Ökonomische Verfassungstheorie und Demokratie: Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics und seine Anwendung auf die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428479238, 9783428079230

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Ökonomische Verfassungstheorie und Demokratie: Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics und seine Anwendung auf die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428479238, 9783428079230

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Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts Band 17

Ökonomische Verfassungstheorie und Demokratie Von

Martin Leschke

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN LESCHKE

Ökonomische Verfassungstheorie und Demokratie

Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts herausgegeben von

Heinz Grossekettler, Münster · Bernhard Großfeld, Münster Klaus J. Hopt, München · Christian K i r c h n e r , Hannover Dieter Rückle, T r i e r · Reinhard H. Schmidt, F r a n k f u r t / M a i n

Band 17

Ökonomische Verfassungstheorie und Demokratie Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics und seine Anwendung auf die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland

Von Martin Leschke

Duncker & Humblot - Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Leschke, Martin: Ökonomische Verfassungstheorie und Demokratie : das Forschungsprogramm der constitutional economics und seine Anwendung auf die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland / von Martin Leschke. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts ; Bd. 17) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07923-X NE: GT

D 6 Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5065 ISBN 3-428-07923-X

Vorwort

Die Freude über den Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft seit Beginn der Reformen in Ost- und Mitteleuropa währte nicht lange. Zu offensichtlich sind auch die Probleme freiheitlicher Gesellschaften, konzeptionelle Gemeinwohlpolitik zu betreiben. Während laut Umfragen weite Teile der Bevölkerung die Schuld bei den Politikern und weniger bei den Institutionen suchen, wird in dieser Arbeit schonungslos nach den institutionellen Schwächen demokratischer Ordnungen gesucht, um auf diese Analyse aufbauend adäquate Problemlösungskonzepte anzubieten. Angeknüpft wird hierbei an die Werke zweier Hauptvertreter aus dem Bereich der Constitutional Economics (ökonomische Verfassungstheorie): Friedrich August von Hayek und James McGill Buchanan. - Das Ziel der Arbeit läßt sich verkürzt durch zwei Zitate verdeutlichen: "How can Constitutions be designed so that Politicians who seek to serve 'Public Interest1 can survive?" James M. Buchanan (1993) S. 1. "Wir suchen nicht nach Vollkommenheit, da wir nur zu gut wissen, daß diese in menschlichen Dingen nicht zu finden ist, sondern nach jener Verfassimg, die von den geringsten oder entschuldbarsten Unzulänglichkeiten begleitet ist." Algernon Sidney (1698), hier zitiert nach Friedrich A. v. Hayek (1971) S. III. Daß ich auf dem Weg zur Fertigstellung dieses Buches nicht ins Straucheln geriet, verdanke ich vielen Leuten. An erster Stelle gebührt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Manfred Borchert, mein Dank für kritische Durchsicht des Manuskripts, wertvolle Hinweise und sein großes Vertrauen in meine Person. Auch meinem Korreferenten, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Jochen Schumann, bin ich für einige wichtige Hinweise dankbar, genauso Herrn Prof. Dr. Dr. Karl Homann und Herrn Dr. Ingo Pies. Für die Durchsicht des ersten Teils danke ich den Herren Andreas Lienkamp, Dr. Georg Heinemann und Dr. Frank Richter. Für die kritische Durchsicht des gesamten Manuskripts und konstruktive Diskussionen danke

6

Vorwort

ich den Herren Dr. Mathias Erlei und Dirk Sauerland sowie meiner Verlobten Frau Barbara Sebbel. Für konstruktive Diskussionen und konzeptionelles Mitdenken, besonders beim Verfassungsmodell für die Bundesrepublik Deutschland, danke ich meinem Bruder, Herrn Hans Leschke. Ohne ihn hätte ich mich nicht so weit H vorgewagtM. Die fruchtbaren Gespräche mit meinem ehemaligen Kollegen, Herrn Dr. Ewald Wessling, inspirierten mich, tiefer in das Gebiet der konstitutionellen Ökonomik einzusteigen. Ihm sei dafür gedankt. Ganz herzlich danken möchte ich auch Frau Susanne Esselmann, die mit großem Engagement und meisterlichem Fingerspitzengefühl das Handgeschriebene in Windeseile in gedruckte Worte verwandelte. Von dem Versuch, sich auf der Tastatur mit ihr messen zu wollen, sei daher abgeraten. Für stetige moralische Unterstützung gilt auch meinen Eltern und meiner Lebensgefährtin ein ganz herzliches Dankeschön. Ich widme diese Arbeit Friedrich August von Hayek. Sein Einsatz für die liberale Gesellschaft war einzigartig. Münster, im Juli 1993

Martin Leschke

Inhaltsverzeichnis

Α.

Einleitung

15

Teil I Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics Β.

Grundlagen I.

C.

23

II.

Regeln und Ordnung

25

III.

Was ist Demokratie?

29

Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln I. II.

31

Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung nach v. Hayek

33

1.

Von der Stammesgemeinschaft zur Großgesellschaft

34

2.

Die Bewertungsgrundlage des evolutorischen Ansatzes: Die Theorie der offenen

V.

44

1.

Das Problem der Regelselektion durch Gruppenselektion

44

2.

Das Problem der Unsichtbare-Hand-Erklärung in Verbindung mit dem Gefangenendilemma

46

Der Vorwurf des Evolutionsoptimismus

50

Die Rolle von Demokratie und Verfassung aus der Sicht des evolutorischen Liberalismus

52

1.

v. Hayeks Demokratieanschauung

53 55

2.

Die Rolle verfassungsmäßiger Beschränkungen

3.

Die Evolution von Regeln innerhalb einer demokratischen Grundordnung

58

4.

Gründe für das Scheitern des demokratischen Ideals

61

Positive und normative Elemente der v. Hayekschen Evolutionstheorie

Die Theorie der Verfassung nach Buchanan I. II.

37

Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz

3. IV.

31

v. Hayeks antikonstruktivistische Haltung

Gesellschaft III.

D.

23

Methodologischer Individualismus, Selbstinteresse und Rationalität

62 66

Buchanans vertragstheoretische Haltung: Grundlagen und Ursprünge

66

Die Buchanansche Vertragstheorie

68

1.

69

Die vertragstheoretische Lösung des Interessenkonfliktes

nsverzeichnis

8

2.

a) Die hypothetisch-positive Theorie der Verfassungsentstehung

69

b) Die hypothetisch-positive Theorie der Verfassungsänderung

75

Die Lösung des Theoriekonflikts

76

a) Die Bedeutung unterschiedlicher theoretischer Vorstellungen (bei gleichen Interessen) hinsichtlich der Bereitstellung kollektiver Güter b) Die Probleme motivativer und kognitiver Grenzen beim Theoriekonflikt 3.

Normative Schlußfolgerungen aus der Vertragstheorie für die Ausgestaltung einer demokratischen Gnindordnung

III.

IV. V. E.

76 78 81

Die kritische Auseinandersetzung mit der Buchananschen Vertragstheorie

84 85

1.

Der Vorwurf des Konsensoptimismus

2.

Die Möglichkeit des Sklavenvertrags

87

3.

Defizite der vertragstheoretischen Position der Theorie der Rechtsänderung

90

4.

Ist Buchanan ein Konstruktivist?

94

Buchanans Kritik an bestehenden demokratischen Grundordnungen Positive und normative Elemente der Buchananschen Vertragstheorie

97 100

Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics als Synthese des evolutorischen Liberalismus nach v. Hayek und des vertragstheoretischen Konstitutionalismus nach Buchanan I.

104

Grundlegende Gegenüberstellung des evolutorischen Liberalismus und des vertragstheoretischen Konstitutionalismus

II.

104

Die Zusammenf&hrung der vertragstheoretischen und der evolutorischen Position zum Forschungsprogramm der Constitutional Economics 1.

Das Paradigma des Gesellschaftsvertrags als Grundlage des Forschungspro-

2.

Die normative Theorie des Gesellschaftsvertrags unter Berücksichtigung von

gramms

110 110

Elementen des Buchananschen vertragstheoretischen Konstitutionalismus und des v. Hayekschen evolutorischen Liberalismus als Kern des Forschungsprogramms 3.

115

Status quo, Norm und Änderung des Status quo: Ist-Analyse und Behebung von Soll/Ist- Abweichungen

III.

137

Zusammenfassende Charakterisierung des Forschungsprogramms mit Hilfe der Lakatosschen Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme

142

Teil II Die Analyse der deutschen Verfassung F.

Vorbemerkungen: Der Blickwinkel der Betrachtung

147

G.

Stellung, Aufbau und Auslegung des Grundgesetzes

154

nsverzeichnis

H.

Die im Grundgesetz verankerte Staatsform der Bundesrepublik Deutschland I.

Das Bundesstaatsprinzip

II.

Das Demokratieprinzip

162

III.

Das Rechtsstaatsprinzip

165

IV.

1.

Der Grundsatz der Gewaltenteilung

166

2.

Die Bindung der Staatsgewalt an das Recht

169

a) Die Bindung der Verwaltung an das Gesetz

169 170

Das Sozialstaatsprinzip

172

Der Schutz durch die Grundrechte

176

I. II.

Wesen und Bedeutung der Grundrechte

III.

176

Arten von Grundrechten

178

1.

Materielle Rechtsstaatlichkeit durch grundrechtlichen Schutz der Freiheit

178

a) Der Mensch im Mittelpunkt der Verfassung - Art 1 und Art. 2 Abs. 1 GG

179

2.

J.

158 158

b) Die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung

I.

9

b) Spezielle Freiheitsrechte des Grundgesetzes

180

Soziale Rechtsstaatlichkeit - Art. 3 GG, der Gleichheitsgrundsatz

183

a) Sinn und Anwendung des Gleichheitssatzes

183

b) Gleichbehandlung im materiellen Sinn

185

Die wichtigsten verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten

Resümee und Ausblick auf die weitere Vorgehensweise

186 187

Teil III Die Konkretisierung der normativen Verfassungsgrundsätze im Lichte des Status quo Ein VerfassungsmodeD für die Bundesrepublik Deutschland K.

Ein Verfassungsmodell für die Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung seiner rechtlichen und politischen Umsetzbaikeit I. II.

Ansatzpunkte einer Verfassungsmodifizierung zwischen Norm und Status quo

1.

IV.

191

Die Kontrolle der Legislative durch Einsetzung eines Parlamentarischen Kontrollorgans (PKO)

III.

191

193

Der Aufgabenbereich des PKO und Rechtsschutzmöglichkeiten bei Streitfragen zwischen Parlament und PKO

193

2.

Zusammensetzung und Entscheidungsverfahren des PKO

194

3.

Der Einfluß des PKO auf Verfassungsänderungen

197

Spezielle Aufgaben im Sinne der Allgemeinheit und Rechtsschutzmöglichkeiten des einzelnen Gesellschaftsmitglieds

198

Die rechtliche Umsetzung des Verfassungsmodells

199

1.

200

Die verfassungsmäßige Verankerung des PKO und seiner Aufgaben

nsverzeichnis

10 2.

Notwendige Erweiterungen der im Grundgesetz verankerten Rechtsschutzmög-

3.

Die unmittelbaren Kosten einer Verfassungsänderung

lichkeiten V. L.

Die politische Umsetzbarkeit des Verfassungsmodells

202 204 206

Das Verfassungsmodell im Vergleich zu anderen denkbaren Möglichkeiten der Beseitigung der Schwachstellen demokratischer Ordnungen I.

II.

208

Das v. Hayeksche Verfassungsmodell: Das Zweikammersystem

208

1.

Darstellung des Zweikammersystems

208

2.

Kritische Würdigung des Zweikammersystems

211

Die neo-ordoliberale Konzeption von Grossekettler - eine Alternative zu dem erarbeiteten Verfassungsmodell?

214

1.

214

2.

Von Eucken zu Grossekettler Die Darstellung des Neo-Ordoliberalismus nach Grossekettler

220

a) Die Weiterentwicklung der Euckenschen Prinzipien

220

b) Die neo-ordoliberalen (Teil-) Konzeptionen einer Wettbewerbs- und Finanzpolitik sowie Grundlagen einer ordnungspolitischen Einbindung der Stabilitätspolitik 3.

223

c) Die Umsetzung der neo-ordoliberalen Konzeption

231

Kritik und Vergleich mit dem erarbeiteten Verfassungsmodell

231

M.

Abschließende Würdigung des Verfassungsmodells für die Bundesrepublik Deutschland

239

N.

Zusammenfassung und Ausblick

243

Literaturverzeichnis I. II.

Primär- und Sekundärquellen

253 253

Entscheidungen des Bundesverwaltungs- und Bundesverfassungsgerichts

268

1.

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

268

2.

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

268

Verzeichnis der Übersichten

Übersicht 1:

Theoretischer Institutionalismus

18

Obersicht 2:

Arten von Regeln

27

Übersicht 3:

Kooperation und Defektion bei Verbotsregeln

47

Übersicht 4:

Das Theoriegebäude des evolutorischen Liberalismus nach v. Hayek

64

Übersicht 5:

Das Theoriegebäude des vertragstheoretischen Konstitutionalismus nach Buchanan

Übersicht 6:

103

Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich theoretisch-philosophischer Wurzeln, grundlegender Merkmale und theoretischer Schwachstellen Buchanans und v. Hayeks

Übersicht 7:

108

Der grundlegende Verfassungsaufbau nach der normativen Theorie des Gesellschaftsvertrags

138

Übersicht 8:

Die Interessenkollisionsmatrix

149

Übersicht 9:

Formelles und materielles Verfassungsrecht

155

Übersicht 10:

Gliederung des Grundgesetzes

156

Übersicht 11:

Die Verteilung des Steueraufkommens nach Art 106 und 107 GG

161

Übersicht 12:

Die Verankerung des Parlamentarischen Kontrollorgans in dem Beziehungsgeflecht "Verfassung-Volk-staatliche Organe-Gesetzgebung"

200

Übersicht 13:

Das v. Hayeksche Zweikammer-Verfassungsmodell

210

Übersicht 14:

Die grundlegenden Prinzipien des ordoliberalen Programms

219

Übersicht 15:

Grundschema zur Prüfung wirtschaftspolitischen Handelns

224

Übersicht 16:

Die neo-ordoliberale Konzeption

232

Abkürzungsverzeichnis Abs.

Absatz

allg.

allgemein

Art.

Artikel

BEA

Budget Enforcement Act

betr.

betreffend

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Gesetz Ober das Bundesverfassungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

bzw.

beziehungsweise

CDU

Christliche Demokratische Union

CSFR

Ceskà a Slovenskà federati vnâ republika (Tschechische und Slowakische Föderative Republik)

D.C.

District of Columbia

d.h.

das heißt

DDR

Deutsche Demokratische Republik

EG

Europäische Gemeinschaften)

et al.

et altera

etc.

etcetera

f.

folgende

FDP

Freie Demokratische Partei

ff.

fortfolgende

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade

GeschO BT

Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

HdWW

Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft

Hrsg.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben

i.e.

id est

i.V.m.

in Verbindung mit

inkl.

inklusive

JITE

Jorunal of Institutional and Theoretical Economics

Mass.

Massachusetts

m.E.

meines Erachtens

Abkürzungsverzeichnis N.F.

Neue Folge

N.J.

New Jersey

NPÖ

Neue Politische Ökonomie

ÖTP

Ökonomische Theorie der Politik

OVG

Oberverwaltungsgericht

Ρ

Prämisse

PKO

Parlamentarisches Kontrollorgan

S.

Seite

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StabG

Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft

SVR

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

u.

und

u.a.

unter anderem

u.a.O.

und andere Orte

U.S.W.

und so weiter

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

USA

United States of America

v.

vom

v.

von

vgl.

vergleiche

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

WiSt

Wirtschaftswissenschaftliches Studium

z.B.

zum Beispiel

ZgS

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

13

Anmerkungen zur Zitation Zitiert wird unten auf jeder Seite nach Autor und Jahreszahl. Belegt wird unter Bezugnahme auf das Literaturverzeichnis, dem die genauen bibliographischen Angaben zu entnehmen sind. Die Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichtsentscheidungen werden jedoch - wie in der juristischen Literatur üblich - im Text zitiert, z.B. [BVerfGE 13, 54, 90]. Hierbei ist die erste Ziffer die Bandnummer der Gerichtsentscheidung, die zweite Ziffer zeigt den Beginn des relevanten Urteils an, und die dritte Ziffer belegt die Seitenzahl der entscheidenden Stelle im Urteil, auf welche im Text der Arbeit Bezug genommen wird. Am Ende des Literaturverzeichnisses sind die verwendeten Entscheidungen des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts dann ausfuhrlich aufgelistet.

Α. Einleitung Erfolge marktwirtschaftlich orientierter Volkswirtschaften gegenüber Zentralverwaltungswirtschaften hinsichtlich des Wachstums des Bruttosozialprodukts und Wohlstands der Bevölkerung basieren vor allem auf der Tatsache, daß eine bestmögliche Motivation und Informationsverarbeitung nur auf dezentraler Entscheidimgsebene erreicht werden können1. Daher ist ein Grundpfeiler von Marktwirtschaften die Freiheit des einzelnen Individuums Freiheit unter anderem zur Produktion oder Konsumtion. Freiheit und damit auch die Chance, Erträge zu erzielen, sind für den einzelnen jedoch nur ein Wert, wenn sie vor Willküreingriffen anderer geschützt sind: Was nützt einem Individuum ein erarbeitetes Einkommen, wenn es (un)regelmäßig von Dieben überfallen wird? Die Vielfalt von Möglichkeiten, welche die Freiheit dem Menschen bietet, kann also nur bestehen, wenn Maßnahmen oder Einrichtungen (Institutionen) im gesellschaftlichen Zusammenleben existieren, die Willkürakte einzelner zu Lasten der Freiheit anderer verhindern. Daraus folgt unmittelbar, daß Freiheit im Sinne von garantierter Nutzung von Möglichkeiten oder Chancen nur als beschränkte Freiheit aufgefaßt werden kann. Beschränkungen der individuellen Freiheit, die einen Freiheitsspielraum überhaupt erst garantieren und damit die Handlungen einzelner Individuen zum Wohl aller lenken (sollen), sind heute gut bekannt aus dem Privat- und Strafrecht oder auch dem öffentlichen Recht. Freiheit existiert somit nur als Freiheit unter dem Recht2. Über die Frage, wie das Recht, welches das Handeln der Individuen beeinflußt, gestaltet sein soll, können in einer Gemeinschaft allerdings unterschiedliche Ansichten bestehen, zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher persönlicher Situationen, Interessen oder Erwartungen der Individuen. Und diese Ansichten können sich auch im Zeitablauf ändern. Eine weitgehend anerkannte Methode, den Problemen der Meinungsvielfalt und dem Wandel von Ansichten innerhalb einer Gesellschaft Rechnung zu tragen, ist die Einrichtung einer demokratischen Ordnung, in der auf der Basis der Mehrheitsregel Gegensätze geschlichtet werden und der (mehrheitliche) 1 2

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1976d) S. 103ff.

Zu dem Verhältnis von Freiheit, willkürlichem Zwang und Gesetz vgl. v. Hayek , Friedrich (1971) S. 13ff.

A.

Α. Einleitung

16

Volkswille Beachtung findet. Trotz dieser institutionellen Vorkehrung, deren klassische theoriegeschichtliche Grundannahme in dem Satz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus"3 formuliert wird, sind in westlichen Demokratien immer wieder Entwicklungen zu beobachten, die kein in der Gemeinschaft lebendes Individuum gewollt zu haben scheint. Aufsehenerregende Beispiele hierfür sind immer weiter fortschreitende Umweltbelastungen oder eine bisweilen auftretende Vernichtung von "überschüssigen*1 Lebensmitteln trotz Hungersnöten in anderen Teilen der Welt. Will man derartige Zustände vermeiden - d.h. unter solchen Regeln leben, die unerwünschte Resultate individuellen Handelns innerhalb eines gegebenen Rechtsrahmens verhindern -, so muß man versuchen, Antworten auf folgende Fragen zu finden: - Wie arbeitet das bestehende System von Regeln, und wo liegen seine Schwachstellen? - Durch welchen Auswahlprozeß entstehen Regeln? - Wie müssen Regeln beschaffen sein bzw. wie muß der Prozeß der Auswahl von Regeln erfolgen, damit unerwünschte Ergebnisse für einige oder alle Gesellschaftsmitglieder vermieden werden können, d.h. möglichst viele Gesellschaftsmitglieder mit der bestehenden Ordnung einverstanden sein können? Genau mit diesem Problemkomplex befaßt sich in der Ökonomie4 eine Forschungsrichtung, die unter der Bezeichnung "Constitutional Economics"5 bekannt geworden ist. Obgleich der Name erst 1982 von Richard McKenzie ins Leben gerufen wurde6, gehen die inhaltlichen Grundlagen dieser Forschungsrichtung auf früher datierte Werke von James M. Buchanan, Friedrich A. v. Hayek, John Rawls und Robert Nozick zurück7.

3

Dieser Satz befindet sich in Art 20 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

4

Ökonomie soll hier als Wissenschaft verstanden werden, deren Ziel es ist, Erkenntnisse und Entscheidungshilfen f&r Handeln unter Knappheit zu liefern. Sie ist also nicht an einen Bereich wie den Marktmechanismus gebunden, sondern kann überall dort, wo Knappheiten auftreten, versuchen, Problemlösungen zu finden - möglicherweise in Konkurrenz zu anderen Wissenschaften. Das Denken in Opportunit&tskosten, die durch Knappheit entstehen, ist ihr Gegenstand. Vgl. auch eine Ähnliche Begriffsabgrenzung bei Robbins, Lionel (1952) S. 16. 5 6

Vgl. Buchanan, James M. (1987) S. 585ff. und (1990) S. 1.

Vgl. Buchanan, James M (1990) S. 1. McKenzie benannte so das Thema eines von ihm veranstalteten Symposiums. 1984 erschien - von ihm herausgegeben - der gleichnamige Band zu der Veranstaltung.

