraussetzungen des Weltkrieges, 1914. Ruedorffer, Grundzüge der Weltpolitik, 1914. P. Rohrbach, Zum Weltvolk hindurch, 1914. Steffen, Weltkrieg und Imperialismus, 1915. P. Heere, Weltpolitik, 1916. Kjellen, Probleme des Weltkrieges, 1916. — Die Weltkrisis, 1917. Meinecke, Probleme des Weltkrieges, 1917. Wegener, Geographische Ursachen des Weltkrieges, 1920. Ratzel, Deutschland, 1920. Kretschmar, Histor. Geogr. von Mtteleuropa, 1923. Krebs, Geographische Grundlagen des deutschen Volkstums, 1923. Dietrich Schäfer, Osteuropa und wir Deutschen, 1924. Oswald Spengler, Der Untergang des Mendlandes, 2 Bde., 1923. Derselbe, Neubau des Deutschen Reiches, 1924. Keynes, Der Friedensvertrag von Versailles, 1921. Derselbe, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, 2, 1924. E. Tiessen, Versailles und Fortsetzung, 1924. — 40 Jahre deutsche Kolonialarbeit, 1924. Zastrow und Dannert, Deutschland braucht Kolonien, 1925. M. Lenz, Deutschland 1871/1914, 1925. A. Schmidt, Das neue Deutschland in der Weltpolitik und Weltwirtschaft, 1925. Der Friedensvertrag von Versailles, 1925. D. Schnee, Deutschlands Kolonisation, 1925. Barnes, Genesis ok the World War, 1925. Stieve, Iswolski und der Weltkrieg, 1924. Derselbe, Deutschland 1890—1914, 1926. W. Schaer, Katechismus zur Kriegsschuldftage, 1926. O. Hamman, Deutsche Weltpolitik 1890/1912, 1926. Volkmann, Der große Krieg, 1926. H. Stegemann, Das Tmgbild von Versailles, 1926. Lösch, Staat und Volkstum, 2 Bde., 1926. Tirpitz, Polit. Dokumente, 2 Bde., 1926. Pages Briefe an Mlson, 1927. Steinhaufen, Der polit. Niedergang Deutschlands, 1927. H. Wilson, His Life and Diaries, London 1927.

1. Unser Recht auf Großdeutschland.

157

A. Schmidt, Das neue Deutschland, 1927. W. Schoenfeld, Geraubtes Land, 1927. Seitz, Aus dem alten Kamerun, 1927. A. Dix, Was Deutschland an seinen Kolonien verlor, 1927. Süddeutsche Monatshefte, besonders die Sonderhefte „Zusammenbruch", „Leidens­ jahre der Pfalz", „Völkerbund", „Deutschland von außen", „Pressefreiheit am Rhein", „Koloniale Schuldlüge", „Deutsche Zukunft", „Können wir zahlen?" „Verständigung mit Frankreich". Zeitschrift für Geopolitik (besonders Kolonialheft 1926, Heft 5 und 6 von 1926, Heft 1 5, 6, 8 von 1927). Zeitschrift „Der Weg zur Freiheit".

II- Grotz- oder Rattonaldeutschland. 1. Unser Recht auf Großdeutschland. Wenn wir auf einer Sprachenkarte, wie sie in allen Schulatlanten zu finden ist, die Lage des deutschen Volkes in Europa betrachten, seine scharfe Abgrenzung int Westen, seine dreifache Beengung im Osten und Süden (pol­ nischer Keil, die tschechische Faust und die Abschnürung vom Südmeer: Abb. 24 u. 26) sowie seine „Verstreuung" in zahllosen Sprachinseln über den ganzen Raum zwischen Osten und Adria, Schwar­ zem und Finnischem Meer, so sehen wir (nach Adriatikus) in ihm den zentra­ len Block der Stetigkeit und Festigkeit. Aber von den 92,7 Millionen Deutschen (einschließlich der Flamen), die in geschlossenem Kern siedeln, sind nur 63^ Millionen im Deutschen Reich vereinigt, während die übrigen mit zahlreichen anderen Völkern ver­ flochten sind oder wieder selbständige, eigene deutsche Staaten bilden (Holland und Deutschösterreich). Dieser einzig­ artige Vorgangim Völkerleben Europas bedeutet eine Schwächung des deut­ schen Volkes und des Deutschen Reiches. «bb. 24. Gr°«de>.t,chl-nd n«» t>cm B°r. Es gereicht den deutschen Staatsfciebcn»uertta0. männern, überhaupt den Bewohnern unseres Vaterlandes nicht zur Ehre, daß sie in der Hochblüte des Nationalitätenprinzips (seit der französischen Revolution) im Gegensatz zu viel kleineren Völkern es nicht fertig­ gebracht haben, eine deutsche Nation, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, obwohl sich gerade 1814/15, 1866 und 1870 Gelegenheit dazu geboten haben würde. Bezeichnenderweise hat erst die gemeinsame Not und die mit ungeahnter Gewalt über die so endgültig scheinenden Grenzpfähle hereinbrechende Gefahr

158

Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

in der Nachkriegszeit den Begriff des Grenzlanddeutschtums als kämpfe­ rische Forderung dem politischen Sprachschatz hinzugefügt und die weitesten Kreise des Volkes mit denen fühlen lassen, die außerhalb des Reiches täglich neu um die Erhaltung ihrer volksmäßigen Art zu kämpfen haben. Mit welchem Recht können wir nun ein Großdeutschland fordern oder wenigstens ersehnen und welchen Umfang dürfte und sollte es haben? Dafür spricht nun eine Reihe geopolitischer Gründe (S. 83/87), ganz besonders aber unser Lebenswille. Unsere überschüssige Bevölkerung braucht Raum; nun konnten unsere Nachbarn bisher ihren Lebensraum nicht erfittleti, haben daher kein Recht, diesen überflüssigen Raum einem lebenshungrigen Volke vorzuenthalten, zumal sie ihn uns genommen haben. Selbst englische Staatsmänner müssen zugeben, daß ein Volk von der Kulturhöhe des deutschen auf die Dauer unmöglich niedergehalten werden könne, daß vielmehr der Lebenswille einmal eine Wiedergutmachung des ihm 1918 ungetanen Unrechtes, besonders die Zurückgewinnung des weggenommenen Landes, fordern werde. Der Lebenswille verlangt aber noch aus anderen geopolitischen Gründen nach einem Großdeutschland. Mr müssen da vor allem das Nationalitätenprinzip und Selbstbestimmungsrecht für uns inAnspruch nehmen. Auch uns, auch den Deutschen, die geschlossen wohnend auf 15, in der Zer­ streuung auf . 22 europäische Staaten verteilt sind, wurde durch Wilson und die anderen Gegner dieses Recht zugebilligt und wir schlossen u. a. auch im Vertrauen darauf im November 1918 den Waffenstillstand (Abb. 24). Nun hätten sich auf Grund des Nationalitätenprinzips Deutsch-Österreich mit Südtirol und Liechtenstein, das Kanaltal, Wochein, Untersteiermark, das Burgenland, zusammen 100599 qkm und 7346000 Einwohner (6359000 Deutsche), Sudetendeutschland und Österreich-Schlesien mit 30140 qkm und 4409000 Einwohnern (3,3 Mllionen Deutsche), die Grenzdeutschen Polens und Litauens mit 200000 Seelen, vielleicht auch das reindeutsche Luxemburg und belgische Arel mit zusammen 3100 qkm und 285000 Einwohnern unserem Vaterlande angeschlossen. Dieses Großdeutschland (Wb. 24 u. 26) hätte ohne polnische und litauische Teile eine Größe von 673742, nach anderen von 675380 qkm und 78,5 Millionen Einwohnern, mit rund 74 Millionen Deut­ schen aufgewiesen. Das wäre der größte weiße Nationalstaat und der Einwohnerzahl nach das 4. Reich der Welt gewesen. Heute würde dieses Groß­ deutschland rund 82 Mllionen Seelen mit 77 bis 78 Mllionen Deutschen zählen. Statt dessen riß die Entente in Mißachtung des von ihr feierlich verkündeten Rechtes lebenswichtige Stücke aus unserem Volkskörper heraus. Mr verloren: Mb. 25

Verlorene Gebiete

qkm

Einwohner

GrenzDeutsche

Hunderts.

Deutsch.

An Frankreich: 1. Elsaß-Lothringen........................................

14 500

1 900 000

1 700 000

89%

An Belgien: 2. Eupen und Malmedy (südlich von Aachen), Moresnet und Monschau........................

1040

76 000

66 000

86%

1. Unser Recht auf Großdeutschland.

Verlorene Gebiete

qkm

An Polen: 3, Dreiviertel der Provinz Westpreußen . . 4. den Kreis Soldau im SW Ostpreußens . 5. neun Zehntel der Provinz Posen und Teile Mittelschlesiens............................................ 6. Ostoberschlesien............................................

46 400 16 300 500

3 895 300 970 300 25 000

26 100 3500

Einwohner

159 GrenzDeutsche

Hunderts

Deutich.

1580000 500000 10 000

40% 51,6% 40%

1900000 I 1000 000 |

670000 400 000

33% 40%

An die Tschecho-Slowakei: 7. das sog. „Hultschiner Ländchen" im SW Oberschlesiens a. d. Oppa........................

286

45 000

15 000

33%

8. den Freistaat Danzig................................

1910

330 000

315 000

95%

An Litauen: 9. den Memelgau............................................

2 700

150 00d

110000

73%

An Dänemark: 10. Nord-Schleswig bis Flensburg mit den Inseln Alster und Röm............................

4 000

172 000

50000

29%

Das verlorene Gebiet beträgt rund:

70 800

6500 000

4 460 000

ist also fast so groß wie Bayern und zählt 3800000 Grenzdeutsche. Bon dem Deutschen Reich 1914 mit 540742 qkm und 68 Millionen Einwohnern blieb nur ein armseliges Rumpfdeutschland von 470390 qkm und 59859000 Einwohnern (einschließlich Saargebiet) übrig (Abb. 14 u. 21). Die an Polen verlorenen Länder (einschließlich Danzig) sind Teile der deutschen Ostmarken und als solche echtes deutsches Kolonialland, deutsches Kulturboden (Abb. 26), der zum Teil schon vor vielen hundert Jahren durch deutschen Fleiß und deutschen Geist in wertvolles Kulturland verwandelt worden ist. Die anderen Gebiete gehörten seit tausend Jahren dem Deutschen Reiche an. Statt Vergrößerung, wie es Recht und Gerechtig­ keit verlangten, wie es das Nationalitätenprinzip erforderte, und wie es der rechtsverbindliche Borfriedensvertrag versprach (Deutschland nahm vollinhaltlich die Note Lansings vom 5. September 1918 an, wonach es „keine Annexionen und Entschädigungen" geben sollte), erlitt unser Land eine tödliche, völkische Verstümmelung. Litt schon das Kleindeutschland von 1871 (Abb. 4 u. 21) schwer darunter, daß es nur einen Teil des deutschen Volkes umfaßte, so wird dieses Rumpfdeutschland von 1918 erst recht durch die Nöte der Grenz­ deutschen aufs schwerste bedrängt. Es ist niederschmetternd, daß Deutschland erst seinen Westen, sein Stammland, und jetzt auch noch den ganzen Osten, mit dem es sich für dessen Verlust getröstet hatte, einbüßte. 4,45 Millionen Deutsche (mit dem Saargebiet) wurden durch die Entente ihres heiligsten Rechtes, der uralten Gemeinschaft mit ihren Bluts­ verwandten, ihrem Mutterlande, beraubt, ihnen und den rund 10 Mil­ lionen Grenzdeutschen (Abb. 31) in Österreich, Südtirol, der Tschecho-

160

Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

slowakei, Südslawien und Westungarn wurde von den wichtigsten Vertretern des Selbstbestimmungsrechtes verwehrt, sich mit den durch die Bande des Blutes verbundenen Stammesgenossen im Reich in nationaler Volksgemein­ schaft eins fühlen zu dürfen. Diese 14 Millionen Grenzdeutscchen wurden mit den anderen, den fast 5 Millionen starken deutschen Minderheiten in den europäischen Sprachinseln und der „Zerstreuung", verschachert, ohne um ihre Willensmeinung gefragt zu werden. Immer verzweifelter driängt sich in ihnen daher der Schrei des Blutes auf die Lippen: „Deutsch zu deutssch!" Dieses Großdeutschland (Abb. 24), das auf Grund des Borfriedensvertrags zustande gekommen wäre, hätte noch lange nicht den Umfang des alten Deutschen Reiches, wie es 1000 Jahre lang bestanden hat, ausgewiiesen (1 Million qkm!). Wir hätten im Westen nicht die Reichsgrenzen von 870 und im Süden nicht die seit den Sachsenkaisern vorhandene Grenze angestrebt, hätten im Osten nicht ver­ langt, daß die deutsche Ostfront von Königsberg bis Triest wieder geschlossen wird (Abb. 20), diese Ostfront, die von Polen, Tschechen, Jugoslawen und Italienern gesprengt worden ist, weil der Deutsche zu seinem größten Schaden diese drei verhängnisvollen Lücken nicht durch Kolonisation geschlossen hat! Wir hätten die für das Deutschtum so ungünstige preußische Ostkurve beibehalten, so daß die Grenze weiterhin zweimal so groß wie die Luftlinie gewesen wäre. In diesem Falle hätte der polnischen Minderheit in Posen eine entsprechend große deutsche im ehemaligen Kongreßpolen links der Weichsel gegenübergestanden. Außerdem darf man nicht vergessen, daß Ostdeutschland zu Beginn der geschicht­ lichen Zeit von Germanen, nicht aber von Slawen (Polen und Tschechen gab es damals noch nicht) bewohnt war, die in der Folgezeit mit den später cindringendcn Slawen vermischt wohnten. Wenn wir die Grenzdeutschen nicht ausrotten lassen wollen, sind wir also schon aus völkischen, nationalen Gründen gezwungen, ein Großdeutschland anzustreben. Mr müssen eine Neuregelung der Staatsgrenzen auf Grund des vernünftig angewandten Selbstbesttmmungsrechtes fordern, weil es in der Welt auch noch eine Gerechtigkeit gibt. Doch würde man unseren gerechten An­ sprüchen nicht genügen, wenn wir nur mit Deutschösterreich uns vereinigen dürften, da auch ein verstümmeltes Großdeutschland ohnmächtig wäre (Abb. 27). Aus dem Rumpf- muß ein Großdeutschland werden endlich auch aus historischen Gründen. Denn die Gebiete, die zu uns gehören, sind ur­ alter deutscher Kulturboden der schon seit Jahrhunderten von unseren Brüdern bewohnt wird, ja im Süden siedelten Deutsche schon seit mehr als 1000 Jahren sogar bis zur Adria (Abb. 20 u. 3). Namentlich die Bayern sind an einem Großdeutschland in hohem Maße interessiert; ist doch Böhmen ihr Stammland, in dem noch Reste zurückgeblieben sind, waren es doch Bayern, die (außer den Alemannen in Vorarlberg) seit 500 und besonders seit 700 den Süden und Südosten Großdeutschlands besiedelten (bis über die Leitha und tief nach Böhmen hinein) und zu deutschem Volksboden machten. Böhmen und Mähren, der deutsche Südosten und Süden gehörten tausend Jahre lang zum Deutschen Reiche (bis 1806) und diese Deutschen im nachmaligen Österreich-Ungarn bildeten unsere treuesten und besten Waffenbrüder im Weltkriege. Zum Schaden Deutschlands haben einst deutsche

1. Unser Recht auf Großdeutschland.

161

Kaiser die bayerischen Kolonien vom Stammland abgetrennt, so daß der dort so sehr benötigte Zustrom aus dem bayerischen Mutterlande schließlich versiegte. Sonst bräuchten wir heute nicht die Angliederung des Südostens und Südens zu verlangen und auch Böhmen und Mähren gehörten wohl dem Deutschen Reiche an, denn dem „Neubayern" war ja der Weg nach dem Osten geöffnet und damit die Möglichkeit zu großräumiger Ausdehnung gegeben. Daher ist ja auch auf diesem Boden eine deutsche Großmacht entstanden. 1848 und 1866 hätten sich die vielen Fehler und Unterlassungssünden wieder gut­ machen lassen. Mer schon 1814/15 auf dem Wiener Kongreß hat man versäumt, die früheren Erwerbungen Polens zum Teil wieder zurückzufordern. Damals hätte der gefährliche polnische Keil (1914!) entweder durch eine Grenzführung be­ ginnend südlich von Lyck und endigend an der Pilitza oder besser die Püitza-Bschuragrenze, endigend bei Mlawa, ähnlich der Grenze von 1793 (Wb. 3 u. 19), ver­ eitelt werden können (Wb. 20 u. 26). Diese Grenze hätte den Hauptteil Kongreß­ polens, der von fast 1 Million Deutscher bewohnt wird — vor 1914 war % der Be­ völkerung deutsch — und altes deutsches Kulturgebiet darstellt, eingeschlossen und Polen wäre kein selbständiger Staat mehr geworden. Nachdem jetzt Österreich doch zerfallen ist, wird man es bedauern, daß 1848 (durch Schwarzenbergs Schuld) und 1866 nicht ein Deutschland erstanden ist, das den tschechi­ schen Keil unwirksam gemacht hätte durch Wieoeraufrichtung der früheren Ostgrenze des Deutschen Reiches (Abb. 3, 19 u. 20), wie sie ununterbrochen fast 1000 Jahre lang bis 1806 und sodann zwischen Österreich und Ungarn bestanden hat. Noch mehr wird man bedauern, daß 1848 nicht ein Großdeutschland zustande kam, das obige Ostgrenze, aber auch die ebenso alte oder noch ältere großdeutsche Südgrenze (Abb. 18) erhalten hätte, die sogar bis Triest und vor Fiume (alte österreichische Grenze seit einem Jahrtausend) verlaufen wäre. Im Westen verlangte deutsche Gutmütigkeit 1815 nicht einmal das alte, schon über 1400 Jahre kerndeutsche Elsaß und Lothringen zurück und auch 1871 unterließ man es, die lothringische Bucht durch Einbeziehung weiteren lothringischen, also einst deutschen Gebietes, und durch eine richtige geo­ graphische Grenzführung auszugleichen. 1815 und 1830 hätte man sich wenigstens bemühen sollen, daß Belgien (bis 1806), das doch einst legitimer habsburgischer Besitz war, und möglicherweise (?) Holland (bis 1648) und die Schweiz (bis 1648) wieder zum deutschen Mutterlande heimgefunden hätten. Dieses Gesamtdeutschland, also mit Holland, Belgien, Luxemburg, Deutsch-Schweiz, Böhmen, Mähren, aber ohne Westpolen, würde 800000 qkm und 100 Millionen Einwohner (rund 89 Millionen Deutsche) umfassen. Dieses sogenannte Gesamtdeutschland fällt ungefähr mit „Raumdeutsch­ land" oder richtiger dem Deutschen Raum als einer „natürlichen geographi­ schen Großlandschaft" von selbständiger Eigenart zusammen, die sich durch eine ganz bestimmte Lage und Pflanzenwelt, durch einen besonderen physischen und völkischen Bau, durch ein charakteristisches Klima, vor allem da­ durch auszeichnet, daß das Ganze alten deutschen Kulturboden darstellt.

Die Grenze dieses „Deutschen Raumes" verläuft nach der Ansicht der namhaftesten deutschen Geographen, zuletzt Friederichsens, im Westen von Calais entlang der Schwelle von Artois über die Wasserscheide zwischen Schelde—Maas—Mosel und Oise—Aisne—Marne (Argonner Wald usw.) bis zur Burgundischen Pforte und von hier über den deutschen Faltenjura bis zur Westgrenze der Deutschen. Schweiz. (Abb. Simmet, Grundzüge bet Geovolitil.

11

162

Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

26 und 27). Im Süden fällt sie im allgemeinen mit der deutschen Sprachgrenze in der Schweiz und im alten Österreich zusammen, im Osten zieht sie von der Drau östlich von Marburg über Preßburg, Oberschlesien, Thorn (nach einigen über Pilitza-unterem Narew) zum Memelland und im Norden wird sie von Nord- und Ostsee und der alten deutsch-dänischen Grenzzone gebildet (Abb. 26). Die Ostgrenze Mährens verläuft hier rein geographisch, also zum Teil etwas östlich von der alten, tausendjährigen Grenze, die Grenze gegen Ungarn er­ reicht den Fuß des Gebirges; die Südgrenze ist weit vom „deutschen Südmeer"nach

Alte deutsche, abgetrennte oder vorentha/fene ku/turgebiete.

Deutscher Volksboden. 9977777t Altes deutsches Kulturland, rund w&d&A fOOOJ. unser deutscher Herrschaft.

DeutscheSprachinseln ,, Verkehrssprache.

6renze des deutschen Raumes,

Altes deutsches Ku/tur-und Sprachgebiet. Grenze Großdeufschtands

------------- JtaHenische Hoffnungsgrenze.

Abb. 26. Das zerstückelte deutsche Volksycbict. Der Deutsche Raum.

1. Unser Recht auf Großdeutschland.

163

Norden gerückt, nadjbem an und nördlich der Adria eine große Entdeutschung vor­ genommen worden ist. Was Böhmen und Mähren betrifft, so darf man nicht vergessen, daß Böhmen den südöstlichen Eckpfeiler für das deutsche Volkstum bildet, daß beide Länder zur Zeit Maria Theresias das Herzland Deutschlands waren, daß damals die Slawen nur noch Sprachinseln im „deutschen Sudetenmeer" bildeten, daß in Prag die erste deutsche Universität entstand und es in Prag nur deutsche Kultur gab, daß es keine tschechische, sondern nur eine deutsche Geschichte Böhmens gibt, daß die Slawen von deutscher Seite geradezu aufgefordert wurden (Herder!), ihre Mundart zu pflegen, nachdem die „tschechische Sprache" am Ende des 18. Jahrhunderts erloschen war, daß die tschechische Bewegung im 19. Jahrhundert künstlich gemacht und vom Panslawismus und von Frankreich gefördert wurde, die Tschechoslowakei keinen Nationalstaat bildet, daß schon vor 1918 eine Menge kerndeutscher Orte tschechisiert wurden (Prag bis 1848, Kuttenberg, Pilsen, Prerau) und endlich daß 1/i Jnnerböhmens bis 1919 deutscher Grundbesitz war. Dieses Raumdeutschland ist aber nur ein rein geographischer Be­ griff, hat daher mit unserem Großdeutschland (Abb. 24) oder geopoliti­ schen deutschen Forderungen oder Ansprüchen nichts zu tun. Es wird wohl in Deutschland niemand geben, der unseren Nachbarn irgendein Unrecht zusügen wollte oder der Holland, Belgien, die Schweiz, die französisch ge­ wordenen Teile von Lothringen und der Pfalzgrafschaft Burgund usw. wieder zurück­ verlangen würde. Wir wären schon zufrieden, wenn es uns gelänge, das oben er­ wähnte viel kleinere Großdeutschland (Abb. 24 u. 26) wenigstens annähernd wieder erstehen zu sehen. Allerdings wollen Tschechei und Polen, solange sie am Leben sind, niemals auch nur 1 qkm ihres Bodens hergeben, so daß es mit ihrer Zu­ stimmung wohl kaum zu einem Großdeutschland kommen wird. Gütliche Abmachungen und friedliche Verständigung werden aber hoffentlich da und dort zu einem Erfolge führen. Da die Tschechoslowakei und vielleicht auch Polen, beide ungefestigte Nationalitätenstaaten, die. staatliche Selbständigkeit auf die Dauer nur schwer werden austecht erhalten können, so schließen sie sich unter dem Zwang der Verhältnisse viel­ leicht noch einmal als selbständiges Glied einem mitteleuropäischen Staatensystem, an Großdeutschland an, ohne das sie ohnehin nicht leben können.

Wir würden nur geschichtliches Unrecht, das in nationaler Gleichgültig­ keit an den Grenzdeutschen begangen wurde, wieder gutgemacht sehen, wenn wir zu einem Großdeutschland kämen, wenn wir die Grenzen des alten Deutschen Reiches (bis 1806), wie sie 1000 Jahre bestanden haben, wenigstens annähernd wiederherstellten (Abb. 3). Aber auch aus geographischen Gründen sind wir vollauf berechtigt, ein Großdeutschland anzustreben, wie zum Teil schon aus obigem hervorgeht. Betrachten wir nur die Umrisse, die Gestalt des heutigen Rumpfdeutschlands, so drängt sich uns ohne weiteres wiederum das Recht auf, ein Großdeutschland zu bilden (Abb. 1 u. 4). Ein Exklavenstaat wie Deutschland ist nicht lebens­ fähig und fühlt sich in einem Gliede (Ostpreußen) immer bedroht. Und erst die gebuchtete und gelappte Gestalt! Wenn Deutschland noch einen Rest von Lebenswillen besitzt, muß es aus dieser tödlichen Gestalt heraus. Schlesien, einst das starke Zentrum der Ostseite Deutschlands, ist nun! von zwei Nachbarn umkrM. Wohl sitzt Großdeutschland behäbig und gutbeleibt da, aber es sind dann immer noch 3 Keile vorhanden (Abb. 24). An der Südost- und Südgrenze 11*

164

Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

Wären vielleicht noch einige kleine Schönheitsfehler zu beheben, wodurch sich übrigens die Grenze den natürlichen Verhältnissen noch besser anpassen würde. So lange vom Recht auf Natur- und „natürliche" Grenzen gesprochen wird, wollen auch wir daran teilnehmen. Wieder erfüllt aber nur Großdeutsch­ land einigermaßen die Forderung nach Natur-, strategischen, völkischen und historischen Grenzen. Was nun den physischen Bau und das organische Wachstum an­ langt, so steht uns ebenfalls alles Recht auf ein Großdeutschland zu. Beim Rumpf­ und beim verstümmelten Großdeutschland (Abb. 27) ist der dreistufige Streifen­ bau unseres Landes lückenhaft und erst besser ausgebildet bei Großdeutschland, wenn auch nicht so vollkommen, wie beim „Deutschen Raum". Denn erst die öster­ reichischen Alpen, das böhmisch-mährische Becken, die Jurahöhen ösüich der Maas, der Westteil des Norddeutschen Flach­ landes mit der inselbesetzten Dünen- und Marschenküste und das Flachland an Netze, Warthe und unterer Weichsel vervollstän­ digen eigentlich den physischen und geo­ logischen Bau. Daßdiese Gebiete klimatisch, pflanzen- und tiergeographisch und hydroAbb.27. Verstümmelte» GrobdeuNchland. graphisch Teile des deutschen Raumes bilden, wird kein Vernünftiger leugne« können. Flüsse (Rhein, Mosel, Elbe, Oder, Warthe, Weichsel und Donau) ver­ knüpfen sie mit dem übrigen Deutschland. Die Elbe weist die böhmische Masse, die nur das obere Einzugsgebiet dieses Flusses und den Eckpfeiler der deutschen Mttelgebirge bildet, wie die Oder Osterreichisch-Schlesien, nach Deutschland, während die March das mährische Becken zur deutschen Donau entwässert. Für Bayern wäre es wichtig, daß die zwei ausgesprochenen Gefahrzonen (am Böhmerwald und in den Zentralalpensverschwänden. Die Weite des norddeutschen Flachlandes, also schon die Bodengestalt allein, weist uns nach Osten, Flüsse ziehen uns an,'ihrem Lauf zu folgen und Gebirge im Westen, Osten und Süden locken uns zur Ausbreitung. So würde die Entwicklung Großdeutschlands, das gar nicht den ganzen deutschen Raum beansprucht, in jeder Hinsicht ein organisches, also gerechtes Wachstum bedeuten. Schon diese organische Zusammengehörigkeit der Gebiete erfordert also ein Großdeutschland. Mcht minder trifft das auf die Lage und die wirtschaftsgeographischen Verhältnisse unseres Landes zu. Es gilt aus unserer Einkreisung herauszu­ kommen. Wir brauchen, um die vielen Menschen ernähren zu können, Roh­ stoffe (Holz, Erze, Kohlen) und Lebensmittel, anstatt diese zum Schaden unserer Handelsbilanz und Industrie einführen zu müssen, und wir brauchen Absatz­ gebiete. Das alles böte uns wieder Großdeutschland. Haben wir endlich ein Großdeutschland, so könnte man uns nicht länger ein. starkes Heer und eine starke Kriegsflotte, also militärische Kraft, den Macht-

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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willen und Machtgedanken vorenthalten. Dann wären wir erst ein richtiger Staat, wie schon früher jahrhundertelang, und kämen wieder zu Ansehen, dessen besonders der Kaufmann in der Fremde so notwendig bedarf, so daß unsere Ausfuhr und unser Außenhandel nicht mehr geschädigt werden könnten. Es sind also lauter geopolitische Gründe, die ein heiliges Recht auf Großdeutschland bedingen. Nicht leiten uns dabei unedle Motive, sondern einzig und allein Gerechtigkeit, der Lebenswille, der Selbsterhaltungstrieb, der Gedanke, daß nur organisches, also gerechtes Wachstum hierbei in Frage käme. Wir hätten vor allem eine Idee, ein heiliges Ziel, das uns Kraft und Mut zu dessen Erreichung, aber auch zur Erlangung der Freiheit geben würde.

2. Das Grevzlanddeutschtum. Durch den Frieden von Versailles verlor Deutschland auf drei Seiten Grenz­ marken, die meist uraltes deutsches Land waren. Wenn auch die gleichzeitige Abtrennung fremdsprachiger Volksteile unser Vaterland zum reinen Nationü-

staat machte, so wurde dieser Vorteil ganz zuschanden durch den Verlust von rund 4 Millionen deutscher Brüder und durch wirtschaftliche, militärische und politische Schwächung. Dazu wurde uns verwehrt, uns die Volksgenossen, die Grenzdeutschen, wieder anzugliedern, die früher dem Deutschen Reiche angehört hatten.

a) Die Westmarken. Elsaß-Lothringen. Schwer hat uns der Friede in den Westmarken geschlagen. Erst 1871 haben wir das nach Kultur und Volkszugehörigkeit urdeutsche Elsaß und damit die alte Sprachgrenze auf dem Kamme des Wasgenwaldes, die uns die Franzosen einst genommen, wieder zurückgewonnen und von dem viel umstrit­ tenen einstigen deutschen Herzogtume Lothringen nur das französisch sprechende Borgelände der für unsere Sicherheit notwendigen Festung Metz zurückverlangt. Obwohl uns also die Franzosen fast nur deutsches Land, das hydrographisch beinahe ganz zum deutschen Rhein, geographisch, geologisch und kulturell zum Organismus des Deutschen Reiches gehört, nach langer Zwischenzeit zurückgeben mußten, ruhten sie nicht, bis sie, entgegen dem Nationalitätsprinzip die „Zurückgabe" der Reichslande erreicht hatten. Bezeichnend für diese ohne Abstimmung vollzogene Wegnahme ist die feierliche Erklärung Poincares gegenüber dem deutschen Botschafter und dem Reichskanzler 1911 (!), daß auf Elsaß-Lothringen weder Deutschland noch Frankreich An­ spruch erheben dürfe. Heute suchen die Franzosen die ganze Welt glauben zu machen, Elsaß-Lothringen sei zu allen Zeiten französisch gewesen. Sogar die „Times" vom 18. November 1870 schrieb: „Niemals hat eine Nation einen so schlimmen Nachbarn gehabt wie Deutschland an Frankreich während der letzten 400 Jahre, schlimm in jeder Beziehung, unersättlich, unversöhnlich, ständig aggressiv. Es gibt kein Gesetz der Natur, keinen Parlamentsbeschluß des Himmels, wonach Frankreich allein unter allen irdischen Wesen nicht einen Teil feines geraubten Gutes zurückgeben sollte, wenn die Eigentümer, denen es entrissen wurde, Gelegenheit haben, es zurückzunehmen. Niemand außer Frankreich glaubt im gegenwärtigen Augenblick, daß es ein solches Naturgesetz gibt. Weder Elsaß noch Lothringen sind in so göttlicher Weise gewonnen worden,

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Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

daß das wahrscheinlich wäre. Die Ränke Richclieus und das grandiose lange Schwert Ludwigs XIV. sind die einzigen Rechtstitel Frankreichs auf diese beiden Länder."

