Grundinformation Theologische Ethik 9783825231385, 9783525032534, 3825231380

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 9783825231385, 9783525032534, 3825231380

Table of contents :
Lienemann: Grundinformation Theologische Ethik
Impressum
Inhalt
Vorwort
Teil I Grundlagen Freiheit – Glaube – Vernunft
Einleitung – Anfangsfragen der Ethik
1. Was ist Ethik?
1.1 Begriff und Aufgabe der Ethik
1.2 Anfänge der Ethik in der europäischen Geschichte
1.3 Allgemeine Bezugsprobleme der Ethik
1.4 Gegenstandsbereiche der Ethik
1.5 Typen der Ethik
1.6 Sein und Sollen: Deskriptive und normative Ethik
2. Was ist theologische Ethik?
2.1 Theologische Ethik im Kontext von Kirchen und Ökumene
2.2 Voraussetzung theologischer Ethik
2.3 Bilder Gottes und theologische Ethik
2.4 Systematische Theologie als Funktion der Kirche
2.5 Das Verhältnis von Ethik und Dogmatik
3. Menschliche Freiheit in Glauben und Vernunft
3.1 Umstrittene Freiheit
3.2 Determinismus und Indeterminismus
3.3 Freiheit als Indifferenz
3.4 Freiheit als Selbstbindung und Selbstgesetzgebung
4. Von der Freiheit eines Christenmenschen
4.1 Zum Verständnis der christlichen Freiheit
Exkurs: Christliche versus politische Freiheit?
4.2 Zu Johannes Calvins Freiheitsverständnis
4.3 „Schöpferische Nachfolge“
4.4 Menschliche Vernunft
Teil II Gegensätze Kontroversen und Konvergenzen ethischer Positionen
1. Konzeptionen philosophischer Ethik
1.1 Platon und Aristoteles
1.2 Kants Ethik
1.3 Utilitarismus
1.4 Libertarismus
1.5 Kontraktualismus
1.6 Diskursethik
1.7 Tugendethik
1.8 Rückblick
2. Antike und moderne Ethik
2.1 Nähe und Ferne: Gemeinsame Motive
2.2 Kritik des Konsequenzialismus: ein Beispiel
2.3 Gegensätze im Freiheitsverständnis
2.4 Moral und Ethos zwischen Autonomie und Institutionalität
3. Philosophische contra theologische Ethik
3.1 Ethik ohne Metaphysik?
3.2 Distanzen zwischen philosophischer und theologischer Ethik
3.3 Moral ohne Religion? Religion als Ursprung der Moral?
3.4 Gottes Gebote als Kern eines Ethos?
3.5 Gottes Gebote aus dem Geist des Erbarmens
3.6 Einübung ins Christentum
4. Autorität der Bibel und Autoritätskritik der Vernunft in der Ethik
4.1 Aktuelle Fragen im Umgang mit der Bibel
4.2 Zankapfel Bibel?
4.3 Die Bibel als Entdeckungs-, Begründungs- und Erläuterungszusammen-hang sittlicher Orientierung
4.4 Die Bibel im Dialog gegensätzlicher Positionen
4.5 Biblisches Ethos und Erfahrungswissen
5. Evangelium und Gesetz. Die „Zehn Gebote“ zwischen Philosophie und Theologie oder: Kritik des Moralismus
5.1 Ursprünge und Anlässe der Unterscheidung von Gesetz und Evange-lium
5.2 Der reformatorische Sinn der Unterscheidung
5.3 Die Umkehr der Zuordnung
Teil III Vermittlungen Kommunikation ethischer Fragen in der pluralistischen Gesellschaft
1. Religionsgemeinschaften im Diskurs über ethische Fragen
1.1 Neue Entwicklungen im Verhältnis von Staaten, Kirchen und Religions-gemeinschaften
1.2 Religionsverfassungsrecht als Rahmen des öffentlichen Wirkens der Re-ligionsgemeinschaften
1.3 Religionsverfassungsrecht der Schweiz in vergleichender Sicht
2. Kirche und Ethos in evangelischer Sicht
2.1 Das Verständnis der Kirche
2.2 Ekklesiologische Grundbestimmungen und Folgen
2.3 Die Ausrichtung des Ethos der Kirche
3. Kirche und Öffentlichkeit
3.1 Die Gemeinde für die Welt
3.2 Das öffentliche Zeugnis der Kirche in ethischen Fragen
3.3 Ethos und Bekenntnis
4. Kirche und Ethos in römisch-katholischer Sicht
4.1 Zur römisch-katholischen Moraltheologie
4.2 Zur römisch-katholischen Soziallehre
5. Werte und Normen
5.1 Werte
5.2 Normen
5.3 Relationen
5.4 Konflikte
5.5 Wandel
5.6 Ausblick
6. Religion, Moral und Recht in der pluralistischen Gesellschaft
6.1 Schwierigkeiten der Unterscheidung
6.2 Die Künstlichkeit der Unterscheidungen von Religion, Moral, Recht
6.3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung

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UTB 3138

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen C. F. Müller Verlag · Heidelberg Orell Füssli Verlag · Zürich Verlag Recht und Wirtschaft · Frankfurt am Main Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Für Christine Lienemann-Perrin

Wolfgang Lienemann

Grundinformation Theologische Ethik

Vandenhoeck & Ruprecht

Wolfgang Lienemann, geb. 1944, Dr. theol., ist Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Ökumenische Friedensethik, Rechtsethik, religiöse Konversionen, Karl Barth, Immanuel Kant. Letzte Buchveröffentlichungen: (mit W. Dietrich, Hg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen , Stuttgart 2004; (mit H.-R. Reuter, Hg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa , Baden-Baden 2005; (mit F. Mathwig, Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert , Zürich 2005; (mit S.M. Zwahlen, Hg.), Kollektive Gewalt , Bern 2005; (mit C. Lienemann-Perrin, Hg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften , Stuttgart 2006.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3138-5 (UTB) ISBN 978-3-525-03253-4 (Vandenhoeck & Ruprecht)

’ 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: h Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-8252-3138-5 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I Grundlagen Freiheit – Glaube – Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung – Anfangsfragen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Was ist Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Begriff und Aufgabe der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Anfänge der Ethik in der europäischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Allgemeine Bezugsprobleme der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Gegenstandsbereiche der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Typen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Sein und Sollen: Deskriptive und normative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 14 24 29 32 36 42

2. Was ist theologische Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theologische Ethik im Kontext von Kirchen und Ökumene . . . . . . . . . . . 2.2 Voraussetzung theologischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Bilder Gottes und theologische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Systematische Theologie als Funktion der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Verhältnis von Ethik und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 51 55 59 64 68

3. Menschliche Freiheit in Glauben und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Umstrittene Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Determinismus und Indeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Freiheit als Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Freiheit als Selbstbindung und Selbstgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Von der Freiheit eines Christenmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.1 Zum Verständnis der christlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Exkurs: Christliche versus politische Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.2 Zu Johannes Calvins Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.3 „Schöpferische Nachfolge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.4 Menschliche Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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Inhalt

Teil II Gegensätze Kontroversen und Konvergenzen ethischer Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Konzeptionen philosophischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1.1 Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1.2 Kants Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.3 Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1.4 Libertarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.5 Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1.6 Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1.7 Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1.8 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Antike und moderne Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.1 Nähe und Ferne: Gemeinsame Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.2 Kritik des Konsequenzialismus: ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2.3 Gegensätze im Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.4 Moral und Ethos zwischen Autonomie und Institutionalität . . . . . . . . . . 158 3. Philosophische contra theologische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.1 Ethik ohne Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.2 Distanzen zwischen philosophischer und theologischer Ethik . . . . . . . . . 163 3.3 Moral ohne Religion? Religion als Ursprung der Moral? . . . . . . . . . . . . . . 165 3.4 Gottes Gebote als Kern eines Ethos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.5 Gottes Gebote aus dem Geist des Erbarmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.6 Einübung ins Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4. Autorität der Bibel und Autoritätskritik der Vernunft in der Ethik . . . . . . . . 177 4.1 Aktuelle Fragen im Umgang mit der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.2 Zankapfel Bibel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.3 Die Bibel als Entdeckungs-, Begründungs- und Erläuterungszusammenhang sittlicher Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4.4 Die Bibel im Dialog gegensätzlicher Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.5 Biblisches Ethos und Erfahrungswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhalt

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5. Evangelium und Gesetz. Die „Zehn Gebote“ zwischen Philosophie und Theologie oder: Kritik des Moralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.1 Ursprünge und Anlässe der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.2 Der reformatorische Sinn der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.3 Die Umkehr der Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Teil III Vermittlungen Kommunikation ethischer Fragen in der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . 204 1. Religionsgemeinschaften im Diskurs über ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 204 1.1 Neue Entwicklungen im Verhältnis von Staaten, Kirchen und Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1.2 Religionsverfassungsrecht als Rahmen des öffentlichen Wirkens der Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1.3 Religionsverfassungsrecht der Schweiz in vergleichender Sicht . . . . . . . . . 220 2. Kirche und Ethos in evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2.1 Das Verständnis der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2.2 Ekklesiologische Grundbestimmungen und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2.3 Die Ausrichtung des Ethos der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3. Kirche und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.1 Die Gemeinde für die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.2 Das öffentliche Zeugnis der Kirche in ethischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.3 Ethos und Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4. Kirche und Ethos in römisch-katholischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.1 Zur römisch-katholischen Moraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.2 Zur römisch-katholischen Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5. Werte und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.1 Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.2 Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5.3 Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5.4 Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5.5 Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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Inhalt

6. Religion, Moral und Recht in der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 302 6.1 Schwierigkeiten der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6.2 Die Künstlichkeit der Unterscheidungen von Religion, Moral, Recht . . . 309 6.3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Vorwort

Dieses Buch ist aus meinen Versuchen entstanden, in das Studium der theologischen Ethik einzuführen. Es ist keine Einführung im Sinne von Basisinformationen, die im akademischen Unterricht in Form von standardisierten Curricula zu vermitteln sind. Vielmehr geht es darum, strittige Voraussetzungen der theologischen und philosophischen Ethik so zu erörtern, dass den Leserinnen und Lesern Fragestellungen, Probleme und Perspektiven für ihre eigene, kritische Urteilsbildung in Fragen der Ethik vermittelt werden. Eine voraussetzungsfreie Ethik ist nicht möglich. Problemorientierte Ethik ist keine problemlösungsorientierte Ethik. Problemlösung, oder jedenfalls Beratung bei der Problemlösung, ist eine wichtige Aufgabe der Ethik, vor allem der sogenannten Bereichsethiken (applied ethics ). Doch bevor man sich diesen zuwenden kann, gibt es Vorfragen oder Probleme, die, wenn man sie unerörtert lässt, später als schwere Hypotheken sehr zu schaffen machen können. Einigen, keineswegs allen dieser klärungsbedürftigen Probleme ist dieses Buch in der Weise verpflichtet, dass dabei die Aufgaben einer Ethik, die bei Problemlösungen hilfreich beraten kann, stets mit im Blick sind, aber nicht die Darstellung steuern. Grundfragen der Ethik werden seit je von Philosophen und Theologen erörtert – vielfach kontrovers. Indes handelt es sich bei Fragen der Ethik durchweg um Probleme, die jede Frau und jeden Mann betreffen; der gesunde Menschenverstand, der common sense , erweist dabei seine unverwechselbare und unverlierbare Kompetenz. Jeder Mensch, der für sein Tun und Lassen Rechenschaft zu geben versucht, nimmt an der Kommunikation über ethische Fragen teil. Die Ethik als Wissenschaft hat die Aufgabe, klärend, unterscheidend und handlungsorientierend daran mitzuwirken. Dies ist kein Privileg einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin, sondern geht im Grunde alle Wissenschaften oder Fakultäten an. Zur Kultur der mittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Universität gehört der Streit der Fakultäten. Lange Zeit war es scheinbar selbstverständlich, dass die theologische Ethik – im Dienste der Kirche zumal – eine übergeordnete normative Kompetenz beanspruchte und die philosophische Ethik gleichsam in ihren Dienst nahm, so wie Thomas von Aquin die Ethik des Aristoteles in einen umfassenden kirchlich-theologischen Deutungshorizont integriert hat oder wie die Texte der Ethik der Stoa Jahrhunderte lang der Populärethik der kirchlichen und weltlichen Schulen zugrunde lagen. Für Immanuel Kant war es hingegen längst nicht mehr ausgemacht, ja, in einem bestimmten Sinne entschieden, wer in diesem Disput der Fakultäten, im Rangstreit von Herrin und Dienerin, domina und ancilla , welche Rolle erfülle, „ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“. Grundfragen der Ethik sind zu einem erheblichen Teil auch Gegenstand der Rechtswissenschaft, sofern sie nach den rechtsethischen Grundlagen der Menschenrechte, des positiven Rechts und rechtspolitischer Entwicklungen und Entscheidun-

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Vorwort

gen fragt. Rechtsethik und praktische Philosophie überschneiden sich in vielen Bereichen und Fragestellungen, und zwar nicht nur in Fragen theoretischer Analysen und Argumentationen, sondern auch in vielen konkreten Fragen der gesellschaftlichen Praxis. Diesen Aspekten kann und darf sich auch eine theologische Ethik, die nach dem Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur gesellschaftlichen Kommunikation über Probleme der Ethik fragt, nicht entziehen. Am Streit der Fakultäten nehmen also immer wenigstens drei Fakultäten teil. Doch stellen sich in allen Wissenschaften ethische Fragen, sehr oft schwierige Grundlagenfragen, denen man sich als Forscherin oder Forscher nicht entziehen sollte. Ich versuche in diesem Buch, mich diesem Streit der Fakultäten im Blick auf bestimmte Grundlagen- und Konzeptionsprobleme zu stellen. Dabei ist mir wichtig, das Profil einer theologischen Ethik argumentativ zu entwickeln. Es muss für philosophische und juristische Gesprächspartner klar erkennbar sein, wie die theologische Ethikerin oder der theologische Ethiker Grundlagenfragen behandeln, wie und warum sie Position beziehen, welche Voraussetzungen sie machen, auch und gerade dort, wo diese sich nicht für jeden Menschen von selbst verstehen. Widerspruch wird damit bewusst provoziert. Allerdings geht es mir dabei um eine theologische Ethik, die keine kirchlichen Machtansprüche in der Gesellschaft vertritt und keine Immunisierungsstrategien verfolgt, wohl aber wesentliche Einsichten und Überzeugungen des christlichen Glaubens und seiner theologischen Reflexionsformen in öffentlichen Diskursen zur Geltung bringt, dafür um Zustimmung wirbt und durchaus selbstbewusst auch die öffentlichen Meinungs- und Mehrheitsbildungsprozesse zu beeinflussen versucht. Es geht der theologischen im Verhältnis zur philosophischen Ethik und zur Rechtsethik um Dialoge scharf unterschiedener Gesprächspartner ohne jede Vereinnahmung und falsche Irenik. Dazu soll die theologische Position klar und deutlich und insofern selbstverständlich angreifbar artikuliert werden. Für den Aufbau und die leitenden Fragestellungen dieses Buches habe ich viel aus Diskussionen mit den Studierenden im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen in Bern gelernt. Für manche instruktiven gemeinsamen Seminare der letzten Jahre danke ich Dr. Frank Mathwig. Für kritische Lektüre und Kommentare zu einer ersten Fassung von Teilen des Textes bin ich Dr. Marco Hofheinz sehr zu Dank verpflichtet. Bei der Korrektur des Textes waren mir Merve Rugenstein und Mathias Tanner eine große Hilfe. Tina Grummel vom Verlag danke ich für die freundliche Unterstützung beim Abschluss. Die unterschiedlichsten Fragen und Anregungen aus den Berner Ethik-Oberseminaren stehen für die Teilnehmenden sicherlich erkennbar im Hintergrund. Nicht zuletzt verdankt dieses Buch entscheidende Anstöße und Fragen sowie ökumenische Offenheit dem Gespräch mit meiner Frau, der es deshalb gewidmet ist. Bern, 1. August 2008

Teil I Grundlagen Freiheit – Glaube – Vernunft

Einleitung – Anfangsfragen der Ethik Am Anfang jener Überlegungen, die wir „Ethik“ nennen, stehen unabweisbare Fragen: Was kann, was will, was soll ich tun? Warum soll ich dieses tun und jenes lassen? Warum tust du dieses und jenes nicht? Warum sollen wir so und nicht anders handeln? Dürfen wir alles tun, was wir können? Wer kann und soll was mit welchen Mitteln bewirken? Wann und warum handelt jemand „gut“ oder „richtig“? Wenn ich etwas will oder bewirke, erfahre oder erleide – was für ein Mensch bin ich überhaupt, wenn ich bewusst lebe und handle, und wer oder was möchte ich sein? Wie kann und will ich mein Leben führen? Was erfahre und erwarte ich von anderen, die mit mir zusammen leben und ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen im Blick auf mein Handeln haben und ausdrücken können? Woran orientieren wir uns in unserem Empfinden, Wissen, Können, Fühlen, Wollen und Handeln in dieser Gesellschaft und der Welt, in der wir leben, die wir zu erkennen und mitzugestalten versuchen? Wir fragen so, weil wir ganz elementar uns selbst und andere nach unserer Lebensführung und den Gründen für das Handeln und Verhalten fragen (können), weil wir diese Gründe zu beurteilen versuchen, indem wir zwischen „gutem“ und „schlechtem“, „richtigem“ oder „falschem“ Handeln, erstrebenswerten und zu vermeidenden Zielen und immer wieder im Blick auf ganz viele Zwischenstufen und besondere Situationen unterscheiden und gewichten. Wir können es nicht vermeiden, uns mit anderen über all dies zu verständigen – sei es in Konflikten, sei es in Kooperationen. Der Beginn aller Ethik ist, auf die unvermeidlichen Fragen: Warum? Wer? Was? Wie? und Wozu? eine verständliche Antwort über Handeln und Verhalten, Unterlassen und Wirken, Wollen, Wählen und Entscheiden zu geben.1 1 Zu diesen und ähnlichen Grundfragen siehe von den neueren deutschsprachigen theologischen und philosophischen Einführungen in die Ethik besonders Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin/New York, 1990; Christofer Frey, Theologische Ethik, NeukirchenVluyn 1990; Trutz Rendtorff, Ethik, 2 Bd., Stuttgart 21990; Annemarie Pieper, Einführung in die Ethik, Tübingen/Basel 42000; Ulrich H.J. Körtner, Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, Freiburg i.Br./Wien 2001; Wolfgang Erich Müller, Evangelische Ethik, Darmstadt 2001; Martin Honecker, Wege evange-

lischer Ethik. Positionen und Kontexte, Freiburg i.Br. 2002; Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004; Detlef Horster, Was soll ich tun? Moral im 21. Jahrhundert, Leipzig 2004; Svend Andersen, Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2005; Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral. Oder: Macht Tugend glücklich?, München 2007; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2 2007; Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg i.Br./ Basel/Wien 2007. In diesen Büchern ist das Verhältnis von philosophischer und theologischer

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Wir beobachten das Handeln und Verhalten von Menschen, ihre Bräuche, Sitten und Routinen, die Tabus, Regeln, Normen, Gebote und Verbote, denen sie folgen – das weite Feld der alltagsweltlich gelebten „Sittlichkeit“ und der ausdrücklichen „Moral“ als Inbegriff jener Überzeugungen und Regeln, deren Befolgung mehr oder weniger deutlich und verbindlich erwartet wird. Ausgehend von Beobachtungen und Wahrnehmungen des Handelns und Verhaltens beginnen Menschen über Gründe, Motive, Absichten und Ziele nachzudenken. Sie fragen sich und andere, warum sie in bestimmter Weise handeln sollen, oder warum sie so, wie es geschehen ist, gehandelt haben, oder ob sie auch anders sich hätten verhalten können, was dann die Folgen gewesen wären, ob man um diese oder jene Folgen hätte wissen können oder sogar müssen. Nicht zuletzt können Menschen sich und andere danach fragen, an welchen Regeln sie sich handelnd orientieren oder orientieren sollten. Was soll von derartigen Regeln verbindlich sein, was soll gelten? Warum soll ich das tun oder lassen?, fragt ein Kind, und wenn sich die Mutter, der Vater oder die Geschwister nicht damit begnügen, zu sagen: Weil wir es so wollen!, beginnen die ethische Begründung und Rechenschaft. Derartige Fragen nach dem Handeln und Verhalten führen zur Ethik als einer Weise des Nachdenkens und alltäglicher Verständigung, sodann zu ausdrücklichen Reflexionen in der Gestalt von philosophischer und/oder theologischer Rechenschaft und, in ausgearbeiteter Form, zu entsprechenden Theoriebildungen. Mit den erwähnten Fragen und Annahmen sind freilich schon sehr weitgehende und vielfach strittige Annahmen und Voraussetzungen verbunden. In dem ersten Teil dieses Buches sollen einige der elementaren Voraussetzungen ethischer Reflexion erörtert werden. Dies geschieht aus einer theologischen Perspektive, wie sie auf dem Boden christlicher Kirchen möglich ist. Selbstverständlich gibt es andere Ethiken, die aus anderen Perspektiven entworfen werden und von anderen Voraussetzungen leben. In religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften müssen die Anhänger der verschiedenen Glaubensgemeinschaften ebenso wie religionslose Menschen lernen, dass es einen Pluralismus ethischer Überzeugungen, Ratschläge, Vorschriften und Lebensorientierungen gibt. Viele Menschen mögen annehmen, Ethik immer (auch) im Blick, freilich mit sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen, bisweilen auch nur ganz am Rande. Völlig unberücksichtigt bleiben religiöse Bezüge von Sittlichkeit und Moral und Fragen der theologischen Ethik bei Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003. Einen genuin christlichtheologischen Zugang zu ethischen Fragen wählen demgegenüber Johannes Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart u. a. 2002, der aber auch „nicht-theologische Paradigmen ethischen Denkens“ behandelt, sowie Hans G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Münster 2005, der am entschiedensten versucht, das biblische und

christentumsgeschichtliche Erbe für Grundlegungsfragen und für heutige Problemstellungen der materialen Ethik (Bereichsethiken) zu erschließen. – Zur eigenen Lektüre von klassischen Texten zur Ethik laden zwei Sammelbände mit knappen Hinführungen und Erläuterungen ein: Stefan Grotefeld u. a. (Hg.), Quellentexte theologischer Ethik. Von der Alten Kirche bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Robert Spaemann/Walter Schweidler (Hg.), Ethik. Lehr- und Lesebuch. Texte – Fragen – Antworten, Stuttgart 2006 (22007). Die Abkürzungen in diesem Buch folgen den Vorschlägen der Theologischen Realenzyklopädie (TRE).

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dass unter derartigen Bedingungen nur eine Auffassung von Moral, Sittlichkeit und Recht dem menschlichen Zusammenleben in der Gesellschaft dienen kann, die von religiösen Voraussetzungen frei ist. Wäre das nicht die Aufgabe einer strikt von allen weltanschaulichen und religiösen Vorgaben emanzipierten praktischen Vernunft, einer Vernunft, die in sich selbst gründet und sich selbst genug ist, und die deshalb grundsätzlich von allen Menschen sollte geteilt werden können? Die historischen Anfänge des ethischen Nachdenkens im antiken Europa und dem alten Orient liegen zwar nirgends in einer religionslosen und kultfreien Welt, aber die philosophische Ethik der Griechen und Römer wurde in ihren frühen und besonders ihren reifen Gestalten in einem kulturellen Zusammenhang entwickelt, der sich durch einen weitgehend anerkannten religiösen Pluralismus auszeichnete. Es gab keine Religionsgemeinschaften, die erfolgreich ein Monopol der Weltdeutung und Lebensführung beanspruchen konnten. In manchen Hinsichten scheinen wir uns gegenwärtig erneut einer Situation des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zumindest in liberalen Rechtsstaaten zu nähern, der, wie ich vermute, irreversibel ist. Dass dies weltweit nur auf relativ wenige Staaten zutrifft, ändert nichts an der Tatsache, dass überall dort, wo die Geltung der neuzeitlichen Menschenrechte allgemein anerkannt ist, eine (mehr oder weniger) freie Konkurrenz organisierter Religionen begegnet. Dass dies in zahlreichen vom Islam geprägten Staaten nicht der Fall ist, dass orthodoxe Kirchen große Schwierigkeiten haben mit der Akzeptanz anderer Religionen, Kirchen und Konfessionen auf ihrem Territorium, dass asiatische Religionen keineswegs so pluralismusfreundlich sind, wie es manche europäische Beobachter gern hätten, ändert wenig an der globalen Diagnose eines sich weiter entwickelnden religiösen und weltanschaulichen Pluralismus und der Notwendigkeit eines gewaltfreien multireligösen Zusammenlebens. Angesichts dieser Situation ist das vorliegende Buch unzeitgemäß-positionell. Es fragt zunächst einmal nicht nach übergreifenden, religionsneutralen Grundlagen der Ethik, die von allen Menschen jederzeit geteilt werden können, sondern es entwickelt eine Theorie der Kommunikation über ethische Sachverhalte aus der begrenzten Sichtweise des christlichen Glaubens und seiner Reflexionsmöglichkeiten, überdies sogar primär aus einer evangelischen Perspektive. Ich hoffe, dass gleichwohl dreierlei im Gange der folgenden Überlegungen deutlich wird: (1) Das Buch zielt auf eine interreligiöse Verständigung über ethische Fragen in einer religiös pluralen Gesellschaft; (2) der – streitbare – Dialog mit einer nicht religiös oder weltanschaulich gebundenen Philosophie ist unabdingbar; (3) die Unterscheidungen von der römisch-katholischen Moraltheologie und Soziallehre stehen im Dienst einer weiter zu vertiefenden ökumenischen Verständigung.

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1. Was ist Ethik? 1.1 Begriff und Aufgabe der Ethik Ethik ist Darstellung und Kritik des Ethos und der Moral einer Gemeinschaft von Menschen. Ethische Reflexion und Theoriebildung beziehen sich auf alle Grundlagenfragen der Lebensführung, auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche sittlicher Verantwortlichkeiten sowie auf individuelle und soziale Bildungsprozesse. Ethik umfasst empirisch-analytische Darstellung, theoretische Reflexion und praktische Beratung. Das Wort Ethos (griech. vhoß, lat. mos, mores ) bezeichnet ursprünglich das eingelebte Verhalten in seinen typischen Verläufen und Orientierungen: die Gewohnheit, die Bräuche, die Sitte – kurzum das üblicherweise erwartbare Verhalten und Handeln innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. „Ethos“, das man mit dem bisweilen etwas verstaubt klingenden, aber buchstäblich ehr-würdigen Wort „Sittlichkeit“ übersetzen kann, ist Teil einer jeden umfassenden, in sich vielfältigen Lebensform einschließlich bestimmter Institutionen, die sich in einer Gesellschaft geschichtlich entwickelt und eine überindividuelle Prägekraft ausgebildet haben. Ethos umfasst immer zugleich die individuelle und die soziale Sittlichkeit, das heißt das typisch erwartbare, mehr oder weniger allgemein übliche Verhalten und Handeln (Interaktionen) mit den entsprechenden Erwartungen in Bezug auf sich selbst und auf andere Menschen. Sittlichkeit wurzelt in der Geschichte einer Gemeinschaft; sie ist stets traditionsvermittelt. Dabei ist unvermeidlich immer schon mit gedacht, dass zu charakteristischen Bräuchen, Erwartbarkeiten und Üblichkeiten die Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit möglicher Abweichungen und Alternativen untrennbar hinzugehört. Wir nennen etwas nur dann (Un-)Sitte oder (Un-)Sittlichkeit, Moral oder Unmoral, wenn das entsprechende Verhalten zwar einigermaßen zuverlässig beobachtbar und erwartbar ist, aber wenn wir zugleich ahnen oder wissen, dass dieses Handeln und Verhalten nicht an sich, nach Naturgesetzen und mit Notwendigkeit so ist, wie es ist, sondern dass es auch anders sein könnte. Dass ein Mensch regelmäßig atmet, ist kein Merkmal der Sittlichkeit, sondern entspricht den Erfordernissen des natürlichen Stoffwechsels, wie ihn Biologie oder Zoologie beschreiben und als lebensnotwendig erweisen können. Dass und wie ein Mensch sich hingegen als politischer Bürger verhält oder seiner Sexualität Ausdruck gibt, ist immer (auch) Gegenstand seiner freien Entscheidung im Hinblick auf Erfahrungen und auf erwartbare Erwartungen anderer Menschen und der gemeinsamen Mitwelt. Dass zur Existenz lebendiger Wesen wie der Menschen ein Stoffwechsel gehört, ist normalerweise kein Gegenstand bewussten, freien Wählens; für unsere politischen, wirtschaftlichen oder pädagogischen Entscheidungen können wir dagegen zur Rechenschaft gezogen werden, weil und soweit wir sie frei zu treffen vermögen.

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Im Unterschied zu „Ethos“/„Sittlichkeit“ bezeichne ich mit dem Wort „Moral“ nicht die typisch befolgten Gewohnheiten und Bräuche, sondern die (nicht-rechtlichen) ausdrücklichen Regeln und Vorschriften, die mit dem Ethos verbunden sind oder ihm zugrunde liegen und direkt oder indirekt das sittliche Handeln und Verhalten bestimmen. Bei der Moral geht es um explizite, meist gegenseitige Erwartungen im Blick auf bestimmte oder bestimmbare Handlungsregeln oder handlungsleitende Normen, die als mehr oder weniger verbindlich vorgestellt, begründet, eingeübt und teilweise mit Sanktionen unterstützt werden. Diese Erwartungen können wiederum sprachlich oder überhaupt zeichenhaft (symbolisch1) vermittelte Gegenstände von sinnhaften Kommunikationen sein. Derartige Regeln sind typischerweise auf anerkannte, abgelehnte oder neutrale Formen des Handelns und Verhaltens bezogen und verwenden Unterscheidungen wie die von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, aber auch „beliebig“ („indifferent“). Ein entsprechendes, regel- oder normorientiertes Verhalten wird von Menschen einer sozialen Gemeinschaft erwartet, und auf derartige Erwartungen stellen sich Menschen typischerweise ein. Sie sprechen und streiten auch darüber. In diesem Sinne kann man mit Niklas Luhmann von Normen als kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenserwartungen sprechen.2 Es handelt sich um Regeln für erwartbares Handeln und Verhalten, die gelten oder jedenfalls (nach Meinung weniger oder vieler Menschen) gelten sollen. Das gelebte Ethos, die Sittlichkeit, und die ausdrücklichen Regeln und Vorschriften, die Moral, sind – als Erscheinungen in einer gemeinsam bewohnten Welt und Gegenstand möglicher Erfahrungen – ihrerseits Gegenstand darauf bezogener Kommunikationen zwischen Menschen. Menschen haben ein Verhältnis zu sich selbst, und dabei verhalten sie sich auch zu den von ihnen gewählten und nicht gewählten Möglichkeiten ihres Handelns und Verhaltens. Sie können etwas versprechen, sie können sich und anderen Rechenschaft geben, sie können sich „verantworten“.3 Als 1 Schon das bestimmte Heben einer Augenbraue kann eine markante Verhaltenserwartung zum Ausdruck bringen. Und hinter so scheinbar harmlosen Dingen wie der Placierung von Gästen und Essbestecken kann eine höchst komplizierte Sozialordnung stehen. 2 Normen in soziologischer Perspektive: in: Soziale Welt 20, 1969, 28–48. 3 In welchem Sinne eine heutige theologische Ethik als „Verantwortungsethik“ zu verstehen ist, wird unten im Abschnitt zum Verständnis der „Freiheit eines Christenmenschen“ näher erläutert. Wenn in den gegenwärtigen Ethik-Debatten von „Verantwortung“ die Rede ist, dann kommen dabei unterschiedliche Elemente zusammen, insbesondere: (1) Das Vermögen und die Bereitschaft eines Menschen, über Handeln, Unterlassen und Verhalten vor sich, den Mitmenschen und, bei gläubigen Menschen, vor Gott Rechen-

schaft zu geben, (2) sich selbst das Handeln und die voraussehbaren Handlungsfolgen zuzurechnen und zurechnen zu lassen, (3) eigene und fremde Handlungsfreiheit zu begrenzen im Blick auf die Bedingungen der Erhaltung der Mitwelt/Natur. Man kann auch von individueller Mündigkeit, politisch-ökonomischer Folgenabschätzung und naturbezogener Selbstbegrenzung bei jeder Verhaltensorientierung und Entscheidung sprechen. Siehe dazu meine Skizze: Das Prinzip Verantwortung in der ökumenischen Sozialethik, in: Stephan H. Pfürtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte II, Stuttgart u. a. 1988, 166–177. – Wegen einer nicht zu übersehenden Inflation des Verantwortungsbegriffs mache ich von ihm in diesem Buch nur sparsam Gebrauch. Zur Orientierung hilfreich sind Kurz Bayertz (Hg.), Verantwortung: Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995; Wolfgang Wieland, Verantwortung – Prin-

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„Ethik“ (in einem zunächst vor-theoretischen Sinne) kann man insofern auch die Kommunikation von Menschen über Sittlichkeit und Moral bezeichnen. Derartige Kommunikationen können (und sollten) durchaus auch Tiere einschließen, denn Tiere können Empfindungen von Lust und Schmerz artikulieren, und Menschen können derartige Regungen wahrnehmen und berücksichtigen.4 Eine Ethos-Gemeinschaft umfasst Menschen, Tiere, Pflanzen, Artefakte, auch schlichte Gebrauchsgegenstände5 und auf all dies hinweisende Zeichen. Gleichwohl bezieht sich die Ethik in erster Linie auf Gemeinschaften von Menschen, wenngleich natürlich unbestritten ist, dass es unter Tieren ebenfalls ein empirisch erforschtes Ethos und zugehörige Zeichen im Sinne beobachteter Regelmäßigkeiten des Verhaltens und Handelns gibt. Dass Tiere jedoch eine Moral im hier leitenden Verständnis expliziter, reflektierter Normen kennen, dafür habe ich bisher keinerlei Anzeichen gefunden. Die gegebene, beschreibbare und gestaltbare Wirklichkeit der Sitten und Gebräuche ebenso wie der Moral ist Gegenstand der Ethik; im Bezug darauf umfasst Ethik immer die Formen der Darstellung und der Kritik zugleich. Die Sitten und Gebräuche und die ausdrücklichen Regeln, denen Menschen folgen, liegen nicht unveränderbar fest, obwohl sie vermutlich nur in engen Grenzen absichtlich verändert werden können. Man kann sie allerdings bewusst oder unbewusst verletzen oder übertreten, und sie pflegen sich im Laufe der Geschichte vielfach zu verändern. Wir nennen sie „kontingent“, insofern sie weder notwendig noch unmöglich sind.6 Auf zip der Ethik?, Heidelberg 1999; Wolfgang Schuhmacher, Theologische Ethik als Verantwortungsethik. Leben und Werk Heinz Eduard Tödts in ökumenischer Perspektive, Gütersloh 2006. 4 Dass die Tiere in die (materiale) Ethik gehören, wird heute kaum mehr bestritten. Die Tierethik hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer eigenständigen Bereichsethik entwickelt. Ob und wie sinnvoll von Tierrechten gesprochen werden kann, ist eine schwierige Frage und entscheidet sich nicht zuletzt am verwendeten Rechtsbegriff. Dass kommunikative Prozesse Menschen und Tiere verbinden (können), sollte anerkannt sein. Inwiefern jedoch Tiere Menschen in ihrem Handeln und Unterlassen zu etwas verpflichten (können), ist eine Frage der menschlichen Wahrnehmung der Tiere und der Einübung im Gebrauch menschlicher Freiheit. 5 Die bisweilen von Mahnungen begleitete Erwartung, mit einer Sache sorgfältig umzugehen, ist insofern auch ein Teil des Ethos. Erst recht gilt dies für Kunstwerke, die Menschen in ihrem Besitz haben. 6 „Kontingent“ nenne ich Sachverhalte, die so, wie sie erwartet oder wahrgenommen werden, beschaffen sind oder eintreten (können), die aber auch anders beschaffen sein oder geschehen kön-

nen. Derartige Kontingenz von Sachverhalten ist wiederum von Bedingungen, insbesondere von Erfahrungen oder Vorstellungen der Möglichkeiten des Könnens, Wollens und Wissens abhängig. Zur Begriffsgeschichte siehe W. Brugger u. a., Art. Kontingenz, Hist. Wb. Philos. Bd. 4 (1976), 1027–1038. Einen instruktiven Überblick über die vielfältigen sachlichen und begrifflichen Variationen von Kontingenzverständnissen vermittelt der Sammelband: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998. Theologen und Soziologen, nicht zuletzt im Bereich der Religionssoziologie, sprechen häufig in lockerer Anlehnung an Niklas Luhmann von der Aufgabe der Religion, zur „Kontingenzbewältigung“ beizutragen. Sie folgen dabei oft einem ziemlich unklaren Verständnis von Kontingenz im Sinne von Zufälligkeit oder gar Beliebigkeit – Menschen müssten Schicksalsschläge verarbeiten oder könnten dieses oder auch jenes wählen. Seit Aristoteles’ Analyse von Aussagen über zukünftige Ereignisse, verdeutlicht am Beispiel der Rede von einer bevorstehenden Seeschlacht, sollte man davon ausgehen, dass „Kontingenz“ eine modallogische Kategorie ist, welche diejenigen Erscheinungen oder Ereignisse bezeichnet, die sowohl nicht notwendig als auch nicht unmöglich sind.

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die Seite der Darstellung gehört zunächst die sorgfältige Beobachtung, Erhebung und Beschreibung der gelebten Sittlichkeit.7 Soweit diese die Möglichkeiten der Infragestellung, des Widerspruchs und der Ablehnung enthält, verweist jedoch schon die Darstellung auf einen Raum möglicher Alternativen zum eingelebten, traditionellen Verhalten und Handeln. Dies nötigt zu Unterscheidungen und Rechtfertigungen, also zu einem fragenden und prüfenden Übergang auf die Ebene von Kriterien, Regeln und Prinzipien des Gesollten, also der Moral. In Vollzug und Begründung solcher Unterscheidungen werden sowohl die Sittlichkeit als auch die Moral zum Gegenstand der Kritik, die ihrerseits aufmerksam ist für offene Möglichkeiten und Alternativen. Diese komplexe Aufgabe der Ethik kann man „Theorie“ im Sinne der Einheit von Beobachtung (Wahrnehmung), Darstellung und Kritik nennen. So lässt sich die Ethik auch als „Theorie der menschlichen Lebensführung“ charakterisieren.8 Wichtig ist hierbei die Unterscheidung von gelebter Sittlichkeit im Sinne einer in der Regel wechselseitigen, durchaus kontrafaktischen Erwartung von erwartbaren Da man genau dies von vergangenen (abgeschlossenen) Sachverhalten nicht sinnvoll aussagen kann, sind im engeren Sinne nur künftige Erscheinungen oder Ereignisse als kontingent zu bezeichnen. In einem weiteren Sinne kann man auch von vergangenen Sachverhalten hypothetisch unter dem Aspekt sprechen, was – unter bestimmten oder zu bestimmenden Bedingungen – auch anders möglich gewesen wäre, insbesondere im Blick auf usprünglich mögliche, alternative Entscheidungen und Handlungen. Die vielfältigen Debatten über die futura contingentia haben durchweg diesen modallogischen Kontext vorausgesetzt; zur Antike siehe Dorothea Frede, Aristoteles und die „Seeschlacht“. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9, Göttingen 1970; zu zentralen Aspekten der mittelalterlichen Debatten Joachim Roland Söder, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999; ferner Jürgen Goldstein, Kontingenz und Möglichkeit. Über eine begriffsgeschichtliche Voraussetzung der frühen Neuzeit, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, 23.–27. September 2002 in Bonn, Berlin 2002, 659–669. Die Äußerung Niklas Luhmanns, die Hermann Lübbe popularisiert hat (u. a. in dem oben erwähnten Band, hg. v. Graevenitz/Marquard, zu „Kontingenz“, dort 35–47), dass Religion auf das Problem der sogenannten „Kontingenzbewältigung“ bezogen sei, hat zu einer derartigen Ausdehnung der Bedeutungen von

„Kontingenz“ geführt, dass inzwischen nahezu jeder Zufall oder jedes irgendwie von Menschen zu deutende Widerfahrnis als Kontingenzerfahrung bezeichnet wird. Mit einem derart konturenlosen Wort kann man appellative Wirkungen, aber keine gedanklichen Klärungen erreichen. Luhmann selbst hat im übrigen den Kontingenzbegriff für seine Theoriezwecke weitaus präziser bestimmt; vgl. schon seine frühen Beiträge: Generalized Media and the Problem of Contingency, in: Jan. J. Loubser/Rainer C. Baum/Andrew Effrat/Victor M. Lidz (Hg.), Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honour of Talcott Parsons, Bd. 2, New York/London 1976, 507–532; ders., Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, 182–208; ders., Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984, 148–190. – Zur Geschichte und philosophischen sowie theologischen Bedeutung des Verständnisses von Kontingenz vgl. Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hg.), Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems, Tübingen 2000. 7 Insofern ist es alles andere als Zufall, dass das erste deutschsprachige Buch, das den Ausdruck „Socialethik“ im Titel führt, der Sache nach in erster Linie empirisch-beschreibend war, aber gleichzeitig normativen Orientierungen verpflichtet war; siehe Alexander von Oettingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik, Erlangen 1868, 21874, 31882. 8 Trutz Rendtorff, Art. Ethik VII. Ethik in der Neuzeit, TRE 10, 1982, 481–517 (481).

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Verhaltensweisen einerseits, der ausdrücklichen Reflexion auf die Voraussetzungen, Grundlagen, Begründungen und Prüfungen einer derartigen Sittlichkeit andererseits. Auch wenn im Sprachgebrauch vieler Menschen die Wörter „Moral“ und „Ethik“ oft gleichgesetzt werden, ist es sinnvoll, zwischen dem Gegenstandsbereich und der darauf bezogenen Reflexion und Theorie zu unterscheiden.9 Ethik ist nach dem hier verwendeten Sprachgebrauch mithin die Theorie (systematische Darstellung und Kritik) der gelebten Sittlichkeit und der Moral (der sittlichen Regeln und Normen), die in einer Gesellschaft anerkannt und umstritten sind, gelten oder gelten sollen.10 Ethik als Theorie umfasst mindestens drei unverzichtbare, aufeinander nicht reduzierbare, jedoch vielfach miteinander in Beziehung stehende Aspekte: Als Darstellung ist sie zunächst deskriptiv. Man könnte sie insoweit auch Ethologie nennen. Sie beschreibt, was Menschen (und auch Tiere) typischerweise tun oder nicht tun, sie fragt, welche beobachtbaren oder erschließbaren Ursachen, Gründe oder Motive dabei wirksam sind, wie diese wirken und wie sie mitgeteilt werden. Beschrieben wird auch, welche Institutionen und Organisationen dabei eine Rolle spielen, welche Einstellungen und Erwartungen wichtig sind, und wie dies alles in komplexen Wechselwirkungen steht. Eine wichtige Beschreibungsperspektive ist die (reflektierte) Beobachtung eines Systems in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die deskriptive Ethik arbeitet in vielfacher Weise mit empirischen Wissenschaften zusammen. Als Kritik ist Ethik hingegen unvermeidlich wertend und gewichtend, also präskriptiv bzw. normativ. Sie fragt, inwiefern und warum etwas, was ist, auch (in gewissen Grenzen) anders sein könnte, warum es so sein und bleiben soll, wie es ist, oder anders werden kann und soll. Es wird auch gefragt, ob und wie und warum/ woraufhin Institutionen (z. B. rechtliche Verfassungen) verändert werden können, 9 Die ausdrückliche terminologische Unterscheidung von Sittlichkeit und Moral stellt eine neuzeitliche Entwicklung insbesondere im deutschen Sprachraum dar. Kant hat zu Recht daran erinnert, dass „Ethik [. . .] in den alten Zeiten die Sittenlehre (philosophia moralis) überhaupt“ bedeutete, „welche man auch die Lehre von den Pflichten benannte“. Erst in neuerer Zeit habe man diesen Titel für Pflichten, die nicht äußeren Gesetzen unterliegen, reserviert und dies auch „Tugendlehre“ genannt, von welcher die Rechtslehre (die von Pflichten handelt, die Gegenstand äußerer Gesetze sind) unterschieden werde (Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre, 1797, Akademie-Ausgabe [AA] 6, 379, 3). Eine Generation später hat Hegel die Unterscheidung von Moralität und Sittlichkeit systematisch in seiner Rechtsphilosophie zur Geltung gebracht. – In der angelsächsischen Welt werden „morality“ und

„ethics“, verstanden als Orientierung und Rechenschaft über „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ im Blick auf Verhalten und Handeln, bis heute meist gleichgesetzt und der „ethical theory“ (die ich „Ethik“ nenne), gegenübergestellt. „Metaethics“ sind dabei ein wichtiger Bereich der „ethical theory“; vgl. hierzu die Einführung des Herausgebers in: David Copp (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, Oxford 2006, 3–35. 10 Diese sinnvolle terminologische Unterscheidung durchzuhalten wird allerdings schwierig bei der Verwendung des Adjektivs „ethisch“, wenn man z. B. von einer guten oder schlechten „ethischen Entscheidung“ spricht. Hier gehen die Bedeutungen von „sittlich“, „moralisch“ und „ethisch“ ineinander über, und der Unterschied von sittlichem Gegenstandsbereich und darauf bezogener Reflexion/Theorie tritt zurück.

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sollen oder müssen und wie entsprechende Organisationsformen aussehen könnten oder sollten (z. B. Organisationen und Verfahren im Blick auf bestimmte gesellschaftliche Funktionsbereiche). Vor allem wird gefragt, welche Zuständigkeiten, Rechenschaftspflichten und Verantwortlichkeiten von Menschen mit ihren möglichen und tatsächlichen Handlungen verbunden sind. Als Theorie mit den beiden Aspekten von Darstellung und Kritik kann jede Ethik selbst noch einmal metaethisch analysiert und kritisiert werden. Dann wird z. B. der Sprachgebrauch der Ethik in Alltagssprache und Theoriebildung näher untersucht. Oder es wird gefragt, ob und wieweit in scheinbar nicht wertende Beschreibungen normative Gehalte (Wertungen) doch eingehen, welcher Art die Gesichtspunkte der Kritik (Kriterien) sind und welche praktischen Wirkungen eine ausgearbeitete und gesellschaftlich propagierte Ethik auf das Leben der Menschen hat. Oder man versucht, die Voraussetzungen beispielsweise anthropologischer Art, die in einer Ethik gemacht werden, freizulegen. Derartige metaethische Reflexionen können überwiegend formaler Art sein, indem etwa die in der Ethik verwendeten Wörter und Begriffe kritisch analysiert werden, sie können aber auch ein ganzes System traditioneller Sittlichkeit, wie sie etwa von großen Religionen überliefert und eingeschärft wird, und die zugehörigen Moralbegriffe von Grund auf in Frage stellen. Metaethik ist eine Art Beobachtung zweiter Ordnung – sie untersucht, was Ethiker als Theoretiker (warum, wie und wozu) machen. In die Beschreibung oder Darstellung sittlichen Verhaltens und moralischer Regeln und Überzeugungen fließen vermutlich wertende Gesichtspunkte ein, schon allein dadurch, dass und wie die (empirisch erhobenen) Sachverhalte aus der Fülle der mannigfaltigen Informationen ausgewählt, geordnet und gedeutet werden und ihrerseits Gegenstand von weiteren Kommunikationen werden. Beobachtungen und Darstellungen werden von Erkenntnisinteressen11 gesteuert, die unter anderem Ausdruck dessen sind, was einer Zeit oder einer Autorin/einem Autor als „wissenswert“ erscheint; sie werden freilich von diesen Interessen nicht ausschließlich konstituiert. Zwei prominente Beispiele: Sowohl die erwähnte, stark empirisch ausgerichtete „Socialstatistik“ von v. Oettingen als auch die Untersuchungen zur tatsächlich praktizierten Sexualmoral von Alfred C. Kinsey („Kinsey-Reports“) waren zunächst empirisch-deskriptiv angelegt. Sie gewannen ihre gesellschaftliche und ethische Relevanz erst aus den expliziten oder impliziten Deutungen, die in ihre Darstellung eingingen oder diesen von Anhängern oder Gegnern zugeschrieben wurden. V. Oettingen zielte mit seinem statistischen Material auf Sozialreformen im deutschen Kaiserreich, 11 Den Begriff des Erkenntnisinteresses hat Max Weber, unter dem Einfluss Nietzsches, geprägt, um damit auszudrücken, dass es die Forschenden selbst sind, die einem Sachverhalt oder Vorgang eine bestimmte Bedeutung oder „Qualität“ beilegen: „Sie (die Qualität, WL) ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses , wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung

ergibt, die wir dem betreffenden Vorgang im einzelnen Fall beilegen.“ So in dem Aufsatz: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftlehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 31968, 146– 214, 161; Kursivierung bzw. Sperrung bei Weber selbst.

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Kinsey wurden von seinen Gegnern vielfache verborgene Absichten bis hin zur Zerstörung der abendländischen Kultur unterstellt.12 Man sieht: Die Darstellung der Ergebnisse empirischer Untersuchungen muss keineswegs von sich aus oder angesichts der Rezeptionsvorgänge ethisch neutral oder indifferent sein. Jede Bewertung oder Beurteilung sittlichen Verhaltens und moralischer Regeln und Überzeugungen beruht zweifellos auch auf empirischen Vergleichen, die es ermöglichen, Handlungs- und Verhaltensalternativen aufzuzeigen, im Blick auf die ein bestimmtes Verhalten (normativ) erwartet wird oder erwartet werden kann. Ohne empirisch nachweisbare, plausible Alternativen keine unterscheidende Bewertung und kein Urteil. Die Erwartungen entsprechender Normbefolgungen können sich dabei in unterschiedlichem Ausmaß von dem entfernen, was in einer Gesellschaft üblich ist. So haben beispielsweise nur ganz wenige deutsche Männer 1939 den Kriegsdienst deshalb verweigert, weil es sich – nach Maßgabe der traditionellen Auffassungen von „rechtmäßigen Kriegen“ – um einen ungerechten Krieg handelte.13 Sie sahen keine tatsächliche oder moralisch gebotene Alternative zum erwarteten militärischen Gehorsam. Normative Alternativen und Zumutungen können auch in dem Maße neu aufkommen oder zunehmen, wie sich die gesellschaftlichen Probleme und Handlungsmöglichkeiten verändern.14 Die vermutlich bis in die Gegenwart folgenreichste metaethische Kritik von Sittlichkeit und Moral europäisch-christlicher Prägung findet sich in Friedrich Nietzsches Werk.15 Ob und wieweit seine Platonismus- und Christentums-Kritiken historisch zutreffend sind, ist hier nicht von Belang, sondern nur der Sachverhalt, dass diese Kritik auf die tatsächlich oder vermeintlich lebensfeindlichen, triebrepressiven Wirkun12 Vgl. Erwin J. Haeberle, Alfred C. Kinsey als Homosexualitätsforscher, in: Rüdiger Lautmann (Hg.), Homosexualität. Handbuch der Theorieund Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M./New York 1993, 230–238. 13 Mein akademischer Lehrer Heinz Eduard Tödt schrieb in einem Rückblick auf seine Einziehung zum Wehrdienst 1937: „Anstatt hier schon die Frage zu stellen, ob ich als Christ in einem solchen Staat, der sichtbar aufrüstete, Soldat werden und für ihn in den Krieg ziehen könne, erschien es mir als eine patriotische Selbstverständlichkeit, beides zu tun, also eine ‚fraglose‘ Angelegenheit. Nicht zu dienen, hätte allerdings die rechtzeitige Emigration erfordert, wollte man sich nicht erschießen lassen, und Emigration bedeutete Trennung von Deutschland.“ Komplizen, Opfer und Gegner des Hitlerregimes. Zur „inneren Geschichte“ von protestantischer Theologie und Kirche im „Dritten Reich“, Gütersloh 1997, 170. 14 Hegel hat gelegentlich gesagt: „Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel

sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“ Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 244, Zusatz (Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a.M 1970, 390). Analoges zu dieser Bemerkung Hegels gilt heute im Blick beispielsweise auf die Armutsfolgen der sogenannten Globalisierung. Nicht (adäquat) zu handeln, obwohl man der Armut abhelfen kann und dies auch weiß, bedeutet, sich einer sittlichen Verantwortlichkeit bewusst zu entziehen. Abstrakt kann man sagen: Die Verantwortlichkeit von Menschen reicht so weit wie ihr Wissen und Können. 15 Siehe dazu Hans Günter Ulrich, Anthropologie und Ethik bei Friedrich Nietzsche. Interpretationen zu Grundproblemen theologischer Ethik, München 1975. Daneben sind vor allem die Kritiken der „herrschenden“ Moral von Karl Marx und Sigmund Freud zu nennen.

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gen vor allem einer zeitgenössischen christlich-kirchlichen Moral zielte, um sich davon zu befreien. Dietrich Bonhoeffer hat aus genuin theologischen Gründen diese Moralkritik teilweise aufgenommen.16 Diese und ähnliche metaethischen Kritiken der Ethik entgehen indes nicht der Tatsache, dass sie selbst wieder die kritische Funktion der Ethik auszuüben, und dies wiederum mit empirisch beobachtbaren Folgen. Was macht Ethik in diesem mehrfachen Sinne unvermeidlich und unabweisbar? Zuerst und zuletzt das menschliche Vermögen symbolisch (besonders sprachlich) vermittelter Kommunikation in einer Gesellschaft. Ein wichtiger Unterfall der Möglichkeiten von Kommunikation ist die Beratung – mit sich, mit anderen, Anwesenden und Abwesenden. Die schlechthin gesellschaftskonstitutive Dimension von Kommunikation betrifft Interaktionen in der Gestalt von Kooperationen, Konflikten und Ordnungsbildungen. Immanuel Kant hat in einer kleinen Abhandlung über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) geschrieben, dass Menschen von Natur aus unter der elementaren Bedingung des sozialen Antagonismus leben, d. h. in der Form der „ungeselligen Geselligkeit“. Menschen haben den „Hang [. . .], in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.“17 Ausgangspunkt von Kants in neun knappe „Sätze“ gegliederter Argumentation ist der Hinweis, dass auch die Menschen Teil der Natur sind, den Naturgesetzen unterliegen und gleichsam den ihnen verborgenen „Absichten“ der Natur ohne eigenen Plan folgen, auch wenn sie meinen, beispielsweise bei der Eheschließung oder in ihrem generativen Verhalten, frei zu entscheiden. Aber die von Kant so genannten „jährlichen Tafeln“, also die frühen Formen der Statistik, zeigen, dass hier durchaus auf empirischem Wege statistische Regelmäßigkeiten feststellbar sind. Grundsätzlich postuliert Kant, dass die „Naturanlagen eines Geschöpfes“ dazu bestimmt sind, entfaltet zu werden; unter Abwandlung des aristotelischen Begriffs der Entelechie soll es eine „teleologische Naturlehre“ geben (These 1). Nicht der einzelne Mensch, aber die menschliche Gattung soll danach in der Lage sein, ihre Naturanlagen vollständig zu entwickeln, und zwar nicht gemäß den natürlichen Anlagen oder den Instinkten, sondern mittels des Gebrauchs der Vernunft, und zwar durch „Versuche, Übung und Unterricht“ (These 2). Aufgrund der angenommenen Zweckmäßigkeit der Natur gehört es zur Naturbestimmung der menschlichen Gattung, ihr Leben vernünftig und aus eigener Kraft zu ordnen (These 3). Eines der Mittel, durch die die Natur die Menschen zum Vernunftgebrauch nötigt, ist die Verfassung ungeselliger Geselligkeit – sie kommen nicht umhin, sich zu „vergesellschaften“, selbst wenn wie sich „verein16 Vgl. Peter Köster, Nietzsche als verborgener Antipode in Bonhoeffers „Ethik“, in: NietzscheStudien 19, 1990, 367–418. Köster hat darauf aufmerksam gemacht, dass von Bonhoeffers Philosophielehrer in der Schule, Martin Havenstein, 1922 in Berlin ein Buch über „Nietzsche als Erzieher“ erschienen ist (376, Anm. 38).

17 AA 8, 20, 30. Aristoteles sprach schon von der Spannung zwischen dem Menschen, der von Natur aus auf das Zusammenleben in der Polis angelegt sei (anhrwpoß fusei politikon zwon) einerseits, dem „bindungslosen“ Menschen (azux) andererseits (Pol. 1253 a 3).