Α. Einleitung

Der Forschungsbereich "Constitutional Economics" ist Bestandteil des sogenannten "Theoretischen InstitutionalismusH, wobei letzterer eine Analyse all der Einrichtungen darstellt, die Walter Eucken als "rechtliche und soziale Organisation der Volkswirtschaft" bezeichnet8 und die von der traditionellen neoklassischen Theorie wie auch vom Keynesianismus als Datum behandelt werden9. Seine Wurzeln hat der Theoretische Institutionalismus in den 60er Jahren, vor allem in den Werken von Ronald Coase, Armen A. Alchian, Harold Demsetz und James M. Buchanan10. (Zu den Forschungsrichtungen, die sich bis heute entwickelt haben, siehe Übersicht 1 auf den nachfolgenden Seiten.) Allerdings handelt es sich bei dieser "institutionalistischen Revolution"11 nicht um die erstmalige Untersuchung des oben angesprochenen Forschungsgegenstandes. Vielmehr können als Vorläufer die Klassiker (u.a. Adam Smith), der ältere amerikanische Institutionalismus (u.a. John R. Commons), die deutsche Historische Schule (u.a. Adolph Wagner, Gustav F. Schmoller) und der Ordoliberalismus der Freiburger Schule (u.a. Franz Böhm, Walter Eucken) angesehen werden12. Der Unterschied zwischen dem neuen Theoretischen Institutionalismus und seinen Vorläufern liegt insbesondere in der methodischen Vorgehensweise. Anders als diese früheren Varianten hält sich der Theoretische Institutionalismus streng an den methodologischen Individualismus13 - jegliches Handeln wird auf das Individuimi zurückgeführt - und

7 Gemeint sind hier vor allem folgende Grundlagenwerke: Buchanan, James M. / Gordon Tullock (1962, hier zitiert nach der 3. Auflage 1969); Buchanan, James M. (1975, deutsch 1984); v. Hayek, Friedrich Α. (1960, deutsch 1971); Rawls, John (1971, deutsch 1975); Nozick, Robert (1974, deutsch 1976). Buchanan, Rawls und Nozick werden auch als die "New Contractarians" bezeichnet, ob ihrer vertragstheoretischen Haltung, v. Hayek hingegen ist Evolutionist Diese bereits übliche Bezeichnung "New Contractarians" geht auf Gordon, Scott (1976) zurück. Vgl. zu den drei Vertragstheoretikern auch Fritsch, Michael (1984) S. 31ff. sowie Koller, Peter{ 1990) S. 281ff. 8

Vgl. Eucken, Walter (1989) S. 50ff.

9

Vgl. Schüller, Alfred (1983) S. VIII. Zur Kritik an der institutionenlosen ökonomischen Theorie vor allem neoklassischer aber auch keynesianischer Prägung vgl. Albert, Hans (1979) S. 1 Iff. sowie Kirzner, Israel (1984) S. 140ff. Wie sehr sich die Anschauung, der Ökonom sei nur für Marktanalysen zuständig, durchgesetzt hat, läßt sich an der Bezeichnung "ökonomischer Imperialismus" für Analysen des Ökonomen außerhalb "seiner Domäne Markt" ablesen. Vgl. hierzu Homann, Karl / Andreas Suchanek (1989) S. 70ff.; Radnitzky, Gerard /Peter Bemholz (Hrsg.) (1987) sowie Becker, Gary S. (1982). 10 Vgl. Meyer, Willi (1983) S. 2. Zur Entwicklung ordnungstheoretischen Denkens in der Ökonomie vgl. Hartwig, Karl-Hans (1988) S. 31ff. 11

Dieser Begriff geht auf Hans Albert (1977) S. 203 zurück.

12

Vgl. Meyer, Willi (1983) S. 3ff ; Hutchinson, Terence W (1984) S. 21ff sowie Schüller, Alfred (1983a) S. 148. 13

Der Begriff "methodologischer Individualismus" geht auf Schumpeter zurück. Vgl. Schumpeter,

Joseph Α. (1970) S. 88ff. 2 Leschke

Α. Einleitung

18

unterstellt Selbstinteresse bei rational handelnden Individuen 14 . Auf dieser Grundlage werden mit Hilfe weiterer Prämissen Hypothesen deduktiv abgeleitet, die an der Realität zu messen sind.

Übersicht 1 Theoretischer Institutionalismus13 AnknüpOrganisafungspunkt tion TransaktionskoForstenökoschungsnomik richtung

Ordnungsrahmen Property RightsAnsatz

Ordnungsrahmen ökonomische Analyse des Rechts (einschl. Regulierung und Deregulierung UntersuAnalyse der Untersuökonochung der sich aus chung der mische Wirkung InformaEntstehung, (Effizienz-) von Trans- tionsasym- Wirkung Analyse Kurzbeaktionsko- metrien und Ände- spezieller schreibung sten auf die ergebenden rung von AusgestalEntstehung KooperaVerfìltungen des von Unter- tions- und gungsrech- Rechts nehmen Abhängigten bzw. Orga- keitspronisationen bleme Akerlofy Alchian/ Alchian/ Becker/ Bonus/ (einige) Fama/ Coase/ Gröner/ wichtige Coase/ Grossman/ Demsetz/ Kaufer/ Vertreter Demsetz/ Hart/ Furubotn/ Posner/ Grossman/ Hurwicz/ Soltwedel/ Pejovich Hart/ Jensen/ Stigler Williamson Stiglitz Organisation AgencyTheory

Ordnungsrahmen New Economic History

Erklärung des institutionellen Wandels in der Geschichte

Borchardt/ Demsetz/ North/ Thomas/ Tilly

14 Euchen war zwar auch methodologischer Individualist, machte mit seiner Analyse jedoch vor den Toren staatlicher Institutionen halt Darauf wird insbesondere in Teil II, Kapitel L, Abschnitt I I noch näher eingegangen. 15 Siehe hierzu auch Richter, Rudolf{1987) S. 71; Williamson , Oliver (1990) S. 61ff.; Hutchinson, Terence W. (1984) S. 2 Off.; Furubotn, Eric G. / Rudolf Richter (1984) S. Iff.; Buchanan, James M (1987) S. 586; Schüller, Alfred (1987) S. 74ff; Leipold, Helmut (1989) S. 13ff; Kirchgässner, Gebhard {1988) S. 53ff. sowie Hartwig, Karl-Hans (1988) S. 3 Iff.

Α. Einleitung

noch Übersicht 1 OrdnungsAnknüpfungspunkt rahmen

Ordnungsrahmen

Organisation und Ordnungsrahmen (Neo-) Ordoevolutorische ForConstitutional Neue Entwicklung schungsEconomics Politische Liberalismus von Institurichtung: Ökonomie tionen bewußte GeAnalyse der Anwendung Analyse gestaltung des Entstehung des "Prinzips sellschaftliund Änderung cher, kollekti- Ordnungsrah- der unsichtbamens im Sinne ren Hand" in der Verfassung ver Wahl(i.w.S.) bzw. Entschei- eines funktio- der Tradition nierenden von C. Menger dungsverfahKurzberen (Untersu- Marktmecha- und A. Smith schreibung nismus - Reauf die Entchung des gelbindung für wicklung politischen Staat und Pri- sozialer InstiKräftefeldes) vate in der tutionen Tradition von Eucken u.a. Arrow/ Brennan/ Böhm/Eucken/ v.Hayek/ Grossekettler/ Krizner/ Buchanan/ Bernholz/ (einige) Hensel/Lenel/ Lachmann/ Eschenburg/ Black/ wichtige Möschel/ v.Hayek/ Buchanan/ Littlechild/ Vertreter Willgerodt Homann/ Downs/Frey/ Menger/ Nozick/Rawls/ HerderSchotter/Witt Tullock/ Dorneich/ Vanberg Niskanen/ Olson/ Pommerehne Ordnungsrahmen

Die Richtung der "Constitutional Economics" entsprang dem etwas breiter angelegten Forschungsgebiet der "Public Choice-Theorie" 16 - bisweilen wird dieses Forschungsgebiet auch mit den deutschen Bezeichnungen "Neue Politische Ökonomie" (NPÖ) oder "Ökonomische Theorie der Politik" (ÖTP) gleichgesetzt -, dessen Ursprünge u.a. in den Werken von Duncan Black (1948 und 1948a), James M. Buchanan (1949) und Kenneth Arrow (1951) liegen 17 .

16 Zu den Ergebnissen zehnjähriger Arbeit der Public Choice-Theorie vgl. den Kurzüberblick von Frey, Bruno S. (1991) S. 492ff. sowie ausführlich zu der Forschungsrichtung Mueller, Dennis C. (1979) und (1989). 17

Vgl. Mueller, Dennis C. (1990) S. 169.

20

Α. Einleitung

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, ein Forschungsprogramm 18 zu entwickeln, welches eine Norm liefert, mit deren Hilfe sich auf der einen Seite die Realität - hier vor allem das bestehende System von Regeln und der Prozeß der Regelentstehung - kritisieren läßt und auf deren Basis sich auf der anderen Seite Vorschläge zur Veränderung der bestehenden Ordnung entwickeln lassen. James M. Buchanan19 und Friedrich A. von Hayek20 können als die Hauptvertreter der Constitutional Economics angesehen werden, die sich mit dem Prozeß der Regelentstehung und der Wirkung von Regelsystemen auf der Grundlage des methodologischen Individualismus auseinandergesetzt haben. Im folgenden ersten Teil werden daher die evolutorische Theorie der Entstehung eines Rechtsrahmens von v. Hayek und die Buchanansche Vertragstheorie der Entstehung eines Ordnungssystems kritisch untersucht und gegenübergestellt, bevor als konstruktive Synthese aus beiden Theorien ein allgemeines Forschungsprogramm aufgestellt wird. Mit Hilfe dieses Forschungsprogramms soll es erstens möglich sein, bestehende Ordnungen dahingehend zu beurteilen, ob sie als ein Resultat angesehen werden können, auf das sich selbstinteressierte, rational handelnde Individuen hätten einigen können. Zweitens soll das Programm eine Basis für konkrete Vorschläge bilden, die zum Ziel haben, eine bessere Ordnung für die in der Gemeinschaft lebenden Individuen zu liefern. Und drittens sollte das Forschungsprogramm Hinweise geben, auf welchem Weg ein bestehendes Ordnungssystem geändert werden sollte, so daß die Gesellschaftsmitglieder letztlich mit dem Resultat einverstanden sein können. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dann das erarbeitete Instrumentarium auf einen konkreten Fall systematisch angewendet. Dazu wird im zweiten Teil die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in ihren Grundzügen - besonders unter dem Blickwinkel des Prozesses der Regelentstehung (Verabschiedung von Gesetzen) - analysiert.

18 Nach Imre Lakatos kann man Forschungsprogramme als leitende, theoretische Ideen bezeichnen, die eine Problemstellung, Methoden zur Problemlösung, Kriterien für den Ausbau des Programms sowie Regeln für Reaktionen auf mögliche Kritik enthalten. Vgl. Lakatos , Imre (1974) S. 89ff.; Hartwig, Karl-Hans (1987a) S. 6. In Punkt 4.3. erfolgt eine genauere Spezifizierung. 19 Zur Person und den Werken vgl. ausführlich Reisman, David (1990) sowie Brennan, Geoffrey (1987) S. Iff. und (1990) S. 113ff; Coleman, Jules L. (1990) S. 135ff; Gray, John (1990) S. 149ff; Mueller, Dennis (1990) S. 169ff. und Yeager, Leland B. (1990) S. 197ff. Eine Bibliographie der Veröffentlichungen von Buchanan befindet sich im Southern Economic Journal 54, (1987) S. Iff. 20 Zur Person und den Werken vgl. Streissler, Erich (Hrsg.) (1969), Machlup, Fritz (Hrsg.) (1976) und (1977) sowie Barry, Norman P. (1979). Bei Machlup (1977) S. 63ff. befindet sich eine Bibliographie der Veröffentlichungen v. Hayeks.

Α. Einleitung

Ausgehend von diesem Status quo werden dann im dritten Teil die theoretisch erarbeiteten Kriterien zum Aufbau einer Verfassung zwecks einer möglichen Umsetzung konkretisiert. Das heißt, es wird ein konkretes Verfassungsmodell für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitet, und es werden die Möglichkeit und Notwendigkeit der Umsetzung des Modells auch im Vergleich zu alternativen ordnungspolitischen Konzeptionen diskutiert. Den Schluß der Aibeit bildet eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und ein Ausblick auf nicht im Rahmen dieser Aibeit behandelte ordnungspolitische Problembereiche der europäischen und internationalen Ebene.

Teil I

Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics Bevor in diesem Teil die Erarbeitung eines allgemeinen Forschungsprogramms der Constitutional Economics als Synthese einer kritischen Auseinandersetzung mit den Theorien von v. Hayek und Buchanan erfolgt, sollen einige Grundlagen erläutert werden. Diese beziehen sich einmal auf die Methodik insbesondere auf die Frage grundlegender Prämissen - und zum anderen auf eine Vorabklärung grundlegender Begriffe wie Ordnung, Regeln oder Demokratie, die für das weitere Verständnis von Bedeutung sind.

B. Grundlagen L Methodologischer Individualismus, Selbstinteresse und Rationalität Das Forschungsprogramm der Constitutional Economics ist im methodologischen wie ontologischen Sinn streng individualistisch1. Danach sind Individuen Ausgangspunkt der Betrachtung - nur sie können handeln, Kollektive nicht. Aggregate werden immer als Resultate individueller Wahlakte betrachtet. Für den zugrundeliegenden Forschungsgegenstand ist dies eine notwendige Voraussetzung, da realistischerweise angenommen wird, daß die einzelnen Individuen unterschiedliches Wissen, unterschiedliche Interessen, Fähigkeiten und Anschauungen über Zusammenhänge (Theorien) haben (können), die es zu respektieren gilt. Unter Knappheit2 treten aufgrund der angesprochenen

1 Vgl. grundlegend hierzu Buchanan, James M. (1987) S. 586ff. und (1987a) S. 244ff. sowie ausführlich Vanberg, Viktor (1975). "Ontologisch-individualistisch" bedeutet hierbei, daß die Beschaffenheit der Realitât zwingend eine Analyse ausgehend vom einzelnen Individuum erfordert Vgl. Zintl, Reinhard (19X6) S. 34ff.

Β. Grundlagen

24

individuellen Unterschiede Koordinationsprobleme auf, deren Lösung Aufgabe des Ökonomen ist3. Die Vielfalt der Erscheinungsform "Chiffre Mensch" macht es zwingend notwendig, ihn zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen. Das Verfolgen der eigenen Ziele wird bisweilen mit Selbstinteresse oder auch übertriebenerweise als Egoismus bezeichnet - eine unnötige Übertreibung, denn das Koordinationsproblem unter Knappheit bleibt bestehen, egal ob jemand einen Mantel kauft, um ihn zu tragen oder zu teilen. Vermieden würde das angesprochene Koordinationsproblem lediglich, wenn alle Individuen dasselbe Ziel hätten und dieselbe Meinung, wie dieses Ziel bestmöglich zu erreichen wäre (identische theoretische Anschauungen) oder wenn keine Knappheit vorläge - Individuen sich also beim Verfolgen ihrer Ziele nicht störten4. Des weiteren wird davon ausgegangen, daß die einzelnen Individuen am besten wissen, wie ihre individuellen Ziele zu erreichen sind5, und unter den ihnen bekannten Alternativen immer diejenige wählen, von der sie glauben, daß der Zielerreichungsgrad der höchste ist. Somit wird eine subjektive Rationalität unterstellt, ein allwissender Beobachter (objektive Rationalität) existiert nicht6. Handeln in diesem Sinn setzt damit immer auch ein gewisses Maß an Freiheit - hier Wahlfreiheit unter Abwesenheit von willkürlichem Zwang - voraus.

2

Knappheit entsteht immer durch das Verhältnis Wunsch bzw. Bedürfiiis zu Möglichkeiten der Bedürfhisbefiiedigung. Knapp sind diesbezüglich vor allem Zeit, Wissen, materielle und immaterielle Güter. "Knapp sind Ressourcen, angefangen von Rohstoffen bis hin zu - angeborenen oder erlernten Fähigkeiten. Knapp ist Wissen, und zwar sowohl das Wissen im Sinne der Kenntnis konkreter Umstände des Handelns, worauf insbesondere F. A. von Hayek in seiner Theorie der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs verweist, wie auch das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der physischen und psychischen Natur und die 'Gesetzmäßigkeiten' des Sozialverhaltens, eine Form der Knappheit des Wissens, auf die insbesondere ICR. Popper immer wieder verweist Knapp ist auch vor allem die Zeit: Entscheidungszeit, Verhandlungszeit und - grundlegend - Lebenszeit Die Knappheit der Zeit wird - in engem Zusammenhang mit der Knappheit des Wissens - im Rahmen der vertragstheoretischen Interpretation der Demokratie eine bedeutende Rolle spielen,..." Homann, Karl (1988) S. 168. 3 Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1976a) S. 9ff. Buchanan und Vanberg stießen auf das Problem unterschiedlicher theoretischer Vorstellungen erst sehr spät Vgl. Buchanan, James M / Viktor Vanberg (1989) S 49ff. 4

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1976a) S. 24ff.

5

Gemeint ist damit, daß ein von einem Problem nicht Betroffener in der Regel nicht (besser) wissen kann, wie ein Individuum sein Problem lösen soll. Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1976a) S. 27. 6 Damit ist der hier vorgestellte Rationalitätsbegriff auch mit Herbert Simons "Bounded Rationality" vereinbar. Vgl. Simon, Herbert (1957).

II. Regeln und Ordnung

25

Ausgeklammert aus der Betrachtung werden allerdings reines Handeln im Affekt und Inkonsistenzen in der Präferenzordnung eines Individuums in einem bestimmten Zeitpunkt. Damit ist jeder für sein Handeln selbst verantwortlich, und jedes Handeln führt im Zeitpunkt der Ausführung zu einem Nutzenzuwachs für den Agenten. Eingeschlossen in diese Betrachtung sind somit auch Tauschhandlungen7 wie in dem Märchen HHans im Glück", wo sich das Hänschen zwar letztendlich arm tauscht, aber unter den Bedingungen eines jeden einzelnen Tauschaktes durch sein Handeln erst einmal einen Glückszuwachs verspürt 8. Dynamisch gesehen können sich also Umweltzustände, Wissen, Präferenzen, Fähigkeiten sowie theoretische Anschauungen im Zeitablauf ändern, so daß für einen neutralen Beobachter Hänschens Tauschmanöver zwar irrational erscheinen mögen, es aber subjektiv, d.h. aus Hänschens Sicht, nicht sind. Die subjektive Rationalität besagt jedoch nicht, daß alle Resultate menschlichen Handelns von jedem bewußt wahrgenommen oder bewußt geplant werden (müssen)9. Auf diesen Problemkreis wird u.a. im nächsten Abschnitt eingegangen.

OL Regeln und Ordnung Geht man - wie oben schon angesprochen - von unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten, Wissensständen und Meinungen der Individuen aus, so kommt es unter Knappheit zu Koordinationsproblemen, denn nicht jeder kann im gewünschten Umfang seine Ziele erreichen. Anarchistische Streitereien können nur vermieden werden, wenn Regeln existieren, die das Verhalten kanalisieren, dem einzelnen einen geschützten Verantwortungsbereich geben und somit freie Entscheidungen erst ermöglichen. Selbst wenn niemand durch sein eigenes Handeln einem anderen Schaden zufügen möchte, so wird er dies doch in den seltensten Fällen verhindern können, da sein Wissen über die

7 Von manchen Autoren wird auch die Ökonomie als eine Wissenschaft basierend auf dem Tauschprinzip gesehen. Vgl. Hessling, Ewald (1991) S. 6 sowie Boulding, Kenneth E. (1976) S. 18ff. Hier wird allerdings das Problem des Handelns unter Knappheit als Gegenstand der Ökonomie betrachtet 8

Vgl. hierzu die katallaktischen Betrachtungen zu "Hans im Glück" von Streissler, Erich und A / o mfca (1983). 9 Mit Blick auf dieses Problem unterscheidet v. Hayek einen echten Individualismus, der ein spontanes von keinem einzelnen geplantes Wachsen von Institutionen berücksichtigt und einen geplanten, unechten Individualismus, der alle Institutionen als bewußt geplantes menschliches Konstrukt ansieht Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1976a) S. 9ff.

Β. Grundlagen

26

Auswirkungen seines Handelns (meist) eingeschränkt ist. Im Blickfeld jedes einzelnen befindet sich immer nur ein - oft sehr kleiner - Teil des Ganzen, d.h. ein Bruchteil sämtlicher Handlungen und deren Auswirkungen in einer Gesellschaft. Regeln wären daher auch dann nötig, wenn nur gute, rücksichtsvolle Menschen existierten. Regeln schränken also auf der einen Seite eigenes Handeln ein, geben auf der anderen Seite aber erst die Möglichkeit zu kalkulieren, sicherer zu planen; denn sie erlauben, Erwartungen über das Verhalten anderer zu bilden. Regeln reduzieren also den Grad der Unwissenheit des Menschen. Bei allwissenden, gleichgesinnten Individuen wären sie überflüssig10. Regeln können aber noch eine andere Aufgabe erfüllen: Sie können langfristige und kurzfristige Interessen zum Ausgleich bringen. So kann es z.B. für einen Langschläfer, der sich in der Zeit der Examensvorbereitung langes Schlafen nicht leisten kann, vernünftig sein, sich zur Regel zu machen, den Wecker abends immer in der dem Bett gegenüberliegenden Ecke des Raumes zu postieren, um sich morgens zum Aufstehen zu zwingen11. Ein Bereich, wo beide Arten von Koordinationsproblemen zusammenkommen, ist z.B. der Umweltschutz. Dort müssen Regeln gewährleisten, daß Auswirkungen unternehmerischen Handelns, beispielsweise in Form von Emissionen, andere Individuen nicht zu stark beeinträchtigen. Und zwar müssen hier Auswirkungen des Handelns sowohl auf heute lebende Individuen als auch auf zukünftige Generationen in die Betrachtung einbezogen werden. Regeln selbst können nun unterschiedlich ausgestaltet sein, es existieren verschiedene Arten von Regeln (siehe Übersicht 2)12. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Regeln unterscheiden: Abstrakte und konkrete Regeln13. Abstrakte Regeln haben ausschließlich die Aufgabe, ein Zusammenleben in einer Gemeinschaft zu ermöglichen, und zwar dadurch, daß (möglichst) unabhängig von Zeit, Ort und Person allgemeine Verbote ausgesprochen werden. Allgemeine, abstrakte Regeln müssen daher für eine unbekannte Zahl künftiger Fälle gelten und beschränken die eigenen Handlungsmöglichkeiten, damit anderen kein unnötiger Schaden zugefügt wird 14 ; aber sie verhindern auch, daß man selbst willkürlichem Handeln anderer ausgesetzt ist. Diese Art

10

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1969h) S. 157ff. und (1981) S. 23ff.

11

Da sich hier ein einzelner Mensch für sein eigenes Handeln Regeln auferlegt, spricht man in diesem Zusammenhang auch vom "Robinson Crusoe·Wecker". Vgl. Buchanan, James M. (1984) S. 132ff. 12

Siehe hierzu insbesondere v. Hayek, Friedrich

13

Vgl. v. Hayek, Friedrich

14

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1979) und Vanberg, Viktor (1989) S. 170ff.

Α. (1971) S. 178ff. und (1981) S. 26ff. A. (1969Ì) S. 177.

27

II. Regeln und Ordnung

von Regeln dient also nicht einem von irgend jemanden willkürlich festgesetzten Zweck, sondern soll den Individuen die Möglichkeit geben, ihre Wünsche nach ihren Vorstellungen unter Knappheit weitestgehend zu erfüllen. Übersicht 2 Arten von Regeln Arten von Regeln

Regeln, die einem bestimmten oder speziellen Interesse dienen und (weitgehend) konkret ausgestaltet und bewußt geplant sind 1

Regeln, die dem Interessenausgleich in der Gemeinschaft dienen und (weitgehend) abstrakt ausgestaltet sind,

!