Mit ihnen verlor Deutschland ein Gebiet von 14500 qkm mit intensivster Landwirtschaft, drei Viertel der Stahlerzeugung, mehr als % der Eisenerzför­ derung und 77,4% der Eisenvorräte des Reiches, mit unerschöpflichen Salz­ lagern, Erdölquellen und einer hochentwickelten Textilindustrie. Von den 1,9 Millionen Einwohnern bekannten sich acht Neuntel als Deutsche (Abb.21). Trotz der durch die schweren politischen Fehler, welche die deutsche Verwaltung 1870/72 gemacht hatte, vorhandenen deutsch-feindlichen Stimmung optierten am 1. Oktober 1872 nur 160000 für Frankreich. Gleichwohl behauptet heute Frankreich, die Reichslande hätten 1871 für die Franzosen gestimmt, wenn sie hätten abstimmen dürfen. Wenn auch in politischer Kurzsichtigkeit den Reichslanden erst 1918 die heiß ersehnte bundesstaatliche Gleichstellung verliehen wurde, so war doch die jüngere Generation ganz im deutschen Sinne herangewachsen. Die vielen eingewanderten Reichsdeutschen (1900 allein 145135 Deutsche mehr ein- als ausgewandert) und deren Nachkommen wurden von den Franzosen ihrer Habe beraubt und abgeschoben. Die Deutschen im Reichslande, besonders alle Elsässer, sind „ureigenste Kinder Deutschlands", weil namentlich das Elsaß dem innersten Kern und Wesen seiner Bevölkerung gemäß immer deutsches Land war und hoffent­ lich auch bleiben wird. In Lothringen war Metz eine deutsche Stadt und es war billig, daß ihr Einfluß das Übergewicht über die französisch untermischten Landstriche bekam. Leider wurden die Elsaß-Lothringer durch die.anmaßende, aber unfähige deutsche Bureaukratie vor dem Weltkriege unglaublich schlecht behandelt und so systematisch zu Deutfchfeinden gemacht, zumal sie ohnehin zur Eigenbrödelei, aber auch zur Selb­ ständigkeit veranlagt sind. Zum Verlust dieses herrlichen deutschen Landes trug auch noch die charakterlose Politik der Notablen bei, die nur Feigheit und Gefchäftspatriotismus kannten, ferner leider auch die zwei größten Parteien und die Großfinanzleute. Aber ohne die „deutsche" Revolution 1918 wäre auch hier sicherlich noch eine Volksabstimmung über das Schicksal des Landes zustandegekommen. Doch Deutschland gab 1918 und 1919, ähnlich wie Österreich, auch die Reichslande ohne Widerspruch frei, so daß sich diese bedingungslos unterwerfen mußten. Heute will Elsaß-Lothringen, das ja ganz unorganisch mit Frank­ reich verbunden ist, großenteils die Selbstbestimmung, eine Volksabstim­ mung, zum mindesten aber als nationale Minderheit die Verwaltungs­ autonomie int Rahmen Frankreichs mit einem eigenen Landtag in Straßburg, Beibehaltung und zentrale Stellung der deutschen Sprache (in der Schule), „die seit 1500 Jahren die Muttersprache ist", Zweisprachigkeit in Verwaltung und Gericht, vollkommene Autonomie der elsaß-lothringischen Eisenbahnen, Auf­ rechterhaltung des Konkordats, Respekt vor den Sitten und Gewohnheiten sowie Berücksichtigung der Gnheimischen bei Besetzung der Verwaltungsstellen.

Dieses Ziel, ein selbstbewußtes, starkes und freies Elsaß-Lothringen, verfolgte erst der neugegründete „Heimatbund" (zur Wahrung der elsaß-lothringischen Heimat­ rechte), dann deren Nachfolgerin, die Autonomistische Partei und nun die Unabhängige Landespartei, die sogar von den Autonomisten der Bretagne unterstützt wird. Nach zuverlässigen Angaben ergeben sich für 1918 und heute folgende Stimmen: für freie Selbstbestimmung und Selbstverwaltung 55 und 60%; für Frankreich 30

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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und 15%; für Deutschland oder Unabhängigkeit 15 und 20%; gegen Frankreich 70 und 85%. Viele wollen also ein freies, national von Frankreich unabhängiges Elsaß-Lothringen. Merkwürdigerweise treten dafür meist die hemmungs­ losen Kommunisten ein, die offen das Selbstbestimmungsrecht ohne Ein­ schränkung fordern. Wie konnte es so weit kommen? Biele Franzosen hassen Deutschland, weshalb sie restlos alles vernichten wollen, was das Elsaß mit uns verbindet. Man behandelt nun unter Mißachtung aller feierlichen Versprechungen die „befreiten Brüder" als Unter­ worfene, verbietet die deutsche Sprache in Schule (zumeist wenigstens), in Verwaltung, Kirche und vor Gericht, kurz überall, außer auf den Steuerzetteln, sucht unter Spott und Drohungen die Rasseeigenschaften, Überlieferungen und Gebräuche, kurz das Deutschtum vollkommen auszurotten und das deutsche Wesen des Volkes zu romanisieren, man hat jede Freiheit der Meinung, Presse und der Versammlung unterdrückt, macht nur Franzosen zu Beamten und Lehrern, so daß überall Rechtsvergewaltigung zu finden ist.

Kein Wunder, daß sich verwaltungstechnisch, kulturell und auch wirtschaftlich (mangelhafter Wein-, Kali-, Petroleum- und Eisenabsatz) alles in unaufhaltsamem Niedergang, zum Teil sogar in heilloser Auflösung befindet. So arbeitet Frankreich selbst daran, Elsaß-Lothringen zu verlieren, das aufs schärfste die französische Regierungs­ kunst ablehnt. „Das Maß ist voll bis zum Überlaufen", heißt es in einem Aufmf, „wir werden nicht länger die Zurücksetzung und Entrechtung ertragen." Das Land will aber auch nicht mehr zu Deutschland zurückkehren, obwohl es sich nach der Ehrlichkeit der deutschen Verwaltung zurücksehnt, ja sogar die früget so geschmähten deutschen Einrichtungen und Regierungsmaßnahmen in den Himmel hinaufhebt; ein Engländer nennt daher Elsaß-Lothringen das „Niemandsland".

Bei uns hat man in weiten Kreisen anscheinend die Pflicht vergessen, sich wenigstens in völkischer Beziehung um diese Brüder links des Rheines zu küm­ mern, ganz zu schweigen von den verheerenden geopolitischen Folgen, die der elsässische Keil und die Festsetzung der Franzosen am deutschen Rhein für uns hat und erst noch haben wird. Bildet doch für uns Elsaß-Loth­ ringen ein geopolitisches Problem erster Ordnung; denn es ist ein lebenswich­ tiges Glied unseres Körpers. Sogar Poincare mußte indirekt den deutschen Charakter der Elsässer zu­ geben, indem er 1926 erüärte, der Unterricht in der Mehrzahl der elsässischen Schulen und in einem Teile der lothringischen sei (?) und müsse zweisprachig sein und die Kinder in den „zweisprachigen" Gebieten müßten „einigermaßen" Hochdeutsch sprechen und schreiben lernen. Gleichzeitig aber ging 1926 die französische Regierung mit Hilfe des französischen Bischofs von Straßburg mit den schärfsten Mitteln gegen die Heimat­ rechtsbewegung vor, was bereits zu den schwersten Rückschlägen, ja sogar zur Gründung einer Gegenvereinigung geführt hat. Im Herbst 1927 wurde bestimmt, daß die deutsche Sprache mehr als bisher im elsässischen Volksschulunterricht (von der 2. Klasse ab) gelehrt werden solle. Bald darauf machte man förmlich Jagd auf die Führer der autonomistischen Bewegung und warf sie ins Gefängnis.

Leider gab Deutschland 1815 auf dem Wiener Kongreß das urdeutsche Elsaß-Lothringen preis, wie es 1648 das Elsaß hergegeben und im spanischen Erfolgekrieg nicht mehr zurückgewonnen und 1766 (1738) Lothringen ver-

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schachert hatte. Schon damals sah man bei uns nicht ein, daß der Rhein deutsch sei und deutsch bleiben müsse und deshalb die Vertreibung der Fran­ zosen vom Mittelrhein für uns eine Frage erster Ordnung bedeute. Aber schon 1684 begründete man den Verzicht auf den Raub des ganzen Elsaß usw. damit, daß man nichts machen könne, da es sonst noch schlimmer kommen würde. Die Folge dieser Kurzsichtigkeit war der furchtbare dritte französische Raubkrieg. Wir Reichsdeutsche wollen, vom Standpunkt der Ehre ganz abgesehen, aus geopolitischen Gründen und aus solchen der Sicherheit, aus reinem Selbst­ erhaltungstrieb heraus nicht auf die eigentliche deutsche Westmark ver­ zichten, vielmehr die freiwillige Rückkehr Elsaß-Lothringens anstreben. Zum mindesten aber hegen wir den heißesten Wunsch, daß die Bestrebungen unserer Brüder auf Befreiung oder auf freie Verwaltung ihres Landes auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu einem vollen Erfolg führen möchten. Das ist Gerechtigkeit, das andere aber Duldung des Unrechtes, die unmöglich ein gutes Ende nehmen wird? Nicht zuletzt wollen wir auch daran denken, das; uns das menschenarme Frank­ reich den Lebensraum beschnitten hat, uns zum Verderben, sich nicht zum Nutzen, da es schon lange seinen alten Raum nicht mehr erfüllen kann. Liegen doch Millionen von Hektar ehedem fruchtbaren Bodens in Frankreich brach und machen sich doch Italiener, Polen, Slowaken und Farbige immer mehr breit und beschleuni­ gen die völkische Auflösung. Wenn Frankreich wirklich an einer ehrlichen Verständigung mit uns ge­ legen ist, gibt es uns den Naumüberfluß freiwillig zurück oder gewährt wenigstens Elsaß-Lothringen volle Autonomie.

Saargebict. Mit allen Mitteln sucht Frankreich auch den sogenannten Saarstaät ganz auf seine Seite zu ziehen, der 15 Jahre vom Reiche losgelöst, dem Völker­ bünde untersteht, von den Franzosen aber fast wie ein Mandat behandelt wird. Die 650000 Einwohner (80000 Pfälzer auf 418 qkm) sind zwar rein deutsch, deutsch seit 843, und würden eine scharfe Jrredenta bilden, aber Frankreich gönnt uns nicht die Saarkohlengruben mit 15 Millionen Tonnen jährlicher Förderung, weshalb es sich diese bereits angeeignet hat, mißgönnt uns auch die damit in Verbindung stehenden Jndustriebezirke. Deshalb behandelt es das Saargebiet schon jetzt, als wenn,es sein Eigentum wäre.

Es führte in den Gruben die Franken Währung ein, sucht die deutsche Saar­ industrie unnatürlich vom deutschen Mutterlande abzuschnüren und hielt dort bis 1927 sogar Militär von 3000 Mann, obwohl dieses nach dem Friedensvertrag keine Existenzberechtigung besitzt. Die Franzosen führen sogar Stollen unter die Grenze hindurch und holen sich deutsche Kohlen. Was die Bevölkerung unter den fran­ zösischen Behörden zu leiden hat, ist unsagbar. Und da wundem sie sich,daß ihre Herrschaft Abneigung und Erbitterung in der Bevölkerung erweckt haben, so daß sie sich heute schon im klären sind, welchen Ausgang die Abstimmung 1935 nehmen wird. 1927 hat der Völkerbundsrat in Genf dem deutschen Rechtsanspruch, aber nur teil­ weise, nachgegeben, wonach die fremden Truppen abziehen sollten und nur ein „Bahn­ schutz" von 800 Mann, meist aus Franzosen bestehend, aufgestellt werde. Dieses Unrecht mußten wir als Völkerbundsmitglied gutheißen, nachdem der Bölkerbundsrat

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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schon vor unserem Eintritt einen dahin zielenden Beschluß gefaßt hatte. Die „Bahnschutztruppen" wurden sodann entgegen dem Versailler Vertrag sogar für exterritorial erklärt, desgleichen jeder militärische Durchzug, der nun ebenfalls erlaubt worden ist. Noch immer werden französische Schulen unterhalten und errichtet und eine mächtige französische Propaganda treibt ungestört ihr Wesen. Die Be­ völkerung aber führt einen vorbildlichen Kampf um ihr Deutschtum und verlangt einmütig die Rückkehr zum Mutterland!

Luxemburg. Das Großherzogtum Luxemburg bildet geographisch nur die Fort­ setzung der angrenzenden deutschen Länder und gehört namentlich auch geolo­ gisch und hydrographisch zu Deutschland. Es war von jeher deutsches Land, mehrere deutsche Kaiser gingen daraus hervor, war 1815/67 Mitglied des Deutschen Bundes, der gegen eine Entschädigung die Hälfte des Landes an Belgien abtrat (1831), und seit 1842 des deutschen Zollvereins. Die Eisen­ bahnen standen unter deutscher Verwaltung und deutsches Geld war vorherr­ schend. 1867 rettete es Bismarck vor den Zugriffen Frankreichs, verleibte es aber nicht dem Deutschen Reiche ein, obwohl es fast 1000 Jahre dazu ge­ hört hatte. Die 265000 Luxemburger sind rein deutschen Stammes, doch ist die Gerichts- und zum Teil auch die Berwaltungssprache französisch. Sie neigen heute zU Belgien (Zollunion) und Frankreich hin, obwohl wir sie im Weltkriege großartig behandelt haben. Aus den verschiedensten- geopolitischen Gründen sollte Deutschland Einbeziehung in den Gesamtorganismus wünschen.

Arel. Moresnet. Eupen-Malmedy, Monschau. (Belgien). An Belgien kam 1831 durch die Schwäche des Deutschen Bundes die ehe­ malige Grafschaft Arel, heute Arlon, die bis dahin meist zu Luxemburg, also zu Deutschland gehört hatte. Arel ist nur die Fortsetzung des luxembur­ gischen „Gutlandes", demnach des lothringischen Stufenlandes, und wird heute noch von Deutschen (25000, dazu über 20000 Doppelsprachigen) bewohnt. 1918 erhielt Belgien zu den deutsch sprechenden belgischen Gebieten von Bleiberg und Welkenraedt (westlich von Aachen) trotz des „Nationalitäten­ prinzips" das 1816 gebildete, seither von Preußen und Belgien gemeinsam verwaltete, 3,37 qkm große angrenzende Gebiet Moresnet mit 3500 meist deutsch sprechenden Einwohnern und auf Grund des „Selbstbestimmungs­ rechtes" hatten 1920 die Belgier in den südlich angrenzenden preußischen Kreisen Eupen und Malmedy, die von ihnen besetzt waren, Listen zu einer „Volks­ befragung" auszulegen, in die sich jene eintragen konnten, die ein ganzes oder teilweises Verbleiben der Kreise im deutschen Staatsverband wünschten. Die belgischen Behörden gingen aber mit dem größten Terror gegen Einzeichnende vor, so daß nur 270 Auswandernde gegen Belgien zu protestieren wagten. Durch diese Scheinabstimmung wurden die beiden Kreise, von denen Eupen 25000 deutsche und nur 98 wallonische und Malmedy 27500 deutsche und 9500 wallonische Einwohner zählte, mit Zustimmung des Völkerbundes

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belgisch. Der Einspruch der deutschen Regierung wurde Izurückgewiesen. Die Belgier besetzten sodann entgegen dem Friedensvertrag sogar auch den Kreis Monschau, um dessen westlichen Teil mit der Eisenbahn und rund 10000 Ein­ wohnern, fast ausschließlich Deutschen, ihrem Lande einzuverleiben. Sie hätten zu gern auch den ganzen Norden des Rheinlandes bis Köln annektiert, obwohl das für das bergige Wallonien ein ganz unorganisches Wachstum bedeutet hätte. Die 66000 an Belgien verkauften, bisher härt bedrückten Deutschen bilden nun mit den (1910) 57270 deutsch sprechenden Einwohnern an der Ostund Südostgrenze Belgiens ein geschlossenes, unerlöstes Grenzdeutschtum. W ist leider zu befürchten, daß in diesen Gebieten die deutsche Sprache unter belgischer Herrschaft nicht bestehen bleiben wird, obwohl sie schon lange als aleichberechtigt anerkannt ist; denn in der Praxis war sie bereits vor 1914 von den Behörden niemals geachtet worden und seit 1918 wird rücksichtslos an der Entdeutschung gear­ beitet. Die Forderung, es möge durch neue, wirkliche Volksabstimmung das Unrecht wieder gutgemacht werden, wird daher nicht verstummen, Wie im Elsaß, Saargebiet und Luxembmg wünschen wir deutsche Erde auch in der Südost- und Nordostecke Belgiens wieder frei zu sehen, aber nicht dmch Geld (ein von Belgien 1926 angebotener Rückkauf scheiterte am Einspruch Frankreichs), sondern durch Gerechtigkeit. Was organisch, geographisch, wirtschaftlich und völkisch zu uns gehört^ darf uns nicht voreMhalten werden. Wir können keine belgische Bucht, keinen belgischen Kerl und keinen Grenzeinbruch ertragen, sondern verlangen gerechte, gütliche Regelung. Dem darf auch nicht entgegenstehen, daß wir im Friedenspcckt 1925 die jetzige deutsch­ belgische Grenze anerkannt, also obige vier Gebiete freiwillig abgetreten haben.

b) Flandern. Holland. Bei Aachen biegt die Grenze des deutschen Volkstums im rechten Wirckel nach Westen um und endet bei Dünkirchen an der Nordsee, wo einst die deutsche Nordgrenze begann. Nördlich dieser ganz ausgesprochenen Grenze (Wb. 28) liegt Nordbelgien oder Flandern, das Land der niederftänkischen und stammverwandten Flamen oder Vlamen, die aber an der Lys und Schelde in einer Bucht noch nach Frankreich bis zu den flandrischen Kreidehöhen hinübergreifen. Sie fügten sich, obwohl sie fast 5 Millionen zählen, bis in die letzten Jahre den 3 Millionen französisch sprechenden und gesinnten Wallonen. Während der Besetzung des Völkerstaates Belgien durch Deutschland konnten die Flamen, die erst 1898 die vollständige Gleichberech­ tigung ihrer Sprache mit der französischen durchgesetzt hatten, endlich nach achzigjährigem Kampfe um Erhaltung ihrer Eigenart ihr Volks­ Wallonen tum frei bekennen; der unglückliche Ausgang des Krieges aber hat ihre Träume nach Selbständigkeit, nach einer Trennung Bel­ giens in zwei selbständige Verwaltungskörper zunichte gemacht und das Land obendrein Wb.28. B°lg»nr D°ppel,'pr°chrg!°.t. ^ter den Einfluß Frankreichs ge-

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2. Das Grenzlanddeutschtum.

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bracht. Die Wallonen aber gingen mit Gewalt, ja sogar mit der Todesstrafe gegen die vor, die auf Gmnd des auch von ihnen verkündeten „Selbstbestimmungsrechtes" dieses auf sich selbst angewendet sehen wollten. Die Flamen wehrten und rührten sich nach anfänglicher Passivität und erreichten, daß 1921 die Gleichberechtigung der flämischen und französischen Sprache Gesetz wurde. Sie wollen außerdem in der Mehrheit die Autonomie und das föderalistische System, also einen Bundesstaat, welchem Gedanken sich die Wallonen wohl allmählich werden anbequemen müssen. Die belgische Regierung wagte sich bisher zum Teil deshalb nicht an die Lösung der Flamen­ frage heran, weil diese das Ende des belgischen Staates bedeuten könnte. Die flämischen Aktivisten und die Frontpartei sind nämlich sogar für die vollkom­ mene Trennung der beiden Nationalitäten, also für ein neutrales Flandern. Aber die Flamen können nicht ohne Brüssel, das, obwohl flämisch, ganz von den Wallonen beansprucht wird, und ohne die Bodenschätze des Südens, die Wallonen nicht ohne Antwerpen und die Stifte leben. Da müßten sich jene schon dem deutschen Stammlande und diese dem befreundeten Frankreich anschließen.

Das wäre eine Lösung der „belgischen Frage". Denn die Wallonen sind ihrem Volkstum nach Franzosen, die Flamen echte Deutsche, die allerdings von uns wenig mehr wissen wollen; außerdem bildet Flandern nur die organische Fortsetzung des angrenzenden deutschen Tieflandes; es würde nur geschichtliches Unrecht wieder gutgemacht und die deutsche Westgrenze aber­ mals eine rechtwinklige Form bekommen, wie sie ähnlich schon jahrhunderte­ lang bestanden hatte (Abb. 3). Frankreich hätte vom friedliebenden Deutschland keine Flankendrohung zu befürchten. Auch die 7 Millionen Holländer gehören dem deutschen Sprach­ stamme an und sind nur durch ihren Dialekt (die Folge des Abfalles vom Katho­ lizismus und vom Reich) und die politische Greüze von uns geschieden. Sonst ist Holland die natürliche Fortsetzung des westelbischen Tieflandes und zum Teil ein Geschenk des deutschen Rheins („deutsches Ägypten"). Daher gehörte es auch von Anfang an (bis 1648). zum Deutschen Reich und noch heuttz bildet es die natürliche Ausgangspforte für das industrielle Westdeutsch­ land, so daß sein Handel zum großen Teil auf dem Gewerbefleiß des deutschen Hinterlandesund auf dem deutschen Rhein beruht (Abb.26). „Das kleine Stück Deutschland", das sich jetzt Holland nennt, war einst eine Welt­ macht und besaß in Ost- und Westindien, Südamerika und -afrika ein riesiges Kolonial­ reich, dank der starken deutschen und flämischen Einwanderung! Heute will es von der Rückkehr zum Mutterland, dem es einst in dessen größter Not den Mcken gekehrt, nichts mehr wissen, sondern neigt mehr zu England, das es bis vor kurzem nur als politisches Glacisgelände betrachtete und uns mißgönnte. Geographisch, geologisch, rein völkisch und historisch wäre also ein Anspruch Deutschlands auf Belgien, mindestens aber auf Flandern und Holland berechtigt. Englaiw und Frankreich wenigstens hätten in unserer Lage die belgische Frage schon lange im Sinne einer Annexion gelöst. Wir wünschten, um wenigstens einigermaßen aus der festländischen Küsten- und der Mittellage, aus der geographischen Ungunst der deutschen Küste, herauszukommen und die großen NachteilL der fremden Rhein­ mündung auszugleichen, nur eine größere Selbständigkeit der Flamen, um mit diesen ein freundschaftliches Verhältnis anzuknüpfen. Noch etwas weiter gingen die Wünsche

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Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

der deutschen Weltpolitiker, welche die Freiheit der Meere für das wachsende, see­ fahrende Deutschland als Lebensfrage erkannt hatten, wonach Belgien unter deutschen Einfluß kommen sollte, um von dessen Küste aus das freie Meer zu gewinnen und den gefährlichsten Gegner, England, in Schach zu halten. Daß man keines von beiden dulden wollte, ist bei der Einstellung Englands und Frankreichs selbstverständlich.

Belgiens Aufschwung hängt eng mit dem Aufblühen des neuen Deutschen Reiches zusammen. Trotzdem ist dieses von Anfang an bis 1797 deutsche Land uns in letzter Zeit feindselig gegenübergestanden.

Bis ins 15. Jahrhundert zurück gehen die Bestrebungen Frankreichs, Bel­ gien in seine Gewalt zu bringen. Ludwig XIV. riß ganz unorganisch Artois und große Teile von Hennegau und Flandern an sich, wurde aber schließlich von England in seinen weiteren Räubereien gehindert, von England, das in der Folgezeit aus eigenem Interesse auch alle weitschauenden Pläne der Österreicher in diesem Lande (besonders belgisch-ostindische Gesellschaft, Öffnung der Scheldemündung) zunichte machte. Unter der napoleoyischen Herrschaft war Antwerpen zu einer großen Ge­ fahr für England geworden. Ist es doch nach dem größten Britenhasser „eine ge­ ladene Pistole, die auf das Herz Englands zielt". Dank seiner unvergleichlichen Lage an den Weltmeeren und nahe den Mündungen großer Ströme mit einem ausgezeich­ neten Hinterlande sollte es ein Flottenstützpunkt ersten Ranges für das französische Weltreich werden. Daher wurde 1815 mit unserer Zustimmung (!) Belgien mit Holland zu einer englischen Filiale und jit einem wichtigen britischen BÜtckenkopf auf dem Festlande vereinigt. Die wirkliche Grenze Englands endigt ja nach Lord Kitchener nicht am Kanal, sondern an der Maas! Der durch Frankreich begünstigten Losrdißung Belgiens, dieser „glänzenden französischen Lösung" des jahrhunderte­ alten Problems, folgte unter Englands Auspizien in London dessen „Neutralisierung" mit der Spitze gegen Frankreich als einzige festländische Seemacht. Anstatt 1815und 1830Belgien wiederzurückzugewinnen, vergrößerte der Deutsche Bund dieses vielmehr um halb Luxemburg. Frankreichs Blicke richteten sich in der Folgezeit abermals verschiedentlich wieder auf Belgien (besonders 1867), obwohl es dessen Küsten nicht braucht; doch bildete seine Erwerbung ein Glied der alten fran­ zösischen Rheinpolitik. Deutschlands Sieg über Frankreich 1870 bewahrte auch jenes wie Luxemburg vor dem französischen Zugreisen, besorgte aber dadurch wieder nur die Geschäfte Englands, das weiterhin den Besitz Belgiens oder den dortigen Einfluß als Lebensfrage betrachtete. Nachdem 1904 Großbritannien und Frankreich sich zur Entente cordiale zusammengeschlossen hatten, wurde Belgien von den Franzosen als britisches Glacis anerkannt und es wurde mit England vereinbart, daß jenes, insbesondere Antwerpen, in dem gegen Deutschland geplanten Kriege der Brücken­ kopf für die britische Invasion sein sollte. Daher auch der Lärm im feindlichen Lager (besonders in England), als einige Jahre später die holländische Absicht, die Scheldemündung bei Blissingen zu befestigen, laut wurde, daher auch die Tatsache, daß man dem kleinen Lande eine wirkliche Neutralität nicht gestattete.

Deutschland suchte im Kriege aus der maritimen Unfreiheit gegenüber England, das wie eine breite Barre die Zugänge nach dem Ozean versperrte, hexauszukommen, indem es die belgische Küste besetzte und von Ostende und Seebrügge aus durch die V-Bootswaffe für das offene Meer kämpfte. Anderseits betrachtete es England als seine Lebensfrage, Belgien nicht ganz aus der Hand zu geben, um Frankreich von der Schelde- und Rheinmündung fernzuhalten. Um dessentwillen mußte das englische Volk angeblich sogar in den Weltkrieg ziehen. Ob England wohl zu gelegener Zeit nach seiner Art den Plan

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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Napoleons wieder aufgreifen wird, aus Antwerpen ein großes britisches Bollwerk zu machen? Es hat vorläufig nicht diesen Anschein; denn die Briten haben seltsamer Weise ihre Hand von Belgien zurückgezogen und dieses Frank­ reich überlassen, damit wohl auch Holland preisgegeben.

Nun hat Frankreich endlich sein Ziel großenteils erreicht, indem sich Belgien mit Billigung Englands in allen militärisch^politischen Dingen den Franzosen mit Haut und Haar verschrieben hat (Militärkonvention), so daß es auch seine bisherige Eigenschaft als Puffer« und neutraler Staat verlor und dem gallischen Nachbarn den Weg zur bolländischen Südgrenze freigab, wodurch Belgien zum französischen Aufmarsch­ gebiete, zum nordöstlichen Glacis der gewaltigen Reichsfeste Frankreich wurde. Die Pläne der Franzosen gehen aber werter; im Versailler Frieden wurde näm­ lich bestimmt, daß Belgien das Recht habe, durch holländisches Gebiet an der schmälsten Stelle einen Kanal zu bauen, der Rhein mit Maas und Schelde verbinde (Mb. 29:1 oder II), und daß sich Deutschland im vornherein verpflichten mußte, diesen Kanal (später dachte man an den billigeren Kanal III), soweit er über deutsches Gebiet führen würde, auf seine Kosten zu bauen oder bauen zu lassen. Nun sollte aber Holland zu seinem größten Schaden (für Rotterdam) ohne Gegenleistung einen schleusenlosen Kanal von Antwerpen nach Moerdijk bauen (Mb. 29: IV), was damit begründet wurde, daß eine „neue Rheinmündung" zu schaffen sei, um auch Antwerpen am Segen des deutschen Massengütertransportes teil­ nehmen und es — mit Rotterdam konkurrieren zu lassen! Schon aus dieser unglück­ lichen Begründung ersieht man, daß es sich um rein politisch-militärische Ziele handelt; daher soll Holland nicht nur in die Aufhebung der belgischen Neutralität (im Kriegsfälle) einwilligen, sondern auch im Scheldegebiet und auf dem neuen Kanal belgischen, d. h. französischen Kriegsschiffen freie Durchfahrt garantieren. So könnte dann Antwerpen in Bälde französischer Kriegshafen werden, von dem aus französische Kriegsfahrzeuge bis Köln fahren und die holländischen Rhein-

Mb. 29. Znrn Scheldevertrag. Die Pläne gegen die Rheinmündnng.

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Mündungen von rückwärts umfassen könnten, während die Franzosen auch ein Aus­ falltor gegen Holland und darüber hinaus gegen — England bekämen! So wird es Holland vielleicht noch einmal büßen müssen, daß es sich von uns getrennt hat, viel­ leicht auch England, daß es Belgien in die Arme Frankreichs getrieben (s. 2. Raub­ krieg Ludwigs XIV.). Dieses sucht unser niederrheinisch-westfälisches Industriegebiet auch da­ durch zu bedrohen, daß die geplante große französische Verteidigungs­ linie an der Ostgrenze bis Lüttich geführt und so Belgien unmittelbar in den französischen Festungsbereich einbezogen und zu einem Vorwerk Frankreichs gegen Deutschland umgeschaffen werden soll. Eifrig wird auf eine belgisch-französische Zollunion und auf den allmählichen Anschluß der „französischen Nordmark", die heute schon einen Vasallenstaat und eine Kulturprovinz Frankreichs bildet, hingearbeitet, besonders aus wirtschaftlichen und politischen Gründen, um ein Sprungbrett des französischen Angriffswillens gegen den deutschen „Erbfeind", aber auch gegen den uralten Nebenbuhler England zu bekommen. Wichtige Schrittmacherdienste leisten den Franzosen ihre Eisenbahnen, die weit ins Nachbarland hineingreifen und die beiden Länder wie feste Klammern verbinden. Der Deutsche hat seit 1648, als der Kopf des deutschen Rheins, Holland, preisgegeben wurde — gleichzeitig verlor der Rhein auch seine Füße (Schweiz) und einen Teil seines Leibes (Elsaß) —, keinen ernstlichen Versuch mehr gemacht, Holland wieder zurückzugewinnen. Im Gegenteil hat er dank seiner Eigenart Freude an der stolzen Selbständigkeit der Holländer, während der Franzose Belgien zum künftigen völligen Anschluß an Frankreich reif zu machen sucht,

c) Die Rordmark. Schwer empfinden wir den Verlust deutschen Landes in der Nordmark, wo die frühere Grenze 600 Jahre bestanden hatte. In Nordschleswig sind deutsches und dänisches Volkstum innig miteinander verschmolzen. Un­ kundige können die zwei dortigen Mundarten, Plattdeutsch und -dänisch, kaum voneinander unterscheiden. Durch die nationalistischen Hetzereien der Dänen seit 1815, besonders aber der seit 1830 eingewanderten, wurde dort großenteils künstlich eine Jrredenta geschaffen, deren Ziel trotz des Eides Christians I. (1460) die Einverleibung ganz Schleswigs in Dänemark war. Obwohl wir um einer deutsch-dänischen Verständigung willen 1918 bereit waren eine Abstimmung zuzulassen, zog Dänemark ein willkürliches Diktat der Entente in Versailles einer freiwilligen deutschen Zustimmung vor.

So wurden also durch jene zugunsten der Dänen zwei ungleich große Abstimmungszonen festgelegt, von denen die größere, nördliche Dänemark zufiel, während die Heinere, südliche bei Deutschland verblieb. Jene besitzt eine starke deutsche Minderheit, da (1910) 124280 (68,7%) Dänen 48195 (26,6%) Deutsche und 3,2% Friesen gegenüberstehen, diese neben 77000 Deut­ schen nur 8500 (9%) Dänen. Trotz lockendster Versprechungen, trotz wüster Agitation der Dänen sowie stärkster und rücksichtslosester Parteinahme der französischen Kommissionsleitung — trotz der Selbstbestimmung —, obwohl also die Abstimmung zu einem Scheinmanöver entwürdigt worden war, stimmten in der nördlichen Zone 30%, in der südlichen mehr als sechs Siebentel

aller Stimmberechtigten für Deutschland. Die Botschafterkonferenz hat aber nicht die von Deutschland vorgeschlagene Tiedje-, sondern mit größter Willkür eine viel weiter südlich gehende Linie als endgültige Grenze bestimmt, obwohl dadurch rücksichtslos deutsche Ortschaften von ihrem Hinter- und Umland abgeschnitten wurden und geschlossene deutsche Sprachgebiete (Tondern, Hoyer) Dänemark zufielen, während sonst die Größe der beider­ seitigen Minderheiten annähernd gleich gewesen wäre. So wurde von den Kriegs­ gegnern das Recht des Friedensvertrages ins Unrecht verkehrt und alle ver­ kündeten sogenannten Grundsätze auss schwerste verletzt, aber auch der Keim einer künftigen deutschen Jrredenta gelegt. Denn die Deutschen Schleswigs und des Mutterlandes werden den Kampf um eine gerechte Grenze und gegen die mit großen Mitteln betriebene,Danisierung weiterführen. Sind sie doch fremder Willkür und Aussaugung preisgegeben, während die Dänen in der zweiten Zone geschützt werden. Heute hat das einst so blühende Nordschleswig der völlige wirtschaftliche Ruin getroffen. Dänemark sucht das Deutschtum der Nord­ mark zu vernichten, kauft deutschen Besitz auf, zerstörte das höhere deutsche Schul­ wesen und zwingt fast 300 deutsche Kinder dänische Volksschulen zu besuchen. Die 40000 Deutschen (eigene autonom. Partei) vertreten die Forderung der kulturellen Autonomie ohne dänische Einmischung, wünschen vor allem, Nordschleswig solle endlich von den eigenen Landsleuten verwaltet, gerichtet und unterwiesen, vor dem finanziellen Zusammenbruch bewahrt und entschädigt und es solle die Zweisprachig­ keit von den Beamten gefordert werden. Selbst Dänen sind sich darüber klar, daß die tödliche Zerreißung des natürlichen Wirtschaftsgebietes nur durch den wirtschaftlichen Anschluß Nordschleswigs an Deutschland einigermaßen wieder gutgemacht werden könne (Abb. 21).

d) Die Ostmarken. Memelland. (Litauen). Alle geopolitischen Grundsätze wurden am stärksten verletzt im Osten Deutschlands. Die deutsche Ostgrenze ist widernatürlich und unhaltbar. Millionen deutscher Volksgenossen harren im Osten des Anschlusses oder der Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reiche (Abb. 4 u. 26). Der seit Jahrhunderten deutsche Nordzipfel Ostpreußens wurde am 10. Jan. 1920 ohne das Volk zu befragen als Memelland oder Memelgau ab­ getrennt, ohne daß man wußte, was man damit anfangen sollte. Franzosen schalteten seit 25. Februar 1920 nach Willkür in dem Lande, bis dieses schließ­ lich 1923 von Litauen mit nachträglicher Genehmigung des Völkerbundes annektiert wurde, ohne daß die 150000 Einwohner, besonders die 110000 Deutschen (70000) und Deutschgesinnten um ihre Zustimmung gefragt worden wären. An diese grenzen noch 10000 Deutsche, die bereits in Litauen wohnten. Durch die vom Völkerbund garantierte Memelkonvention und das inter­ nationale Memelstatut (1924) genießt das Memelgebiet in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen Autonomie. Die Wahl zum Memellandtag am 14. Oktober 1925 stellte gleichsam die durch die Entente verhinderte Volksabstimmung dar und bedeutete das stärkste Bekenntnis zum Deutschtum (27 deutsche gegen 2 litauische Mandate!). Trotzdem handelt Litauen, als ob alles litauisch gesinnt wäre, so daß bisher keine gesunden Ver­ hältnisse einkehren konnten. Über Recht und Vertrag sich hinwegsetzend, herrscht

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Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

es im Memelland mit absoluter WillkiM und betreibt mit allen Mtteln die Litauisierung.