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zelnen“ wollen (These 4). Daraus folgt das Grundproblem, analog dem „problême fondamental“ bei Rousseau:18 „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden, bürgerlichen Gesellschaft“, d. h. einer gesellschaftlichen Ordnung, in der „Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird“ (These 5). Die Auflösung dieses Problems kann sich Kant in der Folge von Platons Idee der Philosophenkönige nur so denken, dass das „höchste Oberhaupt“ „gerecht für sich selbst “ und doch ein Mensch sein muss – eine Aufgabe, die günstigenfalls annäherungsweise möglich ist, denn „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden.“19 (These 6) Die weiteren Thesen nennen notwendige Bedingungen für die Errichtung einer bürgerlichen Verfassung und einer Völkerbundordnung, wie sie Kant in weiteren Schriften, besonders in seinem Traktat Zum ewigen Frieden (1795), ausgeführt hat. In der Abhandlung, aus der ich hier zitiere, hat Kant in denkbar knappen Zügen eine naturphilosophisch fundierte, normative Sozialtheorie vorgelegt. In dieser Verfassung „ungeselliger Geselligkeit“ kommen die Menschen nicht umhin, nach einer brauchbaren, schützenden, zustimmungsfähigen Ordnung zu suchen, nach verbindlichen Regeln, die allgemein anerkannt werden können. Das entscheidende Mittel dieser Suche ist die sprachliche Verständigung, jene öffentliche und private Beratung, mittels derer Grundsätze und Verfahren, Rechte und Pflichten der Menschen ermittelt werden. Die ideale, praktisch zu realisierende Form der Auflösung gesellschaftlicher Antagonismen ist eine rechtsstaatliche Verfassung. Die durchaus fehlbare Vernunft ist das Vermögen der Menschen, sich über diese notwendige Aufgabe zu verständigen. Dieser elementaren Beratungsaufgabe ist die moderne Ethik genauso verpflichtet wie die der Antike. Die Ethik fragt also, jenseits ihrer beschreibenden und beobachtenden Funktion, nach individuell und sozial verbindlichen Regeln des Verhaltens und Handelns, also nach Normen, und dies, wenn sie selbst gut beraten ist, in einer nicht bevormundenden, sondern beratenden, fast kann man sagen: therapeutischen Perspektive.20 Die Beratungsfunktion aller Ethik 18 „Trouver une forme d’association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à luimême et reste aussi libre qu’auparavant?“ („Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?“) Du contrat social, ou Principes du droit politique (1762), Œuvres complètes, Bd. III (Bibl. Pléiade), Paris 1964, 360. 19 Helmut Gollwitzer hat hier angeknüpft:

Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970. 20 Friedrich Schleiermacher hat gelegentlich davon gesprochen, dass das ethische Wissen „als ein guter Rath gestaltet“ werden solle: „Einleitung zur Ethik“ (vermutlich 1816/17), in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. und eingeleitet von Joachim Birkner, Hamburg 1981, 213. Diese Auffassung enthält einen sachlichen Grund dafür, dass es zahlreiche Verbindungen zwischen der theologischen Ethik und der praktischen Theologie gibt, wie sie sich insbesondere in der Seelsorge und der Diakonie der Kirchen zeigen. In der angelsächsi-

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dient dem moralisch und politisch gewollten und rechtlich geordneten Zusammenleben in einer Gesellschaft. Die Ethik hat es indes nicht allein mit Sittlichkeit und Moral auf der Ebene der Gesellschaft zu tun. Dabei mag man hinsichtlich der jeweiligen Gesellschaft, auf die sich ein Ethos bezieht, zwischen solchen unterscheiden, die (1) über eine anerkannte Verfassung verfügen, (2) sich in Konflikte oder Krieg verstrickt haben oder (3) versuchen, sich selbst in eine neue oder erneuerte rechtliche Ordnung zu transformieren. Es ist offensichtlich, dass die oft in tieferen Schichten, nicht zuletzt in religiösen Überlieferungen verwurzelten sittlichen Überzeugungen der Menschen für den Umgang mit den Herausforderungen einer politischen Gesellschaft von gar nicht zu überschätzender Bedeutung sind. Daneben gibt es auch eine Bezugsebene des Ethos und der Ethik, die nicht die Öffentlichkeit betrifft, sondern die Bereiche von Familie, Freundschaft und vielfältigen privaten Bindungen. In diesen Bereichen wird ein überliefertes Ethos nicht ständig neu erfunden, geprüft, verworfen oder gebilligt, sondern es wird auf traditionellen Wegen weitergegeben. Einer der wichtigsten dieser Wege ist zweifelsohne die Erziehung, und zwar wiederum auf den beiden Ebenen der formellen Erziehung einerseits (institutionalisiertes Bildungswesen), der informellen Traditionsweitergabe und den entsprechenden Verhaltensweisen und Erwartungen andererseits. Jedes Ethos steht mithin im Kontext von individuellen und gesellschaftlichen Bildungsprozessen. In derartigen Zusammenhängen spielen sich die Prozesse der ethischen Einübung, Identitätsfindung und Urteilsbildung keineswegs nur auf der kognitiven Ebene ab. Vieles geschieht nahezu unmerklich durch Vorbildwirkungen und Nachahmungsverhalten. Von entscheidender Bedeutung sind hier die Affekte (lat. affectus/passio, griech. pahoß). Ursprünglich bezeichnet pahoß dasjenige, was einem Menschen von außen her zustößt und infolgedessen von innen her bewegt. Affekte sind, wie Aristoteles sagt, Bewegungen der Seele oder des Gemüts, die von Empfindungen der Lust und des Schmerzes begleitet sind – Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid usw.21 Die Affekte wiederum stehen in Verbindung mit den leiblichen Vorgängen; insbesondere die antiken und mittelalterlichen Lehren von den sogenannten Körpersäften versuchten die Wechselwirkungen von Leib und Seele und ihre Auswirkungen auf Affekte und Charakter verständlich zu machen. Die Erregung und Beeinflussung der Affekte wiederum ist von vielen endogenen und exogenen Faktoren abhängig, und dies wiederum wirkt sich notwendigerweise auf die gesamte Lebensführung aus. Die philosophisch-theologischen Lehren von den Affekten22 bildeten bis weit in die frühe Neuzeit einen prominenten Teil jeder Anthropologie23 und zugleich der Ethik, denn in schen akademischen Welt gibt es häufiger als auf dem europäischen Kontinent eine Lehrstuhlverbindung zwischen diesen Fächern. 21 Nikomachische Ethik (NE), 1105 b 21. 22 Siehe dazu J. Lanz, Art. Affekt, Hist. Wb. Philos. Bd. 1 (1971), 89–100.

23 Siehe Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, 21800), AA 7, 117–333 (vgl. Hg. Weischedel VI, 579–622). Zahlreiche Beispiele aus der frühneuzeitlichen Literatur untersucht überaus erhellend Irmgard M. Wirtz, Affekt und Erzählung. Zur ethischen Fun-

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einer bestimmten Lebensführung wirken sich unvermeidlich vor allem die starken Affekte aus, die es durch Vernunft und Willen zu „meistern“ gilt. Im Dienste dieser Aufgabe standen und stehen sehr unterschiedliche Instanzen und Medien. Ich verweise nur auf die Bedeutung der Märchen für Identitätsbildungsprozesse, auf die sittlichen (oder eben auch unsittlichen) Gehalte von Romanen, Theaterstücken, Filmen, auf die Stellung von moralisch relevanten Katechismen in religiösen Bildungsprozessen und auf die Vielfalt von Symbolen und deren affektive Wirkungen. Kurzum: Ethik als Reflexion des Ethos ist nicht nur eine Angelegenheit kognitiver Prozesse, sondern eingebettet in eine umfassende Lebenswelt, in der Widerfahrnisse, Affekte und Vernunftgründe ineinander verschlungen sind.

1.2 Anfänge der Ethik in der europäischen Geschichte Ethik ist in der europäischen Geschichte seit den Anfängen eine philosophische Disziplin. Überlieferungen des Ethos stehen zugleich in einem engen Verhältnis zu den Kult- und Religionsgemeinschaften in historisch besonderen Gesellschaften. Ethik als Reflexion begegnet als eine Aufgabe und Frage sowohl der Vernunft wie des Glaubens. Der Titel „Ethik“ bezeichnet seit den Anfängen der europäischen Philosophie eine komplexe philosophische Fragestellung sowie eine Wissenschaft. Über die Art des Wissenschaftscharakters der Ethik gehen freilich die Meinungen seit alters weit auseinander. Die Anfänge24 liegen in der kritischen Diskussion des Ethos der antiken Polis bei Sokrates (469–399) und Platon (427–347). Sophisten des 5. Jahrhunderts v.Chr. wie Protagoras oder Gorgias sind Träger einer Aufklärungsbewegung, die, im Zusammenhang mit der Ablösung der alten Aristokratie durch die athenische Demokratie, die traditionellen sittlichen Normen ebenso wie die religiösen Überzeugungen kritisch prüft. Die skeptische Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, wird angefeindet, lässt sich aber auf Dauer nicht unterdrücken. Sokrates wird 399 gar wegen Gottlosigkeit (asebeia) bzw. als Gottesleugner angeklagt und hingerichtet. Der umfassende Entwurf Platons zu einer Ethik,25 insbesondere in seinem großen Werk über die Staatsverfassung (Politeia ), verbindet die Bestimmung der individuellen menschlichen Tugenden mit der Untersuchung der Überlebensbedingundierung des Barockromans nach 1650, Habil.Schrift Bern 2007/2008 (Mskr.). 24 Siehe Stephan H. Pfürtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte I, Stuttgart u. a. 1988, 16–96; Jan Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 1991, 47–75. 25 Siehe Terence Irwin, Plato’s Ethics, Oxford 1995; Julia Annas, Platonic Ethics. Old and New,

Ithaca, NY 1999; die Beiträge von Daniel Devereux, David Keyt, Nicholas White und Susan Sauvé Meyer in: Hugh H. Benson (Hg.), A Companion to Plato, Oxford 2006, 323–387; Dorothea Frede, Plato’s Ethics: An Overview. in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/plato-ethics).

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gen einer wohlgeordneten Polis26 und muss vor dem Hintergrund des Todes des verehrten Lehrers und des Niederganges Athens in Auseinandersetzung mit Sparta gelesen werden. Von einer Theorie oder Wissenschaft der Ethik hat erstmals Aristoteles (384–322) gesprochen. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen Theorien, die sich auf die Natur, und solchen, die sich auf die Sittlichkeit beziehen.27 Seine Nikomachische Ethik ist bis heute immer wieder zum maßgeblichen Ausgangspunkt ethischer Reflexionen geworden.28 Zwar steht im Zentrum dieses Werkes die Frage nach dem „besten Gut“, dem Glück (eudaimonia), und der Beschaffenheit des Lebens, das danach strebt, aber die Ausführungen des Aristoteles gehen keineswegs in der Frage nach dem „guten Leben“ auf, sondern behandeln ebenso die Probleme der Tugend, der Freiwilligkeit, der Entscheidung und – vor allem – der Gerechtigkeit. Von hier aus erscheint es mir als nicht sehr sinnvoll, einer „Ethik des guten Lebens“ eine „Ethik von vernünftigen Prinzipien“ schematisch gegenüberzustellen, wie dies immer wieder geschieht.29 Vielmehr zeigt jede eingehende Lektüre, dass schon in der antiken Ethik viele, wenngleich nicht alle Probleme und Fragestellungen verfolgt werden, die in ähnlicher Weise die sogenannte moderne Ethik bestimmen.30 Seit Aristoteles tritt die Ethik als Theorie oder Wissenschaft auf. Die meisten europäischen Ethiken beziehen sich in wesentlichen Fragen immer wieder auf die griechischen Grundlagen, auch dort, wo dann vielleicht in wichtigen Einzelfragen neue Wege begangen werden. Wo diese philosophische Ethik-Tradition, welche Ethik als Theorie versteht, von Theologen rezipiert wird und ihr, wie besonders im hohen Mittelalter, hohe Autorität beigemessen wird, ist man sich dessen bewusst, dass man es hier mit philosophischer Ethik zu tun hat. Thomas von Aquin (1224/5–1274) 26 Vgl. hierzu die problemorientierte Skizze von Günther Patzig, Platons politische Ethik, in: ders., Gesammelte Schriften III, Göttingen 1996, 32–54; zu den viel diskutierten Analogien zwischen der Seelen- und der Staatslehre bei Platon siehe G.R.F. Ferrari, City and Soul in Plato’s Republic , Chicago – London 2005. 27 Fusikv / vhikv hewria: Analytica Posteriora 89 b 9. Im Lateinischen steht dafür seit der Stoa (Cicero, Seneca) bis zur vorkantischen Schulphilosophie (Christian Wolff) „philosophia moralis “. 28 Aus der deutschsprachigen Lit. siehe bes. Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995; Ursula Wolf, Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“, Darmstadt 2002. Zur Einführung vgl. Christof Rapp, Aristoteles, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 69–81; Richard Kraut, Aristotle’s Ethics, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/ aristotle-ethics). 29 Insbesondere in der sog. „kommunitaristischen“ Kritik an der von Kant stark beeinflussten

Gerechtigkeitstheorie John Rawls’. Die Varianten dieser seit den 1980er Jahren vorgetragenen Kritik sind mannigfach, aber es ist im Grunde doch leicht zu sehen, dass eine ethische Theorie gar nicht umhin kommt, die Frage nach (der Begründbarkeit von) Kriterien des Handelns und Verhaltens mit bestimmten und erläuterungsbedürftigen Annahmen gesellschaftstheoretischer und anthropologischer Art zu verbinden. Vgl. zu diesen Fragen Heiner Hastedt, Gerechtigkeit, und Ekkehard Martens, Lebensformen, beides in: dies. (Hg.), Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek 21996, 198–214 und 215–232. 30 Vgl. beispielsweise Daniel Devereux, Socrates’ Kantian Conception of Virtue, in: Journal of the History of Philosophy 33, 1995, 381–408. Bisweilen wird auch eine (antike) Tugendethik einer (neuzeitlichen) Pflichtenethik gegenübergestellt, aber die Antike kennt durchaus Pflichtenlehren, besonders in den Konzeptionen der Stoa, wie Kant umgekehrt natürlich auch eingehend von den Tugenden schreibt. Näher hierzu unten, Teil II, 1 und 2.

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spricht von Aristoteles schlicht als dem Philosophen; philosophus dicit , heißt es immer wieder lapidar. Diese Art Ethik als Theorie mag im Leben ihrer einzelnen Vertreter durchaus mit deren Religion oder Kultteilnahme vereinbar oder verbunden sein, aber das Fundament dieser Ethik ist nicht selbst durch religiöse Erfahrungen, Einsichten oder gar Offenbarungen bestimmt.31 Wie aber steht es mit anderen, nicht-philosophischen Auffassungen des Ethos in der Antike, insbesondere mit den Überlieferungen der hebräischen Bibel?32 Sie sind ganz gewiss nicht als „Theorie“ im griechischen Verständnis des Wortes anzusprechen. Hier begegnet zuerst einmal die Tora, das umfassende, mosaische Gesetz, und dieses ist keine theoretische Lehre, obwohl die Tora auch gelehrt und gelernt werden muss, sondern eine immerwährende Einübung in das Leben des Gottesvolkes. Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein./ Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft./ Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen/ und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst./ Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein,/ und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore. (Dtn 6,4–9)

Dieses Gebet, das „Höre Israel“, beten Juden zweimal am Tage; so taten es gewiss auch der fromme Jude Jesus von Nazareth und die Frauen und Männer, die ihm folgten und in Gemeinschaft mit ihm lebten. Wer die Worte, die JHWH gebietet, in sein Herz aufnimmt, der ist „wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl.“ (Ps 1,3) Die Beter der Psalmen stimmen in der gedrängten Fülle der Poesie in dieses biblische Ethos ein. Eine komplette Sozialethik wie in einer Nussschale kann dabei in wenigen Versen eines Psalms konzentriert werden, wenn es beispielsweise heißt: Reiche müssen darben und hungern; aber die den Herr suchen, haben keinen Mangel an irgendeinem Gut./ Kommt her, ihr Kinder, höret mir zu! Ich will euch die Furcht des Herrn lehren./ Wer möchte gern gut leben und schöne Tage sehen?/ Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden./ Lass ab vom Bösen und tu Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!/ Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten und seine Ohren auf ihr Schreien./ Das Angesicht des Herrn steht wider alle, die Böses tun, dass er ihren Namen ausrotte von der Erde./ Wenn die Gerechten schreien, so hört der Herr und errettet sie aus all ihrer Not./ Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein

31 Auch wenn Platon im ersten Satz der Politeia Sokrates berichten lässt, dass er am Vortage zum Hafen Piräus hinabgegangen sei, um „die Göttin anzubeten“ (proseuxomenoß tv hew), dann kommt dieser Tatsache für die Entfaltung der politischen Ethik doch keine größere Bedeutung zu. 32 Eckart Otto, Theologische Ethik des Alten

Testaments, Stuttgart u. a. 1994, handelt freilich primär nicht von der Ethik, sondern vom Recht und seinen geschichtlichen Entwicklungen, soweit diese im AT greifbar sind. Eine dem griechischen Verständnis vergleichbare Unterscheidung von Recht und Ethos scheint dem AT überwiegend fremd zu sein.

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zerschlagenes Gemüt haben./ Der Gerechte muss viel erleiden, aber aus alledem hilft ihm der Herr. (Ps 34,11–20)

Diese Worte sind Ausdruck eines Glaubens, dem ein Ethos untrennbar innewohnt, das sich geschichtlich entwickelt hat, vielfach aufgrund von Erfahrungen modifiziert, gedanklich reflektiert und sprachlich verdichtet worden ist und insgesamt in dem Glaubens- und Sozialzusammenhang des Gottesvolkes verwurzelt ist. Das ist keine Theorie im griechischen Sinne. Gleichwohl wird man nicht behaupten können, dass nicht auch das Alte Testament Beobachtungen, Darstellungen und Reflexionen umfasst, die das Ethos und die Moral betreffen – Beobachtungen von menschlichem Verhalten und seinen typischen Folgen, wie besonders in der Weisheitsliteratur, Reflexionen über die Gründe, warum Gebote vorgestellt und befolgt werden sollen und was alles Schreckliche passiert, wenn man sich über die Gebote JHWHs hinwegsetzt, wie dies in vielfacher prophetischer Kritik artikuliert wird. Es gibt also auch in der hebräischen Bibel eine Reflexion des Ethos, aber es gibt keinen Versuch, ein rein philosophisches Fundament der Ethik in Gestalt von theoretisch begründeten und geprüften Prinzipien zu legen.33 Das biblisch bezeugte Ethos in seinen vielfältigen Ausprägungen steht ursprünglich und in allen seinen Spielarten in einer geradezu intimen, aber auch bedrängenden Nähe zur Gegenwart Gottes. Dass die Darstellung und Mitteilung eines Ethos nicht theorieförmig im Sinne antik-griechischer Aufklärung sein müssen, gilt in anderer Weise auch von den sittlich bedeutenden Überlieferungen des Neuen Testaments (und welche dieser Überlieferungen hätten keine Bedeutung für die praktische Lebensführung?). Hier werden, vor allem im Zusammenhang der synoptischen Verkündigung von Jesus Christus, Geschichten und Gleichnisse erzählt, Weisheitssprüche aktualisiert, Bilder in Erinnerung gerufen, Szenen vor Augen gestellt. Wer je Geschichten oder Gleichnisse wie die vom reichen Jüngling (Mk 10,17–27 parr), von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29–37) oder vom Zinsgroschen (Mk 12,13–17 parr) gelesen hat, weiß, wie geschickt jeweils vom Erzähler die Szene arrangiert wird, wie Vorbildwirkungen hervorgebracht werden, wie aus Geschichten und Bildern eine existenziell treffende Frage nach dem eigenen Leben an die Hörerin oder den Leser hervorgeht. Vollends die Verkündigung des Bergpredigers ist Eröffnung und Ermöglichung eines Ethos, welches die Möglichkeiten menschlicher Theoriebildung übersteigt, darum aber ganz und gar nicht unvernünftig genannt zu werden verdient. Das Ethos der Bergpredigt ist sicher keine Theorie, aber es ist sehr wohl theoretischer Vergewisserung zugänglich. Carl Friedrich von Weizsäcker hat im Blick auf den politischen Gehalt dieses Ethos von „intelligenter Feindesliebe“ gesprochen34 und damit zum Ausdruck bringen wollen, dass in den überlieferten Wor33 Zum Dekalog siehe speziell unten, Teil II, Abschnitt 5. Man könnte hier überlegen, ob beispielsweise die sokratische Fragekunst und Platons Argumentationen sich nicht so sehr durch theoretische Begründungen als vielmehr durch reflexiv-dialogische Suchbewegungen und Erwä-

gungen auszeichnen, also ein ausgesprochen kreatives Element in die Frage nach dem Ethos bringen, insofern durchaus vergleichbar der Kunst der Tora-Auslegung. 34 Die intelligente Feindesliebe (1980), in: ders., Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945–

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ten des Bergpredigers ein Ethos evoziert wird, dem eine ganz besondere, das Gewissen bezwingende Kraft eigentümlich ist, und von dem gleichzeitig oder besser: reflektierend gezeigt werden kann, dass ihm eine außergewöhnliche Rationalität innewohnt. Denn wie würden sich die Geschicke der Menschen wenden, wenn sie sich die Möglichkeit der Feindesliebe praktisch zu eigen machten?! Dass Gebote, Regeln, Verhaltenserwartungen und dergleichen im alten Israel letztlich auf den Willen Gottes zurückgeführt werden, und dass das Ethos der Bergpredigt am Anfang und immer wieder in der Geschichte der Menschheit nur von oft verfolgten Minderheiten gelebt worden ist, ändert erstens nichts an der Erwartung besonders von Juden und Christen, dass den biblisch bezeugten Gestalten der Sittlichkeit nachzuleben für alle Menschen gut und lebensdienlich wäre. Dieses Ethos hat ein universales Potential. Zweitens lässt sich damit die Bereitschaft verbinden, die Grundzüge dieses Ethos so darzulegen, dass seine Plausibilität, vielleicht eine Art höherer Notwendigkeit, vor allem seine gewaltlos bezwingende Kraft immer wieder von Menschen eingesehen und individuell angeeignet werden können. Drittens ist unverkennbar, dass auch die antike Ethik im Kontext der klassischen und hellenistischen Epoche keineswegs von vornherein religionsfrei im Sinne einer modernen, rein weltlichen Moral gewesen ist, auch wenn, wie gesagt, die Religion nicht das Ethos begründete. Freilich sind die Formen der Darstellung und Kommunikation über sittliche und moralische Fragen im griechischen und hebräischen Zusammenhang sehr unterschiedlich. Ein charakteristisches Merkmal griechisch geprägter Ethik ist ihr kritisch-dialogischer, argumentativer Stil, während beispielsweise die biblischen Zehn Gebote durch ihre lapidare Kürze imponieren und auf Vorbild, Nachahmung und Einübung angelegt sind, was wiederum einen kritischen und differenzierenden Umgang mit ihrem Wortlaut nicht ausschließen muss.35 Wenn man von Anfängen des Ethos spricht, sollte man jedenfalls an den religiösen Wurzeln nicht vorbei gehen, doch die Anfänge der Ethik als Theorie sind davon zu unterscheiden. Dass der Umgang mit den Ursprüngen und Gestalten des Ethos in der griechischen Welt in vielfacher Hinsicht autonomer, kritischer und skeptischer war als im alten Orient, ist offenkundig, und insofern gilt, dass die klassische Ethik-Theorie der Griechen am Anfang aller religions- und moralkritischen Überlegungen steht. Der enge Zusammenhang von Religion und Ethos, wie er in der Geschichte viel1981, München/Wien 1981, 533–538. Den Kontext dieser Rede anlässlich einer Konsultation der Konferenz europäischer Kirchen bildeten die durch die damalige militärische „Nachrüstung“ erhöhten politischen Spannungen. Allerdings darf man v. Weizsäcker nicht so verstehen, als sei die Feindesliebe Mittel zu einem (politischen) Zweck. Doch auch (und bisweilen gerade) das, was nicht allgemein einsehbar und in diesem Sinne vernünftig ist, kann (indirekt) sich als überaus

intelligent erweisen. Zur exegetischen Präzisierung vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus I/1, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1985, 315– 319. 35 Kant hat in seinen knappen Bemerkungen zur ethischen Didaktik treffend zwischen der dialogischen und der katechetischen Lehrart unterschieden: Metaphysik der Sitten. Tugendlehre (1797), A 156 (AA 6, 478, 8).

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fach begegnet, ist keineswegs in der Moderne überwunden worden, wie dies in manchen Auffassungen von Emanzipation und Säkularisierung angenommen und unterstellt wird. Gewiss waren viele Vertreter neuzeitlicher Religionskritik der Auffassung, dass, wie Marx und Engels meinten, die Religion irgendwann „absterben“ werde, wenn sie sozial und kognitiv funktionslos sein würde. Aber dieser Emanzipationsglaube ist durch die Vitalität und die Renaissance von organisierten Religionen an der Wende zum 21. Jahrhundert vielfach in Frage gestellt worden. Infolgedessen haben wir es nach wie vor oder erneut mit zahlreichen Gestalten des Ethos und der ethischen Reflexion zu tun, welche von ihren religiösen Bezügen nicht zu trennen sind. Ob nun aber eine Ethik (in Darstellung und Kritik) religiös oder rein säkular verwurzelt und orientiert sein mag, ändert nichts daran, dass es kontextuell übergreifende Fragestellungen, Aufgaben und praktische wie theoretische Herausforderungen aller Ethiken gibt. Deshalb ist jede Ethik gut beraten, die religiösen Bezüge von Ethos und Moral nicht bloß historisch, sondern auch systematisch zu berücksichtigen, allerdings nicht in der Weise, dass religiöse Ursprünge, Überzeugungen oder Absichten die jeweilige Position gegen Kritik immun machen und von vernünftig nachprüfbaren Argumenten suspendieren dürften.

1.3 Allgemeine Bezugsprobleme der Ethik Jede Ethik bezieht sich auf fundamentale Sachverhalte menschlichen Lebens, die in praktisch allen Kulturen begegnen und in verschiedenen Formen bearbeitet, gestaltet und reflektiert werden. Dabei lassen sich bestimmte formale Bezugsprobleme in den meisten Kulturen identifizieren. Wichtige, kulturell übergreifende Bezugs- und Ausgangspunkte praktisch aller Ethiken (im Sinne von „Darstellung und Kritik“), welche schon in den antiken Entwürfen begegnen, in den vielfältigsten Abwandlungen seither überliefert sind und die man auch in außereuropäischen Ethik-Traditionen entdecken kann, betreffen: – das menschliche Vermögen der Freiheit und die Fähigkeit zum Handeln und Entscheiden aufgrund vernunftorientierten Wählens zwischen Alternativen, – die Wahrnehmung komplexer Situationen, Erwartungen und Handlungsräume im Lichte eigener und fremder Erfahrungen und Erwartungen, – die Notwendigkeiten der Handlungskoordination zwischen (faktisch oder potentiell) kooperierenden und/oder konfliktbereiten Menschen oder Gruppen, – die Frage nach möglichen und notwendigen Strebenszielen, unter denen Menschen mit Gründen wählen können und sollen, – die Prüfung, Bewertung und Begründung von Maximen und Prinzipien des willentlichen Handelns und Verhaltens, – die Ausbildung und Einübung bestimmter Haltungen und Charaktereigenschaften,

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– die Ausbildung, die Befolgung und/oder Anerkennung sowie die Durchsetzung von Regeln der sozialen Interaktion, – die Entwicklung kulturell sehr unterschiedlicher Systeme der Erwartungs- und Verhaltenssteuerung, einschließlich der Bildung von Institutionen und Organisationen, – die theoretische und historiographische Reflexion aller dieser Elemente. Diese Ausgangspunkte sind wohl je für sich wie auch in ihrer Gesamtheit wie in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen nicht unumstritten. Der Einwand liegt nahe, dass es sich bei den gewählten Formulierungen um Wahrnehmungen handelt, die durch die Perspektive europäischer Anthropologien und Sprachen geprägt sind. Ich denke jedoch, dass man auch in anderen Kulturkreisen und Sprachen auf strukturell ähnliche Bezugsprobleme der Ethik stößt. Wenn darauf verwiesen wird, dass beispielsweise in manchen asiatischen Gesellschaften die Individuen hinter den Gemeinschaften, denen sie zugehören, zurücktreten müssen, dass europäische Ansichten zu Moral und Sittlichkeit nicht übertragbar sind,36 ja, dass sprachliche Ausdrücke, die eine individuell wählende und handelnde Person bezeichnen, zum Beispiel in der koreanischen Sprache nicht in derselben Art wie in den europäischen Sprachen begegnen,37 so werden doch Bezugsprobleme wie die der Problemwahrnehmung, Handlungszurechnung oder Regelfindung dadurch nicht aufgehoben. Man kommt an ihnen nicht vorbei. Allerdings können sprachliche Unterschiede für die kulturellen Besonderheiten im Umgang mit übergreifenden Bezugsproblemen der Ethik sensibilisieren. Auf der anderen Seite haben der Annahme beispielsweise der Freiheit und speziell einer Willensfreiheit des Menschen nicht nur Theologen vielfach widersprochen. In der Gegenwart wird, besonders im Rahmen von Interpretationen von Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Hirnforschung und mit ganz anderen Begründungen und Interessen als in der Theologie, ebenfalls vielfach versichert, dass es mit dem freien Willen nichts sei. (Ich komme unten darauf zurück.) Doch dass man ein formales Bezugsproblem der Ethik wiederum zum Gegenstand metaethischer Reflexion machen kann, ändert nichts an der (umstrittenen) Relevanz eben des Problems. Man kann es aus der Kommunikation über ethische Grundlagenfragen nicht exkommunizieren, nicht zuletzt auch deshalb, weil derartige formale Bezugsprobleme anscheinend miteinander vielfach verbunden sind. Wer die Handlungs- oder Willensfreiheit beispielsweise fundamental bestreitet, wird dann schwerlich noch behaupten können, dass Menschen mit Gründen bestimmte Lebens- und Strebensziele wählen – zum Beispiel die Erforschung des Gehirns – und andere verwerfen (können). Allerdings ist zu fragen, was, nicht zuletzt unter unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen, die Behauptung bedeuten kann, ein Mensch handele aufgrund ab36 Einer der ersten, der dafür sensiblisiert hat, war Jean Gebser, Asienfibel. Ein Beitrag zum Verständnis östlicher Wesensart, Frankfurt a. M. 1962.

37 Siehe Hoo Nam Seelmann, Einübung ins Geschehen. Die Dinge sind in uns, und wir sind in den Dingen – über die koreanische Sprache, NZZ 241, 15./16.10.2005, 67.

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wägender Überlegungen, wenn wir doch gewiss zugeben müssen, dass auch Menschen eingewoben sind in vielfältige natürliche Prozesse, die ihren Wahlmöglichkeiten empfindlich enge Grenzen ziehen. Soll man dann vielleicht besser sagen: Es hat der Natur gefallen, dass sie sich unter Mitwirkung (Wirkung?) der Person A in dieser oder jener Weise geäußert hat? Doch was heißt „Person“? Sind Menschen Personen?38 Tiere auch? Alle Menschen? Immer und überall? Alle Tiere? Mir scheint, dass die Radikalität, mit der die Voraussetzungen aller Ethik heute problematisiert werden können, erheblich zugenommen hat. Nichts gilt, bloß weil es traditionell legitimiert erscheint. Jedenfalls ist diese Radikalisierung kritischer Prüfung ethischer Geltungsansprüche ein Merkmal moderner, liberaler Gesellschaften, während andere Kulturen sich diesen und ähnlichen Herausforderungen anscheinend oft zu entziehen versuchen, indem sie mehr der Tradition oder einer personalen oder institutionellen Autorität vertrauen. Fragen wie die nach der Willensfreiheit und dem Personverständnis problematisieren exemplarisch die für alle Ethiken unvermeidlichen Bezugs- und Ausgangsfragen. Ein Teil der „Metaethik“ setzt hier ein, indem sie die Prämissen, welche der Auffassung von Ethik als Darstellung und Kritik von Ethos und Moral zugrunde liegen, noch einmal skeptisch hinterfragt.39 Dabei kommt unter Bedingungen der Weltgesellschaft interkulturellen und interreligiösen Vergleichen eine zunehmende Bedeutung zu. Komparative Fragestellungen verfremden Selbstverständlichkeiten und versetzen in Distanz zu eingelebten Gewohnheiten und Sichtweisen, sobald man realisiert, dass auch ganz andere Perspektiven auf einen Sachverhalt möglich sind. (Auf einige metaethische Fragen werde ich im Fortgang dieser Überlegungen öfter zurückkommen, während die systematische Berücksichtigung interkulturell vergleichender Perspektiven meines Erachtens eher in die Bereichsethiken gehört.) Allgemein gilt, dass Menschen in jeder Gesellschaft typische Regeln und Standards des Verhaltens und Handelns ausbilden. Die Ethik steht dazu im Verhältnis distanzierter, kritischer Reflexion, wobei diejenigen, die Ethos und Moral kritischvergleichend beobachten, stets auch an dem, was sie beobachten, unvermeidlich teilnehmen.40 38 Siehe Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 1996. Zur Begriffsgeschichte: M. Fuhrmann u. a., Art. Person, Hist. Wb. Philos. Bd. 7 (1989), 269–338; Dieter Sturma (Hg.), Person. Philosophiegeschichte, theoretische Philosophie, praktische Philosophie, Paderborn 2001. Zur aktuellen biologischen und anthropologischen Diskussion siehe Günter Rager, Die Person. Wege zu ihrem Verständnis, Freiburg/Schweiz/ Freiburg i.Br./Wien 2006. 39 Eine andere Richtung der Metaethik ist der kritischen Sprach- und Begriffsanalyse und den Formen ethischen Argumentierens gewidmet. Davon wird in diesem Buch kaum ausdrücklich

Gebrauch gemacht, obwohl ich hier manches Wichtige gelernt habe. Viele metaethische Fragen, etwa die nach naturphilosophischen, anthropologischen oder theologischen Voraussetzungen einer Ethik, nehmen Problemstellungen der traditionellen Metaphysik auf. Insofern ist die vielfach erhobene, noch zu diskutierende Forderung nach einer Ethik ohne Metaphysik (so der Titel eines Buches von Günther Patzig, Göttingen 1971) oder Ethcis without Ontology (Hilary Putnam, Cambridge, MA 2004) zu präzisieren und zu relativieren durch die Rückfrage, welche Art von Prämissen man in den Themenbereichen der Ethik zu erörtern oder auszublenden geneigt ist. 40 Nützliche Hilfsmittel zum Studium der Ethik:

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1.4 Gegenstandsbereiche der Ethik Die Bereichsethiken behandeln ethische Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten im Blick auf bestimmte gesellschaftliche Ordnungen, Institutionen, Systeme und Professionen sowie entsprechende Alternativen, Wahlen und Entscheidungen. Auf diesen Gebieten hat es in den letzten Jahrzehnten eine breite Differenzierung ethischer Reflexionen in Zusammenarbeit mit den Fachvertretern der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen gegeben. Methodisch ist dadurch die Ethik immer stärker zu einer engen interdisziplinären Kooperation genötigt worden. Eine jede Ethik (als Darstellung und Kritik) bezieht sich in ihren Aussagen auf bestimmte Gegenstandserkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten. Soweit es um Handeln, Unterlassen und Verhalten geht, kommen immer bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge in den Blick. Es gibt keine kontextfreien Handlungen. Zu den Kontexten menschlichen Handelns gehören in erster Linie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Institutionen, auf die Verhalten und Handeln unausweichlich bezogen sind. Davon handeln ausführlich die sogenannten Bereichsethiken, also die Ethiken, die sich auf gesellschaftliche Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst, Medizin etc. beziehen. (Im Englischen spricht man häufig von „applied ethics“, doch legt diese Bezeichnung missverständlich die Erwartung nahe, es gehe lediglich um die Anwendung von ethischen Grundsätzen auf konkrete Fälle oder Problemlagen.) Es ist ein wichtiges Merkmal dieser Bereichsethiken, dass sie sich intensiv auf die Sachprobleme der entsprechenden gesellschaftlichen Strukturzusammenhänge einlassen müssen und deshalb ganz selbstverständlich und unvermeidlich eine große Fülle empirischer Informationen berücksichtigen müssen. Eine ausdrückliche ethische Reflexion wird in jedem Fall von Bereichsethiken unausweichlich, wenn es um die Wahl zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten in konkreten, durch Institutionen und Organisationen strukturierten Handlungsfeldern geht. Nicht jede Wahl ist freilich primär ethischer Art oder enthält ethische Probleme oder Gesichtspunkte. Ich möchte wenigstens fünf Dimensionen des Wählens (Ent-

Ottfried Höffe, Lexikon der Ethik, München 1997; Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart 2002. – Zur Geschichte der Ethik: Friedrich Jodl, Geschichte der Ethik, 2 Bd., Stuttgart/Berlin 41930 (ND Stuttgart/Darmstadt 1965), Stephan H. Pfürtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte, 2 Bd. Stuttgart u. a. 1988; Jan Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 1991; Annemarie Pieper (Hg.), Geschichte der neueren Ethik, 2 Bd., Tübingen/Basel 1992. – Ein zuneh-

mend relevantes elektronisches Journal sind die Studies in the History of Ethics (http://www.historyofethics.org). Im Übrigen findet man inzwischen außer näheren bibliographischen Nachweisen auch elektronische Versionen der wichtigsten Autoren und Texte aus der Geschichte der Ethik im Internet. – Zu den sogenannten Bereichsethiken der Wirtschafts-, Umwelt-, Bio- und Medizinethik gibt es umfangreiche Handbücher und Lexika.

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scheidens) oder der Präferenzbildung (Gewichtung) im Blick auf alle denkbaren Bereichsethiken unterscheiden:41 – Technische Wahlen und Entscheidungen: Optimierung von (technischen) Mitteln in bezug auf gegebene Zwecke oder Variation von Zwecken in bezug auf verfügbare Mittel (Beispiele: Wahl von Systemen der Energieversorgung, der Verkehrsflüsse, der Kommunikationstechniken). – Ökonomische Wahlen und Entscheidungen: Entscheidungen über die Allokation von Ressourcen in der Zeit, über Unternehmensstrategien und Personalführung sowie über (politisch-rechtliche) Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Tätigkeiten überhaupt (Beispiele: Investitionsentscheidungen; Festsetzung von Steuern und Abgaben; Geld- und Zinspolitik). – Rechtliche Wahlen und Entscheidungen: Bestimmungen über Zwecke/Ziele und Mittel nach Maßgabe bestehender oder zu verändernder rechtlicher Normen (Beispiele: Errichtung einer Verfassung; Verfassungsänderungen; gerichtliche Normenkontrollen; Verfahrensregelungen). – Politische Wahlen und Entscheidungen: Entscheidungen über politische Voraussetzungen von Machtverteilungen, die wiederum politische Entscheidungen ermöglichen und begrenzen, Zugänge zu Ämtern und Kompetenzen regeln etc. (Beispiele: Parlamentswahlen, Kandidatenauswahl, demokratische Abstimmungen). – Ethische Wahlen und Entscheidungen: Prinzipienorientierte Grundentscheidungen und aktuelle Entscheidungen nach Maßgabe ausdrücklich ethischer (d. h. nicht technischer, ökonomischer, rechtlicher oder politischer) Kriterien, die teilweise aus bestimmten (philosophisch und/oder theologisch reflektierten) Auffassungen vom Menschen und seiner Stellung in der Gesellschaft folgen (Beispiele: Orientierung an Gütern, Tugenden oder Pflichten; Anerkennung inhaltlicher und formaler Kriterien der Normengeltung; Selbstfestlegung auf Regeln der Lebensführung). Genuin ethische Wahlen und Entscheidungen stellen, wenn man diese Differenzierung anwendet, einerseits also nur einen relativ kleinen Teil möglicher menschlicher Entscheidungen in allen Bereichsethiken dar, sind aber andererseits auf die übrigen Wahlhandlungen als eine sie ergänzende und kritisch-fundierende Dimension bezogen. In allen Bereichsethiken geht es um rechenschaftsfähige und -pflichtige Gestaltungsmöglichkeiten im Blick auf Sachverhalte, die immer auch technisch, ökonomisch, rechtlich und politisch bestimmt sind. Die genuin ethischen Fragen übersteigen jedoch die Eigengesetzlichkeiten und begrenzten Rationalitäten technischer, ökonomischer, rechtlicher oder politischer Strukturen, Wahlen und Entscheidungen. Lässt man sich auf diese immanenten Regelmäßigkeiten und Strukturen der 41 Diese Unterscheidungen haben besondere Bedeutung im Blick auf die unterschiedlichen Arten von Normen , an denen Menschen sich orientie-

ren oder die sich zu beachten haben. Siehe dazu unten Teil III, Abschnitt 5, zu „Werten und Normen“.

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Sachbereiche allerdings gar nicht erst ein, bleibt es im Feld der ethischen Reflexion beim folgenlosen Moralisieren. Fragen der politischen Ethik beispielsweise setzen ein klares Verständnis von Recht und Verfassung voraus, eine Verständigung über das Ethos der Rechtsbefolgung und über sittliche Grundlagen rechtlicher Gestaltung überhaupt. Bioethische Fragen erfordern, nicht nur rechtsstaatlich korrekte Verfahren bei strittigen Entscheidungen anzuwenden, sondern auch einen weiteren Wahrnehmungs- und Begründungszusammenhang zu bedenken, welcher die Auffassung von Menschen wie Tieren und ihrer Würde prägt und jeweils in Anspruch genommen wird – also Rechenschaft darüber zu geben, welchem Menschenbild und welcher Verantwortung für Tiere man sich verpflichtet weiß und inwiefern man dies auch argumentativ zu vertreten willens ist. Wirtschaftsethische Fragen setzen stets Einsicht in konkrete betriebs- und volkswirtschaftliche sowie technische Abläufe voraus, bewegen sich im Rahmen eines geltenden Wirtschafts(verfassungs)rechts und beziehen sich stets auch auf die einschlägigen Vorgaben politischer, demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Im einzelnen Fall geht die ethische Fragestellung über die rein fachlichen, rechtlichen und technischen Alternativen und Wahlmöglichkeiten darin hinaus, dass sie ausdrücklich danach fragt, welche Entscheidung im Blick auf ihre Beurteilung als für Menschen (und andere Lebewesen) „gut“ oder „richtig“ vorzugswürdig ist – immer gemessen an Kriterien, Maximen und Prinzipien der Vorzugswürdigkeit, nach denen vernunftbegabte Menschen im Rahmen der jeweiligen Gesellschaft fragen können. Dieser gesellschaftliche Rahmen ist in der Gegenwart immer mehr zu einem globalen Verantwortungszusammenhang entgrenzt worden, weil die Voraussetzungen und Folgen rechenschaftsbedürftiger ethischer und anderer Vorzugswahlen globaler Art sind. In den Bereichsethiken kann man diesen Herausforderungen nur durch eine institutionalisierte interdisziplinäre Kooperation Rechnung tragen. Ob es noch angemessen und möglich ist, der Fülle der hier auftauchenden Sachfragen in systematisch aufgebauten Darstellungen Rechnung zu tragen, ist angesichts der inzwischen vorliegenden umfassenden Handbücher zu Bereichsethiken fraglich, denn die Anforderungen an die Verarbeitung historischer und empirischer Informationen sind enorm gestiegen.42 In jedem Fall ist leicht zu sehen, dass exemplarische Kooperation zwischen Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete mit Ethikerinnen und Ethikern ganz unverzichtbar ist. Dieser Anforderung sollte im übrigen auch der akademische Ethik-Unterricht Rechnung tragen.43 42 Mehrere Handbücher vermitteln einen Überblick über die wichtigsten Bereichsethiken; kurz und knapp: Annemarie Pieper/Urs Thurnherr, Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998; eingehend: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart 1996, akutalisiert 22005; Hugh LaFollette (Hg.), The Oxford Handbook of Practical Ethics, Oxford 2003. Das dritte Buch ist allerdings nicht nach gesellschaftli-

chen Funktionssystemen geordnet, sondern hat die Schwerpunkte in der Bioethik sowie bei den Fragen nach Gerechtigkeit und Gleichheit. 43 Wegen der unverzichtbaren interdisziplinären Verbindungen jeder Ethik sind in den letzten Jahrzehnten an zahlreichen Universitäten fächerübergreifende Ethik-Zentren sowie umfangreiche Datenbanken zu den Bereichsethiken entstanden. Dass einzelne Ethikerinnen oder Ethiker noch das gesamte Feld der Bereichsethiken bearbeiten kön-

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In dem hier erläuterten Sinne hat die Ethik immer schon nach moralischen (und nicht bloß technischen, wirtschaftlichen, politischen oder rechtlichen) Rechtfertigungsgründen des Handelns und Verhaltens in der Vielfalt gesellschaftlicher Funktionssysteme gefragt. Dies verkennt die seit langem verbreitete Behauptung, moderne Gesellschaften brauchten eine „neue Ethik“. Gemeint ist damit in der Regel nicht mehr und nicht weniger als die Forderung, „die Ethik“ müsse sich auf neue Probleme und Herausforderungen in der Weise ganz neuartiger ethischer Konzeptionen beziehen und einlassen. Selbstverständlich ist es ein wichtiger Aspekt, ja ein Kriterium zur Beurteilung aller Ethiken, ob und wieweit sie in der Lage sind, der Komplexität und Neuheit von sittlichen Problemstellungen gerecht zu werden, und vermutlich gibt es Revisionen menschlicher Ethik-Auffassungen, die weitgehende Folgen haben können – man denke nur an die neuerdings ausgesprochene, ausdrückliche Anerkennung einer „Würde der Kreatur“ im Blick auf die Tiere. Derartige Revisionen sind eine Frage der differenzierten und umfassenden Realitätswahrnehmung ethischer Theorien, auch eine Frage ihres Verhältnisses zu empirischen Forschungen, Expertenwissen oder den Theorieformen und Methoden fachlich zuständiger Disziplinen. Ob hingegen in dem Sinne eine „neue Ethik“ denkbar und wünschbar ist, dass gänzlich neue Gesichtspunkte der Kritik und Beurteilung – im Sinne der kriteriologischen Unterscheidung und Prüfung der gelebten Sittlichkeit – entworfen werden müssten, ist höchst fraglich, wenngleich man auch dies nicht ausschließen darf. Ein Beispiel zur Illustration: Die Forderung einer „neuen Ethik“ wird heute vornehmlich dort erhoben, wo wissenschaftlich-technische Entwicklungen Menschen beunruhigen – in der atomaren Kriegführung, der Biotechnik, in der globalisierten Wirtschaft, den neuen Medien und dergleichen. Es ist aber leicht zu sehen, dass und wie die klassischen Kriterien traditioneller Ethik-Konzeptionen sehr wohl auf neue Konstellationen und Herausforderungen bezogen werden können. Es bedarf oft lediglich des Mutes, die als sinnvoll und verbindlich anerkannten sittlichen Standards auch im Blick auf neue Sachverhalte zur Geltung zu bringen – etwa indem man sich entschließt, das uralte Tötungsverbot auch konsequent auf ungeborenes Leben anzuwenden. Umgekehrt ist es in meinen Augen schon skandalös, dass nach „neuer“ Ethik meist dann gerufen wird, wenn die traditionelle Ethik beziehungsweise die Anwendung ihrer Kriterien zu einem negativen Urteil über aktuelle Forderungen, Anträge, Vorhaben oder Entwicklungen Anlass geben würde. Jedenfalls hat mich immer aufs Höchste irritiert, dass beispielsweise die alten Lehren vom rechtmäßigen Krieg (bellum iustum ) ausgerechnet in dem Moment als veraltet gelten sollten, als ihre Anwendung auf moderne Massenvernichtungswaffen zwingend zu einem klaren Verwerfungsurteil – im Rahmen der „alten“ Ethik – hätte führen müssen.44 Kurzum: nen, ist ganz unwahrscheinlich. Um so wichtiger ist die institutionelle Verbindung von theologischen, philosophischen, juristischen und anderen Ethiklehrstühlen. Zu Konsequenzen für die Ausbildung siehe Rainer Anselm u. a., Der Bologna-

Prozess als Herausforderung für die theologische Ethik, in: ZEE 49, 2005, 169–189. 44 Zu dieser Lehre gehörte traditionell immer die Frage nach den Grenzen des Einsatzes militärischer Mittel und dabei das Kriterium der Ver-

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Es ist für mich unmoralisch, eine „neue Ethik“ ausgerechnet dann zu fordern, wenn es in erster Linie um die Legitimation neuer, partikularer Interessen geht.

1.5 Typen der Ethik Man kann Typen und Aspekte der Ethik unterscheiden45 und zeigen, welchen Traditionen, Problemlagen und Aufgabenstellungen sie entstammen. In der heutigen Ethikdiskussion werden verschiedene Ausdrücke zur Charakterisierung bestimmter typischer Ethik-Konzepte verwendet und oft antithetisch gegenübergestellt, von denen die wichtigsten im folgenden kurz genannt werden.46 Es geht hier noch nicht um ethische Konzeptionen bzw. systematische Entwürfe, die sich in der Geschichte der Ethik herausgebildet und weiter gewirkt haben,47 sondern um übergreifende Aspekte und formale Klassifizierungen.

1.5.1 Güter-, Pflichten- und Tugendethik Eine heute vertretbare philosophische oder theologische Ethik sollte in der Lage sein, sehr unterschiedliche Ansätze, Aspekte und Dimensionen der Fragen nach Ethos und Moral (Sittlichkeit und Moralität) zu berücksichtigen und konstruktiv zu integrieren. Güter-, Pflichten- und Tugendethik bilden komplementäre Zugangsweisen und Teile einer integrativen Ethik. In heutigen Lehr- und Handbüchern der Ethik sucht man eine allgemein anerkannte Einteilung (Architektonik) und eine systematisch nach Prinzipien geordnete Darstellung des Stoffes meist vergebens. Verbreitet ist der Hinweis auf die Unterscheidung von sogenannten „teleologischen“ und „deontologischen“ Ansätzen, denen dann andere Typen mehr oder weniger rhapsodisch zugeordnet werden.48 Dabei hältnismäßigkeit (Proportionalität). Atomwaffen, zumindest ab einer bestimmten Größe, sind jedoch prinzipiell von der Art, dass ihr Einsatz zerstört, was geschützt werden soll. Dies hätte, im Licht der Tradition, nach 1945 an sich zu dem ethischen Urteil gezwungen, dass ihr Einsatz nicht gerechtfertigt werden kann. Statt dessen wurde jedoch vielfach versucht, die ethische Urteilsbildung und die entsprechenden Kriterien der neuen Lage anzupassen. Siehe dazu meine Skizze: Gibt es gerechte Kriege?, in: Sara M. Zwahlen/Wolfgang Lienemann (Hg.), Kollektive Gewalt, Bern u. a. 2006, 69–85. 45 Vgl. dazu Dietrich Ritschl u. a., Art. Ethik, EKL3 1, 1986, 1129–1155.

46 Weitergehende Informationen findet man in den meisten Lexika und Handbüchern zur Ethik, z. B. bei Otfried Höffe u. a. (Hg.), Lexikon der Ethik, München 51997. 47 Darauf gehe ich unten, Teil II,1, näher ein. 48 So wird im Handbuch Ethik (hg. v. Marcus Düwell u. a., 2002) neben Teleologie und Deontologie eine dritte Gruppe unter dem Titel „schwach normative und kontextualistische Ansätze“ vorgestellt. Im Oxford Handbook of Ethical Theory (hg.v. David Copp, 2006) gibt es sogar nur die Einteilung von „metaethics“ und „normative ethical theory“, und die Zuordnung einzelner Themen folgt keiner erkennbaren sachlichen Einteilung – sie wirkt zufällig. Kant hat den

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versteht man unter deontologischer Ethik (vom griechischen Wort to deon: das Schickliche, das Gebotene) meist eine Pflichtenethik nach Maßgabe von Prinzipien. Es geht um die Darstellung und Begründung allgemein anerkannter oder anerkennbarer, unabdingbarer Grundsätze des Handelns und Verhaltens, die auf einem als unbedingt und uneingeschränkt verpflichtenden Gebot (einem „Müssen“) beruhen, ohne Rücksicht auf die Folgen und Nebenfolgen von Handlungen. Eine teleologische Ethik (vom griechischen Wort teloß: Ziel) orientiert sich hingegen bei der Darstellung und Begründung der handlungsleitenden und verhaltenssteuernden Regeln an dem zu erreichenden Ziel – das erstrebte Ziel bzw. der anerkannte Zweck der Handlungen ist maßgeblich für die Qualität der sittlichen Entscheidungen. In krasser und irreführender Vereinfachung werden diese Typen bisweilen gar als Gesinnungs- und Folgenorientierung in der Sittlichkeit und Moral einander gegenübergestellt. Häufig wird Immanuel Kant als Repräsentant einer Pflichten-, wenn nicht sogar einer Gesinnungsethik vorgestellt, aber man sollte doch nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass Kant neben einer Pflichtenlehre auch eine ausgearbeitete Tugendlehre vertreten und beides einer Lehre vom „höchsten Gut“ ein- und untergeordnet hat. Wie schon Kant, aber mit abweichender Begründung und Ausrichtung, hat vor allem Friedrich Schleiermacher eine differenzierte Einheit von Güter-, Pflichtenund Tugendlehre in seinem Gesamtentwurf einer Ethik dargelegt. Der Sinn dieser Zuordnung mag durch eine einfache Überlegung verdeutlicht werden: Alle Lebewesen und insbesondere jene, die aufgrund ihrer Naturausstattung als vernunftbegabt anzusehen sind (wiewohl sie vom Vermögen der Vernunft im allgemeinen nur begrenzten Gebrauch zu machen vermögen oder willens sind), scheinen nach etwas – einem Ziel, Zweck, einem „Guten“ (agahon) – zu streben. Ihr Handeln, Verhalten und Unterlassen ist auf bestimmte Güter und womöglich auf eine gewichtete Skala von Gütern (Präferenzen), letztlich auf ein höchstes Gut (summum bonum ) ausgerichtet. Die Vernunft kann, neben elementaren Bedürfnissen und Verhaltensimperativen der herkömmlichen Sittlichkeit und Moral, als ein Vermögen angesehen werden, um die Art und Gewichtung der vorziehenswürdigen Güter näher zu bestimmen. Insoweit schließt jede Ethik – keineswegs nur eine Strebensethik – eine Güterlehre ein. Wenn und soweit es möglich ist, eine derartige Präferenzordnung plausibel zu machen, sie als zweckmäßig, vielleicht als vernünftig und allgemein anerkennenswert und schließlich eben deshalb als von vernünftigen Wesen, die mitund gegeneinander wirken, zu befolgende zu erweisen, dann fragt man danach, ob und wie das Erstreben vernunftgemäßer Güter individuell verbindlich gemacht werden kann – die Ethik wird zur Pflichtenlehre. Pflichten in Bezug auf erstrebenswerte und vernunftgemäße Güter müssen zudem individuell erkannt, bejaht, gewollt und befolgt werden, und zwar mit einer hinreichenden Stetigkeit der entsprechenden BeVorwurf der bloßen „Rhapsodie“ gegen die Einteilung der Kategorien bei Aristoteles vorgebracht: Prolegomena zu einer jeden Metaphysik

die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), § 39, AA 4, 323, 14.

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mühungen im Leben der Menschen. Ein derartiges individuelles Vermögen, das im Erkennen und Handeln kräftig wirksam ist, kann man Tugend nennen. Sie entwickelt sich als ein geprägtes Vermögen, Können und eine Haltung in individuellen und sozialen Bildungsprozessen. Insofern schließt die Ethik eine Tugendlehre ein. Güter-, Pflichten- und Tugendlehre beziehen sich nach Schleiermacher jeweils auf das ganze Gebiet der Sittlichkeit und Moralität, aber unter je spezifischem Gesichtspunkt. Im Blick auf die Begriffe „Gut“, „Tugend“ und „Pflicht“ sagt er, „daß weil jeder dieser Begriffe das Sittliche ganz darstellt, und dennoch etwas anderes bedeutet, jeder es in einer andern Beziehung darstellen muß“.49 Folgt man dieser Auffassung, dann ist von einer theologischen nicht weniger als einer philosophischen Ethik zu verlangen, dass sie in der Durchführung dieser differenzierten Einheit von Gut/Gütern, Pflicht und Tugend Rechnung trägt und jedenfalls keines dieser Elemente von vornherein ausschließt. Darüber hinaus können Pflichten und Tugenden nicht nur für einzelne Menschen oder (größere oder kleinere) Gemeinschaften verbindlich sein, so wie Nonnen und Mönche sich zur Einhaltung bestimmter strenger Regeln freiwillig verpflichten und entsprechende Gelübde ablegen, sondern sie können auch – unter bestimmten Bedingungen – in allgemein verbindliche Verhaltenserwartungen transformiert und womöglich Gegenstand rechtlicher Bestimmungen werden. Güter-, Pflichten- und Tugendlehre sind insofern anschlussfähig für die Rechtslehre. Dass auf der anderen Seite Moralität (in der Dreiheit des Bezuges auf Güter, Pflichten und Tugenden) und Legalität ebenso sorgfältig unterschieden wie einander zugeordnet werden müssen, wird noch mehrfach zur Sprache kommen.