öffentliches Recht

.

1

geplante Regeln

kulturell übertragene Regeln

ι private Organisationsregeln !

L

Verwaltung»recht

Verfassungsrecht

1

Privatrecht (inkl. Strafrecht)

genetisch übertragene Regeln

Gewohnheiten, Sitte, Moral

I formale Regeln

Konkrete Regeln haben dagegen meist die Form von mehr oder weniger genauen Anweisungen (Geboten), die einem bestimmten, konkreten Zweck oder Ziel dienen. Man begegnet diesen Regeln vor allem in Betrieben, der Familie, in verschiedenen Veibänden oder in öffentlichen Einrichtungen. Ausgehend von diesen unterschiedlichen Typen von Regeln lassen sich zwei grundlegende Ordnungsarten unterscheiden15: Eine spontane Ordnung und eine konkrete Ordnung oder Organisation. Eine konkrete Ordnung beruht auf konkreten Regeln. Damit sind die Freiheitsgrade der Verhaltensmöglichkeiten der einzelnen Ordnungselemente (bei gesellschaftlichen Institutionen die Individuen) gering und das Ergebnis des Handelns der Elemente (weitgehend) vorhersehbar. Eine konkrete Ordnung oder Organisation dient einem bestimmten speziellen Zweck, und die Anordnung der Elemente durch konkrete Regeln dient dazu, das Ziel möglichst weitgehend zu erfüllen. Eine spontane Ordnung

15 Zu den "Arten der Ordnung" vgl. den gleichnamigen Aufsatz von v. Hayek , Friedrich S. 32ff.

A. (1969a)

28

Β. Grundlagen

hingegen beruht auf abstrakten Regeln16. Dadurch, daß durch Verbote nur festgelegt wird, welche Verhaltensweisen der Elemente (respektive Individuen) ausgeschlossen sein sollen, sind die Freiheitsgrade bezüglich möglicher Handlungen der Einzelteile groß. Konkrete Ergebnisse des Handelns der Einzelelemente - oder bezogen auf die Gesellschaft: Resultate menschlichen Handelns - sind in ihrer Fülle konkreter, sich ständig wandelnder Ausprägungen nicht vorhersehbar. Damit das relativ freie Handeln der Individuen (oder allgemein: Elemente) jedoch nicht in einem undurchsichtigen Chaos mündet, bedarf es zusätzlich zu den abstrakten Regeln auch eines Ordnungsmechanismus. Bei der Marktwirtschaft - einem Standardbeispiel für eine spontane Ordnung - ist dieser Ordnungsmechanismus das System flexibler Preise, welches negative Rückkoppelungseffekte verursacht und damit eine ordnende, unsichtbare Hand darstellt17. Damit läßt sich in der Marktwirtschaft ein immer wiederkehrendes Muster erkennen18; die Vielfalt konkreter Ergebnisse - als Resultat menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs - kann in ihrer Gesamtheit jedoch kein menschliches Gehirn und kein Großrechner erfassen 19. In bezug auf die (spontanen) Resultate der Marktwirtschaft wird nun oft von sozialer Ungerechtigkeit gesprochen20; z.B. wenn hart arbeitende Menschen wie die "Kumpels" in Kohlebergwerken - von Arbeitslosigkeit bedroht sind, während andere mit einer einzigen Erfindung oder Idee Millionäre werden. Regelkonformes Verhalten der Individuen vorausgesetzt, können solche Zustände jedoch per se nicht gerecht oder ungerecht sein, da sie von niemandem geplant oder gewollt sind, sondern sich spontan ergeben. Allerdings kann man mit Ergebnissen der Marktwirtschaft (resultierend aus regelkonformem Verhalten der Individuen) zufrieden oder unzufrieden sein. Ist letzteres der Fall, so muß man sich fragen, ob die das Verhalten der Individuen kanalisierenden Regeln geeignet sind, für alle Betroffenen wünschenswerte Zustände herbeizuführen bzw. ob der Prozeß der Regelentstehung der richtige ist. Wenn kein Verstoß gegen geltendes Recht vorliegt, kann man also Resultate sponta-

16 v. Hayek benutzt für die Begriffspaare abstrakte und konkrete Regeln sowie spontane und konkrete Ordnung die griechischen Ausdrücke Nomos und Thesis bzw. Kosmos und Taxis. Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1969k) S. 207ff. 17 Dies ist nichts anderes als Adam Smiths "Unsichtbare Hand". Vgl. Smith, Adam (1974) S. 371. Eine übersichtliche Darstellung der Marktfunktionen in Form kybernetischer Regelkreise befindet sich bei Grossekettler, Heinz (1987) S. 183ff. und (1988) S. 105ff 18 v. Hayek spricht daher auch von "Muster-Erkennung", "Muster-Voraussage" oder "Erklärung des Prinzips". Vgl. hierzu v. Hayek, Friedrich Α. (1972) sowie Graf, Hans-Georg (1978). 19 20

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1969a) S. 97ff.

Zu diesem Problemkreis vgl. v. Hayek Friedrich James M, Buchanan (1985) S. 97ff.

A. (1981) S. 53ff. sowie Brennan, Geoffrey

/

III. Was ist Demokratie?

29

ner Ordnungen nie als gerecht oder ungerecht einstufen, sondern nur die zugrunde liegenden Regeln respektive den Prozeß ihrer Entstehung. Hält man sich nicht an diese Einsicht, so kann das dazu fuhren, daß man Endresultate spontaner Ordnungen durch direkte Eingriffe permanent ändert, ohne zu berücksichtigen, daß bei komplexen Zusammenhängen nicht alle Wirkungen der Eingriffe in Betracht gezogen werden können und daß sich die spontane Ordnung allmählich in eine konkrete (verwandelt und damit an Komplexität (d.h. Vielfalt an spontanen Handlungen, Beziehungen und Ergebnissen) verliert.

HL Was ist Demokratie? Bisher wurde zwar viel über Regeln gesprochen, jedoch noch nicht über den Zusammenhang zur Demokratie als dem hier zu betrachtenden speziellen soziopolitischen Regelsystem21. Ein Staat kann als eine Institution oder Organisation aufgefaßt werden, die öffentliche Güter bereitstellt, welche aufgrund ihrer Kollektivgütereigenschaft über den Marktmechanismus nicht bereitgestellt werden können, wie Gesetzgebung, innere und äußere Sicherheit und verschiedenartige Dienstleistungen (Bildung, bestimmte Versicherungen etc.). Hauptträger des Staatsapparates ist die Regierung, die an der Gesetzgebung sowie der Ausführung der Gesetze maßgeblich beteiligt ist. Demokratie ist in diesem Zusammenhang eine Staatsform, bei welcher der Volkswille (bzw. Änderungen des Volkswillens im Laufe der Zeit) dadurch Berücksichtigung findet (bzw. finden), daß die Regierung in bestimmten Zeitabständen in allgemeinen, gleichen, (meist) unmittelbaren, freien und geheimen Wahlen bestimmt wird. Diese Wahlen sind (meistens) indirekt, d.h. es werden Parteien (bzw. Parteimitglieder) gewählt, welche die Parlamentsmehrheit bzw. Regierung bilden. Diesen demokratischen Wahlen liegt fast immer die einfache Mehrheitsregel als Diskriminierungsmechanismus zugrunde. Demokratie ist also eine - wenn auch indirekte - Herrschaft des Volkes. Wichtig ist hierbei, zwischen unbeschränkter und beschränkter Demokratie zu unterscheiden, also die Frage zu beantworten, ob eine gewählte Regierung in ihrem Handeln Regeln unterworfen sein muß oder darf, die sie selbst nicht 21

Vgl. zum Demokratiebegriff grundlegend Homann, Karl (1988) sowie Lamberti, Günter (1984) S. 15ff. und (1990) S. 4ff. und die dort angegebene Literatur.

30

Β. Grundlagen

verändern kann. Notwendigkeiten bestimmter Beschränkungen leuchten unmittelbar ein. So sollte es jeder Regierung veiboten sein, das Wahlrecht abzuschaffen oder vor Wahlen zu ihren Gunsten zu verändern. Dies würde ja eine Abschafiung der Demokratie durch völlig unbeschränkte Demokratie bedeuten. Alle Demokratien besitzen daher Verfassungsregeln, die durch eine Regierung gar nicht oder nur sehr schwer - d.h. in den meisten Fällen nicht ohne Mitwirkung der Opposition - abzuändern sind. Hierbei handelt es sich neben grundlegenden demokratischen Institutionen (wie z.B. Wahlrecht oder Gewaltenteilung) um Minderheitenschutz und Menschenrechte. Demokratien sind daher immer durch Verfassungen beschränkte, konstitutionelle Demokratien. Daher wird diese Aibeit sich im folgenden neben Fragen zum Wahlmodus vor allem mit dem wichtigen Problem der Beschränkungen von Regierungsmacht beschäftigen.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln In diesem Kapitel erfolgt die kritische Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie der Entstehung eines Regelrahmens von Friedrich August v. Hayek. Als Verständnisgrundlage wird hierbei zuerst die v. Hayeksche Denkhaltung vorgestellt und sodann seine Theorie der Regelentstehung und deren Bewertungsgrundlage entwickelt. Anschließend werden spezielle Problematiken des Evolutionsprozesses wie Gruppenselektion, Unsichtbare-HandErklärungen und Gefangenendilemma-Situationen erörtert, bevor auf die Rolle von Demokratie und Verfassung bei der Evolution von Regeln eingegangen wird und am Ende dieses Kapitels die Frage nach Lehren bzw. normativen Schlußfolgerungen aus der Evolutionstheorie gestellt wird.

L v. Hayeks antikonstruktivistische Haltung Die konstruktivistische Denkrichtung, gegen die sich v. Hayek stellt, geht davon aus, daß der Mensch fähig ist (und war), sämtliche Institutionen wie Sprache, Schrift, Recht, Geld oder Moral bewußt zu erfinden. Diese Strömung, welche die Vernunft des Menschen und seine Fähigkeit zum bewußten Entwurf aller Einrichtungen hervorhebt, geht vor allem auf den Philosophen René Descartes und seinen geistigen Schüler Jean-Jacques Rousseau zurück. Diese Art von Vernunft wird auch als "Cartesischer Rationalismus" bezeichnet22. v. Hayek wendet gegen diese Denkrichtung ein, daß eine vollständige Rationalität im cartesischen Sinne ein vollständiges Wissen über alle relevanten Tatsachen erforderte - ähnlich wie ein Ingenieur alle Daten zur Planung eines Objektes benötigt - und daß dieses Wissen, bezogen auf die komplexen Zusammenhänge innerhalb der Sozialwissenschaften, kein Mensch haben kann23. Tatsache sei vielmehr, daß der Mensch permanent an die Grenzen

22 Vgl. v. Hayek, Friedrich Α. (1975) S. 4ff. und (1986) S. 23ff. sowie darüber hinaus grundlegend (1976a) S. 9ff. und Popper, KarlR. (1973), insbesondere S. 230ff.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

32

seines Tatsachenwissens stoße und somit die Erkenntnis dieser Unwissenheit der Anfang der Weisheit bzw. der Ausgangspunkt theoretischer Betrachtungen sein müsse24. Mit der konstitutionellen Unwissenheit des Menschen25 ist die Ansicht, alle Institutionen seien bewußt entworfen, nicht vereinbar 26. v. Hayeks Vorstellung ist nun, daß Institutionen zwar das Resultat menschlichen Handelns sind, aber nicht das Ergebnis menschlichen Entwurfs sein müssen27. Diese Denkweise der evolutionären Entstehung von Institutionen als Selektionsprozeß im Zeitablauf geht vor allem auf Bernard de Mandeville28, David Hume29, Adam Ferguson30 und Adam Smith31 zurück32. Diese antikonstruktivistische Sichtweise33, die davon ausgeht, daß in einen evolutorischen Prozeß mehr Wissen eingeht als ein einzelner Mensch haben kann, wird im folgenden erläutert 34.

23 v. Hayek vergleicht die Sozialwissenschaften des öfteren mit der Physik und stellt dabei heraus, daß erstere Wissenschaft sich mit weitaus komplexeren Zusammenhangen beschäftigt als letztere. Vgl. v. Hayek Friedrich A. (1972) S. 12ff. und (1976c) S. 78ff. Dem wäre jedoch nur zuzustimmen, verstünde man unter Physik ausschließlich das Newtonsche Paradigma. Neuere Entwicklungen in der Physik vor allem im Bereich der Synergetik und Chaostheorie beschäftigen sich jedoch mit hochkomplexen nicht-linearen Prozessen und befruchten nun ihrerseits die Ökonomie - mit welchem Erfolg muß sich noch zeigen. Siehe hierzu beispielsweise Arthur, Brian W. (1988) und (1990). 24

Vgl. v. Hayek, Friedrich

25

Bereits Sokrates "bekannte": "Ich weiß, daß ich nichts weiß."

26

Zu v. Hayeks Rationalismusdiskussion vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 30ff. A. (1969d) S. 75ff.

27

Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1969e) S. 97ff. Oder in den Worten Adam Fergusons: "Jeder Schritt und jede Bewegung der Menge wird sogar in den Zeitaltem, die man erleuchtete nennt, mit gleicher Blindheit für die Zukunft gemacht und die Nationen stoßen im Dunkeln auf Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung irgend eines menschlichen Planes." Ferguson, Adam (1923) S. 171. 28

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1969g) S. 126ff.

29

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (19691) S. 232ff.

30

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 31, Fußnote 1 und S. 69 sowie (1980) S. 205 und 210.

31

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1976g) S. 14.

32 Darüber hinaus nennt v. Hayek noch Edmund Burke und Josiah Tucker als klassische Vertreter sowie Alexis de Tocqueville und Lord Acton als politische Philosophen des 19. Jahrhunderts. Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1976a) S. 12ff. Eine ähnliche Position vertritt auch Carl Kienger, auf die sich v. Hayek ebenfalls bisweilen bezieht Vgl. Kienger, Carl (1969) sowie v. Hayek, Friedrich A. (1971) S. 72f., Fußnote 21. Vanberg bezeichnet v. Hayek daher auch als Fortführer der A/engerschen Tradition oder genauer: der individualistisch-evolutorischen Konzeption Vgl. Vanberg, Viktor (1983) S. 60fF. 33 Zur Gegenüberstellung der evolutionären, liberalen, antikonstruktivistischen Weltanschauung und der geistigen Haltung des konstruktivistischen Sozialismus vgl. ausführlich Radnitzky, Gerard (1991) S. 139ff.

33

II. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung

Π. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung nach v. Hayek Da über Selektionsprozesse von Regelsystemen keine Aufzeichnungen existieren, weil sich die Geschichtswissenschaft eher mit großen Taten einzelner Persönlichkeiten und Ereignissen statt mit synergetischen Gesellschaftsprozessen beschäftigt, kann nur gemutmaßt werden, wie sich Regelsysteme entwickelten. Diese Art der (geschichtlichen) Betrachtung kann man daher auch als "conjectural history" bezeichnen35 - eine Theorie darüber, wie sich Dinge in der Vergangenheit abgespielt haben könnten. Diese Vorgehensweise ist nicht identisch mit der des rational-choice-Ansatzes in der Ökonomie36, wo Modelle zur Erklärung der Realität konstruiert werden, bei denen unterstellt wird, daß das einzelne Individuum Informations- und Entscheidungskosten perfekt kalkuliert, unabhängig davon, wie der Prozeß der Wahlhandlung tatsächlich aussieht. Im Sinne der conjectural history wäre zur Beschreibung von menschlichen Wahlakten daher eher eine Anspruchsanpassungstheorie wie die von Herbert Simon37 geeignet als der rational-choice-Ansatz38. Es geht also im folgenden Abschnitt darum, den Prozeß der Entwicklung von Regeln mit Hilfe v. Hayeks evolutorischer Theorie nachzuzeichnen, und zwar so, wie er stattgefunden haben könnte. Hieibei steht die Erklärung des Prinzips39 der Selektion von Regeln im Vordergrund, nicht jedoch eine konkrete geschichtliche Betrachtung.

34 Auf v. Hayeks Arbeiten zur biologischen Evolution als erkenntnistheoretische Grundlage wird hierbei nicht eingegangen, da dies den Rahmen sprengen würde. Vgl. zu dieser Thematik v. Hayek, Friedrich Α. (1952) und (1982) S. 287ff. Eine Aufarbeitung der erkenntnistheoretischen Grundlagen v. Hayeks einschließlich Vergleichen mit den verwandten Positionen Karl Poppers und Konrad Lorenz' bietet Bouillon, Hardy (1991). 35

Diese Bezeichnung geht auf David Hume zurück. Vgl. v. Hayek, Friedrich

36

Vgl. hierzu beispielsweise Becker, Gary S. (1982) und Vanberg, Viktor

37

Vgl. Simon, Herbert (1957), insbesondere S. 241ff.

Α. (1988) S. 69f. (1988a) S. 15 Iff.

38

Es sollte hier nicht der Eindruck entstehen, daß Modelle mit unrealistischen Annahmen per se als l'art pour l'art abgestempelt werden können. Vgl. hierzu Grossekettler, Heinz (1977) S. I f f ; Arni, Jean-Louis (1989); Tietzel, Manfred (\9S\) S. 115ff. und Wessling, Ewald {1991) S. 8f. 39 Vgl. zu dieser Art Erklärungen v. Hayek, Friedrich (1978).

3 Leschke

A. (1972) S. 25ff. sowie Graf, Hans-Georg

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

34

7. Von der Stammesgemeinschaft zur Großgesellschaft v. Hayeks grundlegende Erkenntnis im Zusammenhang mit der Evolution von Regeln ist, daß die M... kulturelle Entwicklung das Ergebnis eines Prozesses ist, in dem sich Kultur und Vernunft in ständiger Wechselwirkung entfaltet haben. H4 ° So hat der Mensch niemals in einem regellosen Urzustand gelebt, wo es einen Krieg aller gegen alle gab41. "The primitive individualism described by Thomas Hobbes is hence a myth."42 Im kulturellen Entwicklungsprozeß lebte der Mensch etwa 3 bis 4 Millionen Jahre in Horden und Gruppen43; die seßhafte Landwirtschaft besteht dagegen erst seit etwa 10.000 Jahren. Die Gruppen von Sammlern und Jägern waren 15 bis 40 Personen stark und wechselten immer den Ort, sobald sich der Subsistenzmittelfonds, d.h. der Tier- oder Pflanzenbestand, der zur Ernährung notwendig war, in einem Gebiet erschöpft hatte. Die Mitglieder der jeweiligen Gruppen hatten eine ähnliche Wahrnehmung und eine nahezu identische Zielsetzung. Die Organisation der Stammesgemeinschaft war kollektivistisch und konformistisch; die Regeln waren konkreter Natur. Die Ordnung war streng hierarchisch, der einzelne innerhalb der Gruppe hatte kaum einen anerkannten Bereich für eigenes, selbständiges Handeln. Die knappen Güter wurden innerhalb der face-to-face Gemeinschaft, wo jeder jeden kannte, im Verhältnis zum Bedarf verteilt. Letztlich jedoch bestimmte der Anführer, wer wieviel bekam, wobei es unter Knappheitsgesichtspunkten wohl sinnvoll erschien, härter arbeitenden Mitgliedern der Gemeinschaft mehr Nahrung zukommen zu lassen. Das Leben innerhalb der Gruppe war aber auch auf gegenseitige Hilfe ausgerichtet. Der Mensch wurde schon zum Teil zivilisiert, d.h. aggressive Instinkte wurden unterdrückt und gegen feindliche, andere Ziele verfolgende Gruppen kanalisiert. Ein Verstoß gegen Regeln konnte vielfach Ausschluß aus der Gruppe und damit den fast sicheren Tod bedeuten. Trittbrettfahrerei konnte aufgrund exorbitant hoher Strafen nicht auftreten. Die Regeln innerhalb der Gruppe änderten sich über längere Zeiträume nur unwesentlich. Erst als unter größerem Bevölkerungsdruck und größer werden-

40

v. Hayek, Friedrich

Α. (1979) S. 11.

41

Das läßt sich auch aus Robert Axelrods Untersuchungen zur Evolution der Kooperation ableiten. Vgl. Axelrod, Robert (1987). 42 43

v. Hayek, Friedrich

Α. (1988) S. 12.

Vgl. zum menschlichen Gruppendasein v. Hayek, Friedrich Gerard (1984) S. 13ff. sowie North, Douglass C. (1988) S. 76ff.

A. (1979) S. 19ff.; Radnitzky,

. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung

35

der Knappheit der Übergang von der Jagd zur Landwirtschaft vollzogen wurde, bildete sich exklusives Gemeinschaftseigentum heraus44. Den Prozeß der Änderung von Regeln45 kann man sich nun so vorstellen, daß einzelne Individuen, welche die Achtung der anderen Gemeinschaftsmitglieder vor allem durch Einhaltung von Traditionen erworben hatten, einzelne Regeln in Frage stellten. Der Ausbruchsversuch, der sich nie auf ein ganzes Regelsystem erstreckte, sondern nur auf einen Teil der Regeln, hatte desto größere Aussicht auf Erfolg, je mehr Sozialprestige der Pionier besaß. Bei hohem Sozialprestige konnte der Innovator nämlich damit rechnen, daß entweder die Gruppe seinen Vorschlag akzeptierte oder daß, falls er verbannt würde, ihm genug Leute folgten, um eine neue Gruppe zu bilden. Pioniere waren bei ihren Versuchen, Traditionen zu brechen bzw. neue Regeln einzuführen, (meist) von ihrem eigenen Interesse geleitet. Welche Auswirkungen Regeländerungen insgesamt auf die Gruppe haben würden, konnte vielfach nicht übersehen werden. Der kulturelle Auswahlprozeß von Verhaltensregeln wurde daher H ... durch die wirksame Nützlichkeit für die Gruppe geleitet, die sie praktiziert [hat], wobei Hwirksam H den Beitrag zum Wachstum der Gruppe durch Fortpflanzung und Zustrom von außen bedeutet."46 Obwohl von einzelnen Individuen in ihrem eigenen Interesse initiiert, entschied nicht das, "... was der Mensch am meisten wünschte, sondern was dazu beitrug, die Gruppe, die die Regeln praktizierte, zahlreich und machtvoll zu machen,... darüber, welche Übungen sich verbreiten sollten."47 Bei sich ändernden Umweltbedingungen überlebten also diejenigen Gruppen, die ihre Regeln am schnellsten an neuen Knappheiten ausrichten konnten48. Maßgeblich für die Regelselektion war somit die Gruppenselektion, denn ineffiziente Regelsysteme (im obigen Sinne) gingen entweder mit ganzen Gruppen unter oder verschwanden, indem Gruppen die Regeln erfolgreicherer

44

Exklusives Gemeinschaftseigentum bedeutet, daß einige mögliche Nutzer von der Nutzung des Produktivmittelbestandes ausgeschlossen werden, beispielsweise Mitglieder anderer Stämme. Vgl. North, Douglas C. (1988) S. 85. 45

Vgl. hierzu insbesondere v. Hayek, Friedrich

A. (1979) S. 32 und Radnitzky,

Gerard (1984) S.