Zu diesem Zwecke hatte es ohne Berechtigung den Landtag aufgelöst und sucht nun das Deutschtum zu unterdrücken durch den Kampf gegen die deutschen Schulen und durch Ausweisung deutscher Lehrer/ Beamter, Ärzte und sonstiger Per­ sonen des öffentlichen Lebens. Im Lehrerseminar in Memel sind nur mehr litauische Lehrkräfte angestellt und die Litauer treten dafür ein, daß in erster Linie Litauisch in dem kerndeutschen Lande als Amts- und Unterrichtssprache zu gelten habe. Trotz des geradezu ungeheuerlichen Terrors Litauens (Kriegsrecht mit Presse­ zensur, Wahlrecht der litauischen Soldaten) schloß die neue Wahl im Memelgebiet am 30. August 1927 wieder mit einem vollen Erfolg für die Deutschen ab (nur 2 Mandate weniger). „Das ist der beste Beweis für das rein deutsche Gesicht dieses Landes und das bedeutet den moralischen Verlust des Memelgebietes für Litauen", schrieb der fetzige litauische Ministerpräsident schon 1925! Ende 1927 kam es endlich zur Bildung einer memelländischen Landesregierung, nachdem der litauische Gouver­ neur erst ein ungesetzliches Direktorium ernannt und den Landtag erst nach Monaten einberufen hatte. Dieser war Litauen aufs äußerste entgegengekommen und hatte sogar der Ernennung eines Litauers zum Landespräsidenten zugestimmt.

Das Memelland würde sogleich wieder in den deutschen Mutterschoß zurückkehren, wenn man ihm das Selbstbestimmungsrecht gewähren würde. Neuerdings ist hier eine neue große Gefahr aufgetaucht.

Polen streckt seine Hände nach Litauen, mit dem es jahrhundertelang verbunden war, und auch nach dem Memelland aus, wodurch Ostpreußen auch im Osten von Polen umfaßt und Deutschland endgültig durch einen französischen Vasallen­ staat von Rußland getrennt wäre. Polen bezeichnet seit Jahren Memel und Weichsel als seine beiden „Nationalströme", die mit ihren Mündungen polnisch werden müßten. Danzig ist das südliche, Memelland das nördliche deutsche KulturSlacis der ostpreußischen Festung, an den: sich die ungestümen slawischen Vorstöße rechen, bevor sie das abgeschnürte Ostpreußen treffen. Dieses wird in Danzig und Memel verteidigt. Daher die polnischen Absichten aus Litauen und Danzig (s. u.) Ein polnisches Memel ist die Voraussetzung für die Gewinnung der erträumten polnischen Seeprovinz. Steht der weiße Adler einmal im Norden des Kurischen Haffs, ist es mit dem Memeldeutschtum, aber auch — mit Ostpreußen zu Ende! Deutsch­ land wird daher um so energischer für die Selbständigkeit Litauens eintreten, als diese Ostpreußen vor der Umklammerung durch Polen bewahrt, als aber anderseits Litauen sein in Genf (1927) gegebenes, Januar 1928 wieder erneuertes Ver­ sprechen, die Autonomie des Memellandes ehrlich durchzuführen, endlich ver­ wirklicht. Hoffentlich sieht Litauen, dessen Landwirtschaft noch immer ganz darniederliegt, bald ein, daß Memelland sein so notwendiger natürlicher kultureller Führer ist; auf daß endlich Friede und Wohlstand ins Land einkehren!

Danzig. Westprenßen. Posen. Oberschlesien. (Polen). Weit mehr Deutsche als im Westen und Norden kamen infolge des un­ seligen Friedensschlusses an das neu errichtete Polen, das nach Lloyd George in seiner ganzen Geschichte nicht ein einzigesmal die Fähigkeit zu einer lebens­ kräftigen Selbstregierung bewiesen hat. Dieses einstige deutsche Lehensland war denn auch an seiner Uneinigkeit zugrunde gegangen und 1772/95 aufge-

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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teilt worden. Rußland hatte den Hauptteil für sich genommen und zum Kongreß­ polen verkleinert. Mit heißer Dankbarkeit wurde hier die Erlösung aus der grausamen Herrschaft der Russen durch die Deutschen bejubelt. Aber sehr rasch war die Dankbarkeit wieder verhaucht und an deren Stelle das unge­ stüme Verlangen getreten nach Vereinigung mit den Volksgenossen nicht nur im einstigen polnischen Posen und Galizien, sondern auch in den alten deutschen Ordenslanden Westpreußen, das die Polen 1466 wegge­ nommen hatten (bis 1772), und Ostpreußen, wohin Polen eingewandert waren (1910 aber nur 81100, d. i. nicht ganz 4%, mit 0,8% Grundbesitz), ja sogar im deutschen Schlesien, in dessen Bergwerksgebiete ebenfalls viele Polen gezogen warten. Außerdem verlangten die Polen den Aus gang zum Meer, den ihnen der Lauf der Weichsel weise. So gingen sie ins Lager unserer Feinde über und wurden bald noch schlimmere Gegner als diese. Nun ernteten wir die Früchte unserer geopolitischen Fehler (Abb. 19—21).

Wie die deutsche Regierung den Charakter der Polen verkannt hatte, als sie durch die Errichtung eines selbständigen Polens 1916 aus Dankbarkeit rechnete, so waren schon vor 1914 in der deutschen Ostmark, d. h. in den gemischtsprachigen Teilen Polens, Westpreußens und Oberschlesiens, von der preußischen Regierung und den preußischen ParteienvieleFehlergemacht worden. Man hatte die Polen bald durch Nachgiebigkeit zur Begehrlichkeit aufgestachelt, bald durch Härte bei den Nationali­ sierungsversuchen gegen sich aufgebracht. Eine Abteilung im preußischen Kultus­ ministerium hatte große, längst deutsch gewordene Gebiete systematisch wieder polonisiert. Die auf Verlangen des deutschen Ostmarkenvereins (zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken 1894 gegründet) bereitgestellten Millionen, um Deutsche (durch die Ansiedlungskommission) .wieder in polnischen Gebieten anzusiedeln, wurden großenteils unnütz verausgabt. Die Polen antworteten mit Gegenmaßregeln und zeigten kein Verständnis für den schreienden Unterschied zwischen Preußischuno Russisch-Polen und für die Gerechtigkeit der preußischen Sache. Hier brutale Unterdrückung, Armut, Unordnung und Schmutz, kurz überall Unkultur, dort Ordnung, Reinlichkeit, stetes Gedeihen der Wirtschaft, ein Blühen und Wachsen der Städte und musterhafte Schulbildung, ein Eingehen auf die polnischen Wünsche und Freiheit. Die maßlose Begehrlichkeit der Polen fand eifrige Unterstützung bei der Entente; konnte doch Deutschland durch eine solch große Verstümme­ lung bis ins Lebensmark getroffen werden und der amerikanische Präsident ge­ wann dafür die polnischen Stimmen bei der Präsidentenwahl. Daher erhielt Polen in meist geschlossenen deutschen Bezirken rund l,6MillionenDeutsche, im ganzen sogar 46400 qkm und 3,9 Millionen Seelen. Ja, es machte selbst vor fast rein deutschen Gebieten nicht Halt.

So mußte am 11. Juli 1920 über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder zu Polen abgestimmt werden im nordöstlichen Teile Westpreußens, der (1910) 158300 Einwohner mit 134500 Deutschen und nur 23800 Polen (15% mit 10% Grundbesitz) zählte, sowie über den Regierungsbezirk Allenstein (von 543500 Einwohnern 274000 Deutsche, 175000 Masuren, 19500 Zweisprachige und 73000 Polen mit 1,8% Grundbesitz) und den Kreis Oletzko (von 38900 Einwohnern 27300 Deutsche, 10000 zweisprachig) mit zusammen 301300 Deutschen und 29500 Zweisprachigen. Insgesamt lebten also in den ost- und westpreußischen Abstimmungsgebieten 415000 Deutsche. Obwohl monatelang von polnischer Seite kein Mittel unversucht blieb um den Charakter von Land und Volk zu fälschen, obwohl die Polen mit Fälschungen und Gewalt Gimm er, Grundzüge der Geopolitik.

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Geopolitische Fragen. II. Groß« oder Nationaldeutschland.

arbeiteten, gestaltete sich doch die Abstimmung zu einem überwältigenden Siege des deutschen Gedankens. In Westpreußen erklärten sich 92, in Ostpreußen 98% für Deutschland (Abb. 26). Damit sind uns nicht nur über 400000 Brüder erhalten geblieben, sondern diese können jd?t auch den Volksgenossen Milch, Brot und Kar­ toffeln liefern. Trotz dieser Abstimmung hat aber der Oberste Rat den Polen das ganze einschlägige rechte Weichselufer mit 240000 Einwohnern überwiesen, so daß nun die ganze Weichsel den Polen gehört, die jetzt die großen deutschen Fluß­ korrektionen verfallen lassen. In gleicher Weise mußte am 20. März 1921 in Oberschlesien abge­ stimmt werden, wo rund 770000 Deutsche neben etwa l1/» Millionen pol­ nischer Arbeiter wohnten. In diesen Abstimmungsgebieten wurde von den Polen in aufreizendster Weise Propaganda zu ihren Gunsten getrieben, nament­ lich suchte man die Massen sozial zu beeinflussen.

Vor Fälschung der Abstimmung, sogar vor Mord und Totschlag schreckten sie und die Besatzungstruppen nicht zurück. Auch hier wurde von französischer Seite mit den schlimmsten Gewaltmitteln das Deutschtum geknebelt und mit reichlichen, zum Teil von der französischen Industrie stammenden Geldmitteln auf einen für Polen günstigen Ausfall der Abstimmungen hingearbeitet. Wir ließen es jedoch an einer kräftigen Gegenpropaganda fehlen. Durch Zugmndelegung der „Sprachzahlen" bei den Volkszählungen haben wir uns in Oberschlesien leider selbst das Grab geschaufelt, wie wir auch durch deutsche Kartenwerke, die eine polnische Bevölkerung vortäuschten, der Entente ein wirksames Mittel gegen uns in die Hand gaben. Nicht vergessen sei, daß trotz des französisch-polnischen Wahlterrors mehr als 300000 Polnischsprachige (meist „Wasserpolen") für Deutschland stimmten. Keine Gemeinde stimmte rein Polnisch, während 65 rein deutsch stimmten. Auch wenn man die zu fast 80% deutschen Städte nicht berücksichtigt und das von den Polen stets für sich beanspruchte platte Land betrachtet, ergibt sich noch eine deutsche Mehrheit von 51,8% (Abb. 19 u. 26). Obwohl sich Oberschlesien mit fast % Mehrheit (60%) feierlich für das Verbleiben beim Reich ausgesprochen hatte, wurde vom Völkerbund in Genf 1921 Ostoberschlesien mit rund 400000 Deutschen Polen zuge­ sprochen, unbekümmert darum, daß nun ein einheitlicher Wirtschaftskörper, ein unteilbares Gänze, wie ein feines Uhrwerk auseinandergerissen war. Damit verlor Deutschland über 4/s seines zweitgrößten Steinkohlenlagers mit einer Förderung von jährlich 40 Millionen Tonnen, über 1/5 der Friedensförderung, und mit 40% (107 Milliarden Tonnen) der Gesamtsteinkohlenvorräte, ferner die riesigen schlesischen Eisenvorräte, seine größte Zink- und zweitgrößte Bleigewinnung und 80% der gesamten oberschlesischcn Industrie. Dadurch wurden der deutschen Industrie unheilbare Wunden geschlagen und die deutsche Handelsbilanz muß auch gerade deshalb einen vernichtenden Grad erreichen. Um die ehemals deutsche Industrie in Ostoberschlesien bewerben sich nun England, Frankreich und in neuester Zeit auch die Union, die damit den ganzen europäischen Metallmarkt be­ herrschen möchte (Abb. 21). Im ehemaligen Kongreßpolen einschließlich des Gouvernements Suwalki gab es 1919 715000 Deutsche, die in vielen Kreisen 10—20% der Bevölkerung bildeten und trotz ihrer Vereinzelung infolge ihrer höheren Kultur das Deutsch­ tum bewahrt haben (Abb. 26). Stellenweise findet oder fand man schon

2. Das Grenzlanddeutschtum,

von weitem kenntliche rein deutsche Dörfer. Im ehemaligen Galizien sprachen 1910 90000 Menschen deutsch; auch hier wohnen diese in weit im Lande zer­ streuten Ortschaften, zum Teil ohne Zusammenhang. Polen besaß demnach 1920 mit Teschen (s. u.) eine deutsche Gesamt­ bevölkerung von über 2,4 Millionen Seelen. Bon Westpreußen wmde aber noch der wirtschaftlich wichtigste Teil der Provinz, nämlich das Weichseldelta mit Danzig (1950 qkm) und insgesamt etwa 340000 Einwohnern (1926: 385000, nur 6800 Polen!) losgelöst, zum Freistaat Danzig umgewandelt und unter den Schutz des Völkerbundes gestellt. Er ist zwar in bezug auf innere Verwaltung selbständig (gesetzgebende Versammlung), aber in bezug auf Zölle, Wirtschaft, Verkehrsverwaltung (auch freie Hafenbenützung) und äußere Vertretung mit Polen verbunden, das zwar in Danzig eine Art Mlitär- und Marinebasis (bis es einen eigenen Hafen hat) halten darf, aber vertragswidrig aus der Stadt eine Armee- und Marinebasis gemacht hat, obwohl es jetzt in der Nähe (in Gdingen) einen eigenen Kriegs- und Handelshafen besitzt. So verlor Deutschland an Polen mit Danzig 48310 qkm und (1910) 4,2 Millionen Einwohner, von denen insgesamt rund 1,9 Millionen Deutsche sind. Und dabei lebten in Westpreußen nur 1/3, in Posen nur 3/6 Fremdsprachige! Danzig, West- und Ostpreußen waren nie polnisches Land und die Aus­ lieferung dieser deutschen Gebiete ist nut durch dreisten Betrug gelungen. Diese 1,9 Millionen abgetretenen Deutschen vermehren heute das Heer der Grenzdeutschen und die große Zahl der deutschen Minderheiten. Mt den angrenzenden Grenzdeutschen betrugen sie sogar fast 2 Millionen (Abb. 26). Die polnische Grenze ist nun auf 160 km Berlin nahe gerückt (Abb. 21), so daß Polen sich tief ins Herz Preußens vorgeschoben hat. Ostpreußen hat durch den unseligen „polnischen Korridor" seinen räumlichen Zusammenhang mit dem übrigen Deutschland verloren und wird von den Mliierten als unsere Kolonie betrachtet. Trotz gegenteiliger Abmachungen sperren oder erschweren die Polen den Eisenbahnverkehr im Korridor (Abb. 1 u. 4) zwischen Ostpreußen und dem Hauptlande. Die wirtschaflliche Lage Ostpreußens hat sich durch die Abschnürung derart verschlechtert, daß eine Wirtschaftskatastrophe unvermeid­ lich erscheint. Dabei denkt aber Polen nicht entfernt daran, sich mit seinen bisherigen Grenzen zufrieden zu geben. „Der Korridor ist entschieden zu eng", heißt es heute, „und früher oder später muß man ihn (mit Frankreichs militärischer und finanzieller, also indirekt mit unserer Hilfe) sowohl nach Osten wie nach Westen verbreitern (Mb. 5). Das durch den polni­ schen Korridor in zwei völlig getrennte Gebiete zerstückelte Deutschland (Abb. 1) ist schutzlos dem eindringenden Polentum preisgegeben. Es war eine jedem Selbst­ bestimmungsrecht hohnsprechende Ungeheuerlichkeit, Deutschland zum Exllavenstaat zu machen In Polen sind alle Parteien darin einig, vom westlichen Nachbarn noch mehr Land zu bekommen, damit endlich Friede in Europa werde. „Ein Bund Polens mit Deutschland", heißt es, „bildet eine völlige Unmöglichkeit angesichts der grundsätzlichen Gegnerschaft der Interessen. Da Polen um eine Aus­ einandersetzung mit Deutschland nicht Hemmkommen wird, dürfte es dringend not­ wendig sein, eine vollständige Lösung der ostpreußischen Frage herbeizuführen.

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Deren durch den Versailler Vertrag vollzogene Lösung ist zu .künstlich', um sich dauernd zu halten. Also muß die Frage Ostpreußen von Polen gemäß seiner Interessen gelöst werden." Ein anderer führender Pole erklärt: „Es ist zwar eine große Tat, daß wir Pomerellen nahmen, aber es bleibt ein großer Fehler, daß wir uns Ostpreußen nicht gleichfalls aneigneten. Nach dem Versailler Vertrag ist Ostpreußen, das inmitten polnischen Gebietes liegt, eine ewige Gefahr für Polen, ja ein Unfug geworden, aus dem nur Unruhen in Europa entstehen können. Ostpreußens Annexion würde keine Vergewaltigung des Selbstbestimmungsrechtes darstellen, weil dort viele Polen (?) und Litauer wohnen, das deutsche Königsberg aber gleich Danzig eine Ausnahme­ stellung erhalten könnte." Ein anderer wieder meint, Ostpreußen müsse einverleibt werden, selbst wenn es dort auch keinen einzigen Polen gäbe! Ein vierter ver­ kündet: „Trotzdem die Bevölkerung Ostpreußens zum größten Teil deutsch ist, muß das Land zwischen Polen und Litauen aufgeteilt werden, so verlangt es der kate­ gorische Imperativ der polnischen Politik. Wir müssen der .Sicherheit' wegen unsere ganze Ostseeküste (Danzig und Ostpreußen) haben." Im polnischen Hafen Gdingen wächst für uns eine gewaltige Gefahr heran, sowohl in wirtschaftlicher (die polnische Flagge soll in der Ostsee herrschen!) wie in politischer Hinsicht (der Korridor soll immer polnisch bleiben). Die meisten Polen begnügten sich aber nicht mit der „Gewinnung" der 2 Millionen Deutschen und Deutschgesinnten (s. o.) Ostpreußens, sondern stellen als weitere Annexionsforderungen aus: „Was Danzig anbelangt, so muß der Völkerbund die Verwaltung dieser Stadt Polen anvertrauen. Das deutsche Oberschlesien muß mit dem polnischen vereinigt werden, Polen kann außer auf Danzig, Ermland, Masuren, Königsberg auch auf Stettin, Oppeln und Breslau, kurz auf die Oderlinie, nicht verzichten (Abb. 5). Das alles ist nichts weiter als eine unbeugsame Verteidigung gegenüber den imperialistischen Tendenzen des Deutschen Reiches. Ein Krieg um Oberschle­ sien wird kommen; denn Polen kann ohne Schlesien nicht existieren." Für unsere Ernährung ist der Verlust der jetzt polnischen Ostmarken geradezu verhängnisvoll.

Lieferte doch Posen allein je Vio der Roggen-, Kartoffel- und Zuckerrübenernte Deutschlands und besaß je der wichtigsten Nutzvieharten und wertvolle Wälder. Auch Westpreußen gab uns eine Menge landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Holz und Branntwein. Und erst das alte deutsche Danzig! Wie soll sich Deutschland ohne diese Gebiete selbst ernähren können? Dazu bedeutet für den Rest Posen-Westpreußen der Verlust des Hinterlandes die Abschnürung seiner Lebensader (Abb. 21). Die Angliederung Posens und Westpreußens sowie die Lostrennung von Danzig wurde weniger mit den Wünschen der betreffenden Bevölkerung als mit angeblichen unwahren historischen Rechten Polens, wobei Slawisch immer mit Polnisch verwechselt wird, und mit Machtgrundsätzen begründet. Man wollte die Majorität nicht der Minorität opfern, vergaß aber, daß von den abgetretenen 1,3 Millionen Westpreußen kaum 500000 Slawen sind und im Korridor neben 1,38 Millionen Deutschen nur 0,7 Millionen Slawen wohnen (— 36%, davon aber 9% Kaschuben, die von den Polen wenig oder nichts wissen wollen). Den Anspruch auf die Oderlinie begründet das Polentum natürlich auch historisch, leitet ihn also aus der Geschichte ab. Dabei glauben die Polen selbst fest daran, daß eigentlich halb Mittel- und Osteuropa polnisch sein müßte!

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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Wie erging es bisher den auf höchster Kultur stehenden Deutschen in dem kulturarmen Polen? Dieses kümmert sich, obwohl nur etwa 60% seiner Bevölkerung Polen sind, also jeder dritte Mensch Nichtpole ist, nicht um den mit dem Versailler Vertrag „unlöslich" verbundenen Minderhei­ tenvertrag Es tut vielmehr alles, um den Minderheiten, besonders aber den Deutschen das Leben zu verleiden, ja das Deutschtum auszurotten; schon sind - Tausende blühender deutscher Unternehmungen vernichtet. Es gibt in Deutschpolen nur mehr polnische Straßen- und Geschäftsschilder, polnische Kleidung, polnische Sprache auf der Straße, in der Schule und bei den Behörden. Die deutschen Beamten wurden entgegen den Abmachungen brutal ausgewiesen und die noch gebliebenen Beamten und Angestellten mittellos auf die Straße gesetzt. Die deutschen Schulen wurden geschlossen und zuletzt (nach 1922) auch in Ostoberschlesien trotz Völkerbundsentscheid deutschen Kindern der deutsche Unterricht verweigert. Kein Wunder, daß zahlreiche Deutsche bereits zurückgewandert sind. Noch viel mehr aber wurden durch das mittelalterliche polnische Ausweisungsund Liquidationsverfahren gewaltsam von Haus und Hof vertrieben und mittellos über die Grenze gejagt. Man sucht besonders im Korridor das Deutschtum gründ­ lich auszurotten (Enteignung des Gmndbesitzes) und die wirtschaftlichen Schwierig­ keiten Ostpreußens geschickt auszunutzen, um das Land für sich reif zu machen. Durch planmäßige Entdeutschungspolitik in den uns genommenen Gebieten haben die Polen allein bis Ende 1923 aus den weggenommenen Grenzgebieten (außer Oberschlesien) 906323 Deutsche (rund 100000 Optanten) verdrängt, so daß dort (außer Ostoberschlesien) von rund 1,2 Millionen Deut­ schen kaum 300000 in ihrer Heimat verblieben sind! Aber auch Ostoberschlesien haben seit der Abstimmung bereits rund 100000 Deutsche verlassen. Diese Vertreibung von mehr als 1 Million Deutscher (—Einwohner von ganz Estland) aus ihrer Heimat und die Schädigung an Hof und Gut gehört zu den tragischsten Völkerbewegungen der Weltgeschichte. Aber die Polen, die doch ihre Kultur und Freiheit nur uns verdanken, ließen es dabei nicht verwenden. Zehntausende Deutsche wurden seither, nur weil sie Deutsche sind, weiterhin ausgewiesen, so daß Ende 1926 in ganz Polen kaum mehr als 1,4 Millionen Deutsche wohnten. So glaubt man leichter Eroberungspolitik gegen Danzig, Ostpreußen und Schlesien treiben zu können. Die deutsche Stadt Danzig kämpft seit 1920 gegen Übergriffe und Berfassungsbrüche durch Polen. Aber man darf wohl von einem vollen Mißerfolg wenigstens der Polonisierung Danzigs sprechen. Bei den Wahlen am 13. November 1927 haben die Polen wieder erheblich an Stimmen verloren und bei den polnischen Schülern ist ein ununterbrochener Rückgang zu beobachten. Aber Polen hat bis jetzt in Danzig rund 25 Mill. M. Werte angelegt und wendet alljährlich für Propaganda usw. 3—5 Mill. M. auf! Auch die Deutschen in Galizien, die von 90000 auf 50000 zurückgegangen sein sollen, haben unter der polnischen Herrschaft viel zu leiden. Auch hier wurden die von ihnen unterhaltenen Schulen geschlossen und ihre alte Organisation „Der Bund der christlichen Deutschen in Galizien" behördlich aufgelöst. Wie gelassen sich Polen über die Meinung der ganzen Welt hinwegsetzt, sieht man aus seinem Verhalten gegen die Deutschen in Ostoberschlesien, besonders

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seit 1926. Da es sich hier weder um den Minderheitenschutzvertrag von 1919 noch um den 1922 eigens in Genf unter dem Zwang der Verhältnisse (vollkommenes Darnieder­ liegen der oberschlesischen Wirtschaft) zugesagten auch nur im geringsten kümmerte, sd wurde 1927 in Genf durch den Völkerbund neuerdings entschieden, daß den Deutschen Minderheitenschulen einzurichten seien. Aber auch dieses neue Gesetz, das die Polen nicht einmal zwang, die entgegen allem Recht überall geschlossenen deutschen Schulen wieder zu öffnen, hat man verletzt. Die deutschen Lehrer an höheren Schulen wurden entlassen, Hunderte von Strafen gegen deutsche Eltern verhängt und Tausende von deutschen Arbeitem entlassen, die sich alle weigerten, ihre Kinder in polnische Schulen zu schicken; die anderen wurden immer wieder bei Strafandrohung aufgefordert ihre Kinder ja nicht in die deutschen Minderheitsschulen zu senden (s. u.)'

Das arme Land soll eben endlich vollkommen entdeutscht werden; denn trotz der Verdrängung so vieler Deutscher (s. o.) seit 1921 und trotz schärfsten polnischen Terrors haben Ende 1926 bei den Gemeindewahlen, welche die Polen selbst schon lange vorher als zweiten, endgültigen Volksentscheid be­ zeichneten, 65% der Bevölkerung für die Deutschen gestimmt. Ortschaften, die bei der Volksabstimmung 60—75% Polen zählten, haben jetzt umgekehrt so stark für Deutsche gestimmt. Das Gebiet der deutschen Mnderheit war so nach vierjähriger polnischer Wirtschaft zu einem Gebiet der deutschen Mehrheit geworden.

Darob große Empörung im polnischen Lager. Nun mehrten sich die Kündigungen und Ausweisungen von Angestellten und Privatbeamten sowie die Liquidationen, die drohenden Demonstrationen der polnischen Aufständischen-Verbände und die Reden gegen das Deutschtum. Hunderten von Arbeitem wurde gekündigt, weil sie deutschen Gewerkschaften angehörten, neuerdings löste man sogar Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindevertretungen mit deutscher Mehrheit auf und machte die deutschen Minderheiten mundtot, wo die Polen die Mehrheit besitzen. Die Deutschen bleibenrecht- und schutzlos den Gewalttätigkeiten der Banden ausgeliefert. 1927 wurden wieder Hunderte bmtal mißhandelt und schwer verletzt. Trotzdem haben die Deutschen März 1928 bei den Reichstagswahlen wieder einen Erfolg davongetragen, in Ostoberschlesien sogar ein neues Mandat dazu erobert, trotzdem die größten Wahlbeeinträchtigungen und -Ungerechtigkeiten vorkamen. Obwohl nach dem klaren Wortlaut des Genfer Abkommens von 1922 (1927 wieder erneuert und vom Haager Schiedsgericht 1928 bestätigt) die Sprache eines Schülers ausschließlich eine Erklärung des Erziehungsberechtigten bestimmt, die weder nachgeprüst noch bestritten werden darf, nnd obwohl keine Sprach Prüfungen für die deutschen Kinder vorgenommen werden dürfen, hat Polen im September 1926 rund.7500 Kindern die Aufnahme in eine deutsche Minder­ heitsschule verweigert, ließ einen Schweizer Schulinspektor Sprachprüfungen über deutsche Kinder abhalten, schloß deutsche Minderheitsschulen, obwohl viel mehr Kinder als vorgeschrieben (40) sich zu solchen meldeten,und hielt deutsche Kinder vom deutschen Unterricht fern. Auch im Mai 1928 wurde von den Polen alles aufge­ boten, um recht viel deutsche Kinder ihren Schulen zuzuführen. So besuchen heute nur knapp die Hälfte von 40000 deutschen Schulkindern (1922) eine deutsche Schule. Sogar der Präsident der Gemischten Kommission, der Schweizer Calondor, mußte erklären, daß die Deutschen „ohnehin einem schweren Kampf durch die polnischen Behörden ausgesetzt seien". Man will sogar Oberschlesien, das zum „Land unterm Kreuz" geworden ist, durch polnische Bezirke erweitern, um die Grenz­ deutschen zur Mnderheit herabzudrücken.

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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Anstatt mit allen Kräften und allen Mitteln die drei in sich wirtschaftlich und geographisch zum Teil sehr verschiedenen Teile zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet zusammenzuschweißen und seine völlig ruinierte Wirtschaft wieder in die Höhe zu bringen, treibt Polen mit Hilfe seines französischen Ver­ bündeten Großmachtpolitik (45% seines Budgets gehen für Rüstungszwecke drauf), bedrückt die geistig meist viel höher stehenden Minderheiten, wobei sich der polnische Westmarkenverein besonders hervortut. So kann Polen, das wir in den Sattel gehoben haben, nicht reiten und hält sich nur mühsam am Zügel fremder Kultur aufrecht. Es versteht es vor allem nicht, das hoch­ kulturell entwickelte Ostoberschlesien zu verwalten. Wenn der Völkerbund ernsthaft beabsichtigt, die Deutschen in der Welt nicht länger als Parias der Nationen behandeln zu lassen, muß er den Notschrei der Grenzdeutschen und deutschen Minderheit in Polen mit unverzüglichen Rettungsmaßnahmen beantworten. Die Unkultur, die sich allein im Korridor breitmacht, die polnische Gewaltherrschaft gefährden den Frieden der ganzen Welt. Das ganze deutsche Volk wird nicht aufhören, zunächst aus die Durchführung des verttagsmäßigen Minderheitenschutzes zu dringen, des weiteren aber eine Revision des Genfer Fehlspruches von 1921, wenn möglich die Rückgabe Ostoberschlesiens und eine Wiedergutmachung desunsange­ tanen Unrechtes, mindestens aber eine Volksabstimmung auch in den abge­ tretenen Gebieten, besonders im Korridor, zu fordern, wo sicherlich 90% für Deutschland stimmen würden. Denn auch die meisten Polen wollen sich der pol­ nischen schlechten Verwaltung nicht unterwerfen. Niemals können wir die unge­ rechten Ostgrenzen, die man uns mit Gewalt aufgezwungen hat, anerkennen.

Sudetendeutschland. (Tschecho-Slowakei). Von den Deutschen der Österreichischen Monarchie kam niemand an Deutsch­ land, wohl aber an die Tschecho-Slowakei, an diesen Nattonalitätenstaat mit nur 10% tschechischer Sprachengrenze. Hier wohnen denn auch so viel Deutsche ohne staatliche Selbständigkeit wie nirgends in ganz Europa, mehr Deutsche als Menschen in Dänemark, Norwegen und soviel wie in der Schweiz. Ihre Zahl beträgt 3,7 Millionen (fast 30% der Bevölkerung) und die meisten (rund 3,3 Millionen) wohnen innerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebietes, das Süd-, West- und Nordböhmen (mit dem größten deutschen Gebiet), Nord- und Südmähren sowie den größten Teil des jetzt böhmischen Schlesiens umfaßt (Abb. 26). Hier und im angrenzenden Sudetenabschnitt liegt das zweitgrößte Sprachgebiet. 400000 Deutsche bilden Mnderheiten. An Böhmen mußten wir am 4. Februar 1920 ohne Abstimmung das Hultschiner Ländchen (333 qkm) mit rund 47263 Einwohnern abtreten, die fast alle (93,7%) deutsch gesinnt und zu 70% Deutsche waren und laut und energisch, aber vergeblich das Recht der Selbstbestimmung gefordert hatten. Die künstlich zurechtgemachte tschechische Volkszählung errechnete 1921 nur 16% Deutsche. Mit der „Erlösung" dieser „flämischen Brüder" wurde die alte Staatsgrenze, die Oppa, überschritten (Abb. 19 u. 26). An der oberen Oder sollte im Bezirk Teschen (2240 qkm) und im Kohlen­ gebiet von Ostrau, die außer 155000 Deutschen (25%) 247000 Polen (45%)

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und 168000 Tschechen (30%) beherbergen, über die Zugehörigkeit zu Polen oder Böhmen abgestimmt werden. Die Polen suchten lange durch Mord und Einschüchterung die Entscheidung in ihrem Sinne herbeizuführen. Aber die Botschafterkonferenz hat ohne weiteres das Gebiet annähernd halbiert, wodurch mehr als 50000 Deutsche Polen, die übrigen der Tschecho-Slowakei zufielen. Der Teschener Korndor bis zum Jablunkapaß ist zweifelsohne ein natürlicher Bestandteil Schlesiens (Abb. 19 u. 26).