1.5.2 Wichtige Unterscheidungen Im angelsächsischen Raum haben sich die ethischen Debatten und Theoriebildungen im 20. Jahrhundert teilweise deutlich anders als auf dem europäischen Kontinent entwickelt. In zahlreichen Beiträgen zur analytischen Metaethik findet (1) eine Wendung zu einer beschreibenden, nicht selbst wertenden oder urteilenden Bedeutungsanalyse sprachlicher Äußerungen über moralische Sachverhalte statt, begegnen (2) unterschiedliche Versuche, eine spezifische „deontische Logik“ zu entwickeln, das heißt sorgfältig zwischen Behauptungs- und Gebotssätzen und ihren pragmati49 So im Akademievortrag Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (4. März 1819), KGA I/11, Berlin/New York 2002, 313–335 (321); fast gleichlautend im Akademievortrag Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (12. August 1824), KGA I/11, 415– 428 (417). Vgl. auch die Einleitung zur Ethik (vermutlich 1816/17), in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. und eingeleitet von Joachim Birkner,

Hamburg 1981, bes. den Abschnitt über die „Gestaltung der Sittenlehre“ (218–225). Dort heißt es u. a.: „Wenn alle Güter gegeben sind, müssen auch alle Tugenden und alle Pflichten mit gesezt sein; wenn alle Tugenden, dann auch alle Güter und Pflichten; wenn alle Pflichten, dann auch alle Tugenden und Güter.“ (221) Zu Begriff, Ansatz und Architektonik der Ethik bei Schleiermacher siehe Eilert Herms, Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, bes. 1– 48, 101–124, 200–226, 296–319.

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schen Verwendungsweisen zu unterscheiden, indem man die Bedeutung von Ausdrücken wie „x ist ethisch geboten“, „y ist ethisch richtig“, „z ist gut“ sowie die Unterschiede der damit verbundenen Sprachabsichten analysiert. Eine vielfach diskutierte Frage ist in diesem Zusammenhang, (3) welcher Art das Prädikat „gut“ ist bzw. wie die Verwendung des Wortes „gut“ zu verstehen ist, näherhin (4) ob sich damit nachprüfbare, rationale Behauptungen über Sachverhalte oder Eigenschaften verbinden oder ob es sich dabei (5) um letztlich nicht wahrheitsfähige Intuitionen oder ein praktisches Wissen oder Empfinden handelt, welches subjektive Gefühle der Billigung oder Missbilligung zum Ausdruck bringt. An der Verwendung des Wortes „gut“ lassen sich die unterschiedlichen Verwendungsweisen anschaulich klarmachen, je nachdem ob das Wort prädikativ, attributiv oder adverbial gebraucht wird (die Maschine ist gut, Hans ist ein guter Arzt, der Unterricht hat mir gut gefallen) und vor allem, ob damit eine nachprüfbare Behauptung, eine subjektive Einschätzung, ein Wunsch oder ein Imperativ verbunden sind. Dass derartige genaue Sprachbeobachtungen nützlich sein können, um Missverständnisse zu meiden und Kommunikationen zu verbessern, ist offenkundig. Auf der anderen Seite entfernen sich manche Bemühungen um eine sprachanalytische Aufklärung von Sittlichkeit und Moral oft derart weit vom alltäglichen Leben und der Alltagssprache, dass der praktische Nutzen für konkrete ethische Diskurse relativ gering ausfällt. Zum Zwecke einer ersten Übersicht nenne ich hier einige weitere Klassifizierungen und Typenbildungen, mit deren Hilfe man sich in den fachsprachlichen Unterscheidungen der philosophischen und theologischen Ethik orientieren kann:50 Formale oder Prinzipien-Ethik : Es geht um die Bestimmung von Kriterien des Handelns und Verhaltens durch einen oder mehrere Grundsätze, welche allgemeine Regeln der Handlungsorientierung oder der Prüfung von möglichen Handlungsregeln formulieren (klassische Beispiele: Goldene Regel, kategorischer Imperativ). Die Herleitung und Begründung derartiger Prinzipien fällt in den ethischen Konzeptionen sehr unterschiedlich aus. Materiale Ethik : Im Zentrum steht die Bestimmung (Beschreibung, Gewichtung und Begründung) von Kriterien des Handelns und Verhaltens in einem bestimmten sachlichen Problemfeld durch konkrete Angaben von Gütern, Tugenden, Pflichten, Normen, Regeln bis hin zu (bestehenden oder zu erlassenden) Gesetzen, die bei allen konkreten Entscheidungen über Handeln, Unterlassen und Verhalten zu beach50 Zu einschlägiger Lit. vgl. Otfried Höffe u. a. (Hg.) Lexikon der Ethik, a. a. O.; Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, a. a. O. Nicht alle der hier erwähnten Klassifizierungen begegnen auch in philosophischen Ethiken. Es gibt unter Ethikern keinen allgemeinen Konsens über die inhaltlichen (definitorischen) Klassifizierungen, wohl aber begrenzte Übereinstimmungen. Das hängt u. a. damit zusammen, dass man nicht umhin kommt, sich zur Erläuterung von Begriffen und

Positionen immer wieder auf historische Beispiele zu beziehen, die ihrerseits unterschiedlich gedeutet und verwendet werden. Diese historischhermeneutische Mannigfaltigkeit kann man nicht durch Begriffsdefinitionen und terminologische Konventionen beseitigen, weil ethische Theorien immer auch Ausdruck von sich wandelnden historischen Erfahrungen und aktuellen Kontroversen sind.

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ten sind. Diese Kriterien können bereichsspezifisch sein (Arbeitsschutz, Gewährleistung der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse, Patientenwohl) oder allgemeinerer, übergreifender Art sein (Achtung der Menschenwürde, Unversehrtheit von Leib und Leben, Schutz der Freiheit, Schutz vor Not, Schutz gegen Gewalt, Sicherung des Friedens, etc.). Autonome Ethik : Begründung der Ethik als Theorie des Ethos aufgrund der freien Selbstbestimmung der Vernunft von Menschen (Einheit von Vernunft und Freiheit): Die handlungs- und verhaltensleitenden Grundsätze haben gemäß einer autonomen Ethik ihren Ort und Ursprung ausschließlich in der freien, vernünftigen Selbstbestimmung (Mündigkeit ) des Menschen.51 Heteronome Ethik : Begründung der Ethik als Theorie des Ethos aufgrund einer externen Instanz, die freie Selbstbestimmung der Vernunft allererst ermöglicht und begründet: Die Orientierung des Handelns und Verhaltens hat ihren Grund außerhalb der oder des Einzelnen, etwa in (anerkannten) Glaubenslehren, Institutionen, bestehenden Gesetzen, traditionellen Autoritäten oder Üblichkeiten, denen als solchen allgemein Anspruch auf Geltung, Anerkennung und Befolgung beigemessen oder zugestanden wird. Die vorgegebene Autorität , nicht freie Kritik ist für das Ethos maßgeblich. Theonome Ethik : Begründung der (theologischen) Ethik als Theorie des Ethos aufgrund bestimmter Annahmen über Gott als Urheber und Instanz aller Kriterien von Sittlichkeit und Moral: Je nachdem wie das Verhältnis von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf genauer bestimmt wird, kann sich dieser Typos aber auch dem der autonomen Ethik (von Gott zu eigener Entscheidung freigesetzte und ermächtigte Vernunft) oder der heteronomen Ethik (in Gottes Gebot gebundene Vernunft) nähern. Für jede theonome Ethik – wenn sie denn möglich ist – besteht die kritische Rückfrage, ob der für Grund und Geltungsanspruch des Ethos bzw. der entsprechenden Regeln als maßgebend angesehene Gott selbst in Erscheinung tritt, offenbar und für Menschen erkennbar ist, oder ob dieser Grund und Geltungsanspruch nur in menschlicher und insofern irrtumsfähiger Sprachgestalt und Kommunikation vermittelt begegnen kann.

51 In der römisch-katholischen Moraltheologie (Alfons Auer, Franz Furger, Dietmar Mieth u. a.) – siehe dazu unten Teil III/4, – hat der Ausdruck „autonome Moral“ indes noch eine andere Bedeutung, nämlich die Betonung der persönlichen, am individuellen Gewissen orientierten Verantwortung im Unterschied zu einem bloßen Gehorsam gegenüber dem kirchlichen Lehramt. Im Hintergrund steht hier der Versuch einer Zuordnung der Ethik-Konzeptionen des Thomas v. Aquin und Immanuel Kants, letztlich also eine

spezifische Verhältnisbestimmung von Glauben und Vernunft, die deren grundsätzliche Übereinstimmung oder wenigstens Vereinbarkeit betont. Siehe hierzu Dietmar Mieth, Autonome Moral im christlichen Kontext. Zu einem Grundlagenstreit der theologischen Ethik, in: Orientierung 40, 1976, 31–34; Hans Hirschi, Moralbegründung und christlicher Sinnhorizont. Eine Auseinandersetzung mit Alfons Auers moraltheologischem Konzept, Freiburg i.Ue./Freiburg i.Br. 1992.

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Deontologische Ethik : Sie betont die (mehr oder weniger) situationsunabhängig als geltend vorgestellten und begründeten Grundsätze (Prinzipien) des Handelns und Verhaltens und wird häufig mit der sogenannten „Gesinnungsethik“ gleichgesetzt, sofern die Prinzipien- und Gewissensbindung der entscheidenden und handelnden Person die Berücksichtigung der Handlungsfolgen marginalisiert oder sogar ignoriert. Im Zentrum von traditionellen deontologischen Ethik-Konzeptionen steht die Frage nach uneingeschränkt gültigen Regeln, Geboten und entsprechenden Pflichten.52 Hierher gehören beispielsweise die generellen, ausnahmslosen Verbote der Lüge, der Tötung Unschuldiger (in Friedenszeiten) oder der (aktuell umstrittenen) Folter. Die wichtigsten Rückfragen betreffen (1) denkbare oder real mögliche Ausnahmen und (2) tatsächliche oder mögliche Konflikte zwischen mehreren Regeln oder Geboten. Teleologische Ethik : Sie beurteilt die Güte, Richtigkeit und entsprechende Gebotenheit oder Erlaubtheit von Handlungen und Verhaltensweisen nach dem Maßstab der anzustrebenden Handlungserfolge und gewollten Wirkungen (man spricht auch von „Konsequenzialismus“).53 Die zentrale Frage gilt dann der Bestimmung derjenigen Zwecke, Ziele und Güter, deren Erstreben oder Erreichen über die ethische Qualität von Handlungen entscheidet. Hierher gehören typischerweise zahlreiche Zweckformeln politischer Ethik (Friedenssicherung, Freiheitsschutz, individuelles und kollektives Wohlergehen usw.). Rückfragen an den Konsequenzialismus betreffen (1) die Grenzen, innerhalb derer Zwecke beliebige Mittel zu legitimieren vermögen, (2) das Problem konkurrierender Güter und Zwecke sowie (3) die Notwendigkeit, zwischen Gütern abzuwägen und Kriterien für Präferenzen zu entwickeln. Etliche Vertreter der teleologischen Ethik sehen in der aristotelischen Strebensethik mit dem Ziel der Eudaimonia, d. h. des glücklichen oder guten Lebens, den klassischen Ursprung dieses Ethik-Typs.54 Zahlreiche Kritiker der angeblich bloß formalen Pflichtenethik Kants plädieren heute wieder für eine Neuorientierung an der Idee des „guten Lebens“ bei Aristoteles.55 Bei genauerem Zusehen wird man sich jedoch vermutlich der hier vertretenen Auffassung (oben 1.5.1) nicht entziehen können, dass Güter-, Tugend- und Pflichtenethik am besten als ergänzende Aspekte einer integrativen Ethik zu verstehen sind. 52 Zur fast unübersehbaren Vielfalt deontologischer Konzeptionen siehe Düwell u. a., Handbuch Ethik, a. a. O., 122–190; David McNaughton/Piers Rawling, Deontology, in: David Copp (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, a. a. O., 424–458; sowie den Literaturbericht von Jan-R. Sieckmann, Deontische Logik, ARSP 90, 2004, 280–286. 53 Siehe zu den zahlreichen Varianten Düwell u. a., Handbuch Ethik, a. a. O., 61–121. 54 Die berühmte Bestimmung bei Aristoteles lautet: to anhrwpinon agahon yucvß energeia

ginetai kat’ aretvn, ei de pleiouß ai aretai, kata tvn aristvn kai teleiotatvn. eti d’ en biw teleiw (Das für den Menschen Gute ist a. die Akti-

vität [energeia ] der Seele b. gemäß der Vortrefflichkeit [areté] , c. wenn es aber mehrere Arten der Vortrefflichkeit [aretai ] gibt, gemäß der besten und vollkommensten – d. dies während eines gesamten Lebens): Nikomachische Ethik 1098 a 16–20. 55 Beispielsweise Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, hg. v. Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt a. M. 1999, 22003.

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Teil I Grundlagen

1.6 Sein und Sollen: Deskriptive und normative Ethik In Abgrenzung von Positionen eines „ethischen Naturalismus“ ist die Unterscheidung von Sein und Sollen für die Ethik unverzichtbar. Sie dient der methodischen Klarheit und zwingt dazu, die Prämissen und Prinzipien einer sittlichen Position und eines moralischen Urteils offen zu legen. Die Unterscheidung gibt gleichzeitig vielfach Anlass, die Beziehungen von Sein und Sollen zu analysieren. Einleitend wurde die formale Aufgabe der Ethik mit den scheinbar harmlosen Stichworten „Darstellung“ und „Kritik“ bezeichnet. „Darstellung“ ist freilich nicht einfach Beschreibung dessen, was der Fall ist. Jede Darstellung ist Darstellung von etwas als etwas. Jeder Darstellung wohnt eine Differenz von Darstellung und Dargestelltem inne. In jede Darstellung gehen unvermeidlich auswählende und damit (implizit oder explizit) wertende Gesichtspunkte ein. Es gibt keine Darstellung, bei der das Dargestellte mit der Darstellung identisch wäre.56 Jede „Moralstatistik“, wenn es denn derartige empirische Grundlagen der Moralforschung geben kann, ist auch Ausdruck derjenigen Gesichtspunkte, die derjenige, der das Material („Material“?) gesammelt und organisiert hat, für interessant und wissenswert hält, die er für „relevant“ erachtet.57 Die damit verbundenen Probleme sind nun etwas eingehender zu betrachten. In der Ethik geht es ja immer wieder auch um die Frage, ob und in welchem Sinne das, was längst schon oder ohnehin geschieht, auch so geschehen oder so beschaffen sein soll. Inwiefern sollen die tatsächlich wertenden (normativen) Stellungnahmen, die Menschen de facto vertreten, denn auch als solche Geltung beanspruchen können? Bekanntlich lauten die Standardauskünfte einer Bürokratie auf die Frage, ob man nicht etwas anders machen solle : Das haben wir schon immer so gemacht, und: Da könnte ja jeder kommen. Es ist nicht sinnvoll, die viel berufene „Normativität des Faktischen“ in der Ethik nicht ernst zu nehmen. Genau darüber gibt es eine alte, ehrwürdige Debatte, an die zu erinnern ist. Analyse, Beschreibung und Darstellung des Ethos, der tatsächlich gelebten Sittlichkeit einer Gemeinschaft von Menschen, und der Moralität, der expliziten, geltenden Regeln und Normen, bilden den empirischen Teil jeder Ethik. Die Aufgabe, das soziale Verhalten und Handeln, seine Ursprünge und Bedingungen zu erforschen, ist freilich keine genuine Aufgabe von Philosophie und Theologie, sondern fällt in die Gebiete von Soziologie, Sozialanthropologie, Psychologie, Soziobiologie, Geschichtswissenschaft usw. Insbesondere die Entstehung, Überlieferung, der Wan56 René Magritte hat diese Problematik vielfach hinterlistig dargestellt; vgl. sein berühmtes Bild einer Pfeife, wie ich sie auch gelegentlich rauche, mit der Unterschrift im Bild: Ceci n’est pas une pipe. 57 Alfred Schütz, der Begründer einer „phäno-

menologischen“ Sozialforschung, hat darüber ein immer noch lesenswertes Buch geschrieben: Das Problem der Relevanz (geschrieben vermutlich zwischen 1947 und 1951, zuerst englisch 1970), aus dem Amerikanischen von Alexander v. Baeyer, Frankfurt a. M. 1971.

Was ist Ethik?

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del und die Kritik normativer Vorstellungen und Konzepte können selbstverständlich zum Gegenstand empirischer Forschung werden.58 Genuin normativ wird hingegen jener Teil der Ethik genannt, welcher auf die Begründung, Geltung, Entfaltung und Erläuterung von Zielen, Verfahren, Richtlinien, Grundlagen und Orientierungen des Handelns und Verhaltens (der Sittlichkeit und der Moral) bezogen ist. Die normativen Ethiken unterscheiden sich vor allem in der Bestimmung derjenigen Geltungsgründe (Maximen und Regeln), die als soziale, verhaltenssteuernde Prinzipien Anerkennung beanspruchen oder finden können sollen , die mithin als Geltung beanspruchende Bestimmungen und Ausrichtungen des menschlichen Wollens vorgeschlagen werden. Die Spannweite reicht hier von gänzlich partikularen bis zu tendenziell universalen Geltungsansprüchen normativer Ethiken.59 Mit dieser Unterscheidung zwischen den deskriptiven und den präskriptiven (normativen) Aspekten oder Aufgaben der Ethik ist freilich noch wenig gewonnen, weil man mit einer strengen Trennung nicht sehr weit kommt. In den modernen Ethik-Debatten haben hier die (metaethischen) Streitfragen nach dem Verhältnis von „Sein“ und „Sollen“ sowie die Problematik des sogenannten „naturalistischen Fehlschlusses“ ihren Ort.60 Diese Debatten führen unvermeidlich auf grundlegende ontologische und erkenntnistheoretische Fragen. Die aktuelle Diskussionslage ist nicht sehr übersichtlich. Man kann sich dem Kern der hier zur Debatte stehenden Fragen vielleicht am besten nähern, wenn man die alte Streitfrage in Erinnerung ruft, ob das, was Menschen „gut“ nennen, dies von Natur aus ist oder auf gesellschaftlichen Konventionen beruht. Die dabei in Anschlag gebrachte Unterscheidung zwischen dem, was der Natur gemäß, und dem, was von Menschen gesetzt ist, ist in Europa wohl erstmals in der griechischen Aufklärung des 5. Jahrhunderts ins Bewusstsein getreten.61 Man 58 Hierher gehört heute insbesondere die vergleichende Erforschung gesellschaftlicher „Werte“ (values) und ihres Wandels. Siehe dazu die Untersuchungen von Ronald Inglehart; etwa das von ihm u. a. hg. Buch: Human Beliefs and Values. A Cross-Cultural Sourcebook Based on the 1999– 2002 Values Surveys, México 2004. Zu weiteren Studien und Projekten dieser Art vgl. www.worldvaluessurvey.org. 59 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass mit der Normativität (der Erwartung der Befolgungserwartung) sittlicher Normen keineswegs automatisch a) ein Anspruch auf universale Geltung oder b) der Wille zur allgemeinen Durchsetzung verbunden sein müssen. Um ein Beispiel zu nennen: Den Pazifisten aller Zeiten war vermutlich immer klar, (1) dass ihr Ethos das einzige zukunftsweisende, umfassende, potentiell universale Friedensethos ist, und (2) dass die Mehrheit der Menschen aus verschiedenen Gründen sich dieser

Überzeugung einstweilen nicht anschließen würde. Es ist insofern von großer Bedeutung, ob und wie einerseits eine starke, partikulare, sittliche Überzeugung (mit oder ohne Universalitätsanspruch) frei artikuliert und verbreitet werden kann, und ob andererseits ihre Anhänger darauf zu verzichten bereit sind, ihre Überzeugungen gewaltsam zur Geltung, Durchsetzung und Anerkennung zu bringen. 60 Dazu vgl. Peter Schaber, Naturalistischer Fehlschluß, in: Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, a. a. O., 437–440; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, a. a. O., 360–369. 61 Dazu Felix Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Basel 31945 (ND Darmstadt 1978); Okko Behrends/Wolfgang Sellert (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, Göttingen 1995.

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diskutierte beispielsweise anhand von Beispielen aus dem Tierreich, welche Verhaltensweisen auch für Menschen geboten sein möchten, wenn sie doch naturgemäß sind und insofern als „gut“ sollen gelten können. In manchen verhaltenswissenschaftlichen und soziobiologischen Untersuchungen begegnen auch in der Gegenwart ähnliche Auffassungen, etwa wenn behauptet wird, dass aufgrund physiologisch-genetischer Unterschiede das Sexualverhalten von Frauen und Männern naturgemäß unterschiedlich sei und die einen deshalb mehr zur Monogamie, die anderen mehr zur Polygamie neigen, und dies deshalb auch (in welchem Sinne immer) gerechtfertigt sei.62 Allgemeiner kann man hier von „ethischem Naturalismus“ sprechen.63 Sein Merkmal besteht darin, die Eigenständigkeit des Ethischen im Sinne bewussten und vernünftigen Wollens und Sollens zu bestreiten oder zumindest eng zu begrenzen und statt dessen ethische Wahlen und Entscheidungen auf etwas Außerethisches zu reduzieren, wie beispielsweise Vorgänge in der Natur, deren Beständigkeit, Gesetzmäßigkeit und insofern Zweckmäßigkeit an die Stelle bewusster, freier Wahl treten sollen. Es ist leicht zu sehen, dass die Position eines ethischen Naturalismus entscheidend vom jeweils vorausgesetzten Naturverständnis abhängt. Denn mit einer inhaltlichen Bestimmung des Naturbegriffs wird festgelegt, was als naturgemäß in Betracht kommt. Dafür sehe ich hauptsächlich drei typische Auffassungen: (1) Die Natur als Inbegriff dessen, was, im Unterschied zur von Menschen gemachten künstlichen Welt, der Kultur, von sich selbst her entsteht, in der Welt ist und vergeht. Die werdenden, wachsenden und vergehenden Dinge haben dabei das Prinzip oder den Ursprung (arcv) der Bewegung und der Ruhe in sich selbst.64 (2) Die Natur als Inbegriff dessen, wer oder was seiner wesensmäßigen Bestimmung nach vortrefflich in Erscheinung tritt, mehr oder weniger unabhängig vom Wissen, Wollen, Können und Wirken des Menschen. (3) Die Natur als Inbegriff aller Erscheinungen, welche aufgrund sinnlicher Erfahrung und begrifflicher Bestimmung vom Menschen in ihrer gesetzmäßigen Verfassung erkannt werden können. Die erste Auffassung ist die wohl geläufigste, wenngleich hoch problematische – es geht um die Dinge der Natur. Versteht man hingegen unter „Natur“ das Wesen oder die Bestimmung von Sachverhalten oder Gegenständen, dann geht es um die Natur der Dinge. Das dritte Verständnis zeichnet demgegenüber die Perspektive eines be62 So meinte der Zoologe und Verhaltensforscher Wolfgang Wickler im Blick auf das reproduktive Verhalten der Menschen und den „Vermehrungserfolg“: Es „müssen Paarungstaktik und Partnertreue in beiden Geschlechtern verschieden angelegt sein“: Die Natur der Geschlechterrollen – Ursachen und Folgen der Sexualität, in: Norbert A. Luyten (Hg.), Wesen und Sinn der Geschlecht-

lichkeit, Freiburg i.Br./München 1985, 67–102 (78). 63 Siehe dazu Nicholas L. Sturgeon, Ethical Naturalism, in: David Copp (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, Oxford 2006, 91– 121; Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003, 110–125. 64 Siehe Aristoteles, Physik, B 1 (192 b 8 ff).

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stimmten Umganges mit allen Erscheinungen der Wirklichkeit aus, nämlich die Einstellung der forschenden Erkenntnis und dann in deren Folge auch der formenden Einwirkung oder Gestaltung. Es geht um die Natur als Objekt und Ressource. In dieser Perspektive ist Natur nicht etwas, das aus sich selbst heraus entsteht und vergeht, lebt und wirkt, sondern ein dem Menschen gegenüber stehender Gegenstandsbereich, der der Nutzung bis hin zur Zerstörung unterworfen werden kann. In dieser Sicht auf die Natur und im Umgang mit ihr ist die Gefahr groß, die selbständige Kraft der Dinge der Natur – das Wachsen und Wirken von Pflanzen, Tieren und Menschen – zu verkennen.65 Schon in den frühesten griechischen Zeugnissen begegnen zwei Bedeutungen von Natur (fusiß, natura ) als „Beschaffenheit“ oder „Wesen“ einerseits, als „Werden“, „Wachstum“, „Wuchs“ andererseits.66 Bedenkt man nun weiter, dass auch der Mensch ein Naturwesen bzw. die menschliche Gattung Teil der Natur ist, und berücksichtigt man, dass die Natur im Sinne einer von menschlichen Aktivitäten unabhängigen, unbeeinflussten oder gar unbeeinflussbaren Größe jedenfalls auf der Erde praktisch nicht (mehr) existiert, dann wird man die Dichotomie von „Natur“ und „Kultur“ zugunsten eines übergreifenden, in sich differenzierten Wirklichkeitsverständnisses aufgeben müssen, indem von Anfang an das Miteinander und die Wechselwirkungen von Vernunft und Natur die Anschauung und Wahrnehmung bestimmen.67 Auch das Denken von Menschen ist ein Vorgang in der Natur, bei dem der Mensch als Teil der Natur sich zu dieser und damit zugleich zu sich selbst erkennend und gestaltend verhält. „Die wirkende Natur ist die Natur der Dinge der Natur.“68 Für jede Ethik ist nun im Blick auf die hier angedeuteten naturphilosophischen Vorfragen ein spezieller Aspekt von großer Bedeutung, nämlich die Frage, ob und inwiefern aufgrund von Einsichten in die Natur im allgemeinen und in die Natur des Menschen im besonderen erkannt oder zumindest gefolgert werden kann, was 65 Klaus Michael Meyer-Abich hat in Anknüpfung an Arbeiten von Carl Friedrich v. Weizsäcker und Georg Picht eine Naturphilosophie skizziert, die er „physiozentrisch“ nennt und die mit der Einsicht einsetzt, dass die scharfe Dichotomie von Natur und Kultur unhaltbar ist. Vgl. seine Bücher: Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik (1984), München 1986; ders., Praktische Naturphilosophie, München 1997; sowie ders., Art. Natur II. Philosophisch, RGG4 6, 2003, 98 f. 66 Nach Aristoteles ist ein Merkmal alles dessen, was fusiß genannt wird, dass es zur Sphäre des Entstehens und Vergehens, der Bewegung und Veränderung gehört (v fusiß men estin arcv kinvsewß kai metabolvß: Physik C, 1, 200 a 12); siehe auch F.P. Hager, Art. Natur, Hist. Wb. Philos. Bd. 6 (1984), 421–441 (421). Dieser Sphäre

der fusiß gehören auch die Götter zu, nicht jedoch die Ideen im Sinne Platons. Siehe eingehend Jörn Müller, Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, Würzburg 2006. 67 Schleiermacher hat als „Form der Ethik“ die „Entwickelung einer Anschauung“ vorgeschlagen, deren „Umriss“ er als „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ bestimmen möchte: So in der Einleitung zur Ethik-Vorlesung 1805/06, unter dem Titel Brouillon zur Ethik , hg. v. Otto Braun, neu hg. v. Joachim Birkner, Hamburg 1981, 11. Siehe dazu die Interpretation von Eilert Herms, Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 49–100. 68 Meyer-Abich, Frieden mit der Natur, a. a. O., 129.

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sein soll oder was zu tun bzw. zu unterlassen ist.69 David Hume (1711–1776),70 Zeitgenosse Immanuel Kants und Freund von Adam Smith, hat in seinem Treatise of Human Nature (1739/40) die These aufgestellt, dass es nicht zulässig sei, aus Sätzen, die formulieren, was ist (nicht-normativen Ist-Aussagen), Aussagen über das, was sein soll (normative Sätze), herzuleiten.71 Diese viel zitierte Behauptung beruht auf Hume’s strenger Unterscheidung zwischen dem Vermögen der Vernunft im Blick auf die Naturerkenntnis einerseits, wobei zwischen „wahr“ und „falsch“ klar unterschieden werden kann, und dem Vermögen des sittlichen Empfindens (moral sense) andererseits, das zwischen lobens- und tadelnswert aufgrund der menschlichen Affekte und des Gewissens unterscheidet. „Moral distinctions [. . .] are not the offspring of reason. Reason is wholly inactive, and can never be the source of so active a principle as conscience, or a sense of morals.“72 Sätze über Erscheinungen der Natur können wahr oder falsch sein; Sätze über Handlungen und andere sittlich bedeutsame Sachverhalte bringen hingegen ein moralisches (dabei wertendes, urteilendes) Gefühl73 über gut oder schlecht zur Sprache. In Abhandlungen zur Moral indes, so fügt Hume am Ende des Abschnittes eher beiläufig74 hinzu, werde dieser grundlegende Unterschied oft vernachlässigt, und das bedeute, dass die Grenzen dessen, was die Vernunft leisten kann und was nicht, ebenso verkannt werden wie die Besonderheit ethischer Erwägungen.75 69 Vgl. Annemarie Pieper/Anton Hügli, Art. Sollen, HistWbPhilos 9, 1995, 1026–1056. 70 Zur Einführung siehe William Edward Morris’ Darstellung in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/ hume). 71 Eine logische Präzisierung der These Hume’s gibt Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, Berlin/New York 1999, 31–34. 72 David Hume, A Treatise of Human Nature (1739/40), hg.v. L.A .Selby-Bigge, Neuaufl. P.H. Nidditch, Oxford 1978, Book III, 1,1, 458. 73 Mit dem Begriff des „Gefühls“ ist nicht das gemeint, was man heute bei vielen Arten von Gefühligkeit und Sentimentalität im Blick hat, sondern ein spezifisches, vom Vermögen der Vernunft unterschiedenes praktisches oder SinnesVermögen, das dem nahe kommt, was die schottischen Aufklärer „moral sentiments“ nannten und das sehr viel mit dem „common sense“ zu tun hat – der menschlich-gesellige, gebildete „Sinn“ für Sympathie, Gerechtigkeit oder Wohlergehen. Vgl. Adam Smith, Theory of Moral Sentiments (1759) deutsche Übersetzung von Walther Eckstein, zuerst 1926, ND Hamburg 1994. 74 In der Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751, deutsche Ausgabe v. Manfred Kühn, Hamburg 2003) spielt die Frage nach

„is“ und „ought“, soweit ich sehe, keine spezielle Rolle. 75 Der Abschnitt lautet vollständig: „I cannot forbear adding to these reasonings an observation, which may, perhaps, be found of some importance. In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always remark’d, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surpriz’d to find, that instead of the usual copulations of propositions, is , and is not , I meet with no proposition that is not connected with an ought , or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought , or ought not , expresses some new relation or affirmation, `tis necessary that it shou’d be observ’d and explain’d; and at the same time that a reason should be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it. But as authors do not commonly use this precaution, I shall presume to recommend it to the readers; and am persuaded, that this small attention wou’d subvert all the vulgar systems of morality, and let us see, that the distinction of vice and virtue is not founded merely on the rela-

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Merkwürdigerweise hat man Hume sowohl als „Emotivisten“ wie als „Naturalisten“ in der Ethik bezeichnet.76 Das erste Etikett ignoriert indes, dass Hume sehr wohl einen bestimmten Vernunftgebrauch in Sachen der Moral und Sittlichkeit kennt, allerdings im Sinne des kritisch prüfenden „common sense“, des gesunden Menschenverstandes, nicht im Sinne der empirisch gesicherten Gegenstandserkenntnis durch die Vernunft. Die praktische Ausrichtung dieser durchaus kognitiven Auffassung ethischer Beratung und Urteilsbildung bei Hume ist im übrigen unverkennbar antiklerikal und antikirchlich. Es geht ihm nicht zuletzt auch um die Befreiung des „moral sense“ von theologischer Bevormundung angesichts bestimmter calvinistischer Moralprinzipien im damaligen Schottland und England und um die schlichte Anerkennung des profanen menschlichen Glücksstrebens. Das zweite Etikett des „Naturalismus“ ist schwieriger zu verstehen, weil damit eine problematische Brücke zwischen Hume und der ganz anders ansetzenden Kritik des sogenannten „naturalistischen Fehlschlusses“ durch George Edward Moore hergestellt wird.77 Moore kritisiert im zweiten Kapitel seines Buches die sogenannte naturalistische Ethik am Beispiel von Aussagen Charles Darwins (1809–1882) und der Darwin-Rezeption bei Herbert Spencer (1820–1903). Eine wichtige Variante des ethischen Naturalismus und ineins damit der Bestreitung der Eigenständigkeit der Ethik besteht darin, die historischen Ausprägungen von Sittlichkeit und Moralität als Funktionen der erfolgreichen Anpassung menschlichen Verhaltens im Zuge der Evolution der Natur zu interpretieren. Diese sog. „evolutionäre Ethik“, die es inzwischen in zahlreichen Spielarten gibt78 und ziemlich populär geworden ist, hat im Anschluss an Darwin und Spencer bestimmte Formen sittlichen Verhaltens im Zuge einer Theorie der natürlichen Selektion als Evolutionsvorteile im Kampf um das Überleben der menschlichen Gattung zu erweisen versucht. Wenn das „survival of the fittest“ ein Gesetz der natürlichen Evolution ist und die so verstandene Naturgesetzlichkeit auch für Sittlichkeit und Moral maßgebend sein soll, dann kann man damit beispielsweise auch ein rabiates Konkurrenz- und Durchsetzungsverhalten bis hin zu nationalistischen und sogar rassistischen Positionen legitimieren.79 Umgekehrt waren in Auseinandersetzung mit Darwin etliche Autoren bemüht, auch und vor allem kooperatives und altruistisches Verhalten (Sympathie, Wohlwollen, gegenseitige Hilfe) als in „der Natur“ angelegt, evolutionär fortschrittlich und insofern tions of objects, nor is perceiv’d by reason.“ (Treatise [1739/40], a. a. O., Book III, 1,1, 469 f). 76 Vgl. dazu Nicholas Sturgeon, Ethical Naturalism, in: David Copp (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, Oxford 2006, 91–121; sowie die Beiträge in: Thomas Sukopp u. a. (Hg.), Naturalismus. Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen 2007. 77 Moore hat in seinen Principia Ethica (zuerst 1903), deutsche Übersetzung v. Burkhard Wisser, Stuttgart 1970, nicht eine unzulässige Herleitung von Sollens-Sätzen aus rein deskriptiven Sätzen

kritisiert, sondern eine aporetische Destruktion der Verwendungen des Wortes „gut“ vorgelegt. 78 Siehe Eve-Marie Engels, Evolutionäre Ethik, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2003, 341–346; Eine Auswahl einschlägiger Beiträge findet man bei Kurt Bayertz (Hg.), Evolution und Ethik, Stuttgart 1993. 79 Zu den unglaublich vielfältigen Spielarten der Folgen der Theorie Darwins siehe Günter Altner (Hg.), Der Darwinismus, Darmstadt 1981.

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sittlich geboten zu deuten, so etwa in zahlreichen Büchern der russische Anarchist Fürst Pjotr Kropotkin.80 Liest man Darwin und Kropotkin synoptisch, springt einem gleichsam als Schlussfolgerung der Imperativ entgegen: Hier kann und muss – aus Freiheit – gewählt werden. Was folgt aus diesen Positionen und Überlegungen zum Verhältnis von Natur (-philosophie) und Moral, deskriptiver und präskriptiver Ethik, Sein und Sollen? Erstens sollte man im Rückblick auf die geführten Debatten nicht mehr postulieren, dass für das in der Natur beobachtbare oder in der (menschlichen) Geschichte überwiegend begegnende Geschehen schon bloß als solches normative Geltung beansprucht werden kann oder darf. Natur- und Geschichtswissenschaft können Anschauungsmaterial zur Geschichte des tierlichen Ethos und der menschlichen Sittlichkeit und Moral bieten, aber die Frage nach dem, was (mit guten Gründen) sein soll , nicht von sich aus beantworten. Dazu bedarf es einer ausdrücklichen Stellungnahme, eines wertenden und gewichtenden Urteils, einer personalen Entscheidung, ja, einer Gewissensentscheidung. Zweitens sollte man den Naturbezug der ethischen Argumentation in dem Sinne ernst nehmen, dass menschliches Handeln stets Handeln im Zusammenhang mit und im Blick auf die „Natur“ ist – im Blick auf die natürliche, leibhaftige Verfassung allen tierlichen und menschlichen Lebens, im Blick auf die Erhaltung, Pflege und Gestaltung der mitmenschlichen Natur und im Blick auf die Bedingungen der zureichenden Selbsterhaltung derjenigen Um- und Mitwelt, die wahrscheinlich die begrenzte Epoche des homo sapiens überleben wird. Natur- und vernunftgemäß zu leben und zu handeln, ist die Aufgabe der sittlichen Vernunft inmitten der Natur, der sie selbst entstammt und zugehört. Maße dafür zu finden und Kriterien der Angemessenheit wahrzunehmen, zu problematisieren und damit zum Gegenstand der Kommunikation zu machen, ist Sache von – in ihren Grenzen – freien Menschen. Die Unterscheidung von Sein und Sollen leitet in diesem Zusammenhang dazu an, keine naturalen oder historischen Gegebenheiten als solche zu moralischen Instanzen oder Prinzipien zu erheben und damit gegen mögliche Kritik zu immunisieren. Allein aufgrund der Beschreibungen eines Zoologiebuches kann man kein gutes Tierschutzgesetz machen, aber ohne hinreichende zoologische Kenntnisse erst recht nicht. Wenn Menschen Homosexualität als eine „unnormale“ oder „naturwidrige“ Gestalt der Sexualität ablehnen, wie dies in etlichen Kulturen und Kirchen der Fall war und ist,81 dann handelt es sich um eine moralische Wertung und Verurteilung, aber nicht um eine empirisch untermauerte Lehrbuchfeststellung. Die Forderung, Sein und Sollen klar zu unterscheiden, betrifft vor allem, aber nicht nur die ethischen Fragen der menschlichen Leiblichkeit im Blick auf Lebensbeginn und Weitergabe des Lebens (Sexualität) einerseits, im Blick auf Endlichkeit, Vergehen, Sterben 80 Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (zuerst englisch 1902: Mutual Aid. A Factor of Evolution, deutsch zuerst 1904), Ausgabe von Gustav Landauer neu hg. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M. u. a. 1976.

81 Christen berufen sich dabei häufig auf Röm 1,26, wonach der „natürliche“ in einen „widernatürlichen“ Umgang verkehrt worden sei (metvllaxan tvn fusikvn crvsin eiß tvn para fusin).

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und Tod andererseits. Trifft man diese Unterscheidung, dann wird beispielsweise deutlich, dass die viel diskutierte Frage nach dem „Status“ von menschlichen Embryonen nicht auf der Basis naturwissenschaftlicher Beschreibungen entschieden werden kann, sondern Gegenstand von ethischen, politischen und rechtlichen Überlegungen und Entscheidungen ist. Was in solchen und ähnlichen Fällen als natürlich angesehen wird oder gelten soll, ist alles das, was in unterschiedlichen Freiheitsgraden gestaltbar und insofern zu „verantworten“ ist, und was derart aufgrund sittlicher Freiheit gestaltet wird, ist stets ein kulturell bestimmter Umgang der Menschen mit der Natur. Wer hier nicht Sein und Sollen streng zu unterscheiden versucht, ohne sie beziehungslos zu trennen, verkennt die Eigenständigkeit ethischer Reflexionen. Schließlich ist im Blick auf die Unterscheidung von Sein und Sollen noch einmal an einen weiteren Aspekt zu erinnern: Auch Sollens-Aussagen kann und muss man selbstverständlich als historische Phänomene auffassen und analysieren. Normative Sätze sind, wenn sie einmal formuliert sind, wie Aussagen über Erfahrungen auch als empirische Gegebenheiten zu nehmen. Normative Erwartungen, Äußerungen und Kommunikationen sind soziale Tatsachen (faits sociaux) wie andere auch. In den Anfängen der Sozialethik im 19. Jh. war dies ein Gegenstandsbereich der sogenannten Moralstatistik. Normen sind Teil der sozialen Wirklichkeit, entstehen und wandeln sich mit ihr. Man kann das empirisch erforschen. Erst mit der Frage nach den Gründen, nach einem ausweisbaren Geltungsanspruch , mit der Frage, warum eine historisch zu entdeckende oder eine empirisch begegnende Norm oder Menge von Normen Anerkennung finden und ihre Geltung durchgesetzt werden sollen , wechselt die Betrachtung von der empirischen zur explizit normativen Ebene. Hier entscheiden dann nicht mehr (allein) aus der Erfahrung gewonnene Gesichtspunkte und Argumente, sondern hier bedarf es einer eigenen Stellungnahme, einer ausdrücklichen Bewertung, einer persönlichen Entscheidung, eines individuellen oder gemeinschaftlichen Urteils.

2. Was ist theologische Ethik? Die evangelisch-theologische Ethik fragt im Hören auf Gottes Wort nach der Wirklichkeit, dem Wirken und dem Willen Gottes und nach der entsprechenden Verantwortlichkeit der Menschen. Sie hat die Aufgabe, die Wahrheit und die Bedeutung des christlichen Zeugnisses von Gott für die individuelle und gemeinschaftliche Lebensführung unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft zu entfalten. Sie will – im kritischen Dialog mit der philosophischen Ethik – dazu beitragen, die Gestalten des Ethos und der Moral in Gesellschaft und Kirche im Lichte des Evangeliums darzustellen, kritisch zu prüfen und zu ihrer Weiterbildung bei-

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Teil I Grundlagen

zutragen. Sie dient der Analyse, Begründung und Entfaltung geschichtlicher und gegenwärtiger Modelle christlichen Handelns im Kontext der modernen, multireligiösen Weltgesellschaft und will zur eigenen sittlichen Urteilsbildung befähigen, zur Beratung bei der Lösung ethischer Probleme in Kirche, Ökumene und Gesellschaft anleiten und zur Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen und Religionen beitragen. Diese lange, zentrale These soll zunächst im Blick auf alle folgenden Ausführungen eine vorläufige Bestimmung des hier vertretenen Verständnisses theologischer Ethik aus evangelischer Perspektive geben.1 Sie reicht damit allerdings über den Rahmen dieses einführenden Buches weit hinaus, insofern (1) die Analyse, Begründung und Entfaltung konkreter Modelle des Handelns nur im Blick auf die Sachfragen der unterschiedlichen Bereichsethiken gegeben werden können und darum entsprechenden Darstellungen vorbehalten sein müssen, als (2) die Einübung der eigenen sittlichen Urteilsbildung ein kommunikativer Prozess ist, und (3) insofern die öffentliche (Mit-)Verantwortung von Kirchen und Religionsgemeinschaften nur im Blick auf konkrete Gesellschaften und ihre spezifischen Probleme wahrgenommen werden kann.2 Im Blick auf diese These sowie im Rückblick auf die vorigen Abschnitte könnte jemand vielleicht fragen: Hat es die theologische Ethik – was immer man darunter verstehen mag – nicht mit weitaus einfacheren Fragen zu tun? Etwa von der Art: Was sagen die Zehn Gebote? Was will Gott von mir/uns? Was soll ich/sollen wir tun, wenn wir versuchen, der Person, dem Leben und den Worten des Bergpredigers zu folgen? Was ist der (in der Bibel) offenbarte Wille Gottes? Warum ist es sinnvoll, statt auf diese elementaren Fragen elementare Antworten zu geben, über so schwierige Fragen wie die nach dem Verständnis der Natur, der Bedeutung der Natur für die Ethik, das Verhältnis Vernunft – moralische Intuitionen, die Formen sprachlicher Verständigung über sittliche und moralische Fragen und dergleichen mehr nachzudenken, statt schlicht und einfach aufzuzeigen, was zu tun ist? Viele Menschen erwarten von einer theologischen Ethik verbindliche „Weisungen“, andere die Einschärfung von gesellschaftlich anerkannten oder anzuerkennenden „Werten“ (vorzugsweise jenen, denen man sich selbst verpflichtet fühlt), nicht wenige auch bloß die Bestätigung dessen, was sie immer schon als wertvoll, verbindlich, vorbildlich empfunden haben. Versteht sich „das Ethische“ nicht im Grunde von selbst? Man muss nicht lange nachdenken, um zu sehen, dass die oben erörterten Fragen in jeder Ethik – sei sie religiös oder rein weltlich orientiert – wiederkehren. Unter Bedingungen einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft gibt es keine traditio-

1 Auf die römisch-katholische Tradition und Lehre gehe ich in Teil III ein. 2 Zu dem zuletzt genannten Problemfeld vgl. die Fallstudien und die theoretischen Überlegungen

in: Christine Lienemann-Perrin/Wolfgang Lienemann (Hg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart u. a. 2006. Dazu näher auch unten, Teil III.

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nell begründete, charismatisch beglaubigte oder staatlich verordnete Sittlichkeit und Moral, die als solche fraglose Anerkennung finden könnte. Bei jeder Vorschrift, jedem Gebot, jeder normativen Erwartung kann schon der kleinste Erdenbürger zurückfragen: Warum? Und sobald jemand anfängt, auf diese elementaren Fragen eine Antwort zu suchen, drängen sich unvermeidlich die bisher erörterten und weitere kritische Fragen unabweisbar auf. Ethik ist keine Sache der einfachen Willensentscheidung, sondern eine Aufgabe kritischer Urteilsbildung. Davon ist keine religiös orientierte Ethik ausgenommen. Von ihr ist vielmehr zu verlangen, dass sie an den philosophischen Grundlagendebatten zur Ethik teilnimmt und sich ihnen nicht entzieht – schon gar nicht mit dem immunisierenden Hinweis auf ein höheres oder tieferes Wissen. Konflikte zwischen philosophischer und theologischer Ethik werden sich dann immer noch zahlreich und rechtzeitig ergeben. In diesem Abschnitt sollen Grundlagen und Grundfragen theologischer Ethik aus der besonderen Perspektive evangelischer Theologie im Blick auf ökumenische Gemeinsamkeiten und Unterschiede dargelegt werden. Meine Absicht ist, für mögliche übereinstimmende Überzeugungen unterschiedlicher kirchlicher Herkunft offen zu sein, ohne die eigenen Herkunftsprägungen zu verbergen. Im Unterschied zu früheren Zeiten ist überdies von vornherein ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnung „Theologie“ pluralistisch verstanden werden muss, und zwar sowohl im Blick auf die Vielfalt von Kirchen und Denominationen als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Religionen mit freilich sehr verschiedenen Theologieverständnissen. Jedenfalls gibt es kein Monopol christlicher Theologien mehr. Wenn für die folgenden Ausführungen gleichwohl eine evangelisch-theologische Perspektive gewählt wird, dann mit dem Ziel der Profilierung von Sachfragen, nicht der Betonung konfessioneller Sonderlehren.

2.1 Theologische Ethik im Kontext von Kirchen und Ökumene Ethik als christlich-theologische Disziplin ist die wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott und im Blick auf die entsprechenden Grundlagen, Möglichkeiten, Dringlichkeiten und Formen des Handelns und Verhaltens von Menschen in der Weltgesellschaft. Der Leitsatz dieses Abschnittes spricht nicht nur wegen der wörtlichen Anlehnung an den Anfang der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths von der Kirche.3 Ich setze ab3 Der Leitsatz des § 1 lautet: „Dogmatik ist als theologische Disziplin die wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott.“ Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1: Die

Lehre vom Wort Gottes (München 11932), Zürich 81964. Die KD zitiere ich in diesem Buch nach Paragraph, Band-, Seiten- und (gelegentlich) Zeilenanfangszahl. Wo in der KD Wörter gesperrt erscheinen, gebe ich sie kursiv wieder.

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sichtlich nicht mit Bestimmungen von der Art ein, dass die Bibel oder der Wille Gottes oder die Zehn Gebote Grund und Ursprung theologischer Ethik seien. Das muss nicht falsch sein, ist aber in jedem Fall ebenfalls höchst erläuterungsbedürftig. Ich setze auch nicht mit der Überlegung ein, dass das Ethos und die Moral von Christenmenschen primär aus der Bindung an die Bibel erwachsen und aus dem Hören, Glauben und Verstehen der oder des Einzelnen im Verhältnis zur biblischen Bezeugung des Evangeliums hervorgehen. Ich beginne bewusst mit der Frage nach dem Zusammenhang von Kirche und Ethos, weil die Kirche die Zeit, den Ort und die soziale Gemeinschaft der Verkündigung und Überlieferung des Glaubens von Christenmenschen bildet.4 Damit nehme ich allerdings einen anderen Ausgangspunkt als etwa Religionsund Kirchensoziologen. Ich beginne mit der „geglaubten“ Kirche. Ich setze ein mit einer alles andere als selbstverständlichen und für jeden Menschen offensichtlichen Annahme. Diese besagt, dass die Kirche, wie sie Gegenstand der christlichen Glaubensbekenntnisse und der diesen nachfolgenden theologischen Reflexionen ist, ihrem Ursprung und Auftrag gemäß nicht als eine von Menschen nach ihrem Willen und Gutdünken geschaffene Institution oder Organisation bestimmt werden kann, sondern ein Werk Gottes an und unter den Menschen in seiner Schöpfung ist.5 Karl Barth hat dafür einmal folgende schöne Wendung gefunden: „Kirche ist , indem es geschieht , daß Gott bestimmte Menschen leben lässt als seine Knechte, Freunde, Kinder, als Zeugen der in Jesus Christus schon geschehenen Versöhnung der ganzen Welt mit ihm [. . .]“6 So gesehen reicht die Kirche Gottes weit über die Grenzen jeder partikularen Kirche hinaus, aber jede einzelne Kirche kann und darf daraufhin angesehen werden, dass auch sie ein geschehendes Werk Gottes ist. In der Kirche wird von Gott geredet. Theologen fragen, ob und wie das zu verstehen ist. In diesem Sinne ist Theologie eine Funktion der Kirche, die der Rede der Kirche von Gott folgt , sie führt und begleitet.7 Es scheint mir nicht sehr aussichtsreich, darüber zu streiten, ob in der theologischen Ethik mit allgemeinen anthropologischen Annahmen zu beginnen sei, um dann in einem zweiten Schritt auf die Besonderheiten eines christlichen Lebens zu sprechen zu kommen, oder ob die umgekehrte Reihenfolge sachlich angemessener ist. Eine solche Unterscheidung des allgemeinen Humanum und des besonderen Christianum verkennt, dass auch jeder Christenmensch an den allgemein menschlichen Bedürfnissen, Tugenden, Pflichten, Gütern, Zielsetzungen und Hoffnungen teilhat, wie umgekehrt Christen glauben und überzeugt sind, dass ihr besonderes Verständnis von Gott, Mensch und Welt für alle Menschen, wenn sie es teilen könn4 Im III. Teil dieses Buches komme ich auf die institutionelle Bedeutung der Kirche als sozialen und kulturellen Boden jeder christlich-theologischen Ethik zurück. An dieser Stelle interessiert dieser Aspekt nur im Bezug auf den praktischen Erkenntniszusammenhang der Reflexion des christlichen Glaubens.

5 Zur Ekklesiologie der Reformatoren und in dogmatischen Entwürfen des 20. Jh. siehe Ulrich Kühn, Kirche, Gütersloh 1980. 6 KD IV/1, § 62.2, 727,7. Zur Ekklesiologie der KD gehören ferner vor allem die §§ 67 (IV/2) und 72 (IV/3). 7 KD I/1, 2, 21.