15f. 46

v. Hayek, Friedrich

Α. (1979) S. 25.

47

v. Hayek, Friedrich

Α. (1979) S. 25.

48

Ahnlich wird auch innerhalb des Property Rights-Ansatzes argumentiert, wo gesagt wird, daß VerfÜgungsrechte sich Andern, um auftretende externe Effekte zu intemalisieren. Der Prozeß der Rechtsänderung, der hier im Mittelpunkt der Betrachtung steht, wird jedoch beim Property Rights-Ansatz vernachlässigt Es handelt sich bei dem Property Rights-Ansatz also um eine andere Perspektive. Vgl. Demsetz, Harold (1967) S. 347ff. sowie Leschke, Martin (1991) S. 21ff. und die dort angegebene Literatur.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

36

Konkurrenten imitierten. Hierbei war es nicht notwendig, daß die Gruppenmitglieder vollständig begriffen, warum das neue Regelsystem erfolgreicher war als das alte oder das von Konkurrenten. Der Selektionsprozeß ist damit ein Prozeß, der effizientere Ergebnisse hervorbringt (bzw. hervorbrachte) als ein einzelner Mensch in einem Zeitpunkt zu planen imstande (gewesen) wäre, da ihm das nötige Wissen fehlt(e). "Der Geist bringt nicht so sehr Regeln hervor, sondern besteht vielmehr aus Regeln des Handelns, d.h. aus einem Komplex von Regeln, die er nicht gemacht hat, sondern die einfach deshalb jetzt die Handlungen der Individuen leiten, weil sich Handlungen in Übereinstimmung mit ihnen als erfolgreicher erwiesen haben als die der konkurrierenden Individuen oder Gruppen.H49 Die Tatsache, daß der Mensch sich an Regeln hielt (hält), deren Wirkungen er nicht vollständig verstand (versteht), bezeichnet Erich Hoppmann als "Regelrationalität ,f 5°. Unter Zunahme der Bevölkerung und damit der Knappheit bildeten sich durch den evolutionären (Auslese-) Prozeß der Regelentstehung immer abstraktere Regeln heraus, die mehr den einzelnen vor der Gruppe schützten und so die Entfaltung individueller Freiheit ermöglichten - vielfach durch Abschaffung oder Abschwächung von Verboten. Als grundlegende Neuerungen zu nennen sind hier der Tauschhandel mit Mitgliedern anderer Gruppen, Ansprüche auf Privateigentum, Einhaltung von Verträgen, Geldverleihen gegen Zins, Veränderung von Preisen und Wettbewerb unter Handwerkern im gleichen Gewerbe51. Ausbrecher aus bestehenden Regelsystemen wurden so unbeabsichtigt zu Bahnbrechern, die den Grundstein legten für die Entwicklung hin zu einer abstrakten Großgesellschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Rolle der Staaten bei der Evolution abstrakter Regeln und der Entwicklung von Tausch und Handel beurteilt v. Hayek eher skeptisch52. So hebt er hervor, daß in der Geschichte zwar mehr über Staatsmänner und Regierungsentscheidungen des organisierten Staatssektors berichtet wird, die spontane Koordination individueller Anstrengungen jedoch tragende Säule der Entwicklung der Tauschgesellschaft war. Durch machtvolle Regierungen wurden hingegen oftmals fruchtbare spontane Entwicklungen zerstört. Als Beispiel fuhrt v. Hayek u.a. die Geschichte Chinas an, wo totalitäre Regime die chine-

49

v. Hayek, Friedrich

Α. (1980) S. 34.

50

v. Hayek spricht in diesem Zusammenhang vom Menschen als "rule-following animal", Vanberg von einer "Rationality of Rule-following". Vgl. Hoppmann, Erich (1987) S. 38; v. Hayek, Friedrich A. (1975) S. 10; Vanberg, Viktor (1988a) S. 154ff. sowie Zintl, Reinhard{\986) S. 227ff. 51

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1979) S. 22f.

52

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1988) S. 32f. und S. 44f.

II. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung

37

sische Entwicklung hinter die europäische zurückfallen ließen, da kein (privater) Raum für die Entfaltung von Ideen mehr vorhanden war, die sich dann durch einen Auswahlprozeß hätten bewähren können. Europa hingegen machte gerade im Spätmittelalter zur Zeit anarchistischer politischer Zustände außergewöhnlich große wirtschaftliche Fortschritte. Heutzutage bestimmen jedoch auch in freiheitlichen, marktwirtschaftlich orientierten Demokratien staatliche Organe - in Deutschland vorwiegend der Bundestag - durch Gesetzgebimg, was Recht ist. v. Hayek kritisiert bei dieser Art von Gesetzgebung u.a. einen Überhang von öffentlichem Recht und ein immer stärkeres Eingreifen in die marktwirtschaftliche Ordnung zum (kurzfristigen) Wohl einiger und zu (längerfristigen) Lasten der großen Mehrheit. Darüber hinäus hat die Evolution auch sozialistische Wirtschaftssysteme hervorgebracht, welche überwiegend auf konkreten Regeln basieren, die für v. Hayek den "Weg zur Knechtschaft" 53 bedeuten und deren Bekämpfung eine seiner Lebensaufgaben war. Da also die Evolution eine Vielzahl unterschiedlicher Regel- und Ordnungssysteme hervorgebracht hat, ist es notwendig zu wissen, welche Entwicklungen aus evolutionstheoretischer Sicht wünschenswert sind und welche nicht. Das bedeutet, die Frage nach der Bewertungsgrundlage des evolutorischen Ansatzes zu stellen, die im folgenden Abschnitt diskutiert wird.

2. Die Bewertungsgrundlage des evolutorischen Ansatzes: Die Theorie der offenen Gesellschaft Von vor 10.000 Jahren bis heute bildeten sich immer mehr Regeln heraus, die in Verbindung mit freier Preisbildung Marktordnungen schufen, welche die Produktion einer ungeheueren Vielfalt an Produkten ermöglichten. Auf der anderen Seite entwickelten sich auch sozialistische Ordnungen und bestehen (vereinzelt) noch heute. Mithin stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien man die Vielzahl von Ordnungen und Regelsystemen beurteilen soll, welche die Evolution hervorgebracht hat. Nimmt man als Kriterien Wohlstandsindikatoren wie das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts pro Kopf und Jahr oder den technischen Fortschritt in einem bestimmten Zeitraum, so zeigt sich, daß die Realität wenig

53 "Der Weg zur Knechtschaft" ist der Titel eines Grundlagenwerkes von v. Hayek , in dem er dem Sozialismus "den Kampf ansagt". Vgl. v. Hayek, Friedrich Α. (1991).

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

38

Möglichkeiten zur Verifizierung oder Falsifizierung von Hypothesen liefert; denn es gibt hier keine ceteris paribus-Klausel, welche die isolierte Betrachtung von Ursache (Ordnungs- bzw. Regelrahmen) und Wirkung (Wohlstandsindikator) erlaubt. Und schon kleinere Abweichungen in den sonstigen Ausgangsbedingungen verschiedener, betrachteter Staaten können unvorhergesehene Auswirkungen auf makroökonomische Aggregate haben54. Darüber hinaus sind gesamtwirtschaftliche Größen nur Resultate menschlichen Handelns und geben keine Auskunft darüber, inwieweit die Individuen in der Lage sind, ihre eigenen Interessen zu verwirklichen, was ja das Ziel eines Regelrahmens oder einer Ordnung sein soll: Freiheit jedes einzelnen (durch Regeln) beschränken, um erst echte Freiheit für alle (als Abwesenheit von willkürlichem Zwang) zu gewähren; Freiheit, die eigenen Interessen zu verfolgen. Es ist demnach das Regelsystem zu bevorzugen, bei dem es am ehesten möglich ist, daß die mit verschiedenen Fähigkeiten ausgestatteten Individuen ihre unterschiedlichen Ziele unter der Restriktion sich wandelnder Knappheiten erreichen können, v. Hayeks These lautet nun, daß dies in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die weitestgehend auf abstrakten Regeln beruht bzw. beruhen sollte, am ehesten erreichbar ist. Da in der Realität jedoch eine solche Ordnung in reiner Form nicht existiert, führt v. Hayek als Bewertungskriterium für Regelsysteme, welche die Evolution hervorgebracht hat, die Theorie der offenen Gesellschaft 55 an, eine Theorie der Interdependenz von Rechtsordnung und Handelnsordnung56 respektive spontaner Ordnung57. v. Hayeks Argumente dafür, daß eine weitgehend auf abstrakten Regeln beruhende Marktordnung diejenige Art von Ordnung ist, in der die Erwartungen der Individuen die größtmögliche Chance haben, erfüllt zu werden, sind zumeist dynamischer Natur. Bei sich permanent ändernden Umständen (Daten, Knappheiten) kann eine Anpassung der individuellen Pläne an diese Änderungen nur bei einer spontanen Ordnung gelingen; denn hier können aufgrund der (weitgehenden) Freiheit des einzelnen beim Aufstellen seiner 54 Mit derartigen Fragestellungen - kleine Änderungen in den Ausgangsbedingungen können weitreichende, nicht mehr kalkulierbare Konsequenzen nach sich ziehen · befaßt sich u.a. die Chaostheorie. Zur Anwendung dieser Theorie auf ökonomische Fragestellungen siehe Schnabl Hermann (1991) S. 559ff. und die dort angegebene, weiterführende Literatur. 55 Den Begriff "Offene Gesellschaft" übernimmt v. Hayek bisweilen von Karl R. Popper. v. Hayek benutzt die Begriffe "Große Gesellschaft" oder "extended order" synonym Diese Bezeichnungen sollen ausdrücken, daß alle konkreten Tatbestände einer großen freiheitlichen Gesellschaft niemals in ihrer Ganzheit planbar sind; ja nicht einmal erfaßbar, weil durch den indeterministischen Charakter einer abstrakten pluralistischen Ordnung ständig "Neues" entsteht Vgl. Popper, Karl R. (1973a) und (1973b) sowie zum Indeterminismus (1973) S. 230ff. 56 57

Vgl. hierzu den gleichnamigen Aufsatz von v. Hayek, Friedrich

A. (1969i) S. 16Iff.

Die Begriffe "Handelnsordnung", "spontane Ordnung" und "Marktordnung" werden von v. Hayek synonym verwendt

39

II. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung

Pläne, verbunden mit dem Prinzip der negativen Rückkoppelung beim Preissystem - wesentlich mehr Wissen verarbeitet bzw. Informationen aufgenommen werden als ein einzelnes Gehirn oder selbst ein Großrechner zu verarbeiten in der Lage wäre. Wegen des dem Marktsystem innewohnenden Prinzips der negativen Rückkoppelung sind die Preise in der Lage, sich ändernde Knappheiten anzuzeigen. Der einzelne kann damit über Preise Informationen gewinnen, ohne die Fülle von Einzelumständen kennen zu müssen, durch die sie determiniert werden. So hat er die Möglichkeit, Erwartungen und Pläne zu korrigieren oder neu aufzustellen. Zwar werden durch dieses Prinzip immer einige Erwartungen enttäuscht, aber es bilden sich demgegenüber stets auch neue Chancen. Dadurch, daß diese Gelegenheiten im Zeitablauf meist von vielen entdeckt werden, entstehen Wettbeweibsprozesse, die tendenziell dafür sorgen, daß ein Gut am Markt H ... zu Kosten erzeugt wird, die geringer sind als die, zu denen es von irgendjemand erzeugt werden könnte, der tatsächlich das betreffende Gut [...] nicht erzeugt, und daß Marktgüter "... auch zu Preisen verkauft werden, die nicht notwendig die geringsten sind, zu denen sie auf die Dauer verkauft werden könnten, aber doch geringer als oder mindestens ebenso gering wie die, zu denen irgend jemand anderer sie verkaufen könnte."59 Um sich dem Konkurrenzdruck des Wettbewerbs zu entziehen, ist der einzelne Marktteilnehmer ständig auf der Suche nach besseren Gelegenheiten, und die Resultate sämtlicher Einzelhandlungen manifestieren sich in dem Informationsträger Preis60, v. Hayek bezeichnet den Wettbeweib daher auch als Entdeckungsverfahren 61. Er steht mit seinem Wettbeweibsbegriflf in einer dynamischen Tradition, die u.a. auf Adam Smith (unsichtbare Hand) zurückgeht62 und besonders von Erich Hoppmann und Jochen Röpke weiterentwickelt wurde und wird 63. Ähnlichkeiten weisen auch die Positionen von

58

v. Hayek, Friedrich

59

v. Hayek Friedrich

A. (1969i) S. 168. A. (1969i) S. 168.

60

Voraussetzung ist allerdings, daß "wettbewerbsunfreundliche" Verhaltensweisen (wie z.B. Kartellbildung, Oligopolabsprachen) unterbleiben bzw. der Regelrahmen so gestaltet ist, daß sie gar nicht auftreten können. 61 Vgl. hierzu v. Hayek Friedrich Wegner (1989) S. 183ff.

A. (1969m) S. 249ff. sowie Streit,

Manfred E. / Gerhard

62 "Der einzelne vermag ganz offensichtlich aus seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse weit besser zu beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann, welcher Erwerbszweig im Lande für den Einsatz seines Kapitals geeignet ist und welcher einen Ertrag abwirft, der den höchsten Wertzuwachs verspricht... Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zufördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat" Smith, Adam (1974) S. 371. 63

Vgl. Hoppmann, Erich (1980) und (1988) sowie Röpke, Jochen (1977) und (1980).

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

40

Joseph A. Schumpeter (Prozeß der schöpferischen Zerstörung) und Israel Kirzner (der Unternehmer als Arbitrageur) auf 64. Als Marktgleichgewicht65 bezeichnet v. Hayek einen Zustand, in dem alle bestehenden Erwartungen erfüllt sind66, d.h. die Pläne verschiedener Individuen verträglich sind. Dieser Gleichgewichtszustand stellt den Idealfall einer spontanen Marktordnung dar, der - obschon er in Wirklichkeit nie besteht vieler Grade der Annäherung fähig ist67, so daß die meisten Pläne gute Aussicht haben, durchgeführt zu werden. Geht man von turbulenter Umwelt68, von großer Instabilität der Daten, von sich schnell ändernden Knappheiten aus, so erschwert dies die gegenseitige Anpassung der Pläne; jedoch würde in einem solchen Fall eine konkrete Ordnimg, die auf zentraler Planung beruht, viel eher versagen. Der Grund dafür liegt darin, daß eine konkrete Ordnung, die auf Entscheidungen einer zentralen Instanz beruht, allein viel länger braucht, die Fülle von permanenten Datenänderungen zu verarbeiten, wenn dies dort überhaupt möglich ist69. Eine spontane Marktordnung hingegen beruht auf abstrakten Regeln. Diese schränken das Handeln der Individuen nur insoweit ein, als daß unerwünschte spill-overs als Auswirkungen des wechselseitigen Handelns ausbleiben sollen70. Dadurch besteht für den einzelnen innerhalb dieser Schranken die Möglichkeit zur freien Aufstellung von Plänen und zur freien Entscheidung. Die Aktionen oder Reaktionen auf Datenänderungen bewirken nun ihrerseits Preisänderungen, die wiederum als Informationsinput 71 die Erwartungen anderer beeinflussen und zum Aufstellen neuer oder Abändern alter Pläne führen. Damit ist das Marktsystem bisher das einzige Koordinationssystem, welches dem einzelnen selbstinteressierten Individuum bei sich ändernden Daten bzw. Knappheiten erlaubt, seine Ziele weitgehend zu verfolgen und zu befriedigen. Die (Entscheidungs-) Freiheit des einzelnen - garantiert durch abstrakte Regeln - verbunden mit dem Prinzip der negativen Rückkoppelung 64

Vgl .Schumpeter, Joseph A. (1950) S. 134ff. sowie Kirzner, Israeli1978).

65

Zum Gleichgewichtsgedanken bei v. Hayek vgl. neben v. Hayek, Friedrich auch Windsperger, Josef(1983) S. 232ff. und Loy, Claudia (1988) S. 86ff.

A. (1976b) S. 52ff.

66

Dies bedeutet, daß die subjektive Sicht der Dinge mit den objektiven Tatsachen übereinstimmt

67

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1976e) S. 122ff.

68

Zur Frage, wie das Marktsystem bei Umweltturbulenzen arbeitet vgl. insbesondere Röpke, Jochen (1977) S. 35 Iff. 69

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1969i) S. 167.

70

Man kann das auch so ausdrücken "..., daß diese Rechtssätze dazu dienen, die Privatsphäre jedes einzelnen abzugrenzen und diese Sphäre gegen alle, auch den Staat, zu schützen.** v. Hayek, Friedrich A. (1969b) S. 49. 71

Dies ist die Frage der Wissensverwertung innerhalb einer Marktordnung. Vgl. hierzu v. Hayek, Friedrich A. (1976d) S. 103ff. sowie Wegner, Gerhard (1990).

II. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung

41

durch das Preissystem sind unabdingbare Voraussetzungen dafür. Dadurch, daß Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Wünschen durch abstrakte Regeln weitgehend gleich geschützt bzw. behandelt werden, wird erst eine effiziente Nutzung des über die Gesellschaft verstreuten Wissens in einer Marktordnung möglich. Jedoch gesteht auch v. Hayek ein, daß es gewisse öffentliche Güter gibt, die der Markt nicht oder nur ineffizient bereitstellen kann und deren Bereitstellung deshalb der Staat übernehmen sollte72. Er nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise die Gewährung innerer und äußerer Sicherheit, allgemeine Schulerziehung, Schutz der Privatsphäre sowie Schutz vor Epidemien und Naturgewalten. Ebenso gehören für ihn dazu die Entwicklung einheitlicher Maße und Normen, die Bereitstellung statistischer und anderer allgemeiner Informationen sowie Sozialleistungen für diejenigen, die im Markt (zeitweise) nicht überleben können. Gegen die unglückliche Ehe von Notenbank und Regierung stellte er seinen provokativen Plan zum Währungswettbeweib73. v. Hayek hätte sich jedoch auch mit einer von der Regierung unabhängigen Notenbank, die auf das Ziel Preisniveaustabilität verpflichtet ist, anfreunden können. Auch gesteht er zu, daß gewachsenes Recht bisweilen durch Gesetzgebung korrigiert werden muß; genau dann nämlich, wenn erkannt wird M ..., daß einige bisher anerkannte Regeln im Lichte allgemeiner Prinzipien der Gerechtigkeit ungerecht sind."74 Bei der Formulierung von Regeln durch die Gesetzgebung ist allerdings zu beachten, daß nur allgemeine, abstrakte Regeln erlassen werden, die die Freiräume der Individuen nur so weit wie nötig einschränken. Nur wenn durch Regeln geschützte Bereiche für den einzelnen bestehen, kann sich eine spontane Ordnung bilden, deren Ergebnisse durch den Preismechanismus und die Ausgestaltung des Rechts zum Wohl der Allgemeinheit gelenkt werden (sollen), v. Hayek bezeichnet daher allgemeine Regeln, die der spontanen Ordnung und damit dem Allgemeinwohl dienen, als "Regeln gerechten Verhaltens"75 und die Marktordnung als "Katallaxie", wobei das griechische Wort "katallatein" (bzw. "katallassein") neben "austauschen" zweierlei bedeutet: Einmal "jemanden in die Gemeinschaft aufnehmen" und zum zweiten "aus einem Feind einen Freund machen"76. 72

Vgl. im folgenden v. Hayek, Friedrich

73

Vgl. v. Hayek Friedrich

74

v. Hayek Friedrich

A. (1981a) S. 67ff.

A. (1977a).

Α. (1980) S. 125.

75

"Regeln des gerechten Verhaltens sind also nicht vom >Willen< oder >Interesse< oder irgendeinem ähnlichen Abzielen auf bestimmte Resultate bestimmt, sondern entwickeln sich durch eine beharrliche Anstrengung (Ulpians »constans et perpetua voluntas«), Konsistenz in ein System von Regeln zu bringen, das jede Generation erbt" v. Hayek, Friedrich Α. (1981) S. 63. 76

Vgl. v. Hayek Friedrich

Α. (1981) S. 150f.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

42

Damit gesteht v. Hayek auch dem öffentlichen Sektor Aufgaben zu. Dennoch blieb bisher die Frage offen, warum heute alle Staaten ausnahmslos permanent in Marktsysteme eingreifen - und dies mit sehr konkreten Regeln und warum darüber hinaus immer noch Staaten mit sozialistischen, konkreten Ordnungssystemen existieren. Gründe, warum sich kommunistische Staaten solange neben marktwirtschaftlich orientierten halten konnten (z.B. die ehemalige UdSSR, China, Kuba etc.), sind zum einen darin zu sehen, daß die Machthaber dieser Staaten, die Funktionärsriege, ihre Macht und ihre Vorteile auch durch Einsatz des Militärs zu verteidigen bereit sind und waren (China 1989). Darüber hinaus verhäng(t)en sie Ausreiseveibote, die ein Auswandern fähiger Köpfe zumindest in den Kapitalismus verhinder(te)n. Druck auf die Regierung und eine mögliche Selektion von Regeln werden auf diese Weise im Vorfeld verhindert 77. In einer Zeit, wo zwar Theorien sterben (selektiert werden) können, ihre Träger oder Anhänger jedoch (meistens) nicht78, stagnieren alte Verhältnisse, wenn diejenigen, die (fast) alle Vorteile genießen auch das Macht- oder Sanktionspotential innehaben. Auf der anderen Seite spielen aber auch ökonomische Gründe eine wichtige Rolle. Besteht eine kommunistische Planwirtschaft nämlich über längere Zeit, so ist eine Transformation in eine Marktwirtschaft meist mit sehr hohen Kosten verbunden. So steigen bei Freigabe von Preisen diese - vor allem bei (ehemals) subventionierten Verbrauchsgütern - meist stärker als die Einkommen, und es kann bei ökonomischer Öffnung des Landes zum Weltmarkt zu einer Entwertung des Kapitalstocks kommen, was dann auch mit Arbeitslosigkeit verbunden wäre. Weiterhin kann die Fähigkeit zur Eigeninitiative verlernt worden sein, so daß eine wichtige Voraussetzung für Wettbewerbsprozesse erst gar nicht gegeben ist79. Daher kann der Prozeß der Systemtransformation durch mögliche kurz- bis mittelfristige Situationsverschlechterungen gefährdet werden; vor allem weil meist die breite Masse, die vorher schon darbte, beim Übergang wieder die größten Nachteile erdulden muß und deshalb zu mittelfristigen Opfern zugunsten möglicher Situationsverbesserungen in der (fernen) Zukunft oft wenig Bereitschaft zeigt. Vertrauen in die Politiker und damit in den Prozeß der

77

Vgl. Radnitzky,

Gerard (1984) S. 28f.