In Böhmen zählte man 1910 2468000 (36,8% der Bevölkerung), in Mähren 719000 (27,6%) und in Österreichisch-Schlesien 326000 Deutsche (43,9%), die größtenteils ein zusammenhängendes deutsches Sprachgebiet von 28000 qkm, d. i. mehr als y3 der drei Länder, belohnten (fast so groß wie Württemberg und Baden). Dazu kommen noch viele deutsche Sprachinseln (Schönhengster Land mit 1130 qkm und 149180 Deutschen, die von Jglau, Brünn usw.). In der Slowakei lebten 200000 Deutsche (bei Preßburg, im ungarischen Erzgebirge und in kleinen Sprachinseln). Die Tschechen suchen schlau und rücksichtslos das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet abzukapseln, zu zerstückeln und zu durchsetzen. Im deutschen Sprachgebiet, namentlich Böhmens, fand seit 1920 ein bedeutender Zuwachs der Tschechen statt, besonders von Lohnarbeitern (in Kohlen- und Industrie­ gebieten), aber auch von Landarbeitern und Kleinbauern, die in den Städten bald bürgerliche Berufsstände nach sich zogen (Gründung von nationalen Vereinen und Schulen), so daß die Grenze des geschlossenen deutschen Sprach­ gebietes bereits an verschiedenen Stellen durch Tschechen zurückgedrängt ist. Besonders gefährdet sind die Sprachinseln und die deutschen Minderheiten in tschechischen Bezirken, zumal die Deutschen an eine höhere Lebenshaltung gewöhnt sind. Das Zurütwrängen der deutschen Sprache wird begünstigt durch tschechische Geistliche, früher auch durch die tschechischen Staatsbeamten, welche die schwache Regierung planmäßig in deutsche Sprachgebiete sandte, obwohl sie im slawisch-natio­ nalen Sinne arbeiteten (Prag und Pilsen waren noch vor Jahrzehnten deutsch). So suchen die Tschechen die Deutschen zu einem Minderheitsvolk herabzudrücken. Das entspricht auch der tschechischen Auffassung, daß Böhmen, das Herz Europas, und die Tschechen darum berufen seien, mit Jugosiawien ein Mitteleuropa aufzurichten, worin die Deutschen höchstens als geduldete Mitläufer Platz fänden.

Bon den Deutschen, die lang vor den Tschechen Böhmen bewohnten und auf uraltem deutschem Kulturboden sitzen, dafür aber jetzt von diesen als „fremde Einwanderer" bezeichnet werden, kamen einzig und allein die befruch­ tenden Kultureinflüsse und damit die Möglichkeit der Existenz des heuttgen Staates. Sie haben den industriellen Weltruf Böhmens und Mährens begründet und noch heute ist die Industrie der neuen Republik, einst das Mckgrat des alten Kaiserstaates, ganz überwiegend deutsch (von den 1127 größeren In­ dustriebetrieben sind noch 746 deutsch und nur 192 tschechisch), besonders die Textil-, Glas- und Braunkohlenindustrie. Ohne die Deutschen. Böhmens hätte (nach Wieser) Wien niemals den geistigen Dienst als Reichshauptstadt vollziehen können. Die 6y2 Millionen Tschechen, die nur 45% der Bevölkerung ausmachen, haben bisher die fast 4 Millionen Deutschen, die ungefähr den angrenzenden deutschen Stämmen angepaßt, sich in Bayern, Franken, Obersachsen oder Mittel­ deutsche und Schlesier gliedern, vergewaltigt, obwohl sie wie alle öfter-

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reichischen Nachfolgestaaten durch den Friedensvertrag verpflichtet sind, die Rechte der Minderheiten zu wahren.

Sie haben ihnen, besonders auch den angeblich mährischen Hultschinern, das Wahl­ recht beschnitten, dafür der tschechischen Besatzung in den deutschen Gebieten das Wahl­ recht verliehen, Hunderte nieder- oder zu Krüppeln schießen lassen, haben Hunderte von deutschen Volks- und Mittelschulen geschlossen (insgesamt über 4000 deutsche Schulklassen), gewähren den Deutschen, welche die Hälfte der gesamten ©teuern bezahlen, nur 5% vom gesamten staatlichen Aufwand für Hochschulen und suchen sie sogar auszuhungem und ihnen den Grundbesitz zu nehmen. Durch sogenannte Boden­ gesetze beschlagnahmen sie allen landwirtschaftlichen, über 150 ha großen Grundbesitz (bisher fast 1 Mill, ha), die landwirtschaftlichen Industrien und den Wald. Von dem durch das „Bodenamt" aufgeteilten Besitz haben die Deutschen nur 2,5% er­ halten. Dabei wurde den früheren Besitzern nur 10% (in Rumänien den deutschen enteigneten Grundbesitzern gar nur 3%) des Wertes vergütet und das nur in einem unveräußerlichen, auf den Namen lautenden, schlecht verzinslichen Staatspapier. Durch die neue Sprachenverordnung (Februar 1926) wird die deutsche Sprache im Gegensatz zur slowakischen vollkommen entrechtet und die tsche­ chische ins kleinste deutsche Dorf getragen. M an will auf alle Fälle eine Staats­ sprache und damit einen geschlossenen tschechischen Nationalstaat schaffen. Ein Ausgleich zwischen den Tschechen und den Sudetendeutschen wird von der Mehrheit des tschechischen Volkes aufs schärfste abgelehnt. Sie fordert, daß ihr Staat tschechisch bleibe, ein wirklicher Nationalstaat sein müsse und kein Nationalitätenstaat sein dürfe, und endlich daß eine andere Sprache als die tschechische und slowakische int Parlament nie zugelassen werden könne. Mit allen Mitteln werden deshalb auch uralte kerndeutsche Kulturstädte tschechisiert.

Will "man doch mit der Tschechisierung fertig fein, bevor die zu befürchtende Revision der Friedensverträge kommt. Daher werden alle deutschen Schulen unter 40 Schülern zugesperrt, bloß die tschechischen nicht. Hat ein deutscher Ort noch keine tschechische Schule, so werden zwei kinderreiche tschechische Familien dorthin versetzt und sofort eröffnet man eine tschechische Staatsschule, wofür ärmere deutsche Kinder „gewonnen" werden. 1926 zählte man bereits in solchen Schulen — 7595 deutsche Kinder, die nun vollkommen tschechischen Unterricht genießen und int tschechischen Nationalwillen erzogen werden. Von 30 neu errichteten solchen Schulen int deutschen Gebiet werden 5 sogar nur von deutschen, 7 zu mehr als %, 3 zu mehr als 2/3,4 zu mehr als % und die übrigen zu mehr als % von deutschen Kindern besucht. Fast in jeder deutschen Gemeinde sind int Laufe der letzten Jahre, oft nur für das einzige Kind eines tschechischen Grenzers, neue tschechische Schulpaläste entstanden,' von denen auf Veranlassung des Finanzministers bisher bloß 13 wieder gesperrt wurden. Mer an der bayerischen Grenze, ja sogar in bayerischen Grenz­ gebieten selbst will man für die Beamtenkinder wieder neue tschechische Schulen errichten, ob nun tschechische Kinder vorhanden sind oder nicht. Das Gesetz „zur Regelung der Verhältnisse der Zivilingenieure" bezweckt die Tschechisierung der deutschen Wirtschaft. Um diese zu schädigen, schikaniert man die Deutschen mit (Kn- und Ausfuhrbewilligungen. Die deutschen Staatsbeamten wurden durch tschechische ersetzt, die deutschen Privateisenbahn­ gesellschaften verstaatlicht, um sodann die 40000 deutschen Arbeiter und Ange­ stellten zu entlassen. Auch in den wichtigsten Zentralämtern wurden die deutschen Staatsbeamten ausgeschaltet und nun will man Schlesien davon säubern. Und

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das nennen die Tschechen „Gleichheit" der Nationen. Außerdem steht das in krassem Widerspruch zur Tatsache der jetzigen tschechisch-deutsch-slowakischen Nationalitätenregierung!

Die Enteignung und Bodenreform benutzt der tschechoslowakische Staat besonders zur Kolonisierung des deutschen Gebietes, die Schließung der Schulklassen dient der Verminderung des deutschen Sprachgebietes und der kulturellen Verelendung der Deutschen und die Herabdrückung des Kulturniveaus derselben soll dem Tschechen die Überlegenheit sichern. Des­ halb werden selbst in Städten nur dreiklassige deutsche Volksschulen eingeführt. Der tschechische Staat arbeitet so von drei Seiten gegen das deutsche Volk, das doch keine Minderheit und kein geduldeter Mieter, sondern Mitbesitzer des Staates ist. Namentlich die „erlösten" Hultschiner werden entrechtet; seit 7 Jahren lebt dieses „Bruderland" im Ausnahmezustand. Es gibt nur mehr zwei kleine deutsche Schulen, so daß über 300 Kinder gezwungen sind, täglich außerhalb deutsche Schulen zu besuchen, Trotzdem bekennen sich Hultschiner bis heute zum Deutschtum (1926: 64% aller Wahl­ berechtigten) und wehren sich gegen die Tschechisierung.

Das Sudetendeutschtum in seiner reichen sozialen Gliederung, geistigen und wirtschaftlichen Beweglichkeit, nationalen Bewußtheit und erprobten Willens­ kraft will sich eben von dem Fremdstaate, in den es wider seinen Willen hineingezwungen und hineingesperrt wurde, nicht entnationalisieren lassen, zeigt vielmehr die ernste Entschlossenheit, das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung gegenüber der Fremdherrschaft zu fordern, die Ber­ einigung mit dem wirtschaftlich, kulturell und national aufs engste verbundenen Stammesbrüdern im Deutschen Reich und in Deutsch-Österreich zu erreichen oder wenigstens wirtschaftliche und politische Autonomie für sich zrrerringen. • Ist doch im Memoire III ausdrücklich gesagt, daß die deutsche Sprache wie eine zweite Staatssprache bei allen staatlichen Ämtern anwendbar sein werde, daß die Deutschen ihr Schulwesen selbst besorgen, ihre eigene Gerichtsbarkeit und ihren eigenen Beamtenstand haben würden. Das Gegenteil ist geschehen. In 10 Jahren müsse es eine Mllion Deutsche weniger geben, schrieb ein tschechischer Führer. Das Deutschtum ist aber auch in Nachteil gesetzt besonders durch die ver­ minderte Kinderzahl und die Abwandemng der Deutschen (etwa 200000). Dazu wurden gerade sie durch Kriegsopfer und Vernichtung des Volksvermögens stark geschwächt. Der Deutsche muß, wie vordem der Tscheche, lernen, sich von unten her zu organisieren, er muß aber vor allen Dingen endlich begreifen, daß er sich durch seine bisherige unverständliche Uneinigkeit selbst das Grab schaufelt.

3Z4 MillionenSudetendeutsche appellieren an das Weltgewissen, wenn es ein solches gibt, sie nicht vor den Toren des Mutterlandes dem Volks­ tode entgegengehen zu lassen. Trotz aller innen- und außenpolitischen Maß­ nahmen der Tschechen bekennen sich die Sudetendeutschen als ein Teil der deutschen Kultur-, Not- und Schicksalsgemeinschaft und werden diesem Treuebekenntnis gemäß hoffentlich nicht erlahmen, weiterzukämpfen. Wir Reichsdeutsche aber haben die heilige Pflicht, dieses wertvollste deutsche Volksgut wenigstens moralisch zu stützen und alles zu vermeiden, was dem Sudetendeutschland den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht erschweren würde. Hoffentlich bekommen die nicht recht, die ein Nachlassen

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-es sudetendeutschen Kampfes, ja ein kampfloses Zurückweichen der Deutschen vor dem Vordringen der Tschechen feststellen zu können vermeinen. Das tschechische Volk HAt unentwegt an seinem Bündnis mit Frankreich fest, stellt sich nach wie vor einmütig gegen alles Deutsche, vielfach auch gegen Deutsch­ land, und tut so, als ob es ohne dieses, den Hauptabnehmer, leben könnte. Und dabei ist das ebenso unmöglich, wie sich dieser echte Nationalitätenstaat jemals allein auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit uns einlassen kann, wenn er auch noch so sehr seine Jugend militärisch erzieht und eine moderne Armee zu schaffen sucht, um einmal den „unerläßlichen" Ausbau des tschechoflowakischen Staates über „die heute ver­ stümmelten Grenzen" hinaus besonders gegen Bagern hin zu vollziehen (Mb. 5). Die Tschechen müssen sich vielmehr den geographischen Verhältnissen anpassen und als flämisches Eiland im großen deutschen Meer in ein freundschaftliches Verhältnis zum westlichen Nachbarn zu kommen suchen, wenn sie nicht ertrinken wollen. Das Sudetendeutschtum würde die beste Brücke zum Deutschen Reich bildens

e) Die Südmarken. Deutsch-Österreich. Der Territorialstaat Osterreich-Ungarn mit über 11,2 Millionen Deutschen ist 1918 in Trümmer gegangen, da es nicht gelungen ist, trotz des Deutschen als Staatssprache (seit 1784) und trotz der deutschen Schulen der Gesamtbevölkerung einen gleichmäßigen Charakter, einen Gesamtwillen zu verleihen. Die nationalen Gegensätze haben endlich zum Zusammenbruch geführt, auf den übrigens planmäßig hingearbeitet worden war. Österreich, das gar nicht aus einer Nation, sondern aus verschiedenen Nationalitäten be­ stehen wollte, wurde während des Krieges nur durch eine zentralistische Staats­ gewalt, die das Streben nach Autonomie unterdrückte, am Leben erhalten.

Unter der Flagge des freien Selbstbestimmungsrechtes haben sich Italiener, Tschechen, Polen, Rumänen und Serben lebenswichtige Stücke der Monarchie angeeignet. Da die Deutschen an Zahl den anderen Nationen nicht erheblich Aberlegen waren (in Österreich waren sie den zweitstärksten Tschechoslowaken um mehr als 3 Millionen voraus, absolut aber zählten sie nur 35,8%, in Ungarn gar nur 10,4% der Bevölkerung), mußten sie die führende Stellung verlieren und sich jede Vergewaltigung gefallen lassen. Auch fehlte ihnen der Rück­ halt an Deutschland, das sich um sie auch gar nicht kümmerte, nachdem es schon vor 1914 den Deutschen in Österreich viel zu wenig Interesse entgegen­ gebracht hatte. So hat man versäumt in den Tagen des Umsturzes 1918 sich die Hauptmasse der Deutschen in Österreich anzugliedern. Statt dessen, schuf die Entente Deutsch-Österreich, dessen Lebensunfähigkeit durch sie selbst und die Nachbarstaaten künstlich aufrecht erhalten wird. Österreich ist finanziell und wirtschaftlich vollständig von der Entente abhängig, ja befand sich bereits ein paar Jahre in deren Zwangsverwaltung. Aber unter keinen Umständen will sie entgegen dem Selbstbestimmungsrecht den Anschluß an Deutsch­ land gestatten. Sie sähe vielmehr ganz gern einen solchen an einen Donaubund, wozu England und besonders Frankreich, nicht aber Italien ihre Unterstützung leihen würden. Auch Bayern könnte sich diesem anschließen und sich sogar mit Deutsch-Österreich und eventuell den anderen süddeutschen Staaten zusammenschließen. Dadurch wäre Deutschland im Süden und Osten wirtschaftlich abgeschlossen, im Süden abgespertt von Italien und der Nähe der Adria, im Osten von den Agrarstaaten Ungarn und Jugoslawien

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und weiterhin auch von Rumänien und der Ukraine. Diese reichen Gebiete will an Stelle Deutschlands vor allem England in Wettbewerb mit Frankreich, das sich auf dem Balkan ebenfalls einen großen Einfluß gesichert hat, wirtschaftlich ausnützen.

Aber an der Donau wird keine von Frankreich geleitete Macht die Führer­ rolle spielen und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten entgegen den natür­ lichen Zusammenhängen meistern. Diese Führerrolle wird dem einzig dazu berufenen Lande, Deutschland, von selbst zufallen.

Am 30. Oktober 1918 bildeten die Deutschen Österreichs den Staat DeutschOst e rr e i ch, der das gesamte deutsche Siedlungsgebiet der Alpen und der Sudeten­ deutschen mit rund 10 Millionen Deutschen umfassen sollte. Aber St. Germain und Trianon haben davon 4 Millionen Deutsche abgetrennt (Abb. 21)! Deutsch-Österreich umsaßt nur mehr Ober- und säst ganz Nieder-Osterreich, Salzburg, Nordtirol, Vorarlberg, den Hauptteil von Kärnten und Steiermark und größtenteils den zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet gehörigen Teil Westungarns, das autonome Heinzenland, mit zusammen 6 Millionen Deutschen. Nicht ganz 4 Millionen Bergbewohner sollen also für die Riesenstadt Wien Brot schaffen!

Unsere ehemaligen Feinde, vor allem Frankreich, haben diesen Deutschen des Bruderstaates den Anschluß an Deutschland verboten und ihnen so das Recht der Selbstbestimmung, des eigenen Willens, genommen.

Es ist bemerkenswert, daß sich ganz besonders auch Italien, das sehr gern sich selbst ganz Österreich, wenigstens aber Vorarlberg, Nordtirol und Salzburg einverleibt hätte, als Gegner des Anschlusses betätigt. Angeblich fürchtet es, Deutschland, besonders Bayern, würde dadurch wirtschaft­ lich gestärkt, zumal dieses dann nicht mehr durch einen Pufferstaat von den Donauund Balkanländern getrennt wäre. Ferner würde es isoliert sein, da jetzt Österreich immer noch den Korridor zur befreundeten Tschcchei und zu Polen bilde. In Wahrheit fürchtet Italien das dadurch größer gewordene Deutschland. Aber auch die Tschecho-Slowakei ist dagegen, da sie selbst in Öster­ reich, besonders in Wien, immer weiter eindringt und so in absehbarer Zeit hofft, wenigstens Nord-Osterreich nördlich der Donau oder ganz Nieder-Osterreich mit Wien, mit zusammen 21/» Millionen „Landsleuten tschechischen Blutes", r-i aber „nur" 90000 bewußten Tschechen, sich anzugliedern. J-[_ Geographisch fürchtet es auch die Umklammerung durch

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ejn vergrößertes Deutschland. Es würde sich gern einen Korridor nach Jugoflawien und Italien sichern (Abb. 30). ■SS8SH In den tschechischen Lehrbüchern der tschechischen Wiener ,-L___ Volksschulen steht, daß in Wien 500000 Tschechen seien, ■M-III äl I ------1------ während es nur 79000 gegen 98000 1900 sind. An der Grenze Niederösterreichs wird von den Tschechen alles aufgeboten, um möglichst viel deutschen Besitz in ihre Hände zu bekommen und dann später tschechische Schulen Abb.80. Österreich als errichten zu können. Allein 1925/26 wurden 39 niederöster­ Binnenstaat. reichische Gutshöfe an Tschechen (meist Israeliten) verkauft, die nur Tschechoflowaken einstellen und so systematisch das Gebiet entnationalisieren. Wenn Österreich weiter am Leben bleibt, so verdankt es das nur dem Neid Frankreichs, Italiens, Jugostawiens und der Tschechoslowakei, von denen die letzten drei möglichst viel österreichisches Land besitzen möchten.

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Der Ruf nach Anschluß ist bei einem Teil noch kein leidenschaftliches Be­ kenntnis zur alten Heimat, sondern nur der Ausdruck des Verlangens nach Hilfe in der Lebensnot. Aber wenigstens wir Reichsdeutsche wollen schon aus völkischem Bewußtsein heraus und zur Stärkung unserer Volkskraft und noch aus vielen geographischen, geologischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grün­ den den Anschluß ganz Deutsch-Österreichs durchzusetzen suchen. Die Schranken des Friedensvertrages können nicht auseinanderhalten, was in Blut, Natur und Geschichte, kurz mit Recht zusammengehört. Dann findet Deutschland, vorab Bayern, das deutsche Tor nach Südosten, die Donau, offen, und diese wird zur natürlichen Hauptträgerin des deutschen Wirtschaftsverkehrs und der deutschen Kultur nach dem Balkan und dem nahen Orient, aber auch zum Bindeglied mit den vielen deutschen Vorposten, die schon vor Jahrhun­ derten in ihrem Tal bis zu ihrer Mündung ausgeschickt wurden.

Ldenburg oder Ungarisches Burgenland. (Ungarn). Österreich beanspruchte auch Deutschwestungarn oder das „Bierburgen­ land", den von 300000 Deutschen bewohnten ungarischen Streifen zwischen Preßburg und der Mur längs der ehemaligen österreichischen Ostgrenze (Abb. 26). Die Entente sprach auch, wohl um Österreich und Ungarn für immer zu ent­ zweien, das Burgenland Deutsch-Österreich zu, zu dem es größtenteils früher schon gehört hatte. Doch wurde es, obwohl es seiner ganzen Natur nach zusammengehört, 1921 nicht vollständig seinem rechtmäßigen Besitzer über­ geben, sondern zerrissen: Preßburg blieb in den Händen der Tschechen und der 400 qkm große östliche Teil mit Wiesel- und Odenburg, Güns und St. Gott­ hard mit 26000 Deutschen (40000 Einwohnern) bei Rumpfungarn, das bis zuletzt versucht hatte die rein deutschen Einwohner zu magyarisieren und das unter häßlichem Terror die in Odenburg (60% Deutsche) mit italienischer Hilfe zugelassene Abstimmung zu einer Farce machte (trotzdem 40% für Österreich). Schon auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes, aber auch aus anderen geopolitischen Gründen ist zu wünschen, daß das ganze Burgenland zu Österreich kommt und einmal großdeutsch wird, zumal der österreichische Teil (mit nur 4000 Ungarn) noch heute den Gegenstand ständiger Angriffe (besonders finanzielle Abhängigmachung) von Seiten der Ungarn bildet. Odenburg, dieses alte Bollwerk des deutschen Volkstums, ist der natürliche Wirtschafts- und Ver­ kehrsmittelpunkt des ganzen Landes, muß daher ohne dieses zugrunde gehen. Immer wieder riefen ungarische Könige zur Sicherung und Erhaltung ihrer Herrschaft Deutsche ins Land. Seit 1848 wurden sie, die „treuesten Untertanen", aber geknechtet wie nicht leicht in einem Lande, bis 1918 die Magyarisierungspolitik den ungarischen Staatsverband sprengte. Die Mehrzahl der L Millionen Deutschen, die der jahrzehntelangen Magyarisierung im falschen Nationalstaat Ungarn widerstanden hatten (leider haben die Intelligenzen und Adeligen ihr Deutschtum selbst aufgegeben), ist nun bis auf fast 700000 (n. a. 500000) Seelen an andere Staaten gefallen. Diese bilden nördlich vom Plattensee, am Donauknie, zwischen Fünfkirchen und Donau („Schwäbische Türkei") starke Minderheiten. Seit 1890 sind die Deutschen,

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denen die Magyaren fast ausschließlich ihre Kultur verdanken, besonders in den Sprach­ inseln, an Zahl zurückgegangen (Budapest noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine vorwiegend deutsche Stadt). Sie sind stark gefährdet, zum Teil aus Mangel an finanziellen Mitteln (nur ein deutsches Sonntagsblatt) und weil sie bis heute kulturell und politisch benachteiligt werden (sehr rührig der Deutsche Volksbildungsverein). Die neue Regierung will seit 1925 einem Teil der künftigen Lehrerschaft durch Erlernen der deutschen Sprache Gelegenheit bieten, dem Glauben, der Sitte und den Kulturaufgaben der Deutschen nachdrücklicher dienen zu können. Doch müssen die Deutschen, welche die weitaus stärkste Minderheit bilden, bis heute um ihre Rechte ringen (noch immer ohne deutsche Schule).

Untersteiermark. Wochein und Tarvis — Pontafel. (Südflawien). Dem neuen Staate Südslawien fielen mit riesigen Landstrecken zahl­ reiche fremde Mnderheiten als „Glücksbeute" zu, besonders fast 750000 Deutsche (die Volkszählung von 1926 gibt nur 513472 an!), von denen bei­ nahe y2 Million in den blühenden, wohlhabenden deutschen Siedlungen in der ehemaligen ungarischen südlichen Donau-Theiße-Ebene, namentlich in der Batschka und im Südwesten des Banats leben und geschlossene deutsche Mnderheiten bilden.

Die Deutschen waren hier die ersten Ansiedler in der von den Türken nach 1700 zürückgelassenen Wildnis. Die deutschen Niederlassungen in Kroatien und Slawonien, besonders im sog. Syrmien, zählten 1910 rund 134000 Deutsche. Die 10000 Deutschen in Bosnien waren hauptsächlich in den letzten Jahrzehnten eingewandert, haben aber nunmehr zum Teil das Land wieder verlassen. Da sie eine bedeutende Rolle für die Kultivierung und Ernährung des Landes einnehmen, so sind sie vor schädigenden Eingriffen geschützt. Im slowenischen Gebiet der ohne Abstimmung und entgegen den geographischen Verhältnissen an Südflawien abgetretenen Alpenländer, nämlich von Krain (Wochein) und Teilen von Steiermark und Kärnten (Untersteiermark), lebten 109286 Deutsche, zum Teil in Sprachinseln; in Untersteiermark sind es stets die größeren Orte (Marburg), die eine deutsche Mehrheit aufweisen. Die größte Sprachinsel Krains ist Gottschee (Abb. 26). Südflawien hat entgegen dem Selbstbestimmungsrecht das ganze „unter­ steierische Dreieck" mit rund 500000 Einwohnern (60000 Deutschen) an sich gebracht und so die steierische Einheit zerrissen, obwohl die Save bereits 600 Jahre lang die Grenze gebildet hatte. So ist denn jetzt auch nördlich der neuen Staatsgrenze, die 15—20 km nördlich der Drau jedem völkischen und wirtschaftlichen Bedürfnis entgegen ein von Deutschen besiedeltes Waldgebiet und Weinland durchschneidet, die bei Österreich verbliebene Bevölkerung durch die Zerreißung des Wirtschaftsgebietes und die Absperrung natürlicher Zugänge vom Süden her in große Not geraten. Auch Italien hat von Kärnten 1918 ein kleines Stück annektiert, den 330 qkm großen Zipfel Tarvis-Pontafel-Weißenfels (das Kanaltal) mit 8000 Einwohnern (4000 Deutschen), nordwestlich der Wochein. Die deutsche Sprache war bis in die jüngste Vergangenheit nach Slowenien und Kroatien vorgedrungen, woran schon die vielen noch slawischen Ortsnamen in Teilen

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Steiermarks und Kärntens gemahnen; aber die letzten Jahrzehnte brachten dem deutschen Volkstum fast gleichzeitig Einbußen an politischer Machtstellung wie am Volksboden, die in dem durch den russischen Panflawismus vielfach künstlich gesteigerten Nationalbewußtsein der Slowenen ihre Ursache hatten. Aber auch das Haus Habsburg begünstigte die Slowenisiemng Krams usw. und das Binnendeutschtum verhielt sich gleichgültig gegenüber den Slawen, die infolge des Mangels an deutschem Nachschub einen Ort nach dem andern eroberten. Daher wanderten viele Deutsche aus oder wurden — Slowenen. Durch die Schuld der Habsburger wurde auch in Kroatien von 250000 Deutschen (1880) fast die Hälfte kroatisiert. Im südslawischen Staat handelt es sich, außer in Slowenien, meist um eine bäuerliche deutsche Bevölkerung, die trotz langer Fremdherrschaft ihre Sprache und ihre Sitten bewahrt hat; so wird sie es hoffentlich auch in Zukunft halten. Die Verschiedenheit des Kulturbesitzes ist zu groß, als daß ein Aufgehen der deutschen Ansiedler im serbischen Volkstum zu erwarten wäre. Namentlich die „Schwaben" an der Donau, die aus den Sümpfen in 200-jähriger Arbeit ein blühendes Land gemacht haben, halten einmütig zusammen. Doch haben die Deutschen, welche die bedeutendste Minderheit im Lande bilden, unter der Gegnerschaft der Serben aufs schwerste zu leiden. So blieben die 750000 Deutschen nahezu fünf volle Jahre von allen politischen Rechten ausgeschlossen und 1925 wurden in den meisten deutschen Gemeinden % der Wähler durch bewaffnete Banden an der Ausübung des Wahlrechtes behindert. Noch heute leben die Deutschen entgegen allen Verträgen in einem schweren Ausnahme­ zustand, ja man betrachtet sie als vollkommen recht- und schutzlos (besonders der Willkür der Beamten gegenüber). Man hat den deutschen Minderheiten, besonders den „Schwaben" an der Donau durch die sogenannte Agrarreform vielfach sogar ihr Kulturland genommen (bis 1926 über 500000 ha) und die deutschen Schulen so „verstaatlicht", daß es heute im ganzen Lande keine einzige deutsche Schulklasse mehr gibt. „Das Vorhandensein von 750000 bodenständigen Deutschen muß geleugnet werden oder wir müssen sie vernichten", wagte man auszurufen. Daher sind schon Tausende, arm und brotlos geworden, nach Südamerika ausgewandert. Etwas besser ist die Lage fürs Deutschtum vielleicht in Kroatien (in Agram ist das Deutsche zweite Umgangssprache). Aber auch hier werden die deutschen Kinder mit dem größten Nachdruck kroatisiert. In Slowenien dagegen, in dieser schönen deutschen Südmark, werden die Deutschen ähnlich den Südtirolern innerlich zermürbt und unterdrückt. Dagegen erheben die Slowenen immer wieder ungerechte Klagen über die Benachteiligung in Kulturdingen der steierischen und kärtnischen Windischen, obwohl diesen nunmehr das Recht der kulturellen Autonomie zugesichert ist. Im deutschen Kärnten selbst gibt es eine mit Millionen unterstützte jugo­ slawische Jrredenta, obwohl 1927 bei den Wahlen nur 9334 für die Slowenen gestimmt haben. Sollte sich Österreich Deutschland anschließen, so verlangen die Jugo­ slawen von Kärnten weitere deutsche Gebiete und wollen sich diese eventuell mit Waffen­ gewalt sichern. Wie die Tschechen im Norden, so betreiben die Slowenen im Süden Deutschösterreichs systematisch Siedlungspolitik um einmal den Traum einer slawischen Brücke zwischen den beiden Völkern zu verwirllichen. Die Slowenen haben den Deutschen die Vereinshäuser, Theater, Alpenhütten und Schulen genommen. Sogar der deutsche Gesangverein im deutschen Gottschee wurde aufgelöst (S. 184). Nach dem Zusammenbruch (1918) brachen die Südslawen in Kärnten ein; infolge des heldenmütigen Widerstandes der Kärntner wurde die Welt auf deren Verzweiflungskampf aufmerksam, so daß schließlich von der

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Entente eine Volksabstimmung in zwei Zonen angeordnet wurde. Obwohl die Südslawen die südliche Zone besetzt hielten und ein rücksichtsloses Gewalt­ regiment ausübten, war der Sieg am 10. Oktober 1920 ganz überwältigend. In den abgetretenen Alpengebieten wurden unter stillschweigender Billigung der Belgrader Regierung 1918 und 1919 viele Volksgenossen ermordet oder zu Krüppeln geschossen (Blutbad durch die Krainer Slowenen am 27. Januar 1919 in der deutschen Stadt Marburg a. D.). Zehntausende von Deutschen wurden in Untersteiermark von der ererbten Scholle verjagt und die Zurückgebliebenen der Willkür einer Halb­ intelligenz aus Krain ausgeliefert, die sie rücksichtslos zu slowenisieren sucht. Wenn auch die Zahl der Grenzdeutschen von Radkersburg bis Tarvis (Abb. 26) heute nicht mehr ganz 70000 beträgt, sollte dieses Unrecht doch wieder gutgemacht werden; denn alle Städte und Märkte des Grenzdeutschtums sind heute noch trotz der künstlichen Tünche (seit 1918) deutsch und das über­ wiegend slowenische Bauerntum ist der Kultur nach deutsch, in der Gesinnung steierisch und in der Religion katholisch, im Gegensatz zu den griechischorthodoxen serbischen Gewalthabern. Natürlich kann man verlangen, daß auch Italien das annektierte TarvisPontafel dem rechtmäßigen Besitzer, Österreich, zurückgibt. Untersteiermark sollte wenigstens bis nördlich von Rann (Abb. 26) wieder zu Österreich kommen, und wenn nur, um dem deutschen Südmeer wieder etwas näher zu sein und eine einigermaßen gerechte Grenze zu erhalten. Westlich davon können nicht die Karawanken Grenze sein, sondern nur die Julischen Alpen, die eine gewaltige natürliche Trennungsmauer, eine Kultur-, Klima-, Pflanzen- und Völkerscheide bilden. Dadurch käme die 1200 qkm große, seit Jahrhunderten deutsche, krainische Wochein mit 9000 Einwohnern zu Gesamtdeutschland. Der rücksichtslose Vernichtungskampf gegen das. Deutschtum geht weiter, trotz aller Bewerbung um die Freundschaft des Deutschen Reiches. Hoffentlich kommen die Südslawen bald zur Besinnung! Denn das Gemeinschaftsgefühl mit den deutschen Volksgenossen außerhalb unserer Grenzen läßt uns nur mit einem Staate zusammengehen, der sie gerecht behandelt. Wir unter­ stützen daher das Verlangen der Grenzdeutschen und der Deutschen in der Zerstreuung in Jugoslawien, nämlich nach Gewährung nationaler Selbst­ bestimmung, kultureller Selbstverwaltung, kurz nach Durchführung des im Friedensvertrag festgelegten Minderheitenschutzes. Nunmehr scheint (?) endlich die Lage des Deutschtums in Jugoslawien eine Wendung zum bessern genommen zu haben. In die Skupschtina sind sechs deutsche Abgeordnete eingezogen und der „Deutsche Kulturbund" versucht seine bisher stark behinderte Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Deutsch-Südtirol. (Italien). Italien besaß bis 1918 nur einige deutsche Sprachinseln, -Halbinseln und Minderheiten, und zwar in dem 1866 italienisch gewordenen Venetien (7 und 13 Gemeinden, aus denen Bürgers „Braver Mann" stammte, Bladen, Tischlwang, Zahre usw.), am Südhang des Griespasses (südlich von der Furka) und