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ten, hilfreich und befreiend wäre. Die Teilnahme an der Erforschung der conditio humana gehört nicht weniger zur theologischen Ethik als die explizite Frage nach deren Ursprung und Ziel in der Offenbarung Gottes. Das eine gegen das andere auszuspielen kann nur dazu führen, die Aufgaben der Ethik in empfindlich beschränkter Weise wahrzunehmen. Ich setze mit der Kirche ein, weil erstens das individuelle Christsein in den unterschiedlichsten Formen auf die Kirche bezogen ist, und weil zweitens die Kirche jene räumlich und örtlich bestimmte Gemeinschaft von Menschen darstellt, in der auf äußerst vielfache Weise von Gott die Rede ist – in Gebeten und Liedern, in den Worten der Evangeliumsverkündigung, in der Feier der Sakramente, in diakonischer Solidarität, in missionarischer Offenheit, in lehrender Bestimmtheit. Ohne die reale Gemeinschaft, die wir Kirche nennen, gibt es kein Christsein, keinen Glauben, keine Reflexionsgestalt (Theologie) dieses Glaubens, kein diesem Glauben entsprechendes Ethos. Wenn ein Mensch zum christlichen Glauben kommt, ist die Kirche immer schon da. Als die ersten Jünger die Nachfolgegemeinschaft des Jesus von Nazareth bildeten, war die reale Gemeinschaft des Judentums der Boden ihres gemeinsamen Lebens. Die Kirche ist jene besondere, von allen anderen unterschiedene Gemeinschaft, in der der Glaube an Gott in Jesus Christus überliefert, gefeiert, bedacht und in Wort und Tat bezeugt wird. Sie war vor den aktuell Gläubigen da und wird auch ihr irdisches Leben – so jedenfalls glauben Christenmenschen – überdauern. Weil diese fundamentale Voraussetzung indes vielen Menschen nicht einleuchtet, zum Beispiel weil sie schlechte Erfahrungen mit der in Raum und Zeit begegnenden, konkreten Kirche gemacht haben, soll sie hier noch etwas näher erläutert werden. Theologische Ethik teilt mit aller sonstigen Ethik den nachgängigen Charakter der Reflexion auf gelebte Sittlichkeit und anerkannte oder umstrittene Moral. Ihren Gegenstand bilden das Ethos und die Moral der Menschen in einer Gesellschaft, sie mögen glauben und denken, was sie wollen. Für die theologische Ethik gilt, dass ihr nichts Menschliches fremd sein kann und darf. Sie lässt sich keine Tabus vorgeben und keine Fragen verbieten. Die theologische Ethik thematisiert Ethos und Moral, wie und wo immer sie begegnen, allerdings in besonderer Weise im Hinblick auf ein bestimmtes Verständnis der Rede von Gott und der damit erschlossenen, auf vielfache Weise zu befragenden und zu bestimmenden Wirklichkeit.8 Diese Reflexion er8 Dietrich Bonhoeffer hat, in Weiterführung der gedrängten Ausführungen in seiner Habilitationsschrift Akt und Sein (zuerst 1931, jetzt als DBW Bd. 2, hg. v. Hans-Richard Reuter, München 1988) in dem „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ überschriebenen Teil seiner Ethik ein christologisch fundiertes Wirklichkeitsverständnis dargestellt und dies als den Ausgangspunkt einer christlich-theologischen Ethik bestimmt: „Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen , wie das Problem der

Dogmatik die Wahrheit der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus ist.“ (Ethik, hg. v. Ilse Tödt u. a., München 1992, 34.) Wenig später heißt es: „Teilbekommen an dem unteilbar Ganzen der Gotteswirklichkeit ist der Sinn der christlichen Frage nach dem Guten.“ (38) Diese Wirklichkeit, die den Grund einer christlichen Ethik bildet, wird „allein bezeichnet durch den Namen: Jesus Christus.“ (39) Dass ein umfassendes, um nicht zu sagen: ganzheitliches Wirklichkeitsverständnis jeder ernst zu nehmenden Ethik zugrunde liegt, betont in der

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folgt stets in einem besonderen historischen und sozialen Zusammenhang, nämlich im Kontext einer bestimmten Gesellschaft, und zugleich im Blick auf eben jene besondere Gemeinschaft, die wir Kirche nennen. Wie alle Voraussetzungen, die hier unvermeidlich zu bedenken sind, ist auch diese alles andere als unumstritten. In welchem Sinne in diesem Buch von Kirche die Rede ist, soll darum knapp erklärt werden. Der Boden, auf dem in den Theologien der Kirchen und der Christenmenschen zuerst von Gott und dann vom Handeln und Verhalten von Menschen die Rede ist, ist stets eine historisch bestimmte Gestalt der Kirche, also der Bereich einer positiven, das heißt sichtbar begegnenden Gestalt organisierter Religion.9 Wenn die Reformatoren des 16. Jh. bekannt und gelehrt haben, dass die Kirche sich dem Wirken des Heiligen Geistes verdankt und ein Geschöpf der Verkündigung des lebendigen Evangeliums sei (creatura verbi divini, cretura evangelii 10), dann wollten sie damit sagen, dass das öffentlich bezeugte Wort Gottes von Menschen vernommen und weitergegeben wird und dass dieser Vorgang die Beteiligten zu einer besonderen Gemeinschaft vereinigt und formt.11 Alle christliche Theologie ist auf eine Gemeinschaft bezogen, die als hörende, verkündigende und vielfach handelnde soziale Gemeinschaft sichtbar und leibhaftig in Erscheinung tritt – sie ist in ihren Grundvollzügen Verkündigungs-, Tauf- und Mahlgemeinschaft.12 Theologie als eine Reflexionsgestalt ist im Blick auf diese Grundvollzüge eine Funktion der Kirche in der Weise, dass dieses Nachdenken im Raum und in der Zeit der Kirche vollzogen wird, um ihrer Vergewisserung, Identitätsbildung, öffentlichen Präsenz und werbenden Ausbreitung zu dienen.13 Jede Kirche der Christenheit bedarf der Theologie zu ihrer kritisch-unterscheidenden Wahrnehmung, Mitteilung und Prüfung des Glaubens, zur Handlungsorientierung und zu ihrer institutionellen Selbststeuerung14 – gegenwärtigen Debatte besonders Eilert Herms, so in verschiedenen Büchern wie: Gesellschaft gestalten, Tübingen 1991, aber auch in seinen zahlreichen, die Ethik und angrenzende Gebiete betreffenden Artikeln der RGG4. Doch auch von philosophischer Seite aus kann, mit freilich ganz anderen Pointen, ähnlich argumentiert werden; siehe etwa Andreas Graeser, Ethik und Meta-ethischer Diskurs. Überlegungen zum Gesicht einer ökologischen Ethik, in: Antonietta Di Giulio u. a. (Hg.), Allgemeine Ökologie. Innovationen in Wissenschaft und Gesellschaft (FS Ruth Kaufmann-Hayoz), Bern u. a. 2007, 201–210. 9 Im III. Teil komme ich auf diese ekklesiologischen Grundbestimmungen im Blick auf die öffentliche Kommunikation der Kirche zurück. 10 Vgl. nur CA 7; HK 54; Conf. Helv. Post. XVII. Siehe zu den hier zu bedenkenden ekklesiologischen Grundbestimmungen Ulrich Kühn, Kirche, Gütersloh 1980, 19–75; Wilfried Härle, Art. Kirche VII. Dogmatisch, TRE 18, 1989, 277–317;

ders., Dogmatik, Berlin/New York 1995, 569–599. 11 Besonders im Blick auf Luther ist zu Recht von dessen „ekklesiologischem“ Theologieverständnis gesprochen worden: Oswald Bayer, Theologie, Gütersloh 1994, 105 f. 379. 12 Auf die ethischen Implikationen dieser ekklesiologischen Grundbestimmung komme ich in Teil III zurück. 13 Karl Barth hat diese Aspekte sichtbarer kirchlicher Existenz in den entsprechenden Abschnitten der „Kirchlichen Dogmatik“ (§§ 62, 67, 72) mit Sammlung, Erbauung und Sendung überschrieben und dabei die Sendung als entscheidendes Merkmal einer „Kirche für die Welt“ besonders herausgestellt. 14 Vgl. die klassische Formulierung Schleiermachers: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchen-

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freilich nicht nur der Theologie, sondern auch all jener Wissenschaften und pragmatischen Techniken, die für diese Aufgaben und Vollzüge von Nutzen sind. Neben den örtlichen Gemeinden, den Landeskirchen, den Freikirchen und den vielen Arten von Orden und Kommunitäten bildet die Ökumene als weltweite Gemeinschaft der Kirchen der Christenheit den umfassendsten inneren Bezugsrahmen heutiger theologischer Ethik. Der Ausgangspunkt theologisch-ethischer Reflexionen mag häufig eine partikulare kirchliche Gemeinschaft sein, aber auch sie kommt letztlich nicht umhin, sich der Tragfähigkeit ihrer Überzeugungen im ökumenischen Horizont zu versichern. In allen kirchlichen Bezügen ist für die theologische Ethik wichtig, dass sie selbst als Theorie und Beratung auf die Praxis einer bestimmten partikularen Gemeinschaft bezogen ist, welche ihrerseits Teil eines größeren, ja des universalen Zusammenhanges der Kirche Jesu Christi ist. Der jeweilige Ort dieser besonderen Gemeinschaft „Kirche“ ist einerseits lokal und regional bestimmt und äußerst unterschiedlich und spannungsreich nach Maßgabe der Geschichte und Situation der jeweiligen Gesellschaften, in denen Christen als Gemeinschaften existieren, andererseits seit den frühesten Anfängen der Christenheit auf die gesamte bewohnte Erde bezogen (die oikoumenv im ursprünglichen Wortsinn) und heute unausweichlich Teil der Weltgesellschaft.15 Diese bildet darum den äußeren Horizont der modernen philosophischen und theologischen Ethik. Ein Wegbereiter dieser Einsicht war im übrigen Immanuel Kant, der als erster die von ihm geforderte Ausweitung des öffentlichen Rechtes zu einem globalen Völkerrecht ausdrücklich auf die in sich begrenzte und in der Neuzeit zunehmend als politische Einheit erfahrene Kugelgestalt der endlichen Erde bezogen hat.16

2.2 Voraussetzung theologischer Ethik Die vielfach bezeugte und umstrittene Wirklichkeit Gottes bildet den Grund des Glaubens, des Ethos und der Moral von Juden und Christen. regiment, nicht möglich ist.“ Kurze Darstellung des theologischen Studiums § 5, hg. Heinrich Scholz, Leipzig 1910/Darmstadt o.J., 2. 15 Zur Einführung siehe Reinhard Frieling, Der Weg des ökumenischen Gedankens, Göttingen 1992; ferner Dietrich Ritschl/Werner Ustorf, Ökumenische Theologie. Missionswissenschaft, Stuttgart/Berlin/Köln 1994. Zu einem soziologisch-systemtheoretischen Begriff der säkularen Ökumene als Weltgesellschaft vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft (1970), in: ders., Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, 51–71; ders. Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, 145–171. Luhmann nennt als wesent-

liche Merkmale der Weltgesellschaft die Realität des faktischen weltweiten Verkehrs (reale Interaktionen), die zeitliche Simultaneität der Ereignisse (Weltzeit), den Welthorizont aller Kommunikationen (zumindest als implizite Verweisung), die Entfaltung der sozialen Formen funktionaler Differenzierung und die Orientierung aller Reflexionen auf das logisch und sozial Mögliche im Horizont einer weltweiten Interaktionsgemeinschaft. Vgl. hierzu Jens Becker, Weltgesellschaft. Eine Einführung in die zentralen Konzepte, Wiesbaden 2005. 16 Vgl. besonders seine Schrift Zum ewigen Frieden (1795), AA 8, 341 ff.

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Christliche Theologie ist in dem Sinne eine Funktion der Kirche Jesu Christi, dass sie in allen ihren Disziplinen den Glauben an Gottes Offenbarung in Jesus Christus denkend zur Sprache zu bringen hilft. Unter der Voraussetzung, dass Gott geredet hat – zu den Vätern durch die Propheten, zu uns durch den Sohn (Hebr 1,1 f) –, fragt die christliche Theologie nach dem Inhalt, der Erschließung und der Kraft dieser Rede. Theologie ist und bleibt bei allem Streben nach Wahrheit und Klarheit ein irrtumsanfälliges Menschenwerk. Sie ist der Wahrheit des biblischen Zeugnisses von Gott in seiner Selbsterschließung (Offenbarung) verpflichtet, aber sie weiß auch, dass ihre Sicht und Darstellung dieser Wahrheit – wie alles Menschenwerk – nicht frei von Irrtum, Entstellung, ja Verkehrung ist. Dabei ist sie alles andere als voraussetzungslos. Denn sie kommt als eine menschliche Tätigkeit von einem Geschehen her, das sie selbst nicht bewirkt hat: Unter der elementaren, von Menschen geglaubten Voraussetzung, dass Gott gehandelt und geredet hat und immer wieder die Wirklichkeit Gottes aus der tiefsten Verborgenheit in die klarste Erscheinung heraustritt, fragt die Theologie nach dem Inhalt und der Kraft der Rede von Gott. Aller Theologie liegen die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der Sakramente voraus, welche ihrerseits Kirche schaffen und sichtbar werden lassen. Auf diesem Boden der Kirche Jesu Christi entstehen christliche Theologie und damit (christlich-)theologische Ethik. Ihr Ausgangspunkt ist die Teilnahme von Menschen am Leben der Gemeinde, die Jesus Christus zu allen Zeiten selbst beruft. Gerade eine theologische Ethik, die den kritischen Dialog mit der philosophischen Ethik sucht, tut gut daran, ihre spezifischen Voraussetzungen klar und deutlich von Anfang an zu benennen. Christliche Theologie ist Funktion der Kirche, indem sie in allen ihren Disziplinen den Glauben an Jesus Christus bezeugend und nach-denkend zur Sprache bringt. Dies ist eine schwierige, schöne und eminent kritische Aufgabe, denn immer und überall schleicht sich der Aberglaube nur zu gerne zum Glauben. Darum erfolgt das Nach-Denken des Glaubens in den vielfältigen Gestalten der Theologie unter Bedingungen strittiger Wirklichkeitsauffassungen und Wahrheitsansprüche. Theologie und damit theologische Ethik sind von Beginn an in Auseinandersetzungen mit anderen wissenschaftlichen und ausserwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassungen verwickelt. Sie können und sollen sich dem nicht entziehen. Um dem Wahrheitsanspruch ihres „Gegenstandes“ zu entsprechen, muss die Theologie jederzeit bereit sein, sich dem „Streit der Fakultäten“ zu stellen. Schon im Neuen Testament werden die Gläubigen darum ausdrücklich aufgefordert: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist.“ (1 Petr 3,15)17

17 Für „Verantwortung“ steht im griechischen Text apologia, ein Wort, das Luther, der 1Petr neben Joh und Röm zu den „Häuptbüchern“ des

NT rechnete, durchgehend mit „Verantwortung“ übersetzt hat, während die lateinische Bibel hier von satisfactio spricht.

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Die wissenschaftliche Prüfung der Kirche hinsichtlich ihrer Rede von Gott ist also von vornherein in mehrfacher Hinsicht problemorientiert und nicht ungebrochen affirmativ. Ich hebe einige wenige Aspekte hervor, die auch für die Ethik bedeutsam sind: (1) Von Gott und seiner „Realität“ ist in der Weise die Rede, dass sowohl die Möglichkeit als auch der Gehalt dieser Rede – als Rede von Menschen – immer wieder als strittige und bestrittene begegnen. In welchem Sinne wird von der Wirklichkeit Gottes gesprochen? Ist Gott, wie eine alte Formel lautet, das „allerwirklichste Wesen“ (ens realissimum )18 beziehungsweise das- oder die- oder derjenige, über das/die/der hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (aliquid quo nihil maius cogitari potest )? In der Rede von Gott fragt der Glaube die Vernunft (fides quaerens intellectum ), was hier zu verstehen aufgegeben wird, aber ebenso fragt umgekehrt die Vernunft die Gläubigen, wie das, was sie sagen, glauben und denken, verstanden und mitgeteilt werden kann und soll. (2) An den fundamentaltheologischen Klärungsaufgaben der menschlichen Rede von Gott kann auch die Ethik nicht vorbeisehen. Wenn und soweit gilt, dass Erkenntnis Gottes stets in einem umfassenden Lebensbezug steht und insofern stets auch ein praktisches Erkennen ist, so dass die Theologie als eine sapientia eminens practica bezeichnet werden kann,19 dann hat das Konsequenzen auch und besonders für die theologische Ethik. (3) Wenn „Gott denken“ bedeutet, Gott und seinen geschichtlichen Selbstbekundungen nach-zu-denken, dann wird besonders die Aufmerksamkeit auf das grundlegende Ereignis gelenkt, dass alle Menschen an der Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk des ewigen Bundes in dem von Gott selbst erwählten Jesus Christus ein- für allemal Anteil bekommen haben. Gott zu bedenken und

18 Die berühmte Antwort Anselms v. Canterbury auf die Frage quod vere sit deus? : credimus te esse aliquid quo nihil maius cogitari possit (Proslogion, c. 2), steht an der Spitze der sog. Gottesbeweise der mittelalterlichen Theologie. Thomas v. Aquin hat daran schon Kritik geübt, Descartes statt vom ens realissimum vom ens perfectissimum gesprochen, und Kant hat, in Auseinandersetzung mit Leibniz und der Schulphilosophie, die Gottesbeweise einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, aber gleichzeitig die Existenz Gottes als Postulat der praktischen Vernunft geltend gemacht. Kants Kritik der Rede vom „allerrealesten Wesen“ (ens realissimum ) findet man in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. Aufl. 1787), im Abschnitt „Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes“ (AA 3, 403–410). Zur Kritik der Gottesbeweise siehe Wolfgang

Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, München 1992, bes. 132–168. Zu Kants Religionsphilosophie und Theologie vgl. Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990; sowie Hans Peter Lichtenbergers Berner Habilitationschrift: Wie kommt der Christus in die Philosophie? Gotteslehre und Christologie bei Immanuel Kant, Typoskript Bern 1992; Alexander Heit, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006. 19 Zur Frage, ob die Theologie eher als eine Wissenschaft (scientia ) oder als eine Weisheit (sapientia ) oder gar, wie der junge Luther meinte, als eine sapientia experimentalis zu verstehen sei, siehe Oswald Bayer, Theologie, Gütersloh 1994, 49–55.

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zu bekennen, wie die Bibel ihn bezeugt, heißt, von ihm als dem Schöpfer der Welt und aller Geschöpfe, von ihrem Erlöser und dem Vollender am Ende der Zeiten so zu sprechen, wie es in den Überlieferungen der Kirche erschlossen ist und in gegenwärtiges Verstehen übersetzt wird. Theologische Ethiker fragen darum in ausgezeichneter Weise danach, inwiefern die menschliche Weise, Gottes Wirklichkeit zu begegnen, auch und besonders das alltägliche Leben herausfordert, leitet, verwandelt und vollendet. Die theologische Ethik im Raum der Kirchen der Christenheit kann und darf sich nach meiner Überzeugung von diesem weiten Erfahrungs- und Zeugniszusammenhang nicht abkoppeln, sie ist vielmehr auch und gerade im Diskurs mit anderen nicht-theologischen EthikKonzeptionen verpflichtet, diesen deutlich und klar erkennbar zu machen. (4) Teilgabe und Teilnahme an der Geschichte Gottes mit den Menschen verweisen auf eine ungeheure Vielfalt von Zeugen und Gemeinschaften und deren unverzichtbare Funktionen und Gaben. Zur ökumenischen Gestalt des Volkes Gottes gehört die beglückende Vielfalt der Charismen (Gaben) Gottes, mit denen die einen die anderen bereichern und durchaus auch irritieren können. Sehr unterschiedliche Weisen des gemeinschaftlichen Handelns sind dabei für eine Kirche typisch und unverzichtbar: Sie ist Gottesdienst- und darin Tauf- und Mahlgemeinschaft, Diakoniegemeinschaft sowie Deutungs- bzw. Zeugnisgemeinschaft (eine ältere Typologie unterscheidet Leiturgia, Diakonia und Martyria). Jeder dieser Grundvollzüge verweist seinerseits auf spezifisch ethische Gehalte.20 Fehlt einer davon dauerhaft und vorsätzlich, so müssen ernsthafte Zweifel aufkommen, ob es sich wirklich um eine Kirche handelt und nicht bloß um einen Verein zur Pflege religiöser Bedürfnisse. (5) In der Teilnahme an den sichtbaren, sozialen Gestalten der besonderen Gemeinschaft Kirche hören Menschen die menschliche Rede von Gott – Kenntnis nehmend, prüfend, erwägend, ablehnend, zustimmend – und beginnen einzustimmen in einen von einer Gemeinschaft getragenen Lobpreis (Doxologie), der ursprünglicher ist und weiter reicht als die gegenwärtige Gemeinschaft, und der zugleich die kritische Prüfung, Aneignung und Mitteilung ermöglicht und fordert und entsprechende konkrete Entscheidungen im Handeln und Verhalten frei setzt.

20 Als Taufgemeinschaft kennt die Kirche eine fundamentale Gleichheit aller Menschen; als Mahlgemeinschaft ist sie durch Teilen, wechselseitiges Geben und Nehmen charakterisiert. Als Diakoniegemeinschaft dient sie den bedürftigen Menschen ohne Ansehung der Person; als Zeugnis- und Interpretationsgemeinschaft ist sie der

öffentlichen und uneingeschränkten Kommunikation ihres Glaubens verpflichtet. Daraus ergeben sich folgerichtig die unverzichtbaren rechtlichen Ordnungen der Kirchen und die Grundlagen ihres Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft. Ich komme auf diese Unterscheidungen in Teil III zurück.

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2.3 Bilder Gottes und theologische Ethik Wie und was Menschen von Gott glauben, denken und reden, bestimmt zugleich ihr Verhalten, Handeln und Unterlassen. Christen glauben und bekennen, dass die wahre Gestalt Gottes in Jesus Christus offenbar und zu erkennen ist: In ihm ist Gott Mensch geworden, um die Menschen aus allen gottlosen Bindungen zu befreien zu einem neuen Leben und Wirken in Dankbarkeit, in Freiheit und aus der Gemeinschaft mit Gott. Wie Menschen die Wirklichkeit Gottes verstehen, vorstellen und denken, ist bekanntlich höchst mannigfaltig. Das ist als empirischer Befund unstrittig und vermutlich zu allen Zeiten so gewesen, allerdings in wechselnden Kontexten und Konstellationen. Theologie als kritische Prüfung fragt danach, von welchen Gottesverständnissen und Gottesbildern Menschen in ihren Lebensvollzügen bestimmt sind.21 Sie achtet darauf, wie Gottesbilder entstehen, überliefert und angeeignet werden, wie sie direkte und indirekte Wirkungen im Leben der Menschen entfalten,22 wann und warum sie der Kritik verfallen und anscheinend doch für Menschen ganz unvermeidlich sind. Das biblisch bezeugte Bilderverbot (Ex 20,4) wird im Judentum, aber auch im Islam streng respektiert, während in den christlichen Kirchen immer wieder schwere Auseinandersetzungen um die Bedeutung von und den Umgang mit Bildern begegnen.23 Doch selbst unter Bedingungen eines Bilderverbotes und sogar der Bildlosigkeit ist es anscheinend unvermeidlich, dass Menschen sich bildhafte Vorstellungen von Gott machen, denn die heiligen Schriften reden nun einmal in menschlichen Worten von Gott – als einem handelnden, sich verbergenden, freien, barmherzigen, zürnenden und liebenden Gott, von Gott als Hirten, Vater, Mutter oder Sohn. Vor allem glauben Christen, dass Gott sich in einem Menschen, Jesus von Nazareth, offenbart hat, und zu dieser Menschlichkeit Gottes gehört, dass er in seinem Sohn menschliche Gestalt angenommen hat (Phil 2,5–11). Wenn im Neuen Testament von Christus als dem „Bild“ Gottes (eikwn) die Rede ist 21 Vgl. dazu Walter Dietrich/Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes, 2 Bd., Neukirchen-Vluyn 1995/2000, sowie das Heft: Gott und Gottesvorstellungen im Christentum, BThZ 22, 2005. 22 Von großer Bedeutung ist die Entwicklung von Gottesbildern bei Kindern; siehe dazu beispielsweise Helmut Hanisch, Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart/Leipzig 1996. 23 Die Geschichte des sog. Bilderverbots im Christentum kontrastiert mit der überwältigenden Fülle der Bilder, die im Kontext christlicher Kirchen und Theologien entstanden sind; siehe dazu aus der umfangreichen Lit. beispielhaft Michael J. Rainer u. a. (Hg.): Bilderverbot. Jahrbuch

politische Theologie 2, Münster 1997; Christian Link, Das Bilderverbot als Kriterium theologischen Redens von Gott (zuerst 1977), überarbeitet in: ders., Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung, Neukirchen-Vluyn 1997, 3–35; Ingo Baldermann (Hg.): Die Macht der Bilder. Jahrbuch für biblische Theologie 13, NeukirchenVluyn 1999; Matthias Krieg u. a. (Hg.): Das unsichtbare Bild. Zur Ästhetik des Bilderverbots, Zürich 2005; Andreas Wagner u. a. (Hg.): Gott im Wort – Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus? Neukirchen-Vluyn 2005.

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(2Kor 4,4; Kol 1,15), dann wird auf ein Bild oder eine Gestalt verwiesen, die in ihrer Menschlichkeit offenbar ist, aber gerade so den natürlichen menschlichen Augen verborgen und entzogen bleibt.24 Bilder, die Menschen sich von Gott machen, malen, dichten oder komponieren, prägen nachhaltig ihr Bild von der Welt und von sich selbst. 1985 hat auf dem Düsseldorfer Kirchentag Dietrich Ritschl einen Vortrag gehalten mit dem Titel: „Gott wohnt in der Zeit. Auf der Suche nach dem verlorenen Gott“.25 Es heißt dort am Anfang: „Gott hätte nie in der Weise Gegenstand des Intellekts werden sollen, wie er es in unserer zweitausendjährigen Geschichte tatsächlich geworden ist. Ja, mehr noch, er hätte nie in der Weise mit Ordnung, Regeln, Naturgesetzen, mit Ordentlichkeit, mit Gesundheit und Normativität naiv parallel gesetzt werden sollen, wie dies tatsächlich geschehen ist.“ An diesem Gott von Macht, Ordnung und Gesetz sind unsagbar viele Menschen krank geworden und zugrunde gegangen. Der Übergott als Übervater ist für viele zum Objekt der Gottesvergiftung geworden.26 Dichter und Pychotherapeuten kennen viele Beispiele dafür, wie Menschen durch bestimmte Gottesbilder gequält und in ihren Lebensmöglichkeiten verhindert, wenn nicht gar zerstört worden sind. Dieser Gott ist, so Ritschl noch relativ harmlos, „wie ein General, der seine Truppen sieht, obgleich sie ihn nicht oder selten sehen. Er befiehlt, sie gehorchen. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Er ist der große, männliche Herrscher, der Chef, der Manager, der den Überblick hat und für alles zeichnet. Er ist distanziert.“ Dieser Gott ist auch der Gott einer stets fordernden, niederdrückenden und einschüchternden Moral, in der der Mensch ganz klein werden muss, damit Gott um so mehr verherrlicht werden kann. Ist dieser Gott bloß der unbewegte und nicht zu bewegende Beweger, welcher – vielleicht – den ersten Anstoß zu allem, was ist und geschieht, gegeben hat und seither in unendlicher und unnahbarer Ferne dem Rollen der Kugeln zusieht? Er ist für viele Menschen wiederum der unendlich überlegene Weltenrichter, der alles, was unter der Sonne geschieht, sieht, prüft und bewertet und am Ende der Tage jeder und jedem die Bilanz des Lebens wie einen Mühlstein um den Hals hängt. Wer würde da nicht untergehen? Beide, den unbewegten Beweger und den unnahbaren Richter kennen und fürchten die Menschen. Aber sie lieben ihn nicht. Es wäre eine gründliche Untersuchung wert, den Einfluss kollektiver Gottesbilder auf die Lebensführung von Menschen näher zu prüfen und die Auswirkungen auf 24 Blaise Pascal hat geschrieben, dass Gott sich bis zu seiner Menschwerdung unter dem Schleier der Natur verborgen habe, aber als er in Jesus Christus erschienen sei, habe er sich nur noch tiefer verborgen, indem er sich in die Menschlichkeit verhüllte (plus caché en se couvrant de l’humanité); Brief an Mlle. De Roannez v. Oktober 1656, in: Œuvres Complètes, hg. v. Jacques Chevalier (Bibliothèque Pléiade), Paris 1954, 509–511 (510).

25 Wieder abgedruckt in: Hermann Deuser u. a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt (FS Jürgen Moltmann), München 1986, 250–261. 26 Vgl. Tilman Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a. M. 1976, sowie zu frühen Reaktionen auf dieses Buch die Besprechung von Frithard Scholz, EvTh 38, 1978, 147–155.

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gängige Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit zu analysieren.27 Ich muss mich an dieser Stelle damit begnügen, summarisch auf neue Entwürfe der Gotteslehre im engeren Sinne in unserem Jahrhundert hinzuweisen, die, wenngleich ebenfalls unvermeidlich anthropomorph von Gott redend, doch der Ritschl’schen Kritik standhalten können – beispielsweise auf Bonhoeffers Theologie, Christologie und Ethik, in deren Zentrum der Christus, der stellvertretend für die leidenden und geschundenen Menschen eintritt, steht, und zwar derart, dass in der aktiv-leidenden Stellvertretung für andere ein Mensch dem oder der Anderen zum Christus wird.28 Zu verweisen ist auch auf jüdische Entwürfe einer Theodizee des leidenden Gottes, beispielsweise bei Hans Jonas,29 in denen gelegentlich eine Verbindung der kabbalistischen Lehre von der Selbst-Zurücknahme Gottes mit Schellings Lehre von den Kontraktionen Gottes begegnet. Vor allem möchte ich hinweisen auf die Neufassung der Gotteslehre bei Karl Barth, von der ich hier nur zwei Elemente hervorhebe. Erstens hat Barth die traditionelle Rede von den Eigenschaften Gottes einer tiefgreifenden Revision unterzogen, mit dem Ergebnis, dass sich für ihn zwei wesentliche Bestimmtheiten Gottes ergeben – Barth spricht von Gottes „Vollkommenheiten“30 der Freiheit und der Liebe. Barths Gottes-„Bild“ stellt Gott als den in Freiheit Liebenden vor. Die Freiheit Gottes erweist sich zweitens in der ungeschuldeten Selbstbestimmung Gottes zum Bündnispartner seiner Geschöpfe. Gott allein ist Gott, aber Gott will nicht allein sein. „Der Gott, der in Jesus Christus selbst Geschöpf wurde, der Gott, der sein Geschöpf doch nur dazu so ganz in seinen Dienst stellt, um sich selbst ganz und gar in seinen, seines Geschöpfes Dienst zu stellen – dieser Gott findet seine Größe nicht in der Unterdrückung seines Geschöpfes. Er triumphiert nicht in dessen Unfreiheit und Ohnmacht, indem seine Herrschaft eine unbedingte und unwiderstehliche ist. Er wirkt nicht allein, indem er Alles in Allem wirkt.“31 Die Liebe Gottes erweist sich darin, dass Gott seine Geschöpfe allem Widerstreit zum Trotz bejaht, erhalten, begleiten, schützen und fördern will. Sogar noch der Zorn Gottes, so Barth, ist „das Brennen seiner Liebe“.32 In seinen Ausfüh27 Siehe aus psychoanalytischer Perspektive Peter Schellenbaum, Gottesbilder. Religion, Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, München 52004. 28 Siehe dazu Hans Friedrich Daub, Die Stellvertretung Jesu Christi. Ein Aspekt des GottMensch-Verhältnisses bei Dietrich Bonhoeffer, Münster 2006; Hans Peter Lichtenberger, Stellvertretung und Verantwortung bei Dietrich Bonhoeffer und Emmanuel Lévinas, in: J. Christine Janowski u. a. (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 287–312. Zur Geschichte des Motivs und Begriffs der Stellvertretung umfassend Stephan Schaede, Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, Tübingen 2004. 29 Der Gottesbegriff nach Auschwitz, in: Otfried

Hofius (Hg.), Reflexionen in finsterer Zeit. Zwei Vorträge, Tübingen 1984, 61–86. – Man lese in dieser Perspektive auch den 1945 geschriebenen Text von Zvi Kolitz, Jossel Rackower spricht zu Gott. Unter Mithilfe von David Kohn aus dem Jiddischen übersetzt von Anna Maria Jokl, neu gedruckt Frankfurt a. M./Neu-Isenburg 1985. 30 Vgl. KD II/1, §§ 28–31; zum Freiheitsbegriff in diesem Zusammenhang besonders pointiert § 28.3: Gottes Sein in der Freiheit (334–361). 31 KD III/3, § 49.2, 147,30. 32 Vgl. bes. KD II/1, § 30.2, 422–457, sowie dazu Frithard Scholz, Heil statt Verdammnis – der religiöse Code im Licht des Evangeliums. Zugleich eine Einladung zum Gespräch mit Karl Barth, in: Dirk Baecker u. a. (Hg.), Theorie als Passion (FS Niklas Luhmann), Frankfurt a.M 1987, 107–136;

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rungen zum Thema „Der Schöpfer und sein Geschöpf“ hat Barth an die älteren Lehren vom göttlichen Erhalten, Begleiten und Regieren angeknüpft, also an das Lehrstück vom sogenannten concursus divinus ,33 und dabei ausdrücklich vom Geschöpf als dem „Partner“ Gottes gesprochen.34 Der für die theologische Ethik entscheidende Aspekt dieser Bestimmungen liegt darin, dass im Zentrum dieser Gotteslehre das Bekenntnis und die Einsicht stehen, dass Gott sich der Menschen als gottloser Sünder angenommen hat, weil er ihr Heil und nicht ihre Verdammnis will, dass er sie zu einem Leben in Gemeinschaft mit sich selbst erwählt hat und sich selbst zum Bundesgenossen seiner Geschöpfe bestimmt hat, und dies alles derart, dass dabei nicht die geschöpfliche Freiheit geschmälert, sondern die Menschen zur lebendigen Antwort auf die Leben ermöglichende Gegenwart Gottes herausgefordert werden. Die Bestimmung der Menschen besteht darin, an diesem schöpferischen Geschehen in Akten verantwortlicher Selbstbestimmung teilzunehmen, es zu bezeugen, öffentlich zu bekennen und praktisch weiterzugeben, kurz: cooperatores Dei zu sein und immer wieder zu werden.35 Mit solchen und ähnlichen Formulierungen wird an geschichtlich entstandene Reflexionsformen des christlichen Glaubens angeknüpft, insbesondere an die spätscholastische und reformatorische Lehre von der cooperatio Dei et hominis , welche an hervorragender Stelle in Luthers Schrift über den versklavten Willen (de servo arbitrio ) begegnet.36

Wilfried Härle, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, ZThK Bh. 8 (1990), 50–69. 33 KD III/3, §§ 48–51, bes. § 49. Vgl. dazu die Interpretation von Michael Plathow, Das Problem des concursus divinus. Das Zusammenwirken von göttlichem Schöpferwirken und geschöpflichem Eigenwirken in Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik“, Göttingen 1976. 34 KD III/3, § 49.2, 167,37. Vgl. auch ebd., 165,40: „Gottes unbedingte und unwiderstehliche Herrschaft bedeutet nicht nur keine Bedrohung oder Unterdrückung, sondern vielmehr gerade die Begründung der Freiheit des geschöpflichen Wirkens in seiner Eigenart und Mannigfaltigkeit.“ Vgl. zu diesem Zusammenhang Wolf Krötke, Gott und Mensch als „Partner“. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik“, ZThK Bh. 6 (1986), 158–175. 35 In den Prolegomena der KD begegnet immer wieder die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung. In KD I/2, § 18.1, heißt es u. a.: „Got-

tes Freiheit konkurriert nicht mit der menschlichen Freiheit; aber wie sollte sie die Freiheit der dem Menschen zugewandten göttlichen Barmherzigkeit sein, wenn sie die menschliche Freiheit unterdrückte und auslöschte? Dass Gott seine Freiheit betätigt und bewährt gerade an dem freien Menschen, das ist die Gnade der Offenbarung.“ (400,39) Ob dies eine bloße Versicherung oder für Barths Freiheits- und Ethikverständnis konstitutiv ist, entscheidet sich an den Grundentscheidungen und den Konsequenzen seiner material-ethischen Argumentationen, insbesondere in der Ethik der Schöpfungslehre. Versteht man die dortigen Ausführungen zum Lebensschutz, sowohl im Blick auf den Schwangerschaftsabbruch (III/4, 473 ff) als auch im Blick auf die Fragen von Krieg und Frieden (515 ff), als adhortative Anleitung für den konkreten Freiheitsgebrauch, dann wird – bis in Barths Rhetorik hinein – deutlich, dass er jede autoritäre Fremdbestimmung der Menschen ablehnt. 36 Vgl. bes. die geradezu hymnische Stelle WA 18, 754, 1–16.

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I. 1. Wie der Mensch, bevor er geschaffen wird, Mensch zu sein, nichts tut oder versucht, wodurch er ein Geschöpf wird, sodann, nachdem er gemacht und geschaffen ist, nichts tut oder versucht, wodurch er ein Geschöpf bleibt, sondern beides allein durch den Willen der allmächtigen Kraft und Güte Gottes geschieht, die uns ohne uns schafft und erhält.

Sicut homo, antequam creatur, ut sit homo, nihil facit aut conatur, quo fiat creatura, Deinde factus et creatus Nihil facit aut conatur, quo perseveret creatura. Sed utrumque fit sola voluntate Omnipotentis virtutis et bonitatis Dei Nos sine nobis creantis et conservantis. 2. sed non operatur in nobis sine nobis, ut quos ad hoc creavit et servavit, ut in nobis operaretur et nos ei cooperaremur, sive hoc fiat extra regnum suum generali omnipotentia, sive intra regnum suum singulari virtute spiritus sui.

Aber nicht in uns ohne uns wirkt, weil er uns dazu geschaffen und erhalten hat, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken, sei es, dass dies außerhalb seines Reiches durch die allgemeine Allmacht geschehe oder innerhalb seines Reiches durch die besondere Kraft seines Geistes.

II. Sic deinceps dicimus: 1. So sagen wir weiter: Der Mensch, bevor er erneuert wird Homo antequam renovatur Zu einem neuen Geschöpf des Reiches des Geistes In novam creaturam regni spiritus, Tut nichts und versucht nichts, nihil facit, nihil conatur, wodurch er sich vorbereite quo paretur zu dieser Erneuerung und zu diesem Reich. ad eam renovationem et regnum. Wenn er dann neu geschaffen ist, Deinde recreatus, tut er nichts und versucht nichts, nihil facit, nihil conatur, wodurch er in diesem Reich bleibe, quo perseveret in eo regno, sondern beides tut allein der Geist in uns, sed utrumque facit solus spiritus in nobis, der uns ohne uns neu schafft nos sine nobis recreans und als Neugeschaffene bewahrt, et conservans recreatos, wie auch Jakobus sagt (1,18): ut et Iacobus dicit: „Freiwillig hat er uns durch das Wort seiner Kraft „voluntarie genuit nos verbo virtutis gezeugt, suae, damit wir der Anfang seiner Geschöpfe seien“ – ut essemus initium creaturae eius“ – er spricht von der erneuerten Kreatur. loquitur de renovata creatura. 2. Aber er wirkt nicht ohne uns, Sed non operatur sine nobis, weil er uns nämlich dazu ut quos in hoc ipsum neu geschaffen hat und erhält, recreavit et conservat, dass er in uns wirke ut operaretur in nobis und wir mit ihm zusammenwirken. et nos ei cooperaremur.

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Sic per nos praedicat, miseretur pauperibus, consolatur afflictos. Verum quid hinc libero arbitrio tribuitur? imo quid relinquitur nisi nihil? et vere nihil.

So predigt er durch uns, erbarmt sich der Armen (durch uns), und tröstet die Betrübten (durch uns). Wahrlich, was wird von da aus dem freien Willen zugeschrieben? Was wird ihm übrig gelassen als nichts? Und wirklich nichts.

Martin Luther, De servo arbitrio (1525), WA 18, 754, 1–16 Der Bund Gottes mit den Menschen sowie das darin von Gott ermöglichte Mitwirken (cooperatio ) sind nicht derart, dass das vorgängige Handeln Gottes zulasten der Freiheit des menschlichen Tuns gehen würde. Es ist kein Nullsummenspiel, bei dem Gott nur größer werden kann, wenn der Mensch klein gemacht und unten gehalten wird; vielmehr gilt, wie Hegel schön sagte, dass Gott nicht neidisch ist.37 Darum gehört zu diesem Gottesverständnis und Gottesbild die Überzeugung, dass Gott die Betätigung und Bewährung der geschöpflichen Freiheit der Menschen selbst will und bejaht, einschließlich der menschlichen Möglichkeit, sich gegen Gott zu entscheiden für ein selbstmächtiges Leben, ja, für die zahlreichen Möglichkeiten der Auflehnung gegen Gott bis hin zu seiner ausdrücklichen Negation, zur Bejahung und zum Anstreben des „Nichtigen“, wie der Zentralbegriff der Sündenlehre Karl Barths lautet.38 An dieser Stelle müssen diese Hinweise genügen, nicht allerdings ohne hinzufügen, dass die Gotteslehre in der Kirchlichen Dogmatik Barths ihr Zentrum wiederum in der Lehre von der Erwählung hat, die inhaltlich als Lehre von der freien Gnadenwahl bestimmt wird. Exakt dies ist der Ort, an dem in der Kirchlichen Dogmatik die Grundlegung und sachliche Integration der Ethik in die Dogmatik erfolgt.39

2.4 Systematische Theologie als Funktion der Kirche Dogmatik und Ethik als Teildisziplinen der Systematischen Theologie dienen der kritischen Rechenschaft des christlichen Glaubens in Kirchen, Ökumene und allgemeiner Öffentlichkeit. 37 In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion heißt es z. B.: „Wenn nun Gott nicht bloß in ein subjektives Wissen, in den Glauben gestellt wird, sondern es Ernst damit wird, daß er ist , daß er für uns ist, von seiner Seite ein Verhältnis zu uns hat, und wenn wir bei dieser bloß formellen Bestimmung stehenbleiben, so ist damit gesagt, daß er sich den Menschen mitteilt , womit eingeräumt wird, daß Gott nicht neidisch ist.“ (Theorie Werkausgabe 17, 383)

38 Zu Barths Sündenlehre siehe Wolf Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, NeukirchenVluyn 21983; Matthias D. Wüthrich, Gott und das Nichtige. Zur Rede vom Nichtigen ausgehend von Karl Barths KD § 50, Zürich 2006; vgl. auch meine knappe Skizze: Das Gebet des Zöllners. Voraussetzungen und Folgen praktischer Sündenerkenntnis bei Karl Barth, ZDTh 6, 1990/91, 161– 172. 39 Vgl. KD II/2, § 36.

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Dogmatik kann man, wie erwähnt, als eine theologische Disziplin verstehen, deren Gegenstand die „wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott“40 ist. Diese Grundbestimmung, die ich auf die theologische Ethik ausdehne, ist in gewissem Sinne trivial; sie ist auch von jedem Menschen zumindest ansatzweise nachvollziehbar, denn vorausgesetzt wird damit nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass in der Kirche von „Gott“ die Rede ist, dass es sich dabei um eine menschliche und öffentlich vernehmbare Rede handelt und dass Inhalt und Form dieser Rede einer Prüfung hinsichtlich ihrer Bedeutung und der von den jeweils Sprechenden beanspruchten Wahrheit zugänglich sind. Die Ethik konzentriert sich im Rahmen dieser Aufgabe auf die Frage nach dem möglichen und gebotenen Handeln und Verhalten von Menschen in einer Gesellschaft. Nichts ist damit schon über andere Zusammenhänge – etwa Religionsgemeinschaften oder religiöse Organisationen – gesagt, in welchen auch von Gott die Rede ist; nichts ist damit schon über die Wirklichkeit des Gegenstandes dieser Rede gesagt; ebenfalls nichts über mögliche Kriterien der Angemessenheit dieser Rede hinsichtlich ihres Gegenstandes. Die Ausgangsthese der Kirchlichen Dogmatik Barths nehme ich zunächst als eine pragmatische Ortsangabe. Denn jeder Mensch kann das Bestehen und Handeln einer Gemeinschaft von Menschen, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – „Kirche“ nennt, tatsächlich beobachten. Weiter sagt Barth auch: „Die Kirche bekennt sich zu Gott, indem sie von Gott redet.“41 Dies ist tatsächlich und nachweisbar immer und überall der Fall, wo sich Menschen als solche versammeln, kommunizieren und interagieren, die eine besondere Gemeinschaft bilden, die sich Kirche Jesu Christi nennt. Nun wissen wir, dass viele Menschen sich auf den Namen Gottes berufen und sich viele Gemeinschaften „Kirche“ nennen; der Streit um die Anerkennung von sich selbst als „Kirche“ ausgebenden Gruppen wie „Scientology“ ist dafür ein instruktives Beispiel.42 Unter der Zielsetzung einer „Selbstprüfung“ können Ethik und Dogmatik das Ergebnis einer derartigen Prüfung nicht vorwegnehmen, sondern müssen den kritisch-prüfenden Weg immer wieder problematisierend durchlaufen. Insofern sind sie im Felde der Bereichsethiken ebenso wie in Grundlagenfragen stets für neue Einsichten, Herausforderungen und Folgerungen offen und müssen, wie Karl Barth geradezu als methodischen Grundsatz eingeschärft hat, immer wieder „mit dem An40 KD I/1, 1 (Leitsatz § 1). 41 Hervorhebung WL. Die KD beginnt mit diesen Worten: „Dogmatik ist eine theologische Disziplin. Theologie ist eine Funktion der Kirche. Die Kirche bekennt sich zu Gott , indem sie von Gott redet. Das geschieht einmal durch ihre Existenz im Handeln jedes einzelnen Glaubenden. Und das geschieht zweitens durch ihr besonderes Handeln als Gemeinschaft [. . .]“ (ebd., §1.1, 1, 7) 42 Vgl. dazu Axel v. Campenhausen, Neue Religionen im Abendland. Staatskirchenrechtliche Probleme der Muslime, der Jugendsekten und

der sogenannten destruktiven religiösen Gruppen, ZevKR 25, 1980, 135–172; Peter Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz. Verfassungsfragen zu Existenz und Tätigkeit der neuen Jugendreligionen, München 1989; Wolfgang Bock, Scientology und Religionsfreiheit. Kritische Stimmen aus den USA, in: FEST-Jahresbericht 1997, 59–71; Gregor Thüsing, Ist Scientology eine Religionsgemeinschaft? Rechtsvergleichende Gedanken zu einer umstrittenen Frage, in: ZevKR 45, 2000, 592–621.

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fang anfangen“.43 Freilich muss man sofort hinzufügen, dass dieser „Anfang“ in der Sicht evangelischer Theologie wiederum nicht voraussetzungslos gegeben sein kann, andererseits auch nicht gleichsam auf einer Setzung, einem Nichts oder einer konstruktiven Erfindung von Menschen gebaut sein darf, sondern, jedenfalls im Verständnis von Juden und Christen, dadurch bestimmt und gewonnen wird, dass Menschen immer neu versuchen, das durch die Bibel bezeugte „Wort Gottes“ in seiner Fülle zu sich sprechen zu lassen und zu verstehen. Dies geschieht nicht immer, aber immer wieder doch in der Erwartung, es hier und jetzt nicht bloß mit Menschenworten, sondern mit dem Wort und dem Willen des lebendigen Gottes zu tun zu bekommen. Aber inwiefern das so ist, inwiefern dabei bestimmte Behauptungen zurückzuweisen und andere um so entschiedener zu vertreten sein mögen – und dies in geschichtlich sich ändernden, höchst lebendigen Auseinandersetzungen –, dies ist eine mit innerer Notwendigkeit am Anfang und auch am Ende immer wieder offen zu haltende oder neu zu öffnende Frage, die die Theologie bewegt und in gewisser Weise notwendig macht. Deshalb ist das methodische Verfahren von Dogmatik und Ethik niemals „dogmatistisch“ im Sinne einer bloß menschlichen Festsetzung, die eigenmächtig-willkürlich bestimmte Fragen und Fragehinsichten definitiv ausschließt44, sondern stets sachkritisch und selbstkritisch auf die biblisch bezeugten

43 Vgl. zum Motiv des neu Anfangens bei Barth Michael Jacob, . . . noch einmal mit dem Anfang beginnen . . . Antibarbarus zur Methodologie der Barth-Interpretation, EvTh 32, 1972, 606–624. 44 Etwa in dem Sinne, dass jede Rede von Gott von vornherein unter Unsinnigkeitsverdacht gestellt wird. Niklas Luhmann hat in soziologischer Perspektive demgegenüber ein Verständnis von Dogmatik vorgeschlagen (zunächst und vor allem im juristischen Zusammenhang, aber mit gelegentlichen Seitenblicken auch auf andere Dogmatiken) und deren eigentümliche Aufgabe als Begründung argumentationsstrategischer Negationsverbote charakterisiert, um dann nach der positiven Funktion der so bestimmten Dogmatik zu fragen. Diese besteht ihm zufolge darin, „dass durch die Art des Arrangierens von Negationsverboten die Flexibilität in der Ausbeutung von Texten und Erfahrungen auf das erforderliche Niveau gebracht wird.“ (Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, 15 f) Er kann auch sagen: „Der Sinn von Dogmatik liegt [. . .] nicht in einer Fixierung des ohnehin Feststehenden, sondern in der Ermöglichung kritischer Distanz, in der Organisation einer Schicht von Überlegungen, Gründen, Verhältnisabwägungen, mit denen der Rechtsstoff über seine unmittelbare Gegebenheit hinaus kontrolliert und verwendungsfähig aufbe-

reitet wird.“ (16) Es gehe dabei um die „Steigerung der Freiheiten im Umgang mit Erfahrungen und Texten. Dogmatische Begrifflichkeit ermöglicht eine Distanznahme auch und gerade dort, wo die Gesellschaft Gebundenheit erwartet.“ (ebd.) Was hier von der Rechtsdogmatik gesagt wird, sollte auch im Blick auf die theologische Dogmatik und Ethik in Betracht gezogen werden können, allerdings mit der entscheidenden Ergänzung, die dann auch zu einem ausdrücklichen Widerspruch nötigen kann, dass durch ein derartiges Verfahren Raum und Gelegenheit für eine neue, durch das Ereignis der Begegnung mit dem Wort Gottes bestimmte Bindung und Gebundenheit menschlichen Lebens geschaffen wird. – Karl Barths Dogmatik hat in der Tat wohl mehr traditionelle dogmatische Lehren kritisch revidiert als viele ihrer Vorgänger, aber nicht, um einer virtuosen Ungebundenheit und Experimentierfreudigkeit zu dienen, sondern um eine neue, wirklich befreiende Bindung oder Bindungsmöglichkeit für Menschen zu eröffnen. Vgl. dazu etwa die Aussagen zum Verhältnis von Freiheit und Gehorsam hinsichtlich der Autorität und der Freiheit in der Kirche in KD I/2, §§ 20 und 21. Barth spricht dabei u. a. vom „Gehorsam von Herzen“: „Gottes Autorität wird nur respektiert in der Sphäre der Freiheit“ (I/2, 741, 38).

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und in den Überlieferungen der Kirchen aktualisierten Weisen der Selbsterschließung Gottes bezogen. Dieser Offenheit und kritischen Haltung der Ethik wie der Dogmatik hinsichtlich der vielfältigen menschlichen Reden von Gott sollte auch das Verhältnis zu den anderen theologischen Disziplinen entsprechen. Hier soll nicht beiläufig eine bestimmte Auffassung von den Aufgaben und der systematischen Stellung der theologischen Disziplinen in ihrem Verhältnis untereinander und im Bezug auf nichttheologische Wissenschaften gegeben werden, also eine Art theologischer Enzyklopädie in Umrissen vorgelegt und erläutert werden. Doch vielleicht findet erstens die These Zustimmung, dass Dogmatik und Ethik sich den historischen Stoff hinsichtlich der menschlichen Rede von Gott in Geschichte und Gegenwart auf der ganzen Breite und in der ganzen historischen Tiefe von den Bibelwissenschaften und der historischen Theologie anzueignen haben.45 Freilich nicht nur von diesen, denn auch außerchristliche Zeugnisse, beipielsweise der paganen Philosophie oder der allgemeinen Religionsgeschichte, verdienen (exemplarisch) ebenso Aufmerksamkeit wie profangeschichtliche Quellen und Entwicklungen, ohne deren Kenntnis grundlegende theologische Einsichten und Entscheidungen gar nicht verständlich würden. Insbesondere haben die systematischen Disziplinen der Theologie die Aufgabe, die externen Kritiken an den religiösen Reden von Gott aufzunehmen und zu prüfen, also die Auseinandersetzung mit religionskritischen Positionen einschließlich der großen Herausforderungen des neuzeitlichen Atheismus zu führen.46 Umgekehrt haben Ethik und Dogmatik im innertheologischen Diskurs auch die Aufgabe, an die mehr historisch ausgerichteten Disziplinen die manchmal unbequeme Frage danach zu stellen, wie vor dem Forum des zeitgenössischen Wahrheitsbewusstseins die Frage nach dem systematisch darzustellenden Wahrheitsgehalt biblischer Überlieferungen und kirchengeschichtlicher Wege und Irrwege sachgemäß gestellt und beantwortet werden kann. Etwas zugespitzt möchte ich sagen, dass die systematischen Disziplinen der Theologie nicht allein, aber in besonderer Weise die Aufgabe haben, 45 In der zumindest exemplarischen Berücksichtigung der Ethikgeschichte im Blick auf die biblischen Anstöße, Perspektiven und Wirkungen unterscheidet sich natürlich die theologische Ethik von ihrer philosophischen Schwester, insbesondere von der analytischen Ethik, in der die orientierende Bedeutung der Geschichte zugunsten von Versuchen rein rationaler Begründungen stark zurücktritt. Aber die historisch-hermeneutische Dimension der Ethik wird man durch die Konzentration auf die (bloßen?) Argumente nicht hinter sich lassen können, denn jede (theoretische) Ethik ist ursprünglich einer bestimmten Lebenswelt verbunden; also muss man diese dann auch „rekonstruieren“; siehe Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 22007, 67–77.

46 Seit einigen Jahren ist häufig von einer Renaissance der Religionen die Rede und davon, dass die moderne säkulare Gesellschaft lediglich eine (vorübergehende?) europäische Fehlentwicklung sein möchte. Diese Diagnose wird oft im Blick auf die Vitalität sogenannter „fundamentalistischer“ Religionsgemeinschaften und das rapide Wachstum der charismatischen (u. a. pentekostalischen) Gruppen vor allem, aber nicht nur in der südlichen Hemisphäre vorgetragen. Eine breite Bestandsaufnahme zu diesen Problemen bietet Robert Wuthnow (Hg.), The Encyclopedia of Politics and Religion, 2 Bd., London 1998 (Washington DC 22007). Man sollte aber darüber die genuin theologische Aufgabe der Auseinandersetzung mit grundsätzlich religionskritischen Positionen nicht vernachlässigen.

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in der Mannigfaltigkeit theologischer Entwicklungen, Richtungen und Positionen konsequent danach zu fragen, was hier und jetzt, im kritischen Eingedenken der Überlieferungen und Hoffnungen der Gläubigen als der Kirche zuteil gewordene Einsicht und Wahrheit zu vertreten und öffentlich zu verantworten ist. Dabei wird (1) sowohl nach dem bleibend Wichtigen wie nach dem jetzt Dringlichen im Leben der Kirche(n) gefragt, werden (2) die regulativen Wahrheits- und Geltungsansprüche bestimmter Lehrmeinungen geprüft und gewichtet, wird (3) nach der Möglichkeit, bisweilen der Notwendigkeit einer klaren und bestimmten (kirchlichen) Position und eines entsprechenden Zeugnisses gefragt (Bekenntnis) und werden (4) in alledem ökumenisch konsensfähige Prinzipien gesucht.47 Zweitens beteiligen sich Dogmatik und Ethik je auf ihre Weise und im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Aufgabe, Kriterien und praktische Hilfen für das kirchlich-ökumenische Handeln in der Gegenwart zu finden und zu entwickeln. Hier ist die Nähe der systematischen Disziplinen zur Praktischen Theologie einerseits, zur Missionswissenschaft andererseits offenkundig. Vor allem dort, wo Kirchen der Einsicht folgen, dass Diakonie und Mission zu den nicht beiläufigen, sondern zu den unabdingbaren Grundvollzügen der Kirche gehören, sind die theologische Sozialethik einerseits, die theologische Ekklesiologie andererseits in besonderer Weise herausgefordert. Desgleichen haben Dogmatik wie Ethik zahlreiche Reflexionsaufgaben im Blick auf die zentralen Arbeitsgebiete der Praktischen Theologie; als Beispiel für die wichtige Funktion einer kritischen theologischen Ethik verweise ich nur auf die Problematik der Zuordnung von Religions- und Ethik-Unterricht an öffentlichen Schulen.

2.5 Das Verhältnis von Ethik und Dogmatik Eine allgemein anerkannte und verbindliche Zuordnung von Ethik und Dogmatik hat es in der Geschichte der Kirchen nie gegeben. Beide Disziplinen sind aufeinander angewiesen und ergänzen sich im Blick auf die Aufgaben der systematischen Rechenschaft über den christlichen Glauben und der entsprechenden Lebensführung. Dazu gehören die Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung der Lebenswirklichkeit angesichts umstrittener Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisse, zu deren Aufklärung die Systematische Theologie den Wahrheitsgehalt des christlichen Glaubens expliziert. Die Komplementarität von Dogmatik und Ethik beruht darauf, dass Glaubenserkenntnis und Glaubensgehorsam sich nicht trennen lassen. Die Arbeitsteilung, fachliche 47 Ich nehme mit diesen Formulierungen Überlegungen von Dietrich Ritschl auf: Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhän-

ge theologischer Grundgedanken, München 1984.

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Differenzierung und Integration beider Disziplinen ergeben sich aus unterschiedlichen internen und externen Anforderungen. Das spezielle Verhältnis von Dogmatik und Ethik, der traditionellen Teildisziplinen der Systematischen Theologie, wozu bisweilen noch explizit die „Symbolik“ und die Religionsphilosophie gehören, wird hinsichtlich der genannten theologischen Integrationsaufgaben mit Formeln von der Art: Glaube und Werke, Gnade und Freiheit, Evangelium und Gesetz, Gabe und Aufgabe, Zuspruch und Anspruch, Indikativ und Imperativ usw. nicht angemessen bestimmt. Sie drücken zwar sinnvolle theologische Unterscheidungen aus, aber im Blick auf das Verhältnis von Dogmatik und Ethik legen sie nur zu leicht die Meinung nahe, es gehe hier um irgend eine Art der Herleitung ethischer Einsichten oder gar Vorschriften aus dogmatischen Obersätzen. Damit würde aber verkannt, dass Glaubenserfahrungen und gegenwärtige ethische Herausforderungen ebenso Voraussetzungen der Dogmatik bilden. Beide Disziplinen gehören enger zusammen als dass sich ihre angemessene Zuordnung im Sinne eines einseitigen Begründungsverhältnisses bestimmen ließe. Denn wenn die Dogmatik nach der Wahrheit des christlichen Glaubens fragt, fragt sie gleichzeitig und davon untrennbar auch danach, inwiefern dieser Glaube die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit, ihren Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten angeht, herausfordert, verändert und bewegt. Wenn die Ethik nach dem Willen Gottes für die Menschen fragt, fragt sie gleichzeitig und untrennbar danach, welches die spezifischen Inhalte der Rede von Gott in der Kirche Jesu Christi sind. Die Erkenntnis Gottes in den vielen legitimen Gestalten eines denkenden Glaubens ist nicht folgenlos, sondern verändert die Existenz der Menschen, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihre Fähigkeit, im Lichte dieser Erkenntnis einzeln und/oder in Gemeinschaft mit Anderen zu handeln und handlungssteuernde Institutionen (Ordnungen) zu schaffen. Im Blick auf das Verhältnis von Dogmatik und Ethik48 ist es sinnvoll, mehrere Aspekte zu unterscheiden: (1) die Entwicklung dieses Verhältnisses in der Kirchenund Theologiegeschichte sowie in den unterschiedlichen Kirchen der Christenheit, (2) die sachlichen Zusammenhänge dogmatischer Themen mit ethischen Fragen und Aufgaben, (3) die unterschiedlichen Aufgaben und Gründe der fachlichen Differenzierung und die organisatorischen Konsequenzen. (1) Zum Verhältnis der beiden Teildisziplinen kann man immer wieder lesen, dass die Verselbständigung der Ethik innerhalb der theologischen Disziplinen und insbesondere gegenüber der Dogmatik erst während der Zeit der Reformation und in der 48 Siehe dazu Hans-Joachim Birkner, Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik, in: Anselm Hertz u. a. (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Freiburg i.Br. u. a. 1978, Bd. 1, 281–296; Heinz Eduard Tödt, Zum Verhältnis von Dogmatik und theologischer Ethik, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 12–20;

Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 36–40; Ulrich H.J. Körtner, Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, Freiburg i.Ue. u. a. 2001, 32–41; Dietrich Ritschl/Martin Hailer, Diesseits und jenseits der Worte. Grundkurs christliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 327–338.