78

Oder - wie Karl R. Popper es formuliert: "Jetzt können wir unsere Theorien an unserer Statt f&r uns sterben lassen." Popper, KarlR. (1989) S. 40. 79 Vgl. zu solchen "Mühen beim Umsteigen" beispielsweise die Situation in der ehemaligen DDR, dargestellt von Borchert, Manfred (1993) sowie Schumann, Jochen (1991a). Da die Probleme beim Obergang von der Plan- zur Marktwirtschaft trotz "Bruderhilfe" bei der ehemaligen DDR schon beträchtlich sind, kann man sich vorstellen, daß eine Ähnliche Transformation bei Staaten wie China oder der UdSSR mit weitaus größeren Schwierigkeiten verbunden sein muß; auch, weil Hilfe von außen in Anbetracht der Größe dieser Länder nur ein "Tropfen auf den heißen Stein" sein kann.

II. Der evolutorische Prozeß der Regelentstehung

43

Transformation ist somit eine der wichtigsten Voraussetzungen bei Systemtransformationen 80. Auf die Frage, warum selbst demokratische, marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaften oft unter dem Etikett der sozialen Gerechtigkeit in das Marktsystem eingreifen - wie u.a. in Deutschland bei Dauersubventionen für die Strukturerhaltung bei Kohle, Stahl, der Werftindustrie oder der Landwirtschaft, die Kosten für die Allgemeinheit bedeuten81 -, nennt v. Hayek vor allem zwei Gründe: Zum einen argumentiert er, daß in heutigen Marktwirtschaften immer mehr Menschen in großen Organisationen tätig sind, deren Regeln konkreter Natur sind. Dadurch wird immer mehr Leuten die Funktionsweise allgemeiner Regeln und des Marktsystems fremd 82, und die unterdrückten Urinstinkte der konkreten Stammesgemeinschaft treten wieder an die Oberfläche. Statt sich den Knappheiten anzeigenden Signalen und Resultaten des Marktes zu beugen, wird immer wieder die Forderung nach einer organisierten Macht laut, die für eine gerechte Verteilung sorgen solle83 - wie immer dies ohne Willkürentscheidungen möglich sein möge. Der zweite Grund für unerwünschte, kurzsichtige Eingriffe in das Marktsystem wurzeln nach v. Hayek im cartesischen, naiven Rationalismus. Aus dem konstruktivistischen Denken entsprang die Ansicht, daß eine durch Mehrheit gewählte Legislative weitgehend unbeschränkt schalten und walten müsse. Das Druckmittel der Wahl bzw. Abwahl führt nun aber dazu, daß zwecks Stimmenfangs vorwiegend Gesetze erlassen werden, die die Ziele organisierter Gruppen mehr unterstützen als das Allgemeinwohl84. Ein Beleg dafür ist heutzutage außerdem der deutliche Überhang an öffentlichem Recht (oder anderer Spezialregelungen), der die spontane Ordnung langsam in eine konkrete Ordnung verwandelt85. So fordern führende Ökonomen westlicher Industrienationen fast ständig die Deregulierung verschiedenster Bereiche (Arbeits-, Verkehrs- Finanzmarkt etc.)86.

80

Zu Problemen der Systemtransformation von ehemals sozialistischen Wirtschaftssystemen siehe Hartwig, Karl-Hans/H. Jörg Thieme (Hrsg.) (1991). 81 Da unter Knappheit die gebundenen Mittel immer in eine bessere Verwendung gelenkt werden könnten. 82 Oder anders akzentuiert: So wird die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mehrheit von Gesellschaftsmitgliedern den Marktmechanismus jemals versteht, noch geringer. 83

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1979) S. 29ff.

84

Vgl. zum Verhalten der Teilnehmer am politischen Kräftefeld grundlegend Downs, Anthony (1968). 85

Vgl. v. Hayek, Friedrich

86

Vgl. Soltwedel et al. (1986).

A. (1981a) S. 135ff.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

44

Trotz v. Hayeks Kampf gegen die zuletzt vorgetragenen Gründe, aufgrund derer Eingriffe in Marktwirtschaften erfolgen, existieren von den meisten Ökonomen anerkannte Motive für Eingriffe in Marktsysteme, deren Problematik v. Hayek nicht oder fast nicht behandelt. Zu nennen sind hier das Problem der externen Effekte oder die Problematik des Gefangenendilemmas, auf die u.a. im nächsten Abschnitt eingegangen wird.

HL Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz Kritische Äußerungen zum evolutionären Ansatz von v. Hayek betreffen vor allem - das Problem der Gruppenselektion - hier wird v. Hayek eine holistische, antiindividualistische Sichtweise vorgeworfen, - das Problem Unsichtbarer-Hand-Erklärungen in Verbindung mit dem Gefangenendilemma - hier wird bemängelt, daß v. Hayek nicht deutlich hervorhebt, welche Art von Regeln im Sinne eines individualistischen Ansatzes sich spontan herausbilden kann und welche nicht, - das Problem des Evolutionsoptimismus bei v. Hayek - hier steht der Vorwurf im Vordergrund, evolutorische Selektionsprozesse von Regeln könnten zwar zu für die Individuen wünschenswerten Ergebnissen, aber auch zu unerwünschten Zuständen fuhren - wobei v. Hayek den ersten Aspekt überbetone. Wie sich die Kritik begründet und ob die kritischen Argumente haltbar sind, bedarf einer genaueren Analyse, die in den nächsten Abschnitten erfolgt.

1. Das Problem der Regelselektion durch Gruppenselektion Bei seinem Argument, daß in der Zeit, als der Mensch noch in Gruppen lebte, sich besonders die Regelsysteme herauskristallisierten, die unter sich ändernden Umweltbedingungen am ehesten das Überleben der Gruppe ermöglichten, wird v. Hayek von Viktor Vanberg eine holistische, funktionale Sichtweise vorgeworfen 87. Da er sich mit seiner Argumentation auf die Gruppe

87

Vgl. zu den folgenden Erörterungen Vanberg, Viktor

(1986) S. 81ff.

III. Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz

45

als Ganzheit und nicht auf die einzelnen Individuen beziehe - so der Vorwurf Vanbergs -, sei diese Art theoretischer Betrachtung nicht mit seinem individualistischen Theorieanspruch vereinbar. Viktor Vanberg unterscheidet selbst zwei denkbare Fälle der Selektion von Regeln durch die Gruppe. Zum einen sieht er die Möglichkeit, daß Vorteile fur die Gruppe, die aus innovativen Handlungen einzelner hervorgehen, von den übrigen Gruppenmitgliedern (oder einigen) erkannt werden und sodann als Regeln implementiert werden. Auf der anderen Seite nennt er den denkbaren Fall, daß Regelmäßigkeiten von der Gruppe übernommen werden, die zwar zu Vorteilen für die Gemeinschaft führen, in der aber die Gruppenmitglieder nicht vollständig verstehen, wodurch genau die Vorteile entstehen, v. Hayek betont besonders den zweiten Fall; die erste Möglichkeit der Entstehung neuer Regeln stellt eher eine bewußte, auf einer Art politischem Prozeß fußende Anordnung dar als eine evolutionäre Entwicklung. Des weiteren wirft Vanberg v. Hayek vor, er beachte nicht das "free-rider-Problem" innerhalb der Gruppe - die Möglichkeit an den Vorteilen der Gruppe zu partizipieren, ohne die Kosten der Produktion mitzutragen. Zu den vorgetragenen Einwänden läßt sich sagen, daß v. Hayeks Theorie der Gruppenselektion eine "theory of conjectural history" ist, eine positive Theorie der Selektion von Regeln zu einer Zeit, als der Mensch in Horden lebte. Da die Gruppe kollektivistisch strukturiert war und primär ein Ziel - das Überleben verfolgte, ist es statthaft, von Gruppenvorteilen zu sprechen. Auch konnte wie oben schon erwähnt - ein free-rider-Problem nicht auftreten, da die Kosten der Trittbrettfahrerei exorbitant hoch waren (nämlich ein möglicher Gruppenausschluß mit voraussichtlicher Todesfolge) und die Chance, als Trittbrettfahrer nicht entdeckt zu werden, in einer derartigen face-to-face-Gemeinschaft nahezu null betrug, v. Hayek möchte mit seiner Theorie der Gruppenselektion lediglich betonen, daß sich fur Gruppen vorteilhafte Regelsysteme herauskristallisierten, auch wenn von den Gruppenmitgliedern nicht vollständig verstanden wurde, wie ein Regelsystem im einzelnen arbeitete. Daher wurden auch immer wieder bestimmte Verhaltensgewohnheiten durch Aberglaube oder Religion legitimiert. Andere Problematiken der Emergenz von Normen ergeben sich, wenn man die Stammesgemeinschaft verläßt und sich der offenen Gesellschaft zuwendet88.

88 Neben Viktor Vanberg Obersehen auch andere Autoren, die sich mit Aspekten des v. Hayekschen Werkes beschäftigen, daß dieser das Kriterium der Gruppenselektion als Qualitätsmaßstab für Regel-

46

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

2. Das Problem der Unsichtbare-Hand-Erklärung in Verbindung mit dem Gefangenendilemma Die Regelsysteme, auf denen offene Großgesellschaften heute beruhen, sind äußerst komplexer Natur. Viktor Vanberg wendet gegen v. Hayeks evolutionäre Theorie diesbezüglich ein, daß nur einige Arten von Regeln Eigenschaften besitzen, die ihre spontane Entstehung überhaupt theoretisch möglich machen, andere dagegen nicht89. Er nennt als Beispiel das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr, das sich weitgehend durchgesetzt hat. Eine solche Regel erlangt dadurch Vorteile, daß immer mehr bzw. alle Menschen sie befolgen, d.h. ihr wohnt bei wachsender Befolgung eine positive Rückkoppelung inne; ein Verstoß bedeutet vor allem Nachteile für den Regelübertreter 90. Solche Arten von Regeln wachsen oder verbreiten sich bei nutzenmaximierendem Verhalten der Individuen wie durch eine "Unsichtbare HandH geplant91. Abstrakte Regeln haben jedoch meist die Eigenschaft von Verboten, z.B. das Verbot, die Umwelt über eine gewisse Toleranzgrenze hinaus zu verschmutzen. Diese Art von Regeln versetzt ein Individuum in ein sogenanntes Gefangenendilemma: Verstößt z.B. ein Unternehmer einseitig gegen eine Umweltschutznorm, so bringt ihm das Vorteile; denn er spart Kosten und die Umwelt leidet nicht stark, sofern er der einzige Verschmutzer ist. Verhalten sich jedoch alle Unternehmer so, führt dieses Verhalten zu Nachteilen für alle in Form sehr hoher Umweltbelastungen. Die ungünstigste Situation ergibt sich jedoch, wenn ein Unternehmer gemäß der Norm relativ sauber produziert, alle anderen jedoch nicht; hier trägt er als einziger Kosten zur Vermeidung allzu starker Umweltschäden, was wenig nützt, wenn alle anderen verschmutzen

systeme nur für die geschlossene Gesellschaft gebraucht, nicht jedoch für die offene Gesellschaft, die spontane Ordnungen ermöglicht Hier ist die Referenznorm die Theorie der offenen Gesellschaft oder anders ausgedrückt: die Interdependenz von Rechts- und Handelnsordnung. Beispiele für ein Mißverstehen der v. Hayekschen Argumentation in diesem Punkt liefern Witt, Ulrich (1989) S. 144ff.; Prisching, Manfred (1989) S. 76ff, Voigt, Stefan (1991) S. 95ff. sowie Bouillon, Hardy (1991) S. 42ff. 89

Vgl. zu dieser Problematik Vanberg, Viktor (1984) S. 130ff. und (1986) S. 85ff; Vanberg, Viktor / James M. Buchanan (1988) S. 143ff ; Sugden, Robert (1989) S. 85ff. sowie grundlegend Ullmann-Margalit, Edna (1977) S. 18ff. und (1978) S. 264ff. 90 Genauso ist es vorteilhaft, wenn alle in der gleichen Art und Weise beispielsweise Uhren bauen (12-Stunden-Ziffernblatt, gleicher Uhrzeigersinn), damit die Zeit von allen gleich abgelesen werden kann. Vgl. zu dieser Art positiver Rückkoppelung und zu anderen Beispielen Arthur, Brian (1988) S. 9ff. und (1990) S. 122ff sowie grundlegend für den ökonomischen Bereich Kunz, Harald (1985) S. 62ff. 91 Robert Nozick übertrug dieses Smithsche Bild wohl als erster auf den evolutorischen Erklärungsansatz zur Entstehung von Institutionen. Vgl. Nozick, Robert (1976) S. 3 Iff.

47

III. Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz

und damit auch noch kostengünstiger produzieren können als er. Halten sich alle an die Norm, so entsteht die für die Gemeinschaft beste Situation: keine allzu große Verschmutzung verbunden mit relativ guter Gewinnsituation für den einzelnen Unternehmer. Reduziert man die angeführten Gedankengänge auf eine Gemeinschaft von zwei Unternehmen, so läßt sich das Problem beispielsweise in Form einer Auszahlungsmatrix - so wie in Übersicht 3 - darstellen:

Übersicht 3 Kooperation und Defektion bei Verbotsregeln Unternehmer Β normkonform nicht(Kooperation) normkonform (Defektion) Unternehmer A

normkonform (Kooperation)

5/4

0/6

nichtnormkonform (Defektion)

7/0

1/1

Dabei stellt jeweils die erste Ziffer den Nutzen für Unternehmer A und die zweite Ziffer den Nutzen für Unternehmer Β dar. Das Dilemma für ein Unternehmen läßt sich nun folgendermaßen beschreiben: Wählt z.B. Unternehmen A normkonformes Verhalten, so kann zwar der für alle günstige Zustand erreicht werden, jedoch auch der für Unternehmen A schlechteste Zustand; nämlich dann, wenn sich Unternehmen Β nicht normkonform verhält. Wählt Unternehmen A jedoch nicht-normkonformes Verhalten als die bevorzugte Alternative, so kann zwar das für die Gemeinschaft beste Ergebnis nicht erreicht werden, jedoch vermeidet Unternehmer A das für ihn schlechtest mögliche Ergebnis, und er hat die Chance, den höchsten Nutzen zu erzielen. Wie soll man sich nun angesichts einer solchen Situation verhalten? Bei einmaligem Auftreten einer solchen Situation wird man sowohl als risikoscheuer wie auch alsrisikofreudiger Mensch die Alternative Defektion wählen. Sieht man sich jedoch einem begrenzten Personenkreis gegenüber, bei dem zwischen den einzelnen Akteuren immer wieder eine ähnliche Dilemmasituation auftritt (iterierte Gefangenendilemma-Situation), so besteht die Möglichkeit, sich strategisch zu verhalten. Mithin stellt sich die Frage nach der optimalen Strategie. Beispielsweise könnte man sich zur Regel machen, es erst mit

48

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

Kooperation zu versuchen und bei einem nicht-konformen Verhalten der anderen ebenfalls zur Defektion überzuschwenken, um damit nicht-konformes Verhalten der anderen zu bestrafen. In diesem Zusammenhang hat Robert Axelrod festgestellt, daß "Tit for Tat" eine sehr gute Strategie ist92, um den eigenen Gewinn zu maximieren. "Tit for Tat" bedeutet, daß man mit kooperativem Verhalten beginnt, aber unmittelbar defektiert - also bestraft - wenn der andere seinerseits nicht kooperiert. Mit einer groß angelegten ComputerSimulation hat Axelrod gezeigt, daß unter bestimmten Bedingungen freundliche Strategien, die kooperativ beginnen und augenblicklich bestrafen, erfolgreicher sind als unfreundliche Strategien, die nicht kooperativ beginnen und versuchen, durch Defektion den Kooperationswillen anderer auszubeuten. Das bedeutet, daß unter bestimmten Voraussetzungen durch Reziprozität - also bei einem überschaubaren Kreis von Akteuren, die mit wiederkehrenden Dilemma-Situationen konfrontiert werden - die Chance, daß sich normkonformes Verhalten einspielt und damit eine Norm durchsetzt, groß ist. Viktor Vanberg wendet jedoch zurecht ein, daß mit wachsender Zahl von Mitakteuren und abnehmender Kontinuität von Beziehungen der wechselseitige Einfluß und damit die Möglichkeit nicht-regelkonformes Verhalten mit Sanktionen zu belegen, abnimmt93. Darüber hinaus nimmt auch der Wille zu sanktionieren ab, denn die Entscheidungssituation, entweder nicht-kooperatives Verhalten zu bestrafen oder eben dieses Verhalten zu ignorieren, ist durch ein ebensolches Dilemma gekennzeichnet wie die oben geschilderte GefangenendilemmaSituation "Regelbefolgung" oder "Nicht-Regelbefolgung" 94. Erklären sich alle Akteure bereit, einen Ausreißer zu bestrafen und die Kosten der Bestrafung zu tragen, so wäre dies für alle wünschenswert. Der einzelne schneidet jedoch als Trittbrettfahrer besser ab, wenn er selbst die Kosten der Sanktionierung nicht tragen muß. v. Hayek schenkt diesem Problem so gut wie keine Beachtung, da sich seine evolutionäre Konzeption (nur) gegen eine konstruktivistische Denkhaltung richtet, die davon ausgeht, daß der Mensch alles bewußt erschaffen hat. v. Hayek will nur betonen, daß der Mensch seine Umwelt formt(e), genauso wie er sich von der Umwelt formen läßt (ließ); dabei kann sich hinsichtlich der Regeln bzw. Regeländerungen bisweilen die Situation ergeben (haben), daß Vorteile für die Gemeinschaft bei Regeleinführung in ihrem Ausmaß gar nicht antizipiert werden (wurden), v. Hayek nennt in diesem Zusammenhang das

92 Vgl. Axelrod, Robert (1987) S. 23ff. H Tit for Tat" bedeutet: "Wie Du mir, so ich Dir." (This for That). 93

Vgl. Vanberg, Viktor (19S2) S. 134ff.

94

Vgl. Buchanan, James M. (1984) S. 186ff.

. Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz

49

Aufkommen von Tauschhandel, dessen Expansion möglich wurde vor allem durch Ansprüche auf Privateigentum, Einhaltung von Verträgen, Geldverleihen (gegen Zins), Veränderung von Preisen sowie Wettbeweib unter Handwerkern im gleichen Gewerbe95. Beim ersten Auftreten von Tauschhandel mit einer begrenzten Anzahl bekannter Händler konnte man davon ausgehen, daß entweder das Sanktionspotential durch gegenseitige Kontrolle ausreichte oder daß beim Tausch von Waren Zug um Zug beide Seiten Vorteile hatten, so daß von Normen, die Tausch ermöglichten, ausschließlich positive Effekte ausgingen. Dies funktioniert jedoch nur, wenn Kontinuität in den Beziehungen vorhanden ist, d.h. wenn sich die am Tausch teilnehmenden Händler von zukünftigen Tauschakten weitere Vorteile versprechen und/oder ein Regelverletzer mit ziemlicher Sicherheit bestraft wird; beispielsweise dadurch, daß er von künftigen Tauschakten ausgeschlossen wird. Ist dies nicht der Fall, so besteht immer die Möglichkeit, daß ein Händler beim Treffen mit einem anderen diesem mit Gewalt Hab und Gut abnimmt. Mit diesen Möglichkeiten setzt sich v. Hayek jedoch nicht auseinander, da er immer dann, wenn ein Gefangenendilemma auftauchen kann und Regelverletzungen wahrscheinlich werden, den Staat als Schützer von Recht und Ordnung ins Spiel bringt, der verhindert, daß die angesprochenen Dilemmata-Situationen eine Emergenz von Regeln immöglich machen. Damit sieht v. Hayek den Staat positiv in der Rolle des Rechtsschützers. "Governments strong enough to protect individuals against the violence of their fellows make possible the evolution of an increasing complex order of spontaneous and voluntary cooperation."96 Aber gleichzeitig wendet er gegen starke Regierungen ein: "Sooner or later, however, they tend to abuse that power and to suppress the freedom they had early secured in order to enforce their own presumedly greater wisdom and not to allow 'social institutions to develop in a haphazard manner*..."97 Definiert man auf diese Weise das Gefangenendilemma weg98, so muß dann aber ergänzt werden, wie der Prozeß unter der Annahme eines existierenden Staates aussieht (positive Analyse) bzw. aussehen sollte (normative Analyse). Bevor auf diese Problematik im späteren Verlauf der Arbeit eingegangen wird,

95

Vgl. v. Hayek, Friedrich

96

v. Hayek, Friedrich

Α. (1988) S. 32.

97

v. Hayek, Friedrich

Α. (1988) S. 32.

98

Α. (1979) S. 22f.

Daß v. Hayek dem Gefangenendilemma bei der Evolution von Regeln keine Bedeutung beimißt zeigt auch folgende Äußerung: N Es ist die tatsächliche Befolgung der Regeln, die die Bedingung für die Bildung einer Ordnung der Handlungen ist; ob ihre Befolgung erzwungen werden muß oder wie sie erzwungen wird, ist von sekundärem Interesse. Zweifellos ist die tatsächliche Befolgung einiger Regeln jeder bewußten Erzwingung vorangegangen.** v. Hayek, Friedrich Α. (1980) S. 135. 4 Leschke

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

50

soll noch kurz ein kritischer Einwand gegen v. Hayeks Theorie - nämlich der des HEvolutionsoptimismusH - behandelt werden.