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südlich vom Monte Rosa (Abb. 26), wo wie in Gottschee und Gossensaß Reste der besiegten Ostgoten wohnen sollen, zusammen rund 11000 Deutsche. Mit dem welschen Trentiner Gebiet annektierte es 1918 weitere deutsche Sprachinseln, wie Fleimstal, Persen, Lusern, Laftaun und Bielgereut mit 25000 Deutschen, ferner mit den 20000 Deutschen des Küstenlandes leider auch Deutsch-Südtirol (230000 Grenzdeutsche). Infolge eines „Irrtums" des Präsidenten Wilson wurde den Italienern die soge­ nannte „strategische" Brennergrenze als Lohn für ihren „Sacro egoismo“ zugesagt und ihnen mit dem Diktatfrieden von St. Germain Deutsch-Südtirol vom Brenner bis Salurn trotz aller Proteste der Bevölkerung abgetreten. Die Deutschen wohnen hier im geschlossenen deutschen Sprachgebiet bis Salurn. Mt den4000 Deutschen des Kanaltals kamenrund 280000 Deutsche an den italienischen Staat: ein Hohn auf das Selbstbestimmungsrecht! Die italienische Wanderbewegung nach dem Norden, die schon vyr dem Weltkriege starke italienische Minderheiten im südlichen Teile des deutsch­ tiroler Sprachgebietes zur Folge hatte (einst war alles bis zum Gardasee deutsch!), setzt sich nun noch stärker fort. Schon seit Jahrzehnten suchen die italienischen Irredentisten die deutschen Sprachinseln, auch die bei Trient, zu verwelschen. Schon um 700 siedelten die Bayern im Pustertal, im 8. Jahrhundert gab es in Bozen bereits bayerische Grafen und im 11. hier ein einheitliches deutsches Sprachgebiet. Das Deutschtum war also im heutigen Südtirol 1400, im alten Welschtirol über 1000 Jahre herrschend und nicht die Deutschen waren dort die Eindringlinge, sondern die Römer, die nur 400 Jahre hier zu Hausen vermochten, und später die Italiener. Denn auch Welschtirol südlich von Salurn besaß bis 1600 eine unbestrittene deutsche Mehrheit, war also starkes deutsches Grenzland (Bistum Trient deutsches Fürstentum! Bei Trient zahlreiche ger­ manische Funde, überall das deutsche Haufendorf). Die Gegenreformation und die Ära Metternich mit ihrer Bevorzugung des Italienischen haben den Berwelschungsprozeß am meisten gefördert. Wie Italien vor 300 Jahren begonnen hat uns altes Volksgut zu rauben, so will es dies auch heute tun. Der Deutschsüdtiroler ist nun vogelfrei. Man will das Deutschtum vollkommen ausrotten, einfach aus der Welt schaffen (viele wurden bisher ermordet, zu Krüppeln geschlagen und unschuldig einge­ sperrt). Mussolini selbst gab offen als Ziel der Entnationalisierung Tirols die Schaffung einer neuen Provinz an. Der Faschist übertrifft hier fast noch den Slowenen. Und dabei hatten Italiens Regierungsstellen den Südtirolern feierlich versichert, ihre Kultur, Sprache, Rechte, Religion, kurz ihr Volkstum zu achten. Außerdem sind die Italiener auf der Friedenskonferenz entschieden für den Minder­ heitenschutz eingetreten. Das faschistische Regiment aber hat 1922 die Jtalienisierung Südtirols als Programmpunkt ausgestellt. Alle Rechte dieses Bolksteils werden jetzt mit Füßen getreten. Die deutschen Beamten oder Bürgermeister wurden entlassen oder verjagt, der Name Tirol ausgelöscht. . Mit Gewalt wird die deutsche Sprache ausgerottet, die deutsche Schule (400 an der Zahl), der deutsche Religionsunterricht — alles, was heilig ist, alles, was an deutsche Stammesgemeinschaft erinnert — unterdrückt! Unsagbar traurig sind daher die Simmet, Grundzüge der Geopolitik.

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Folgen, namentlich für die 35000 deutschen Kinder. Deutsche Geistliche werden ver­ trieben, deutsche Jugend wird in süditalienische Regimenter gesteckt. Die deutsche Presse ist ausgerottet, so daß das unglückliche Voll sein Leid nicht einmal der Welt klagen kann. Der Terror der faschistischen Gruppen kennt keine Grenzen. Stile Gewalt­ taten der Faschisten bleiben ungesühnt. Zuletzt wurde sogar zu einem Verbot jedes Privatunterrichts in der Muttersprache geschritten! Der Tiroler ist nicht mehr frei in seinem eigenen Hause. Er darf nicht mehr frei über seinen Grund und Boden verfügen. Ohne Bewilligung des Militärkommandos darf nichts mehr gekauft und verkauft werden. Immer wieder werden Haussuchungen vorgenommen. Der deutsche Besitz soll abgelöst oder in fremde Hände getrieben werden. Baugründe werden zum Terl ohne Entschädigung enteigne^ deutsche Familien von Haus und Hof vertrieben, um ein italienisches Dorf, ein „Sregesdorf", anlegen zu können. Der Präfekt von Trient hat alle deutschen alpinen Vereine aufgelöst und mit allen beweglichen und unbeweg­ lichen Gütern (75 Hütten) der Verwaltung des Clubs alpino überwiesen. Am 21. Oktober 1927 wurde verfügt, daß der Gebrauch von doppelsprachigen Aufschriften für sämtliche Gemeinden verboten sei. Schon 1923 hatte eine vollständige Übermalung des deutschen Straßenbildes durch italienische Aufschriften stattgefunden. Die Gesetze und Verordnungen zielen planmäßig darauf hin, dem Deutschtum ein Ende zu machen. Tirol soll ein namenloses Land werden. Eine gewaltsam aufaedrückte italienische Maske soll das wahre Gesicht Südtirols vor dem Beschauer verstecken und so die öffentliche Meinung irreftlhren. Deshalb mußten die deutschen tausendjährigen Namen der Familien, Höfe, Städte, Dörfer und die deutsche Verkehrssprache verschwinden. In den Kirchen darf deshalb nur mehr italienisch ge­ predigt werden. Den Schülern der Bozener Schulen wurde das Deutschsprechen sogar in Pausen und auf der Straße verboten. Eine italienische Denkschrift betont, daß Bozen zur Hälfte italienisch sein werde, wenn die deutschen Familiennamen ausgetilgt seien. Daher dürfen seit 1927 die Grabinschriften nicht mehr deutsch gehalten sein und alle einschlägigen Betriebe sind sogar zur Zwangsabnahme italieni­ scher Litteratur verpflichtet. In allen öffentlichen Lokalen mimen bte Bilder des italie­ nischen Herrscherpaares und Mussolinis hängen und bei faschistischen Feiern muß reichlich geflaggt werden. Option, Ausweisung und Ausmerzung des deutschen Namens bereiten die Volkszählung vor, bei der jeder, der einen italienischen Namen trägt, als Italiener gelten wird. Mit dieser Volkszählung will der Italiener wieder gutmachen, was der „Borwärtsdrang des Deutschtums geschaffen" hat.

Die Italiener haben für ihre Minderheiten volle Entwicklungs­ möglichkeit und das Recht der Errichtung von Schulen und Erziehungsanstalten beansprucht und erreicht! Ja, in der Cyrenaika und in Tripolitanien sind (mit Dekret vom 31. Januar 1924) für die Italiener und Libyer besondere Schulen zugesichert. Den Deutschen Südtirols wird also nicht einmal das Naturrecht eines Farbigen in Afrika zugebilligt! Dabei besaßen alle Italiener im alten Österreich ihre staatlichen Volksschulen in der Muttersprache.

Niemals ist ein Volk härter in seinen heiligsten Gefühlen gequält und gedemütigt worden als das edle Tiroler Volk, nur, weil es deutsch ist, deutsch fühlt, Kaum 120 km von München entfernt kämpfen über 250000 stammver­ wandte Volksgenossen einen Verzweiflungskampf für ihre Art und Muttersprache und deshalb auch einen schweren, wirtschaftlichen Kampf (hoher Steuerdruck, amtliche Finanzmißwirtschaft). Sollen 250000 Wehrlose ent­ wurzelt, kulturlos gemacht und um ihren besten Seeleninhalt gebracht, für immer ein elendes Dasein führen? Nein! Zunächst hat dort eine von der ganzen Be-

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völkerung getragene Bewegung um Erhaltung der Kultur, um freien Gebrauch der Muttersprache in Handel, Verkehr und in der Schule, um volle staatsbürgerliche und wirtschaftliche Gleichberechtigung eingesetzt, ohne das End­ ziel, die vollständige Selbstverwaltung und schließlich die Befreiung von fremder Knechtschaft, die Wiedervereinigung mit den Brüdern in Nordtirol, aus den Augen zu verlieren. Wir hegen den heißen Wunsch, daß für DeutschSüdtirol auch wieder die Stunde der Erlösung schlagen möge, für dieses deutsche Land, das seit urdenklichen Zeiten rein deutsches Kulturgut war, in dem einst das Nibelungen- und Gudrunlied ausgezeichnet wurde, in dem einst Walther von der Bogelweide und Oswald von Wolkenstein ihre Minnelieder sangen. Die Leiden Deutsch-Südtirols sind unsere Leiden, besonders die der Bayern! Südtirol und Böhmisch-Waldgau sind ja auch die Betreuungsge­ biete des bayerischen Landesverbandes für das Deutschtum im Auslande. Da viele Italiener von der Wiederaufrichtung des Imperium Romanum träumen, wollen sie auch vor dem Brenner nicht Halt machen, sondem wollen ganz Tirol, das ganze Paßland, wollen eine unmittelbare Grenze mit Deutschland (in Mailand Ausschuß zur Eroberung Nordtirols). Daher erschallt nicht selten der Ruf: „Der Brenner ist rein Endziel, sondem ein Ausgangspunkt!" (Abb. 26). Daher wird auch die wirtschaftliche Durchdringung Nordtirols von Italien eifrig betrieben: in Jnnsbmck zählt em faschistischer Wirtschaftsverein schon 200 Mitglieder!

Dabei gehörte aber Deutsch-Südtirol von Anfang an, über 1000 Jahre, eigentlich ja 1400 Jahre, zum Deutschen Reiche. Alpen und Brenner waren nie eine Völker- oder Sprachenscheide, bildeten niemals eine Staats­ grenze, nicht einmal in römischer oder vorrömischer Zeit. Brenner und Rechen­ scheideck wirkten zu allen Zeiten verbindend für die Landschaften nördlich und südlich und nicht trennend; Natur, Wirtschaft und Kultur sind die gleichen nördlich und südlich vom Brenner. Nord- und Südtirol bilden daher eine geographische Einheit, aber eine deutsche und nicht für Italien! Auch die 40000 (nach anderen sogar 94000) Ladiner des Grödner-, Gader-, Ampezzo- und Buchensteiner Tales betrachten sich als von Italien geknechtet. Sie lehnen es entschieden ab zur italienischen Nation gerechnet zu werden, wollen vielmehr als Rätoromanen mit deutscher Kultur behandelt werden und unbedingt zu einem selbständigen Deutsch-Südtirol gehören.

Liechtenstein. Das Fürstentum Liechtenstein zwischen Vorarlberg und Schweiz ge­ hörte politisch und geographisch immer zum Deutschen Reiche (bis 1806) und zum Deutschen Bund (1815—1866) und lebte bis 1919 in völliger gesetzlicher und wirtschaftlicher Anlehnung (österreichische Post, Zölle) an Österreich. Die 10000 Bewohner sind reine Grenzdeutsche.

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f) Die Deutschschweiz.

Die 2,75 Millionen Deutschschweizer, die a/3 der Gesamtbevölkerung ihres Landes umfassen, haben sich 1648 endgültig von ihrem Mutterlande ge­ trennt, obwohl sie in jeder Hinsicht, geographisch, geologisch, völkisch, kul13*

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Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

tutelt, zu Deutschland gehören. Sie bewohnen meist ein geschlossenes, geo­ graphisch scharf umrissenes Sprachgebiet (Abb. 26), wollen aber ihre eigenen Wege gehen. Vielleicht führt sie die Not einmal wieder zu Deutschland zurück,

g) Zusammenfassung. An das heutige Rumpfdeutschland mit Saargebiet schließt sich also unmittelbar ein Grenzdeutschland an, das einschließlich Deutsch-Schweiz, Flandern und Holland die Riesenfläche von 276000 qkm mit fast 30 Millionen Grenzdeutschen umfaßt, d. i. an Fläche mehr als Großbritanniens und Irlands oder Italiens, an Einwohnerzahl größer als Polen (Abb. 31 u. 32).

Ohne die genannten drei Grenzdeutschländer beträgt das Grenzdeutsch­ tum 203000 qkm (— 6 mal Holland oder s/6 Jugoslawiens) mit rund 14 Mil­ lionen Deutschen (13,7 Mill.), d. i. mehr als Tschecho-Slowakei oder Südflawien und beinahe so viel wie Rumänien! Das sind schreckliche Zahlen, die im Zeitalter des Selbstbestimmungsrechts laut zum Himmel um Gerechtig­ keit rufen! Noch keinem Volk der Erde hat man bis jetzt solches Unrecht angetan! Damit ist aber das traurige Schicksal des deutschen Volkes noch lange nicht erschöpft. In Europa und Russisch-Asien befinden sich außerdem in 14 Staaten starke deutsche Minderheiten, die meist im schweren Kampf um ihr Volkstum stehen. Das gilt vor allem von den deutschen Minderheiten in Litauen (10—20000), einst auch in Estland (noch 30000) und Lettland (noch 70000), in den baltischen Reichslanden, wo Tausende von Balten 1914/18 ihr Leben ver­ loren und wo man ihnen den ganzen Besitz nahm, obwohl nur 25% des Bodens in deutschen Händen war, heute noch in Polen (700000?), in der Tschecho-

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Slowakei (400000), in Jugoslawien (680000), Rumänien (900000), wo ihre Lage noch durch unerträgliche wirtschaftliche und politische Verhältnisse verschlechtert wird, in Italien (36000), besonders im Küstenland, wo sie einen zähen Kampf kämpfen, zum Teil auch in Ungarn (5—700000) und Däne­ mark (20000); besser geht es ihnen in Bulgarien (5000) und heute wieder im EuropäischenRußland (800000), wo sie an der Wolga durch die Bil­ dung einer eigenen, 25000 qkm großen Sowjetrepublik (400000 Deutsche) nach vielen Leiden ihr Volkstum bewahren können, ferner im asiatischen Ruß­ land (100000) und in der Ukraine (450000), wo sie zusammen 1350000, amüich nur mehr 1044000 Seelen zählen. Seit Kriegsbeginn ist die deutsche Be­ völkerung in Rußland um mehr als 1 Million zurückgegangen.

Zu diesen Minderheiten, die rund 4,5, n. a. sogar 5 Mill, deutsche Volksgenossen zählen, kommen noch 100000 Reichsdeutsche, namentlich in Holland, Spanien und der Schweiz, sodann in Kleinasien, China und Süd­ asien, so daß 4% bis 5 Millionen Deutsche zerstreut in Europa und Asien unter fremder Staatshoheit leben, d. i. mehr als Griechen in Griechenland und Bulgaren in Bulgarien. Die Deutschen (ohne Reichsdeutsche) sind in Europa über zweiundzwanzig Staaten, also fast über ganz Europa verteilt, von denen fünf (außer Wolgarepublik) selbständige deutsche Staaten bilden. In Eurasien leben also ohne Holland, Deutschschweiz und Flandern mit den 63 Millionen im Deutschen Reiche noch fast 19 Millionen Deutsche, und zwar rund 14 Millionen Grenz- und fast 5 Millionen Deutsche in den Minderheiten, zusammen 81%, mit jenen 96 Millionen Deutsche; es lebt demnach fast jeder 4. bzw. 5. Deutsche unter fremdem Zwang und fremder Vormundschaft und jeder 3. Deutsche im Ausland!

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Geopolitische Fragen. II. Groß- oder Nationaldeutschland.

Mr sehen 12 Millionen Deutsche ohne politische Freiheit, ohne Rechtssicherheit, materieller, politischer und seelischer Bedrückung ausgeliefert, während ihre Gastvölker zum Teil erst 1918 unter dem Namen des Selbstbe­ stimmungsrechtes ihre völlige nationale Freiheit erhielten. Sie flehen überall in schwerem, Kampfe, im Kampfe ohne Waffen um die Grundpfeller je­ den kulturellen Volkstums, um Sprache und Schule, in einem Kampfe, den in seinen Grenzlanden zu führen Deutschland vor 1914 vergessen hatte! Das leuchtende Beispiel unserer Brüder verpflichtet uns, die ganze Welt davon zu überzeugen, daß es ein unhaltbares Unrecht ist einzig und allein den 14 Millionen Grenzdeutschen das so feierlich verkündete Recht der Völker auf freie Selbstbestimmung vorzuenthalten, auf daß sie endlich zum gemeinsamen Vaterland zurückkehren und diesem beim Neubau helfen können. Der großdeutsche Gedanke in föderalistischem Sinne ist zu neuem Leben erwacht. Er hat tief und rein im Herzen zu sitzen, auch wenn er zu ma­ teriellen Opfern, zu tatkräftiger Unterstützung der fernen Volksgenossen ver­ pflichtet. ist dazu berufen das gesamte deutsche Volk, Katholiken und Protestanten, zu einer großen Gemeinschaft zusammenzuschließen. Es kann auf Kosten der Opferung des eigenen Volkstums kein Vertragen mit jenen Staaten geben, die unsere Volksgenossen bedrängen und bedrücken! Das Deutsche Reich kenn vielleicht auf die vom Bolkskörper abgetrennten Gebiete verzichten, das deursche Volk kann das niemals. Heute ist die Sorge um die Ausländsdeutschen eine unserer brennendsten Aufgaben. Blut, Glaube und Schicksal haben uns zusammengeschweißt zu einer großen Volksge­ meinschaft. Nie wird das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den deutschen Herzen diesseits und jenseits der Grenzpfähle erlöschen; das deutsche Vater­ land hat dem auf allen Seiten hart bedrängten deutschen Volkstum in den Neinsten Sprachinseln Treue bis zum letzten Hauch zu halten. Über alle Grenzpfähle hinaus bleibt das deutsche Volkstum ein einziges Ganzes. Die Schicksalsverbundenheit aller Deutschen, die deutsche Namens- und Kultur­ gemeinschaft kann niemals durch staatliche Grenzen zerrissen werden. Alle Deutsche schließen sich daher dem Protest der Grenzdeutschen und deutschen Mnderheiten gegen das an diesen begangene Unrecht an und fordern immer nachdrücklicher für diese Selbstbestimmung und Autonomie. Eigentlich sollte sich das gesamte Deutschtum der Erde zu einer deutschen Weltgemeinschaft zusammenschließen zur Erhaltung des bedrohten deutschen Volkstums und zur Erreichung eines Großdeutschlands. Da sich über See, obwohl die meisten Gastvölker nach 1914 die Deutschen ausgewiesen und enteignet haben, immer noch oder wieder rund 10 Millionen Deutsche befinden (Union, Brasilien, Argentinien, Kanada, Chile, Südafrika), so gibt esaufderWelt einschließlich Holland, Flandern und Deutsch-Schweiz (zusammen 14,6 Mill.), 106 Millionen Deutsche, d. i. 1/16 der ganzen Erd­ bevölkerung und das drittstärkste Volk der Welt. Wir haben das Großdeutschland, des wir uns fast 1000 Jahre rühmen durften, verloren, weil unser Instinkt für großräumige Politik viel zu gering war und ist, deshalb brachten wir ja auch kein richtiges Verständnis für die Ost- und Welt­ politik auf und haben nicht die Aufrechterhaltung Großdeutschlands gefordert.

2. Das Grenzlanddeutschtum.

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Wir wollen also lernen, großräumig zu denken, wollen ans eigene Volks­ tum glauben und den Willen haben zur Freiheit und Einheit. Analog den Ungarn wollen wir beten: Ich glaube an einen Gott, an meine Heimat, die Gerechtigkeit Gottes und die Wiedererstehung eines starken Großdeutschland!

Literatur: Suffnet Hanus, Unser Staat und der Weltsriede, deutsch von Strache, 1922. Deutsch, Aus Österreichs Revolution, 1923.. Sölch, Die Brenner-Grenze, eine natürliche Grenze (Tiroler Heimat, Heft 5 u. 6), 1923. Lange, Das Deutschtum der Nachfolgestaaten, 1924. Derselbe, Des deutschen Bolles Arbeitsraum, 1924. Derselbe, Der Kampf um die deutschen Grenzen, 1925. Bolz, Ostdeutscher Bolksboden, 1924. Derselbe, Westdeutscher Volksboden, 1925. Endres, Die Verbreitung des Deutschtums, 1925. M. Laudert, Nationalität und Bolkswille im pr. Osten, 1925. Loesch und Ziegfeld, Voll unter Völkern, 1925. Loesch usw., Taschenbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums. Warschauer, D. Kulturarbeit in der Ostmark, 1926. „Das größere Deutschland" 1925. Nautilus, Deutschlands gerechte Grenzen, 1925. Mitscherlich, Die Ostmark, 1926. Fürst, Der Widersinn des polnischen Korridors, 1926. Eon ulibus, Erfahrungen und Irrtümer der polnischen Politik, 1926. P. Rohrbach, Deutschtum in Not, 1926. Fittbogen, Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslandsdeutschtum wissen muß, 5, 1926. Boehm, Die deutschen Grenzlande, 1926. Boelitz, Das Grenz- und Auslandsdeutschtum, 1926. Zeitschr. für Geopolitik, bes. 1926, Heft 9, und 1927, Heft 5. Monatsschr. „Deutschlands Erneuerung". „Die deutsche Welt" (Zeitschr. der Ausländsdeutschen). Süddeutsche Monatshefte („D.-Südtirol", „Die Tschechen", „Das neue Polen", „Deutschtum in Südost").

III. Frankreich und Deutschland. 1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung. Das Schicksal der deutschen Westgrenze ist ein Stück besonderer Tragik. In ihm spiegelt sich Deutschlands Aufstieg und Niedergang wider (Adriatikus). Nach dem Zusammenbruch Roms kam GMen wie Italien und Spanien unter die Herrschaft der Germanen, die im Westen die Sprache der Unter­ worfenen annahmen. Im Vertrage von Wirten (Verdun) wurde 843 das mächtige von den Franken gegründete Karolingerreich geteilt in ein West-

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

(später Frankreich) und Ostfranken- (das spätere Deutschland) und in ein Zwischenreich (Lothringen-Burgund), das 879/80 im Vertrag von Wirten-Ribemont mit Lothringen und 1033 mit Burgund an das Deutsche Reich fiel. Dieses Westfrankenreich hatte einen einheitlichen Bau (Abb. 33), da es aus den drei zusammenhängenden Becken der Seine, Loire und Garonne bestand, und besaß nach allen Seiten ausgezeichnete Naturgrenzen: im Nord­ westen, Westen und Südosten das Meer, im Süden die hohen Pyrenäen und im Osten außer links an der Schelde, überall von der Natur scharf herausge­ arbeitete, wasserscheidende Gebirgskämme, wie die Argonnen, Höhen von Langres, Monts Faucilles oder Sichelberge, Cöte d'or, Cevennen usw. (Wb. 33 bis 36), die alle nach Osten mauerartig, nach Westen meist sanft abfallen, stellenweise auch die Flüsse Schelde, obere Aisne—Marne, Maas, Saöne und Rhöne, die übrigens sonst die Gebirgsgrenze durch ihre Nähe noch verstärkten (Abb. 33 bis 36). Die Maas bildete nur auf eine kleine Strecke (weit unterhalb Sedan) die Grenze, sonst floß sie von Anfang an mitten durch deutsches Gebiet (Abb. 36.) Sogar die Geologie Abb. 33. Die Landstufen zwischen Seine und Rhein. weist an dieser französischen Ost­ grenze meist eine scharfe Tren­ nung auf (Südrand der paläozoischen Ardennen, die Kreidewälle der Champagne oder richtiger die Jurahöhen westlich der Maas, die Jura- und Triashöhen der Sichel- und die Jurahöhen der Langresberge, das Urgestein usw. des Französischen Zentralplateaus: Abb.34). Ganz anders als das an­ grenzende Westfranken war das Land östlich davon: ganz anders die Ardennen, die zum Rheinischen Schiefergebirge gehören, das Lothringer Triasbecken (Wb. 34), die ausgesprochenen Jurahöhen zwischen Ardennen und Saöne, das Saöne- und Rhönetal, wenn beide auch früh mit romanischer Kultur erfMt wurden und enge Beziehungen mit dem Westen unterhielten. Wer nicht nur geologisch, nein auch geographisch (morphologisch, klimatisch und völkisch, wirtschaftlich und kulturell) ist das Land östlich dieser französischen Grenze ganz anders: es ist das Flußgebiet des Rheines, der Maas und der Rhöne, alles gravitiert und ist orientiert nach dem Rhein, alles zieht zur Messe nach Frankfurt und zu den deutschen Reichstagen. Die ehemalige Westmark umfaßte zugleich unsere ältesten und ursprünglichsten Kulturgebiete, was schon die kirchlichen und welüichen Denkmäler des Rheins beweisen. Durchs Rhöne- und Rheintal führte einst (925/1200) der wichtigste Kulturweg, auch an der Rhone fast nur von der germanischen Oberschicht beherrscht.

1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung.

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Mb.34. Zusammenfallen der politischen Grenze v. 880 (— Grenze) mit der geologischen.

Das ganze Land von der Rhein- bis zur Rhönemündung liegt also östlich der französischen Grenze; überall ist dieser von der Natur der Weg vorgezeichnet, außer im Norden, wo sie in die belgische Ebene hinabsteigt; aber auch dieser unnatürliche, unorganische Zipfel, der noch dazu eine angriffslustige Flanken­ drohung bildet, verschwindet gegen Ende des 15. Jahrhunderts (s. u.). Die Westfranken haben ihn übrigens nicht zur Bedrohung der deutschen Westflanke, sondern zur Beherrschung und zum Schutze des Kanals für sich beansprucht. Es war also schon früh erkannt worden, daß Frankreich als Isthmus­ staat aufs Meer (Seeschiffahrt und Kolonien) angewiesen ist, daß dagegen wegen der sonst gebirgigen Ränder eine Ausbreitung nach Osten und Süden unnatürlich und unorganisch sei. Trotzdem wandte sich schon der erste West­ frankenkönig bald nach 843 gerade gegen die Ostgrenze, gegen Lothringen und Burgund, gegen den Rhein und Italien, bis das Jahr 880 diesem Treiben ein vorläufiges Ende setzte und Lothringen-Burgund dem Zugreifen Frankreichs entzog. Damit begann aber der Kampf um diese Länder, damit eigentlich auch schon um den Rhein, der nun zu fortgesetzten Angriffs­ kriegen und zu bewaffneten, mehr als 1000jährigen Einfällen in friedliches deutsches Gebiet bis nach Wien, Posen und Tilsit führte und endlich 1815 und 1918 zugunsten Frankreichs beendet zu sein schien (Abb. 39). Was bewog nun Frankreich, sich von Anfang an über die geopolitischen Grundlagen einer Ausbreitung hinwegzusetzen und die ihm von der Natur gesetzten Grenzen zu überschreiten? Es waren damals und in der Folgezeit

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

nie und nimmer Lebensnotwendigkeiten, nie geopolitische Gründe, die es dazu gezwungen hätten, fonbern es handelte aus reiner Ländergier und Groß­ mannssucht, aus einem ihm jeher innewohnenden Ausdehnungsdrang, wobei die verschiedensten Gründe, wie Natur- (Maas Rhone, Alpen, Jura), völkische, bessere politische und strategische Grenzen, Gewinnung eines „sichernden Hinter­ landes" als Bor wand dienen mußten. Hatte man dann das nächste Ziel erreicht, o war wieder eine noch günstigere Grenze anzustreben, namentlich aus Gründen der „Sicherheit". Die völkischen Grenzen trug man am besten vor durch Totschlag und durch Verwüstung des zu gewinnenden Landes.

Es war wohl ein Zufall, daß schon die ursprüngliche Ostgrenze Frankreichs stark gelappt, gebuchtet und gekeilt (Abb. 36), also aufge­ lockert war, so daß man zu gelegener Zeit zum Angriff übergehen konnte, anstatt einen friedlichen Grenzausgleich anzustreben. Besonders gefährlich war von Anfang an der Keil gegen Verdun, weil hier der Mderstand am schwächsten war, also die „Front" hier am besten aufgerollt werden konnte. Frankreich verlegte sich von jeher, ob ursprünglich bewußt oder unbewußt ist für uns belanglos, läßt sich auch bei diesem militärisch hoch begabten Volke wohl schwer feststellen, auf das so wirksame Keilsystem, auf die Flankenfassung, wodurch Gebiete abgezwickt und abgerundet werden konnten. Dabei schreckte es nicht der für uns schützende Steilhang der Randgebirge nach Osten; nur Land wollte es haben, deutsches Land, Flußtäler (Maas, Saöne, Rhöne, Rhein, Po) und Ebenen (im Norden, am Rhein, an der Saone, Rhone und am Po), um in ihnen Weiterzuwandern, neue Gebirge, um sie dann in ihrer ganzen Ausdehnung aufzuschließen. So verlegt man die Grenze von einem Kamm auf den anderen und erobert immer neues Hinterland. Es kam den Franzosen dabei der Umstand zugute, daß die Höhen von Westen her bequem zu ersteigen waren, besonders auch, daß die Zentrallandschaft der Jsle de France, aus der sich der politische französische Nationalstaat entwickelte, eine natürliche Deck- und Sperrfeste ersten Ranges war, hinter der gar bald ein Land mit geringem Lebenswillen sich selbst zerfleischte. Seit 911 benützen die Franzosen die Schwäche Deutschlands, um Loth­ ringen (bis zum Rhein) an sich zu reißen, das damals von Spinal bis zur Schelde reichte. Wer 925 wurde es durch Heinrich I., den Gründer des deutschen Nationalstaates, wieder zurückge Wonnen und so die alte Grenze im allgemeinen wieder hergestellt, gleichzeitig alles, was nach Blut, Siedlung und Sprache zum deutschen Volkstum gehörte, für den deutschen Staat gesichert. Nur der Zipfel nördlich von Langres war bereits verloren gegangen.