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frühen Neuzeit aufgekommen sei. Verwiesen wird zur Erläuterung regelmäßig auf Philipp Melanchthons (1497–1560) Werke Philosophiae moralis epitome (11538)49 und Ethicae doctrinae elementa (1550)50, sodann auf die Epitome theologiae moralis des Georg Calixt (1586–1656).51 In der Tat hat Melanchthon in diesen Werken und in seinen Vorlesungen eine formal selbständige philosophische Ethik vorgelegt. Aber diese Selbständigkeit ist relativ und keineswegs eine besondere Neuerung. Denn seit der Wiederentdeckung und Übersetzung der aristotelischen Schriften in der Zeit der Hochscholastik hat es einerseits sowohl reichlich Kommentare zu Aristoteles, insbesondere zur Physik, Metaphysik, den Ethiken, vor allem der Nikomachischen Ethik (NE)52, und zu der Schrift über die Seele (De anima) gegeben, andererseits begegnen viele Formen der Rezeption und Integration der philosophischen Ethik, vor allem aristotelischer und stoischer Prägung, in einen Gesamtentwurf der Theologie – exemplarisch und wegweisend bei der Summa Theologiae des Thomas von Aquin.53 Melanchthon markiert hier allerdings eine besondere Wende zu einer erneuten Rehabilitierung des Aristoteles und damit zugleich zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie. Unter dem Eindruck von Luthers harschen Verdikten über Aristoteles waren in den frühen 1520er Jahren die scholastisch-aristotelischen Vorlesungen an der Universität Wittenberg allmählich eingestellt worden.54 Aber im Zuge der Studienneuordnung findet Aristoteles wieder seinen Platz.

49 CR 16, 21–164; auch in: Melanchthons Werke in Auswahl, hg. v. Robert Stupperich, Bd. 3 (hg. v. Richard Nürnberger), Gütersloh 21969, 151–301. 50 CR 16, 165–276. Vgl. dazu Heinz Scheible, Art. Melanchthon, TRE 22, 1992, 371–410 (374 f); ders., Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, 90–94. 51 Inge Mager, Georg Calixts theologische Ethik und ihre Nachwirkungen, Göttingen 1969; Johannes Wallmann, Art. Calixt, TRE 7, 1981, 552–559. Texte: Georg Calixt, Werke in Auswahl, hg. v. Inge Mager, Göttingen 1970–1982, Bd. 3: Ethische Schriften. Es gab auch schon vor Calixt im Protestantismus selbständige theologische Ethiken, so von dem Lutheraner Thomas Venatorius, De virtute christiana libri tres, Nürnberg 1529; von dem Calvinisten Lambert Danaeus, Ethices christianae libri tres, Genf 1577. Vgl. zu Danaeus Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, Berlin/New York 1996. 52 Knapper Überblick: Georg Wieland, The Reception and Interpretation of Aristotle’s Ethics ,

in: Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Hg.), The Cambridge History of Medieval Philosophy, Cambridge (1982, PB 1988), 2003, 657–672. 53 Deren zweiter Teil enthält eine breite Entfaltung der Ethik, deren einmalige Wirkungsgeschichte bis auf den heutigen Tag anhält. Zum Aquinaten: Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964. 54 In der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6, (381) 404–469; StA 2, (89) 96–167), hat Luther geklagt, dass an den Universitäten „wenig von der Heiligen Schrift und christlicher Glaube gelehrt wird und allein der blinde heidnische Meister Aristoteles regiert, auch weiter als Christus. Hier wäre nun mein Rat, dass die Bücher des Aristoteles über die Physik, die Metaphysik, de Anima und die Ethiken, die bisher für die besten gehalten wurden, ganz abgetan würden“ (457 bzw. 154, sprachlich modernisiert). Zum weiteren Zusammenhang siehe Thomas Dieter, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin/New York 2001.

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Melanchthon tritt erneut, vermutlich nicht gegen den Willen Luthers, mit Kommentaren zur aristotelischen Ethik und Politik, insbesondere zu den ersten drei und dem fünften Buch der NE, hervor. Seiner eigenen systematischen Darlegung zur Ethik gibt er im Druck den Kommentar zu Buch 5 der NE bei. Diese Entwicklung läuft auf die Anerkennung einer (theologisch begrenzten) Autonomie der philosophischen Ethik hinaus, wenn es programmatisch heißt, dass diese jenen Teil des göttlichen Gesetzes darstelle, der den äußeren Handlungen gilt.55 Melanchthon bringt hier zugleich einen spezifischen Aspekt der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz zur Geltung: Das Evangelium verkündet das Verheißungswort der Sündenvergebung, das Naturgesetz (lex naturae) ist allen Menschen ins Herz geschrieben und der Vernunft erschlossen.56 Der weitere Weg der thematischen und institutionellen Verselbständigung der theologischen Ethik gegenüber der Dogmatik ist, diesen Anfängen entsprechend, wesentlich durch die Entfaltung der frühneuzeitlichen Naturrechtslehren mitbestimmt.57 Die Gründe für diese zunehmende Verselbständigung der Ethik sind keineswegs bloß pragmatischer Art im Sinne einer zweckmäßigen Stoffaufteilung, sondern zunehmend, insbesondere seit der Zeit der Aufklärung, auch Ausdruck eines gewandelten Theologieverständnisses, sofern im Zeichen des Rationalismus theologische Lehren, die der menschlichen Vernunft als nicht fassbar erschienen (Trinität, Zwei Naturen Christi, Erbsünde), einer dogmenkritischen Revision unterlagen und gleichzeitig die allgemein-vernünftig erscheinenden sittlichen Lehren herausgestellt wurden. Kants Ethik bringt diesen Prozess zu einem vorläufigen Abschluss. Auch im Bereich der römisch-katholischen Theologie entwickelte sich schon früh eine relativ selbständige Ethik unter dem Titel der Moraltheologie.58 Dabei konnte an die Zuordnung von Glauben und Vernunft, göttlichem Gesetz, Naturrecht und Moral bei Thomas v. Aquin angeknüpft werden. Der Verselbständigung der Moraltheologie kamen besonders die für die Beichtpraxis hergestellten, oft kasuistisch nach Gewissensfragen gegliederten Handbücher entgegen.59 Von zentraler Bedeutung war und blieb indes die enge Verbindung mit dem Naturrecht, das in unlösbarer, differenzierter Beziehung zu dem biblisch offenbarten göttlichen (Rechts-)Willen steht. Für die Ethik sind nach römisch-katholischem Verständnis das Naturrecht und das Naturgesetz (lex naturalis, lex naturae) vor allem deshalb ganz unverzicht55 „Philosophia moralis est pars illa legis divinae, quae de externis actionibus praecipit.“ Philosophiae moralis epitome, Werke in Auswahl, a. a. O., 157. 56 „Manifestum est philosophiam moralem esse explicationem legis naturae.“ (ebd., 159) 57 Vgl. Isabelle Deflers, Lex und Ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons, Berlin 2005; Christoph Strohm, Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon, in: Günter Frank (Hg.), Der Theologe Melanchthon, Stuttgart 2000, 339–356.

58 Konrad Hilpert, Art. Moraltheologie, LThK3 7 (1998), 462–468; Johannes Reiter, Art. Moraltheologie, katholische, RGG4 5, 2002, 1495–1498, definiert: „Wissenschaft, die die Bedeutung des Glaubens für die richtige und gute Gestaltung des menschlichen Lebens reflektiert“ (1495). 59 Vgl. Johann Anton Theiner, Die Entwicklung der Moraltheologie zur eigenständigen Disziplin, Regensburg 1970.

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bar, weil für die Zwecke der normativen Ethik die Orientierung an der Bibel allein nicht ausreicht, sondern auch die sittlichen Einsichten und Erfahrungen der Menschen unabhängig von der Offenbarung angemessen berücksichtigt werden müssen.60 Unabhängig von der spezifisch konfessionellen Prägung einer theologischen Ethik zeigt sich damit, dass die Verselbständigung der Ethik gegenüber der Dogmatik immer auch mit der jeweiligen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie zusammenhängt. Eine bemerkenswerte Asymmetrie besteht darin, dass in theologischen Ethiken regelmäßig und grundsätzlich das Verhältnis zur Dogmatik besprochen wird, während die Bezüge zur Ethik in den meisten (evangelischen) Dogmatiken in aller Regel nur auf wenigen Seiten oder gar nur in einigen Zeilen erwähnt werden.61 Vermutlich hängt das schlicht mit der Tatsache zusammen, dass, jedenfalls in evangelischtheologischen Fakultäten, Lehrstühle und Institute für Ethik seltener und schmaler ausgestattet sind als solche für Dogmatik, während in katholischen Fakultäten das gesamte Feld der Ethik sehr viel breiter besetzt ist. Neben Lehrstühlen für Moraltheologie finden sich hier regelmäßig auch Professuren, die der kirchlichen Soziallehre im engeren Sinne und dem Austausch mit den vor allem sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen gewidmet sind. Dass die Dogmatik alle hier auftretenden Grundlagenprobleme und bereichsspezifischen Sachfragen angemessen mit behandeln könnte, ist nicht zu erkennen. (2) Die Entfaltung des sachlichen Zusammenhanges der dogmatischen Themen und Fragen mit denen der Ethik ist, wenn ich recht sehe, in der deutschsprachigen Theologie relativ schwach entwickelt, trotz vielfacher anders lautender Bekundungen. Lange Zeit stellte das Werk Karl Barths die eine, große Ausnahme dar. Jürgen Moltmann hat im Zusammenhang der Entfaltung seiner systematischen Theologie den ethischen Themen einen vergleichsweise großen Raum eingeräumt, und auch Ulrich Körtner ist darum bemüht, die sachlichen Verbindungslinien zwischen Ethik und Dogmatik zumindest exemplarisch zu bedenken. Ähnliches gilt für manche Beiträge feministischer Theologie. Dabei besteht das entscheidende Problem nicht darin, welchem der drei gelegentlich skizzierten Grundmodelle der Zuordnung man folgt (Ethik aufgrund, in oder statt Dogmatik62), sondern ob es gelingt, von den zentralen Themen der Dogmatik aus die Linien auszuziehen, die anzeigen, welche praktischen Implikationen der Glaube der Christen hat, und zwar nicht nur hinsichtlich grundsätzlicher Glaubenswahrheiten, sondern genau so im Blick auf konkrete Herausforderungen und Verantwortlichkeiten hier und jetzt. Zum Ausziehen derartiger Linien gehört dann selbstverständlich auch, möglichst sorgfältig anzugeben, wann, 60 Seit einigen Jahren ist eine regelrechte Renaissance des Naturrechtsdenkens nicht nur unter katholischen Moraltheologen, sondern dezidiert auch unter Philosophen und Juristen zu beobachten; vgl. die Sammelbände von Robert P. George (Hg.), Natural Law Theory. Contemporary Es-

says, Oxford 1992 (PB 1994); Edward B. MacLean (Hg.), Common Truths. New Perspectives on Natural Law, Wilmington, DE 2000. 61 So auch Birkner, a. a. O., 282. 62 Vgl. Birkner, a. a. O., 287 f.

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wo und warum aufgrund der Glaubensüberzeugungen von Christen gar keine, unterschiedliche oder eindeutige, sehr bestimmte Optionen in ethischen Kontroversfragen möglich und vielleicht notwendig werden. Was ergibt sich aus dem biblisch bezeugten Schöpfungsglauben für den Umgang der Menschen mit der Kernenergie? Hat das Bekenntnis des Glaubens, dass Jesus Christus Mensch geworden ist, Folgen für den Umgang mit Embryonen, Kranken und Behinderten? Hat die Hoffnung auf ein zukünftiges Gottesreich etwas zu tun mit der Suche nach heute möglichen oder dringlichen Gestaltungen der Wirtschaftsordnung eines Landes und weltweit unter den Bedingungen der Globalisierung? Man übertreibt wohl nicht, wenn man sagt, dass die Mehrheit derer, die heute im deutschsprachigen Raum evangelische Dogmatik lehren, gegenüber derartigen Brückenschlägen eher Zurückhaltung übt, während die Mehrheit der Ethiker sich in die Debatte dogmatischer Grundfragen eher gar nicht erst einmischt.63 Drei Modelle einer theologisch begründeten systematischen Zuordnung, fast könnte man sagen: einer organischen Verbindung von Ethik und Dogmatik möchte ich hervorheben. Sie operieren zwar ziemlich separat voneinander, geben aber jeweils einem starken Bedürfnis der Integration der theologischen Disziplinen Ausdruck: Das erste Modell bildet die konsequente Integration der Ethik in einen dogmatischen Gesamtentwurf, wie dies Karl Barth unternommen hat.64 Dabei hat er nicht nur das Konzept verfolgt, im Blick auf alle Themen der Dogmatik die Implikationen kirchlichen Redens von Gott in Christus und des kritisch geprüften Glaubens für die Lebensführung der Menschen exemplarisch zur Sprache zu bringen, sondern er hat überdies die der Kirchlichen Dogmatik vorbehaltene Darstellung der grundsätzlichen dogmatischen und ethischen Grundlagenfragen mit einer aktuellen Publizistik verbunden, die in brennenden Tagesfragen teils ermutigend, teils hilfreich, fast immer streitbar klar Position bezogen hat – „vorbehaltlich besserer Belehrung“, wie Barth öfter gesagt hat. Das zweite Modell begegnet gegenwärtig am deutlichsten in der Theologie von Stanley Hauerwas,65 der weniger von der Dogmatik als von einer 63 Verbindungslinien der großen Themen der Dogmatik zu Fragen der Ethik ziehen die Beiträge im ersten Teil (Dogmatics and Ethics) von Gilbert Meilaender/William Werpehowski (Hg.), The Oxford Handbook of Theological Ethics, Oxford 2005. Der gegenwartsbezogene Konkretisierungsgrad bleibt hier freilich schwach. 64 In den Prolegomena zur „Kirchlichen Dogmatik“ hat Barth im 4. Kapitel, das von der Verkündigung der Kirche handelt, explizit zum Verhältnis Dogmatik – Ethik Stellung genommen. Im Inhaltsverzeichnis liest man: „Dogmatik und Ethik“, im Text lautet die Überschrift „Dogmatik als Ethik“ (I/2, 875). Dabei geht es Barth im Kern immer wieder darum, der „reformatorischen Zusammenschau von Lehre und Leben, Glauben und Handeln“ gerecht zu werden (I/2, 880,8):

„Nur der Täter des Wortes ist sein wirklicher Hörer, und das darum, weil es das Wort des wirklichen Gottes an den wirklichen, d. h. an den im Wirken, in der Tat seines Lebens begriffenen Menschen ist. Hört man es nicht im Akt seiner Existenz, existiert man nicht als sein Hörer, dann hört man es gar nicht [. . .]“ (I/2, 886,19) Eine gegenüber der Dogmatik selbständige Darstellung der Ethik hält Barth dann für möglich, (1) wenn es sich dabei lediglich um eine technische Aufteilung handelt, und (2) wenn beide aufeinander sachlich bezogen bleiben. Einer nur in diesem Sinne „selbständigen“ Ethik möchte Barth lediglich den Charakter einer theologischen Hilfswissenschaft zuerkennen (I/2, 889,30). 65 Siehe Stanley Hauerwas/Samuel Wells (Hg.), The Blackwell Companion to Christian Ethics,

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gesamtbiblischen Orientierung in der Tradition der Historischen Friedenskirchen her eine von vornherein ekklesiologisch-ethisch orientierte Theologie vertritt.66 Das dritte Modell finde ich im Systementwurf Schleiermachers67 und dessen Rekonstruktion und Weiterführung, wie sie Eilert Herms entfaltet hat und für viele Felder auch der materialen Ethik fruchtbar zu machen versucht. Man kann über die Positionen, zu denen Herms dabei gelangt, natürlich streiten, aber es ist offensichtlich, dass dahinter ein ausgeprägter, einheitlicher Systemwille steht, dem eine klare Vorstellung von der Einheit der Theologie, ihrer Disziplinen und dies wiederum im Zusammenhang mit den Gestalten menschlichen Wissens und Handelns überhaupt zugrunde liegt. Alle drei Konzeptionen fügen Dogmatik und Ethik nicht additiv aneinander, sondern entfalten ihre „reziproken Implikationen“68 in einem übergreifenden Theologie-Konzept im Blick auf die Grundlagenfragen und die gegenwärtigen Probleme der materialen Ethik. Zu den Sachfragen, bei denen Ethik und Dogmatik aufeinander angewiesen sind, gehört, wie oben schon skizziert, zweifellos das Kirchenverständnis. Ob man die Gemeinschaft der Christen im Anschluss an Paulus als Teilnahme am Leben des „Leibes Christi“ versteht und die Zugehörigkeit zum Volk Gottes als verpflichtenden Grund eines qualifizierten Ethos wahrnimmt oder nicht, ist für Aufbau und Entfaltung einer theologischen Ethik eine zentrale Frage. Das Ethos einer derartigen Gemeinschaft lässt die einzelnen Mitglieder füreinander verantwortlich sein, verpflichtet sie zum Engagement in der Gesellschaft und macht es erforderlich, geeignete Instrumente und Wege zur gemeinsamen ethischen Urteilsbildung zu nutzen. (Ich komme in Teil III darauf zurück.) Eine weitere Brücke zwischen Dogmatik und Ethik bildet die theologische Anthropologie. Nicht nur die Klärung der unterschiedlichen Gottesbilder, sondern ebenso die der leitenden Menschenbilder gibt einer Ethik Profil, und dabei kommen beide, Ethik wie Dogmatik, gar nicht umhin, anthropologische Fragestellungen und Einsichten der Sozial- und Humanwissenschaften aufzunehmen. Insbesondere wird dabei immer wieder die Fundamentalfrage, ob ein Mensch aus eigenen Kräften sich die Gnade Gottes und das (wahre) Leben verdienen könne oder nicht, zum Scheidepunkt zwischen theologischer und philosophischer Anthropologie.69 Diese Frage wiederum lässt sich theologisch nicht Oxford u. a. 2004; ders., The Peaceable Kingdom, Notre Dame, IN 1983; deutsch v. Guy Marcel: Selig sind die Friedfertigen, Neukirchen-Vluyn 1995; sowie seine Gifford-Lectures, With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Natural Theology, Grand Rapids, MI 2001. 66 Eine in manchen Zügen vergleichbare Position vertritt Hans G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Münster 2005. 67 „Die christliche Sittenlehre ist auch Glaubenslehre. Denn das Sein in der christlichen Kirche, auf welches die christliche Sittenlehre immer zu-

rückgeht, ist durchaus eine Glaubenssache, und die Darstellung der christlichen Lebensregeln ist überall nichts, als die weitere Entwicklung dessen, was in dem ursprünglichen Glauben der Christen liegt.“ Schleiermacher, Die christliche Sitte, hg. v. L. Jonas, Berlin (1843) 21884, 12. Barth zitiert die Stelle zustimmend KD I/2, 878,49. 68 Diesen Ausdruck übernehme ich von Heinz Eduard Tödt, a. a. O., 15, der ihn im Blick auf das integrale Theologieverständnis Martin Luthers verwendet. 69 Siehe dazu bei Luther die theologischen Thesen der Heidelberger Disputation (1518; WA 1,

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ohne eine Entfaltung der Lehren von Person, Werk und Verkündigung Jesu Christi beantworten. (3) Fragt man nach den Gründen, weshalb die Zuordnung von Dogmatik und Ethik in der Theologie des 20. Jahrhunderts so vielfach umstritten war, so sehe ich vor allem folgende: Erstens ist nicht gut zu bestreiten, dass die Theologie vom Menschen, seinem Tun und Unterlassen, seinen Pflichten und Rechten, Tugenden und Strebenszielen nicht reden kann und darf, ohne die im Glauben bekannte Bezogenheit auf Gott als Schöpfer, Versöhner und Erlöser seiner Geschöpfe zu bedenken. Dieses umfassende Wirklichkeitsverständnis muss zwar nicht in der Erörterung jeder Frage der konkreten Bereichsethiken in gleicher Weise und jederzeit explizit gemacht werden, aber es lässt sich auch nicht systematisch ausblenden, sondern muss in möglichst transparenter Weise als Horizont möglicher Begründungen und Verweisungen dargestellt werden. Zweitens ist ebenso wenig zu bestreiten, dass die theologische Ethik und nicht weniger die Dogmatik schlicht darauf angewiesen sind, außerhalb der Theologie gewonnene Erfahrungen, Einsichten und Theorien aufzunehmen, zu sichten und dazu Stellung zu nehmen, gemäß dem guten, für die Ethik unaufgebbaren paulinischen Grundsatz „Prüft alles und behaltet das Schöne“ (1Thess 5,21). Wie diese nicht zuletzt ideologiekritische Prüfung wiederum im Lichte des Evangeliums dergestalt erfolgen kann, dass weder nicht-theologische Bezugswissenschaften bevormundet werden noch die Theologie von diesen abhängig wird, ist eine zentrale sachliche und methodische Frage für jede Theologie. Drittens gibt es einen entscheidenden theologischen Grund, den Unterschied von Dogmatik und Ethik zu betonen, nämlich die ungeheure Gefahr, der menschlichen Sittlichkeit und Moral eine soteriologische Wirksamkeit in dem Sinne zuzuschreiben, dass das Handeln und die Werke eines Menschen als für das Gottesverhältnis konstitutiv angesehen werden – das kann nur zu einer Moralisierung des Evangeliums führen. An dieser Stelle liegt im übrigen ein Hauptwiderspruch etlicher lutherischer Theologen70 gegen die von Karl Barth erneut eingeforderte und teilweise realisierte Einheit von Dogmatik und Ethik. Daraus kann man aber nicht die Konsequenz der Trennung, sondern nur die einer sorgfältig unterscheidenden Zuordnung ziehen. Viertens ist zu bedenken, dass die primären außertheologischen Bezugswissenschaften von Dogmatik und Ethik zum Teil sehr unterschiedlich sind. Ethiker sind offensichtlich im Bereich der materialen Ethik in ganz anderer Weise genötigt, mit Fachpersonen aus nicht-theologischen Disziplinen und Berufsfeldern zusammenzuarbeiten als Dogmatiker. Unabdingbar ist der enge Kontakt mit der philosophischen Ethik und der Jurisprudenz als benachbarten Normwissenschaften, unabdingbar auch die sorgfältige Berücksichtigung der institutionellen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen 353–374; StA 1, 186–218), bes. Thesen 13 und 16, sowie die Disputatio de homine (1536; zum Text siehe Gerhard Ebeling, Disputatio de homine, 1. Teil, Tübingen 1977), besonders These 27. 70 Als Beispiel verweise ich auf Gerhard Ebeling,

Zur Luther-Kritik Karl Barths (1986), in: ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens (Wort und Glaube IV), Tübingen 1995, 270–312 (303– 312).

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menschliches Handeln und Verhalten stehen, unabdingbar die Berücksichtigung empirischer Forschungen auf den verschiedensten Gebieten. Wer Ethik nicht nur im Blick auf Grundlagenfragen erörtert, sondern sich den unterschiedlichen Bereichsethiken zuwendet, kommt pragmatisch nicht umhin, die komplexen Sachfragen in ihrem fachwissenschaftlichen Zusammenhang zu betrachten. Dabei wird die Ethikerin oder der Ethiker gut daran tun, nicht auf fremdem Gebiet zu dilettieren, obgleich sich das nicht immer ganz vermeiden lässt, sondern so sorgfältig wie möglich von anderen zu lernen. Bei derartigen Aufgaben und Herausforderungen liegt nach meinen Erfahrungen der entscheidende Grund für eine unvermeidliche, relative Selbständigkeit der Ethik gegenüber der Dogmatik, welche es gleichwohl wünschenswert erscheinen lässt, „dass auch die ungeteilte Behandlung sich von Zeit zu Zeit wieder geltend mache.“71

3. Menschliche Freiheit in Glauben und Vernunft Im Streit um die rechte Bestimmung der Freiheit gewinnt die theologische Ethik ihr besonderes Profil, indem sie die Freiheit der Christuszugehörigkeit und damit der Christusnachfolge als den Grund und Ursprung der Betätigung des menschlichen Vermögens der Freiheit bekennt und bestimmt. Der Grund der menschlichen Freiheit liegt gemäß dem Bekenntnis des christlichen Glaubens in der Erwählung, Rechtfertigung und Heiligung der Menschen durch Gott. Dass ausgerechnet von der theologischen Ethik behauptet wird, eine Freiheitsethik zu sein, versteht sich ganz gewiss nicht von selbst.1 Viele, ja die meisten nicht-theologischen Ethiker werden diesen Anspruch wohl vehement bestreiten, wenn sie sich überhaupt auf eine Auseinandersetzung mit theologischen Ethiken einlassen und diese nicht von vornherein unter „Heteronomie“, „Theonomie“, „Metaphysik“ und „aufklärungsfeindlich“ abbuchen würden. In diesem Abschnitt versuche ich, ein Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen in Auseinandersetzung mit philosophischen und verwandten Positionen zu entwickeln. Neben den grundlegenden Abschnitten zum Freiheitsverständnis in den Briefen des Paulus2 kenne ich nur wenige 71 Schleiermacher, Kurze Darstellung, 2. Aufl., § 231. 1 Vgl. Trutz Rendtorff, Ethik, 2 Bd., Stuttgart/ Berlin/Köln 1980/81, 21990/91, jeweils Bd. 1; Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1983, 113–127; Martin Honecker, Einführung in die theologische Ethik, Berlin/New York 1990, 41–47; Dietz Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992, 410– 464. Langes Buch enthält im ersten Teil einen

Überblick über wichtige Positionen theologischer Ethik nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, der Schweiz, Dänemark, Schweden und den USA. 2 Siehe dazu Samuel Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, Göttingen 1989, sowie Ernst Käsemanns kleine „neutestamentliche Ketzerfibel“: Der Ruf der Freiheit, Tübingen 1968 (zur zitierten Charakterisierung 164).

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Texte, in denen so genau und eindringend das Verständnis der christlichen Freiheit bedacht wird wie in Martin Luthers Schrift von 1520 über eben dieses Thema: Von der Freiheit eines Christenmenschen (De libertate christiana). Dieser Text verdient, als Grundtext theologischer Ethik immer wieder neu gelesen und ausgelegt zu werden.

3.1 Umstrittene Freiheit Das Freiheitsverständnis ist sowohl im Blick auf philosophische Auffassungen und Gegensätze (Determinismus, Indeterminismus, Indifferentismus) wie auf theologische Grundunterscheidungen (liberum/servum arbitrium) äußerst kontrovers. Es ist ein sinnvolles, ja notwendiges Postulat der praktischen Vernunft, von einer näher zu bestimmenden Freiheit des Menschen als Grundlage seiner Verantwortlichkeit auszugehen. Mindestens drei Bestreitungsmöglichkeiten der These, theologische Ethik sei nur als Freiheitsethik möglich, liegen auf der Hand: Erstens das historische Argument, demzufolge im Zentrum christlich-kirchlicher Ethik Autorität und Gehorsam standen und stehen, aber nicht das Recht, frei zu sein von Vormundschaft, Fremdbestimmung und Unterdrückung und sich des eigenen Verstandes in kritischer Absicht frei zu bedienen. Jüdische und christliche Ethik werden danach von vielen als heteronome Gebotsethik verstanden und entsprechend überliefert, eingeschärft und befolgt. Zweitens begegnet das theologisch-anthropologische Argument, dass es mit der Freiheit des menschlichen Willens schlechterdings nichts sei. Die Möglichkeit freier Selbstbestimmung des Menschen (und seines Willens) ist ja nicht zuletzt innerbiblisch, vor allem in der paulinisch-augustinischen Tradition, anscheinend klar verneint worden. „Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.“ (Röm 7,15) Aufgrund der Macht der Erbsünde oder „Ursünde“, so eine alte theologisch-anthropologische Auffassung, sind Menschen gerade nicht Meister ihrer selbst und ihres Geschickes. Sie sind fundamental unfrei. Darum hat Luther im Anschluss an Augustin seine überaus wichtige Schrift Über den versklavten Willen (de servo arbitrio, 1525)3 gegen jedes Verständnis der menschlichen Freiheit gerichtet, welches nicht zuerst und zuletzt bei dem unerschütterlichen Willen und der unwiderstehlichen Macht Gottes seinen einzigen Ausgangspunkt nimmt. Dabei kommt er zu Behauptungen, die einem strengen, durchgehenden metaphysischen Determinismus bedenklich nahekommen.4 Drittens ist 3 WA 18, (551) 600–787; StA 3, (170) 177–356; Cl 3, 94–293; eine ältere deutsche Übersetzung von Bruno Jordahn in: Münchner Ausgabe, Ergänzungsreihe, Bd. 1, München 31962 (mit einer nach wie vor lesenswerten theologischen Einführung von Hans Joachim Iwand). 4 Und zwar besonders im Zusammenhang mit

der Frage nach den in der Zukunft liegenden Möglichkeiten, den futura contingentia. In Übereinstimmung mit scholastischen Auffassungen (vgl. Thomas v. Aquin, S.Th. I, q. 14, art. 13) schreibt Luther u. a.: omnia quae facimus, omnia quae fiunt, (et) si nobis videntur mutabiliter (et) contingenter fieri, revera tamen, fiunt necessario

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das christologische Argument zu nennen, wonach das Verhalten eines Christenmenschen entscheidend und allein durch den Ruf in die Nachfolge und das gehorsame Tun der Nachfolgenden bestimmt sei. Freiheit ist danach nichts anderes als die von Gott selbst verliehene Fähigkeit, Gott gehorsam zu sein. Vor allem Dietrich Bonhoeffer hat im 20. Jahrhundert die menschliche Existenz in der Nachfolge Christi als Vollzug „einfältigen Gehorsams“ ausgelegt und auf die zwei anstößigen Sätze zugespitzt: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.“5 Es ist vor allem über Jahrhunderte hinweg die Lehre Augustins und Luthers vom unfreien beziehungsweise versklavten Willen (servum arbitrium ) gewesen, die mit einem freiheitlichen Menschenbild unvereinbar zu sein scheint. Allerdings: Auch wo man Augustins Erbsündenlehre6 in ihrer starken Gestalt der Verbindung mit der These, dass der Mensch grundsätzlich und überhaupt nicht nicht sündigen könne (non posse non peccare ), hat man daraus doch nicht den Schluss gezogen, dass die Unfreiheit des Willens im Sinne einer durchgehenden und aussschließlichen Naturkausalität zu verstehen sei, sondern man hat selbstverständlich auf den Annahmen der Zurechnungs- und Entscheidungsfähigkeit und damit der personalen Verantwortlichkeit der Menschen bestanden, jedenfalls in den Angelegenheiten des normalen menschlichen Zusammenlebens in der politisch verfassten Gesellschaft. Und wie hätte man anders einen Menschen als Häretiker verurteilen können, der die Erbsündenlehre und die daraus folgenden Auffassungen vom unfreien Willen abgelehnt hat, wenn man ihm nicht gerade in diesen fundamentalen Fragen das Vermögen der Unterscheidung, Einsicht und Entscheidung zugebilligt hätte? Einige der theologischen und philosophischen Antinomien des unfreien/freien Willens lassen sich überwinden, wenn man die menschliche Freiheit nach ihren unterschiedlichen Bezügen und Weisen des Gebrauchs unterscheidet, also einen differenzierten, mehrfach konnotierten Freiheitsbegriff verwendet. Danach wäre (1) von der Wirklichkeit und dem Gebrauch menschlicher (geschöpflicher) Freiheit in Beziehung zu Gott zu sprechen, und in dieser Hinsicht lehren die meisten christlichen Kirchen, dass dem Menschen keine Freiheit eigentümlich sei, von sich aus, aufgrund eigenen Willens, eigener Kraft und eigener Leistung eine Gottesbeziehung herzustellen und so etwas wie „ewiges Heil“ zu erlangen. Danach gibt es keine Willensfreiheit, von sich aus die göttliche Gnade zu erlangen. Von dieser wesentlichen Unfreiheit in der Gottesbeziehung muss man dann (2) die Freiheit im gesellschaftlichen, politischen Leben unterscheiden, die notwendigerweise dann (auch kontrafaktisch)

(et) immutabiliter, si Dei voluntatem spectes. Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei. (Alles, was wir tun, alles was geschieht, auch wenn es uns veränderlich und so, dass es ganz anders sein könnte, zu geschehen scheint, geschieht dennoch wirklich mit Notwendigkeit und unveränderlich, wenn Du auf den Willen Gottes siehst. Der Wille

Gottes nämlich ist wirksam und kann nicht behindert werden, da er selbst die wesensmäßige Macht Gottes ist); WA 18, 615; StA 3, 191. 5 Nachfolge (DBW 4), München 1989, 52. 6 Siehe Tom Kleffmann, Die Erbsündenlehre im sprachtheologischen Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen 1994.

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postuliert werden muss, wenn man Menschen für Handlungen, Unterlassungen und Verhaltensweisen zur Verantwortung zu ziehen nicht umhin kommt.7 Diese Freiheit im zivilen Sinne kann man dann sinnvollerweise noch einmal unterscheiden als a) Willkürfreiheit , d. h. als die Freiheit, den Anfang einer Kausalitätskette neu und spontan zu setzen8, b) als Handlungsfreiheit , d. h. als die Freiheit, aufgrund einer eigenen Erwägung, die mögliches Handeln zunächst verzögert und dann eine Möglichkeit wählt, zu handeln, und c) als Freiheit der Selbstgesetzgebung (Autonomie), d. h. als diejenige freie Selbstbestimmung, aufgrund derer Menschen ihr Willkürvermögen aus Vernunft und Einsicht Grenzen und Regeln unterwerfen, an denen sie sich handelnd orientieren. Genau hier liegt auch die Grundbestimmung von „Recht“ bei Kant: Recht geht hervor aus freien Akten menschlicher Selbstbestimmung, sich selbst gesetzten Grundsätzen und Regeln aus Freiheit und Einsicht zu unterwerfen, und zwar solchen Grundsätzen und Regeln, von denen gezeigt werden kann, dass sie von allen anderen Betroffenen geteilt werden können, wenn diese ebenfalls das Universalisierungskriterium anerkennen. Offenkundig bestehen gleichwohl hinsichtlich des Freiheitsverständnisses tiefgreifende und kaum überwindbare Antinomien und Aporien, aber auch aufklärbare begriffliche Unklarkeiten. Wo bleibt die menschliche Freiheit im Sinne freier Selbstbestimmung, überlegten Wählens und begründeten Entscheidens angesichts von geschichtlichen Herausforderungen, Alternativen und Verantwortungsspielräumen, wenn die Lehre von Gott einen vollkommen „versklavten“, unfreien Willen des Menschen behauptet und die Lehre von Jesus Christus auf die Forderung „einfältigen Gehorsams“ hinausläuft? Widerlegen die Hinweise auf die theologische Tradition nicht die These, eine christlich-theologische Ethik könne nur als Freiheitsethik verstanden und entworfen werden? Jeder Antwortversuch setzt offenkundig eine Klärung und Unterscheidung der jeweils vorausgesetzten Verständnisse und Begriffe von Freiheit voraus.

3.2 Determinismus und Indeterminismus Ein uneingeschränkter Determinismus im Sinne einer unabänderlichen, vollständigen und durchgehenden (wenngleich vielleicht niemals empirisch beweisbaren) Verursachung und Bestim7 Vgl. dazu CA 18. 8 Genau dies müssen die (metaphysischen) Deterministen, wie sie im nächsten Unterabschnitt erwähnt sind, bestreiten. Sie müssen konsequent dagegen die These stellen, dass es sich bei spontanen („freien“) Handlungen einer (selbstbewussten) Person lediglich um objektiv determinierte, aber nicht selbstreflexiv eingeholte Zustandsänderungen des Organismus und vorzugsweise der

Hirnfunktionen handelt. Nicht „ich“ handle, sondern das Ensemble der Verhältnisse, die Menschen konventionell „ich“, „du“ und „wir“ nennen, verändert sich, und zwar nach Regeln, die Menschen mehr oder weniger erkennen können, aber auch der Vorgang „Erkennen“ ist lediglich eine Zustandsänderung der relevanten Zuschreibungs- und Messgrößen.

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mung aller innerweltlichen Sachverhalte würde die Möglichkeit jeder Willens- und Handlungsfreiheit ausschließen und damit die Zurechenbarkeit von Handlungen und Unterlassungen zum (freien) Wollen eines Menschen. Ein uneingeschränkter Indeterminismus würde hingegen die mannigfache Bedingtheit und ursächliche Bestimmtheit aller Sachverhalte nicht hinreichend berücksichtigen. Eine rein verstandesmäßige (logische) Auflösung des Widerstreites von Determinismus und Indeterminismus scheint unmöglich zu sein, denn einerseits ist die durchgängige Geltung des Prinzips der Kausalität für die Naturerkenntnis unaufgebbar, während andererseits eine „Kausalität aus Freiheit“ (Kant) denkmöglich und für das Zusammenleben der Menschen (zumindest als sinnvolles Postulat der Vernunft) unverzichtbar ist. In den aktuellen Debatten über die Willensfreiheit9 kann man nicht daran vorbeisehen, dass auf naturwissenschaftlicher und philosophischer Seite die Behauptung einer genuin menschlichen Freiheit vielfach bestritten wird. Etwas vereinfachend kann man drei weit verbreitete Positionen unterscheiden: – Strenger Determinismus: Alles, was geschieht, ist durch (zureichende) Gründe bestimmt. Nichts geschieht ohne Ursache. Auch alles menschliche Handeln und Verhalten ist in diesem Sinn durch Gründe (Ursachen), die in der Vergangenheit liegen, bestimmt. Die Annahme einer Willens- oder Wahlfreiheit ist eine Illusion. – Strenger Indeterminismus: Lebewesen haben die Möglichkeit und Fähigkeit, eine Ursachenkette aus eigenem Antrieb und Wollen (spontan) zu beginnen. Besonders Menschen (aber vielleicht und wenigstens ansatzweise auch Tiere) haben die Möglichkeit, mit Motiven und Gründen und nicht nur instinktgeleitet zwischen verschiedenen Handlungen zu wählen. Sie sind nicht nur durch die Vergangenheit und entsprechende Erfahrungen bestimmt, sondern können zwischen verschiedenen Wegen in die Zukunft aufgrund bestimmter (impliziter oder expliziter) Erwägungen überlegt entscheiden und entsprechend handeln. – Komplementarität oder Kompatibilität von Determinismus und Indeterminismus: Alle Lebewesen sind teils durch alles, was vor ihnen war und durch sie weitergegeben wird, bestimmt, teils verfügen sie über einen (begrenzten) Spielraum für nicht-determinierte Entscheidungen. Diesen Handlungsraum verantwortbarer (nicht-unmöglicher und zugleich nicht-vorherbestimmter, das heißt: kontingenter) Möglichkeiten kann man Geschichte nennen: Sie ist der Inbegriff von in Zeit und Raum nicht (vollständig) determinierten menschlichen Entscheidungen und entsprechenden Handlungen.

9 Einen sorgfältigen, zusammenfassenden Überblick bietet Geert Keil, Willensfreiheit, Berlin/ New York 2007.

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Besondere Aktualität hat die Kritik der menschlichen Freiheit als einer Illusion im Zusammenhang mit der neueren Hirnforschung gefunden.10 Die Bestreitung der Freiheit hat indes eine lange Geschichte unter dem Titel der These von einem durchgehenden Determinismus aller Naturerscheinungen. Unter Determinismus kann zwar durchaus Unterschiedliches verstanden werden, aber mit deterministischen Positionen ist in der Regel die Behauptung verbunden, dass alles, was ist und geschieht, von anderem, das zuvor bestand oder geschehen ist, in allen entscheidenden Hinsichten ursächlich bestimmt wird. Zu den älteren, mythischen Varianten des Determinismus kann man sowohl einen durchgehenden Schicksalsglauben, den Glauben an das maßgebliche Wirken anonymer Mächte, den Glauben an einen alle geschichtlichen Ereignisse und menschlichen Geschicke lenkenden Gott oder Ähnliches rechnen. Der Volksmund bringt es auf den Punkt: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Der philosophische Determinismus ist im allgemeinen durch die metaphysische Annahme bestimmt, dass allem innerweltlich Seienden eine zureichende bewirkende, erhaltende oder zerstörende Ursache zugrunde liegt. Allem, was geschieht, geht eine wirkende Ursache voraus. Alles, was sich bewegt, hat eine Bewegungsursache (omne quod movetur ab alio movetur ).11 Sofern der Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen nach Regeln (Gesetzen) verläuft und sofern Menschen diese Gesetze zutreffend erkennen und formulieren können, ist danach der künftige Zustand eines Systems, dessen wesentliche Bestandsmerkmale bekannt sind, exakt oder wenigstens hinreichend vorhersagbar. Ein derartiger Determinismus ist unvereinbar mit der Annahme von Wundern in dem Sinne, dass es unverursachte Ereignisse geben könnte, die den gesetzmäßigen Naturzusammenhang von Ursachen und Wirkungen durchbrechen können. Für Zufall und Wunder als nicht-determinierte Ereignisse ist hier anscheinend kein Platz. Es ist offensichtlich, dass dieser Determinismus oft die Theologie unterschiedlicher Spielarten provoziert hat, denn „das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“ (Goethe12). Diese Probleme, die Kant an entscheidender Stelle in der Kritik der reinen Vernunft aufgenommen und zu einer, wie ich finde, nach wie vor wegweisenden Lösung geführt hat, sind in jüngerer Zeit wieder in das Zentrum des auch öffentlichen Interesses im Zusammenhang mit molekularbiologischen Forschungen und insbe10 Vgl. Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2002; Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a. M. 2005; Dieter Sturma (Hg.), Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt a. M. 2006; Geert Keil, Willensfreiheit, Berlin/New York 2007, 154–191. Eine auch didaktisch vorzügliche Einführung gibt Klaus Mainzer, Gehirn, Computer, Komplexität, Berlin u. a. 1997. Aus theologisch-ethischer Sicht siehe Günther Rager/Adrian Holderegger (Hg.), Bewusst-

sein und Person. Neurobiologie, Philosophie und Theologie im Gespräch, Freiburg i.Ue. 2000; Eberhard Schockenhoff, Beruht die Willensfreiheit auf einer Illusion? Hirnforschung und Ethik im Dialog, Basel 2007. 11 Zu den mittelalterlichen Debatten vgl. James A. Weisheipl, The Interpretation of Aristotles’ Physics and the Science of Motion, in: Norman Kretzmann u. a. (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982 (PB 1988/2003), 521–536. 12 Faust I, v. 766.

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sondere der Neurowissenschaften getreten. Dabei begegnen drei Grundpositionen, die offenkundig in unterschiedlicher Weise auch eine Herausforderung an jedes theologische Freiheitsverständnis darstellen. Die Auffassungen von der wesentlichen Unfreiheit des menschlichen Willens können sehr unterschiedlich begründet und argumentativ entfaltet werden.13 Im Zusammenhang scholastischer Gotteslehren wurden gelegentlich Macht und Wille Gottes in dem Sinne als allverursachend ausgelegt, dass scheinbar kein Platz für menschliches Wollen aus eigenem Antrieb übrigblieb, während auf der anderen Seite durch sorgfältige Differenzierungen zwischen potentia absoluta/ordinata Dei versucht wurde, zwischen vorneuzeitlicher Naturforschung und theologischer Bezeugung der Freiheit des Schöpfers wie der Geschöpfe zu vermitteln.14 Auch die spekulativen theologischen Lehren über eine doppelte Prädestination und einen von Ewigkeit her unwiderstehlich geordneten Ausgang der Geschichte Gottes mit der Schöpfung im Sinne eines decretum aeternum und einer gemina praedestinatio , welche vor aller Zeit die einen unweigerlich zur Rettung, die anderen zu ewiger Verdammnis bestimmt haben, sind Ausdruck der Annahme eines durchgehenden De13 Aus der älteren Lit. vgl. die Texte in: Ulrich Pothast (Hg.), Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a. M. 1978 (21988). Wichtig sind vor allem die Beiträge aus analytischer Sicht und im Rückgang auf Kant; siehe beispielsweise Donald Davidson, Freedom to Act (1973), in: ders., Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 63– 81; Anthony Kenny, Action, Emotion, and Will (1963), Nachdr. Bristol 1994; ders., Free Will and Responsibility, London 1988; Peter van Inwagen, An Essay on Free Will, Oxford 1983; Gottfried Seebass, Wollen, Frankfurt a. M. 1993; ders., Art. Wille/Willensfreiheit, TRE 36, 2004, 55–73. Zu Kant siehe bes. Henry E. Allison, Idealism and Freedom. Essays on Kant’s Theoretical and Practical Philosophy, Cambridge 1996. Klassische Texte findet man erläutert bei Ilham Dilman, Free Will. A Historical and Philosophical Introduction, London/New York 1999. Die neuere philosophische Debatte kann man am besten anhand des umfangreichen Buches von Robert Kane (Hg.), The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002 (2005), verfolgen. Einen ganz gedrängten Überblick über die Debatten vermittelt Armin G. Wildfeuer, Freiheit, in: Marcus Düwel u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 352–360. Wichtige weitere Literatur: Ernst Tugendhat, Der Begriff der Willensfreiheit (1987), in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, 334– 351; Ulrich Steinvorth, Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 21994; Ted

Honderich, Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem, Stuttgart 1995; Andreas Graeser, Philosophie und Ethik, Düsseldorf 1999, bes. §§ 7, 10, 11, 16 und 17; Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München 2000; Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, Berlin 2001; Joseph Keim Campbell u. a. (Hg.) Freedom and Determinism, Cambridge, MA 2004; Jürgen Habermas, Freiheit und Determinismus (2004), in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, 155–186 (sowie die Beiträge zu diesem Thema in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 52, 2004). 14 Zur zentralen Bedeutung Wilhelms von Ockham in diesen Auseinandersetzungen vgl. Jan P. Beckmann, Allmacht, Freiheit und Vernunft. Zur Frage nach „rationalen Konstanten“ im Denken des späten Mittelalters, in: ders. u. a. (Hg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungen und Paradigmen, Hamburg 1987, 275–293; Volker Leppin, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sehr frühe philosophisch-theologische Ursprünge der Differenz von Naturkausalität und Freiheitskausalität in der arabischen Philosophie des 10.–12. Jh. zu finden sind, näherhin in den Positionen des (von Kant 1790 sog.) Occasionalismus; vgl. dazu Dominik Perler/Ulrich Rudolph, Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000.

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terminismus alles Seienden, worin immer dieser Determinismus seinen Ursprung haben mag oder worauf er zurückgeführt wird. Damit wären indes Freiheit und Verantwortlichkeit von Menschen in eins negiert mit der Folge, dass die Zurechenbarkeit von Handlungen zu einem „freien“ Willen und die Möglichkeit von Verantwortlichkeit und Schuld schlechthin bestritten werden müssen. Zu ganz ähnlichen für die Sittlichkeit und menschliches Selbstverständnis absurden Konsequenzen führt auch ein naturwissenschaftlicher Determinismus, wie er seit dem 17. Jahrhundert aufgekommen ist.15 Danach ist alles, was in der Welt geschieht, einschließlich menschlicher Handlungen, durch unabänderliche Naturgesetze bestimmt. Allenfalls gilt einschränkend, dass die menschliche Kenntnis dieser Gesetze unvollkommen ist. Der Laplace’sche Dämon – als Inbegriff prinzipiell möglicher, aber praktisch-rechnerisch stets unvollkommener Kausalitätskettendarstellungen – ist das Symbol dieser erkenntnistheoretischen, praktisch höchst umstrittenen Grenzbestimmung. Die lebensweltliche Annahme, wenigstens in Grenzen aus Freiheit handeln zu können, beruht nach Maßgabe des grundsätzlichen Determinismus auf einer Täuschung und mangelnder Einsicht in die kausale Verknüpfung aller Ereignisse. Freiheit wäre dann, um ein Wort Nietzsches abzuwandeln, diejenige Täuschung, ohne welche sich eine bestimmte Spezies kein sittlich verantwortliches Handeln lebender Wesen vorstellen kann. Neuere Spielarten deterministischer Anschauungen begegnen in bestimmten Aspekten psychoanalytischer Theorien, in Elementen der Marx’schen Geschichtsauffassung16 sowie neueren Positionen in der „soziobiologischen“ Ethik. Dass der Widerstreit von (Vernunft-)Freiheit und (Natur-)Kausalität rein logisch nicht aufgelöst werden kann, hat Kant in seiner Lehre von den Antinomien der reinen Vernunft zu zeigen versucht.17 Er hat unter Voraussetzung einer logisch nicht auflösbaren Antinomie am Postulat der gleichwohl sinnvoll zu denkenden Freiheit festgehalten, und zwar im Blick auf die Imperative der praktischen Vernunft, also hinsichtlich der realen Möglichkeit von Menschen, ihr Vermögen der Freiheit willentlich und aus freien Stücken zu betätigen. Es handelt sich dabei um (ihrerseits problematisierbare) Postulate der praktischen Vernunft, nicht um in derselben Weise sichere, intersubjektiv zwingend gewisse Einsichten mit demselben Erkenntnisund Geltungsanspruch wie Behauptungen der theoretischen Naturerkenntnis. Im Unterschied zu dieser handelt es sich bei Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch um eine besondere „Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen [. . .],

15 Vgl. als Übersichten R. Kuhlen u. a., Art. Determinismus/Indeterminismus, Hist. Wb. Philos. Bd. 2 (1972), 150–157; Klaus Mainzer, Art. Determinismus, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 22005, 167–169. 16 Pointiert gesagt: Wirtschaftsgeschichtlicher Determinismus und revolutionärer Voluntaris-

mus sind bei Marx und erst recht bei seinen Nachfolgern niemals widerspruchsfrei zusammengedacht worden; vgl. dazu Thomas Meyer, Der Zwiespalt in der Marx’schen Emanzipationstheorie. Studie zur Rolle des proletarischen Subjekts, Kronberg i.Ts. 1973. 17 KrV, B 448 ff, bes. 476 ff (AA 3, 281 ff; Hg. Weischedel II, 409 ff). (B = 2. Aufl.).

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die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“18 Es geht Kant an dieser entscheidenden Stelle innerhalb der „transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft um die Auflösung der dritten Antinomie zwischen den scheinbar einander ausschließenden Auffassungen von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit. In seiner „Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allgemeinen Naturnotwendigkeit“ unternimmt er den Nachweis der „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“19, inwiefern gesagt werden kann, dass „Vernunft nun Kausalität habe“.20 Diese besondere Art der Kausalität ergibt sich aus dem eigentümlichen Phänomen des „Sollens“, das in der Form möglicher Imperative der Vernunft auf völlig andere Weise begegnet als jede Verknüpfung von Ereignissen nach dem Schema einer Naturkausalität. Kant schreibt dazu: Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß. Nun muß die Handlung allerdings unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist; aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung. Es mögen noch so viele Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen, sondern nur ein noch lange nicht notwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen, dem dagegen das Sollen, das die Vernunft ausspricht, Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegen setzt. Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein: so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie so gar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn, ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.21

Ernst Tugendhat hat diese Position in eine sprachliche Form übersetzt, die dem alltäglichen Erleben und Erfahren näher steht. In einem Aufsatz über Willensfreiheit und Determinismus 22 zeigt er zunächst, dass die viel diskutierte Frage der (abstrakten) Willensfreiheit im Kern auf die Frage der Verantwortlichkeit des Menschen zielt, und zwar im Blick auf den Umgang von Menschen mit den Spielräumen der Handlungsfreiheit. Es ist anscheinend nicht sehr sinnvoll, abstrakt zu fragen, ob ein 18 KrV, B 575 (AA 3, 371, 18–19; Hg. Weischedel II, 498). 19 KrV, B 566–586 (AA 3, 366–377; Hg. Weischedel II, 492–506). Eine exzellente Interpretation dieser Abschnitte gibt Jochen Bojanowski, Kants Theorie der Freiheit, Berlin/New York 2006, 143–184. 20 B 575. 21 KrV, B 576; Hg. Weischedel II, 499 (Sperrun-

gen bei Kant, Kursivierung WL). 22 In: ders., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 57–73 (mit einem „Nachtrag 2006“, 74–84. Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf diesen Beitrag. Vgl. auch Tugendhats älteren Aufsatz: Der Begriff der Willensfreiheit (1987), in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, 334–351.

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Mensch zu einem früheren Zeitpunkt einen anderen Willen gehabt haben könnte als sie oder er ihn tatsächlich gehabt hat, sondern es geht um die Frage, „ob ich einem Wunsch nachgebe oder nicht“ (49), d. h. ob ich einem von mir – aus welchen Gründen immer – bejahten Wunsch in meinem Handeln folge oder nachgebe. Es geht im Sinne Harry Frankfurts23 um ein reflexives Wollen zweiter Stufe, um den Wunsch und Willen eines Menschen, seine willentlichen Handlungen in eine bestimmte Richtung oder auf ein bestimmtes Ziel, für das man sich bewusst entscheidet, lenken zu können. Tugendhat erinnert daran, dass schon Aristoteles (De anima III, 10) zwischen unseren sinnlichen und rationalen Wünschen unterschieden hat. Der entscheidende Punkt liegt dort, wo man zugeben muss, dass es zum Vermögen der menschlichen Freiheit gehört, das Streben zur Befriedigung der eigenen Wünsche in der Zeit aufzuhalten, zu „suspendieren“, d. h. zu überlegen, ob das, was ich demnächst tun könnte, auch wirklich tun will. Womöglich lassen sich, in einer gewissen Analogie zu Lawrence Kohlberg’s Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils, „Stufen“ dieser innehaltenden Abstandnahme unterscheiden, aber darauf kommt es hier nicht an. Wichtig ist an dem menschlichen Vermögen des Abwägens und Überlegens, dass man sich – prospektiv oder retrospektiv – dessen inne wird, dass und inwiefern es an einem selbst lag, wie sich beeinflussbare Ereignisse entwickelt haben. „In diesem ‚es lag an dir‘ ist impliziert, dass der normale Kausalfluß von Motiven zu Handlungen unterbrochen ist und an seine Stelle ich trete: ich habe das und das getan oder nicht getan, und auf diese Frage ‚warum ist das geschehen?‘ macht man mich verantwortlich statt der motivationalen Bedingungen.“ (65) Die abstrakte Frage der Willensfreiheit wird so zu einer bestimmten Frage nach der Handlungsfreiheit einer konkreten Person unter konkreten Umständen und damit zugleich zur Frage, was für ein Mensch ich bin oder sein möchte oder sein sollte. Im Blick auf die neuere Hirnforschung führt diese oder eine ähnliche Argumentation zu der Einsicht, dass einerseits die durchgehend kausale Verursachung und Wirkung von (biochemisch beschreibbaren und messbaren) Gehirnfunktionen anzuerkennen ist, dass aber diese Beschreibungsmodelle nicht (reduktionistisch) mit Selbst- und Freiheitsbewusstsein denkender, wählender und entscheidender und darin verantwortungsfähiger Menschen gleichgesetzt werden dürfen.24 Damit ist keineswegs bestritten, sondern vielmehr erst recht unterstrichen, dass die freie, willentliche und verantwortliche Betätigung der menschlichen Freiheit in der Praxis mannigfachen Einschränkungen unterliegt. Niemand wird sinnvoll bestreiten können, 23 Freedom of the Will and the Concept of a Person (1971), deutsch: Willensfreiheit und der Begriff der Person, jetzt in: Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, hg. v. Monika Betzler/Barbara Guckes, Berlin 2001, 65–83. 24 Dieser Reduktionismus ist leicht zu erkennen bei einem der führenden Hirnforscher in Deutschland, Wolf Singer. Vgl. seinen Art.: Keiner kann anders, als er ist. Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu re-

den, FAZ v. 8.1.2004, 33, auch in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a. M. 2004, 30–65. Aus der neueren Diskussion vgl. auch Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und umstrittene Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2004; Christof Gestrich/ Thomas Wabel (Hg.), Freier oder unfreier Wille? Handlungsfreiheit und Schuldfähigkeit im Dialog der Wissenschaften, BThZ Beiheft 2005.