3. Der Vorwurf des Evolutionsoptimismus Besonders Vanberg und Buchanan betonen, daß der v. Hayekschen Argumentation ein Leitgedanke zugrunde liege, der besagt, daß Regeln, die das Resultat spontaner Prozesse sind, zu sozial wünschenswerten Gesamtresultaten führen, da in derartige Prozesse mehr Wissen eingeht, als einer bewußt planenden Instanz zur Verfügung stehen kann. Diese Position bezeichnen sie als Hevolutionistischen Optimismus" und halten dem entgegen, daß spontane Prozesse auch zu für die beteiligten Akteure unerwünschten Resultaten und damit Regeln führen können, die letztlich kaum einer für wünschenswert halten kann99. (Buchanan und Vanberg stellen sich hier wohl solche Regelsysteme vor, die zur Zeit des MManchester-KapitalismusH zur Ausbeutung von Arbeitskraft im Marxschen Sinne und Schaffung eines Proletariats geführt haben.) Darüber hinaus räumen sie zwar ein, daß v. Hayek selbst auch bisweilen betont, daß nicht alle Moralsysteme, die sich im Zeitablauf entwickelt haben, ausschließlich nur wünschenswerte soziale Ergebnisse hervorgebracht haben, aber sie kritisieren die einseitige Betonung vorteilhafter Ergebnisse evolutionärer Prozesse, die sich auch im folgenden Zitat von v. Hayek, welches Vanberg aufgreift, zeigt: H Wir haben keinen Grund, den Mehrheitsentscheidungen jene höhere überpersönliche Weisheit zuzuschreiben, die die Ergebnisse eines spontanen gesellschaftlichen Wachstums in gewissem Sinn besitzen können. ... Wenn wir unter einem 'sozialen Prozeß1 jene schrittweise Entwicklung verstehen, die bessere Lösungen hervorbringt als ein bewußt entworfener Plan, kann die Durchsetzung des Willens der Mehrheit kaum so genannt werden. Denn jener Prozeß unterscheidet sich grundsätzlich von jenem freien Wachstum, aus dem Bräuche und Einrichtungen entstehen, weil sein zwangsmäßiger, monopolistischer und exklusiver Charakter die selbstberichtigenden Kräfte zerstört, die in einer freien Gesellschaft bewirken, daß fehlerhafte Versuche aufgegeben werden und die erfolgreichen sich durchsetzen.*'100 Dagegen wendet Buchanan ein, daß das Kriterium "Entwicklung von Normen durch einen sozialen bzw. spontanen ProzeßH hier normativ eingesetzt

99 Vgl. hierzu Vanberg, Viktor (1981) S. 24ff. und (1983a) S. 77ff ; Buchanan, James M (1977) S. 25ff. sowie Gordon, Scott (1981) S. 476ff. 100

v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 135. Hier zitiert nach Vanberg, Viktor (1981) S. 25f.

III. Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz

51

wird. Das heißt, es wird damit implizit die Meinung vertreten, daß Regeln, die das Resultat spontaner Prozesse sind, immer denjenigen Regeln überlegen sein müssen, die bewußt geplant sind101. Buchanan ist dagegen eher Evolutionspessimist. Er fordert, daß bestehende Regeln auf ihre Effizienz hin geprüft werden müssen und auch effiziente Regelveibesserungen geplant werden können102. Effizienz bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Regeln den empirisch feststellbaren Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder entsprechen müssen. Damit lehnen Buchanan und Vanberg externe Beurteilungskriterien ab und heben hervor, daß mit einer individualistischen Konzeption nur ein internes Bewertungskriterium - nämlich die Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder - vereinbar ist 103 . Gegen diese Kritik ist einzuwenden, daß v. Hayek seine Evolutionstheorie der Emergenz von Regelsystemen nur als erklärendes Prinzip (ex post-orientiert) benutzt und einem konstruktivistischen Erklärungsansatz entgegengestellt. Sein Bewertungskriterium ist - wie oben bereits herausgearbeitet - die Geeignetheit eines Regelsystems als Grundlage für ein marktwirtschaftliches System, da dieses wiederum das beste System ist, um den unterschiedlichen Wünschen der Individuen weitestgehend die Möglichkeit zur Realisierung zu geben, und er hebt hervor, daß abstrakte, allgemeine Regeln, die weitgehend unabhängig von Personen, Ort und Zeit gelten, die geeignetste Grundlage für das Marktsystem sind. Er stellt also auf die Interdependenz von Rechts- und Handelnsordnung ab. Ein internes Bewertungskriterium in dem Sinne, daß die Regeln stets den Wünschen aller Gesellschaftsmitgliedern entsprechen sollen, muß v. Hayek ablehnen, da er davon ausgeht, daß zu keinem Zeitpunkt alle Gesellschaftsmitglieder alle Auswirkungen eines bestehenden Regelsystems überblicken können, also sie gar nicht in der Lage sind - aufgrund der konstitutionellen Unwissenheit -, alle Regeln und ihre Auswirkungen zu beurteilen. Diese als Gegenkritik formulierten Argumente v. Hayeks lassen jedoch zwei Problemkreise offen. Auch wenn das Argument der konstitutionellen Unwissenheit überzeugend klingt, so bleibt zur Bewertung mancher Resultate der Marktwirtschaft und damit bestehender Regeln gar nichts anderes übrig, als auf die Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder zurückzugreifen. So hängt doch wohl die Frage, ob ein externer Effekt als Resultat marktwirtschaftlichen Handelns als maßgeblich störend und damit internalisierungsbedürftig gilt

101 Damit könnte man v. Hayek vorwerfen, daß er einen tautologischen Zirkelschluß produziere: Im Evolutionsprozeß bewähren sich Normen. Normen können als erfolgreiche Normen angesehen werden, wenn sie sich in einem Evolutionsprozeß bewährt haben. Vgl. hierzu Voigt, Stefan (1991) S. 95ff. 102

Vgl. Buchanan, James M. (1977) S. 28ff. und (1981) S. 48.

103

Vgl. Vanberg, Viktor ( 1981) S. 28f. und Buchanan, James M. (1977) S. 127 und 142.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

52

oder nicht, von den Präferenzen betroffener Individuen ab104. Wie jedoch Regeln abgeändert werden sollen, so daß die Auswirkungen externer Effekte gemildert werden und gleichzeitig keine neuen externen Effekte entstehen, könnte in manchen Fällen eine Frage von solcher Komplexität sein, daß die von den externen Effekten betroffenen Akteure mit einer Beantwortung überfordert sind. Es bleibt also die Frage offen: "Wann" soll "wie" auf Präferenzen der Gesellschaflsmitglieder zurückgegriffen werden? Das zweite Problem, was bisher kaum erwähnt wurde, ist die Frage, wie eine Regelentstehung oder Regeländerung vonstatten geht, wenn man eine demokratische Grundordnung unterstellt. Muß man dann alle Regeln, die eine gesetzgebende Instanz erläßt, als geplante Regeln betrachten, oder gibt es noch eine evolutionäre Entwicklung von Regeln innerhalb einer Demokratie? Auf die zweite Frage wird u.a. im nächsten Abschnitt eingegangen, wo die Rolle der Demokratie aus der Sicht von v. Hayek dargestellt wird; Antworten auf das erste Problem lassen sich vor allem in Kapitel E. finden.

IV. Die Rolle von Demokratie und Verfassung aus der Sicht des evolutorischen Liberalismus Bisher wurde zwar schon über die Verfassimg des Marktes diskutiert, d.h. über die abstrakten Regeln, die den Ordnungsrahmen für ein Marktsystem bilden (sollen). Das Wort MVerfassung M stellt in diesem Zusammenhang lediglich ein Synonym für die Bezeichnung MOrdnungsrahmenM dar. Im politischen oder juristischen Sprachgebrauch ist jedoch die Verfassung ein Regelwerk, durch das auf der einen Seite grundlegende Rechte des einzelnen Bürgers festgelegt sind (Grund- und Menschenrechte) und auf der anderen Seite festgeschrieben ist, wie einzelne staatliche Institutionen auszugestalten sind und wie sie gegebenenfalls kontrolliert, gewählt oder verändert werden. In diesem Sinne sind die Verfassungsregeln Organisationsregeln für (wichtige) staatliche bzw. gesellschaftliche Institutionen. Im folgenden wird nun dargelegt, wie v. Hayek als liberaler Evolutionist die Aufgaben von Demokratie und Verfassung beurteilt und wie er sich eine Evolution von Regeln innerhalb einer demokratischen Grundordnung vorstellt.

104

Vgl. hierzu auch Kirchgässner,

Gebhard {1991) S. 221f.

IV. Die Rolle von Demokratie und Verfassung

53

1. v. Hayeks Demokratieanschauung M

Der Liberalismus ist eine Lehre über den zulässigen Inhalt der Gesetze, die Demokratie ist ein Grundsatz über das Verfahren, in dem bestimmt wird, was als Gesetz zu gelten hat."105 Der evolutionäre Liberalismus will also als Leitlinie für die Politik fungieren, d.h. er stellt eine normative Theorie dar, in welcher unter anderem Aufgaben und Ziele des Staates und die Art und Weise ihrer Erreichung dargelegt werden106. Die Demokratie hingegen ist kein Ziel, sondern ein Verfahren oder nach Joseph A. Schumpeter Λ., eine politische Methode, das heißt: eine gewisse Art institutioneller Ordnung, um zu politischen - legislativen und administrativen - Entscheidungen zu gelangen, und daher unfähig, selbst ein Ziel zu sein, unabhängig davon, welche Entscheidungen sie unter gegebenen historischen Verhältnissen hervorbringt. M107 Demokratie in dieser Art begriffen - also nicht als absoluter Wert an sich muß oder kann durch den evolutorischen Liberalismus auf ihre Leistungsfähigkeit hin untersucht werden. v. Hayek selbst nennt drei Hauptargumente, die ein demokratisches Wahlverfahren rechtfertigen 108: 1. Wenn zwischen widerstreitenden Meinungen eine nur letztlich durchgesetzt werden kann und soll, so ist es billiger, Stimmen auszuzählen als Streitigkeiten auszufechten. 2. Demokratie schafft eher Freiheit (und damit Freiraum für Fleiß und Wohlstand) als andere Regierungsformen, da Macht hier weniger leicht mißbraucht werden kann; denn diese kann von denen, die sich ihr unterwerfen, widerrufen werden. 3. In einer Demokratie ist die Sicht der Gesellschaftsmitglieder (des Volkes) gegenüber Problemen nicht etwas Gegebenes, sondern wandelbar. Da in Zeitabständen ein großer Teil der Bevölkerung aktiv an der Meinungsbildung teilnimmt und ein großer Personenkreis bei Wahlen zur Verfügung steht, besteht Fortschritt darin, daß neue Ansichten einiger weniger durch Überzeugung zu Ansichten der Mehrheit werden (können). v. Hayek bewertet das dritte Argument für die Demokratie als das stärkste, denn es beruht auf der evolutorischen Erkenntnis, daß Entscheidungen über

105

v. Hayek, Friedrich

106

Siehe grundlegend zum Liberalismus v. Hayek, Friedrich

107

Schumpeter, Joseph Α. (1950) S. 384.

108

Vgl. zu den folgenden Argumenten v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 125f. A. (1969j) S. 108ff. und (1979a). Α. (1971) S. 131ff.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

54

Dinge, bei denen nicht abgeschätzt werden kann, wer sie am besten versteht, einem Prozeß überlassen werden sollen. In diesem Sinne ist es die Aufgabe eines Politikers in einer Demokratie herauszufinden, was die Ansicht der Mehrheit ist, und nicht neue Ideen in Umlauf zu bringen, die später einmal Mehrheitsmeinungen werden könnten. Denn: "Der mit den unmittelbaren Tagesproblemen befaßte Praktiker hat weder das Interesse noch die Zeit, alle Beziehungen innerhalb der verschiedenen Teile der komplexen Ordnung der Gesellschaft zu untersuchen. Er wählt bloß ... eine politische Lehre oder ein System von Grundsätzen ..., die andere ausgearbeitet und ihm vorgelegt haben.1,109 Dagegen ist es die Aufgabe des Sozialphilosophen oder des Wissenschaftlers allgemein, Probleme und Ziele aufzuzeigen, welche sich noch nicht im Blickfeld der Mehrheit befinden 110. Der Politiker selektiert dann im Sinne der Mehrheit. Als Voraussetzung für diesen Prozeß ist somit "Rede- und Diskussionsfreiheit w grundlegend. Es muß also einen nicht von den Ansichten der Mehrheit beherrschten Bereich geben, wo sich neue Meinungen bilden können. Ist dies nicht der Fall, wird im Gegenteil die Meinung der Mehrheit zur normativen Richtschnur, so führt die Demokratie zu einem Zirkel, der Stagnation bedeutet111. Als weitere Grundvoraussetzung für eine demokratische Ordnung nennt v. Hayek darüber hinaus, daß zwischen (zumindest) weiten Teilen der Gesellschaftsmitglieder eine gemeinsame allgemeine Vorstellung von Gesellschaftsordnung bestehen muß, die eine Übereinstimmung über grundlegende Prinzipien darstellt112. Aus der Sicht der liberalen Lehre wäre hier eine allgemeine Einsicht in die Überlegenheit eines marktwirtschaftlichen Systems zu nennen und damit in die Notwendigkeit des Primats allgemeiner abstrakter Regeln, um ihre Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Oder verdichtet ausgedrückt: Freiheit als oberstes Prinzip 113.

109

V. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 139.

110

Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß der Staatsphilosophie oder Ökonomie auf die politischen Entscheidungen unterstreicht auch Keynes , der selbst ein außergewöhnliches Beispiel dafür ist: "Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen." Keynes, John Maynard (1974) S. 323f. v. Hayek sieht ebenso einen langfristigen Einfluß der Nationalökonomie auf den politischen Sektor: "... auf dem Gebiet der Wirtschafte- und Staatsphilosophie gibt es nur wenige, die von neuen Theorien beeinflußt werden, nachdem sie das 25. oder 30. Lebensjahr überschritten haben, so daß die Ideen, die Beamte oder Politiker und sogar Agitatoren verwenden, gewöhnlich nicht die neusten sind. Aberfrüher oder später sind es die Ideen und nicht die Interessen, die für Wohl oder Obel gefährlich werden. In dieser langen Sicht müssen wir unsere Aufgabe betrachten. Wir müssen uns mit den Meinungen befassen, die sich verbreiten müssen, wenn eine Gesellschaft erhalten oder wiederhergestellt werden soll, nicht mit dem, was im Augenblick durchführbar erscheint" v. Hayek, Friedrich A. (1976j) S. 142f. 111

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 140.

112

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 139.

113

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1980) S. 84ff.

IV. Die Rolle von Demokratie und Verfassung

55

v. Hayek moniert nun jedoch, daß westliche Demokratien weitgehend keine allgemeinen Prinzipien anerkennen, denen sich eine Mehrheit unterordnen muß. Diese Unbeschränktheit, die sich auch in Deutschland darin zeigt, daß dieselben Parteien (und zum Teil Personen) sowohl Träger der Regierung sind als auch die Mehrheit im Parlament bilden, führt - wie schon dargelegt - leicht dazu, daß über die Drohung des Stimmenentzugs von Seiten organisierter Gruppen (Verbänden) nur noch deren artikulierte, kurzfristige Interessen nacheinander Berücksichtigung finden. Dies fuhrt zu einer "Schacherdemokratie" und unter Knappheit zu Zuständen, die im Endeffekt keiner gewollt hat114. Die Frage, die sich also stellt, ist die, wie verfassungsmäßige Beschränkungen der Demokratie arbeiten bzw. arbeiten sollten, damit dem "Schachern" ein Ende bereitet werden kann.

2. Die Rolle verfassungsmäßiger

Beschränkungen

Nach v. Hayek stellt eine Verfassung einen Überbau dar, "... der über einem vorher bestehenden Rechtssystem errichtet worden ist, um die Durchsetzung dieses Rechts zu organisieren." 115 Konkreter ausgedrückt soll also die Verfassung ein Schutz der Freiheit des Volkes gegen sämtlichen willkürlichen Zwang sein - insbesondere von Seiten der Regierungsstellen. Dies soll ermöglicht werden, indem verfassungsmäßig eine Staatsorganisation festgelegt wird, die dafür sorgen soll, daß die Gesetzgebung allgemein anerkannten Prinzipien folgt. In Verfassungen werden also Schutzprinzipien verankert. Verfassungsrecht stellt somit formelles Recht (Organisationsregeln) zum Schutz einer (spontanen) Ordnung dar, die u.a. auf materiellem Recht (allgemeinen, abstrakten Regeln) fußt. Verfassungsrecht ist also nur in der Hinsicht Recht höherer Ordnung, als daß durch übergeordnete Einrichtungen116 wichtige anerkannte Prinzipien geschützt werden (sollen), wobei inhaltlich wichtiger natürlich immer das Schutzobjekt selbst und nicht die Schutzmaßnahme ist 117 . Die wohl bekannteste verfassungsmäßig verankerte Schutzmaßnahme gegen willkürliche Gewalt besteht in der Gewaltenteilung, also der Trennung staatli-

114 Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1981a) S. 23ff. und S. 137ff. v. Hayek geht bei seiner Demokratiekritik implizit immer von Demokratien westeuropäischen Musters aus. 115

v. Hayek, Friedrich

Α. (1981) S. 180f.

116

Dies sind neben den Verfassungsregeln selbst z.B. die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder das Verfassungsgericht 117

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 218f. und (1980) S. 180ff

56

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

cher Gewalt118 in die Bereiche Exekutive, Legislative und Judikative, inklusive der Wahl des Parlaments durch Mehrheitsentscheid in Zeitabständen, wobei die Regierung (als "Cher der Exekutive) vom Parlament gewählt wird. Bei der Implementierung des Prinzips der Gewaltenteilung wurde die Trennung von Legislative und Judikative als besonders wichtig angesehen. Wenn nämlich die gesetzgebende und richterliche Funktion geteilt ist, so kennt das Parlament bei der Aufstellung der Gesetze nicht den tatsächlichen Personenkreis, auf den das Recht angewendet wird, wodurch sichergestellt scheint, daß die Gesetze nicht einzelne privilegieren und daß die Beschlüsse der Legislative vom allgemeinen Wohl geleitet sind. Wären die beiden Funktionen, das Aufstellen und das Anwenden der Gesetze, in derselben Versammlung vereint, so wäre die Gefahr sehr groß, daß es nur noch Sondergesetze für Sonderfälle gäbe, die parteipolitisch geprägt auf Einzelinteressen ausgerichtet wären 119. Der legislativen Versammlung wurde vorwiegend die Aufgabe zugedacht, abstrakte Verhaltensregeln festzulegen 120. Dem Bereich "Lenkung durch (Wirtschafts-) Politik der Regierung" (mit Hilfe öffentlichen Rechts) wurde und wird von den Verfassungstheoretikern wie Verfassungsvätern nur wenig Bedeutung beigemessen. Heute jedoch ist der Charakter moderner Parlamente von den Erfordernissen demokratischer Regierungstätigkeit geprägt, was bedeutet, daß ein immer größer werdender Überhang zu öffentlichem Recht (Maßnahmegesetzen) beobachtet werden kann, der das Primat der Regeln des gerechten Verhaltens in den Hintergrund drängte und drängt 121. Dadurch, daß die (Parteien-) Mehrheit im Parlament die Regierung stellt, flankieren die Abgeordneten die Regierungstätigkeit mit entsprechender Verwaltungsgesetzgebung, anstatt sich mit allgemeiner Gesetzgebimg zu befassen, die der Verbesserung der spontanen Ordnung dient. Ferner hängt die Wiederwahl des Abgeordneten vom konkreten, sichtbaren Erfolg seiner Partei bei der Regierungstätigkeit (respektive der Oppositionsarbeit) ab und nicht von der Güte oder Qualität der allgemeinen Gesetzgebung. Daher spielen für den Abgeordneten die Erfüllung kurzfristiger Interessen organisierter Gruppen eine weitaus größere Rolle als kulturell gewachsene Werte wie Vernunft, Ehrlichkeit und Unparteilichkeit, die für eine

118 Als Begründer dieser modernen Form von Demokratie gelten vor allem Charles de Secondât Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau und John Locke. 119

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1971) S. 218f.

120

In diesem Zusammenhang erwähnt v. Hayek vor allem den Einfluß und die Intention John Lockes. Vgl. v. Hayek, Friedrich Α. (1971) S. 213; (1977) S. 9 und (1980) S. 174. 121

Dies geschieht vor allem unter dem Deckmantel der "Sozialgesetzgebung". Vgl. v. Hayek, Friedrich Α. (1980) S. 188ff.

IV. Die Rolle von Demokratie und Verfassung

57

Gesetzgebung im Sinne der Allgemeinheit wichtig wären122. Durch eine unzureichend beschränkte Legislative, veibunden mit der unglücklichen Verquickung mit der Regierung als leitendem Teil der Exekutive, wird also einer kurzfristigen Interessenerfüllung mehr Bedeutung zugemessen als einer langfristig orientierten Regelrationalität, denn es zeigt sich immer wieder, H... daß alle Menschen in der Verfolgung unmittelbarer Ziele dazu neigen - oder wegen der Begrenztheit des Intellekts fast gezwungen sind -, Verhaltensregeln zu übertreten, die sie nichtsdestoweniger allgemein befolgt sehen wollen.1,123 Damit jedoch der Vorrang allgemeiner Prinzipien nicht verlorengeht, bedarf es wirksamerer Grundsätze in der Verfassung als Leitlinie für die Gesetzgebung als die derzeitige Form der Gewaltenteilung. Die jetzige Aufteilung der Staatsaufgaben "... erzeugt Baibarei, nicht weil wir Barbaren Macht gegeben haben, sondern weil wir die Macht von der Beschränkung durch Regeln befreit haben, wodurch wir Wirkungen erzeugen, die unvermeidlich sind, wer auch immer die Leute sein mögen, denen wir eine solche Macht überantworten." 124 Ob und wie eine Beschränkung der Macht der Regierung bzw. Gesetzgebung erreicht werden kann, ist u.a. Gegenstand des Kapitels E. Jetzt sollen im folgenden erst weitere, verbreitete Verfassungsprinzipien dargestellt werden. Neben der Gewaltenteilung betrachtet v. Hayek noch das Festschreiben einzelner Grundrechte und die Möglichkeit, durch eine föderative Struktur die Macht des Zentralorgans einzudämmen. Beiden Maßnahmen zur Beschränkung der Regierungsmacht räumt er wenig Erfolgschancen ein. Denn zum einen kann jede Aufzählung von Grundrechten oder grundlegenden Freiheiten in einer sich wandelnden Gesellschaft nur unvollständig sein, und darüber hinaus besteht die Gefahr, daß die Grundrechte so mißinterpretiert werden, als wäre bis auf die durch sie geschützten Objekte nichts schutzwürdig123. Damit würden die verbrieften Freiheitsgarantien - entgegen ihrer Intention - zur Gefahr für alle nicht-festgeschriebenen Freiheitswerte. Auch wenn diese Interpretation übertrieben scheint, so liegt es doch auf der Hand, daß die verfassungsmäßige Aufzählung einiger - als besonders schutzwürdig empfundener Grundwerte kein Schutz gegen Willkürgesetzgebung sein kann. v. Hayek befürwortet eine föderative Struktur 126, da dadurch auf der einen Seite mehr Wettbeweib entsteht und auf der anderen Seite eine größere Übereinstimmung

122 Vgl. v. Hayek, Friedrich A. (1981a) S. 133f. und S. 137ff. v. Hayek stimmt hier nicht nur mit den Analysen Mancur Olsons Oberein, sondern beruft sich auch auf sie. Vgl. daher auch Olson , Mancur (Ì96S). 123

v. Hayek, Friedrich

124

v. Hayek Friedrich

125

Vgl. v. Hayek Friedrich

Α. (1971) S. 280f.