Mit Burgund reichte das Deutsche Reich seit 1033 bis zur Rhönemündung, war also auch auf dieser Seite Jsthmusstaat zwischen vier Meeren. Nur das sogenannte „Herzogtum Burgund" gehörte mit Recht nicht den Deut­ schen; es war aber ein wichtiges Paßland zwischen Loire und Seine, daraus sich bequem Vorstöße nach Hochburgund machen ließen, während heute die gebirgigen Ostränder von wichtigen Eisenbahnlinien durchzogen werden. I. Ausbreitung 843 (1000)—1500. Zunächst hatte man den „heiligen Grundsatz von der Vierstromgrenze (Schelde, Maas Saöne und Rhöne)

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aufgestellt, der sich vielleicht völkisch und kulturell großenteils begründen ließ, nie aber geographisch (rnn wenigsten im Süden). Die Vorstöße im 10. Jahr­ hundert waren aber noch am festen deutschen Widerstand gescheitert. Erst im 11., 12. und 13. Jahrhundert während der Kämpfe der deutschen Kaiser mit dem Papsttum, die (nach Lautensach) die Deutschen in einen fremden Lebensraum hineinlockten, daher auf die Dauer fruchtlos blieben, während sich in der Heimat der alte Zug zur Zwietracht immer unheilvoller auswirken konnte, gelingt es den Franzosen, geführt von tatkräftigen und rücksichtslosen Königen, die sich seit dem Aussterben der Karolinger (987) völlig dem bisherigen Einfluß Deutschlands entzogen hatten, allmählich die Flanken nordöstlich von Rethel abzudrücken und sogar die Maas zu erreichen, ja stellenweise zu überschreiten, wobei gleich mehrere Höhenzüge überwun­ den wurden. Zu dem einen Keil im Südwesten von Verdun kam nun noch ein zweiter im Nordwesten davon, dazu ein neuer gegen Tüll (Toul), wo ebenfalls die Maas erreicht und mit drei Höhenzügen sogar überschritten wurde (Wb. 36). Die Franzosen hatten sich hier über den Paß des heutigen RheinMarne-Kanals hinübergeschoben und standen nun vor der deutsch-lothringischen Landschaft. SWlich stieg man zum erstenmal auf die Sichelberge hinauf und der Lappen am Plateau von Langres wurde abgedrückt, westlich von Msanz (Besanyon), in der Gegend des Kanals von Burgund, Saöne und Doubs überschritten und ebenes burgundisches Gebiet besetzt. Das war der erste Einbruch in Burgund und damit war die deutsche Rhein-RhoneMttelmeer-Verbindung durch Frankreich unterbrochen und die Erwerbung Lyons und Burgunds gefördert. Wesllich von Lyon wurde die französische Ost­ grenze auf die ösllichen Höhen von Lyonnais vorverlegt, ja nordwestlich von Valence erfolgte ein neuer (Anbruch bis zur Rhone, dem sich nördlich von Avignon ein ähnlicher zweiter anschloß, obwohl die Cevennen keine Durchgangs­ lücken besitzen, sondern wie eine hohe Mauer das Rhönetal vorm Jnnem schützen. Damit erreichten die Franzosen auch die Rhöneebene. Sie verließen dabei die schützenden Gebirge und ließen sich von der Ebene anziehen, wie sie zum Grenzfluß der Maas gegangen waren, um ihn alsbald zu überschreiten. Im allgemeinen bleibt nun vorläufig die Linie an den „vier Strömen" (Schelde, Maas, Saöne und Rhone) die Westgrenze Deutschlands, aber in deutsches Gebiet sind mehrere Breschen gerissen. Philipp August ((1180/1223) hatte mit dem Sieg von Bduvines (nach Bartz) die französische Ostpolitik zur Tradition, zum Gemeingut des Volkes, erhoben (Abb. 39). Aber nun kommt die Zeit des Zusammenbruchs der deutschen Kaiserherr­ lichkeit, die Zeit deutscher Ohnmacht (um 1250) und des geringen deutschen Lebenswillens. Obwohl die Franzosen nicht rückenftei sind (lOOjähriger Krieg gegen England 1339/1453) und obwohl die Macht der Könige durch Stände uyd innere Streitigkeiten gebrochen ist, fahren die Franzosen, vor allem die Herzoge von Bmgund, gleichermaßen angriffslustig wie großmachtsüchtig und lebens­ willig, mit ihren Eroberungen und Übergriffen im Osten fort, wenn diese zum auch Teil friedlicher Natur sind. Während der Mrren im Reich am Ende des 13. Jahrhunderts sowie im 14.und 15. Jahrhundert, besonders seit Philipp IV. (1285/1314), der bereits den Wsolutismus in Frankreich und den konsequenten

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

Vormarsch gegen Deutschland anbahnte, fallen große deutsche Gebiete den Franzosen in den Schoß. Sie drängen zunächst hinab in die Saöne- und Rhöneebene und es ist geradezu erstaunlich, wie schnell dieser wichtige Tal­ weg in fremde Hände gelangt. Von hier aus rücken sie weiter gegen den Schweizer Jura und die Westalpen vor und suchen ganz Burgund zu gewinnen, um sich dann an den Rhein heranschieben zu können. Dieses, ursprünglich von Germanen besiedelt und noch immer von Deutschland abhängig (noch Kaiser Karl IV. ließ sich in Arles die burgundische Königskrone aufs Haupt setzen), bildet klimatisch, geogra­ phisch und wirtschaftlich eine Frankreich fremde Einheit. Es war orientiert nach Frankreich und Deutschland und war von jeher wichtiges Durchgangs­ land von der Rhonemündung und von Italien aus nach Paris und Straßburg; es bildete für Deutschland ein unge­ heuerwichtiges Pufferland, das dessen Flanke in Oberitalien schützte und gute Grenzen bot. Der Stoß Frankreichs richtete sich also zu n ä ch st nicht nach der paßreichen Ostgrenze (Abb.33—36), sondern nach dem noch mehr geschwächten, von uns nicht unterstützten Burgund und zwar zuerst gegen Niederburgund. 1246 kommt die Provence an die fran­ zösischen Anjou (1481 an Frankreich), 1273 wird Venaissin nördlich von Avi­ gnon päpstlich und 1226/71 dieses selbst französisch (1309/1376 babylonische Ge­ fangenschaft des Papstes), 1305 geht Vivarais in einer Breite von 60 km rechts der Rhöne, 1307 die deutsche Reichsstadt Lyon und 1316 ein breiter Streifen beider­ seits des Dröme, 1349 (durch Kaiser Karl IV.) sogar die Dauphine verloren. Damit (und mit Provence) waren die Alpen im Süden bereits französisch geworden und man konnte nun in ihnen gegen Norden (Savoyen) Vordringen. Frankreich machte also weder an der Rhöne noch in deren Ebene, über­ haupt vor keiner natürlichen Grenze Halt, sondern erblickte in ihr immer nur das Mittel zum Zweck. Daher liegt die wahre Grenze nun auf ein­ mal in den Westalpen, weshalb man Jsere und Durance aufwärtswandert und seine Fangarme nach dem neuen, aus Teilen von Hoch- und Niederburgund entstandenen Savoyen ausbreitet (Abb. 36). So war schon vor 1500 das Königreich Arelat oder Burgund (Abb. 35), das jahrhundertelang deutsch gewesen war, auf ein Drittel zusammen!>eschrumpft. Das war ein schmerzlicher Verlust für Deutschland, das damit einen Jsthmuscharakter am Mittelländischen Meer verlor, während Frankreich hier seine ursprünglich kurze Küste um 330 km verlängerte. Deutschland hätte nicht dulden dürfen, daß dieses in Burgund Fuß faßte, so lange die Kaiser an Oberitalien (Mailand) sesthielten. Es muß ja zugegeben werden, daß

1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung.

Wb. 36. Unorganische Ausbreitung Frankreichs nach Osten. I. Ausbr. 843 (L000>-1500. II. AuSbr. 1500/1770. IV. Nusbr. 1815/60.

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Geopolitische Fragen. III. Frankeich und Deutschland.

Mederburgund zwischen Alpen und Zentralmassiv eingekeilt, schwer zu halten war, und den Franzosen, nachdem man sie einmal nach Burgund hereingelassen hatte, die Alpen als geographische Grenze erstrebenswert erschienen. Mer damit war auch das Schicksal des alpinen Savoyen besiegelt, da die Franzosen, wie einst die Römer im Mpenin, nun in den Westalpen weiter vorzudringen versuchten. Jetzt rächte sich, daß Kaiser Karl IV. 1378 die burgundische Statthalterschaft dem französischen Thronfolger übertragen hatte. Bereits 1380 ist fast alles burgundisch-deutsche Land westlich der Saöne französisch, der Keil auf den Sichelbergen und vor Tüll verbreitert (1301) und der südlich von Wirten bis zur Maas vertieft (1301), so daß diese vielfach Grenzfluß, zum Teil sogar überschütten ist. Die Franzosen stießen sich nicht daran, daß sie dabei mehrere Gebirge hinauf- und hinabsteigen mußten und in ganz fremde Flußgebiete (Maas, Rhein, Rhöne) hineingerieten. Schon 1305 hat Albrechts I. Zugeständnis, daß alles Land wesüich von Schelde, Maas, Saöne und Rhone den Franzosen überlassen sei, dem Dogma der Bierstrom­ grenze zum Siege verholfen. Dadurch wurden aber Frankreichs Eroberungs­ gelüste nur gestärkt und in der Folgezeit wurde ein neues Dogma aufgestellt, wonach Rhein und Alpen die „natürlichen" französischen Ostgrenzen sein sollten. Das Verlangen nach der Rheingrenze wurde nun zur Tradition, obwohl französische Geographen und Histottker eine solche Berechtigung bis heute nicht beweisen konnten. Durch die Erfolge gegen England kühner gemacht, verfolgen nun die Franzosen mit äußerster Beharrlichkeit ihr neues Ziel; sie wenden sich Ende des 15. Jahrhunderts, besonders unter Ludwig XL (1461/83), mit allem Nachdruck gegen deutsches, burgundisches und zuletzt auch gegen das endlich deutsch ge­ wordene flandttsche Gebiet (wesllich der Schelde). So ist 1500 (Abb. 36) die Maas in ihrem ganzen nördlichen Lauf bis zum belgischen Knie zum Teil Grenzfluß, fast zur Hälfte aber bereits überschritten. Die Grenze erreicht nur noch wesüich von Verdun mit einem deutschen Zipfel die Aisne. Sie tritt bald auf das rechte, bald auf das linke Maasufer und läuft willkürlich über die angrenzenden Höhenzügen, während die früheren Buchten vertieft sind. Bis 1500 ist also zwischen Aisne-Marne und Maas und zwischen Langres und Maas-Knie ein fast 7000 qkm großes, durchschnittlich 30 km breites, ge­ birgiges, lothringisches Land, das eigentlich einen natürlichen Schutzwall dar­ stellte, an Frankreich verlorengegangen. Dieses mußte nur 1493 die Frei­ grafschaft Burgund herausgeben und den Habsburgern aus der burgundischen Erbschaft Attois und Flandern überlassen, so daß im Norden endlich die gefährliche Flankenüberwachsung beseitigt und die Grenze erreicht wurde, die geographisch, geologisch und völkisch schon längst hätte angestrebt und erreicht werden sollen (Abb. 3); ist doch Flandem eine ganz andere Welt als Frankreich. Zu den drei ftanzösischen Stoßrichtungen (gegen Flandern, Lothringen und Freigrafschaft Burgund) gesellt sich Ende des 15. Jahrhunderts noch eine vierte, gegen Oberitalien, obwohl hier doch die ersehnte Natur­ grenze der Westalpen hätte Halt gebieten sollen. Aber nicht die Po-Ebene zieht die Franzosen an, sondern es handelt sich, wie später noch mehrmals, um eine Flankenbedrohung der habsburgischen Macht, im stillen wohl auch schon

1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung.

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UM die Vorherrschaft in Europa. Daher schauen sie ebenso unbekümmert nach dem fernen Neapel (1494) wie (seit 1494) nach Oberitalien und nehmen 1548 Savoyen die Markgrafschaft Saluzzo am oberen Po weg. So steigen sie ins Potal hinab und müssen nun dem Flusse folgen, angeblich von ihm und der Ebene angezogen (Abb.36). Dieser Vorstoß gegen Mailand dient noch einem anderen wichtigen Ziel, dem Kampf um den Rhein, da der Besitz Mai» lands eine Umklammerung der Schweiz mit der Rheinquelle und den Pässen des Rheins bedeutet (Abb. 39). Woher nahm Frankreich die Kraft zu diesen erfolgreichen Vorstößen? Sie verlieh ihm die Natur (Wb. 33/36), welche tatkräftige Könige ausnützten, um Ende des 15. Jahrhunderts einen einheitlichen Staat mit einheitlichem Volk von 12 Millionen Menschen und einheitlichem Willen zu schaffen. Namentlich der geographisch konzentrische Aufbau des Pariser Beckensfmahnte an zentralistische Verwaltung, wie sie schon zu Römerzeiten bestand. Außerdem hatte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte des Mittelalters der politische Schwerpunkt des Deutschen Reiches vom Westen nach dem Osten verschoben; die fortschreitende Territorialisierung, deren Gewalten die deutschen Kaiser tut Gegensatz zu den französischen Königen unterlagen, schuf int Osten neue und große Gebilde, während sie tm Westen das alte, bunte, zersplitterte Sonderleben erhielt. So geschah es, daß diese Westfront gerade die verletzlichste und abwehrschwächste wurde, während sich jenseits der geschlossene französische Staat mit seinem harten Offensivwillen erhob. Dazu kommt, daß Frankreich zum sprachlichen Einheitsvolk wird, indem der Süden mit dem Norden verschmilzt, während Deutschland weiter zerbröckelt, Zwietracht und Selbstsucht jedes „deutsche" Gefühl ersticken und nicht einmal die Bildung einer eigenen niederländisch-flämischen Schriftsprache verhindern. Die Franzosen werden auch im AusbreiMngswillen zur erneuten Offensive gereizt infolge der Besitznahme reicher Gebiete im Westen Deutschlands durch die ihnen verhaßten Habsburger.

II. Ausbreitung 1500—1770. Mit Karl V. starben die wenigen tüchtigen deutschen Kaiser, die dem Vordringen der Franzosen noch energisch Einhalt zu bieten versucht hatten, aus. Deutschlands Schwäche, hervorgerufen durch die religiösen Streitigkeiten und die Selbstsucht der deutschen Fürsten, nützte nun Frankreich aus. Aus Eroberungssucht und Ländergier wandte es sich nun immer wieder gegen die östlichen Nachbarn, anstatt seinen eigenen Raum zu erfüllen, innere Kolonisation zu treiben und die neu gewonnenen Kolonial­ reiche zu erschließen, zu besiedeln und — zu behaupten. In drei Hauptstoyrichtungen suchte es Raum zu gewinnen (Wb. 36), unbekümmert wie immer darum, daß sein Vordringen geopolitisch, besonders aber auch rein geo­ graphisch nicht zu rechtfertigen war. Noch hütete um 1500 Flandern die Rheinmündung und noch schützten Metz (die Vertreter dieser Reichsstadt durften im Reichstag romanisch sprechen!),

TM und Wirten den Rheinweg. Aber an der Lothringer Front gewann Frankreich dmch den Verrat deutscher Fürsten 1552 (bestätigt 1648) die alte deutsche Reichsstadt Metz, die Bistümer Metz, Tüll und Wirten mit durch­ aus reichstreuer Bevölkerung (auch die Romanen), wodurch nicht nur die Gren­ zen fast ganz über die Maß verlegt und die zwei Lappen bei Verdun und Tüll abgeschnürt, sondern bei diesen Städten sogar noch zwei große, ganz unnatür­ liche und unorganische, zudem gelappte, gefährliche Keile („Einfallstore")

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

im deutschen Gebiet sowie vier französische Exklaven in Lothringen geschaffen wurden. Dadurch war die gewünschte Verbindung mit den — deutschen Prote­ stanten hergestellt, aber die politisch so schwache, geographisch dagegen so starke deutsche Westfront vollkommen zerrissen, aufgelockert, das ganze Grenz­ land verwirrt und — der feindliche Nachbar in einen wichtigen Nebenfluß des Rheins, in die Mosel, eingedrungen, dem er nunmehr folgen und auf Grund dessen er sogar Anteil am Rhein fordern zu dürfen glaubte. Nun ertönte immer lauter der Ruf, nicht die Maas, sondern der Rhein sei die richtige Naturgrenze, der Rhein, der schon etwa 200 n. Chr. der Hauptstrom der Germanen war! Und dieses Starren nach dem Rhein ist (nach Larsen) der Grundwesenszug der ganzen französischen Nation geworden. Diese „historische" Rheinpolitik, die mit Richelieu (de retablir les limites de la Gaule, de constituer une nouvelle!) einsetzte, gelangte in der französischen Re­ volution und unter Napoleon auf den Höhepunkt und ist bis zum heutigen Tag lebendig geblieben. Sie hat den ganzen Erdteil in blutige Verwirrung gestürzt. Während des furchtbaren 30jährigen Krieges (1641 Stenay und 1642 Sedan) und beim Friedensschluß (1648) wird der Rhein denn endlich erreicht und die deutsche Westgrenze verläßt nach 800 Jahren bis auf eine Stelle das linke und auch das rechte Ufer des alten deutschen Maasflusses. Gleichzeitig verloren wir lebenswichtige Teile an der Nord- (Holland und Elbe­ mündung) und Ostsee (Odermündung). Diese Verdrängung von den beiden Meeren, namentlich der freien Nordsee, hat unsere ganze Weltanschauung ungünstig beeinflußt. Wir haben uns seither erst recht angewöhnt kleinräumig und rein wirtschaftlich zu denken und machtpolitisch uns zu bescheiden (Abb. 20). Gustav Adolfs Einmarsch, der Sturz Wallensteins, mit dessen Hilfe endlich eine starke Kaisermacht hätte gewonnen werden können, der Friede von Münster sind haupt­ sächlich das Werk der Franzosen. Das Deutsche Reich „schied nun (nach Bartz) als ernster Gegner Frankreichs aus, war aus seinen Westgrenzen hinausgeworfen und gab mili­ tärisch die Rheinlinie preis."

Weite Teile des Elsaß und der Rheinebene sind nun (seit 1648) französisch, Frankreich sperrt mit dem Sundgau die Burgundische Pforte, Lothringen ist auf beiden Seiten umfaßt und muß schon aus „strategischen", aus „Sicher­ heitsgründen" ftanzösisch werden, da es ja Durchmarschgebiet zum französischen Elsaß bildet. Daß dieses kulturell, geographisch, geologisch und völkisch einen Fremdkörper für Frankreich bildet, wird nicht beachtet. Die Franzosen betrachten bereits den Rhein nicht mehr als Grenze, da sich ja die elsässische Ebene rechts von ihm fortsetzt, also ein Ganzes bildet, weshalb sie kurzerhand, wie November 1918, auch Städte auf dem rechten Ufer besetzen (Philippsburg 1648/79, Kehl 1684/79 und Altbreisach 1648/97, sogar Freiburg 1679/97) und unter Ludwig XIV. gern die Grenze auf den Kamm des Schwarzwaldes verlegt hätten. Vorerst wird 1672 die Landvogtei zehn kaiserlicher Städte im Elsaß, seit 1681 durch die Reunionen das übrige Elsaß und zu Landau (1648/79 bis 1815) ein Teil der Pfalz Frankreich einverleibt und so die Wegnahme des südlichen und mittleren Teils des westlichen mittelrheinischen Beckens vollendet.

Frankreich fühlte sich nicht etwa vom Fluß oder der Ebene angezogen, sondern handelte nur aus Ausbreitungs- und Ruhmsucht, wie es ja auch bei früheren

1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung.

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Eroberungen deutscher Bergzüge, nicht alsbald den ganzen gewonnenen Höhen­ zug in Angriff nahm, erschloß und besetzte, sondern gleich wieder zu einem neuen vorstieß (Keilpolitik), wenn es den ersten an einer Stelle erreicht hatte. Es war daher auch nicht die flandrische Ebene, die Ludwig XIV. so sehr anzog, daß er sich alsbald auch gegen unsere von der Natur selbst vorgezeichnete Nordwestflanke (Flandern) wandte, sondern reine Raubgier ließ ihn 1659/78 kerndeutsches Land (besonders auch die Senke von Cambrai) bis zur heutigen belgisch-französischen Grenze erobern (Mb. 36 u. 39). Es kümmerte ihn nicht, daß Frankreich dadurch die schützenden flandrischen Höhen verließ und in eine fremde Welt, in die flandrische Ebene, ja sogar in das belgische Hügelland hinabstieg, daß es in geologisch und geographisch anders geartete Gebirge (Ardennen) und in fremde Flußgebiete (Schelde) eindrang. Mlerdings erreichte der Gegner nicht das so heiß ersehnte Endziel, nämlich die Maas- und Rheinmündung, den ganzen Rhein, und damit auch nicht das andere Endziel, die westliche deutsche Flanke ganz aufzurollen. Durch den weiteren Raub (von 1659 ab) einiger belgischer und lothringischer Gebiete (Montmedy 1659, Songtot) 1679) und mehrerer anderer deutscher Teile (1661/62) war aber schon 1680 die jetzige französische Grenze von Dünkirchen bis Luxemburg erreicht, ja vorübergehend (1678/1713) sogar bis Antwerpen vorgetragen worden. Durch Wegnahme weiterer Lothringer zerstreuter Teile (Diedenhofen 1659, von wo aus Trier bedroht war, Saarlouis 1680 und andere 1661) wurde Lothringen noch mehr aufgelockert (zahlreiche französische Exklaven) und eifrig entnationalisiert (die Vertriebenen schufen an Theiß und Donau ein blühend' Eden und germanisierten ihre mitgewanderten romanischen Lands­ leute), bis es 1766 endgültig an die Franzosen verschachert wurde, .die das ganze Land seit 1632 zweimal 27 und einmal 31 Jahre (1735/66) wider­ rechtlich besetzt gehalten und großenteils furchtbar bedrückt hatten (Abb. 20). Nun hatten sie wieder ihre Keile, einen kleinen gegen die Rheinprovinz (Saar-Mosel) und einen großen gegen Pfalz-Nordbaden (Abb. 36). Natürlich betätigten sich die Franzosen auch fleißig in der dritten Stoß­ richtung gegen die Freigrafschaft Burgund. Nachdem sie 1601 von Sa­ voyen den Zipfel zwischen Saöne—Rhöne erworben hatten, befand sich über 1/3 des Saönebeckens mit Talboden und dem Süden des Juras bereits in ihren Händen. Nun war Burgund auf zwei Seiten umfaßt und man konnte auf dem Talboden und dem Jura weiter vorwärtsschreiten, da ja geographische Objekte einem ganz gehören müssen. Mt der „Erwerbung" des Sundgaus (1648) stand Frankreich auch im Nordosten Burgunds, am Eingang hierzu (— Bur­ gundische Pforte mit Bessert oder Belfort), und so teilte 1678 dieses deutsche Land mit dem stolzen Bisanz das Schicksal der anderen geraubten deutschen Länder, so daß nun Frankreich von allen Seiten das verlassene Lothringen umklammert hielt und die Schweiz zum echten Grenzland geworden war. Der Jura, angeblich auch eine notwendige Naturgrenze, war erreicht, um aller­ dings unter Napoleon I. mit der Eroberung der'Schweiz überschritten zu werden. Aber auch die Westalpen wurden von diesem als schützende Grenze auf gegeben, wie schon früher (1548 und 1631: Abb. 36), wenn auch abermals ohne bleibender Simmer, Grundzüge der Geopolitik.

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutchland.

Erfolg; zuletzt überstieg er sogar den Naturwall der Pyrenäen, nachdenl diesen schon Ludwig XIV. als Grenze hatte ausgeben wollen (Abb. 39). Im Frieden von Basel gab Preußen seine Rolle im Westen zugunsten seiner ösüichen Interessen preis und Österreich schied mit Campo Formio endgAtig aus dem Westen, dessen Bedeutung es nie erkannt (Bartz) und den es gegen die Gewinnung und Behauptung Ungarns seit den Türkenkriegen schmerz­ los preisgegeben hatte. III. Vorübergehende Ausbreitung 1795/1815. Napoleon verwirk­ lichte die kühnsten Träume der Franzosen, als er nicht nur die oben genannten zwei französischen Naturgrenzen überschritt, sondern besonders dadurch, daß er endlich den Rhein zum Grenzfluß machte, ja noch darüber hinaus das Hinterland als „Sicherheit" bis zur Elbe besetzte (Bremen, Hamburg und sogar noch Lübeck, Königreich Westfalen und Großherzogtum Berg), Preußen verkleinerte und zur politischen und militärischen Ohnmacht verurteilte, die anderen deutschen Staaten im Rheinbund zu willenlosen Satrapen zusammen­ faßte und an den Triumphtvagen des französischen Militarismus kettete.

Damals stieß (nach Oncken) die unbedingteste Form eines nationalen Lebenswillens auf die lebensunfähigsten Gebilde des deutschen ancien r6gime. Die napoleonische Fremdherrschaft riß die ältesten deutschen Kulturgebiete aus dem Körper des deutschen Volkes heraus — er hätte an dieser Wunde verbluten müssen, wenn nicht die Befreiung gekommen wäre. Indem Napoleon den Rhein als Grenze verließ, bewies auch er, daß der französische Ruf nach beut Rhein nie ehrlich gemeint ist, daß Frankreich, wenn es das linke Rheinufer hatte, alsbald das rechte verlangte, wie es früher die heiß­ erstrebten „Grenzflüsse" Maas, Saöne und Rhöne sogleich wieder verlassen hatte.

Anstatt nun nach der Befreiung die alte Westfront wiederherzustellen, sturmsicher und landfest zu machen, brachten die Deutschen 1815 leider nur den Mut auf, eine kleine Grenzberichtigung (Landau usw.) in der Pfalz vorzunehmen und sonst die jungen Grenzen von 1789 wieder herzustellen, während die Franzosen in Ausnutzung ihrer Keilpolitik seit 1795/97 Pfalz, Rheinland und Belgien und zuletzt auch Holland, „das Anschwemmungsland des Rheins", mit der Rheinmündung sich angegliedert hatten. Aber etwas hatte man gelernt: die Rheinlande verband man mit der preußischen Militärmacht.

IV. Ausbreitung seit 1815. Umso mehr waren die Franzosen nach 1815 wieder darauf aus, die Entscheidung neuerdings rückgängig zu machen, zum mindesten die preußische Wacht am Rhein wieder zu entfernen. Der große Gedanke des Rheins blieb ein Grundtrieb des französischen Ausdehnungs- und Machtwillens und alle Parteien, ja das ganze französische Volk war erfüllt vom Gedanken der Rache für Waterloo, des Umsturzes der Verträge von 1815 und der Rheinlinie von Straßburg bis Köln. So entstand im 19. Jahr­ hundert der Gedanke eines „rheinischen Pufferstaates", angeblich um der fran­ zösischen „Sicherheit" willen, in Wahrheit zum Zwecke der abermaligen, politisch­ geistigen Auflockerung der deutschen Westfront. Dieser Gedanke war das trei­ bende, innerste Motiv, das eigentliche Geheimnisin der Politik Napoleons III in den sechziger Jahren. Auch er hat (nach Oncken) wie alle seine Vorgänger seit Jahrhunderten, das linke Nheinufer leidenschaftlich erstrebt und zwar womöglich durch Verhandlung, durch Spekulation (Abb. 40).

1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung.

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Dabei kamen die verschiedensten Varianten vor. Bald sollten Rheinpreußen, Rheinhessen und Rheinbayern einfach angeeignet werden (Schlagwort für diesen Gedanken: „Le grand Rhin“), bald nur Teile, gelegentlich als Abschlagszahlung oder „Entschädigung", nämlich „le petit Rhin“, d. h. mindestens die Grenzen von 1814 (Saargebiet und Landau) oder Luxemburg; zu anderen Zeiten wieder Belgien. Dazu kam einmal Baden, d. h. Süddeutschland bis zum Kamme des Schwarzwalds. Mehr­ fach trat an die Stelle des nackten Eroberungsplanes der ebenfalls alte Gedanke des „neutralen" rheinischen Pufferstaates, auf den sich Österreich 1866 wieder ein­ ließ, der eine französische Borpostenstellung in Deutschland darstellen sollte. Um diesen Preis wollte er bald Preußen, bald Österreich die Einigung Deutsch­ lands gestatten, die unter dem Druck der französischen Bajonette am Rhein niemals zu einem starken Staat geführt hätte; in Wirklichkeit wollte er sie aber überhaupt ver­ hindern. 1868 und 1869 erlaubte er sich sogar, Österreich deutsches Gebiet, nämlich Schlesien und Süddeutschland, außer Baden, das er selbst für seine Brückenköpfe brauchte, gegen das linke Rheinufer, also wieder gegen deutsches Gebiet, anzubieten.

Diese siebenjährige Politik (Napoleons III.) des rücksichtslosen, erobernden Dranges zum Rhein führte zum Kriege von 1870 und löste damit jene unheilvollen Gewalten aus, aus denen der Weltkrieg emporstieg. In­ sofern bildet die „historische Rheinpolitik" der Franzosen, die Napoleon III. wieder aufzunehmen suchte, das 1. Kapitel im Buche der „Schuldfrage". Der ganze französische Kriegsplan von 1870 ging dahin sich auf die Süd­ staaten zu werfen und sie vom Norden zu trennen. Da aber Paris näher an München liegt als an Berlin, so war es (nach Bismarck) schon deshalb notwendig, das uns geraubte Elsaß wieder zurückzufordern und damit einen Grenzwall zwischen Paris und den süddeutschen Staaten aufzurichten! „Ohne das Elsaß", sagte Bismarck 1890, „gibt es für uns keine Sicherheit".

Es rächte sich, daß wir 1871 die geopolitischen Voraussetzungen und Notwendig­ keiten außeracht ließen (Keil, zum Teil willkürliche Grenze usw.), als wir nur einen Teil des uns entrissenen deutschen Landes endlich wieder zurückverlangten, anstatt den so scharf herausgearbeiteten Ostabfall der Sichelberge und wenigstens der östlichen Maas-Jurahöhen (mit Argonnerwald zum deutschen Schild) gefordert zu haben. Nach 1870 waren es namentlich französische Historiker, die den Haß gegen Deutschland zu schüren suchten und den französischen Nationalisten immer wieder von der Rheingrenze predigten. So schrieb Driault, der Rhein sei für die Vollendung Frankreichs ebenso not­ wendig, wie die Pyrenäen, Alpen oder der Atlantische Ozean. „Und in der Tat, welches wäre sonst der Punkt, an dem die natürliche Grenze Frankreichs festgesetzt werden könnte?" Sowohl die Zugehörigkeit Elsaß-Lothringens zu Frankreich als das Recht auf die Rheingrenze (les limites naturelles) suchte man nachzuweisen.-

Nach dem Zusammenbruch Deutschlands im November 1918 hat der fran­ zösische Imperialismus und Ausdehnungsdrang Orgien gefeiert, deren Höhe­ punkt der Vertrag von Versailles war. Die kühnsten Träume der fran­ zösischen Imperialisten waren erfüllt, wenn nicht übertroffen. Osterreich-Ungarn zerschlagen, Deutschland zerstückelt, entwaffnet, seiner Kolonien beraubt und vom Isthmus- (Adria) zum Abdachungsstaat hinabgesunken, Elsaß-Lothringen französisch, das ganze Rheinland besetzt: Wer in Frankreich hätte das je zu hoffen gewagt! Über dem Essen wuchs der Appetit: der Rhein sollte endgültig 14*

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Geopolitische Fragen.

III. Frankreich und Deutschland.

Deutschlands Grenze, Deutschland sollte völlig vernichtet und für ewige Zeiten unschädlich gemacht werden. Da kam endlich den englischen Freund ein Grauen an, so daß der Franzose seinen Vernichtungswillen etwas zügeln mußte. So hatte also Frankreich seine eigentlichen Naturgrenzen verlassen und sich ganz unorganisch nach Osten ausgebreitet, wobei es sich gegen das von ihm selbst so gepriesene „Gesetz der natürlichen Grenzen", gegen die Geo­ graphie und Geschichte und das Selbstbestimmungsrecht, gegen die ihm von Volksgemeinschaft und Kultur gezogenen Grenzen versündigte. Obwohl es seine eigenen vielen Weine nicht verkaufen kann, „mußten^ noch weitere Weingebiete, die bisher mit den deutschen eine wirtschaftliche Einheit bildeten, zum größten Schaden für die Weinbergbesitzer erworben werden. Außerdem wurden auch die sonstigen wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen Elsaß und Deutschland zerrissen. Über 1000 Jahre war bisher Deutschland den Angriffen Frankreichs ausgesetzt. Fast über 200 Jahre vor 1914 ist Deutschland der hauptsächlichste Übungsplatz für die französischen Armeen gewesen, die aus ihm bei wiederholter Gelegenheit eine Wüste machten (besonders 1635/48, 1674 und 1688/97). Und da spricht Poincare von wiederholten Überfällen, unter denen Frankreich oft genug zu leiden gehabt hätte! In Wirklichkeit erstrebte die französische Politik seit über 800 Jahren mit erstaunlicher Folgerichtigkeit nicht nur die Rhein­ grenze, sondern auch noch die Beherrschung des Rheinlandes.

Sehr schmerzlich ist ein Vergleich zwischen deutscher und französischer Geschichte. Frankreich und Deutschland kolonisieren im Osten, jenes zerstörend, dieses aufbauend. Jenes kann im 20. Jahrhundert an neue Eroberungen gehen, Deutschlands Kolonialwerk aber wird in Trümmer geschlagen und das Land selbst zerstückelt. Frank­ reich vemichtet das religiöse und seelische Eigenleben und wird dadurch stark, Deutsch­ land quält sich mit diesen Problemen ab und geht staatlich zugrunde (Adnaticus). Bei seinen ständigen Angriffskriegen gegen unsere Westgrenzen ist Frankreich nie um Vorwände und Schlagworte verlegen. Bald geht es um erbrechtliche Ansprüche, für oder wider den Papst, für Glaubensfreiheit und Menschenrechte, bald zur Hilfe­ leistung für gekaufte deutsche Fürsten oder zur Revanche für einen mißglückten Raub­ zug, bald zur Erreichung der Natur- oder natürlichen (militärischen, geschichtlichen, Sicherheits- und völkischen) Grenzen, die übrigens nach Bedarf wechseln (Adriaticus). Als Bundesgenosse wurde skrupellos gewählt, wer Deutschland im Osten beun­ ruhigen konnte. Das blühende deutsche Land wurde dabei mit nicht zu beschreibender Wildheit verwüstet. Bis 1870 war es den Franzosen nie um Gewinnung von Menschen, sondern ausschließlich um neues Land zu tun; sie haben daher die Deutschen häufig vertrieben oder mit Stumpf und Stil ausgerottet (Westlothringen).