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dass ein Mensch durch situative Einflüsse, familiäre, besonders auch religiöse Prägungen, durch pathogene Faktoren oder durch verzerrte Wahrnehmungen des Selbst, der Anderen und der Welt in seinem Freiheitsgebrauch eingeschränkt sein kann – bis hin zur sogenannten Willensschwäche (Akrasia) und Willenlosigkeit. Wenn wir also realistischerweise von der menschlichen Freiheit sprechen, dann nicht in einem absoluten, von den jeweiligen Umständen absehenden Sinn, sondern jeweils in einem relativen, besser: relationalen Sinn. Mehr noch: Zur menschlichen Handlungsfreiheit, so wie sie Tugendhat in der kleinen, entscheidenden Formel „es lag an dir“ getroffen hat, gehört konstitutiv, dass die damit angesprochene konkrete Person nicht einfach sich selbst setzt, sondern ihrerseits eine Identität und damit einhergehend eine Fähigkeit zum Innehalten, Überlegen und Entscheiden entwickelt, die nicht aus solipsistischen Akten der Selbst-Wahl hervorgeht. Wenn ich an dieser Stelle auf Martin Luthers Freiheitstraktat vorblicke (unten Abschnitt 4), dann gehören zum reflexiven Handlungswillen einer Person auch diejenigen Widerfahrnisse, die einen Menschen von außen her treffen, von seiner Vergangenheit und seiner Verstrickung in die eigenen Geschichten befreien und damit in eine neue Freiheit versetzen, und zwar in der Beziehung zu einem Gott, der geschöpfliche und schöpferische Freiheit ermöglicht und wiederum in Anspruch nimmt.25 Klassisches Beispiel für die Vereinbarkeit von Determination und reflexivem Wollen ist im übrigen in der sozialen Praxis die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit eines Menschen, der etwas getan hat, wofür sie oder er sich „verantworten“ soll.26 Betrunkenheit zur Tatzeit, schwere Affekte, lebensgeschichtlich bedingte Traumata und dergleichen schränken bekanntlich die Haftbarkeit eines Menschen für Taten und ihre Folgewirkungen erheblich ein, bis zum Grenzfall der Feststellung einer Nicht-Zurechnungsfähigkeit. M.a.W.: Das sittliche Postulat der Freiheit ist nur sinnvoll, wenn etwas über den Zusammenhang, über den Handlungs-, Wahl- und Freiheitsspielraum , in welchem ein Mensch lebt und handelt, ausgemacht werden kann. 25 Tugendhat selbst hat in einem Beitrag Über Religion (ebenfalls in: Anthropologie statt Metaphysik, 191–204) die Frage, ob personale Verantwortlichkeit letztlich eine Gottesbeziehung voraussetzt, offen gelassen und die Möglichkeit unterstrichen, „ernsthaft leben zu können ohne jeden Bezug auf Höheres“ (204). 26 Darf man Menschen bestrafen, wenn die Handlungs- und Willensfreiheit eine pure Illusion ist? In den letzten Jahren gab es geradezu einen „boom“ juristischer Stellungnahmen hierzu; eine kleine Auswahl: Kurt Guß, Willensfreiheit oder: Beruht das deutsche Strafrecht auf einer Illusion?, Borgentreich 2002; Anja Schiemann, Kann es einen freien Willen geben? Risiken und Nebenwirkungen der Hinrnforschung für das deutsche Strafrecht, NJW 29/2004, 2056–2059; Günther Jakobs, Individuum und Person. Straf-

rechtliche Zurechnung und die Ergebnisse der modernen Hirnfoschung, ZStW 117, 2005, 247– 266; Martin Hochhuth, Die Bedeutung der neuen Willensfreiheitsdebatte für das Recht, JZ 60, 2005, 745–753; Thomas Hillenkamp, Strafrecht ohne Willensfreiheit? Eine Antwort auf die Hirnforschung, JZ 60, 2005, 313–320; Frank Czerner, Der strafrechtlich-normative Schuldbegriff zwischen Willensfreiheit und neurobiologischem Determinismus, Archiv für Kriminologie 218, 2006, 65–88; Dieter Dölling, Zur Willensfreiheit aus strafrechtlicher Sicht, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1/2007, 59–62; Henning Sass, Willensfreiheit, Schuldfähigkeit und Neurowissenschaften, ebd. 4/2007, 237–240; Harald Dressing u. a., Welche Bedeutung hat die neurobiologische Forschung für die forensische Psychiatrie?, ebd. 4/ 2007, 241–248.

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Es ist möglich, ja notwendig, zwischen dem Wollen und dem Sollen eines Menschen prinzipiell zu unterscheiden. Deshalb auch differenzieren wir im Alltagsleben, und deshalb gibt es bekanntlich unterschiedliche Bestimmungen im Strafrecht für Jugendliche und Erwachsene.27 Schließlich steht die auf diese Weise relational verstandene Freiheit in einem besonderen Verhältnis zum Selbstbild und Selbstbewusstsein eines Menschen. Bekanntlich ist die Skrupulosität unter den Menschen, also die Fähigkeit, sich selbst peinlich prüfen zu können, unterschiedlich verbreitet – mancher hat die berühmte Haut von Leder, mancher ist besonders in Fragen der Sittlichkeit sprichwörtlich dünnhäutig. Das hat in der Regel mit biographisch einschneidenden Erfahrungen zu tun, aber nicht immer. Entscheidend ist im jetzigen Zusammenhang nur der Umstand, dass verschiedene Menschen sich eine den äußeren Umständen nach ziemlich gleiche Tat in ganz unterschiedlicher Weise selbst zurechnen : wo der eine für sich selbst schuldhaftes Versagen meint feststellen zu müssen, zieht ein anderer fröhlich seines Weges, weil er gewiss ist, sich nichts vorwerfen zu müssen. Freiheit im Sinne der rechenschaftsfähigen Inanspruchnahme eines zurechenbaren Freiheitsspielraumes ist mithin auch relational zum stets individuellen Gewissen eines Menschen und seiner Geschichte. Ein Gewissen ist ja auch nicht einfach fertig da, sondern bildet sich und wird gebildet in vielschichtigen Erfahrungs- und Selbsterfahrungsprozessen mit der Welt, mit anderen Menschen und mit Gott. Gegenüber einem theologischen oder metaphysischen Determinismus ist deshalb daran festzuhalten, dass es sinnvoll und notwendig ist, vom Vermögen der menschlichen Freiheit als dem Boden aller Sittlichkeit zu sprechen, nunmehr allerdings dahingehend präzisiert, dass es sich bei der Rede von der menschlichen Freiheit um eine relationale Freiheit handelt, hinsichtlich derer sorgfältig zwischen Handlungsspielräumen und darauf bezogenen Zurechenbarkeiten und Verantwortlichkeiten unterschieden werden muss.

3.3 Freiheit als Indifferenz Die Haltung der Freiheit als Indifferenz (libertas indifferentiae) entspricht einer distanzierten Beobachterhaltung und ist Ausdruck einer Selbsterhaltung ohne Selbstfestlegung. Es geht ihr um Erhaltung der Identität in einer prinzipiell unbeherrschbaren und kaum steuerbaren Welt und die Einnahme einer darauf zugeschnittenen (skeptischen) Weltsicht. Die libertas christiana zeichnet sich demgegenüber durch die Bereitschaft zu Selbstfestlegungen, Selbstbegrenzung und Solidarität aus. 27 Siehe hierzu auch Wolfgang Lienemann, Gewaltlosigkeit als Ziel für die moderne Gesellschaft? Rechtsethische Perpektiven, besonders im

Blick auf den Umgang mit der Gewalt bei Jugendlichen, in: ZJJ (Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe) 16, 2005, 253–260.

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Eine gegenüber dem metaphysischen Determinismus womöglich noch radikalere Infragestellung herkömmlicher Auffassungen der menschlichen Freiheit besteht im Verständnis der Freiheit als Indifferenz. Die libertas indifferentiae begegnet in der Antike beispielhaft in der Tradition der radikalen Skepsis. Sie drückt sich vor allem in der Enthaltsamkeit gegenüber Entscheidungen, Selbstfestlegungen und bestimmten eingreifenden Handlungen aus. Ihr Ideal ist die buchstäblich stoische Unerschütterlichkeit, die ataraxia. In der Gegenwart ist Niklas Luhmann der vielleicht prononcierteste Vertreter dieser Position und vor diesem Hintergrund auch ein treffsicherer, ironischer Kritiker aller moralisch motivierten Gesellschaftstheorie und -kritik.28 „Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern“, diese Behauptung, sofern daraus die Konsequenz einer Unmöglichkeit von Verantwortungsübernahme gezogen würde,29 könnte das Pathos der libertas indifferentiae ausdrücken.30 Die analytisch-diagnostische Einsicht in mögliche Alternativen verbindet sich mit einer skeptischen Zuschauerperspektive und einer praktischen Urteilsenthaltung. „Leben im Konjunktiv“ heißt dasselbe Syndrom hinsichtlich der einen Hauptfigur, Ulrich, in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. „Leben im Konjunktiv“ meint, mit dem Bewusstsein und in einer Haltung zu existieren, dass fast alles auch ganz anders sein könnte, dass ich mich so oder auch anders entscheiden könnte und dass für das eine wie das andere sich immer Gründe finden, je nachdem auf welche Gesichtspunkte sich diese beziehen lassen, und dass es im Ergebnis nicht entscheidend darauf ankommt, was jemand tatsächlich tut. Diese Perspektive der „Freiheit als Indifferenz“ ist von zentraler Bedeutung für die theoretische Grundeinstellung der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Alle Bestände, Strukturen, Entscheidungen und nicht zuletzt das Verständnis von Individualität werden bei ihm daraufhin betrachtet, welche Funktion etwas für etwas hat oder haben könnte und wodurch eine Funktion gegebenenfalls äquivalent ersetzt oder abgetauscht werden kann.31 Die offenen Möglichkeiten der Zukunft, die futura contingentia , sind gleichsam aus dem Wissen und Willen Gottes ausgewandert und bezeichnen nunmehr die gesellschaftsabhängige Nicht-Notwendigkeit aller Dinge auf Erden – letztlich bis hin zur Hypothese oder zum Postulat einer sittlichen Zurechnungsfähigkeit des Menschen, sofern auch diese so betrachtet werden kann, als sei es bloß eine nützliche Fiktion oder Konstruktion im Denken und Verhalten von bestimmten einschlägig geschulten Menschen, um das System der Rechtsprechung mittels einer zweckmäßigen, aber für den Beobachter leicht durchschaubaren hypothetischen Annahme aufrechtzuerhalten.

28 Vgl. bes. seine Hegel-Preis-Rede 1989: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, zusammen mit der Laudatio von Robert Spaemann im Büchlein gleichen Titels, Frankfurt a. M. 1990. 29 Was Luhmann selbst nie getan hat, aber m.E. auf bedenkliche Weise nahegelegt hat.

30 So Luhmann in: Komplexität und Demokratie (1969), in: ders., Politische Planung, Opladen 1971, 35–45 (44). 31 Zur Kritik daran Frithard Scholz, Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt a. M. 1982.

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Die Bestimmung der Freiheit als Indifferenz dürfte einer spezifisch neuzeitlichen Erfahrung entsprungen sein, dass nämlich die oder der Einzelne mit individuellen Entscheidungen auf überindividuelle Strukturen und Prozesse vermeintlich oder tatsächlich wenig Einfluss zu nehmen vermögen. Angesichts einer tatsächlichen oder vermeintlichen Überforderung durch die Komplexität aller möglichen problematischen Sachverhalte ist der Rückzug auf die individuelle Urteils- und Entscheidungsenthaltung durchaus verständlich. Natürlich wird man im Nahbereich – in der Familie und unter Freunden – mit dieser Haltung in der Regel nicht leben können, aber zahlreiche neuere soziologische Untersuchungen beispielsweise zu Einstellungen, Haltungen und Erwartungen von Jugendlichen kommen zu dem Befund einer ziemlich scharfen Trennung zwischen der individuellen Nahwelt und den vermeintlich „abstrakteren“ Strukturen und Institutionen der sozialen „Systeme“. Ähnliche Einstellungen unter Erwachsenen können nicht überraschen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck von Globalisierungsprozessen hat vielfach die Erfahrung zugenommen, externen Entwicklungen hilflos ausgesetzt zu sein und das eigene Leben nicht mehr aus eigener Kraft verantwortlich gestalten zu können. Derartige Erfahrungen sind vermutlich für einen demokratischen Rechtsstaat und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu aktiver politischer Teilnahme auf die Dauer ruinös.32

3.4 Freiheit als Selbstbindung und Selbstgesetzgebung Freiheit als Selbstbindung bedeutet die freie Verantwortungsübernahme für andere Menschen. Das Gegenbild zur „Freiheit als Indifferenz“ ist die Freiheit, in der ein Mensch eine Herausforderung oder eine Aufgabe oder eine sie oder ihn in besonderer Weise betreffende Verantwortlichkeit wahrzunehmen vermag. Es geht dabei um die Freiheit, sich bei etwas behaften zu lassen, sich – aus relationaler Freiheit – festzulegen oder festlegen zu lassen und die Folgen dieser Festlegung zu bejahen, vielleicht sogar, wenn diese Folgen zum Zeitpunkt einer Entscheidung aus Freiheit nicht voll überschaubar und schon gar nicht beherrschbar sind. Derartige Selbstfestlegungen aus relationaler Freiheit betreffen sehr oft die Berufs- und vor allem die Partnerwahl von Menschen.33 Selbstbindungen können scheitern, wie beispielsweise die Selbstfestlegung auf eine Partnerin oder einen Partner in der Ehe, aber das ändert nichts an der fundamentalen Tatsache, dass es eine sinnvolle menschliche Annahme und Behauptung ist, dass es diese Freiheit wirklich gibt.34 Es ist die Freiheit, anderen ge32 Vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie (1998), in: ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt a. M. 1999, 103– 126. 33 Insofern ist das alteuropäisch-christliche Eheverständnis mit seiner Begründung auf der unvertretbaren Freiheit der Brautleute (consensus fa-

cit nuptias !) ein Ursprung von Individualisierung und personaler Verantwortlichkeit. 34 Diese These wird nicht dadurch widerlegt, dass man zeigen kann, welche determinierenden Faktoren bei der „freien“ Partnerwahl mitwirken (historische, kulturelle, neuerdings gern betont: genetische „Ursachen“), sondern dies zeigt ledig-

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genüber bindende Versprechungen zu machen – ausdrücklich oder mittelbar. Sie schließt die Bereitschaft und Fähigkeit ein, an Stelle anderer in deren Sinn zu handeln. Die Bereitschaft von Eltern zur Fürsorge für ihre Kinder entspringt genauso dieser Freiheit zur Selbstbindung wie das Ethos von Ärztinnen und Ärzten, Seelsorgerinnen und Seelsorgern, kurz aller Menschen, die bereit sind, für andere stellvertretend einzutreten und sich dabei behaften zu lassen. Unverwechselbar kommt dieses Gegenbild zur Indifferenz auch dort zum Ausdruck, wo ein Mensch sich aus völlig freien Stücken auf eine ganz bestimmte lebenslange Praxis festlegt – durch Ablegung der Ordensgelübde nach Absolvierung eines Noviziats und sorgfältigster Prüfung der Reinheit der Motive und der Klarheit des Willens. Die schärfste Antithese zur Freiheit als Indifferenz ist in dieser Perspektive die Freiheit, dem Ruf Jesu Christi in die Nachfolge zu entsprechen.

4. Von der Freiheit eines Christenmenschen Lässt sich in dieser schwierigen Problemkonstellation unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Freiheitsauffassungen ein Freiheitsverständnis entwickeln und vertreten, welches a) die unverzichtbaren Elemente der theologischen Einsichten in die Unfreiheit des menschlichen Willens zu bewahren vermag, b) von den Behauptungen des (metaphysischen) Determinismus unabhängig vertreten werden kann und c) das Vermögen der menschlichen Freiheit im Gegenüber zu Gott (als Schöpfer, Versöhner und Erlöser seiner Geschöpfe) so zu entfalten vermag, dass daraus der Ansatz einer sozialen, kommunikativen Freiheit zwanglos sich ergibt?

4.1 Zum Verständnis der christlichen Freiheit Ein Christenmensch ist ein freier Mensch über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Mensch aller Dinge und jeder und jedem untertan. (Vgl. 1Kor 9,19–23) Nach der oben nur kurz angedeuteten Betonung der (christlichen) Freiheit in der Nachfolge Christi könnte es so aussehen, als sei die Aufgabe der christlich-theologischen Ethik gleichsam mit einem Satz zu formulieren, welcher lauten könnte: Christlich-theologische Ethik beschreibt das Ethos derjenigen Gemeinschaft von Menschen, welche Zeugen Jesu Christi sind und sich als solche in ihrem gesamten Tun und Lassen an die Zusagen und Weisungen Jesu, insbesondere wie sie in der Bergpredigt überliefert sind, halten. In einem gewissen Sinne ist das sogar zutreffend, allein die Möglichkeit abgrundtiefer Missverständnisse erfordert eine sorgfältilich, dass es sich um keine voraussetzungslose, durch und durch willkürliche, sondern um eine

„bedingte Freiheit“ handelt. Aber eben: um Freiheit.

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ge Präzisierung. Das soll hier anhand des Leitfadens der Frage nach der libertas christiana und dabei besonders im Blick auf Martin Luthers Freiheitsschrift von 1520 geschehen.

4.1.1 Der Ursprung der christlichen Freiheit Niemand wird durch eigene oder fremde gute Werke gerecht vor Gott und damit zu einem Christenmenschen. Die christliche Freiheit wird den Menschen allein dadurch zugesprochen, zugeeignet und eröffnet, dass Gott in Jesus Christus die Menschen mit sich versöhnt und gerecht gemacht hat durch den Glauben. In der Frage nach der Besonderheit der christlichen Freiheit bzw. der Freiheit eines Christenmenschen geht es um ein ursprüngliches Handeln Gottes am Menschen, technisch gesprochen, um das Verhältnis von Christologie, Rechtfertigung und Lebensführung. Dies verbindet sich mit den Fragen nach der bleibend-konstitutiven Bedeutung des Gehorsams gegenüber den göttlichen Geboten (dem Dekalog, aber auch der Gesamtheit der Weisungen der Tora) und der Problematik der sogenannten guten Werke (bona opera ). Diese Redeweise mag heutigen Menschen, die Religion und Kirche fernstehen, zuerst sehr befremdlich klingen, aber es ist ganz unbestreitbar, dass die gemeinte Sache auch in der säkularen Gesellschaft gegenwärtig ist. Entscheiden die Taten und Werke darüber, was ein Mensch in Wahrheit ist? Gehen Menschen in der Summe ihrer Taten, Unterlassungen oder gar Untaten auf? Sind wir (nur) das, wozu wir uns selbst machen? Ist das unendliche, nie zum Ziele kommende Streben nach Rechtschaffenheit der Inbegriff der menschlichen Versuche, einem Leben aus eigener Kraft Sinn und Zweck zu verleihen? Seine Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (De libertate christiana )1 hat Martin Luther einmal selbst so charakterisiert: „Es ist ein kleines Büchlein, wenn man das Papier ansieht, aber doch die ganze Summe eines christlichen Lebens darin begriffen, wenn der Sinn verstanden wird.“ Dieser Traktat ist alles andere als eine Gelegenheitsschrift, sondern vielmehr ein überaus kunstvoll komponierter Text2, der in das Zentrum reformatorischer Ethik führt. Äußerer Anlass war die Veröffentlichung der gegen Luther gerichteten Bannbulle Exsurge Domine 3 vom 15. Juni 1520 durch Johannes Eck, seinen prominenten altgläubigen Gegenspieler, woraufhin Lu1 WA 7, (12) 20–38 (deutsch), (39) 49–73 (lateinisch), Studienausgabe (StA), hg. v. Hans-Ulrich Delius, Bd. 2, Berlin 1982, (260) 263–309 (zweisprachig). Eine gute, modernisierte deutsche Fassung findet sich in Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg.v. Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, Frankfurt a. M. 1982, Bd. 1, 238–263. Ich zitiere die Stellen nach StA, aber in der modernisierten Fassung von Bornkamm/Ebeling.

2 Die Schrift ist in dreißig kurze Abschnitte gegliedert (die Ziffern-Einteilung in StA weicht in verwirrender Weise davon ab). Eine Gliederungsübersicht gebe ich im folgenden Schema im Text. 3 Text: DH (Denzinger-Hünermann), 1451–1492 (mit Nachweis der wichtigsten Belegstellen bei Luther).

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Teil I Grundlagen

ther durch den jungen sächsischen Edelmann Karl von Miltitz noch einmal zu einem Schreiben an Papst Leo X. veranlasst wurde. Diesem Schreiben fügte Luther den Freiheitstraktat als kurze Darlegung seines Glaubens bei.4 Teil I: Vom inneren Menschen (1–18) 1 2–5

Die Generalthese des paulinischen Doppelsatzes 1Kor 9,16. Dem „inneren“ Menschen (in seiner leiblich-seelischen Ganzheit) hilft nicht sein eigenes Tun, sondern allein das Wort Gottes, das Evangelium. 6–7 Das Wort Gottes ist die Verkündigung Jesu Christi. 8–9 Abgrenzung von jeglicher „Gesetzes“-Frömmigkeit. 10–12 Die „Seele“ (anima , das „Herz“) ist der Ort der wirksamen Verwandlung des Menschen (10: Origines, 12: Vereinigung, Wechsel und Streit – das selige commercium ). 13–18 Vergewisserungen (allgemeines Königtum und Priestertum; „geistliche“ wesentliche Gleichheit) und Abgrenzungen (gegen römische äußerliche Unterscheidungen). Teil II: Vom äußeren Menschen (19–30) 19–20 21–25 26–29 30

Selbstverständliche Notwendigkeit guter Werke. Werke im allgemeinen und gegenüber sich selbst. Werke gegenüber dem „Nächsten“. Schluss.

Martin Luther, De libertate christiana (1520)

In diesem Traktat, der sich als Auslegung des paulinischen Doppelsatzes von Freiheit und Dienstbarkeit versteht (vgl. 1Kor 9,4–7; Gal 4,19–23; Röm 13,8), fasst Luther seine wichtigsten theologischen Einsichten prägnant zusammen. Grundlegend argumentiert er mit der Unterscheidung von „innerem“ und „äußerem“ Menschen: Der Christenmensch ist danach von zweierlei „Natur“, einer geistlichen und einer leiblichen. Diese Grundunterscheidung, die Luther von Platon, Paulus und Augustinus her kannte, hat indes nichts zu tun mit der modernen Unterscheidung von Leib und Seele oder „body and mind“, äußerlich-sinnlichem Dasein und „Geist“ oder frommer Innerlichkeit. Vielmehr gilt die natura spiritualis (=anima ) als Inbegriff des ganzen Menschen, sofern dieser/diese in Beziehung steht zu Gott – besser: in Beziehung zu Gott gestellt ist. Wenn nämlich der „äußere Mensch“ „betet, fastet, wallfahrtet und alle guten Werke tut“, so hilft all dies nach Luther dem „inneren Menschen“, der „anima “, dem, wie wir heute wohl sagen würden, „ganzen Menschen“ ganz und gar nicht. 4 Zum historischen Zusammenhang siehe Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, 378–396. Aus der Lit. vgl. Wilhelm Maurer, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformationsschriften 1520/21, Göttin-

gen 1949; sowie besonders Eberhard Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift (zuerst 1978), ergänzt in: ders., Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit, Tübingen 2000, 84–160.

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Die „geistliche Natur“ ist aber wiederum auch nicht so beschaffen, dass sie durch Absehung von der „äußeren Natur“, durch Weltabkehr und fromme, womöglich asketische Übungen ihrer wahren Bestimmung von sich aus entsprechen könnte. Luther arbeitet keineswegs, dem äußeren ersten Anschein oder modernen Lesegewohnheiten gänzlich entgegen, mit der dichotomischen Unterscheidung von Leib und Seele, sondern der „innere Mensch“ ist der ganze Mensch (von Geist, Seele und Leib) im Hinblick auf seinen „Kern“ der Person, ihr „Herz“, und zwar im Verhältnis zu Gott als ihrem oder seinem Schöpfer, Erlöser und Vollender. In der Freiheitsschrift sagt Luther darum: Der Mensch „findet nichts in sich, wodurch er fromm werden könnte“. „Fromm“ – das hieß in Luthers Sprache zuerst einmal soviel als „in Ordnung“, übertragen dann aber auch „in Gottes Sicht in Ordnung“ – wird der Mensch, der „innere“ wie der „äußere“, allein durch das ihn treffende Wort Gottes im Medium des menschlichen Wortes der Verkündigung und im Hören durch den Heiligen Geist Gottes. Dieses Wort trifft von außen und schafft selber erst die menschlichen Bedingungen seiner Vernehmbarkeit; damit verwandelt es die „Seele“ (anima ) als Inbegriff des ganzen Menschen. Es geht im Ausgang des Freiheitstraktates um die Erinnerung an die paulinische und augustinische Grundeinsicht, dass die sogenannten „guten Werke“ niemandem zum ewigen Heil dienen können; die Gerechtigkeit Gottes (dikaiosunv heou, iustitia Dei ) ist eine von außen zukommende Gerechtigkeit (iustitia mere passiva ). Die Heiligkeit eines Menschen ist nicht das Ergebnis seiner Anstrengungen, sondern wird von außen als seine nicht aus eigener Kraft zu bewirkende Bestimmung zugesagt (sanctitas mere passiva ). Wenn mithin jemand an der Wirklichkeit Gottes Anteil bekommt, dann eben nicht durch eigenes Wollen, Streben und Handeln, sondern allein aufgrund des Handelns Gottes selbst, also mittels der allem menschlichen Tun zuvorkommenden Gnade (gratia praeveniens). Um diesen merkwürdigen Sachverhalt zu verdeutlichen, zitiert Luther5 eine berühmte metaphorische Ausdrucksweise des Origenes (ca. 185–254), der gesagt hatte: „Wie das Wort ist, so wird auch die Seele von ihm, gleich dem Eisen, das glutrot wird durch das Feuer aus der Vereinigung mit dem Feuer.“6 Der ganze erste Teil des Freiheitstraktats entfaltet diese grundlegende Aussage über die Seele – bei Origines ist die Seele Christi gemeint, bei Luther die Seele jedes Menschen, der in eine Beziehung zu Jesus Christus gesetzt wird. Diese These von der wirksamen Verwandlung, analog der des Eisens durch und im Feuer, wird polemisch dahingehend zugespitzt, dass kein Mensch durch irgendein „Werk“ aus sich selbst, durch irgendein „facere quod in se est “7, zum Christen zu werden vermöchte. Denn „das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht dass wir müßig gehen oder übel

5 StA 2, 272/273. 6 De principiis 2,6 (hg., übersetzt und mit krit. Anmerkungen v. Herwig Görgemanns/Heinrich Karpp, Darmstadt 1976, 368 f).

7 Zu dieser Wendung und Luthers Kritik daran vgl. vor allem die Heidelberger Disputation (1518), besonders die (theologischen) Thesen 13–18 (StA I, 186–218, hier 205–207).

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tun möchten, sondern dass wir keines Werkes zur Frommheit und um Seligkeit zu erlangen bedürfen.“8 Im Zentrum des ersten Teils des Traktats steht neben der Kritik an aller menschlichen Selbstmächtigkeit die Darlegung des entscheidenden Grundes der Kritik am „facere quod in se est “, nämlich der Hinweis auf dem Ursprung der einzigen Heilsgewissheit in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.9 Luther spricht hier ganz doxologisch unter Aufnahme des alten (Eph 5,30) und mystischen Motivs, wonach die anima mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam vereinigt wird: „Hier erhebt sich nun ein fröhlicher Wechsel und Streit“, und das ist „eine fröhliche Wirtschaft, wo der reiche, fromme Bräutigam Christus die arme, verachtete, böse Hurlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel entledigt, ziert mit allen Gütern.“ Dies ist Ursprung und Quelle der Freiheit eines Christenmenschen – dass Gott so frei war und ist, sich selbst mit seinem Geschöpf in der innigsten Weise zu verbinden, damit die Menschen aus diesem Ursprung und in der Hoffnung auf ihn leben und handeln können.

4.1.2 Folgen der christlichen Freiheit: Gute Werke Die Folgen der christlichen Freiheit sind die wahrhaft guten Werke „aus freier Liebe umsonst“. Ausgehend von diesem Ursprung und Grund sieht Luther im zweiten Teil des Traktats auf die Folgen. Mit 1 Petr 2,9 nennt er die so ohne ihr Zutun zu Christenmenschen Gemachten ein priesterliches Königreich und ein königliches Priestertum,10 das heißt, die Gläubigen nehmen an diesen zwei „Ämtern“ Christi teil, auch wenn Christi eigene Herrschaft über alle Dinge auf unsichtbare Weise ausgeübt wird. „Darum ist er (sc. Jesus Christus, WL) ein König und Priester, jedoch geistlich; denn sein Reich ist nicht irdisch noch in irdischen, sondern in geistlichen Gütern, als da sind Wahrheit, Weisheit, Friede, Freude, Seligkeit und so weiter.“ Nun ist es wichtig, an dieser Stelle sogleich weiter zu lesen: „Damit ist das zeitliche Gut aber nicht herausgehalten; denn es sind ihm alle Dinge unterworfen im Himmel, auf Erden und in der Hölle, obwohl man ihn nicht sieht; das kommt daher, dass er geistlich, unsichtbar regiert.“11 An dieser unsichtbaren Herrschaft nehmen Christenmenschen Luther zufolge als durchaus sichtbare, freilich „geistliche“ Priester teil, insofern sie zuerst das besondere Privileg bekommen, für andere bitten und eintreten zu dürfen, denn dies „gebührt niemandem als den Priestern“.12 Dass der Grat, der solche Sätze von den 8 StA 2, 272/273. 9 Der Freiheitstraktat macht völlig klar, dass bei Luther die Christusanschauung die Lehre von der Rechtfertigung trägt – nicht umgekehrt. 10 Siehe hierzu Gerhard Ebelings Interpretation:

Die königlich-priesterliche Freiheit, in: ders., Lutherstudien Bd. III, Tübingen 1985, 157–180. 11 StA 2, 280/281. 12 Ebd.

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übersteigerten Ansprüchen einer Theokratie trennt, schmal ist, liegt auf der Hand; manche Täufer haben diese Überordnung des Priestertums (genauer: ihres eigenen Priestertums) über das Königtum ganz und gar politisch und als Selbstermächtigung gedeutet. Luther hat im Freiheitstraktat die Pointe freilich völlig anders gesetzt. Er betont, dass das königliche Priestertum aller Gläubigen nicht zur Herrschaft, sondern zum Dienst befreit , und zwar zu einer Art des Dienstes, wie er gerade in der Kirche seiner Zeit nicht begegnet. Luther schreibt: Aber nun ist aus dem Haushalten13 eine so weltliche, äußerliche, prächtige, furchtbare Herrschaft und Gewalt geworden, dass ihr die rechte weltliche Macht auf keine Weise mehr zu gleichen vermag, gerade als wären die Laien etwas anderes als Christenleute. Damit ist das ganze Verständnis christlicher Gnade, der Freiheit, des Glaubens und alles dessen, was wir von Christus haben, und Christus selbst hinweggenommen. Wir haben dafür viel Menschengesetz und -werke überkommen, sind ganz Knechte der alleruntüchtigsten Leute auf Erden geworden.14

Das Zitat zeigt, dass die christliche Freiheit sich konkret als Kritik an der Kirche und der von ihr ausgübten weltlichen Herrschaft erweist. Die weiteren, wichtigen Folgen dieser Freiheit15 bestehen sodann in einer Fülle von „guten Werken“, welche zwar für das eigene Seelenheil gänzlich vergeblich, aber um des Nächsten willen unabdingbar notwendig sind. Der gesamte zweite Teil des Traktats gilt darum der Selbstverständlichkeit, Geschuldetheit und Notwendigkeit der guten Werke, welche der „äußere Mensch“ verwirklicht: Obwohl der Mensch inwendig nach der Seele durch den Glauben genügend gerechtfertigt ist und alles hat, was er haben soll, wobei dieser Glaube und das Genügen bis in jenes Leben immer mehr zunehmen, so bleibt er doch noch in diesem leiblichen Leben auf Erden und muss seinen eigenen Leib regieren und mit Leuten umgehen. Da heben nun die Werke an; hier kann er nicht müßig gehen; da muß fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt werden, damit er dem innerlichen Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere noch ihm widerstrebe, wie seine Art ist, wenn er nicht gezwungen wird. Denn der innerliche Mensch ist mit Gott eins, fröhlich und lustig um Christi willen, der ihm so viel getan hat, und all seine Lust besteht darin, dass er umgekehrt Gott auch umsonst in freier Liebe dienen möchte.16

„Aus freier Liebe umsonst“ werden die in Wahrheit guten Werke vollbracht.17 Gute Werke machen einen Menschen nicht gut und gerecht, aber ein guter Mensch bringt mit innerer Notwendigkeit solche Werke hervor. Luther schließt den Traktat mit diesen Worten: 13 Luther spricht vom „schaffner“ und der „scheffnerey“; gemeint ist die alte oikonomia, die Haushalterschaft, also die Verwaltungstätigkeit vor allem des „Hausherrn“. 14 StA 2, 282/283. 15 An diesem Freiheitsverständnis haben sowohl Helmut Gollwitzer (Forderungen der Freiheit,

München 1964) als auch Wolfgang Huber (Folgen christlicher Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1983) sachlich angeknüpft. 16 StA 2, 286/287. 17 An dieser Stelle liegt eine offenkundige Nähe zu Bonhoeffers Nachfolge-Verständnis.

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Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe, ebenso wie Christus Joh 1,51 sagt: „Ihr werdet noch sehen den Himmel offen stehen und die Engel auf- und absteigen über dem Sohn des Menschen.“18

4.1.3 Die Realisierung der Freiheit Die Doppelthese „in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe“ markiert den Ausgangspunkt der christlichtheologischen Ethik. Gegenstand der materialen theologischen Ethik sind die konkreten Gestaltwerdungen der christlichen Freiheit in allen Lebensbereichen unter den Bedingungen von gesellschaftlichen Institutionen, Struktur- und Regelbildungen sowie inmitten gesellschaftlicher Konflikte. Einige folgenreiche Bestimmungen, die in der bisher versuchten Grundlegung schon implizit mitgegeben sind, sollen noch kurz ausdrücklich hervorgehoben werden: (1) Der Freiheitstraktat Luthers und damit das reformatorische Verständnis der Lebensführung von Christenmenschen wären gänzlich missverstanden, wenn man annehmen würde, dass das hier anhebende Leben auf den inneren Menschen, auf den Raum der Kirche oder auf bestimmte, abgegrenzte Bereiche der Welt eingeschränkt wäre, in denen entsprechend gelebt und gehandelt werden kann, während jenseits davon andere Mächte und Herrschaften – Politik, Ökonomie, Wissenschaft – ihren unbestrittenen und unbehelligten Ort haben. Im Horizont dieses Freiheitsverständnisses liegt keine „Zwei-Reiche-Lehre“, wie sie immer wieder im Sinne einer Bereichstrennung missverstanden oder missdeutet wurde,19 sondern eine differenzierte Zuordnung von geistlicher und weltlicher „Gewalt“, bei der beide Gewalten als Mittel der einen, ungeteilten Königsherrschaft Christi zu verstehen und anzuerkennen sind. (2) Von diesem Freiheitsverständnis ergaben und ergeben sich zahlreiche Konsequenzen für die Grundzüge einer politischen Ethik: Die Verantwortlichkeit, Rechenschaftspflicht und Begrenzung der Machtbefugnisse der „Obrigkeiten“, die soziale und diakonische Ordnung der Gesellschaft (und darin der Kirchen) einschließlich des Wohlfahrts-, Spital- und Schulwesens, das Verhältnis der Geschlechter (trotz reformatorischer Beibehaltung der traditionell patriarchalen Ordnung)20 und die Kritik an den Auswüchsen der frühkapitalistischen Wirtschaftsordnung. 18 StA 2, 304/305. 19 Vgl. als Übersicht meinen Artikel: Zwei-Reiche-Lehre, EKL3 4, 1996, 1408–1419.

20 Ich verweise auf die Studien von Gerta Scharffenorth, Den Glauben ins Leben ziehen, München 1982, 122–201.

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(3) Der Ausgangspunkt einer theologischen Ethik beim Freiheitsverständnis ist keine Besonderheit der lutherischen Tradition, sondern ein übergreifendes Merkmal der meisten Konfessionen und Kirchen der Christenheit und hat insofern eine verbindende und verbindliche ökumenische Bedeutung. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen in einzelnen Fragen und Folgerungen gilt dies nicht nur für die reformierte,21 sondern auch für die römisch-katholische Position in ihren Grundzügen (unerachtet der tiefgreifenden Auseinandersetzungen um die Befreiungstheologie, das Priesteramt und die Autorität des Papstes) sowie die (allerdings immer noch relativ spärlichen) ethischen Ansätze im Denken orthodoxer Christen.22

Exkurs: Christliche versus politische Freiheit? Es ist vielfach gefragt und bestritten worden, ob und inwiefern die Reformatoren in ihrer Zeit dem hier skizzierten Freiheitsverständnis selbst konsequent gefolgt sind. Eine, vielleicht die entscheidende Nagelprobe war das Verhältnis zu den Freiheitsforderungen der Bauern in den großen Auseinandersetzungen von 1525. Eine unbefangene Auseinandersetzung mit diesen Fragen war Jahrzehnte lang dadurch blockiert, dass die Darstellung der Geschichte des Bauernkrieges auch eine ideologiepolitische Funktion in der Zeit des „Kalten Krieges“ hatte.23 Peter Blickle24 hat die These aufgestellt, dass das neuzeitliche Freiheitsverständnis und das Verständnis der libertas christiana bei den Reformatoren (vor allem Luther) nicht nur wenig miteinander zu tun hatten, sondern dass das theologische Verständnis christlicher Freiheit eher die Gewinnung und Durchsetzung politischer Freiheit verhindert hat, ja, verhindern musste. „Zwei Begriffe von christlicher Freiheit verfehlten sich gänzlich.“ (95) Im Blick auf diese exemplarische Kritik ist zunächst zu fragen, aus welchen Gründen Luther (und in ähnlicher Weise Zwingli) die Forderungen der Bauern abgelehnt haben. Auffällig ist ja, dass beide überaus scharfe Kritik an den „Herren“ geübt, den sozialen und politischen Reformbedarf der damaligen Verhältnisse anerkannt und in vielfacher Hinsicht durch die neue Art der evangelischen Verkündigung den Forderungen der Bauern vorgearbeitet haben. Gleichzeitig haben beide sich in ungewöhnlich scharfer Weise gegen die Bauern gestellt. Die Frage ist, wie diese Spannung verständlich zu machen ist. Blickle stellt besonders jene Kritik Luthers an den Bauern heraus, die sich darauf bezieht, dass die Bauern „die christliche Freiheit gantz fleischlich machen“ (95). Die Bauern nehmen das religiöse Fanalwort der Freiheit 21 Vgl. Huldrych Zwingli, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit (1523), einfach zugänglich in: E. Saxer (Hg.), Huldrych Zwingli, Ausgewählte Schriften, Neukirchen 1988, 63–97; Calvin, Institutio (1559), III,19 und IV,2o. Vgl. auch Heinz Eduard Tödt, Art. Freiheit 2. Theologisch, in: EKL3 1, 1986, 1353–1359; Roger Mehl, Art. Freiheit V. Ethisch, TRE 11, 1983, 511–533. 22 Vgl. das Prinzip der „oikonomia“ in der orthodoxen Ethik und im Kirchenrecht; vgl. dazu Thomas Schüller, Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste

der salus animarum. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie, Würzburg 1993. 23 Das ist inzwischen vorzüglich untersucht von Laurenz Müller, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der DDR, Stuttgart 2004. 24 Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 22006 (Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch).

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politisch beim Wort. Damit unterlaufen sie die Unterscheidung der zwei „Reiche“ oder „Regimente“, mittels derer Gott die Welt regiert, beziehungsweise sie politisieren die „göttliche Gerechtigkeit“. Luther hat seine Unterscheidung der Regimente, mittels derer Gott die Welt regiert, und die ihrerseits überlagert wird von der Rezeption der mittelalterlichen Ständelehre, für eine zentrale und unverzichtbare Innovation seiner Theologie gehalten. Apol. 16, Zentralstück des konservativen Luthertums aller Zeiten aus dem Jahr 1531, formuliert programmatisch: Nec fert evangelium novas leges de statu civili, sed praecipit, ut praesentibus legibus obtemperemus, sive ab ethnicis sive ab aliis conditae sunt, et hac oboedientia caritatem iubet exercere. [. . .] Nam evangelium non dissipat politiam aut oeconomiam, sed multo magis approbat, et non solum propter poenam, sed etiam propter conscientiam iubet illis parere tamquam divinae ordinationi (BSLK 308, 3 u. 5).25 Nicht im Gegensatz zu Blickles Kritik hieran, sondern ihn ergänzend frage ich nach den Gründen, die Luther dazu veranlassten, die politischen Freiheitsforderungen, die ja mit Hinweis auf sein Verständnis der christlichen Freiheit geltend gemacht wurden, zurückzuweisen. Es ging ihm darum, die Dimensionen im Verständnis der Freiheit nicht zu verwischen, und zwar in drei Hinsichten: a) auf die Freiheit des Glaubens, die allein auf Christus gründet; b) auf die Freiheit der Kirche, die allein auf der freien Verkündigung des Evangeliums beruht. c) auf die Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit der irdischen Amtsträger. Die Kritik an den Bauern muss man einordnen in Luthers Rechtsethik.26 Einer ihrer Grundsätze lautet, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf. Das heißt, dass wirklich niemand, weder Herr noch Bauer, über dem Recht stehen darf. Diese Basis-These begegnet schon bei Platon und bildet später einen Kern der Rechtslehre Kants. Wenn man Luthers Magnificat-Auslegung27 (1520/21, nach der Adelsschrift verfasst) synoptisch mit seiner Bauernkritik liest, fällt freilich der ungeheure Widerspruch ins Auge: Während er in der Auslegung von Lk 1,46–55 die grundlegenden Rechte der Menschen herausarbeitet (grobe menschliche Rechte, Rechte der Vernunft oder Weisheit, Rechte des Glaubens und Evangeliums), nimmt er, sobald die Bauern diese für sich fordern, alles wieder zurück. Anders gesagt: Luther hat nicht gesehen oder erwägen wollen, geschweige denn anerkannt, dass die Bauern mit ihren Forderungen sich auf den Boden seiner eigenen Rechtsethik gestellt hatten. Er hat nicht gesehen, dass die Bauern nicht Chaos, sondern eine neue, wirksame Herrschaft des Rechtes (und nicht der Fürsten) und eine (neue) Verfassung, die diesen Namen verdient, wollten.28 Ich denke also, dass die von Blickle betonte „Verfehlung“ zwischen zwei Freiheits25 Übs.: Das Evangelium bringt keine neuen Gesetze für den politischen Zusqammenhang, sondern schreibt vor, den bestehenden Gesetzen zu gehorchen, seien sie von den Völkern (oder: Heiden) oder anderen begründet, und in diesem Gehorsam befiehlt es (sc. das Evangelium) Liebe zu üben. [. . .] Denn das Evangelium zerstört nicht die politische oder wirtschaftliche Ordnung, sondern bestätigt sie vielmehr, und dies nicht nur wegen der Strafe, sondern auch wegen des Gewissens und befiehlt ihnen zu gehorchen gleichsam wie einer göttlichen Anordnung. Die lateinische Fassung stammt von Ph. Melanchthon. Die deutsche Version von Apol. 16 aus der Feder von Jus-

tus Jonas ist keine Übersetzung, sondern eine eigenständige Variante, in der die Unterscheidung der „Reiche“ noch klarer herausgearbeitet wird. 26 Siehe dazu Gerta Scharffenorth, Den Glauben ins Leben ziehen . . . Studien zu Luthers Theologie, München 1982, 202–313. Das Kapitel ist aus Scharffenorths politologischer Diss. (bei C.J. Friedrich) hervorgegangen. 27 Dazu ebenfalls Scharffenorth, 233–238, die wohl als erste die Magnificat-Auslegung in dieser Perspektive gewürdigt hat. 28 Siehe dazu Blickles Ausführungen zum Memminger Vertrag, 101 f.

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verständnissenn nicht allein zwischen Luther und den Bauern steht, sondern gleichsam zwischen Luther und Luther. Dieser hat angesichts der Bauernunruhen seine besten sozialethischen Einsichten zeitweise über Bord geworfen. Dies war nur dann „notwendig“, wenn man der Auffassung ist, dass Durchsetzung und Konsolidierung der Reformation nur mit den Fürsten, nicht gegen sie, und schon gar nicht mit den Bauern gelungen wären. Dies impliziert den Vorwurf des religionspolitischen Opportunismus. Dem kann man entgegenhalten, dass für Luther – geprägt durch eine existenzielle Eschatologie – die Bauernrevolution (auch) ein Zeichen der hereinbrechenden Endzeit war, weil am Ende der (Welt-)Zeiten ein riesiges Chaos heraufzieht. Die Möglichkeit, positiv auf die Forderungen der Bauern einzugehen, ist bei Luther jedoch in seiner Freiheitsschrift angelegt, ohnen dass er diese Konsequenz gezogen hätte, insofern nämlich, wie gezeigt, zur libertas christiana mit Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit die guten Werke „aus freier Liebe umsonst“ gehören. Die christliche Freiheit soll konkrete Gestalt in operibus caritatis annehmen. Nun kann man darüber streiten, ob bewaffnete Bauernscharen genau diese Werke üben. Man kann aber nicht bezweifeln, dass die opera caritatis in der Perspektive der Bauern lagen, und zwar in rechtsethisch qualifizierter und differenziert begründeter Weise. Dass die Reformatoren dies nicht zugeben wollten oder konnten – aus welchen Gründen immer –, berechtigt zu Zweifeln an ihrer politischen Urteilsfähigkeit, nicht aber automatisch auch zur Infragestellung ihrer ursprünglichen theologischen Einsichten. Blickle ist der Auffassung, dass das moderne Freiheitsverständnis, insbesondere in der Gestalt der (neuzeitlichen) Menschenrechte, eher gegen Kirche und Theologie entwickelt worden ist als aufgrund von Impulsen, die von diesen ausgingen (244–259). Das ist dann und insofern nicht zu bezweifeln, wenn man an die neuzeitlichen Menschenrechtskataloge der Neuenglandstaaten und der Französischen Revolution denkt. Die These ist hingegen zu differenzieren, wenn man noch andere Elemente berücksichtigt. Zunächst ist unstrittig, dass „Freiheit“ zu den auch politisch-gesellschaftlich konnotierten Schlüsselbegriffen des Neuen Testaments, insbesondere der Paulus-Briefe, hier wieder vor allem des Galater-Briefes gehört. 1Kor und Gal sind deshalb auch die maßgeblichen Bezugstexte für Luthers Freiheitsschrift und die Doppelthese vom „freien Herrn“ und „dienstbaren Knecht“. Angesichts der Revolution des „gemeinen Mannes“ ist Luther, wie die anderen Reformatoren auch, davor zurückgeschreckt, die politischen Folgen der christlichen Freiheit für seine Zeit wirklich auszubuchstabieren. Man kann auch sagen: Sie haben die von ihnen selbst nahe gelegten Konsequenzen gescheut.29 Blickle stellt zutreffend heraus, dass zur Überwindung der Leibeigenschaft auch die Beseitigung der Ehehindernisse gehörte. In dieser Hinsicht wäre es wünschenswert, auch Luthers zahlreiche Äußerungen zum Verhältnis von Frau und Mann, Ehe und Familie zu berücksichtigen.30 Ich neige zu der Auffassung, dass der alte eherechtliche Grundsatz „consensus facit nuptias “ ein ganz wesentlicher Grundstein der Entwicklung neuzeitlicher individueller Freiheit war. Schließlich gehört bei den Reformatoren zu ihren politischen Reformimpulsen auch und besonders ihr Eintreten für ein öffentliches Bildungswesen (mitsamt der entsprechenden Verwendung säkularisierter Kirchengüter). Das war vielleicht kein unmittelbarer Beitrag zur 29 Wenn man das für die Ordnung der politia feststellen muss, gilt es aber nicht in gleicher Weise in Fragen der oeconomia. Hier hat Luther bis ins hohe Alter so eindeutig scharf geurteilt, dass nicht zuletzt Karl Marx ihm hohe Anerkennung gezollt hat.

30 Siehe auch dazu die Pionierarbeit von Scharffenorth, a. a. O., 122–202; sowie John Witte jr., Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002, 199–255.

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Gewinnung politischer Freiheit, aber doch wohl zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Meines Erachtens ist es geboten, mehrere Schichten in Luthers Freiheitsverständnis zu unterscheiden. Blickle interpretiert (m.E. etwas einseitig) das Freiheitsverständnis Luthers primär von der paulinisch-augustinischen (anti-pelagianischen) Lehre vom „unfreien Willen“ her. Ich denke, dass man zentrale Interpretationsprobleme nur so lösen kann, indem man einen wenigstens zweifachen Freiheitsbegriff bei Luther unterscheidet: a) die menschliche wesentliche Unfreiheit im Bezug auf das ewige Heil (als Implikat der Erbsündenlehre und der Auffassung von der natura totaliter corrupta hominis ), die allein durch die Gnade Gottes in die neue, „christliche Freiheit“ verwandelt wird; b) die menschliche Freiheit im „bürgerlichen“ Gebrauch (status civilis ), ohne deren Annahme jeder Gedanke menschlicher Verantwortlichkeit boden- und sinnlos würde. In der Heidelberger Disputation (1518) betont Luther ausschließlich den ersten Aspekt menschlicher (Un-)Freiheit, in der Freiheitsschrift (1520) schlägt er eine Brücke zwischen beiden Freiheitsbegriffen, und in späteren Schriften konkretisiert er fallweise und in beratenden Funktionen die politischen und wirtschaftlichen Folgen dieser „evangelischen“ Freiheit, allerdings stets mit einer starken Betonung der Legitimität je bestehender Herrschaftsordnungen. Das ist bei Calvin kaum anders.

4.2 Zu Johannes Calvins Freiheitsverständnis Das Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen nimmt in der Architektur der „Institutio“ einen zentralen Platz ein: Es wurzelt in Calvins Verständnis von Person und Werk Jesu Christi und unterstreicht die Einheit von Rechtfertigung und Heiligung.

4.2.1 Das Freiheitsthema in der Institutio (1559) Der Ausgangspunkt der theologischen Ethik liegt auch bei Calvin bei der libertas christiana , die er ganz ähnlich wie Luther (1) im Gegenüber zu einer pelagianischerasmianischen Auffassung von einem auch durch den Fall grundlegend unversehrten liberum arbitrium näher bestimmt, die er (2) unter maßgeblicher Berufung auf Paulus als Freiheit vom „Gesetz“ versteht, die er (3) gleichzeitig als Grund und Ursache aller in Wahrheit „guten Werke“ entfaltet. Dabei gründen wiederum alle Ausführungen Calvins zur christlichen Freiheit in der Anschauung des befreienden Erlösungswerkes Christi: „Wenn es also um unsere Rechtfertigung geht, so sollen wir alle Erwägung des Gesetzes fahren lassen, alles Achten auf die Werke beiseite stellen und allein Gottes Barmherzigkeit erfassen, wir sollen den Blick von uns selber abwenden und Christus allein anschauen.“ (III,19,2).31 Die zentrale Stellung des Freiheitsverständnisses wird auch daraus ersichtlich, wie dieses Thema die Institutio ge31 Sperrung nach der einbändigen Ausgabe von Otto Weber, Unterricht in der christlichen Reli-

gion, Neukirchen-Vluyn 21963. Seitenzahlen im Text nach dieser Ausgabe.

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radezu strukturbildend durchzieht. In der letzten Auflage des Werkes von 1559 finden sich die wichtigsten Belege an folgenden Stellen: I, 15, 8 II, 2, 1–11 II, 3, 14 II, 4, 7 II, 5 III, 19 IV, 20

Erschaffung der Welt; Ebenbildlichkeit; Leib/Seele; freier Wille im Urzustand (102 f) Verlust des freien Willens nach dem „Fall“ (142 ff) Bestätigung durch Augustin (176 f) Gottes Wirken (182) Argumente gegen das liberum arbitrium (183 ff) Die libertas christiana (553 ff) Vom bürgerlichen Regiment (1033 ff)

Wenn man die beiden zuletzt genannten Abschnitte näher betrachtet, gewinnt man einen guten Zugang zu Calvins zentralen Motiven und Gedanken für die Grundlegung der theologischen Ethik im Rahmen seiner Theologie. Insgesamt lässt der Aufbau der Institutio klar erkennen, dass und wie Calvin die Ethik als integralen Teil seiner systematischen Darstellung der Theologie insgesamt behandelt hat. Dabei geht es ihm um folgende Ziele: – elementare Darstellung des christlichen Glaubens (Katechismus-Funktion) – Verteidigung des reformatorischen Glaubens gegen die Begründungen der Verfolgung vor allem in Frankreich (apologetische Funktion) – Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens und Lebens (systematische Funktion) In der Durchführung stützt sich Calvin natürlich auf die Heilige Schrift, die für ihn Maßstab und Grundlage aller Dinge ist. Nicht im biblizistischen Sinn, sondern in der Weise eines zusammenfassenden, systematisierenden und komprehensiven Bibelverständnisses als grundlegender norma normans.32 Daneben bezieht sich Calvin vor allem auf Luthers ihm bekannte Hauptschriften, auf Bucers Kommentare, auf Melanchthons Loci communes , auf Zwinglis De vera et falsa religione , auf Augustins De civitate Dei sowie auf griechische und lateinische Kirchenväterliteratur. In philosophischen und ethischen Fragen finden sich vielfache Bezugnahmen auf Platon, Aristoteles und Cicero. Besonders für die Ethik in der calvinistischen Tradition nach Calvin ist die Orientierung an der Stoa von großer Bedeutung. Die folgende Glie-

32 Calvin hat im Laufe seines Lebens die biblischen Bücher eingehend kommentiert und ausgelegt und steht darin Luther in keiner Weise nach; die Weite und Systematik von Calvins Auslegun-

gen werden m.E. noch viel zu wenig gewürdigt. Ein Grund dafür mag sein, dass wichtige Texte immer noch nur auf Französisch vorliegen.

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Teil I Grundlagen

derungsübersicht zeigt, dass und wie die Freiheitsthematik, die Grundlegung der Ethik und ihre Hauptprobleme in die Architektur der Institutio integriert sind. I.

Von der Erkenntnis Gottes als des Schöpfers Gotteserkenntnis Trinitätslehre Schöpfungslehre (hier: I, 15: freier Wille)

II.

Von der Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christo Urstand und Fall (hier: II, 2: Verlust des freien Willens) Gesetz – Evangelium Dekalog (II, 8) Zweinaturenlehre Tria munera Christi

III. Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich daraus ergeben Vom Glauben Von der Buße Gute Werke Rechtfertigung durch den Glauben (III, 11 ff) Christliche Freiheit (III, 19) Gebet Erwählung (III, 21 ff) IV. Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen Gott uns zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält Lehre von der Kirche Sakramente Vom bürgerlichen Regiment (IV, 20)

Calvin, Institutio (1559): Aufbau und Freiheitsthema

4.2.2 Die libertas christiana Calvin überschreibt den Abschnitt III,19 der Institutio : „Von der christlichen Freiheit“. Der kurze Text ist klar gegliedert und systematisch aufgebaut. Ich beschränke mich hier auf die Darstellung der Struktur des Textes. Nach einer Einleitung umfasst Calvins Freiheitstraktat fast symmetrisch zwei große Abschnitte, die ähnlich wie bei Luther (1) den Grund und Ursprung der christlichen Freiheit in Gottes Selbsterschließung in Jesus Christus bezeichnen und (2) die Möglichkeiten von Gebrauch und Missbrauch dieses Geschenkes der Freiheit bezeichnen. In der Auswahl der in die Argumentation einfließenden Beispiele, in der Abgrenzung von der römischen Lehre und in der Verbindung von Anthropologie und Grundlegung der politischen Ethik (Betonung des zweifachen Regimentes/ double regime) zeigt sich eine gegenüber Luther veränderte Ausgangslage, was aber

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an der Übereinstimmung in der inhaltlichen Ausrichtung nichts ändert. Der Traktat schließt, ganz ähnlich wie Luther, mit einer Doppelthese: Die Gebundenheit des Gewissens (an Gott) und die Freiheit des Gewissens (in der Liebe) gehören zusammen. 1. Abschnitt (19,1–8): Grund und Wesen der christlichen Freiheit (1) Die Freiheit vom Gesetz hat ihren Grund in der Freiheit, zu der Christus befreit hat (Gal 3). (2) Ein wahrhaft freies Gewissen kann nur „aus freien Stücken“ und „im Glauben“ dem Willen Gottes gehorsam sein. (3) In „Mitteldingen“ (adiaphora) gilt der freie Gebrauch aller Dinge aus der Freiheit gegenüber den Dingen und im Geiste der Dankbarkeit (Speisen, Zeremonien). 2. Abschnitt (19,9–16): Betätigung der christlichen Freiheit (1) Die christliche Freiheit darf nicht missbraucht werden; a) zu Schlemmerei und Üppigkeit33 b) zur Kränkung und Verletzung der Schwachen (2) Das Maß im Gebrauch der christlichen Freiheit liegt im Nutzen der/des Nächsten (19,12) (3) Die Grenze der gebotenen Rücksichtnahme liegt in der „Reinheit des Glaubens“ (4) Christus selbst wird verraten, wenn das Gewissen erneut Menschensatzungen unterworfen wird. (5) Die Unterscheidung der „zwei Regimente unter den Menschen“ (double regime en l’homme ) – geistlich (spirituel ) und bürgerlich (politique ou civil ) – dient dazu, die christliche Freiheit des Herzens („innerer Mensch“, anima , l’ame interieur ) und die Gebote und den Gehorsam in den „bürgerlichen“ Angelegenheiten nicht durcheinander zu bringen. (Calvin spricht hier auch von une Royaume spirituel und l’autre Civil ou politique.)