126

Vgl. v. Hayek Friedrich

A. (1981a) S. 67ff., S. 182f. und S. 197ff.

Α. (1971) S. 226. A. (1981a) S. 59.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

58

von Nutzern und Zahlern erreicht wird. Er glaubt jedoch, daß eine relativ unbeschränkte Gesetzgebung bzw. Regierung immer Gründe finden kann, Aufgaben selbst zu übernehmen, die nach dem Subsidiaritätsprinzip 127 von lokalen Regierungen übernommen werden könnten oder müßten. Grundlegendes Element fur die Erhaltung einer freiheitlichen Ordnung wäre also nach v. Hayek, die Legislative verfassungsmäßig darauf zu beschränken, allgemeine Gesetze zu erlassen, die einer freiheitlichen spontanen Ordnung dienen und auch die Verwaltung und Regierung, also die Exekutive, unter das Recht stellen128. Damit nimmt v. Hayek die ursprüngliche Intention der Gewaltenteilung - z.B. im Sinne John Lockes129 - wieder auf und richtet seine Kritik gegen die Schaden stiftende Ehe von Parlament und Regierung. Doch selbst wenn es eine beschränkte Gesetzgebung gäbe, so ist bisher doch noch nichts dazu gesagt worden, wie man sich den Prozeß der Regelentstehung innerhalb einer demokratischen Ordnung vorzustellen hat. v. Hayeks Anschauung darüber soll im folgenden dargelegt werden.

3. Die Evolution von Regeln innerhalb einer demokratischen Grundordnung Wenn von einer Evolution von Regeln gesprochen wird, so sind immer allgemeine Regeln des gerechten Verhaltens bzw. deren Weiterentwicklung 127 Nach v. Nell-Breuning (bzw. allgemein nach der katholischen Soziallehre) lassen sich ähnliche Gedanken bereits bis ins Mittelatter zurückverfolgen. Schon Thomas von Aquin und Dante äußerten sich im Sinne dieses Prinzips. - Folgender Ausspruch von Abraham Lincoln aus dem Jahre 1854 umschreibt das Prinzip treffend: T h e legitimate object of government is to do for a community of people whatever they need to have done but cannot do at all, or cannot so well do for themselves in their separate and individual capacities. In all that people can do individually as well for themselves, government ought not to interfere." Hier zitiert nach v. Nell-Breuning, Oswald (1968) S. 88, Fußnote 1. Die heutzutage bekanntesten Ausformulierungen zum Subsidiaritätsprinzip befinden sich in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) Nr. 79 von Papst Pius XI\ "Wie dasjenige, was der einzelne aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und Obergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär, sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." Vgl. darüber hinaus v. Nell-Breuning, Oswald (1968) S. 86ff. und (1985) S. 55ff. sowie Klein, Heribert (1991) S. 13. 128 Um dieses Ziel zu erreichen, stellte v. Hayek ein eigenes Verfassungsmodell auf) das sogenaimte "Zweikammersystem**. In diesem Modell existiert neben der Judikative eine "echte" Legislative, die die Aufgabe hat, durch allgemeine Gesetzgebung den einzelnen und den Leistungsstaat zu binden, und es gibt eine Regierungsversammlung, die für die Bereitstellung kollektiver Leistungen mit Hilfe öffentlichen Rechts zuständig ist Legislative und Regierungsversammlung werden hierbei getrennt gewählt In Kapitel L., Abschnitt I. wird auf dieses Modell ausführlicher eingegangen. 129

Vgl. Locke, John (1967) S. 289ff.

IV. Die Rolle von Demokratie und Verfassung

59

gemeint, und nicht Organisationsregeln, die bestimmten (Einzel- oder Gruppen-) Zwecken dienen und die von der gesetzgebenden Instanz festgelegt werden, um eine bessere Durchführung der Regierungsgeschäfte zu gewährleisten. Wie entwickeln sich jedoch innerhalb einer demokratischen Grundordnung diejenigen abstrakten Regeln, die der Aufrechterhaltung einer spontanen Ordnung dienen? Eine wichtige Rolle spielen bei der Entwicklung dieser Art von Regeln die Rechtsprechung durch den Richter, die Gesetzgebung und der Einfluß von Philosophie und Kultur auf die das Recht weiterentwickelnden Instanzen. Da sich in einer offenen Gesellschaft ständig neue Handlungsmöglichkeiten für die Individuen ergeben und kein Regelrahmen sämtliche, mögliche Verhaltensweisen berücksichtigen kann, ist es die Aufgabe des Richters130, die bewährten Prinzipien des Regelrahmens bei Streitigkeiten zwischen Individuen auf die neue Situation anzuwenden. Er gleicht also divergierende Erwartungen aus, die durch neue Situationen bei den Individuen entstehen können. Hierbei kann es allerdings vorkommen, daß alte Regeln, die neuen Gegebenheiten nicht mehr genügen, abgeändert werden müssen oder eben neue Regeln hinzugefügt werden müssen. Bei dieser schrittweisen Weiterentwicklung des Rechts im Sinne der spontanen Ordnung weist v. Hayek darauf hin, daß die gängige Forderung, ein Rechtsrahmen müsse von Seiten der Gesetzgebung möglichst umfassend schriftlich fixiert werden, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, ein Scheinvorteil sei. Wenn nämlich der Rechtsrahmen möglichst konkret ausformuliert ist, und nur das Gesetzeskraft hat, was in dieser Art von der Gesetzgebung erlassen wird, so kann bei neuen Gegebenheiten nur starr formell Recht gesprochen werden, auch wenn es den allgemein geltenden (kulturell gewachsenen) Ansichten über das, was gerecht ist, in der neuen Situation widerspricht. Materielle Gerechtigkeit tritt dann hinter formelle (Un-)Gerechtigkeit 131. Der Richter hat kaum Handlungsspielraum, die Legislative reagiert erst ex post. ν. Hayek weist hier auf die Vorzüge des HFallrechtsH des "common law" (vor allem im England des 17. und 18. Jahrhunderts) hin, wo der Richter eher dem Geist des Rechts als seinen Buchstaben folgen konnte, indem er Gesetzeslücken unter Berufung auf noch unartikulierte Regeln schließen konnte, selbst wenn bereits artikulierte Regeln eindeutige Antworten zu geben schienen132.

130

Vgl. hierzu v. Hayek, Friedrich

131

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1980) S. 159f.

132

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1980) S. 121.

Α. (1980) S. 157ff.

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

60

Daß dieser Prozeß der Weiterentwicklung von Regeln im Sinne einer spontanen Ordnung erfolgreich verläuft, sieht v. Hayek zwar nicht als sicher, aber als wahrscheinlich an, denn es handelt sich hierbei um einen evolutionären Prozeß der Teilverbesserung des Ganzen durch immanente Kritik M im Sinne H ... eines evolutionären (oder kritischen) im Gegensatz zu einem konstruktivistischen (oder naiven) Rationalismus."133 Dennoch konstatiert v. Hayek auch die Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Rechtsrahmens durch eine Legislative. Aus verschiedenen Gründen bedarf es einer Korrektur des geschilderten Wachstumsprozesses des Rechts134. Zum einen kann dierichterliche graduelle Entwicklung des Rechts zu langsam sein, um eine befriedigende Anpassung an neue Umstände zu gewährleisten. Ein anderer Grund liegt in der Möglichkeit, daß sich eine Richtung der Entwicklung des Rechts in einem bestimmten Gebiet im Lichte neuer Umstände oder Erkenntnisse als falsch erweist135. Da es nicht Aufgabe des Richters ist, eine Entwicklung umzukehren und Erwartungen zu enttäuschen, muß dies die Gesetzgebung übernehmen. Darüber hinaus kann es der Fall sein, daß bei neuen Situationen abgesehen werden kann, daß sich alte Regeln als ungerecht erweisen und daher neue Gesetzesvorhaben durch das Parlament öffentlich verkündet werden müssen, bevor man sie anwendet; denn sonst würden Erwartungen abrupt enttäuscht, und es bestünde auch keine Möglichkeit finden einzelnen, seine Meinung zu äußern. Dieser letzte Grund, der die Rechtssicherheit betont, scheint im Widerspruch zu v. Hayeks positiver Einstellung gegenüber dem "common law" zu stehen. Dies ist jedoch nur ein scheinbarer Widerspruch, da, wenn erst einmal ein System artikulierter Regeln - fußend auf parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren - besteht, dieses System geschriebenen Rechts beibehalten werden muß, tun nicht (unnötig) Erwartungen zu enttäuschen.

133 v. Hayek, Friedrich A. (1980) S. 161. Siehe zum T r i a l ordnungspolitisches Prinzip Starbatty, Joachim (1980) S. 58ff. 134 135

Vgl. hierzu v. Hayek, Friedrich

and Error-Prozeß"

als

Α. (1980) S. 123ff.

Auch hier kommt der "Trial and Error-Prozeß", das Suchen nach gerechten Regeln, zum Ausdruck. Mandeville beschreibt es treffend mit den Worten: "Gesetze werden umgestaltet So schnell, als wie die Tracht veraltet; Was heut als gut und löblich galt, Man übers Jahr Verbrechen schalt Doch grad durch diese Flickarbeit An Recht und Brauch zu jeder Zeit Gar mancher Schaden Heilung fand, Den Klugheit nie vorausgeahnt" {Mandeville, Bernard 1980 S. 85).

IV. Die Rolle von Demokratie und Verfassung

61

Der Grund, warum eine Weiterentwicklung des Rechts (heute) vielfach nicht dem Gedeihen der spontanen Ordnung dient, liegt nach v. Hayek - neben oben geschilderten Gründen der unbeschränkten Staatsmacht - in einer Philosophie und hier vor allem in einer Wirtschaftstheorie, die seit David Hume und Adam Smith wenig für das Verständnis der Bedeutung eines Systems von Regeln beigetragen hat bzw. die Sicht für das Funktionieren eines Regelsystems durch einen konstruktivistischen Utilitarismus (Benthamscher Prägung) versperrt hat136.

4. Gründe fur das Scheitern des demokratischen Ideals Auf einzelne Kritikpunkte v. Hayeks gegenüber bestehenden, weitgehend unbeschränkten demokratischen Grundordnungen ist schon an verschiedenen Stellen dieser Arbeit hingewiesen worden. Die aus seiner Sicht wichtigsten Gründe für das Scheitern des demokratischen Ideals lassen sich folgendermaßen zusammenfassen137: - Bei der Anwendung des Prinzips der Gewaltenteilung wird die wichtige Trennung zwischen Regierung und Parlament übersehen. - Die Philosophie des cartesischen Rationalismus führte zu der konstruktivistischen Denkweise, alle gesellschaftlichen Institutionen seien bewußt gestaltet worden, alle gesellschaftlichen Prozesse seien plan- bzw. lenkbar. - Das Rousseausche (Miß-)Verständnis von Demokratie führte zu der Forderung der unbeschränkten Herrschaft der Meinung der Mehrheit, bezeichnet als Volkssouveränität. - Es hat sich eingebürgert, alle Gesetze, die eine (weitgehend unbeschränkte) Legislative beschließt, als Recht anzusehen; die wichtige Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und allgemeinen Regeln, die der spontanen Ordnung dienen, ist verloren gegangen. - Eine "gefährliche 11 Wirtschaftstheorie (Wohlfahrtstheorie Benthamscher Prägung sowie makroökonomische Theorie nach Keynes) führte zu der Ansicht, gesellschaftliche Verhältnisse seien weitgehend lenk- bzw gestaltbar. Durch die Theorie legitimiert wuchs das Machtpotential demokratisch gewählter Regierungen noch stärker an. - Unter dem Deckmantel der "sozialen GerechtigkeitH fand und findet auf Kosten der Allgemeinheit ein immer stärkeres Eingreifen mit Hilfe öffentlichen Rechts in die spontane Ordnung statt. Um ihre Wiederwahl zu

136

Vgl. v. Hayek Friedrich

Α. (1980) S. 97ff. sowie (1981) S. 34ff.

137

Vgl. v. Hayek, Friedrich

A. (1969j) S. 199ff. und (1977) S. 7ff.

62

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

sichern, muß die (weitgehend imbeschränkte) Regierung (nahezu) allen Ansprüchen organisierter Interessengruppen HgerechtH werden und wird zum Spielball der Gruppeninteressen (Schacherdemokratie). Diese Gefahren für das demokratische Ideal führen dazu, daß immer weniger allgemein anerkannte kulturell gewachsene Prinzipien bei der Gesetzgebimg Beachtung finden, sondern vorwiegend die (sukzessive) Befriedigung von Gruppeninteressen auf Kosten der Allgemeinheit im Mittelpunkt der Politik steht.

V. Positive und normative Elemente der v. Hayekschen Evolutionstheorie Für einen später folgenden Vergleich der Evolutionstheorie mit der Buchananschen Vertragstheorie empfiehlt es sich, an dieser Stelle die Evolutionstheorie noch einmal unter dem Blickwinkel ihrer positiven und normativen Elemente zusammenzufassen. Hierbei werden unter dem Begriff "positive Elemente" Theorieelemente subsumiert, die ausschließlich erklärende Prinzipien enthalten, und unter dem Begriff "normative Elemente" solche Theorieelemente, die Werte setzen bzw. die angeben, was sein soll. Positive Elemente beziehen sich also auf die Durchleuchtung eines Istzustandes unter einer bestimmten Perspektive, normative Elemente auf die Erreichung eines wünschenswerten Sollzustandes. v. Hayeks Evolutionstheorie der Entstehung von Regeln ist auf der einen Seite ex post-orientiert, also eine rein positive Theorie. Sie geht davon aus, daß der Mensch aufgrund seiner konstitutionellen Unwissenheit gar nicht in der Lage sein konnte, ein gesamtes Regelsystem zu entwerfen. Seine begrenzte subjektive Rationalität ließ nur einen allmählichen Selektionsprozeß von Normen zu, die seine Handlungsmöglichkeiten und den Wohlstand für alle nach und nach vergrößerten. Als der Mensch noch in Horden lebte, erfolgte die Entwicklung von Regeln, die einem besseren Überleben der Gruppe dienten, über Gruppenselektion. Nur die Gruppen, die erfolgreiche Regelsysteme (meist unbewußt) kreierten oder imitierten, konnten überleben. Der Weg zur Großgesellschaft wurde - genau wie die Weiterentwicklung von Regelsystemen in der Gruppe - von Pionieren eingeleitet, die einige alte Konventionen brachen und (zusätzlich) neue begründeten. So zeigte sich, daß der Wohlstand für (weitgehend) alle gemehrt werden konnte, indem über die Gruppe hinaus Handel getrieben wurde, private Verträge geschlossen wurden, Ansprüche auf Privateigentum entstanden und schließlich Wettbeweib möglich wurde. Damit wandelten sich die konkreten Regeln der Gruppe immer mehr zu abstrakten Regeln der Großgesellschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Eine

V. Positive und normative Elemente

63

Gefangenendilemma-Situation konnte nicht auftreten, da entweder durch Reziprozität sanktioniert wurde oder der Staat als Sanktionierer in Erscheinung trat. Da sich jedoch nicht nur Marktwirtschaften mit vorwiegend abstrakten Regeln, sondern im Laufe der Zeit auch andere Ordnungen, wie zentrale Planwirtschaften, bildeten, muß die Evolutionstheorie auf der anderen Seite eine Norm enthalten, um entstandene Regeln bzw. Regelsysteme zu bewerten. Dies ist bei v. Hayek die "Theorie der Interdependenz von Rechtsordnung und Handelnsordnung (spontaner Ordnung)". Kern dieser Bewertungsnorm ist v. Hayeks Theorie über die Funktionsweise des Marktsystems, mit der er besonders dynamische Elemente wie die "Nutzung von Wissen" und den "Wettbeweib als Entdeckungsverfahren" hervorhebt. Diese Aufgaben kann eine marktwirtschaftliche Ordnung nur erfüllen, wenn sie auf abstrakten Regeln fußt, die die Freiheit des einzelnen nur soweit wie nötig einschränken. Damit fungiert der evolutionäre Liberalismus als normative Theorie, der angegeben soll, was "gute" Gesetze sind. Darüber hinaus gibt die evolutionäre Theorie Erklärungen, warum sich auch Regeln herausbilden konnten, die nicht ihrer Norm entsprechen138. Vor allem zwei Gründe stehen hier im Vordergrund. Zum einen stand und steht die kurzfristige Erfüllung von Partialinteressen oftmals vor der Erfüllung längerfristiger Interessen der Allgemeinheit. In sozialistischen Ländern sieht (sah) man dies am deutlichsten, da sich dort Machtstrukturen vielfach lange durch Unterdrückung erhalten können (konnten). In Demokratien kann dadurch, daß die Mehrheit des Parlaments in wichtigen Teilen identisch ist mit der Regierung, diese zum Spielball von Gruppeninteressen werden. Zum anderen führt in den Augen v. Hayeks oftmals eine falsche, konstruktivistische theoretische Anschauung oder Philosophie zu der unsinnigen Schlußfolgerung, ein unbeschränkter Souverän müsse alles Recht planen. v. Hayek fordert daher im Sinne einer funktionierenden Marktordnung eine demokratische Grundordnung, in der sich die Legislative auf ihre ursprüngliche Aufgabe zurückbesinnt, Gesetze zu schaffen, die die Form allgemeiner, abstrakter Regeln aufweisen und die auch die Regierung binden, d.h. unter das Recht stellen. Dann kann bei neuen Situationen Recht entstehen, das einer marktwirtschaftlichen Ordnung dient. Hier ist es auch vor allem der Richter, der das Recht langsam, gemäß sich kulturell bildender, allgemeiner Ansichten weiterentwickelt, während die Legislative die Richtung vorgibt. Damit ergibt sich folgende Darstellung des evolutorisch-liberalen Theoriegebäudes nach v. Hayek:

138

Auch diese Analysen gehören zur positiven Theorie.

64

C. Die v. Hayeksche Theorie der Evolution von Regeln

Übersicht 4 Das Theoriegebäude des evolutorischen Liberalismus nach v, Hayek grundlegende Methodik: - methodologischer Individualismus - eingeschränkte Rationalität und Regelrationalität aufgrund konstitutioneller Unwissenheit des Menschen i

i

i

i normative Schlußfolgerungen: Verbesserung demokratischer Grundordnungen im Sinne der ursprünglichen Intention der Gewaltenteilung. Insbesondere Beschränkung der Legislative auf allgemeine Gesetzgebung, so daß Regeln im Sinne einer funktionierenden Handelnsordnung (Referenznorm) verbessert bzw. neu entdeckt werden können

Zur Verbesserung der Theorie der Interdependenz von Rechts- und Handelnsordnung (spontaner Ordnung) hebt v. Hayek lobend die Entwicklung der Property Rights-Schule hervor; er sieht also diese Forschungsrichtung als komplementär an139.

139

Vgl. v. Hayek, Friedrich

Α. (1988) S. 36.

V. Positive und normative Elemente

65

Verwunderlich ist jedoch, daß v. Hayek mit keinem Satz zur vertragstheoretischen Theorie des Ordnungsrahmens nach Buchanan Stellung bezieht, die zu ähnlichen normativen Schlußfolgerungen führt wie sein eigener Entwurf. Ob der vertragstheoretische Ansatz in den Augen v. Hayeks als konstruktivistisch, nicht-konstruktivistisch oder komplementär bzw. substitutiv zu seiner Theorie anzusehen ist, muß noch geklärt werden. Doch vorher soll die vertragstheoretische Variante der Constitutional Economics kurz dargestellt und kritisch untersucht werden.

5 Leschke

D. Die Theorie der Verfassung nach Buchanan In diesem Kapitel des ersten Teils schließt sich die Diskussion der vertragstheoretischen Variante der Constitutional Economics auf der Grundlage der Arbeiten von James McGill Buchanan an. Zuerst wird hierbei - analog zum Kapitel C. - auf grundlegende Elemente der Buchananschen Vertragstheorie und deren Ursprünge eingegangen. Sodann erfolgt eine kurze Darstellung der Buchananschen Vertragstheorie der Verfassung mit anschließender Kritik. Danach wird die Frage erörtert, welchen Beitrag die Vertragstheorie zum Aufbau oder zur Modifizierung einer demokratischen Grundordnung leistet, bevor abschließend eine Ergebniszusammenfassung unter dem Gesichtspunkt positiver und normativer Elemente der Vertragstheorie folgt.

L Buchanans vertragstheoretische Haltung: Grundlagen und Ursprünge Buchanan ist im methodologischen wie ontologischen Sinn Individualist140. Dies bedeutet, Individuen sind nicht nur Ausgangspunkt modelltheoretischer Betrachtungen, sondern auch die letzte und einzige Quelle von Werten. Die Entstehung oder Bildung von Wertvorstellungen durch einen kulturellen Prozeß wird nicht betrachtet, sondern die Präferenzen der Individuen werden hingenommen, und zwar als einziger möglicher Referenzpunkt zur Beurteilung von Zuständen und Regeln. Der Versuch, andere objektive oder externe Bewertungskriterien (z.B. aufgrund allokativer Gesichtspunkte) heranzuziehen, wird abgelehnt141. Diese Haltung könnte man auch als "normativen Individualismus" bezeichnen. Innerhalb des Marktsystems drückt jeder freiwillig zustande gekommene Tausch bzw. jeder so geschlossene Vertrag eine Übereinstimmung von Werten, einen Konsens aus. Knut Wicksell war es, der das Tauschparadigma 140 So auch die eigene Charakterisierung seines Ansatzes. Vgl. Buchanan, James M. (1984) S. 1. "Methodologisch" bedeutet hierbei, daß Erkenntnisgewinnung am sinnvollsten durch Rückführung von Zusammenhängen auf Individuen erlangt werden kann. "Ontologisch" verschärft diese Position dadurch, daß damit behauptet wird, dies liege an der Struktur der Realität Vgl. hierzu Zintl Reinhard (1983) S. 34ff. 141

Vgl. Buchanan. James M, (1987a) S. 244 und (1990) S. 13ff.

I. Buchanans vertragstheoretische Haltung

67

des Marktes auf kollektive Entscheidungen übertrug und herausstellte, daß der freiwillige Konsens bei Kollektivgutentscheidungen ein Pendant zum freiwilligen bilateralen Tausch bzw. Vertragsschluß im Markt ist. "Die Einstimmigkeit und volle Freiwilligkeit der Beschlüsse ist zuletzt die einzige sichere und handgreifliche Garantie gegen Ungerechtigkeiten der Steuerverteilung; solange sie auch nicht annäherungsweise erfüllt ist, schwebt eigentlich die ganze Diskussion über Gerechtigkeit der Besteuerung in der Luft. H142 Diesen Gedanken griff Buchanan auf und führte (respektive führt) ihn fort unter dem Begriff M Vertragstheorie M (Contractarian approach)143. Damit wird das Tauschprinzip des Marktes auf die Wahl von Kollektivgütern übertragen. Buchanan spricht daher auch vom Hpolitics-as-exchange-ParadigmaH144. Die Inspiration, Regeln und Institutionen - oder in seiner Terminologie: die Verfassung einer Gesellschaft 145 - zum Gegenstand der theoretischen Betrachtung zu machen, erfolgte durch die schottischen Moralphilosophen, u.a. David Hume und Adam Smith. Da Smith die Wirkungen merkantilistischer Institutionen mit denen einer freiheitlich verfaßten Marktordnung verglich, sei er so Buchanans Argumentation - einer der ersten Wegbereiter der Politischen Ökonomie gewesen146. Als weitere wichtige Inspirateure dieser Perspektive nennt Buchanan noch explizit seinen Lehrer Frank Knight 147 und den älteren Vertragstheoretiker Thomas Hobbes148. Auch bei der Verwendung des homo oeconomicus in Modellen der Constitutional Economics beruft sich Buchanan auf die Klassiker149. Als Gründe, 142

Wickseil, Knut (1969) S. 114.