Deutschland hat sich (nach Adriatus) durch Frankreichs Annektionen jahr­ hundertelang verblüffen lassen. Sobald ein Stück deutscher Erde französisch wurde, war es, als ob ein eiserner Vorhang hinter ihm niederfiel. Das in fran­ zösische Gewalt geratene Land war fürs Binnendeutschtum regelmäßig erledigt (s. heute das Elsaß!). Was Frankreich einmal annektiert hatte, wurde ihm nicht mehr streitig gemacht. Daraus schöpfte es die .Kühnheit zu neuen Eroberungs­ plänen und rückte die angeblich strittigen Zonen immer mehr nach Osten vor. Dw Franzosen waren durch keinerlei geopolitische Notwendigkeiten zu den Eroberungen deutscher Länder gezwungen: sie handelten viel?

1. Frankreichs Ausbreitung nach Osten und deren Begründung.

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mehr nut aus Imperialismus usw. und um Europa zu beherrschen. Zuletzt, vor und nach 1918, spielten auch eine große Rolle die Instinkte und die Leiden­ schaften mehrerer Mllionen Kleinrentner, die Geldgier der französischen Börse und Kapitalisten, der Industrie- und Mrtschaftsgruppen, besonders der Eisenindustrie, des comite des karges (Eisen, Kohle). Diese sind eigentlich die 'Träger des Imperialismus geworden, sie wollen politisch und wirt­ schaftlich Europa beherrschen und von ihnen lassen sich die Machtfanatiker (ehrgeizige und fanatische PoMker) in den Eroberungswagen einspannen. Denn in keinem Land der Welt, außer in der Union und größtenteils auch in England, hängt die Regierung so sehr von der Industrie und Hochfinanz ab, die mit Geld die öffentliche' Meinung beeinflußt, wie in Frankreich. Sie setzt sich daher auch heute stets bei wichtigen Entschlüssen mit den führenden Männern jener Gruppe und — mit den Militärs m Verbindung. Schon Iswolskij, der russische Vertreter in Paris, beklagte sich 1911, daß die Finanzkreise so viel Einfluß auf die allgemeine Orien­ tierung der Mlianz besäßen, und 1912 berichtete er, daß die französische Regiemng sehr oft den Finanzleuten (Banken) unterworfen sei.

• So erhielt denn schon von 1905 ab die französische Revanchekriegs­ politik eine ausgesprochen imperiaüstisch-militärisch-kapitalistische Tendenz. Das französische Kapital war infolge der Fortschritte der industriellen Technik in Deutschland, der Erschließung der Kalifelder im Elsaß und des Erzbeckens von Longwy-Briey auf die Eroberung des Rheins und seines Hinterlandes interessiert. Frankreich war an die vierte Stelle als Erzerzeuger getreten; aber es fehlte ihm die nötige Kohle. Diese mußte es entweder von Belgien oder aus dem Saar- und Ruhrgebiet oder von England beziehen. Der Weg zu einer Verständigung mit Deutschland wäre einfach und friedlich gewesen. Frankreich zog aber den Weitermarsch auf dem Wege der gewaltsamen Eroberung vor. So ging es denn 1914nicht in den Krieg, weil es sich bedroht fühlte, sondern aus verletztem Nationalstolz über die Niederlagen 1870/71, aus nackter Aus­ dehnungslust nach dem Rhein, besonders aus reiner Sucht nach Raumerwei­ terung, um sich selbst wirtschaftlich (Kapitalismus) und militärisch zu stärken und das wirtschaftlich und numerisch viel stärkere Deutschland zu schwächen, ja womöglich zu vernichten, angeblich auch zur Wiederherstellung des euro­ päischen Gleichgewichts, das stets und ausnahmslos nur Frankreich zu stören gesucht hätte, gegen „deutsche" Weltherrschaftsgelüste, für Recht und Freiheit. Als die Franzosen am 11. Januar 1923 ins Ruhrgebiet einbrachen, handelten sie ebenfalls nach einem von kältestem Egoismus diktterten Plan, der sich als ein Versuch darstellte, Rheinländer und Westfalen gefügig zu machen in Zukunft als Arbeitssllaven für Frankreich Frohndienste zu tun, sich selbst aber instand zu setzen, mit deutschen Gehimen und deutschen Händen die größte Eisen- und Stahlindustrie der Welt zu organisieren und damit der Herr Europas, ja der Welt zu werden. Ist doch das letzte Ziel Frank­ reichs (nach dem Senator Dariae) die Bereinigung der französischen Eisen­ industrie mit der deutschen Schwerindustrie an der Ruhr unter französischer Hegemonie und damit die wirtschaftliche Vorherrschaft Frankreichs. Me billige deutsche Ruhrkohle sollte 1923' nach dem Wunsche des Comite des

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

forges zum französischen (Lothringer) Erz kommen, so daß der Einmarsch großen­ teils ein imperialistisches Ausbeutungsgeschäft darstellte. Leider wurde von den Deutschen bisher viel zu wenig die Fabel von dem „unprovozierten Angriff" Deutschlands auf die unschuldigen Opfer Frank­ reich und RuUand zurückgewiesen, obwohl alle seither angehäuften Übel, besonders auch unsere Entwaffnung, darauf zurückzuführen sind. Die für Frankreichs Schutz äußerst günstigen orographischen Verhältnisse haben das ganze Land vor einem schnellen Siege Deutschlands bewahrt, es ist vielmehr mit Hilfe der ganzen Welt erfolgreich aus dem Weltkrieg hervorgegangen. Es nahm (als Hauptsache) Deutschland die Saarkohlenfelder und dazu Elsatz-Lothringen mit den besten Eisenerzlagern der Welt und will uns nun in ewiger Schuldknechtschaft halten. Es hat weit in urdeutschen Besitz hinein seinen Machtbereich ausgedehnt. Der Verlust unserer herrlichen Westmarken beweist, daß nur eine starke Staatsgewalt den Deutschen am Rhein Sicherheit und Herrschaft gewähren konnte. Da diese fehlte, so ist es gekommen, daß gerade dieses älteste und schöpferischste Kulturgebiet eines großen Volkes sein gefährdetstes Gebiet und sein eigentliches Schicksalsland geworden ist. Es gilt gewissermaßen als das Barometer der deutschen Macht, es ist der Spiegel, in dem sich jede Schwä­ chung, jede Zunahme der staatlichen Zerrissenheit getreulich abzeichnet. Mit der Besetzung der Reichslande durch die Franzosen Ende 1918 ist aber für uns der Kampf um den Rhein nicht zu Ende; denn solange jene am Rhein stehen, beherrschen sie neben Belgien ganz Deutschland; wir würden uns daher selbst aufgeben, wenn wir unseren Lebensstrom aufgeben würden, ganz abgesehen davon, daß wir ein unantastbares Recht auf das uns entrissene Land besitzen und als Nation verpflichtet sind, es wieder zurückzuverlangen. Mer das deutsche Volk wird (nach Lautensach) das Stromgebiet des deut­ schen Rheines, ohne das es nicht Herr in seinem Lebensraum ist, nie mit, sondern nur gegen Frankreich wiedergewinnen können. Eine Versöhnung mit Frankreich wird auch erst dann eintreten, wenn der den Franzosen innewohnende unbändige Ausdehnungswille nicht mehr zur Abwehr herausfordert.

Literatur: E. M. Arndt, „Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze". D. Schäfer, Deutschland und Frankreich, 1914. K. Franz, Der Erbfeind usw., 1915. B. Otto, Unser Feind Frankreich, 1916. G. Ost, Unser Irrtum über Frankreich, 1917. H. Meyer, Frankreichs Kampf um die Macht in der Welt, 1918. A. Schulte, Frankreich und das linke Rheinufer, 1918. Stählin, Geschichte Elsaß-Lothringens, 1920. Spieß, Das historische Rheinbild, 1923. Fr. König, Welsch oder deutsch? Der Kampf um die westgermanischen Lande, 1924. Adriatikus, Deutschlands gerechte Grenzen, 1924. O. Brues, Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart, 1925. Metz, Die Oberrheinlande, 1925. H. Oncken, Die historische Rheinpolitik der Franzosen. 1925.

2. Frankreichs Zukunftspläne, deren Begründung und Verwirklichung.

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Derselbe, Die Rheinpolitik Napoleons III. 1863/70 usw., 3 Bde., 1925. I. Ponten, Der Rhein, 1925. Stegemann, Der Kampf um den Rhein, 1925. Wentzke, Rheinkampf, 2 Bde., 1925. H. I. Allen, Die Besetzung des Rheinlandes, 1926. Mehrmann, Locarno—Dhoiry—Genf in Wirklichkeit, 1926. K. Linnebach, Die gerechte Grenze, ein lOOOjähriger Kampf, 1927. Dr. Rühlmann, Rheinische Schicksalsfragen, eine Schriftenfolge, 1—20. Fr. Hertling, Französische Sicherheit und Rheinlandräumung, 1927. Süddeutsche Monatshefte („Versailler Vertrag", „An die deutschen Arbeiter", „Politische Bildung", „Tausend Jahre Franzosenpolitik", „Verständigung mit Frank­ reich"). Zeitschr. f. Geopolitik, bes. Wütschke, Günther und Lautensach in Heft 5 u. 6,1924, und Heft 3, 1925; außerdem Heft 1 u. 5, 1924, und 6, 1925, Heft 1, 1927.

2. Frankreichs Zukunftspläne, deren Begründung und Derwirklichung. Das historische Ziel der französischen Außenpolitik, das jedem Franzosen oder richtiger dem militaristischen, Deutschland hassenden und fürch­ tenden Teil der Franzosen als höchstes Ziel vor Augen schwebt, ist dreifach, nämlich die Zerschlagung oder die politische und wirtschaftliche Knechtung des Deutschen Reiches, das gegen den französischen Willen zustande ge­ kommen ist, sowie der Gewinn der Rheinlinie, also der Rhein als Grenze, östlich davon nur ohnmächtige Gebilde bis zur Oder und zum Bosporus, und auf beides begründet die Vormacht auf dem europäischen Festland. Das imperialistische Frankreich will die Vernichtung und den Zerfall seines östlichen Nachbarn. Es betrachtet diesen, wie einst Rom das geschwächte, aber wieder im Aufschwung begriffene Karthago, als einen Fremd­ körper, eine Enklave im vorerst noch nebelhaft bestehenden Großfrankreich. Der Deutschenhaß und Vernichtungswille des ausschlaggebenden Teiles des französischen Volkes hat seinen tieferen Grund in der ungeheuren Volksund Schaffenskraft der Deutschen, in der großen Angst vor dem erwachenden und erstarkenden, durch seine physische und sittliche Kraft gigantisch wachsenden Deutschland, wohl auch in der dumpfen Erkenntnis vom eigenen völkischen Niedergang. Es ist unser Verderben, wenn wir aufhören zu glauben, daß be­ stimmte Franzosen Deutschland völlig vernichten wollen, „daß sie bedauern, Deutschland nicht 1919 zerstückelt zu haben, aber den Wunsch hegen, es eines Tages nachzuholen, daß sie den festen Willen haben, die Rheinlandräumung mit allen Mitteln zu hintertreiben sowie nie abzurüsten, daß sie immer weiter Pfänder und Sicherheiten verlangen werden" (Dujardin). Die Statistik deckt die wundeste Stelle des französischen Staates auf, den Geburtenrückgang (Deutschland besaß 1925 einen Geburtenüberschuß von 540000 gegen 60000 Frankreichs, 1926 allerdings auch nur mehr 491366),. das langsame Sterben eines Volkes (1927 in manchen Departements Geburten 55% der Todesfälle). Franzosen sehen schon heute im Geiste den Tag, da Deutschland 80 und Frankreich nur 30 Millionen Einwohner beherbergen wird, sehen damit die

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„Sicherheit" Frankreichs bedroht (s. u.) und fürchten, daß mit der Abnahme des Nachwuchses auch der Gnfluß Frankreichs auf kulturellem und politischem Gebiete immer mehr schwinde. Das ist einer der Hauptfaktoren des „Jmmer-Niederdrückenwollens", der steten Furcht vor Deutschland, das trotz aller Not und Bedrängnis immer stärker wird. Frankreich redet daher von „Verständigung", aber nur mit dem Ziel, Deutschland ganz niederzuhalten und ungefähr­ lich zu machen. Damit entfällt aber jede Gleichberechtigung, die Grundlage jeder an sich so begrüßenswerten Verständigung, welche die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland als Voraussetzung hat. Diese wird uns aber Frankreich nie freiwillig zugestehen. Sagt doch Page ausdrücklich in seinen Briefen an Wilson, England könne wohl mit einem schwachen, Frank­ reich nur mit einem ohnmächtigen Deutschland als Nachbar leben. So wird der französische Geburtenrückgang zu einer großen Gefahr für Deutschland. Unentwegt wird ferner das „natürliche" Recht Frankreichs auf die Rheingrenze (Au Rhin Gaulois), diese nationale Frage, dieses Ziel der fran­ zösischen Politik seit Jahrhunderten, diese Volksidee, worauf man förmlich ein­ geschworen ist, betont; die Frage des Rheins ist unlöslich mit der Großmanns­ sucht, dem Nationalstolz des französischen Volkes verbunden. Die heutige Rheinlandpolitik Frankreichs verfolgt bis in die Einzel­ heiten das gleiche Ziel wie in den letzten 300 Jahren, trotz des Sicherheits­ paktes von Locarno, der ja für Frankreich nur eine Fassade zu sein scheint, hinter der sich hauptsächlich sein Imperialismus und Militarismus, allerdings auch seine Angst vor dem völkischen Niedergang verbirgt. Rheinisches Schicksal ist (nach Oncken) in allen Höhen und Tiefen unserer Volksgeschichte zugleich deutsches Schicksal—niemals mehr als in der Gegenwart, wo die Franzosen die alten Eroberungsziele nicht aufgegeben haben, sondern mit den alten Mitteln und mit neuen indirekten Methoden, der „inneren, wirtschaftlichen und kulturellen Durchdringung", die allmähliche Aneignung zu erreichen suchen. „Indem dieser Geist — die französische Rheinpolitik — sich auch nach der großen Katastrophe (1918) von neuem einer dauernden Befriedigung der beiden Völker un­ versöhnlich in den Weg stellt", sagt Oncken, „bleibt er das schwerste Hindernis für alle Hoffnungen auf ein künftiges friedliches Gemeinschaftsleben unter den Völkern Europas." Mlseits sucht man dieses Recht auf den Rhein auch fernerhin zu begründen. Der Verständigungspolitikcr Briand schrieb schon am 12. Januar 1917: „In unseren Augen darf Deutschland nicht einen Fuß breit über den Rhein hinaus besitzen." Nach Poincare verlangen die Franzosen, daß Deutschland nicht mehr in der Lage sein solle, den Rhein als „militärische Basis" für „neue Angriffe" gegen Frankreich zu be­ nützen; sie seien deshalb gezwungen, dagegen Vorsichtsmaßregeln zu treffen! Andere Summen erllären, Frankreichs militärische Vorherrschaft zu Land sei die sicherste Garantie zur Erhaltung des Friedens (und zugleich ein Gleichgewicht gegen die britische Flotte), anderseits wieder, Frankreichs Herrschaft über das linke Rheinufer sei im Interesse bet Erhaltung des Friedens eine „Notwendigkeit". Sie stützen sich auf die Worte des Marschalls Foch: „Die französische Sicherheit beruht ganz unU gar auf dem Besitz des Rheins, der militärischen Grenze Frankreichs." Man weist darauf hin, daß nicht der Rhein an sich den Schutz verbürge, sondern die bewaldeten Höhenzüge, die den Fluß von der holländischen bis zur Schweizer Grenze begleiten!

2. Frankreichs Zukunftspläne, deren Begründung und Verwirklichung.

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Für Frankreich stelle der Besitz des linken Rheinufers lediglich einen zuverlässigen Schutz wall gegen feindliche Invasionen dar! Im Besitze Deutschlands dagegen werde das linke Rheinufer zu einem fürchterlichen Tummelplatz seiner Waffen. Frankreich befinde sich in der Situation eines Besiegten, der sich in jeder Minute darauf gefaßt machen müsse, von der neutralen Zone aus überfallen zu werden (Abb. 21)!

Erst an den Besitz der militärischen Rheingrenze mit starken Brücken­ köpfen auf dem rechten Ufer ist aber nach französischer Auffassung auch die Herrschaft oder wenigstens das Übergewicht in Europa, auf alle Fälle aber die Herrschaft über die germanischen Länder Deutschland, Schweiz, Belgien und Holland geknüpft. „Europa ist erst pazifiziert", sagen viele Franzosen, „wenn es einen einzigen französischen Staat bildet, wie Napoleon das erstrebte, oder von Frankreich beherrscht wird (wie im 18. Jahrhundert) oder von ihm abhängig wird" (wie seit 1918). Auf alle Fälle kann es nur unter seiner Führung dem Weltfrieden nähergebracht werden. Es soll wieder (wie vor 200 Jahren) eine rein französische Epoche für Europas Geschichte anbrechen! Zunächst soll aber die deutsch-französische Verständigung uno Versöhnung kommen. Sie ist nach Herve bloß an eine Bedingung geknüpft: Abtretung des ganzen linken Rheinusers an Frankreich! Eine Politik der Ver­ ständigung mit Frankreich kann aber niemals auf der Basis des Unrechtes, sondern einzig und allein des Rechtes und der Gleichberechtigung getrieben werden. Dieses Rheinziel wird aber in der Vorbereitung verdeckt und der Deutsche zu zermürben gesucht, wobei man hauptsächlich die Zeit wirken läßt. Mit der sogenannten Naturtheorie will man nachweisen, daß die Rhein­ länder ein Mittelding zwischen Deutschen und Franzosen seien (s. u.), man will die Welt glauben machen, daß im Rheinland eine Doppelsprachigkeit und ein keltorömischer Untergrund vorhanden sei. Als Mittel der Zermürbung wenden Franzosen Einschränkung des Lebensraumes und -kreises und moralische Demütigungen an. Schon 1839 schrieb Viktor Hugo, Europa könne nicht ruhig sein, solange Frank­ reich nicht zufriedengestellt sei, solange der Rhein, Frankreichs natürliche Grenze, nicht „wieder" französisch werde. Das linke Rheinufer sei französisches, von Gott den Franzosen geschenktes Land. In neuerer Zeit sucht man auch glauben zu machen, daß die Rheinländer durch den katholischen Glauben und die Ideale des demokratischen Gedankens mit den Franzosen weit mehr verbunden seien als mit den Preußen.

So glauben Franzosen eine vierfache Einheit geltend machen zu können, die des (geographischen, geschichllichen und wirtschaftlichen) Raumes, des Blutes (und der Kultur), des Glaubens und der politischen Ideale.

Mt der mächtigsten Luftflotte und dem mächtigsten Heere der Welt tritt also Frankreich vor Europa hin und sagt: „Gewährt mir Schutz gegen Deutsch­ land!" Unter diesem Schlagwort „Sicherheit", das schon Ludwig XIV. er­ funden hat und auf das nicht nur die Ausländer, sondern auch viele Deutsche immer wieder hereinfallen — in Wirklichkeit müßten wir in unserer Wehrlosig­ keit auf „Sicherheit" bedacht sein, will Frankreich nach lOOOjährigem Ringen also endlich die ganze Rheingrenze, am liebsten auch noch das Ruhrgebiet, das Herz Deutschlands, und damit also auch die Hegemonie in Europa, wegen der „Sicherheit" hat man bereits rechts des Rheins, mitten in Deutschland, eine breite, neutrale Zone geschaffen und die elsässischen Grenzbahnhöfe auf die rechte Rheinseite verlegt, die Brücken aber französisch gemacht (Abb. 4).

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Man begünstigte daher auch die nach 1919 einsetzenden Lostrennungs­ bestrebungen der linken Rheingebiete vom Deutschen Reich, um diese womöglich Frankreich einverleiben zu können. Nach dem Wunsche vieler Franzosen sollte aus diesen deutschen Landen, also einschließlich der Rheinpfalz, die „Rheinische Republik", ein unabhängiger Staat unter dem Schutz des Völkerbundes, also ein französischem Einflüsse unterstehender „neutraler" Pufferstaat (Abb. 5) geschaffen werden, der aber noch reiche Gebiet rechts vom Rhein umfaßte (Maingau, Ruhr- und Düsseldorfer Industriegebiet). Deutschland sollte ein Aus­ sehen erhalten wie zur Zeit Napoleons nach 1807, wo Frankreich bis zur Elbe reichte (Mb. 37). Franzosen, Tschechen und Polen wollen überhaupt Europa nach wahren, geschichtlichen und völkischen Rechten aufteilen. Daher bemühen sich erstere auch weiter­ hin, vor allem das ganze Rheinland (samt Pfalz) für immer in ihre Gewalt zu bekommen.

klbb.37. Französischer Aufteilungsplan Deutschlands. Aus Dix: „Politische Geographie".

2. Frankreichs Zukunftspläne, deren Begründung und Verwirklichung.

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Daß die Tschechen den Belgiern und Franzosen nur das linke Rheinufer überlassen wollen (Mb. 5), während diese ursprünglich bis Iller—Frankenhöhe—Marburger Senke sich auszubreiten gedachten (Mb. 37), beweist die Unstimmigkeit der Verbündeten bei der Zerlegung des Bärenfelles.

Es ist bezeichnend für die fremden Machtpolitiker, daß z. B. die französischen diesen heiligen deutschen Bolksboden, in dem die Wiege unseres Reiches stand, nicht annektieren, sondern nur die Annexion durch die Deutschen „rückgängig" machen wollen. Denn Frankreich annektiere nie, habe auch Elsaß-Lothringen nie annektiert, weder früher noch 1918, sondern es hebe nur widerrechtliche Annexionen auf. Mles Gebiet, das die alten Gallier, von denen in Frank­ reich vermutlich niemand mehr existiert, auf ihren Wanderungen durchzogen haben, sei aber eigentlich französisches Gebiet. Die Franzosen bleiben (nach General Men) von dem hartnäckigen Bestreben, beherrscht die Lostrennung des linken Rheinufers in irgendeiner Form zu er­ reichen, wie sie ja im Gefühl ihrer Schwäche Deutschland lieber vernichten als Reparationen empfangen wollen. Me Franzosen wollen die Beute nicht für nichts oder wider nichts fahren lassen; daher verlangen sie vorerst Zahlung der unbegrenzten Reparationen und materielle und moralische Mrüstung des deutschen Volkes.

Für uns Deutsche ergibt sich die Lehre, daß wir uns jedem Versuche entgegensetzen müssen, die staatliche Ordnung am Rhein überhaupt zur Diskussion zu stellen; denn jede auch noch so harmlos sich gebende Art rheini­ scher Autonomie oder fremder Kontrolle würde den Franzosen nur als Sprung­ brett für weiterreichende Pläne gelten.

Aus all dem ersieht man, daß die Ausdehnungspläne Frankreichs vor den natürlichen Grenzen nicht Halt machen. Es plant sogar offen­ kundig eine kontinentale Ausbreitung nach dem Balkan und möchte, wenn es ginge, nur allzugern unser Orientziel übernehmen. Frankreich beherrscht jetzt schon den wichtigsten deutschen Transport­ weg, den Rhein, und behauptet, große wirtschaftliche Interessen verbänden es mit der Donau und deren Uferstaaten, Franzosen gaben den Ton an in den die ehemaligen Mittelmächte überwachenden Interalliierten Mlitärkommissionen, leiten die Botschafterkonferenz und den Völkerbund, französi­ scher Einfluß herrscht vor in Belgien und Luxemburg, in den hauptsächlich von Frankreich geschaffenen Staaten an der Ostgrenze, in Polen und der Tschechoflowakei, aber auch in Südflawien und Rumänien. Auf Frankreichs Anregung haben sich diese Staaten wieder miteinander und mit ihm ver­ bündet (Abb. 38), so daß nun französische Puffer- und Vasallenstaaten eine Barriere an Deutschlands Ostgrenze und in dessen Rücken bilden. Schon lange vor dem Krieg hatten sich Franzosen und Slawen gesucht und gefunden, die einen um Deutschland zu stürzen, die anderen, um nach dessen Sturz ihre Selbständigkeit zu erreichen. Nirgends ist den Franzosen die Anbiederung besser gelungen als bei den Slawen Österreichs, besonders bei den Tschechen. Mqn hat aus dem deutschen Volkskörper Stücke herausgeschnitten und sie den Nachbarstaaten zu­ geteilt, um diese in dauerndem Gegensatz zu Deutschland zu halten.

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Geopolitische Fragen: III. Frankreich und Deutschland.

Abb. 38. Die Einkreisung Deutschlands, Österreichs und Ungarns durch Frankreich, Italien und „Kleine Entente" (Tscheche», Rumänien, Jugoslawien) zur Aufrecht­ erhaltung des „Friedens" und des territorialen Status seit 1918/19.

Unsummen wurden und werden von den Franzosen für eigene militärische Rüstungen (fast 25% der Ausgaben auf Heer und Marine) und die ihrer Freunde ausgegeben, wodurch ihr Staatshaushalt schwer belastet, anderseits allerdings auch ihre Rüstungsindustrie gestärkt wird. Alle Gelder, die Frankreich von uns erhält, stärken so wieder die deutschen Nachbarn, die nur französische Hilfs­ völker bilden. Frankreich hat dadurch um Deutschland einen starken Ring gelegt, einen Dornenkranz gegnerischer Länder geflochten (Abb. 38), welche die aufgelockerten Grenzen des Deutschen Reiches mit Wehr und Waffen, Bünd­ nissen und Garantiepakten umspannt halten. Es hat damit einen umfassenden Angriff auf uns vorbereitet, aber auch endlich erreicht, was es schon im Mittel­ alter erstrebte, nämlich die Vorherrschaft in West- und Mitteleuropa, nachdem ihm England gegen Erlangung wertvoller Zugeständnisse im nahen Orient zur Beruhigung so ziemlich freie Hand gelassen hatte. Die ganze Politik, namenllich aber die materielle und moralische Entwaffnung Deutschlands steht daher vorwiegend unter Aufsicht Frankreichs.

So dauert die mehr als 1000jährige Bedrohung Deutschlands fort und so kehrt Frankreich wieder zu seiner alten kontinentalen Ausbrei­ tungspolitik zurück. Auf den Trümmern Deutschlands will es, obwohl es keine 40 Millionen Menschen zählt, seine Herrschaft über Europa und die Welt aufrichten, in Emopa, Afrika und Asien herrschen. Ein siegreiches Frank­ reich und die Herrschaft über den Kontinent waren ja immer identisch. Mt unserem Land bekäme es dann Arbeiter und wie früher Soldaten. Haben Germanen einst den Römern die Weltherrschaft erhalten, warum sollen nicht die Deutschen die französische aufrichten und stützen helfen? Unsere fleißi­ gen Hände sollen das Wirtschaftsleben des menschenarmen Frankreich (von 1876 bis 1911 stieg die Bevölkerung nur um 2,69 Millionen Seelen gegenüber 22 % in Deutsch­ land) aufrechterhalten, was schon von der Zeit vor 1914 großenteils gesagt werden

2. Frankreichs ZukunftsPläne, deren Begründung und Verwirklichung.

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kann (in Banken, Industrie und Handel). An Deutschlands Trümmern will das nach innen und außen morsche Frankreich wieder gesunden, mit ihnen seinen völkischen und wirtschaftlichen Niedergang aufhalten. Und doch könnte es aus seinem Geburtenrück­ gang Die Lehre ziehen, daß ein neuer Krieg seinen Todeskampf zu einer Angelegenheit von wenigen Jahren machen würde.

Eine wichtige Rolle spielt bei der französischen Ausbreitung der fran­ zösische Kapitalismus; daher zum Teil die Verbrüderung mit den Polen, durch die man sich in den Besitz der weggenommenen Industrien Ostober­ schlesiens zu setzen suchte. Er -hat nicht nur Riesengewinne während des durch ihn mitverursachten Krieges gemacht, sondern er verdient weiterhin Riesensummen durch die Ausbreitung Frankreichs und die Unterdrückung und Umklammerung Deutschlands. Es sei nur erinnert an Lothringen und Elsaß, an Ostoberschlesien und das Saargebiet, an die Liefemng von Kriegsmaterial an die „Ringstaaten", die Verdrängung'des deutschen Kapitals und Handels aus diesen, die Wegnahme der deutschen Unternehmungen und des deutschen Kapitals in Frankreich (von 1200 Mill. M. sind nur mehr — 80 Mill, vorhanden) und in den deutschen Kolonien, die militärische Rüstung Frankreichs um der „Sicherheit" willen, den Wiederaufbauskandal und die Bestrebungen, die deutsche, namentlich rheinische Industrie in seine Hand zu bekommen. Daher möchte Frankreich auch möglichst ausschließlich die Unternehmungen an Rhein und Ruhr mit der Obli­ gationsschuld von 5 Milliarden M., womit die deutsche Industrie nach dem Dawes­ plan belastet ist, beschweren. Viele Franzosen verfolgen dabei noch ein weltpolitisches Ziel: die deutsche Industrie muß, wenn Frankreich einmal gegen England vorgehen sollte, in französischen Händen oder unter französischer Kontrolle sein, damit sie nicht gegen Frankreich und mit England arbeiten könne. Zweimal wurde das zweifache historische Ziel Frankreichs, den Rhein zu gewinnen und Deutschland zu beherrschen, nahezu erreicht, nämlich am Ende des 17. und am Beginn des 19. Jahrhunderts. Beide Male schuf es die unvermeidliche Rückwirkung: es zwang das innerlich zersplitterte und politisch rückständige deutsche Volk zu Zusammenhalt und Sprengung der Ketten.

Die Beherrschung Deutschlands gab Frankreich die Hegemonie in ganz Europa. Darum rief es mit der Erreichung seines Zieles jedesmal den alten, strengen Hüter des „europäischen Gleichgewichts" gegen sich in die Schranken — England, das denn auch beide Male die Führung der euro­ päischen Koalition gegen Frankreich übernahm. Wird England Frankreich an der jetzigen Ausbreitung und an der mittels der Rheinstellung antzestrebten kontinentalen Vorherrschaft hindern? Nein und ja, je nachdem es Deutschlands Erneuerung mehr fürchtet als die Ver­ größerung der französischen Macht und je nach dem Stand der wirtschaftlichen und auch weltpolitischen Verhältnisse Englands.

Geht es ihm, namentlich seiner Industrie, schlecht (wie seit 1926) und glaubt es sich von uns Hilfe erhoffen zu können^ so ist es unser Freund. An und für sich wünscht es aber ebenfalls unsere Wehrlosigkeit und Verstümmelung; doch werden auch die vielen Sorgen (Dominien, China, Rußland, Japan, Ägypten) das mächtige Albion wohl nicht abhalten, falls es nötig ist, gegen Frankreich aufzutreten, trotzdem oder gerade weil ihm dieses überall Schwierigkeiten zu bereiten sucht um so England zu

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Entgegenkommen und freier Hand in Deutschland zu zwingen: man vergesse nicht, daß die Entscheidung über Oberschlesien in Kleinasien fiel! Übrigens arbeitete Frankreich, als es am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzte und die deutsche Eisen- und Stahlindustrie ruinierte, für England, das es von dem gefährlichsten, weil technisch überlegenen Konkurrenten befreite. Das dürfte seinen Entschluß, das Ruhrgebiet wieder zu räumen, auch beeinflußt haben, vielleicht mehr als der politische Druck von Seiten Englands und Amerikas. Hauptsächlich aber ging es heraus, weil die schlechten Finanzen die kostspielige Besetzung einfach nicht mehr gestatteten. Vorläufig muß sich Frankreich mit dem Verzicht Deutschlands auf seine abgetretenen Gebiete und die moralische Bekräftigung des Versailler Diktates zufriedengeben, da Englands Lebensinteressen kein gewaltsames Vorgehen vertragen, nachdem England im Verein mit Amerika in Versailles deshalb auch die Errichtung eines „unabhängigen Rheinlandes" verhindert hatte. Der mehrhundertjährige Vormarsch würde aber naturnotwendig sofort wieder in Gang kommen, sobald England — etwa durch die Bedrängnis eines Existenzkampfes — zu Zugeständnissen in Europa gezwungen wäre. Vielleicht kommt aber Frankreich doch noch rechtzeitig zur Einsicht, daß eine wahre Verständigung mit Deutschland lohnender ist als eine Politik der Feindschaft und der Bedrückung. Wenn nicht, wird die französische Aus­ dehnungspolitik hoffentlich endlich einmal alle Deutschen zur Einigkeit und zu festem Zusammenschluß führen und notgedrungen zur Betätigung des Lebens- und Freiheitswillens zwingen.