143

Vgl. Buchanan, James M. (1986) S. 19ff; (1987) S. 587 und (1987a) S. 246 sowie zur Person Knut Wickseil vgl. Grossekettler, Heinz (1987a). 144 Vgl. Buchanan, James M (1987a) S. 246 sowie Brennan, Geoffrey (1985) S. 25ff.

/ James M. Buchanan

145 Damit ist Buchanans Verfassungsbegriff "weiter" als der von v. Hayek , der sich eher an die juristische Begriffsabgrenzung hält 146

Vgl. Buchanan, James M. (1977) S. 4ff ; (1984) S. 241 und (1990) S. 10 sowie Smith, Adam

(1974). 147 Vgl. Buchanan, James M. (1977) S. 64ff. und (1984) S. XIII. Frank Knight erkannte bereits: "The primary difficulty with the notion of law as an ethical principle or norm is that the content of law itself can never be taken as simply (given),... there was always and inevitably occasion for 'interpreting1 the law, in enforcing it, and also for making law outright, i.e., changing it, in consequence of changing conditions and standards." Knight, Frank (1947) S. 62f. 148 Von Thomas Hobbes übernahm Buchanan vor allem als methodischen Ausgangspunkt die Vorstellung von Anarchie als Zustand ohne Regeln, der damit für den einzelnen "poor, nasty, brutish, and short" ist Vgl. Buchanan, James M. (1977) S. 22f. sowie Hobbes, Thomas (1990) S. 60ff. 149 Z.B. greifen Brennan und Buchanan folgendes Zitat von David Hume auf: "In constraining any system of government and fixing the several checks and controls on the constitution, every man ought to be supposed a knave and to have no other end, in all his actions, than private interest" Brennan, Geoffrey/JamesM. Buchanan (1985) S. 59.

D. Die Theorie der Verfassung nach Buchanan

68

warum in diesen Modellen rationales egoistisches Verhalten bei den Akteuren unterstellt wird 150 , nennt er zum einen, daß innerhalb des Forschungsprogramms der Constitutional Economics gerade eruiert werden soll, wie durch Implementierung von Regeln konfliktäres Verhalten in kooperatives Verhalten transformiert werden kann, ohne daß sich die grundlegenden Einstellungen der Akteure ändern. Unterstellte man altruistisches Verhalten bei jedem Mitglied der Gesellschaft, so wäre die Problemstellung unsinnig, weil wegdefiniert 151. Zum anderen argumentiert er - in Anlehnung an Thomas Hobbes -, daß selbst, wenn es im politischen Raum nur einige Personen gäbe, die sich egoistisch verhielten, den restlichen Akteuren, die mit den Egoisten interagieren (müssen), nichts anderes übrig blieb als sich ähnlich zu verhalten. Und zwar um sich gegen das egoistische Verhalten zu schützen. Dies bezeichnen Brennan und Buchanan als das "Greshamsche Gesetz in der Politik" 152 . Damit ist der homo oeconomicus nicht nur modelltheoretisch notwendig bzw. führt nicht nur zu Schlußfolgerungen, die sozusagen das Schlimmste verhindern, sondern liefert auch realistischere Modellergebnisse, als wenn man etwa treuhänderisches Verhalten im Sinne der Allgemeinheit bei den Teilnehmern des politischen Kräftefeldes unterstellte153.

IL Die Buchanansche Vertragstheorie Gegenstand der Vertragstheorie nach Buchanan sind nicht Entscheidungen innerhalb eines bestehenden Regelrahmens, sondern die Wahl des Regelrahmens selbst154. Stehen daher die Individuen vor der Frage, welcher Regelrahmen aus alternativ möglichen ausgewählt bzw. implementiert werden soll, so kann es aufgrund unterschiedlicher Zielvorstellungen bei den Gesellschaftsmitgliedern zu unterschiedlichen Meinungen darüber kommen, welches Regelsystem das richtige ist. Konflikte können also aufgrund unterschiedlicher

150 Zur Rationalitätsannahme Buchanans vgl. ausführlich Buchanan, James M. / Gordon Tullock (1969) S. 3 Iff. 151

Vgl. Brennan, Geoffrey /James Λ/. Buchanan (1985) S. 53.

152

Dieses Argument geht bereits auf Thomas Hobbes zurück. Vgl. Brennan, Geoffrey Buchanan (1985; S. 60ff. 153 154

/James M

Vgl. Brennan, Geoffrey /James M. Buchanan (1985) S. 55.

Regeln sind damit für das Individuum "relatively absolute absolutes", d.h. für gewisse Entscheidungen innerhalb bestimmter Zeiträume sind sie konstant, während zu anderer Zeit über sie selbst entschieden wird. Vgl. Buchanan, James M. (1989) S. 32ff. Die Bezeichnung "relativ-absolute Absolutheiten" geht auf Frank Knight zurück. Vgl. Buchanan, James M. (1982) S. 77.

II. Die Buchanansche Vertragstheorie

69

Interessen bei der Auswahl von Regeln auftreten, und diese Konflikte gilt es zu lösen. Darüber hinaus können bei den Gesellschaftsmitgliedern auch unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, wie alternative Regelsysteme wirken, d.h. welche Resultate bei welchen Regeln zu erwarten sind. Selbst also wenn alle Individuen ein gemeinsames Ziel hätten, träten Konflikte aufgrund unterschiedlicher theoretischer Vorstellungen über mögliche Ergebnisse von Regelsystemen auf, die zu bereinigen wären. Die zu lösenden angesprochenen Konflikte, der Interessen- und der Theoriekonflikt 155, treten in der Realität oftmals gleichzeitig auf. Trotzdem ist es klüger, beide Konfliktkomponenten theoretisch zu trennen, da ihre Analyse zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen führt. Bei der Übertragung der theoretischen Erkenntnisse auf die Realität muß dies allerdings dann beachtet werden.

7. Die vertragstheoretische

Lösung des Interessenkonfliktes

Buchanans vertragstheoretische Lösung des Interessenkonflikts enthält eine hypothetisch-positive Theorie der Entstehung einer Gesellschaftsordnung und eine normative Komponente, die sich als Schlußfolgerung aus der positiven Theorie ergibt. Die positive Theorie wird im folgenden Abschnitt erläutert. Die normativen Schlußfolgerungen für die Realität - in unserem Zusammenhang muß die Übertragung der Ergebnisse dieses Teils der Vertragstheorie auf den Aufbau oder die Änderung einer demokratischen Grundordnung erläutert werden - erfolgt erst nach Darstellung der Lösung des Theoriekonfliktes.

a) Die hypothetisch-positive Theorie der Verfassungsentstehung Eine hypothetisch positive Theorie der Verfassung stellt H... eine theoretische Skizze [dar], wie zwischen rationalen nutzenmaximierenden Individuen eine vertraglich vereinbarte Gesellschaftsordnung entstehen könnte.H156 Buchanan sieht es also als notwendig an, Modelle zu konstruieren, welche die Entstehung und das Wirken gesellschaftlicher Institutionen erklären und nachvollziehbar machen, ungeachtet der tatsächlichen Entstehungsgeschichte 155 Zu der Unterscheidung von Interessen- und Theoriekomponente vgl. Vanberg, Viktor /James M. Buchanan (1989) S. 49ff. 156

Buchanan, James M. (1984) S. 106.

D. Die Theorie der Verfassung nach Buchanan

70

der Institutionen. Er selbst bezeichnet dieses hypothetisch-positive Theorieelement als ein "Als-ob-Modell"157. Ausgangspunkt der hypothetisch-positiven Theorie bildet die Interaktion ungleicher Individuen in der Anarchie. Ungleichheit bedeutet hierbei, daß die Individuen mit unterschiedlichen Interessen und/oder Fähigkeiten ausgestattet sein können und sich auch mit verschiedenen Umweltsituationen konfrontiert sehen können158. Umgekehrt soll ferner gelten, daß Individuen, die sich (zufällig) in der gleichen Umweltsituation befinden und auch (zufällig) gleiche Interessen und Fähigkeiten haben, von einem identischen AlternativenErgebnis-Zusammenhang ausgehen. Diese Feststellung ist wichtig, da eine saubere Trennung zwischen Interessen- und Theoriekonflikt aus methodischen Gründen vorgenommen werden soll. Wären z.B. bei zwei Individuen die Umweltsituation, die Interessen und die Fähigkeiten gleich, und würden diese beiden Individuen trotzdem bei Einsatz gleicher Alternativen unterschiedliche Ergebnisse erwarten, so hätten sie unterschiedliche theoretische Anschauungen über den Alternativen-Ergebnis-Zusammenhang. Dieses Problem unterschiedlicher Theorien soll jedoch getrennt betrachtet und daher hier ausgeklammert werden159. Den anarchischen Zustand beschreibt Buchanan160 als Hobbesschen Dschungel, wo jeder seine selbst erarbeiteten und/oder geraubten Vorräte vor Diebstahl schützen muß. Dies bedeutet, jeder muß Kosten in Form von Verteidigungsanstrengungen auf sich nehmen, um den späteren Konsum seiner Vorräte sicherzustellen. Der sich dabei einpendelnde Zustand der Gleichheit von Grenzkosten und Grenzerträgen ist das Gleichgewicht in der Anarchie. Allgemein anerkannte Eigentumsrechte existieren nicht. In dieser Situation scheint es nun für die meisten Individuen sinnvoll, d.h. nutzensteigernd zu sein, wenn die Waffen niedergelegt würden und gegenseitig das Eigentum anerkannt würde. Alle sparten Ressourcen, denn die eigen-produzierten Güter brauchten nicht mehr verteidigt zu werden. Eine Ausnahme allerdings bilden die Individuen, die in der Anarchie HguteH Räuber und Verteidiger, aber gleichzeitig schlechte Produzenten sind. Für diese Leute kann ein abgerüsteter Zustand, bei dem ausschließlich Eigenproduktion vorherrscht, eine Schlech-

157

Vgl. Buchanan, James M. (1984) S. 77.

158

Vgl. Buchanan, James M (1984) S. 79f.

159 Buchanan selbst weist in seinen grundlegenden Werken zum Interessenkonflikt "Die Grenzen der Freiheit" und "The Calculus of Consent" nicht explizit daraufhin, jedoch später erläutern Vanberg und er diese methodisch wichtige Unterscheidung. Vgl. Vanberg, Viktor / James Ki. Buchanan (1989) S. 49ff. 160

Zur Entstehung des Gesellschaftsvertrages aus der Anarchie heraus vgl. Buchanan, James M (1984) S. 76ff.

II. Die Buchanansche Vertragstheorie

71

terstellung gegenüber ihrer Position während der Anarchie bedeuten. Daher werden sie nur einem Abrüstungsabkommen zustimmen, wenn ihnen zusätzlich Transfers von Leuten, die sich stark durch Abrüstung verbessern, geboten werden. Unter Einbeziehimg dieser Möglichkeit der ex ante-Redistribution scheint es für jeden vorteilhaft, den Dschungel der Anarchie zu verlassen und die gesparten Ressourcen in die Güterproduktion zu lenken. Ein Problem bleibt allerdings bestehen, nämlich daß einseitige Vertragsverletzungen zum eigenen Vorteil in Großgruppen ohne reziproke Überwachung für jedes Individuum rational und daher wahrscheinlich sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie einzelne Regelbrecher, wenn sie der Tat überführt werden, bestraft werden sollen. Die Bestrafung selbst ist nämlich auch ein Kollektivgut und damit mit dem Trittbrettfahrerproblem behaftet 161. Daher scheint es sinnvoll, eine Instanz ins Leben zu rufen, die das Einhalten der Regeln überwacht und Regelübertretung sanktioniert. Ist somit sichergestellt, daß die Eigentumsrechte eingehalten werden, so können dann durch Einfuhrung von Vertragsfreiheit individuell Güter getauscht und damit Eigentumsrechte übertragen werden, so daß daraufhin in diesem postkonstitutionellen Stadium durch fortschreitende Arbeitsteilung der Wohlstand für alle Gesellschaftsmitglieder wächst. Ermöglicht wird diese Art von Tauschhandlungen die in westlichen Marktwirtschaften hinlänglich praktiziert wird - durch die vertragliche Einigung erstens auf die Spielregeln und zweitens auf die Errichtung einer Rechtsschutzinstanz, den Rechtsschutzstaat, der Schiedsrichter mit Sanktionsgewalt ist, selbst aber den vertraglich vereinbarten Regeln unterstellt ist. In heutigen Demokratien wären also die Judikative, die Staatsanwaltschaft sowie Polizei und Streitkräfte als Diener von Recht und Ordnung angesprochen. Im Gegensatz zu v. Hayek sieht also Buchanan den Richter ausschließlich als eine das Recht vertretende und keinesfalls weiterentwickelnde Instanz. "Die Rechtsprechung stellt ihre Unabhängigkeit jedoch dann in Frage und verletzt die Bedingungen ihrer Existenz, wenn sie sich ausdrücklich an der Gesetzgebung, also am Treffen der eigentlichen 'Gesellschaftlichen Entscheidungen', beteiligt. Der Rechtsschutzstaat als solcher ist nicht in dem Sinne 'demokratisch', daß Kollektiventscheidungen durch Abstimmungen getroffen werden, sei es nun durch Mehrheitswahl oder ein anderes Verfahren." 162 Es geht bei der Rechtsprechimg um Fakten und um die Frage der Genauigkeit bei der Tatsachenfindung, nicht um Werte.

161

Zum Dilemma der Bestrafung vgl. Buchanan, James M. (1984) S. 186ff.

162

Buchanan, James M. (1984) S. 99.

D. Die Theorie der Verfassung nach Buchanan

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Da neben privaten Gütern auch Kollektivgüter existieren (die wegen mangelnder Rivalität im Konsum und/oder wegen Unmöglichkeit der Anwendimg des Exklusionsprinzips gleichzeitig mehreren oder allen Gesellschaftsmitgliedern Nutzen stiften, wie z.B. die Infrastruktur), müssen die Gesellschaftsmitglieder sich auch darauf einigen, wie diese Güter bereitgestellt werden sollen. Hierbei nimmt Buchanan vereinfachend an, daß nur Kollektivgüter existieren, von deren Nutzung kein Gesellschaftsmitglied ausgeschlossen werden kann, ohne daß es nicht auch aus dem Rechtsschutzbereich exkludiert werden müßte. "Einfacher formuliert heißt das, daß die Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen dahingehend ausgelegt wird, daß jeder zur Teilnahme am postkonstitutionellen Vertragsprozeß über öffentliche Güter gezwungen ist, ..." 163 . Knut Wicksell stellte mm als erster heraus, "... daß die Einstimmigkeitsregel im Falle der Kollektiventscheidung das institutionelle Analogon zum Zwei-PersonenTausch mit privaten oder teilbaren Gütern ist." 164 Obschon einstimmige Entscheidungen ein Vetorecht für jedes Gesellschaftsmitglied bedeuten und somit die Kosten der Möglichkeit, überstimmt zu werden (externe Kosten bzw. Diskriminierungskosten), minimal (d.h. gleich null) sind, können die Einigungs- oder Konsensfindungskosten doch exorbitant hoch sein. Daher läßt Buchanan für die Bereitstellung von Kollektivgütern auf postkonstitutioneller Ebene auch Abstimmungsregeln unterhalb des Einstimmigkeitsprinzips zu. Unter Einbeziehung beider Kostenarten wird die optimale Abstimmungsregel dort liegen, wo die aggregierten Kosten - von Buchanan und Tullock "Interdependenzkosten" genannt - minimal sind163. Die einfache Mehrheitsregel ist damit eine Regel unter vielen, auf die sich die Individuen unter Einbeziehung von Kosten einigen könnten. Allerdings werden die Gesellschaftsmitglieder einem Abrücken von der Einstimmigkeitsregel für die postkonstitutionelle (Kollektivgüter-) Ebene nur zustimmen, wenn Sicherungsprinzipien den einzelnen vor möglicher Ausbeutung durch den (Leistungs-) Staat schützen166. Diesbe-

163

Buchanan, James M. (1984) S. 59.

164

Buchanan, James M. (1984) S. 55. Wicksell kam zum Einstimmigkeitsprinzip durch Kritik an der gängigen Finanzwissenschaft, die zwar vorgibt, alles Gute für das Volk zu tun, aber nichts durch das Volk entscheiden läßt Er sah die Gefahr politischer Macht, da Regierung und Parlament nicht aus Treuhändern bestünden. Vgl. Wicksell, Knut (1969) S. 76ff. sowie Grossekettler, Heinz (1987) S. I7f. 165 In den Kostenverläufen enthalten sind auch denkbare Kompensationszahlungen von Individuen, um etwa Stimmen zu kaufen und die erwarteten Diskriminierungskosten zu senken. Der Verlauf der Interdependenzkosten basiert mithin auf der Entscheidung eines jeden Individuums über seine Strategie, Verhandlungen zu führen respektive Stimmen zu kaufen. Vgl. hierzu ausführlich Buchanan, JamesKi./Gordon Tullock (1969) S. 63ff. sowie Buchanan, James Ki. (1984) S. 60ff. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Modell befindet sich bei Kirsch, Guy/Jürg Theiler (1976) S. 35ff. 166

Bestünden bei einem Abweichen von der Einstimmigkeit keine sogenarmten Sicherungsregeln, so wäre es z.B. möglich, daß eine Mehrheit immer (größtenteils) die Leistungen konsumiert und eine

II. Die Buchanansche Vertragstheorie

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züglich fordert Buchanan (1) die Feststellung des Bereichs kollektiver Entscheidungen und damit die Trennlinie zwischen privatem und öffentlichem Sektor, (2) Abweichungen vom Grundsatz der Einstimmigkeit und (3) Regeln für die Kostenaufteilung (Fragen des Steuersystems) in den Verfassungsvertrag aufzunehmen 167. Darüber hinaus erwähnt Buchanan, daß mit Hilfe der kollektiven Entscheidungsregeln Individuen, die durch reine Abrüstung und Eigenproduktion gegenüber ihrem Zustand in der Anarchie schlechter gestellt sind, Sondervorteile geboten werden können, so daß sie doch Anreize haben, dem Gesellschaftsvertrag zuzustimmen. Die relativ "Armen" in einer Verfassungsordnung "... können indirekt ihre Ansprüche daraus herleiten, daß sie sich auf ihre Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen mit einem bestimmten Verfassungsvertrag berufen. Die relativ 'Reichen' können ihrerseits mit Recht erwarten, daß ihre 'privaten Rechte* anerkannt und respektiert und Verletzungen dieser Rechte geahndet werden."168 Des weiteren argumentiert Buchanan, daß eine Einigung der Individuen über ein Regelsystem - auch bei divergierenden Interessen - eher möglich erscheint als eine Einigung über mögliche Endzustände, da Regeln langlebiger oder konstanter sind als Endzustände und damit für eine (noch) unbekannte Zahl möglicher Anwendungsfälle gelten und gleichzeitig die Individuen nicht immer sicher sein können, in welcher Position sie sich zukünftig befinden werden. Dieser "Schleier der Ungewißheit"169 über die eigene zukünftige Position veranlaßt die Individuen "... to agree on arrangements that might be called 'fair' in the sense that patterns of outcomes generated under such arrangements will be broadly acceptable, regardless of where the participant might be located in such outcomes."170 Die Quasi-Permanenz von Regeln

Minderheit zahlen muß. Einer solchen Gefahr (viel zahlen und wenig konsumieren) will sich aber kein Individuum aussetzen. Auch wenn man annimmt, daß eine Mehrheit sich immer wohlwollend verhält, können durch sukzessive kurzfristige Befriedigung verschiedener kollektiver Bedürfnisse Zustände zu Ungunsten aller entstehen. Ein Beispiel wäre: Negative Auswirkungen eines stetig wachsenden Staatsbudgets auf Preise und Zinsen und damit private Investitionen und Wachstum. Vgl. zu diesem sogenaimten Samariter-Problem Buchanan, James M. / Gordon Tullock (1969) S. 147ff.; Buchanan, James M. (1977) S. 186ff.; (1984) S. 69ff. und Brennan, Geoffrey / James M. Buchanan (1985) S. 82ff. 167

Vgl. Buchanan, James Ki. (1984) S. 103.

168

Buchanan, James M. (1984) S. 104f.

169

Der Buchanansche "Schleier der Ungewißheit" ist damit natürlicher und nachvollziehbarer als das Pendant von John Rawls , welches ein rein theoretisches Konstrukt darstellt Hinter dem Rawlsschen Schleier vermag niemand auch nur annähernd zu ahnen, welche Position er auf der postkonstitutionellen Ebene innehaben wird Vgl. hierzu Buchanan, James Ki. (1977) S. 194ff.; Brennan, Geoffrey/ James M. Buchanan (1985) S. 28ff. sowie Rawls, John (1975) S. 159ff. 170

Brennan, Geoffrey / James M Buchanan (1985) S. 30.

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D. Die Theorie der Verfassung nach Buchanan

verbunden mit der Unsicherheit über die eigene Position in der Zukunft machen also eine Einigung auf allgemeine, faire Regeln wahrscheinlicher. Noch ein anderer Grund könnte die Individuen veranlassen, sich auf faire Regeln, die den Interessen aller dienen, zu einigen: Nämlich die Befürchtung, daß ein Regelrahmen, der vornehmlich den Interessen einiger weniger dient, im Zeitablauf nicht stabil ist und sich dahingehend ändern könnte, daß die einst Bevorzugten dann die Benachteiligten sind. Darüber hinaus ist es gerade die Funktion von Regeln, Unsicherheit zu verringern und Erwartungsbildung und Planung zu ermöglichen. Durch auftretende dauernde Instabilitäten, d.h. Regeländerungen, wäre der Regelrahmen oder die Verfassung seiner/ihrer Funktion beraubt. Daher sind die Gesellschaftsmitglieder an einer gewissen Stabilität der Regeln interessiert, die eher zu erwarten ist, wenn die Verfassung allen dient171. Der bisher erörterte Verfassungsvertrag umschließt also: - ein AbrQstungsabkommen und die Festlegung r> RcdistributionsmögEchkeiten, um allgemeine Zustimmung zu einem stabilen Vertrag zu erlangen

der Verfügungsrechte mit der Option, in Tausch-

Kollektivgüter, also deren Bereitstellung und Finanzierung (Aufgaben des Leistungsstaates),

"Schleier der Unge_ wißheit" erleichtert Übereinkunft