3. Französische Wettpolitik. Hauptwege der Ausbreitung. Frankreich ist von der Natur unzweifelhaft günstiger ausgestattet als Deutschland. Fast alle geographischen und geopolitischen Bedingungen zur Bildung einer Weltmacht sind dort gegeben. Dank seiner Lage hätte eigentlich Frankreich die Herrschaft auf dem Mittelmeer und dem freien Ozean gewinnen müssen. Aber es hat von jeher seine reichen Naturgaben viel zu wenig genutzt und viel zu wenig in den Dienst der Seeherrschaft gestellt. Gewiß reizte an und für sich die Rand- und Jsthmuslage an zwei Meeren, über denen reiche und machtmehrende Gebiete lockten. Aber weder wirt­ schaftliche (keine Ernährungsschwierigkeiten usw.) noch geographische Gründe zwangen es, wie Deutschland, zur Weltpolitik. Das menschen­ arme Land brauchte ja seine Leute selbst, es hatte keine überschüssige Bevöl­ kerung, mußte daher nicht wie Deutschland seine Industrie und den Handel auf den Weltmarkt einstellen und sich nach Kolonien umsehen, da Landwirt­ schaft und Industrie, wenn sie für heimischen und sonstigen kontinentalen Bedarf arbeiteten, die Bevölkerung in ausreichendstem Maße ernähren konnten. Es war also nicht Übervölkerung, nicht wirtschaftlicher, gewerblicher Zwang, sondern reiner Machthunger, Ehrgeiz, Ruhm- und Gewinnsucht, die Frankreich bis heute extensive Politik tteiben, nach immer neuem Landbesitz greisen ließen, unbekümmert darum, daß da von einem organischen Wachstum keine Rede sein könne. Aus dem Willen zur Macht schöpfte es auch die Kraft. Für die Franzosen hängt das Glück der Welt von der Größe ihres Landes ab.

3. Französische Weltpolitik. Hauptwege der Ausbreitung.

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So treibt dieses Willensstärke Volk schon 300 Jahre Weltpolitik und strebt nach einer führenden Stellung in der Welt, ja ist schon vor zwei Jahr­ hunderten eine Weltmacht geworden, wenn auch deren Ansehen und Größe oft längere Zeit stark erschüttert war. Die Franzosen bedachten nicht, daß ihre Ausbreitung eigentlich der geopolitischen Grundlagen entbehrte, daß die kontinentale ganz ungeographisch und unorganisch war und auch die überseeische nur mit großer Einschränkung organisch, in ihrem Ausmaß aber ebenfalls als ganz unorganisch bezeichnet werden muß. I. Überseeische Ausbreitung 1535—1768. Mit Marseille und Toulon schaut Frankreich nach Nordafrika und dem Orient, mit Bordeaux und Le Havre nach Amerika, mit Calais und Dünkirchen nach England und dem übrigen nordwestlichen Europa. Daher war der ozeanische Weg der Ausbreitung zweioder richtiger dreifach: Zuerst ging es über den Kanal, dann über das kleinere Meer, da dieser Weg der vorteilhafteste war, bald auch über den Ozean selbst. Auf den zwei letzteren Wegen sucht es sich heute noch zu erweitern. Zunächst aber schaute es als Randstaat seit Jahrhunderten ununterbrochen mit begehr­ lichen Blicken nach Osten, Südosten und Norden, schlug also auch den konti­ nentalen Weg der Ausdehnung ein, obwohl die Lage von Paris am Rande des Erdteils eine dauernde Beherrschung Europas nicht verbürgte. So wurde seine Politik zwiespältig: sie erstreckte sich über das Meer und über das Festland. Frankreichs Politik begann bereits im 17. Jahrhundert den Kampf um die führende Stellung in der Welt, nachdem sie schon im 16. über den Ozean (nach Nordamerika) gegangen war. Bereits Ende des 14. Jahrhunderts hatte Papst Urban VI. geklagt, daß die gallische Nallon die Weltherrschaft zu erringen strebe. Vorher und nachher haben sich zahlreiche Könige (Philipp der Schöne, Karl VIII.) und andere Franzosen (Karl von Anjou, Herzog von Sully, Auberry unter Ludwig XIV.) mit weitausschauenden Weltherrschaftsplänen, zum mindesten der Wiederaufrichtung des Reiches Karls des Großen oder der Erreichung des Kaisertums als einer Weltidee, getragen und das mit einem erheblichen Rechtsanspruch begründet. Seit Mitte des 16. Jahr­ hunderts bediente sich Frankreich mit Erfolg (besonders unter Richelieu) einer neuen geistigen Waffe, der Idee vom europäischen Gleichgewicht, um zum „Schutze der Freiheit" der Völker die Führerschaft in Europa zu erringen.

Im 17. Jahrhundert nahm Frankreich einen mächtigen Aufschwung. Wie es schließlich durch die Ausdehnungsbestrebungen eines Mazarin und Ludwig XIV. in der Richtung nach Spanien, wo an Stelle der Pyrenäen der Ebro als natürliche Grenze angesprochen wurde, sowie nach Flandern und dem Rhein zwei unorganische Gebiete, nämlich Flandern und Elsaß, gleichzeitig aber auch die führende Stellung in Europa gewann, so strebte es auch nach Bedeutung auf dem Meere; seine Handels- und Kriegsflotte wurde ge­ waltig vermehrt, die Vorherrschaft im Mittelmeer, in Nordamerika, wo es zu Kanada noch Louisiana erwarb, erlangt und in West- und Ostindien Fuß gefaßt. Gegen Ende dieses Jahrhunderts aber wurde die französische Seemacht durch England aufs schwerste geschädigt und im Spanischen Erbfolge­ krieg die französische Übermacht in Europa durch Österreich und Eng-

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

land, die Weltgeltung jedoch hauptsächlich durch dieses, durch den Verlust wertvoller Kolonien in Nordamerika, vollends gebrochen. Dafür begründete sich aber Frankreich in der Folgezeit wieder eine starke Stellung im Indischen Ozean (Mauritius, schon früher Reunion, Erfolge in Ostindien), um sie aller­ dings im Siebenjährigen Kriege großenteils wieder zu verlieren (Ostindien trotz Dupleix 1763); mit der Abtretung von Kanada und Louisiana fiel auch die französische Einklammerung der englischen Kolonien in Amerika (Abb. 39). Die schweren Rückschlä­ Calais 1559 (Genf) 1678 ge in der überseeischen Politik im 18. Jahrhundert ver­ dankte Frankreich seinem Nachbarn England, der es geschickt in kontinentale Hän­ del zu verwickeln wußte und ihm inzwischen bei geringstem Einsatz eigener Kräfte die Ko­ lonien abnahm, also eigentlich dem Umstande, daß es immer festländische und überseeische Ausdehnungspolitik zu glei­ cher Zeit trieb. Einen wich­ tigen Teil davon hatte auch die Unfähigkeit der führenden Reunion 1651» Schichten, der hohen Offiziere Abb. SS. Geographische, bes. überseeische Ausbreitung undderRegierungsowieGeldFrankreichs 1050/1789. () Berlorengegangene Ausund Menschenmangel und die breitungSobjekte. Schwäche der Flotte.Diese offenbarte, daß die Franzosen schlechtere Seeleute sind als ihre Nach­ barn (Engländer, Deutsche). Frankreich war übrigens von jeher bis heute überwiegend festländisch-europäisch, also kontinental eingestellt, vielleicht, weil es instinktiv ühlte, daß die geopolitischen Voraussetzungen zur Erwerbung von Kolonien ehlten, eigentlich aber, weil es stets irrtümlich glaubte, die Welt zu beherrchen, wenn es Europa beherrsche; daher die vielen Kriege mit den feständischen Nachbarn, daher die Gleichgültigkeit, mit der es seine reichsten Kolonien einbüßte, die doch unbegrenzte, also ganz andere Machtaussichten boten als die festländische Ausbreitung gegen Deutschland. Die Freiheit der Meere wäre Frankreich a priori dank der un­ vergleichlich günstigen Küstenlage am Ärmelkanal, Atlantischen Ozean und am Mttelmeer in hohem Maße gesichert; wenn es dem Lande in den vergangenen Jahrhunderten, auch zur Zeit Ludwigs XIV. und Napoleons nicht gelang, diese Freiheit entsprechend auszunützen und auszugestalten, so ist das in den vorerwähnten Tatsachen begründet, besonders auch darin, daß es sich eben die Kraft für den Seekrieg gegen England meist durch Festland­ kriege entziehen ließ. Es ist auch" bis heute keine richtige Seemacht mehr geworden.

3. Französische Weltpolitik. Hauptwege der Ausbreitung.

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II. überseeische Ausbreitungspläne 1790/1815. Während der Herrschaft Napoleons wurde Frankreichs Kolonialreich gänzlich zer­ trümmert. Napoleon, der „Nachfolger Karls des Großen" (er hat sich die Eiserne Krone Karls im Original um die Stinte gelegt) und des „Cäsar Augustus", hatte zwar im Anschluß an die Beherrschung Europas noch große welt­ politische Ziele verfolgt, ja um die Weltherrschaft gekämpft („Ein Adler im Flug als Symbol der Weltherrschaft soll das Staatswappen sein!"), als er nach Ägypten, Rom und Rußland ging, Indien und Australien anzugreisen gedachte, aber an der Schwäche der Flotte waren diese Pläne gescheitert, wie aus dem gleichen Grunde zum Test früher die Kolonialbesttebungen Frankreichs. Es ist bemerkenswert, daß von den Tagen Marlboroughs bis zu Wellingtons Zeiten stets deutsche und preußische Truppen mit den Engländern fochten, um Europa und — England zu retten. Auch Pitt äußerte, daß Amenka in Deutschland (7jähriger Krieg, Napoleonische Zeit) erobert wurde, das Frankreich mürbe gemacht habe. III. Überseeische Ausbreitung seit 1830 und besonders seit 1880. Nach den Napoleonischen Kriegen nahmen Industrie und Handel des noch immer reichen Frankreich einen neuen Aufschwung, so daß es sich alsbald wieder in der Welt umtat. Es schlug abermals beide überseeischen Wege der Aus­ breitung ein, obwohl es keine mächtige Flotte mehr besaß, und zwar zunächst den über das angrenzende Mttelmeer, dann auch wieder den ozeanischen. Seit 1830 wurde Algier erobert, 1842 erwarb es einige Südseeinseln, 1857/60 be­ tätigte es sich m China, legte gleichzeitig den Grund zu Französisch-Hinterindien und begann Senegambien zu verbreitern. Der ftanzösische Ausdehnungs- und Eroberungswille war also unvermindert geblieben (Abb. 40). Obwohl Napoleon I. erfolglos die im 18. Jahrhundert wiederholt vergebens ausgesprochenen und dann von der Revolution förmlich verlangten „Natur(Belgien) 1867

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Abb. 40. Geographische, bes. ozeanische Ausbreitung Frankreichs seit 1830. () £f>ne’(Erfolß, Gimm er, Grundzüge der Geopolitik.

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Geopolitische Fragen. III. Frankreich und Deutschland.

grenzen" Frankreichs mit Ausnahme des Ozeans überschritten hatte, nämlich Mittelmeer, Alpen, Pyrenäen und Rhein, wurde alsbald (1829, 1840 und seit 1853) wieder die Rheingrenze das Ziel der kontinentalen Ausdehnungs­ politik. Frankreich war dann das erste Land, das bald nach 1880 in die Epoche der modernen Kolonialpolitik im großen Stil eintrat, von Deutschland dazu ermuntert, das es von der Revancheidee abbringen wollte. Es geschah zunächst, um durch große überseeische Unternehmungen und Erfolge das 1871 verlorene Ansehen wieder gutzumachen und neuen Ruhm zu erwerben, aber auch um dem Kapitalismus Aussicht auf Gewinn zu bieten. Wir treffen es also erobernd wieder über dem Ozean, 1883/92 in Tongking, Annam und Siam, auf Madagaskar und Tahiti, in Nordwestafrika und Tunis, am Kongo, Niger und in Dahomey. Man konzentrierte sich besonders auf das Niger- und Kongogebiet und schuf damit eine Machtlinie der Trikolore bis zum Äquator. Seit 1905 strebte man auch nach dem Besitz Marokkos (572000 qkm) in ausge­ sprochen militärischer Absicht, um nämlich Soldaten für den französischen Truppenersatz zu bekommen (Abb. 40).

Frankreich vergaß ja daneben die Revancheidee nicht. Um die Rheingrenze zu erlangen, um das in der Nationalversammlung von Bordeaux durch Viktor Hugo verkündete Programm, „nicht nur Straßburg und Metz, sondern dazu das ganze linke Rheinufer mit Mainz, Koblenz und Köln sich zu holen", wurde daher 1891 das schon 1828 vorgeschlagene französisch-russische Bündnis glücklich verwirklicht und man gab 1904 gegen die Entente mit dem durch die Lage bedingten Gegner England sogar die alten afrikanischen Wünsche und Ansprüche aus Ägypten und den Ägyptischen Sudan auf. Von unseren afrikanischen Kolonien nahm Frankreich Ende 1918 fast ganz Togo und den Hauptteil von Kamerun, zusammen 762000 qkm und 4325000 Einwohner (Abb. 18), aus der türkischen Beute erhielt es das fruchtbare Kilikien, wo es einmal seinen ganzen Baumwollbedarf von 260000 Tonnen hätte decken können (1920 wieder geräumt), und Syrien.

IV. Weltherrschaftspläne. Mit dieser letzten Erwerbung sieht aber das menschenarme Frankreich seine überseeische Ausbreitung noch nicht beendet: es will vielmehr die Weltmacht werden, will die geschichtliche Mssion und ewige Überlieferung fortsetzen und das britische Reich zur Auflösung bringen! Als Sprengmittel dient das von Frankreich von jeher verfochtene Selbstbestim­ mungsrecht der Nationen. Daher werden überall die Gegner Englands begünstigt (Türken, Japaner) oder entgegenkommend behandelt, daher auch die führende Rolle Frankreichs im internationalen und scheinbar neutralen Tanger, das Ver­ langen zur Meerenge von Gibraltar vorzudringen (Tanger ganz in seine Hand zu bekommen) und so den zweiten Schlüssel zur Meerenge zu erhalten und die britische Vormachtstellung im Mttelmeer zu brechen (Abb. 9 u. 40). Nach dem eigenartigen Tangerstatut von 1923 ist die französische Autorität schon heute allein in Tanger maßgebend, zum Mißvergnügen Englands, obwohl Spanien sonst in jeder Hinsicht an erster Stelle steht. Die spanische Zone wird auf drei Seiten von Frankreich umklammert, so daß dieses (nach Stegemann) eines Tages den Süden der Meerenge von Gibraltar zum Schrecken Englands beherrschen wird. Man versteht, daß dieses ein an der Mittelmeerpforte wachendes Frankreich nicht vertragen kann.

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Frankreich sucht eben seinen größten Gegner in dem gleichen Maße zu schwächen, wie es seine Stellung stärkt. Aber das sind nur Nadelstiche, das Land mutet sich hierin zu viel zu; seit der napoleonischen Ara hat es aufgehört, eine gefährliche Seemacht zu sein und in Washington mußte es 1921 die unbe­ dingte Seeherrschaft der beiden angelsächsischen Reiche anerkennen. Der welt­ politische Wettbewerb ist daher und mangels der sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Antriebe, des Menschen- und Kapitalüberflusses schließlich doch undurchführbar; auch die Borherrschaft im Mittelmeer kann es England nicht entreißen, wenigstens nicht ohne Spanisch-Marokko. Wie die Geschichte beweist, verlor Frankreich übrigens jedesmal seine Weltmachtstellung, wenn es sich zu sehr kontinental festlegte! Ob es das jetzt auch beherzigt? Vorerst nicht. Sein Streben nach Weltherrschaft zwingt es übrigens, in gleicher Weise wie sein Welthandel und sein Kolonialbesitz, immer wieder aufs Meer hinauszugehen, so sehr es sich in seiner fast 100jährigen „Kontinentalhypnose" manchmal dagegen zu sträuben scheint.

4. Bedeutung des französischen Kolonialreiches. Die schwarze Gefahr. Panafrika. An den französischen Kolonien sieht man auf Schritt und Tritt, daß sie nicht wie die meisten Kolonien anderer Länder aus geopolitischen Not­ wendigkeiten heraus erworben sind. Wohl bezieht Frankreich einen bedeutenden Teil seiner Rohstoffe (Phos­ phate, Nickel, Graphit, Holz), Lebens- und Genußmittel (Vanille, Pfeffer, Reis, Sago, Olsamen und Früchte) und Tiere aus dem großartigen Kolonialreich, dessen Größe über 1/s des britischen beträgt (Abb. 18). Merdings darf man nicht übersehen, daß das in der nordafrikanischen Wüste gelegene französische Einflußgebiet 1/5 des ganzen Kolonialbesitzes, auf den dieses Eroberervolk so stolz ist, einnimmt! Immerhin ist der Kolonialstaat Frankreich das dritt­ größte Reich der Erde und übertrifft den ehemaligen Kolonialstaat Deutsch­ land um mehr als das Dreieinhalbfache. Dieses riesige Kolonialreich hat natür­ lich auch eine Steigerung des Selbstbewußtseins gebracht. Aber Frankreich hat bis heute bewiesen, daß es geopolitisch seine Koloniennicht braucht, ja ganz zu Unrecht besitzt; denn es hat bisher, obwohl ihm einige (Senegambien usw.) schon 300, andere mehrere Jahrzehnte gehören, es nicht fertig gebracht, methodisch und planmäßig eine Politik der Rohstoffe und des Absatzmarktes zu verfolgen. Frankreich ist eben in seiner ganzen Geschichte ein Eroberungsstaat gewesen. Es hat fremde Völker unterjocht und deren Volkskraft zu seinem Vorteil ausgesogen. Es versucht das auch in Elsaß-Lothringen, in Afrika, Syrien und Jndochina. Es besiedelt nicht wie die germanischen Völker fremde Länder und erfüllt sie nicht mit eigener Volkskraft (in den Kolonien sind statt 700000 kaum 70000 Franzosen). Anstatt das Geld in die Kolonien zu leiten und dort fruchtbarsten Boden zum Anbau industrieller Pflanzen urbar zu machen sowie die reichen Bodenschätze auszubeuten, mußte man Mefensummen (ähnlich wie heute) russischen, türkischen und Balkananleihen und Aktien zuwenden. Dabei könnten

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die Kolonien leicht den ganzen französischen Staatshaushalt ins Gleichgewicht bringen, könnten die Baumwoll- und Woll-, Kautschuk-, Kaffee- und noch die mangelnde Brotgetreideversorgung sichern, also Frankreich die Autarkie verleihen, und würden noch verstärkte Absatzmärkte seiner Industrie. In Wirklichkeit aber vermögen sie heute den Verbrauch des Landes nur unbe­ friedigend zu decken, besondes in Baumwolle (1925 nicht ganz 1% des Gesamt­ bedarfs), Wolle (7(4%), Kautschuk (17%), Getreide (16% der Einfuhr), Tabak, Zucker und Tee (je 23%), Seide, in Fellen und Häuten (21). Es ist eben nicht damit getan, daß man int Interesse der Kapitalisten extreme Hochschutzzollpolitik in den Kolonien treibt, wodurch sogar die Ententefreunde vom Handel so viel wie ganz ausgeschlossen sind. Uns will man ja trotz des Handelsvertrages von den Kolonien femhalten. Frankreich hat also bisher noch nicht recht gezeigt, daß es seine Kolonial­ herrschaft zu seinem Nutzen und zum Vorteil der Kolonialvölker zu gebrauchen versteht. Der Franzose hat anscheinend überhaupt weder Beruf noch Neigung zum Kolonisator; O. Spengler nennt ihn daher den blutig­ sten und zugleich erfolglosesten (s. Syrien) Kolonisator, den es gibt.

Trotzdem hielt sich gerade Frankreich in Versailles ganz besonders für berufen, Deutschland alle kolonisatorischen Fähigkeiten abzusprechen. An Algerien z. B. ist durch den giftigen Fusel seit fast 100 Jahren die mohammedanische Bevölkerung ent­ sittlicht und jedes Begriffes von persönlicher und nationaler Ehre bar geworden. Die Aufstände in Marokko und besonders in Syrien sind auch auf Konto der geringen Fähigkeit in der Behandlung der Eingeborenen zu setzen. Ob das wohl in Zukunft besser wird? Schon meldet sich eine latei­ nische Schwester, Italien, um am kolonialen Überfluß Frankreichs teilzu­ nehmen (10 Millionen Italiener int Ausland gegen kaum 500000 Franzosen). Dieses aber hat 1926 in der damaligen Finanznot plötzlich entdeckt, daß es ein gewattiges Kolonialreich besitzt, das geeignet und berufen wäre, die zerrütteten Staats­ finanzen wieder aufzurichten und die Erneuerung der gesamten Wirtschaft zu erleichtern. Nun werden Pläne auf Pläne gemacht, um die kolonialen Reichtümer, diese natürlichen Quellen, besser auszunützen, nur an Deutschland denkt dabei niemand! Die Kraft der Franzosen reicht nicht einmal hin, ihre 39 Mllionen zu er­ nähren (trotz der fremden Landarbeiter), obwohl der Boden 70 Mllionen ernähren könnte. Wo nimmt man die Menschen zur Kolonisation her? Wie will Frankreich bei der ungeheuren Schwächung der Bevölkerung, bei dem Finanzelend noch obendrein die erforderlichen Mittel zur gedeih­ lichen Erschließung der weggenommenen deutschen Kolonien (in Afrika) auf­ bringen, nachdem es an die Kolonisation des Mutterlandes denken muß? Ist doch die Bevölkerung von 1789/1914 von 26 Millionen nur auf 39 Mllionen gewachsen! Heute sind ganze Landstriche des üppigen und höchst ertragreichen Bodens entvölkert durch Geburtenrückgang und Landflucht; int Departement Du Gers sind 50000 ha unbebaut und 2500 Gehöfte leer. 1926 gab es 2,5 Mil­ lionen Ausländer, 1 Million mehr als 1921, Ausländer, besonders Italiener, besitzen über 240000 ha Boden. Wenn die vielen Arbeitslosen schon nicht aufs Land hinausgehen und auch das Geld fehlen sollte, sie dort anzusiedeln, wie sollten sie dann in die Kolonien hinausgehen? (S. S. 215.) Daher kamen französische Kolonialpolitiker auf den Gedanken, mit Hilfe Eng­ lands das französische Weltreich so lange zu behaupten, bis Frankreich selbst imstande

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sein würde, dieses Reich in ausreichendem Maße (?) zu besiedeln und zu bearbeiten. Mer wo will es außer dem nötigen Kapital die kundigen Pflanzer, die Arbeitskräfte, die Unternehmungslustigen hernehmen? Die französischen Kolonien selbst sind schon viel zu dünn bevölkert (Jndochina hat nur 15 Mill. Einw. gegen 60 Mill., die es ernähren könnte, Madagaskar, so groß wie Frankreich 3:10, das reiche Zentral­ afrika 2,5:80 Millionen!) Frankreich vermag daher das Übermaß seiner Kolo­ nien nicht mehr zu ertragen. England würde wohl gern in ein französisch-eng­ lisches Kolonialbündnis einwilligen, um seine kolonialen Methoden auf die schlecht ver­ walteten französischen Kolonien auszudehnen, in ihnen Einfluß zu gewinnen. Frankreich ist es in erster Linie auch gar nicht um die wirtschaftliche Erschließung der Kolonien zu tun, sondern hauptsächlich um die Verwirk­ lichung seiner imperialistischen, seiner Weltherrschaftspläne. So sind ihm die Kolonien Mittel zum Zweck geworden: Die Militarisierung der Eingeborenen soll das Machtinstrument, das Heer, verstärken, die Kolo­ nien sollen dem Mangel an Soldaten- und eventuell auch dem Arbeitermaterial im eigenen Lande aufhelfen. Dabei spielt die Lage eine wichtige Rolle; je näher eine Kolonie, desto rascher kann man die daraus gezogenen Truppen in Europa verwenden. Nicht zuletzt war deshalb Frankreich seit 1827 damit beschäftigt, sich im benachbarten Westafrika eine große Kolonial­ macht zu sichern.

Seit Jahrzehnten gilt alles Streben Idem einen Ziel, eine ununter­ brochene Verbindung zwischen dem Mutterlande und den Kolonien im Herzen Afrikas herzustellen.

Die moderne Technik hat auch hier über das Hindernis, die fast 2000 km breite Wüste, gesiegt. Zwar hat man noch nicht das Geld aufgebracht, eine Eisenbahn zu bauen, aber der Raupentraktor bringt einen in wenigen Tagen von Südalgerien nach Timbuktu am Mger. Man geht jetzt auch ganz energisch an den Ausbau des Afri­ kanischen Reiches, namentlich des dortigen Bahnnetzes, und dessen militärische Selbst­ versorgung im Kriege (mit England?). Dargus entspringt von selbst eine Bedrohung des ägyptischen Sudans wie der britischen Besitzungen Nordafrikas. Die nord­ afrikanische Küste wurde bereits mit Flugzeug und v-Bootstationen reichlich ausge­ stattet. sogar Dschibuti, will man zu einem Kriegshafen ausbauen. Schon seit 1854 nehmen an allen europäischen und kolonialen Kriegen Frank­ reichs algerische Kontingente teil. Die 1873 in Algerien eingeführte allgemeine Wehrpflicht wurde seither auch auf Tunis und zuletzt aus alle französischen, sogar auf unsere Kolonien ausgedehnt. So soll namentlich das nordafrikanische Kolonialreich zum ungehinderten und nicht leicht zu erschöpfenden Menschenriservoir für die großen Heere werden, mit denen man seine Weltmachtpolitik fortsetzen will. Der Truppentransport von der Nordküste Afrikas nach Marseille dauert nirgends länger als höchstens 48 Stunden. Die militärischen HMauellen des französischen zusammenhängenden afrikanischen Kolonialreiches (mit 29 Millionen Einw. und mehr als 600000 Mann schwarzen französischen Soldaten) können also in kürzester Frist in Europa bereitgestellt werden — vorausgesetzt, daß die Seeverbindung gesichert ist. Schon von jetzt ab ist fast jeder 3. französische Soldat des stehenden Heeres ein Farbiger (Larsen), im Kriege können fast 25% der französischen Streiter Farbige werden (1,6 Mill.) Schon heute zählen die ausgebildeten farbigen Reserven 670000 Mann. Dazu ist zum Entsetzen vieler Franzosen von den Führern die Mulattisierung und Bernegerung des Volkes mit allen Folgen ziel-

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bewußt ausgenommen worden. UmdieHerrschaft über Europazu gewinnen, schreckt man sogar vor der Rassenkreuzung nicht zurück.

Die Farbigen können ziemlich hoch in der Verwaltung aufsteigen, ja bis zu einem gewissen Grad Richter und Offiziere und auch Deputierte werden. In Frankreich stehen über 21 Eingeborenen-Regimenter. Aber gerade wegen dieser Eingeborenen-Politik zeigt das große Welt­ machtsgebäude, das ikan immer mehr ausbauen will, an unerwarteter und unerwünschter Stelle bedenkliche Risse (Marokko und Syrien), die große Opfer an Menschen und Geldmitteln erfordern. Die Verwendung schwarzer Truppen im Weltkriege und später im besetzten Gebiet unter 10,5 Millionen Deutschen hat der ganzen Welt die Augen geöffnet über das Wesen der französischen Kolonialpolitik: Schutz und Stütze einer morschen Kultur durch rohe oder halbzivilisierte Naturvölker. Schon das alte Rom ist an diesem vermeintlichen Rettungsanker zugrunde gegangen. Die französische Rassenkreuzung und die Verwendung der farbigen Regi­ menter gegen die Deutschen ist ein weltgeschichtliches Vergehen, ein Verrat Frankreichs und Englands an der Kultur der weißen Rasse und Europas, ja der ganzen Welt. Beide lieferten Europa dem gelben und schwarzen Festlande aus, nachdem sie diese mit eigenen Händen bewaffnet hatten. Die Herren, nicht die Sklaven, werden einmal die Betrogenen sein; die Farbigen schließen sich mächtig in der ganzen Welt, in der Union, in Indien, in ganz Afrika, in China usw. gegen die europäischen Unterdrücker zusammen. Welch ungeheure Gefahr für Frankreich, ja für die weiße Menschheit, 60 Millionen Farbige mit der allgemeinen Wehrpflicht zu beglücken, farbige Männer in die1 Zweige moderner Kriegskunst (gegen die Weißen) einzuweihen! Man vergesse übrigens nicht, daß auf der Welt rund 1200 Millionen Farbigen (mit den Indern) nur 600 Millionen Weiße gegenüberstehen! Auch die Franzosen werden von ihren Farbigen und Schwarzen gehaßt, vielleicht noch mehr, ds manche von ihnen die Deutschen hassen. Daher wird die Zeit kommen, wo es neben der Gelben noch eine Schwarze Gefahr geben wird und zwar von Seiten der 85 Millionen Neger Afrikas. Schon 1915 schrieb ein Mulatte: „Die farbige Welt, welche die überwältigende Mehrzahl der Menschheit ausmacht, wird sich in die Behandlung der Weißen genau so lange finden, wie sie dazu gezwungen ist, aber auch nicht einen Augenblick länger. Dann geht sie in den Krieg und der Krieg der Farbigen wird an wilder Unmenschuchkeit alle Kriege übertreffen, welche die Welt bisher gesehen hat. Denn der farbige Mann hat viel zu erinnern und er wird nichts vergessen!" Und 1922 schrieb ein südafrikanischer Neger: „Der Krieg, der kommen wird, wird ein Ausrottungskrieg für die Weißen sein."

Steht daher zu befürchten, daß einmal der ganze französische Kolonial­ besitz in Afrika in Brand gerät? Es gibt eine afrikanische Bewegung mit dem Schlagwort: „Afrika den Afrikanern!" Dieser Allafrikanismus, auch äthiopische Bewegung genannt, ist sonderbarerweise auf dem Boden der christlichen Negermission entstanden. Sie hat sich aber bald politisch aufgetan und außer in Äthiopien selber Stützpunkte in Liberia und Westafrika, von wo aus Beziehungen nach Amerika (mit 27 Millionen Negern undMischlingen) gehen, und besonders in Südafrika gefunden. Sie predigt Afrika den

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Negern und verlangt volle Anerkennung der Negerrasse auf poli­ tischem wie sozialem und geistigem Gebiet. Aber die Grenze ihrer Wirkung liegt heute nicht nur in ihrer primitiven Organisation, sondern auch in der noch äußerst geringen Zivilisierung der aller­ meisten Neger und in ihrer nationalen Zerrissenheit. Außerdem fehlt es an einem allgemein anerkannten Führer und an Waffen. Indem Frankreich die Neger zu farbigen Franzosen macht, also den Weißen gleichstellt, und aus Weißen und Negern eine einheitliche Nation bilden will, gelingt es ihm, die Neger bis zu einem gewissen Grad an sich zu fesseln, obwohl es sonst in der Behandlung der Farbigen, wie zum Teil in der ganzen Kolonisationstätigkeit versagt und sich durch die gewcütsame Rekrutierung der Schwarzen int Weltkriege deren bleibenden Haß zugezogen hat. Auch England versucht Teile der Neger­ bevölkerung politisch und wirtschaftlich durch Paktieren an sich zu ketten; doch sind gerade in Südafrika alte Stammesstreitigkeiten unter der Herrschaft des weißen Mannes verschwunden, so daß sich dort eine Rasseneinheit der Schwarzen herausbildet, welche vorerst besonders gegen die von den weißen Gewerkschaften errichtete „Farbenschranke" ankämpft. Doch ist die schwarze Gefahr in Südafrika größer als in Mittel- und Nordafrika; in Südafrika wurde den 5,4 Millionen Farbigen 1913 und 1916 der Boden bis auf 13% ge­ nommen und den 1,672000 Weißen gegeben. Wenn dort die weiße Bevölkerung nicht bedeutend zunimmt und keine Änderung der gesamten Moral und Wirtschaft der weißen Gesellschaft eintritt, oder wenn den Farbigen gleicher Zivilisation — es gibt dort nämlich obendrein noch eine Jnderfrage — nicht gleiche Rechte wie den Weißen eingeräumt werden, werden durch physischen oder wirtschaftlichen Druck (der Schwarze nimmt den ungelernten Weißen jede Aussicht auf Beschäftigung) die schwarzen Völker des Landes die Weißen verdrängen. Aber bis zu einer wirklichen panafrikanischen Bewegung größeren Stils ist trotzdem noch ein weiter Weg und die ganze Bewegung dürfte vorerst kaum mehr als den Wert einer symbolischen Ausdeutung haben (Schönemann). Gefährlicher würde sie wohl erst werden, wenn sie mit den islamitischen Bewegungen in Afrika, die allerdings „panmohammedanisch" gerichtet sind, zusammenginge oder wenn Frankreich mit einer fremden Macht in Krieg geriete,'welche die Neger mit Waffen versehen würde. Schon jetzt (1926/27) ist die Gefahr sichtbar geworden, daß eine zu große Anhäufung widerwilliger Kolonialvölker der Heimatfront im Falle europäischer Verwicklungen statt der erwünschten Truppenhilfe eher eine emstliche Belastung bringen könnte.

Frankreich hat sich durch seinen Imperialismus die tödliche Verfeindung des Jflam in Nordafrika und Syrien zugezogen. Da aber die christlichen und moham­ medanischen Hamiten Nordafrikas ebenso nach Unabhängigkeit streben wie die Afrikaner Südafrikas („Südafrika den Afrikandern"), so kann von einem Pan­ afrika überhaupt keine Rede sein.

Literatur: Tardieu, La paix, 1924. K. Larsen, Adlerslug über den Rhein und den Äquator, 1925. Süddeutsche Monatshefte („10 Jahre Krieg", „Das französische Schulbuch von heute"). Street, Die Berräterei Frankreichs, 1925.

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Geopolitische Fragen. IV. Deutschland und die Welt.

Linnebach, Die Sicherheitsfrage, 1925. Allen, Mein Rheinlandtagebuch 1914/23, 1925. Fonck, L’aviation et la securite fran