Calvin, De libertate christiana (Institutio III, 19)

4.3 „Schöpferische Nachfolge“ „Schöpferische Nachfolge“ ist die Signatur freiheitlich-dienstbarer Existenz von Christenmenschen. Das Verständnis der christlichen Freiheit, wie es die Reformatoren wieder entdeckt haben, versucht die evangelische Theologie in den verschiedensten gesellschaftlichen Kontexten und angesichts wechselnder Herausforderungen zu erläutern und zu konkretisieren. Es geht darum, die Freiheit menschlichen Handelns im Blick auf das vorgängige Handeln Gottes, nämlich die Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus, so zur Geltung zu bringen, dass die ursprüngliche Freiheit Gottes in der Zuwendung zu allen Geschöpfen ebenso unverkürzt zur Sprache kommen und beschrieben werden kann wie die darauf bezogene und dadurch ermöglichte Freiheit des Menschen, der Gott und seinen Mitmenschen gegenüber verantwortungsfähig und ver33 Mir scheint, dass man hier die Anfänge dessen sehen darf, was Max Weber als Merkmal des

von Calvin mit geprägten Puritanismus herausgearbeitet hat: die „innerweltliche Askese“.

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Teil I Grundlagen

antwortungspflichtig ist. Nicht notwendigerweise für alle Menschen, aber für Christenmenschen zweifellos stellt sich insofern immer wieder die Gewissensfrage, ob sie ihr Tun und Lassen vor Gott und den Menschen verantworten, also im Innersten oder öffentlich Rechenschaft geben können und wollen. Ist die „geschenkte Freiheit“ mit der freien Verantwortung vereinbar? Ein Beispiel einer Antwort auf diese Fragen sind die Bemühungen um eine grundlegende Revision der traditionellen Rede von Gottes Allmacht und Allwissenheit, wie sie Karl Barth schon in seiner durchgehenden Neugestaltung der traditionellen Lehre von den sogenannten göttlichen Vollkommenheiten entwickelt, in der Ethikgrundlegung der Kirchlichen Dogmatik aufgenommen hat und wie sie andere weitergeführt haben. Dabei ließ und lässt sich sehr gut an die hochscholastische Theologie und Philosophie anknüpfen, welche in ihrem damaligen kirchlich-universitären Kontext eine kreativ-spannungsvolle Einheit gebildet haben, und schon zu ihrer Zeit einen fruchtbaren „Streit der Fakultäten“ ausgetragen haben, welcher nach wie vor systematische und sogar aktuelle ökumenische Relevanz hat.34 Schon in der klassischen Gotteslehre, etwa bei Thomas von Aquin oder Bonaventura, wird natürlich nicht im Traum daran gedacht, die Rede von Gottes Allmacht (omnipotentia ) als Willkürfreiheit zu bestimmen. Vielmehr hat die hochscholastische Theologie grundsätzlich zwischen der potestas absoluta und der potestas ordinata Dei unterschieden:35 Die potestas ordinata ist die in sich geordnete, sich selbst treu bleibende Machtvollkommenheit Gottes und gerade keine Willkür. Karl Barth hat an diese Debatten angeknüpft: „Es wäre der Besitz der Macht, unterschiedslos Alles zu tun, nicht eine Erweiterung, sondern eine Einschränkung, ja die Aufhebung seiner Macht.“36 Die potestas Dei lässt sich in der Weise als eine geordnete vorstellen, dass Gott, ohne dazu genötigt zu sein, also aus unbedingter und unvordenklicher Freiheit, sich auf die Beständigkeit und Unverbrüchlichkeit seines Bundes mit der Schöpfung und den Geschöpfen selbst festgelegt hat.37 Aus unbedingter Freiheit hat Gott sich darauf eingelassen und festgelegt, seinen Geschöpfen, auch wenn diese den angebotenen und gegebenen Bund zurückweisen oder verraten, gleichwohl die Treue zu halten. In diesem Sinn ist Gott vertrauenswürdig, das heißt treu, aber nicht unveränderlich. Deshalb hat Barth in seiner nur scheinbar spekulativen Gotteslehre von der Beständigkeit als dem entscheidenden Merkmal dieser Allmacht gesprochen. 34 Siehe besonders Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967; ders., Thomas von Aquin und die reformatorische Kritik an der Scholastik. Zur Geschichte und Wirkungsgeschichte eines Missverständnisses mit weltgeschichtlichen Folgen, Göttingen 1994. 35 Zu William von Ockham vgl. Klaus Bannach, Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei W. v. Ockham, Wiesbaden 1975; zu Thomas und Luther vgl. Hans Vorster, Das Freiheitsverständnis bei Thomas von Aquin und Martin Luther,

Göttingen 1965; zum spätmittelalterlichen Kontext Jan P. Beckmann, Allmacht, Freiheit und Vernunft. Zur Frage nach „rationalen Konstanten“ im Denken des Spätmittelalters, in: ders. u. a. (Hg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1987, 275–293. 36 KD II/1, 599,32 im Kontext von § 31.2: Gottes Beständigkeit und Allmacht, 551–685. 37 Es wäre eine eigene Darstellung wert, zu zeigen, wie sich Schellings Freiheitsverständnis und dessen Deutung bei Heidegger zu den scholastischen Überlieferungen verhalten.

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Lässt man sich darauf ein, Gott in dieser Perspektive zu denken, ergeben sich äußerst weitreichende Konsequenzen, nicht zuletzt für das Verständnis der Freiheit und der Ethik, welche hier knapp angedeutet werden sollen. Zuerst ist zu bedenken, dass sich das spezifisch neuzeitliche Problem des Verhältnisses Gottes zu den Naturgesetzen (mit der Zumutung eines sacrificium intellectus ) hier nicht stellt, also jene Auffassung vom sogenannten „Wunder“ als Ausdruck einer potestas extraordinaria Dei , welche gleichsam wie ein wilder Blitz unverhofft durch die Schöpfung fährt – woran der allgemeine Menschenverstand zurecht bis heute sich stößt.38 Eine zweite, für die Ethik wichtige Konsequenz besteht darin, dass Gott in dieser Perspektive „nicht in der Weise allmächtig (ist), dass dies die Selbständigkeit seiner Kreatur bedrohen und aufheben würde. Indem er Geist ist, ist er allmächtig in der Freiheit seiner Kreaturen.“39 „Dann“, sagt Barth, „stirbt das Problem der Konkurrenz.“40 Und diese These führt zur dritten Konsequenz, welche darin besteht, dass es zur potestas ordinata Dei unabdingbar gehört, dass Gott mit den Geschöpfen zusammenwirken will. Im Neuen Testament spricht Paulus explizit davon, dass Christen „Mitarbeiter Gottes“ seien (heou gar esmen sunergoi, 1Kor 3,9). In der kirchlich-theologischen Tradition begegnet dieser Gedanke, den meines Wissens niemals ein Philosoph – allenfalls Hegel – ernstlich gewürdigt hat, in der Rede vom sogenannten concursus Divinus beziehungsweise von der cooperatio Dei et hominis. In diesem zentralen Motiv stimmen die theologische Ethik Martin Luthers und das Freiheitsverständnis Calvins überein. Es geht um ein angemessenes Verständnis des Zusammenwirkens von Gott und Mensch, um das Problem und das richtige Verständnis des sogenannten „Synergismus“. Cooperatio meint hier nicht ein selbständiges Wirken und Vollbringen des ewigen Heiles eines Menschen durch ihn selbst, es handelt sich nicht um einen Akt der Selbsterlösung oder Selbstrechtfertigung, sondern es geht um das nachfolgende, aufmerksam auf die biblischen Überlieferungen und die Traditionen der Kirche hörende und praktisch antwortende Zeugnis, welches im freien Mit-Wirken am Schöpfungs-, Erhaltungs- und Erlösungswillen Gottes besteht. Das Werk des lebensfreundlichen Gottes soll mit Hilfe starker oder schwacher menschlicher Kräfte aus Freiheit weitergehen – das ist der Inbegriff theologischer Freiheits-Ethik. Warum sollten sich ein Philosoph oder eine Philosophin damit nicht befreunden können? Ich versuche, diese Auffassung vom schöpferischen Umgang mit geschenkter Freiheit41 am Beispiel des Schwangerschaftskonfliktes zu verdeutlichen:42 Es ist (1) ein überaus großes, ja wunderbares Geschenk des Schöpfers, menschliches Leben entstehen zu lassen und den Menschen die Freiheit zur Weitergabe des Lebens anzuver38 Ein theologisches Verstehen der „Wunder“ Gottes fragt hingegen nach den alltäglichen Enthüllungen und der Verborgenheit – kurz nach dem Geheimnis – der Gegenwart Gottes hier und jetzt. Dies ist auch der legitime Ort einer „natürlichen Theologie“ im Sinne der Lieder etwa Paul Gerhardts. 39 Karl Barth, KD II/1, § 31.2, 675,1.

40 Ebd. 41 Das Motiv findet sich ähnlich schon bei Ernst Wolf, Schöpferische Nachfolge? (1960), in: ders., Peregrinatio Bd. II, München 1965, 230–241. 42 Ich beziehe mich dabei implizit auf die entsprechende Passage bei Karl Barth, KD III/4, § 55.2, 473–484.

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trauen. Dabei gehört (2) zur geschöpflichen, das heißt von Gott gewollten und ermöglichten Freiheit einer schwangeren Frau (sodann auch und eingeschränkt ihres Partners), sich auch gegen diese Gabe entscheiden, also zu werdendem Leben Nein sagen zu können. Es ist hier übrigens (3) kein Verdienst eines Menschen vor Gott, (prinzipiell) nicht zu werdendem Leben Nein zu sagen oder gesagt zu haben (denn auch und gerade eine Frau, die werdendes Leben nicht anzunehmen vermag, fällt deshalb nicht aus dem Wirkbereich der Liebe Gottes, wie umgekehrt niemand, der einen Schwangerschaftsabbruch jederzeit und unter allen Umständen ablehnt, darum vor Gott ein besserer Mensch ist). Darum sage ich (4) nicht, es sei stets und in sich verwerflich, ein werdendes Leben nicht zum Leben kommen zu lassen, sondern ich frage nur, aus welchen Gründen die Bejahung des werdenden Lebens durch Gott – Gottes großes Ja zu allem Lebendigen – nicht angenommen und (in Freiheit!) beantwortet werden kann. Denn (5) wenn es wirklich im Gewissen unausweichlich bestimmende Gründe sind, die gegen werdendes Leben zu entscheiden bestimmen, dann ist auch das als eine menschliche Handlung aus geschenkter Freiheit anzunehmen. Es bleibt gleichwohl meistens (6) eine traurige Erfahrung, wenn in einem Schwangerschaftskonflikt Gottes Ja zum Leben nicht mit einem Ja des Menschen beantwortet werden kann, aber dies darf kein Anlass zu einer Verurteilung und Aufkündigung der Solidarität sein. Ich gehe einen Schritt weiter und sage (7), dass die Beendigung einer Schwangerschaft, als Folge einer unvertretbaren Gewissensentscheidung, nicht nur möglich und erlaubt, sondern sogar geboten sein kann, so dass von Schuld keine Rede sein darf. Widerspricht sich Gott dann selbst, der doch das Leben und die Freiheit geschenkt hat? Nein, denn Gott sollen wir uns nicht vorstellen als den Gefangenen seiner lebensfremden Prinzipien. Deshalb gehört zum evangelischen und insofern nicht gesetzlichen Gehorsam gegenüber Gottes Wort auch die je und dann notwendige Möglichkeit des Widerspruchs gegen den Wortlaut eines bestimmten Gebotes aufgrund des freien Gehorsams gegenüber dem lebendigen (und nicht ein für allemal schriftlich fixierten und gleichsam versteinerten) Willen Gottes. Theologische Ethik ist nichts anderes als der methodisch reflektierte Versuch, diese Art des Synergismus, der cooperatio Dei et hominis , das heißt die Praxis der Freiheit eines Christenmenschen inmitten von existenziellen und gesellschaftlichen Konflikten einzuüben. Eine evangelisch-theologische Ethik im hier vertretenen Verständnis nimmt also ihren Ausgangspunkt in einer ganz besonderen Wahrnehmung der Wirklichkeit aufgrund der biblisch bezeugten Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus. Dieser Ausgangspunkt ist nicht willkürlich oder irrational, sondern wird, im Vollzug der Rechenschaft über das biblisch bezeugte Evangelium, umfassend beschrieben, differenziert dargelegt, kritisch erläutert und zum Verstehen und Nachvollzug anderem Menschen mitgeteilt. Dieser Ausgangspunkt kann aber nicht wie die Wahrheit eines Naturgesetzes intersubjektiv zwingend aufgewiesen und demonstriert werden. Darum kann der Annahme dieses Ursprunges und kann dieser Sichtweise widersprochen und widerstanden werden. Mit der geschenkten Freiheit eines Christenmenschen ist es daher schlechterdings unvereinbar, diese Freiheit irgend jemand okt-

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royieren zu wollen. Wohl aber kann man diese Freiheit in einer einladenden Weise bezeugen, erläutern und – vor allem – leben. Davon handelt die materiale evangelische Ethik, die unter heutigen Bedingungen nur in ökumenischer Gesprächsbereitschaft entfaltet werden sollte. Zu dieser Entfaltung gehört unter neuzeitlichen Bedingungen unabdingbar und zentral die Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine spezifisch christlich-theologische Ethik sich zu sogenannten „säkularen“ Ethiken in ein Verhältnis setzen kann. Die Erörterung dieser Frage wird dazu Anlass geben, den spezifischen Charakter einer christlich-theologischen Ethik im Blick auf verschiedene Kontroverspunkte näher zu bestimmen (Teil II).

4.4 Menschliche Vernunft Die Vernunft ist in Fragen der Ethik das menschliche Vermögen der Kommunikation, der Regelfindung und der Gesetzgebung im Blick auf Natur, Sittlichkeit und Moral. Der Gebrauch der Vernunft kann von der Wirklichkeitswahrnehmung des christlichen Glaubens geprägt sein, aber er muss es nicht sein. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Als sterbliche, nachdenkende, fehlbare und freie Wesen können Menschen darauf nur provisorische, aus ihrer aktuellen Lage heraus zurück- und vorblickende, insofern gewagte und widerlegbare Stellungnahmen zu geben versuchen. Wenn Menschen über Ethos und Moral nachdenken, fragen und antworten, so setzen sie – zu allen Zeiten und in allen Kulturen der Welt – voraus, dass sie es mit Wesen zu tun haben, die in einer näher zu bestimmenden Weise über das Vermögen der Sprache und der Vernunft verfügen. In der Vorrede zu seiner Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)43 gibt Kant eine elementare Einteilung der Vernunfterkenntnis. Diese ist ihm zufolge entweder formal oder material, das heißt, sie betrifft 1) die Form des Verstandes oder der Vernunft oder 2) bestimmte Gegenstände und die Gesetze , denen diese unterliegen. Die formale Philosophie nennen wir Logik. Die materiale Philosophie ist wieder doppelt bestimmt: sie bezieht sich entweder 2a) auf Gesetze der Natur oder 2b) auf Gesetze der Freiheit. Erstere nennen wir Physik oder Naturlehre, letztere Ethik oder Sittenlehre. Diesem Aufriss liegt die Überzeugung zugrunde, dass es nur eine Vernunft ist, die die menschliche Erkenntnis der Natur wie der Sitten ermöglicht. Die eine Vernunft verfährt allerdings im Blick auf diese Gegenstandsbereiche auf unterschiedliche Weise. Diese Einsicht hat Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft (1781) ausgesprochen:

43 AA 4, 387, 8 (Hg. Weischedel, IV, 11).

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Teil I Grundlagen

Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besondern, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist; die der Sitten nur auf das, was da sein soll. (B 868)44

Im Architektonik-Kapitel der transzendentalen Methodenlehre am Ende der Kritik der reinen Vernunft skizziert Kant die Einheit der von ihm untersuchten Vernunft. Unter einer Architektonik versteht er „die Kunst der Systeme“; die Wissenschaft unterscheidet sich von mehr oder weniger zufällig gegliederten Sammlungen von Wissen dadurch, dass sie ihre Einheit im Vermögen der Vernunft hat. Kant sagt: „Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.“ (B 861)45 Den „Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ nennt Kant das „Ideal des höchsten Guts“. Auch wenn hier offen bleiben kann, was Kant damit genau gemeint hat, so ist festzuhalten, dass es ihm um die Einheit der Vernunft im Hinblick auf Natur und Freiheit geht, also im Blick einerseits auf (sinnlich erfahrbare) Erscheinungen dieser Welt und die ihnen zugrundeliegenden Strukturen, die in einem strengen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stehen, insofern einem bestimmten Determinismus unterliegen und in diesem Schema erkannt werden können, und andererseits im Blick auf das (unanschauliche, dem Bewusstsein erfahrbare) Vermögen der Freiheit, deren Betätigung zwar nicht jenseits jeder Ursachen-Verkettungen liegt, aber gleichwohl im Sinne der Fähigkeit, etwas von selbst und aus sich selbst anzufangen, nicht gut als ein faktisches Vermögen bestritten werden kann, worin immer Grund und Ursprung der Freiheit bestehen mögen.46 Mit drei Fragen bringt Kant das einheitliche – spekulative und praktische – Interesse der Vernunft zum Ausdruck:47 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Alle drei Fragen in ihrem Zusammenhang suchen die Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Damit ist ein denkbar weiter Horizont für eine Verständigung über Begriff und Aufgabe der Ethik vorgezeichnet. Es geht erstens immer um sachhaltiges Wissen und die selbst- und methodenkritische Frage nach den Bestimmungsgründen, den Verfahrensweisen, den Grundbegriffen und den Grenzen menschlichen Wissens. Es geht 44 AA 3, 543, 18–23 (Hg. Weischedel, II, 701). 45 AA 3, 538, 28 (Hg. Weischedel, II, 696). 46 Zu diesen elementaren Voraussetzungen Kants vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: ders./Walter Schulz/Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Hg.), Die Gegenwart der

Griechen im neueren Denken (FS Hans Georg Gadamer), Tübingen 1960, 77–115, wieder abgedruckt in: Gerold Prauss (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, 223–254. 47 KrV B 832 ff.

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zweitens um die Klärung der Gründe, Begründungen und Zwecke menschlichen Tuns (einschließlich des Handelns und Verhaltens in sozialen Interaktionen und unter Voraussetzung bestehender gesellschaftlicher Regeln und Rahmenbedingungen). Drittens geht es um die Klärung der Frage, inwiefern und woraufhin ich hoffen kann, aufgrund meines (regelgeleiteten und pflichtgemäßen) Tuns meiner Bestimmung als Mensch zu entsprechen.48 Viertens gehört es auch zum Vermögen einer selbstkritischen Vernunft, wenn sie nach der Bestimmung des Menschen fragt, auf den Bezug allen geschöpflichen Lebens zu seinem Schöpfer aufmerksam werden zu können. Kant hat seine drei großen Hauptwerke „Kritiken“ genannt, und Kritik bedeutet bei ihm das prüfende Unterscheiden zwischen dem, was ich gegenstands- und bereichsspezifisch mit Sicherheit wissen kann und was nicht. Hinsichtlich der Erscheinungen der Natur sind für jedes sichere Wissen (empirische) Anschauung und (theoretischer) Begriff erforderlich; ohne die sorgfältige Erforschung der empirischen Mannigfaltigkeit und Regelhaftigkeit und die Fähigkeit, das Mannigfaltige mittels klarer Begriffe, Kategorien, logischer Operationen und theoretischer Verknüpfungen gedanklich und systematisch zu erfassen und zu ordnen, ist keine Naturerkenntnis möglich. Hinsichtlich der Erscheinungen der Freiheit im Zusammenleben der Menschen ist ein genauso sicheres Wissen mit derselben kritischen Prüfung hingegen nicht möglich, weil hier Gesichtspunkte ins Spiel kommen, die über die reiche Mannigfaltigkeit der Anschauung des empirisch Gegebenen hinausgehen, ohne dass man deshalb schon sagen dürfte, derartiges „Überschießendes“49 sei bloß deshalb sinnlos und überflüssig, weil es uns nicht unter den Anschauungsformen von Raum und Zeit sinnlich gegeben ist. Zu diesen für das menschliche Freiheitsund Selbstverständnis überschießenden Gedanken gehören die, wie Kant deshalb sagt, Imperative der praktischen Vernunft sowie die dem Denken aufgegebenen Postulate hinsichtlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Auch wenn wir im Blick auf die menschliche Geschichte reichlich Anlass haben, an der Wirklichkeit des Vermögens der Freiheit und der Vernunft von Menschen zu zweifeln,50 ist es darum noch keineswegs ein leerer Gedanke, zu postulieren , dass den Menschen das Vermögen der Freiheit eigentümlich sei, selbst wenn sie davon tatsächlich wenig Gebrauch machen. Ein derartiges Postulat kann nicht in der gleichen Weise wie das Fallgesetz intersubjektiv zwingend dargelegt, empirisch getestet oder auch widerlegt werden; wohl aber kann gezeigt werden, was unter der Voraussetzung der Anerkennung ei48 Kant argumentiert so: Alles Hoffen zielt auf „Glückseligkeit“. Diese definiert er als „die Befriedigung aller unserer Neigungen“, welche wiederum zu unterscheiden ist nach Klugheitsregeln und Regeln der Sittlichkeit – erstere sind nur pragmatisch-empirisch, die letzteren hingegen abstrahieren von den Naturursachen und betrachten nur die Freiheit eines vernünftigen Wesens; ihnen geht es um die Prüfung der „Würdigkeit, glücklich zu sein“, also um die Übereinstim-

mung mit sich selbst im Hinblick auf das Postulat der Freiheit. 49 Vgl. Platons Formulierung von dem wahrhaft Guten an, welches noch über das Sein hinausgeht: epekeina tvß ousiaß (Pol. VI, 509b). 50 „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,/ Nur tierischer als jedes Tier zu sein“, lässt Goethe Mephisto zu Beginn des Faust sagen (Faust I, Prolog im Himmel, v. 285).

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Teil I Grundlagen

nes nicht-empirischen Postulats eben daraus praktisch folgt oder folgen kann, und welche Konsequenzen die Bestreitung des Vermögens der Freiheit nach sich ziehen muss.51 Kant war davon überzeugt, dass es die eine menschliche Vernunft ist, die sich in zu unterscheidenden Formen auf Natur und Freiheit bezieht. Im Blick auf diese eine Vernunft ist die Architektonik ihrer systematischen Einheit nur dann nachvollziehbar und mitteilbar, wenn man ihre unterschiedlichen Verfahrensweisen hinsichtlich verschiedener Gegenstände und Bereiche kennt. Das bedeutet zugleich, dass die Vernunft, deren Einheit Kant postuliert, sich keine „überschwenglichen“ Fragen und Postulate verbieten lassen muss, sofern sie diese nicht dort zur Geltung zu bringen versucht, wo diese nichts zu suchen haben – etwa die sogenannten göttlichen Wunder im Feld der kausal, nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeit determinierten Natur oder sogenannte „Schöpfungsordnungen“, welche bloß gesellschaftiche Konventionen zum Inhalt haben. Zweitens und vor allem bedeutet dies, dass bei Kant die Ethik beziehungsweise Praktische Philosophie nur als Teil seines gesamten Systems ihren angemessenen Ort und Stellenwert erkennen lässt. Sofern dieses System die Frage „was ist der Mensch?“ und die Frage nach Gott, welche voneinander nicht zu trennen sind, einschließt, gilt, dass die praktische Philosophie bei Kant in einer unlösbaren, allerdings spannungsreichen Beziehung zur Natur- und zur Religionsphilosophie steht.

51 Vgl. als frühes Beispiel für die Illusionsthese schon Arthur Schopenhauers Preisschrift über die Freiheit des Willens von 1839 sowie neuerdings

Barbara Guckes, Ist Freiheit eine Illusion?, Paderborn 2003.

Teil II Gegensätze Kontroversen und Konvergenzen ethischer Positionen

1. Konzeptionen philosophischer Ethik In den neuzeitlichen Ethik-Konzeptionen sind das antike und das mittelalterliche Erbe der traditionellen „philosophia moralis“ in vielfachen Gestalten, Brechungen und Erneuerungen wirksam. Die Rezeptionsprozesse sind kontextbedingter Ausdruck unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrungen. Starke, prägende Grundmuster, Motive und Argumentationen haben sich in vielfachen Abwandlungen durchgehalten. Der Pluralismus ethischer Konzeptionen war und ist unvermeidlich und legitim. Zu den bemerkenswerten Eigentümlichkeiten der in Europa entstandenen philosophischen Ethik-Konzeptionen gehört, dass sie sich immer wieder auf Einsichten und Entwürfe zurückbeziehen, die ihre Ursprünge in der antiken Philosophie haben.1 Ihre kulturellen und politischen geschichtlichen Wurzeln liegen somit in der antiken Polis, der römischen Republik und dem ihr folgenden Prinzipat und Kaiserreich. Die von Platon und Aristoteles geprägten Lehren und Überlieferungen haben ebenso wie die Ethik der stoischen Schule oder der Schule Epikurs über die Jahrhunderte hinweg immer neue Rückbesinnungen und Aktualisierungen ausgelöst. Das heißt aber nicht, dass es so etwas wie einen philosophischen Monopolanspruch in Fragen der Ethik jemals gegeben hätte. Die Ethik-Konzeptionen christlich-theologischer Prägung haben auf außerordentlich mannigfache Weise das antike philosophische Erbe aufgenommen.2 Die paganen und christlichen Schulen kombinierten die Überlieferungen auf vielfache Weise. Die heute als „klassisch“ geltenden Konzeptionen und Entwürfe sind durch die Jahrhunderte niemals in einer auch nur annähernd ähnlichen Weise wie in der Gegenwart Gegenstände historisch-exegetischer, philologischer und philosophischer Interpretationen geworden. Sie bildeten vielmehr den Grundstock einer teils umfassenden, teils sehr eingeschränkten Kommunikation 1 Zur antiken Philosophie siehe Albrecht Dihle, Art. Ethik, RAC 6, 646–796. 2 Siehe dazu Ekkehard Mühlenberg, Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen (AAWG.PH 3, 272), Göttingen 2006. Als berühmtes Beispiel vgl. Lactantius (ca. 250–325), den Cicero Christianus;

dazu Antonie Wlosok, Laktanz und die philosophische Gnosis, Heidelberg 1960; zu seiner Ethikkonzeption Wolfram Winger, Personalität durch Humanität. Das ethikgeschichtliche Profil christlicher Handlungslehre bei Lactanz. Denkhorizont – Textübersetzung – Interpretation – Wirkungsgeschichte, 2 Bd., Frankfurt a. M. u. a. 1999.

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Teil II Gegensätze

über Fragen der Moral und Sittlichkeit. „Eklektizismus“ scheint dabei kein Schimpfwort gewesen zu sein.3 In der populärphilosophischen Kommunikation über ethische Fragen wurde nicht mit dem Argument der philologisch textgenauen Exegese gearbeitet, sondern mit erzieherischen und rhetorischen Zielsetzungen, kombinatorischer Plausibilität und publizistischen Wirkungen. In diesem Kapitel soll keine Geschichte ethischer Konzeptionen gegeben werden4, sondern ich versuche, Konzeptionen der Ethik, die in der Neuzeit bis heute wichtig geworden sind, in ihren zentralen Auffassungen kurz vorzustellen und einige ihrer kontextuellen und strukturellen Merkmale herauszuarbeiten. Es geht um das charakteristische Profil. Ich typisiere und übertreibe mit Absicht. Dabei trenne ich zunächst nicht zwischen antiker und moderner Ethik, denn gerade die antiken Konzeptionen beziehungsweise wesentliche Teile von ihnen wurden in der Vergangenheit und werden in der Gegenwart vielfach neu aufgenommen und in Brechungen und Veränderungen den aktuellen Bedürfnissen und Fragestellungen anverwandelt.5 Jean-Claude Wolf6 und Julian Nida-Rümelin7 haben in ihren Überblicken zu den neueren Tendenzen philosophischer Ethik ebenfalls mehrere Grundtypen unterschieden;8 sie bestimmen und unterscheiden diese Typen freilich auf verschiedene Weise. Die neuzeitliche Ethik mit dem Utilitarismus und Kant beginnen zu lassen, ist dabei in mehrfacher Hinsicht sachgemäß, insbesondere deshalb, weil beide Konzeptionen starke Begründungen und Universalisierungsansprüche ohne theologische Rücksichten und Absicherungen vertreten. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass vor allem Entwürfe zu einer erneuerten Tugendethik wichtige Positionen antiker Ethik weiterführen, doch der moderne Utilitarismus kann genauso auf Vorbilder oder Vorläufer in der Antike verweisen. Ich stelle diesen Typen noch einige Bemerkungen zur Ethik in der europäischen Antike voran, die im dann folgenden Kapitel noch einmal unter anderer Fragestel3 Dieser Ausdruck wird in der Neuzeit vor allem kunsthistorisch auf Objekte angewendet, die Stilformen unterschiedlicher Herkunft auswählend kombinieren. In der Antike konnte man schon die Philosophie und besonders die philosophia moralis Ciceros „eklektisch“ nennen, greift er doch in seinen Dialogen immer wieder die schon vorhandenen moralphilosophischen Positionen abwägend auf. 4 Vgl. dazu Stephan H. Pfürtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte, 2 Bd., Stuttgart u. a. 1988; Jan Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 1991, 21999. 5 Vgl. Dorothea Frede, Die Aktualität der antiken Ethik, in: Glenn W. Most u. a. (Hg.), Philanthropia und Eusebeia (FS Albrecht Dihle), Göttingen 1993, 125–134. Dabei hatte die stoische philosophia moralis im alten Europa insofern gegenüber Platon und Aristoteles, jedenfalls in

deren originärer Gestalt, einen großen Platzvorteil, als sie in der (Kirchen-)Sprache Latein überliefert und gelehrt werden konnte. 6 Grundpositionen der neuzeitlichen Ethik, in: Heiner Hastedt/Ekkehard Martens (Hg.), Ethik, Ein Grundkurs, Reinbek 1994, 21996, 82–113. 7 Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: ders. (Hg.), Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, 2–85. 8 Utilitarismus, kantische (oder „kantianische“) Ethik, kontraktualistische Ethik, libertaristische (individualrechtliche) Ethik, Tugendethik. Eine andere Ordnung begegnet bei Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 25–242. Die Informationen zu den einzelnen Ethik-Konzeptionen sind instruktiv, aber die innere Systematik dieser Darstellung hat mich nicht überzeugt.

Konzeptionen philosophischer Ethik

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lung aufzunehmen sind. Bei den neuzeitlichen Konzeptionen werde ich bewusst schematisch jeweils (1) den historischen Ort des ursprünglichen Entwurfs, (2) die Grundannahmen, (3) die Leistungen, (4) die (mehr oder weniger verborgenen) Implikationen und (5) die heute aktuellen Stoßrichtungen bezeichnen, um kurz und knapp am Schluss (6) offene Fragen zu formulieren, welche sich aus der Sicht einer christlich-theologisch orientierten Ethik an den jeweiligen Entwurf nahelegen. Diese Rückfragen sollen zu weiteren Kontroversen anregen. Es geht also im folgenden nicht um historische Rekonstruktionen, sondern um Typenbildungen, um EthikKonzeptionen aus ganz unterschiedlichen Epochen unter bestimmten, heute wichtig erscheinenden Aspekten vergleichen zu können. Eine historisch-kritische Darstellung kann dadurch nicht ersetzt, wohl aber auf bestimmte, für die Gegenwart bedeutsame Aspekte konzentriert werden.

1.1 Platon und Aristoteles Aristoteles (384–322 v.Chr.),9 Schüler und Kollege Platons (427–347 v.Chr.), war der erste, der eine ethische Theorie vorgestellt hat, und zwar vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der athenischen Polis. Diese Form eines politischen Gemeinwesens stellte in der antiken Welt eine revolutionäre Konzeption und zugleich eine Realität dar.10 „Demokratie“ im heutigen Verständnis politischer Verfahren der Mehrheitsbildung und -entscheidung ist dafür kein zureichendes Etikett. Es ging und geht im Kern darum, dass das Zusammenleben in der politischen Bürgergesellschaft,11 der „Polis“, gemeinschaftlich so geregelt wird oder geregelt sein soll, dass nicht Menschen, sondern letztlich Gesetze (Nomoi) herrschen,12 d. h. dass alle menschliche Entscheidungsmacht, Verfügungsberechtigung, Herrschaftsausübung und Rechtsprechung regelgebunden sind oder idealiter sein sollen, d. h. letztlich darauf beruhen, dass die Regelunterworfenen über die Regelsetzung und die Befugnis, Regeln zu setzen, selbst – gemeinschaftlich – entscheiden. Dass davon nicht nur in der antiken Welt Sklaven, Zugewanderte oder Frauen zunächst ausgeschlossen waren, ändert nichts an der Größe dieses Ansatzes, begrenzte aber vielfach seine Tragweite. Die athenische Polis hat in der Vermittlung durch die Lehren von Platon,13 Aristoteles,14 der Stoa15 und weiterer Philosophenschulen16 das europäische Nachden9 Zur Einführung: Olof Gigon, Art. Aristoteles, TRE 3, 1978, 726–768. 10 Zu ihrer Genese siehe Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980; zu ihrer geschichtlichen Gestalt Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn 1985, 41995. 11 Zur näheren Erläuterung dieser Terminologie siehe meine Beiträge in: Christine LienemannPerrin/Wolfgang Lienemann (Hg.), Kirche und

Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart u. a. 2006. 12 Vgl. Okko Behrends/Wolfgang Sellert (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, Göttingen 1995. 13 Siehe Ada Neschke-Hentschke, Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts. Essai zur Archäologie der Menschenrechte, in: Enno Rudolph (Hg.), Polis und Kosmos. Naturphiloso-

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ken über menschliches Handeln im Kontext überindividueller Institutionen bis auf den heutigen Tag geprägt (teilweise in charakteristischem Unterschied zu den hebräischen Anschauungen des gemeinschaftlichen, organisierten Handelns). Die bei den Griechen ausgebildete Unterscheidung dreier grundlegender Lebensformen, der hervorbringenden (produzierenden), praktischen (politisch gestaltenden) und theoretischen (philosophisch betrachtenden) Lebensweise17, hat die europäischen Unterscheidungen von Theorie und Praxis sowie von vita activa/vita contemplativa hervorgebracht, die nicht zuletzt für die Soziallehren im christlichen Kontext bedeutsam waren und sind. Die Analogie des Aufbaus der Polis und der (individuellen) Seele in antiken Konzeptionen bildet nicht nur das Vorbild der mittelalterlichen und reformatorischen Drei-Stände-Lehre, sondern wirkt weiter bis hin zu modernen Institutionentheorien.18 Selbst systemtheoretische Modelle funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung, die den Unterschied zu allen älteren Gesellschaftsformen betonen, können sich derartigen Wahrnehmungs- und Denkmustern nicht völlig entziehen.19 Im Zentrum der Polis-Ethik stand die Ausprägung von Vollkommenheiten des Verhaltens (Tugenden) nach Maßgabe der Erfordernisse eines polis-orientierten (gemeinschaftsorientierten) „guten Lebens“. Dabei war es für phie und politische Philosophie bei Platon, Darmstadt 1996, 55–73; eingehend dies., Platonism politique et théorie du droit naturel. Contributions à une archéologie de la culture politique européenne, 2 Bd., Louvain/Paris 1995/ 2001. 14 Vgl. Günther Bien, Die Wirkungsgeschichte der Aristotelischen „Politik“. Ein Problemaufriß, in: Aristoteles’ „Politik“. Akten des XI. Symposium Aristotelicum Friedrichshafen/Bodensee 25.8.–3.9.1987, hg. v. Günther Patzig, Göttingen 1990, 324–356; Christoph Horn/Ada NeschkeHentschke (Hg.), Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen „Politik“ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 2008. 15 Siehe als instruktives Beispiel Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des CalvinSchülers Lambertus Danaeus, Berlin/New York 1996. 16 Siehe dazu Michael Erler/Andreas Graeser (Hg.), Philosophen des Altertums, 2 Bd., Darmstadt 2000; Therese Fuhrer/Michael Erler (Hg.), Zur Rezeption der hellenistischen Ethik in der Philosophie der Spätantike, Stuttgart 1999. Knappe Überblicke bieten Richard Parry, Ancient Ethical Theory, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/ethics-an-

cient), sowie Gisela Striker, Greek Ethics and Moral Theory (Tanner Lectures 1987; im Internet unter: http://www.tannerlectures.utah.edu/lectures/documents/Striker88.pdf: 14.04.2008). 17 Siehe dazu Georg Picht, Der Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der Neuzeit, in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969, 108–140; ders., Die Dialektik von Theorie und Praxis und der Glauben, in: ders., Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Stuttgart 1980, 182–201. 18 Vgl. Martin Honecker, Von der Dreiständelehre zur Bereichsethik. Zu den Grundlagen der Sozialethik (1999), in: ders., Wege evangelischer Ethik. Positionen und Kontexte, Freiburg i.Ue. u. a. 2002, 219–234. Für Martin Luther war die Lehre von den drei von Gott „gestifteten“ Ständen (status oeconomicus, politicus, ecclesiasticus) oder Ordnungen (ordines) weit wichtiger als die sogenannte „Zwei-Reiche-Lehre“, die als terminus technicus erst ein Kind des 20. Jh. ist. Vgl. dazu Oswald Bayer, Natur und Institution. Luthers Dreiständelehre (1984), in: ders., Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 116–146. 19 Siehe als Beispiel das Kapitel über „Organisation und Gesellschaft“ in: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a. M., 826–847.

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Platon und Aristoteles eine prägende Grunderfahrung, dass politische Institutionen und Entscheidungen fehlgehen können – sie analysierten die Politik angesichts der aktuellen Erfahrungen und Bedingungen von politischen Bedrohungen und Katastrophen und, besonders Aristoteles, im Blick auf empirische Vergleichsmöglichkeiten. Platon20 und Aristoteles21 entwarfen eine Ethik (eine Theorie des gelingenden Zusammenlebens und Entscheidens von Menschen), die dazu taugen soll, menschliche Handlungsorientierung zu ermöglichen, welche wiederum – eine vernünftige, überlebensfähige Ordnung des Gemeinwesens gewährleistet, – die dazu erforderlichen individuellen Einstellungen, Motivationen, Dispositionen und Fähigkeiten darstellt, – ihrerseits verankert ist in einer kohärenten Auffassung des Menschen als einem sozialen, sprachbegabten, strebenden, kommunikations- und vernunftfähigen Wesen, – Regeln und Kriterien des gemeinschaftsbezogenen Handelns und Verhaltens, insbesondere eine Theorie des Rechtes und der Gerechtigkeit entwickelt. Die Basisannahmen dieser Ethikkonzeption umfassen die folgenden theoretischen Ebenen: Handlungstheorie Alle Menschen handeln nach Maßgabe der erstrebten Ziele mit den ihnen zugänglichen, geeigneten (oder auch ungeeigneten) Mitteln. Wer handelt, erstrebt einen Zweck, und zwar etwas, was jemand für gut, d. h. erstrebenswert hält. Menschen sind diejenigen Naturwesen, welche in der Lage sind, nach einem gedanklich entworfenen Vorsatz (Plan) gestaltend zu handeln und dabei unter verschiedenen Möglichkeiten eine oder mehrere bestimmte Optionen aufgrund vernünftiger Erwägungen auszuzeichnen und gezielt anzustreben. Die Prämissen schon dieser antiken Konzeption sind also, wie im I. Teil dieses Buches näher erläutert, die Annahmen des Vermögens der (bedingten) Freiheit und der geschichtlich entwickelten Vernunft beziehungsweise Urteilsfähigkeit von Menschen.

20 Sicher ist die Schrift Politeia dafür grundlegend, aber bei Platon muss man die einschlägigen Äußerungen zur Ethik – der Terminus scheint bei Platon selbst noch nicht zu begegnen – aus der Gesamtheit seiner Schriften erheben; neben der Politeia ist dafür das Spätwerk über die Nomoi zentral, aber nicht singulär; siehe näher Terence Irwin, Plato’s Ethics, Oxford 1995; Julia Annas, Platonic Ethics. Old and New, Ithaca, NY 1999; sowie die einschlägigen Beiträge in: Hugh H.

Benson (Hg.), A Companion to Plato, Oxford 2006, 323–387. 21 Grundlegende Schriften des Aristoteles: Nikomachische Ethik (NE); Eudemische Ethik (EE); Politik (Pol); Ökonomik (Teil der Politik); Staat der Athener; Magna Moralia (Zuweisung umstritten). Näheres bei Gigon, a. a. O., sowie Richard Kraut, Aristotle’s Ethics, Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/ entries/aristotle-ethics).

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Gütertheorie Menschen erstreben handelnd Zwecke, Ziele und Güter. Sie verwirklichen damit ihre Möglichkeiten. Sie tun das in der Weise, dass sie (wenigstens der Möglichkeit nach) ihre Vorstellungen von einem „guten Leben“, von der „Eudaimonia“, dem „Glück“ (unter Berücksichtigung ihrer individuellen und kollektiven Bedürfnisse) verwirklichen. Sozialisationstheorie Menschen handeln nie bloß individuell für sich allein, sondern immer auch gemeinschaftlich, und zwar im Kontext einer Gemeinschaft, die eine erinnerte Geschichte hat. Indem sie sich an anderen und deren Erwartungen und Erwartungserwartungen orientieren, stehen sie immer schon in sozialen Interaktionen. Diese Interaktionen sind unterschiedlicher Art; im Sinne der erwähnten grundlegenden drei Lebensformen lassen sie sich unterscheiden als instrumentell-technische, politisch-praktische und theoretische Weisen der Kommunikation.22 Interaktionen sind in allen Formen symbolisch (vor allem: sprachlich) vermittelt. Je nach der Klassenlage, Lebensweise und Kultur, denen Menschen in besonderer Weise zugehörig sind, erfolgt ihre besondere Entwicklung, Bildung und Ausbildung in diesen drei Lebensformen. Institutionentheorie Menschen handeln zielstrebig unter den Bedingungen schon bestehender, relativ stabiler, aber veränderbarer Ordnungen (Institutionen). Institutionen sind strukturell stabile und zugleich variable Ergebnisse von teils vorweg strukturierten Prozessen und teils freien, koordinierten (zumindest koordinationsfähigen) sinnhaften Interaktionen von Menschen. Diese Ordnungen sind einerseits in unterschiedlichen Grundformen und kulturellen Ausprägungen vorgegeben, andererseits in historisch variablen Grenzen Objekt zielgerichteter, vor allem: politisch-praktischer Interaktionen und Einwirkungen.23 Institutionen sowohl zu erhalten wie (womöglich zielge22 Jürgen Habermas (siehe unten, Abschnitt 1.6) operierte anfangs meist mit den Dualen von Theorie und Praxis, Arbeit und Interaktion, instrumentellem und kommunikativem Handeln, später eher mit einer Dreiteilung von sozialem Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation; siehe: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 1, 367–452, sowie ders., Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns (1982), in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, 571–606. Habermas’ Trias ist allerdings nicht mit der hier vertretenen Dreiteilung deckungsgleich. 23 Die evangelische Ethik hat im 20. Jh. in allmählicher Ablösung von der problematischen und vielfach ideologisch missbrauchten Rede von „Schöpfungsordnungen“ mit Hilfe des den So-

zialwissenschaften und dem weltlichen wie kirchlichen Recht entlehnten Begriffs der Institution versucht, elementare Beziehungs- und Gemeinschaftsformen zu bestimmen (vor allem: Arbeit, Eigentum, Ehe, Staat, Kirche), die als Ausdruck universaler anthropologischer Grundgegebenheiten verstanden werden. Problematisch ist daran vor allem die Tendenz zu einer theologisch-normativen Legitimation bestimmter geschichtlich entstandener Strukturen, unerachtet des gesellschaftlichen Wandels. Siehe dazu näher Gert Ulrich Brinkmann, Theologische Institutionenethik. Ernst Wolfs Beitrag zur Institutionendiskussion in der evangelischen Kirche nach 1945, Neukirchen 1997; Hans-Richard Reuter, Art. Institution, Evangelisches Staatslexikon (Neuausgabe), Stuttgart 2006, 1009–1014.

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richtet) zu verändern, erfordert kontinuierliche Aufmerksamkeit, Problemsensibilität und Handlungskompetenz der Personen, die in, mit und durch Institutionen zu wirken versuchen. Anthropologische Theorie Dem gesamten Aufriss griechischer Ethik liegt die Annahme des Menschen als eines politischen, vernunftbegabten, konflikt- und gewaltfähigen, symbolisch (sprachlich) kommunizierenden, (mehr oder weniger) zurechnungsfähigen Wesens zugrunde. Gerechtigkeitstheorie Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit zielt darauf, ob es angesichts der ambivalenten menschlichen Möglichkeiten von Konflikt und Kooperation, Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht, Freiheit und Unterdrückung, Bedürfnisbefriedigung und Not eine oder mehrere Grundregeln (basale, unverzichtbare Normen) gibt oder geben sollte, auf die sich Menschen aufgrund vernünftiger Einsicht und entsprechender Willensakte verständigen können, so dass ihnen allgemeine Geltung zukommen muss. Man kennt das Sinnbild der Gerechtigkeit, dargestellt als Göttin Iustitia : mit der Waage dem gerechten Tausch verpflichtet, mit dem Schwert diejenigen strafend, die die Grundnormen verletzten, und mit der Binde vor den Augen, das heißt ohne Ansehen der Person handelnd. Die Gerechtigkeitstheorien von Platon und Aristoteles und die Bestimmungen der Tora stehen am Anfang europäischen Rechtsdenkens. An ihnen kommt niemand vorbei, der nach einer modernen Ethik im Horizont der Weltgesellschaft fragt.24 Tugendlehre Damit Menschen Güter erfolgreich erstreben, die ihnen entsprechende Lebensweise ausüben können, die unabdingbaren, gemeinschaftlichen Regeln erkennen, anwenden und einhalten können und regelorientiert, fair und verständigungsbereit mit einander umgehen können, müssen sie die entsprechenden Verhaltensweisen, Handlungsfähigkeiten und Willensausrichtungen entwickeln, entfalten und stetig üben. Diese in Bildungsprozessen entstehende individuelle und zugleich gemeinschaftsbezogene Disposition bilden die Tugenden, hinsichtlich derer die antike Philosophie vier Kardinaltugenden unterschieden hat: Tapferkeit, Mäßigung, Weisheit, Gerechtigkeit (fortitudo, temperantia , prudentia/sapientia , iustitia ; andreia, swfrosunv, sofia, dikaiosunv).25 24 Zur Wirkungsgeschichte vgl. Christoph Horn/Nico Scarano (Hg.), Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2002. 25 Diese Vierteilung ist in Europa weithin rezipiert worden, es begegnen aber auch, schon bei Aristoteles, andere Einteilungen. Asiatische Tugendkonzeptionen, z. B. im Konfuzianismus und Hinduismus, bieten oft eine Fünfteilung. Wohl

die wichtigste kultur- und sprachübergreifende Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich um schlechthin vorziehenswürdige Merkmale der inneren Haltung und des Wissens einerseits, der äußeren Handlungsorientierung und Handlungsfreiheit andererseits handelt. Aristoteles sprach hier von „dianoetischen“ und „ethischen“ Tugenden. Weiterführende Lit.: Roger Crisp/Michael Slote (Hg.), Virtue Ethics, Oxford 1997; Stephen

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Antike Ethiken wie die platonische oder aristotelische Ethik kann man nicht reduzieren auf eine Theorie des „guten Lebens“ oder eine Tugendethik, womöglich im Gegensatz zu einer Gerechtigkeitsethik, auch nicht auf eine Theorie der gegliederten Polis, auch nicht auf eine Glückseligkeits- oder Güterethik. Sie bieten in je besonderen Gestalten eine integrative Ethik, die alle genannten Dimensionen vereint. Allerdings gibt es unterschiedliche Akzentuierungen bei Platon und Aristoteles; ich hebe wenige hervor: – Platons Ethik ist in dem Sinne aristokratisch, dass sie ihren Ausgang bei den überindividuellen, institutionellen Funktionsbedingungen der Polis nimmt und die interne Polisgliederung davon abhängig macht, wer wie zur Erhaltung der Polis in der Zeit beizutragen vermag. – Aristoteles’ Ethik ist in dem Sinne Tugendethik zu nennen, als sie die individuelle Bildsamkeit, die Ausprägung von in der Zeit stabilen Haltungen und Einstellungen und das Recht der Menschen auf Glücksstreben betont. – Für Platon ist der Inbegriff des „guten Lebens“ (eu zvn, bene vivere ) das polisdienliche Leben; für Aristoteles eher das individuell tugendhafte Leben. – Für beide sind individuelle Ansprüche, Ziele und Handlungszwecke den Erhaltungsbedingungen der Polis – also dem Gemeinschaftshandeln – in unterschiedlicher Weise untergeordnet.

1.2 Kants Ethik Kants praktische Philosophie oder Ethik, die im Laufe einer langen Rezeptionsgeschichte sehr unterschiedliche und teilweise unvereinbare Interpretationen erfahren hat, ist unlösbar mit seinem Gesamtwerk als einem umfassenden, neuen Entwurf der kritischen Philosophie verbunden.26 Deshalb kann seine Ethik grundsätzlich Darwall (Hg.), Virtue Ethics, Oxford 2003; Klaus Peter Rippe/Peter Schaber (Hg.), Tugendethik, Stuttgart 1998. 26 Knappe Einführung: Klaus Steigleder, Kant, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 128–139. Wegweisende Beiträge stammen von Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, PhR 1954/55, 20–38; Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken (FS Hans.Georg Gadamer), Tübingen 1960, 77–115; Über Kants früheste Ethik, Kantstudien 54, 1963, 404– 431; Die Deduktion des Sittengesetzes, in: Alexander Schwan (Hg.), Denken im Schatten des Nihilismus (FS Wilhelm Weischedel), Darmstadt 1975, 55–112; Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus,

in: Paulus Engelhardt (Hg.), Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, 350–386; Ethik der Autonomie (1963), in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, 6–56. Aus der neueren Literatur hebe ich hervor: Marcus Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart 1992; Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. Critical Essays, Lanham, MD 1997; Allen Wood, Kant’s Ethical Thought, Cambridge, MA 1999; Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre für die Gegenwart, Stuttgart/Bad Cannstatt 2004; Jochen Bojanowski, Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/New York 2006; Jens Timmerman, Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals: A Commentary, Cambridge, MA 2007; Monika Betzler (Hg.),

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nur aus einem Verständnis der Architektur des Systems insgesamt angemessen erfasst und entwickelt werden. Dazu muss man bedenken, dass Kant der antiken Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik folgt, dass er aber zugleich versucht hat, ein neues, sicheres Fundament für die Philosophie zu gewinnen und dass er sein Gesamtkonzept als eine umfassende Natur-, Rechts- und Religionsphilosophie entworfen hat. Dabei kamen im Laufe der Jahre unterschiedliche Ethik-Traditionen und -Rezeptionen ins Spiel. Überdies geht Kants Ethik insgesamt nicht in seiner Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS 1785) auf, sondern diese Grundlegung verweist voraus auf die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und ist auf die Entfaltung durch die Moral- und Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (1797/98) und die Ergänzungen durch Geschichtsphilosophie und Anthropologie angelegt und ausgerichtet. 1.2.1 Der geschichtliche Ort der Ethik Kants ist durch die philosophischen Herausforderungen, denen er sich gegenübersah, einerseits, durch die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen seiner Zeit andererseits bestimmt. Kant war vertraut mit der englischen und französischen Sozialphilosophie der frühen Neuzeit; sein Schüler Garve hat die erste deutsche Übersetzung von Adam Smith besorgt. Hobbes’ politische Physik und seine Lehre von der Notwendigkeit eines das Überleben sichernden Sozialvertrages als eines Unterwerfungsvertrages war ihm ebenso geläufig wie Rousseaus Problemstellung des Contrat social. Doch war es Kants Bestreben, das Fundament der Ethik gleichsam tiefer zu legen, also Prinzipien zu gewinnen, die man nicht zurückweisen kann, wenn man nur bei Verstand ist. In drei Argumentationsstufen hat er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten diese Begründungsleistung zu liefern versucht und dabei, durchaus in Aufnahme des „gemeinen Menschenverstandes“ und seiner Goldenen Regel, mit den Formulierungen des Kategorischen Imperativs27 ein fundamentum inconcussum nicht der alltäglichen Lebensführung, wohl aber zur Prüfung verschiedener Weisen moralischen Existierens und sittlicher Handlungen geliefert. Historisch hat Kant seine Ethik in größter Nachbarschaft zur Französischen Revolution entwickelt. Er wollte in ethischer Hinsicht Preußen gleichsam an die Spitze Kant’s Ethics of Virtue, Berlin/New York 2008; Robert Johnson, Kant’s Moral Philosophy (The Stanford Encyclopedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/kant-moral). Zu Kants Verhältnis zur antiken Philosophie siehe Ulrike Santozki, Die Bedeutung antiker Theorien für Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken, Berlin/New York 2006; speziell zur Ethik siehe Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen (1935); in: ders., Gesammelte Schriften. Mit Einleitung und Annotationen aus dem Nachlaß herausgegeben von

Manfred Baum, Udo Rameil, Klaus Reisinger und Gertrud Scholz, Hamburg 2001, 113–146. 27 Siehe Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 2 1983, S. 148–171; Guyer, a. a. O., 215–246; Thomas Pogge, The Categorical Imperative, in: Otfried Höffe (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M. 21993, 172–193; Annemarie Pieper, Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, ebd., 264–281.

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der politischen Modernität heranführen und zugleich die Perversion der Revolution in Terror und Gewalt ein- für allemal philosophisch zu verhindern versuchen, indem er einen Rechtsbegriff entwickelte, der die Institution des Rechts als solche gegenüber den tatsächlichen Inhabern der Rechtsgewalt herausarbeitet und an die Spitze stellt. Man kann zeigen, dass Kant mit der Einsicht in die Notwendigkeit, dass Recht und Gesetze – und nicht Menschen – herrschen sollen, die Grundlagen der Rechtsethik Martin Luthers aufnimmt und weiterführt.28 1.2.2 Die Grundfrage der Ethik Kants zielt auf die Aufsuchung eines höchsten Prinzips aller Moralität. Er setzt dabei voraus, dass Menschen soziale Wesen sind, die (in der Natur) gar nicht anders überleben können, als dass sie ihre Bestrebungen und Handlungen auf irgendeine Art (mehr oder weniger) verlässlich koordinieren, dass sie dabei zwischen unterschiedlichen Handlungsweisen wählen können, also ein zurechenbares Vermögen der Willensfreiheit haben, dass sie in der Lage sind, von ihrer Vernunft im Sinne logisch nachvollziehbarer gedanklicher Operationen Gebrauch zu machen, und dass sie willens und fähig sind, danach zu fragen, nach welchen allgemeinen Regeln ihr Zusammenleben organisiert werden kann und wie solche Regeln gefunden und gerechtfertigt werden können. Kant sucht nach allgemeinen Regeln und Maximen. Er findet sie nicht im Glücksstreben (im Unterschied zu Aristoteles), nicht in der persönlichen Freiheit und Entfaltung, nicht in Sicherheit und Reichtum einer politisch verfassten, staatlichen Gesellschaft, nicht im individuellen oder gemeinschaftlichen Wohlergehen. Wirklich „gut“ genannt werden können nur Maximen, die wir uns selbst aufgrund unserer Vernunftnatur auferlegen. Unter einer Maxime versteht Kant das „subjektive Prinzip des Wollens“.29 Er schreibt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“30 Der Wille ist das Vermögen der Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung; im Unterschied zum äußerlichen Unterworfensein unter öffentliche staatliche Gesetze kann der Wille, der sich selbst Maximen setzt, nicht gezwungen werden – zum Beispiel die Maxime, keinen anderen Menschen jemals nur als Mittel zu eigenen Zwecken anzusehen und zu gebrauchen. In Anlehnung an ein Jesuswort (Mt 11,29 f) nennt Kant das selbstauferlegte Joch der Vernunft ein leichtes Joch.31 Die Läuterung des eigenen Willens von allen eigenwilligen und eigensüchtigen Bestimmungen mit dem Zweck, die allgemeinen Verwirklichungsbedingungen für die Glückseligkeit aller Menschen zu finden, ist das Telos 28 Für Luther war die Einsicht grundlegend, dass niemand in eigener Sache Richter sein könne. Nur unter dieser Maxime werden seine Aussagen im Bauernkrieg und gegen Müntzer verständlich. Zum Verhältnis Kant – Luther nach wie vor instruktiv: Julius Ebbinghaus, Luther und Kant (1927), in: ders., Interpretation und Kritik.

Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, Bonn 1990, 39–75. 29 GMS, BA 15. 30 GMS, BA 1. 31 KpV, A 151.

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der Kantischen Ethik. Insofern kann man sie unmittelbar deontologisch, mittelbar eudaimonistisch nennen. 1.2.3 Kant hat für jede mögliche Ethik Grundlagen geschaffen, die man nicht mehr außer acht lassen sollte: Erstens hat er das Prinzip der Verallgemeinerungsfähigkeit ethischer Grundsätze als Aufgabe der gemeinsamen Vernunft aller Menschen exponiert. Insofern ist er nicht bloß der Philosoph der Aufklärung, der legitime Erbe Rousseaus und der Zeitgenosse der Französischen Revolution, sondern seine Ethik erschließt die notwendigen moralischen und rechtlichen Bedingungen eines friedlichen Zusammenlebens in der Weltgesellschaft. Zweitens hat Kant mit dem Kategorischen Imperativ nicht nur ein allgemeines Prüfungsverfahren für die vernünftige Begründung und freiwillentliche Begrenzung der Betätigung menschlicher Freiheit vorgestellt, also ein Prüfverfahren für die Gewinnung allgemein verbindlicher moralischer und rechtlicher Gesetze, sondern damit zugleich ein Mittel individueller Gewissensprüfung und moralischer Selbstaufklärung an die Hand gegeben. Drittens hat Kant wie niemand vor ihm zwischen der Aufgabe der intersubjektiven Moralbegründung im Blick auf sichtbare und zurechenbare Handlungen und Unterlassungen einerseits, im Blick auf die „Innendimension“ des menschlichen moralischen Bewusstseins andererseits unterschieden; ohne die damit angelegte rechtsethisch fundamentale Unterscheidung und Zuordnung von Legalität und Moralität ist der Schutz der Freiheit in der Gesellschaft nicht möglich. 1.2.4 Die Kantische Ethik zeichnet sich teilweise durch einen nicht zu bestreitenden Formalismus aus. Der Kategorische Imperativ ist die Formulierung und Begründung eines universalen, das heißt kultur- und situationsunspezifischen Prüfungskriterium dessen, was man „gut“ nennen kann. Diese Ethik setzt zwar einen grundsätzlichen anthropologischen Individualismus voraus, also insofern doch ein geschichtlich geprägtes Menschenbild, aber nicht im Sinne eines dogmatistisch in Anschlag gebrachten anthropologischen Solipsismus oder Egoismus, sondern lediglich als (moralische) Minimalbedingung universalisierbarer Geltungsansprüche für sittliche Regeln. Der methodische Individualismus der Kantischen Ethik in der Begründungsdimension ist insofern sehr wohl vereinbar mit weitergehenden, freiwillig zu bejahenden Bindungen und Pflichten sozialer Art, und zwar nicht nur im Sinne eines allseitigen Kontraktualismus, sondern sogar im Sinne freier opera supererogatoria. Diese Ethik enthält zudem neben einer Rechtsethik eine durchgehend komplementäre, wenngleich (natürlich) nicht erzwingbare Tugendethik. Die Kantische Ethik fordert nicht, aber sie erlaubt und begünstigt eine kommunitäre, sozial ausgerichtete Ordnung der Gesellschaft, ohne diese zur universalen Norm zu machen oder in konkreten inhaltlichen Forderungen detailliert zu fixieren. Kants EthikGrundlegung ist vielmehr angelegt auf und offen für Anwendungsdiskurse, ja geradezu durch pragmatische Regeln mittlerer Reichweite zum Vernunft- und Freiheitsgebrauch zu ergänzen. Historisch-politisch ist die Ethik Kants angelegt auf Gesellschaften, die zu geordneter, freiheitlicher Selbsttransformation fähig sind, insofern

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deren Mitglieder soziale, wirtschaftliche und politische Reformen nach allgemeinen Prinzipien und unter freier Zustimmung der Beteiligten zu verwirklichen suchen.32 Kants ethischer „Republikanismus“ ist auf Rechtsstaatlichkeit und (freilich deutlich weniger) repräsentative Demokratie bezogen – für diese zumindest offen,33 während jener prinzipiell unabdingbar ist. 1.2.5 Kants Ethik ist darin modern, dass sie ein Prüfungsverfahren zur Gewinnung unversalisierbarer ethischer Prinzipien für jede rechtlich geordnete und der Selbstransformation bedürftige und fähige Gesellschaft an die Hand gibt. In Verbindung mit der globalen Ausrichtung enthält Kants Ethik die Grundlagen eines „Weltethos“, welches nicht dazu nötigt, kulturelle Besonderheiten zu nivellieren. Im Unterschied zu den auf Kant folgenden ethischen Entwürfen des 19. und 20. Jahrhunderts ist sein Konzept vielleicht das einzige, welches von jedem bornierten Nationalismus in Ansatz und Durchführung vollkommen frei ist. Insofern ist auch Kants Friedensethik vermutlich orientierungskräftiger und für die Gegenwart leichter fruchtbar zu machen als alle anderen philosophischen Grundlegungen einer globalen Völkerrechtsordnung.34 1.2.6 Kants Ethik ist zugeschnitten auf eine relativ statische Wirtschaftsordnung mit überschaubaren Verhältnissen, auf Menschen, welche aufgrund bestimmter Bildungsprozesse in der Lage und Willens sind, überindividuellen und nicht bloß nutzenorientierten Prinzipien zu folgen, auf eine Gestalt des politischen Systems, in welchem diejenigen, die politische Herrschaft ausüben, sich als „Diener“ (minister ) des Gemeinwesens verstehen, auf ein Wechselverhältnis von Kirche und Staat, in welchem die kirchliche Bildung eine Moral der bürgerlichen Rechtschaffenheit fördert. Anders gesagt: Kants Ethik steht, um praktisch werden zu können, in engster, unauflöslicher Verbindung mit der individuellen und sozialen Anerkennung und Ausübung von Bürgertugenden. Kants Ethik ist in einem genuinen und heute fast nicht mehr nachvollziehbaren Sinne „preußisch“. Auf der anderen Seite ist Kants Ethik langfristig unvereinbar mit einer Gesellschaft, die soziale Gegensätze in sich verschärfender Weise reproduziert, die sich ein unbegrenztes Aneignungsrecht auf alle „Sachen“ vindiziert, in der egoistische Nutzenmaximierung als Tugend gilt und moralische „Trittbrettfahrerei“ an der Tagesordnung ist. Anders gesagt: Kants Ethik impliziert eine Art „kosmopolitisches, moralisches Universum“ und repräsentiert 32 Vgl. Claudia Langer, Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, Stuttgart 1986. 33 Man muss hier im Blick auf Kants Ablehnung der Demokratie, jedenfalls wie dies auf den ersten Blick erscheint, differenzieren. Kant geht es um die republikanische Verfassung im Sinne des Rechtsstaates (Volkssouveränität, Verfassung, Gewaltenteilung) im Rahmen eines anzustrebenden

Völkerbundes und unter Garantie des Schutzes individueller Rechte. Die Demokratie als Herrschaftsform lehnt er hingegen dann ab, wenn dies zur Herrrschaft des Pöbels oder, wie Luther sagte, des „Herrn Omnes“ führen würde. 34 Siehe Dieter Hüning/Burkhard Tuschling (Hg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, Berlin 1998.

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damit das Bürgertum in seinem Kampf um Emanzipation in jeder Hinsicht. Wenn es jedoch keine Bürgerinnen und Bürger und kein Bewusstsein für die Pflichten eines/einer citoyen/ne mehr gibt, dann muss sich Kants Ethik durch ihre Vergegenwärtigung allererst ihren sozialen Resonanzboden wieder schaffen.

1.3 Utilitarismus Die „Väter“ des neuzeitlichen Utilitarismus sind Jeremy Bentham (1748–1832), John Stuart Mill (1806–1873) und Henry Sidgwick (1838–1900). Otfried Höffe hat Auszüge aus ihren Werken zusammengestellt, eingeleitet und zur neueren EthikDiskussion in Beziehung gesetzt.35 Die Gründer des Utilitarismus waren Zeitgenossen des Aufstieges und Glanzes des britischen Empire, aber nicht dessen Apologeten oder Verklärer, sondern grosso modo führende Vertreter einer aufklärerischen Sozialkritik. 1.3.1 Jeremy Bentham36 war Jurist und Philosoph, geprägt durch Helvetius (1715– 1771), Hume (1711–1776) und die schottischen Moralphilosophen wie Hutcheson (1694–1746) und Smith (1723–1790). Er stand auch dem Frühsozialisten Robert Owen nahe und beteiligte sich sogar zeitweise an dessen sozialpolitisch ungemein fortschrittlicher Unternehmung. John Stuart Mill,37 Sohn des mit Bentham verbundenen James Mill (1773–1836), war wie sein Vater einerseits praktisch mit den britischen Interessen in Indien verbunden, andererseits ein Vertreter der philosophischen (liberalen) „radicals“. Zurecht liest man auch heute noch sein großartiges Werk On Liberty (1859), welches nichts zu tun hat mit einem Freiheitsverständnis, das allein den Bereicherungstrieb zu entfesseln bestrebt wäre.38 Henry Sidgwick war Philosophieprofessor in Cambridge, setzte sich für die Zulassung von Frauen zum Studium ein und war einer der Gründer der Society for Psychical Research. Seine Bücher zur Ethik und politischen Ökonomie39 fanden weite Verbreitung, auch in Übersetzungen. 35 Otfried Höffe (Hg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen 21992. Zur Einführung siehe Dieter Birnbacher, Utilitarismus/Ethischer Egoismus, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 95– 107; Walter Sinnott-Armstrong, Consequentialism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/consequentialism). 36 Grundlegend sein Werk: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hg.v. J.H. Burns/H.L.A. Hart, London 1970. 37 Siehe zu Mill: Peter Ulrich/Michael S. Aßlän-

der (Hg.), John Stuart Mill. Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, Bern u. a. 2006. 38 Das andere wichtige Werk Mills, mit dem sich Karl Marx (neben Ricardo) besonders auseinandergesetzt hat, ist Principles of Political Economy (1848). 1861 erschien Mill’s Buch Utilitarianism (deutsche Übersetzung Stuttgart 1976). Es verdient angemerkt zu werden, dass Mill ein früher Anwalt gleicher Rechte für Frauen war. 39 U.a.: The Methods of Ethics (2 Bd. 1874, deutsch 1909), History of Ethics (1879), Principles of Political Economy (1883), Practical Ethics (1898).

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Diese Juristen und Sozialphilosophen waren ihrem Selbstverständnis und ihren Absichten nach Sozialreformer. Sie waren keine „Perückenmacher“ (Overbeck) des britischen Imperialismus, sondern Kritiker des Establishment, dem sie selbst zugehörten. Sie waren, wie dies besonders bei Bentham wichtig ist, Kritiker der anglikanischen Staatskirche und von deren Einfluss auf Sittlichkeit und Gesetzgebung. Sie waren sensibel für die durchschnittliche Bigotterie der bürgerlichen Klasse und hatten die innere und äußere Freiheit, ihre Kritik radikal zu formulieren. Es wäre eine nähere Untersuchung wert, wie ihr Verhältnis zur Französischen Revolution und zur Entwicklung der nordamerikanischen Staaten gewesen ist. 1.3.2 Der Utilitarismus wird missverstanden, wenn man ihn als bloßen Legitimationsversuch individuell-egoistischer Nutzenmaximierung versteht. Am Anfang steht vielmehr das Bestreben, alle moralischen Urteile aus einem einfachen und allgemeinen Grundprinzip herzuleiten40, also eine einfache Antwort auf die scheinbar einfache Frage zu finden „Was ist moralisch verbindlich, und wie kann man es rational begründen?“41 „Rationale“ Begründung bedeutet: für jeden Menschen, wenn sie oder er nur Verstand hat, logisch und sachlich zwingend nachvollziehbar und überzeugend zu sein, unabhängig von historischen und kulturellen Prägungen und insbesondere von religiös-kirchlichen autoritären Geltungsansprüchen. Drei oder vier Kriterien sind für die Antwort der Utilitaristen auf diese anfängliche Problemstellung maßgeblich: Erstens die Bestimmung des in Wahlsituationen Vorziehenswürdigen durch dasjenige, was dem individuellen und sozialen Wohlergehen förderlich ist (also keine Orientierung an überzeitlichen deontologischen Normen). Zweitens die Orientierung nicht bloß am individuellen Wohlergehen, sondern am Wohlergehen, an der optimalen Bedürfnisbefriedigung oder minimalen Frustration aller (tatsächlich oder potentiell) Betroffenen, also eine Aggregation von Interessen statt einer solipsistischen Einstellung. Drittens ist die möglichst umfassende Folgenberücksichtigung für die Beurteilung des gesamthaften „Nutzens“ entscheidend (Konsequenzialismus ). Viertens kann man diesen Katalog noch erweitern um die Forderung, dass die Bestimmung des zu optimierenden Wohlergehens nicht bloß Sache subjektiver Präferenzurteile (und damit der individuellen Willkür) sein soll, sondern dass darüber hinaus so etwas wie eine Verständigung über Basiskriterien von Vorziehenswürdigem (des Guten ) gesucht werden soll. Diese Kriterien lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Diejenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, deren Folgen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind“, oder, als Maxime formuliert: „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregel für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.“42

40 Wolf, a. a. O., 95. 41 Ebd., 9.

42 Ebd., 11.

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1.3.3 Vermutlich die grösste Leistung des klassischen Utilitarismus war die Betonung des Prinzips der gleichen Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen. Insofern enthält diese ethische Grundposition im Ansatz ein grundsätzlich egalitaristisches Element, welches sich konsequenterweise in der Unterstützung der Gleichheitsforderung für Frauen, im Kampf gegen die Sklaverei, in zumindest tendenziell kolonialismuskritischen Emanzipationsforderungen und – schon bei Bentham, aber vor allem in der Gegenwart – in der Kritik des sogenannten Speziesismus und der Forderung nach unveräußerlichen Tierrechten äußert.43 Der Utilitarismus hat insofern eine advokatorische Rolle eingenommen, welche die Vertreter traditioneller Ethikauffassungen weitestgehend unbesetzt ließen. 1.3.4 Es ist kein Zufall, dass führende Vertreter des Utilitarismus nicht bloß Philosophen, sondern auch Juristen und Ökonomen waren und oft wichtige politische Ämter innehatten. Ihr Ansatz impliziert in der Regel einen strengen Individualismus und als dessen Kehrseite eine scharfe Kritik an allen Autoritäten, insbesonderer staatlicher und kirchlicher Art. Die Utilitaristen stehen in unverkennbarer Nähe zu einem Verständnis des Menschen, das vor allem auf das individuelle Leistungsvermögen und alle Eigenschaften abhebt, die Menschen souverän entwickeln und darstellen können. „Selbstverantwortung“ ist wohl die höchste Tugend im utilitaristischen Katalog. Es handelt sich gleichsam um die bürgerlich gewordene oder werdende neue Aristokratie, besser: Meritokratie. Die Kehrseite zeigt sich darin, dass Interessen, welche keine organisierte und konfliktfähige Vertretung oder Artikulation finden, außen vor bleiben, wie man in der ungleichen Behandlung von Tieren und Behinderten in Peter Singer’s Practical Ethics sehen kann. Den „moral point of view“ können eigentlich nur erwachsene, (halbwegs) vernünftige und durchsetzungswillige (weiße) bürgerliche Männer (allenfalls noch Frauen dieser Klasse) einnehmen. Oder täusche ich mich? Haben die utilitaristischen Grundsätze eventuell auch andere mögliche Ausgänge und Konsequenzen? 1.3.5 Die Stoßrichtung des Utilitarismus ist dabei sonnenklar: Einerseits Emanzipation von allen religiösen und metaphysischen Instanzen und Begründungsstrategien (Singer: „Heiligkeit des Lebens“ als reine Ideologie, die durch das praktische Verhalten ihrer Vertreter widerlegt wird). Andererseits: Sozialreform nach Maßgabe des optimalen Nutzens für möglichst viele Menschen oder sogar Lebewesen, die ihre Interessen artikulieren und durchsetzen können. Im Horizont jüdischer und christlicher Überlieferungen liegen verschiedene Fragen an utilitaristische Positionen nahe: (1) Gibt es sittliche Grundsätze (Maximen, Prinzipien), die sich nicht durch erstrebenswerte Güter und Handlungsfolgen rechtfertigen lassen? (2) Warum sollten sich Menschen nicht an bestimmten Regeln, Nor43 Die für die Tierethik folgenreiche Kritik des Speziesismus hat vor allem Peter Singer begründet: Practical Ethics, Cambridge 1979 (21993),

deutsch von Jean-Claude Wolf, Stuttgart 1984, 2 1994.

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men und Gütern orientieren, die für sie unabhängig von Zielen und Zwecken Verbindlichkeitscharakter haben? (3) Ist es möglich, auch radikale sittliche Überzeugungen, Entscheidungen und Lebensformen geltend zu machen und anzuerkennen, die sich im kontradiktorischen Gegensatz zu allen auf Nutzenoptimierung ausgerichteten Positionen verstehen – also ein Ethos, welches – frei gewählt! – sich exemplarisch durch Macht- und Gewaltverzicht auszeichnen würde? Können solche Auffassungen als Ausdruck legitimer Interessen verstanden werden, oder nur als Infragestellung der utilitaristischen Position als solcher? (4) Was spricht dagegen, dass Menschen selbst gesetzte Grenzen ihres Tuns unbedingt einzuhalten versuchen, also beispielsweise menschlichem (freilich auch tierlichem Leben) eine grunsätzlich nicht zu verletzende Würde zuerkennen? Die klassische Gegenthese zum Utilitarismus vor allem ökonomischer Ausrichtung hat schon Kant formuliert: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann etwas anderes, als Äquivalent , gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“44 Letztendlich (5) ist von Kant her an den Konsequenzialismus die Frage zu richten, ob er in der Lage ist, den Zusammenhang von Freiheit und Rechtsprinzipien so zu erfassen, dass das Recht nicht zu einer Funktion individuellen Glücksstrebens und gesellschaftlicher Wohlfahrt wird.45

1.4 Libertarismus Ich erwähne diese Variante des klassischen Utilitarismus an dieser Stelle, obwohl sie in voller Deutlichkeit eigentlich erst im Individualanarchismus des 19. Jahrhunderts und in der ultraliberalen Staats-, Gemeinwohl- und Gerechtigkeitskritik der Gegenwart deutlich hervortritt. Diese Position hat aber wichtige Wurzeln in frühneuzeitlichen staatskritischen, independentistischen Menschenrechtskonzeptionen, wie sie beispielsweise in England und dann vor allem unter den Siedlern in den Neuenglandstaaten begegnen. 1.4.1 Frühe englischsprachige Formulierungen von Menschenrechtsforderungen beginnen oft: „State shall not. . .“ Menschenrechte sind danach individuelle Abwehrrechte, zuerst und besonders gegen die staatlichen Herrschaftsansprüche gerichtet. Im Zentrum stehen die individuelle Freiheit und die Freiheit der eigenen Familie. Es ist leicht einzusehen, dass vor allem zunächst der Eingriff des Staates in die Glaubens- und Religionsfreiheit abgewehrt werden sollte, später dann auch insbesondere 44 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 78. Vgl. auch die ähnlich lautenden Stelle in der „Metaphysik der Sitten“, Tugendlehre § 37 (A 139). In der Religionsschrift (1793/94) zitiert Kant die Behauptung eines englischen, utilitaristisch argumentierenden Parlamentarier: „Ein je-

der Mensch hat seinen Preis, für den er sich weggibt.“ Niklas Luhmann hat einmal dagegen die Maxime formuliert, es komme darauf an, sich nicht zu verkaufen, obwohl man einen Preis hat. 45 Ich komme darauf noch einmal unten, Abschnitt 2.2, zurück.

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jeder Übergriff auf das individuelle Eigentum. Das Mindeste war: „No taxation without representation“.46 Das parlamentarische Budgetbewilligungsrecht war auch in Europa ein wichtiger politischer Ansatzpunkt des frühneuzeitlichen Konstitutionalismus. Staatliche Befugnisse und Ansprüche sollen zurückgestutzt werden; die individuelle Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, freilich verbunden mit individueller Großherzigkeit, ist das A und O des Libertarismus. 1.4.2 Der moderne Libertarismus47 betont ebenfalls die unveräußerlichen individuellen Menschenrechte als alleinige Grundlage aller verallgemeinerungsfähigen ethischen und rechtlichen Regeln – insbesondere die Rechte der individuellen Freiheit, des Eigentums und des Erbens. Im 20. Jh. begegnen Elemente dieser Konzeption unter anderem im Werk Friedrich August von Hayeks (der damit übrigens eine sozialdarwinistisch getönte, evolutionistische Ethiktheorie verbindet) und vor allem bei Richard Nozick, dessen frühes und wichtigstes Werk Anarchy, State, and Utopia (1974) in seiner deutschen Fassung (1976) Hayek bevorwortet hat. In der Schweiz befindet sich Christoph Blocher zumindest in der Nähe dieses Denkens.48 Die Grundannahmen dieser Auffassung basieren auf einem strengen anthropologischen Individualismus einerseits, der Forderung nach einer Minimierung staatlicher Aufgaben und vor allem: staatlicher Ausgaben mit Verteilungswirkungen andererseits. Was „gut“ soll genannt werden können, muss jeder für sich selbst entscheiden; die Allgemeinheit und gar den Staat soll dergleichen nichts angehen. Der methodische Individualismus äußert sich hier vor allem konsequent in der Kritik aller Wohlfahrtsfunktionen des Staates und einer drastischen Rückschneidung aller sozialstaatlichen Leistungsgesetze. Die Förderung sozialer Gerechtigkeit soll allein Angelegenheit privat-patriarchalischer Großzügigkeit sein. 1.4.3 Die „Leistung“ dieses Ansatzes kann man in der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, im individuellen Freiheitsschutz gegenüber aller staatlichen und gesellschaftlichen Machtballung und in der Kritik an einer leistungsfeindlichen staatlichen Umverteilungspolitik sehen. 1.4.4 Freilich sind auch die Implikationen eindeutig: Diffamierung und Abbau sozialstaatlicher Institutionen und Leistungen, Bemessung des Wertes eines Menschen an seiner Leistungswilligkeit und -fähigkeit, Tendenz zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Sozialdarwinismus. Die Konsequenzen bzw. entsprechenden Forde46 Die Parole wurde von der Unabhängigkeitsbewegung in den britischen Kolonien in Nordamerika seit ca. 1750 vertreten; der Protest galt dem Einzug von Steuern ohne eigene Vertretung im britischen Parlament. 47 Exemplarisch: Murray N. Rothbard, Eine neue Freiheit – das libertäre Manifest, Berlin 1999. Vgl. dazu Stefan Blankertz, Das libertäre

Manifest – Über den Widerspruch zwischen Staat und Wohlstand, Grevenbroich 2001. 48 Sein programmatisches Pamphlet Freiheit statt Sozialismus (ursprünglich eine Wahlkampfparole von Franz Josef Strauss), erschienen als „Werbebeilage“ der NZZ v. 1./2.7.2000, trug den Hayek entlehnten Untertitel „Aufruf an die Sozialisten in allen Parteien“.

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rungen lassen sich in allen gesellschaftlichen Bereichen finden: Reduktion und Privatisierung öffentlicher Leistungen (Sozialversicherungen, Schulen, Universitäten), Rückzug des Staates aus möglichst vielen Funktionen (bis hin zu Währung, Justiz und Strafvollzug), Deregulierung der Wirtschaftstätigkeit usw. 1.4.5 Die Stoßrichtung ist eindeutig, von Hayek bis Blocher: Gegen die Feinde der individuellen Freiheit in allen „sozialistischen“ Parteien.49 1.4.6 Die Frage nach dem dahinter stehenden Menschen- und Gesellschaftsbild muss fast nicht mehr gestellt werden. Gleichwohl: Das Insistieren auf der konkreten individuellen Eigenverantwortung als Bedingung der Möglichkeit individueller, aber auch gesellschaftlicher Freiheit sollte man nicht gering achten, desgleichen natürlich nicht das Eintreten für individuelle Menschenrechte. Die wirklichen Streitpunkte beginnen dort, wo der Schutz individueller Menschenrechte die Gewährleistung institutioneller Rahmenbedingungen mit Notwendigkeit impliziert.

1.5 Kontraktualismus Ethische Konzepte, die den Gedanken eines Vertrages (Sozialvertrages) zur Grundlage haben, sind alt.50 Von weit her mag man sie sogar im Zusammenhang mit der Kategorie und der komplexen Sache des „Bundes“ im Alten Testament in Verbindung bringen. Es handelt sich dabei um ein durchgehendes Motiv der politischen Philosophie des Abendlandes. Die Geschichte der Lehren von der sogenannten Volkssouveränität seit dem frühen Mittelalter kann man anhand der Auffassungen von Vertrag und „pactum originale “ erläutern. Kant hat insbesondere Rousseaus Aktualisierung dieser Tradition aufgenommen, um seine eigene Auffassung von Souveränität, Sozialvertrag und Rechtsordnung zu entfalten. 1.5.1 In der Gegenwart war es besonders John Rawls, der in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971) erneut an die vertragstheoretischen Traditionen der Ethik angeknüpft und damit eine breite Hinwendung zur politischen und zur angewandten Ethik und eine Abkehr vom herkömmlichen Utilitarismus ausgelöst hat. In gewisser Weise hat Rawls mittels vertragstheoretischer Überlegungen einen Ausgleich von Utilitarismus, Kantianismus und einem Schuss Aristotelismus versucht. 1.5.2 Die Grundannahme des Kontraktualismus besteht darin, dass jeder Mensch nur denjenigen Regeln und Gesetzen zustimmen und gehorchen kann und will, die 49 Vgl. die Widmung bei Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (zuerst 1944), Neuausgabe mit Vorwort von Otto Graf Lambsdorff, München 1991. 50 Gute Einführung: Wolfgang Kersting, Kon-

traktualismus, in: Marcus Düwell u. a., Handbuch Ethik, a. a. O., 163–178, wo gut herausgearbeitet wird, inwiefern sich kontraktualistische Elemente in zahlreichen Ethik-Konzeptionen finden.

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er oder sie selbst über sich beschlossen hat oder die für ihn oder sie Gegenstand aktueller oder potentieller Zustimmung sind – volenti non fit iniuria. Der Vertragsgedanke lässt alle Regeln des menschlichen Zusammenlebens tatsächlich oder hypothetisch auf der Zustimmung der betroffenen Menschen basieren. Er wendet sich damit kritisch gegen alle Geltungsansprüche bloß aufgrund von traditionellen Bestimmungen oder machtvoller Durchsetzung. In der Terminologie von Max Webers Herrschaftssoziologie tritt im Kontraktualismus an die Stelle von traditioneller oder charismatischer Autorität und Herrschaftslegitimation die (hypothetische oder tatsächliche) zweckrationale Begründung. Ein so verstandener Kontraktualismus ist damit offen sowohl für eine an Kant angelehnte Lehre vom ursprünglichen „pactum originale “ im Sinne einer basalen Theorie der Volkssouveränität als auch für eine Diskursethik im Sinne von Apel und Habermas, welche das Vertragsmodell zu einem allgemeinen demokratischen Verfahrenstypus geregelter öffentlich-politischer Urteilsbildung macht. 1.5.3 Die drei wichtigsten Leistungen des modernen Kontraktualismus sehe ich in der expliziten Übernahme des spezifisch neuzeitlichen Prinzips menschlicher Selbstgesetzgebung, in der Unterstützung demokratischer Strukturen und Verfahren in allen gesellschaftlichen Selbstorganisationsprozessen und in der Angewiesenheit auf die Ergänzung durch demokratisch zu beschließende Grundsätze einer wenigstens minimalen Verteilungsgerechtigkeit. Der Kontraktualismus ist offen sowohl für eine stärker individuell-libertäre wie für eine stärker sozial-kommunitarische Ausgestaltung – nach Maßgabe von Willen und Einsicht der Vertragspartner, der Bestimmung verschiedener Folgeregeln und Prozeduren und der Berücksichtigung kontingenter historischer Rahmenbedingungen des Verhaltens und Handelns. 1.5.4 Infolge der Gestaltungsoffenheit des Kontraktualismus – Verträge haben es nun einmal an sich, Kündigungs- oder Revisionsklauseln sowie Grenzbestimmungen für zulässige Revisionen zu enthalten51 – sind sehr unterschiedliche Konsequenzen und Ausformungen vorstellbar und entsprechend vorgeschlagen worden. Der frühe Habermas beispielsweise erhoffte sich vom Prinzip der Öffentlichkeit prinzipiell und kontrafaktisch die langfristige Überwindung von Herrschaft überhaupt. Im Laufe der Jahre hat sich freilich gezeigt, dass die Stringenz dieser Erwartungsperspektive abhängig war vom vorausgesetzten Herrschaftsbegriff. Versteht man unter Herrschaft grundsätzlich eine Menge von Ordnungsformen, welche Befehlsbefugnisse und Gehorsamspflichten grundsätzlich asymmetrisch und insofern tendenziell entfremdend verteilen, so hat man einen im Ansatz negativ konnotierten Herschafts- (und Macht-)Begriff. Fasst man den Herrschaftsbegriff neutraler, etwa als (legale oder faktische) Kompetenz zur Herstellung von verbindlichen Entscheidun51 Das klassische Beispiel sind unterschiedliche Mehrheitsanforderungen für einfache Gesetze und für Verfassungsänderungen, aber auch die

Ausgestaltung des Stimmrechts kann einer überlegten Limitierung dessen, was überhaupt abstimmungsfähig ist, dienen.

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gen in der Zeit, so nähert man sich einem ethisch mehr oder weniger indifferenten, funktionalen Herrschaftsverständnis und kann sich vielleicht letztlich zu Zwecken der Legitimitätsvermutung mit der Korrektheit formaler Prozeduren der Entscheidungsfindung begnügen – im Sinne von Niklas Luhmanns Vorstellungen einer Legitimation durch Verfahren. 52 So oder so: Die vertragstheoretischen Ethik-Begründungen lassen ihre jeweiligen Implikationen und Leistungsfähigkeiten erst im konkreten historisch-politischen Kontext einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung erkennen. Auf jeden Fall aber ist der Kontraktualismus unvereinbar mit jeder Form von autokratischer Herrschaft und insofern zwar leicht kompatibel mit sozialstaatlichen Politikkonzepten, aber sicher nicht mit einer kommunistischen Herrschaftsordnung. 1.5.5 Damit ist im Grunde die Stoßrichtung des Kontraktualismus schon charakterisiert: Politisch zielt er auf die jeweils konkret näher zu bestimmende Zuordnung von Rechts- und Sozialstaat, gesellschaftlich auf die Stärkung aller zivilgesellschaftlichen Fähigkeiten zur freien Selbstorganisation sozialer Gruppen, kulturell auf einen Pluralismus kommunikationswilliger Menschen mit anerkannt vielfältigen Lebensweisen. 1.5.6 Meine Hauptrückfrage an den Kontraktualismus ist einfach: Was zeichnet diesen Ethik(begründungs)-Typus aus, was die Kantische Ethik nicht zu bieten hat? Antwort: Die nur schwache Berücksichtigung der „Innenperspektive“ des Menschen, das heißt die relative Gleichgültigkeit gegenüber Gewissen und Selbstbewusstsein von Handelnden. Allerdings wird diese Dimension wieder erschlossen in der erneuten Frage nach den Tugenden im Kommunitarismus. Ein großer Mangel des ursprünglichen Kontraktualismus, wie ihn Rawls vertreten hat, war freilich seine Beschränkung auf eine innerstaatliche Perspektive. Dies hat Rawls in seinen späteren Arbeiten zum Völkerrecht korrigiert, und vor allem haben Rawls-Schüler wie Thomas Pogge53 die Rawls’sche Gerechtigkeitstheorie um eine explizite, normative Theorie der internationalen Beziehungen ergänzt. In neueren Studien wird gelegentlich auch versucht, die Zeitdimension in kontraktualistischen Entwürfen zu berücksichtigen, indem nach Kriterien intergenerationeller Gerechtigkeit gefragt wird, und zwar besonders im Blick auf die Problematik der Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen (Nachhaltigkeit).54

52 Neuwied/Berlin 1969. 53 World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, Cambridge, UK 2002. 54 Siehe Felix Ekardt, Das Prinzip Nachhaltig-

keit. Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit, München 2005. Dieses Buch enthält keinerlei Literaturangaben; dazu verweist Vf. auf seine weiteren Veröffentlichungen.

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1.6 Diskursethik 1.6.1 Die Diskursethik, wie sie Karl Otto Apel und Jürgen Habermas ausgearbeitet haben,55 ist zumindest im deutschen Sprachraum eine der einflussreichsten EthikKonzeptionen des 20. Jahrhunderts. Ihre Anfänge sind nicht zu trennen von der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 1962, schon in der Spätphase der Adenauer-Zeit, erschien Habermas’ Untersuchung über den Strukturwandel der Öffentlichkeit , mit der er sich 1961 in Marburg im Fach Philosophie habilitiert hatte.56 Das Buch ist einem „roten“, damals enorm angefeindeten Professor, „Wolfgang Abendroth in Dankbarkeit“ gewidmet, einem Juristen und Politikwissenschaftler, der in der westdeutschen Restauration nach 1949 nicht mit den neuen Herren ging, sondern das soziale Gewissen der Gesellschaft aufzurütteln versuchte.57 Ein Jahr zuvor war ein anderes Buch erschienen, an dem Habermas ebenfalls beteiligt war: Student und Politik , untertitelt: „Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten“.58 Dort heißt es in dem von Habermas verfassten Einleitungsabschnitt „Über den Begriff der politischen Beteiligung“ u. a.: In dem Maße, in dem mündige Bürger unter Bedingungen einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, durch einsichtige Delegation ihres Willens und durch wirksame Kontrolle seiner Ausführung, die Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens selber in die Hand nehmen, wird personale Autorität in rationale überführbar. Das würde den Charakter von Herrschaft verändern; und sofern in der Politik immer auch ein Moment von blinder Herrschaft steckt, mahnt die Idee der Demokratie an die Vergänglichkeit des Politischen als solchen. Politik hört in dem Maße auf, eine Sphäre für sich darzustellen, in dem gesellschaftliche Macht die Gestalt rationaler Autorität anzunehmen fähig würde.59

Habermas war sich früh darüber klar, dass die liberalen Grundrechte in der Demokratie über ihren Status als Abwehrrechte hinaus um die Garantie sozialstaatlicher Leistungen ergänzt werden müssen.60 So waren sein Weg auf den linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie ebenso vorgezeichnet wie seine Absage an autoritäre, undemokratische sozialistische Positionen in der Studentenbewegung der späteren 1960/70er Jahre. Philosophiegeschichtlich verortete er sich im Übergang von Kants Freiheitstheorie zu Hegels Sozialstaatstheorie, ergänzt um die Kapitalismuskritik eines im aufklärerischen Sinne verstandenen Marx. Die spätere Diskurstheorie ist in 55 Grundlegend sind: Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988; Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991. Zur Einführung siehe Micha H. Werner, Diskursethik, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2006, 140– 151; ausführlicher ders., Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung, Würzburg 2003. Ich be-

schränke mich hier auf die Darstellung der Position Habermas’. 56 Neuwied 1962, 21965, 31968. 57 Jürgen Habermas hat 2006 daran erinnert: Der Hermann Heller der frühen Bundesrepublik. Wolfgang Abendroth zum 100. Geburtstag, in: ders., Ach, Europa, Frankfurt a. M. 2008, 11–14. 58 Neuwied 1961, 21967. 59 Ebd. 16. 60 „Wo sich der liberale nicht zum sozialen Rechtsstaat fortbildet, verharrt er deshalb im Widerspruch zu sich selbst“, heißt es ebd., 36.

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Habermas’ Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit vorgezeichnet, von der es in der Habilitationsschrift heißt: Öffentliche Meinung will, ihrer eigenen Intention nach, weder Gewaltenschranke noch selber Gewalt, noch gar Quelle aller Gewalten sein. In ihrem Medium soll sich vielmehr der Charakter der vollziehenden Gewalt, Herrschaft selbst verändern. Die „Herrschaft“ der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst; veritas non auctoritas facit legem. Diese Umkehrung des Hobbesschen Satzes geht beim Versuch, die Funktion der öffentlichen Meinung mit Hilfe des Souveränitätsbegriffs zu fassen, ebenso verloren wie in der staatsrechtlichen Konstruktion der pouvoirs. Pouvoir als solche wird durch eine politisch fungierende Öffentlichkeit zur Debatte gestellt. Diese soll voluntas in eine ratio überführen, die sich in der öffentlichen Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt. 61

1.6.2 Im Zentrum des Diskursethik steht der Versuch, eine Antwort auf die Frage nach der Bestimmung eines „guten“ oder womöglich „gerechten“ Handelns und Verhaltens dadurch zu geben, dass grundlegende, unabdingbare Regeln für Verständigungsprozesse zwischen Menschen gesucht werden, welche sich unter Bedingungen eines gesellschaftlichen Pluralismus und Antagonismus miteinander nach allgemein geteilten oder mindestens allgemein zustimmungsfähigen Prinzipien zu koordinieren versuchen. Die Diskursethik geht nicht von feststehenden, allgemein geteilten ethischen Prinzipien aus – weder solchen, die in der Vergangenheit mehr oder weniger allgemein anerkannt waren, noch solchen, die aktuell eine mehrheitliche Zustimmung finden, schon gar nicht von solchen, die von Seiten einer gesellschaftlichen Autorität (Kirche, Wissenschaft) behauptet werden. Sie versucht vielmehr, Verfahren vernunftgeleiteten Argumentierens zu bestimmen, mittels derer antagonistische und gewaltsam ausgetragene Konflikte zwischen Menschen in eine auf Vernunft begründete und Freiheit ermöglichende Form ziviler Konfliktbearbeitung überführt werden können. Die Utopie der Diskursethik ist die Ablösung der Sprache der Autorität und der Gewalt durch die zwanglose Anerkennung der Kraft des besseren Argumentes unter Menschen, die sich gegenseitig respektieren können, auch wo sie um wechselseitige Achtung und Anerkennung ringen. Ist das möglich? Ist das eine schlechte Utopie? Und was bedeutet es, wenn Menschen einer solchen zweifellos humanen Utopie eine Absage erteilen – sei es aus Mutwillen, sei es aus Resignation, sei es, weil sie im Extremfall nur die ultima ratio der Gewalt kennen und gelten lassen? Angesichts des empirischen Antagonismus der vergesellschafteten Menschen lautet Habermas’ Prämisse, dass Verständigungsprozesse notwendig und (in Grenzen) möglich sind, bei denen sich Menschen auf verbindliche Regeln ihres Handelns und Verhaltens einigen, die allgemein anerkannt werden oder anerkannt werden können. Derartige Regeln bilden nach dem Vorbild des Kategorischen Imperativs ein Prinzip, welches so gefasst werden soll, „dass es die Normen als ungültig ausschließt, die nicht die qualifizierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden könn61 Strukturwandel der Öffentlichkeit, 95.

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ten.“62 Eine gültige Norm muss der Bedingung genügen, „dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.“63 Die in Habermas’ Sinne verstandene „bürgerliche Öffentlichkeit“64 ist also der (virtuell-normative) Ort, an dem das Universalisierbarkeitskriterium des Kategorischen Imperativs individuell und kollektiv im Blick auf konkrete Entscheidungsfragen angewendet wird. „Öffentlichkeit“ bedeutet dabei die allgemeine Zugänglichkeit und Teilnahmemöglichkeit für alle Personen, die prinzipielle Gleichheit der Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls im Blick auf ihre rechtliche Stellung und auf das Teilnahme- und Artikulationsrecht) sowie Kriterien der Transparenz der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Man sieht: Es geht um ein urdemokratisches Verfahren egalitärer Partizipation, wie es sich (zumindest in der wohlmeinenden Rhetorik) in einigen sogenannten Landsgemeinden der Schweiz erhalten hat. Dabei wird nicht nur die Verallgemeinerungsfähigkeit des jeweils geltend gemachten Prinzips bedacht, sondern auch nach den mutmaßlichen Folgen und Nebenwirkungen gefragt, also nach Aspekten, die typischerweise in der utilitaristischen Ethik-Tradition eine wichtige Rolle spielen. 1.6.3 Die Diskursethik steht offensichtlich in der Tradition der politischen Ethik Kants65, dessen theoretische Begründung von Rechtsstaat (Republik) und Völkerrecht Habermas in der Richtung einer globalen Rechts- und Sozialstaatlichkeit weiter entwickelt hat.66 Ihre besonderen Leistungen sehe ich (1) in der konsequenten Weiterführung aufklärerischer und freiheitlicher Positionen in der Folge Kants, (2) in der Öffnung der praktischen Philosophie für die vor allem politischen und verfassungsrechtlichen Gestaltungsaufgaben der Weltgesellschaft, d. h. in der Frage, wie unter den Bedingungen der Globalisierung eine Theorie und Praxis der Gerechtigkeit und des „guten Lebens“ möglich sind, (3) in der grundsätzlichen, zumindest der Intention nach egalitären Einbeziehung aller Menschen in diskursive Prozesse, sowie (4) in einer menschenrechtlichen und friedensethischen Ausrichtung und Fundierung der angewandten Ethik. In allen diesen Hinsichten gibt es große Übereinstimmungen zwischen philosophischer und theologischer Ethik.

62 So in den programmatischen Ausführungen in: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 73. 63 Ebd., 75 f. 64 Heute sagen viele: Zivilgesellschaft. Ich bevorzuge den Ausdruck „politische Bürgergesellschaft“. Zur Begründung siehe Wolfgang Lienemann, Öffentlichkeit und bürgerliche Gesellschaft in der europäischen Tradition, in:

Christine Lienemann-Perrin/Wolfgang Lienemann (Hg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart 2006, 51–86. 65 Vgl. Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, 21999. 66 Die Bezugnahmen auf Hegel und (vor allem) Marx sind dabei im Laufe der Jahre immer weiter zurück getreten.

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Drei Merkmale dieser Position seien hervorgehoben: Es geht Habermas um tatsächliche, unter leibhafter Anwesenheit stattfindende Interaktionen von Menschen, die eine politische Öffentlichkeit bilden. Es geht näherhin um die Herstellung eines Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige, Gerechte und Gute, und dies alles soll nicht bloß eine Sache des Willens, sondern der Vernunft sein. Anders gesagt: Habermas unterstellt die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen, er hält einen Konsensus nach Maßgabe eines zu bestimmenden Universalisierungskriteriums für ein sinnvolles, ja notwendiges Ziel, und er geht grundsätzlich nicht von einem monologischen, sondern einem dialogischen bzw. real-diskursiven Bemühen um vernünftigen Konsens als einem Konsens vernünftiger Wesen aus. Im Kant-Kapitel des Öffentlichkeitsbuches wird der gewaltkritische Charakter der öffentlichen Aufklärung umrissen; im Hegel-Marx-Kapitel wird das Prinzip der Diskursethik, die freie und unverstellte Prüfung aller vorgebrachten Gründe für sittliche Entscheidungen skizziert; mit Hegel heißt es: „Das Prinzip der modernen Welt fordert, dass, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige.“67 1.6.4 Der Ansatz der Diskursethik hat weitreichende Implikationen und Folgen. Die Ethik ist, wie bei Kant, in eine umfassende Theorie des menschlichen Vernunftgebrauchs eingebettet.68 In seiner Howison-Lecture vom September 1988 Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft , die 1991 veröffentlicht wurde,69 hat Habermas in sehr gedrängter Form sein Verständnis von praktischer Philosophie systematisch präzisiert und entfaltet. Die Diskurstheorie ist danach die Theorie aller derjenigen Sprachhandlungen, mit denen Menschen in den verschiedensten Kontexten sich über alle möglichen Gegenstände zu verständigen versuchen, und zwar angesichts strittiger Geltungsansprüche und in um Konsensfindung bemühter argumentativer Praxis. Einer von vielen Gegenstandsbereichen der Diskurse sind Fragen der Moral und der Ethik. Das Bezugsproblem aller Diskurse in diesem Sinne sind strittige Geltungsansprüche. Geltungsansprüche und ihre Bestreitung begegnen allenthalben – von Wahrheitsansprüchen unserer Theorien hinsichtlich der Naturerkenntnis (sofern diese symbolisch vermittelt und intersubjektiv verstanden wird) bis zu Geltungsansprüchen in der Begründung moralischer, politischer oder rechtlicher Ansprüche. Mit dem Konzept einer diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen verbindet Habermas mithin nicht weniger als ein letztlich auf Einheit zielendes systematisches Wissensverständnis und Wissenschaftsprogramm; er schreibt in den Erläuterungen zur Diskursethik: 70 67 Ebd. 132, im Blick auf Hegel, Philosophie des Rechts, 1821, § 316 Zusatz: Theorie Werkausgabe 7, 483, wo es zur öffentlichen Meinung heißt: „Was jetzt gelten soll, gilt nicht mehr durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch Einsicht und Gründe.“ 68 Allerdings hat Habermas nie Ansätze zur einer Philosophie der Natur skizziert.

69 In: Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, 100–118. 70 In dem zitierten Band gleichen Titels. Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf die beiden genannten Aufsätze in diesem Band.

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Das auf einer höheren Allgemeinheitsstufe angesiedelte Konzept des Geltungsanspruchs lässt Raum für die Spezifizierung verschiedener Geltungsansprüche. Ein Geltungsanspruch besagt, dass die jeweiligen Bedingungen der Gültigkeit einer Äußerung – einer Behauptung oder eines moralischen Gebotes – erfüllt sind. Dass sie erfüllt sind, lässt sich freilich nicht in direktem Zugriff auf schlagende Evidenzen, sondern nur auf dem Wege der diskursiven Einlösung des Anspruchs – auf propositionale Wahrheit oder normative Richtigkeit – zeigen. (130)

Diese „argumentationslogische Deutung des Geltungssinns“ verbindet danach die Fragehinsichten und Gegenstandsbereiche dessen, was früher Logik, Physik und Ethik hieß. Auch in den Erfahrungswissenschaften haben wir es Habermas zufolge mit „konstruktiven und sinnerschließenden Leistungen der Expertengemeinschaft der Forscher “ zu tun, wie wir es in bezüglich moralischer, ethischer, politischer und rechtlicher Fragen mit der „Kommunikationsgemeinschaft der Bürger “ zu tun haben (131). Hier begegnet also diejenige Zirkelstruktur des Erkennens, die Dilthey als Grundform aller Hermeneutik vorgestellt hat. „Die Vor-Struktur des Verstehens ist universell – in allen kognitiven Leistungen ergänzen sich die Momente von Entwurf und Entdeckung.“ (131) Das Programm einer Einheitswissenschaft wird klar zum Ausdruck gebracht, wenn es abschließend heißt: Von der Physik bis zur Moral, von der Mathematik bis zur Kunstkritik bilden unsere Erkenntnisleistungen ein Kontinuum auf dem gemeinsamen, und schwankenden, Boden von Argumentationen, in denen Geltungsansprüche zum Thema gemacht werden. (131)

1.6.5 In der erwähnten Howison-Lecture unterscheidet Habermas einen dreifachen Gebrauch der praktischen Vernunft, die die Ausrichtung der Diskursethik verdeutlichen können. Er nennt diese Gebrauchsweisen „pragmatisch“, „ethisch“ und „moralisch“.71 Die Einheit von allen drei Hinsichten – der pragmatischen, der ethischen und der moralischen – ist die Theorie, welche den dreifachen Gebrauch der praktischen Vernunft zum Thema hat. Diese Theorie ist bei Habermas die, die Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft übergreifende, Diskurstheorie der Vernunft.72 71 Um unnötige Konfusionen zu vermeiden, sei angemerkt, dass Habermas nicht die heute verbreitete und auch in diesem Buch benutzte Sprachregelung teilt, derzufolge das Wort „Ethik“ – im Sinne der aristotelischen epistvmv vhikv – die Theorie oder Reflexion der Moral oder des Ethos ist. Er unterscheidet vielmehr zwischen „ethisch“ und „moralisch“ in dem Sinne, dass er die Wörter „Ethik“ und „ethisch“ für diejenigen Themen reserviert, die sich auf die Frage nach dem „guten Leben“ im Horizont einer aristotelischen Konzeption beziehen, während er von „Moral“ und „moralisch“ spricht, wo es um die Frage der Verallgemeinerbarkeit von Maximen zu Prinzipien im Sinne Kants geht. So unterscheidet er zwischen der „Ethik“ als einer „Lehre vom richtigen oder guten Leben“ und der „Moral“, die sich auf „Theorien der Gerechtigkeit“ bezieht;

vgl. Habermas, Wie die ethische Frage zu beantworten ist: Derrida und die Religion, in: ders., Ach, Europa, Frankfurt a. M. 2008, 40–62 (45). In diesem Buch spreche ich hingegen, wie eingangs (I/1) erläutert, von „Ethik“, wenn beide Hinsichten, Moral und Sittlichkeit (Ethos), Gegenstand der Reflexion und Theorie sind. 72 Es liegt hier insofern durchaus eine Erneuerung des Kantischen Systemaufrisses vor, allerdings zunächst um die religionsphilosophische Dimension amputiert und mit stärkerer Annäherung der praktischen an die theoretische Vernunft (Kontinuum), wogegen Kant vor allem den Unterschied der Erkenntnisarten im Hinblick auf den Stellenwert der intersubjektiv mitteilbaren Erfahrung von Dingen der Erscheinungswelt herausgestellt hat.

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Beim pragmatischen Vernunftgebrauch geht es um „eine rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder um die rationale Abwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen“ (102). Es geht um Geschicklichkeiten, rationale Wahl zwischen Optionen, Optimierung von Aufwand und Ertrag – kurz um die Betätigung pragmatischer Klugheitsregeln, aus denen bedingte Empfehlungen folgen, die die Form „schwacher“ Sollenssätze im Sinne von hypothetischen Ratschlägen haben. Eine wichtige Gestalt dieses pragmatischen Vernunftgebrauchs begegnet vor allem in technischen, aber auch in ökonomischen Zusammenhängen, wobei letztere natürlich in den Bereich von Ethik und Moral hineinreichen können, wie man leicht an Problemen, Programmen und Konzepten wie dem einer nachhaltigen Entwicklung sehen kann. Allgemein aber gilt, dass das alltagsweltliche Handeln aller Menschen faktisch von diesem Abwägen und Wählen einer rationalen Mittelwahl bestimmt ist. Beim ethischen Vernunftgebrauch geht es im Kern um die Bedingungen und Gestalten eines „guten Lebens“, das heißt eines Lebens in Gemeinschaft, dessen Entwurf und Grundlagen ich wählen kann und muss und wobei es letztlich um eine Antwort auf die Frage geht, wer ich selbst bin, wer ich sein möchte und welchen Lebensweg ich einschlagen möchte. Es geht um „gravierende Wertentscheidungen“ (103), in denen ein persönlich-existenzieller Lebensentwurf auf dem Spiel steht. Es geht darüber hinaus um die Verschränkung von Lebensgeschichte und Lebensentwurf, um das Verhältnis zwischen dem Innewerden meiner Geschichte und der bewussten Übernahme dessen, was andere Menschen ebenso wie mich selbst geformt und bestimmt hat – einschließlich der Einbildungen, Selbsttäuschungen und Verdrängungen, die man (in gewissen Grenzen) bewusst machen und wiederum zum Gegenstand eigener Reflexion und Stellungnahme machen kann. Es geht um Formen hermeneutischer Selbstverständigung und Versuche, Fehlentwicklungen wahrzunehmen, anzunehmen und zu bearbeiten.73 Letztlich geht es im Sinne der antiken Ethik, wie sie Platon, Aristoteles und die Stoa grundgelegt haben, um die Wege „zum guten und glücklichen Leben. Starke Wertungen orientieren sich an einem für mich absolut gesetzten Ziel, nämlich am höchsten Gut einer autarken, ihren Wert in sich tragenden Lebensführung.“ (105) Es ist das Recht eines jeden, danach zu streben. Man kann fragen, ob diese Betonung der individuellen Perspektive wirklich antiker Ethik entspricht. Platon, Aristoteles oder Cicero haben jedenfalls ihre Lehren von den (individuellen) Tugenden von Anfang an mit den Aufgaben der Bürger in der Polis verknüpft, und genau dies liegt ja auch in der Intention der Diskursethik. So wie bei Platon Seelenteilungslehre und Ständelehre eng aufeinander bezogen waren, schließt auch für die Diskursethik ein wirklich gutes Leben die Dimension der Mitverantwortung für das politische Gemeinwesen notwendigerweise ein. Insofern

73 Habermas spricht in diesem Zusammenhang gelegentlich und etwas befremdlich von der „klinischen“ Frage des Selbstverständnisses (108

u. ö.) und hat dabei wohl vor allem die Bedeutung einer hermeneutisch verfahrenden Psychoanalyse vor Augen.

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sind die Übergänge zum moralischen Vernunftgebrauch in der Tradition, aber auch bei Habermas selbst74 fließend. Gleichwohl ist die Stoßrichtung klar: sobald die Interessen anderer durch mein Verhalten und Handeln berührt sind und dadurch manifest oder latent Konflikte entstehen können, wird es unumgänglich, „unsere Maximen auf die Vereinbarkeit mit den Maximen anderer (zu) prüfen.“ (106) Während die Goldene Regel noch als monologische Selbstprüfungsregel verstanden werden konnte, zielt der Kategorische Imperativ auf die Bedingungen der zwanglosen Zustimmung aller (tatsächlich oder möglicherweise) Betroffenen, denn „Jeder muss wollen können, dass die Maxime unserer Handlungen ein allgemeines Gesetz werde.“ (108) In diesem Sinne geht es um das, was alle je für sich und gemeinsam als das alle zum Gehorsam verpflichtende Gesetz wollen können und deshalb bejahen und durchsetzen sollen. Es ist Pflicht, aus Achtung für das Gesetz gerecht zu handeln. 1.6.6 Diesen drei Weisen des Vernunftgebrauchs in praktischer Absicht ordnet Habermas Typen von Handlungen, Typen von Antworten und vor allem drei Willenskonzepte zu. Im pragmatischen Bereich geht es um mehr oder weniger willkürliche Entscheidungen, etwa bei der Wahl eines Studienortes, von Kleidern oder eines geeigneten Beförderungsmittels. Natürlich kommen dabei auch mehr als pragmatische Gesichtspunkte ins Spiel, aber es geht um allgemein als legitim anerkannte Willkürentscheidungen. Anders sieht es mit der Betätigung des Willens im Hinblick auf existentielle Selbstfestlegungen und Selbstverwirklichungen aus, wozu beispielsweise Berufs- oder Partnerwahl in eminenter Weise zählen. Und schließlich geht es um die Frage der Vereinbarkeit und Koordination meines freien Willens mit dem freien Willen anderer, und zwar nicht nach Maßgabe stärkerer Gewalt oder größerer Überredungskraft, sondern gemäß vernünftigen Kriterien und Argumenten darüber, was selbstgegebene und zugleich allgemein anerkannte soziale Regeln sein können. Im Unterschied zum ethischen Vernunftgebrauch ist der moralische Gebrauch der praktischen Vernunft bei Habermas offensichtlich höheren, ja höchsten Ranges, und das bedeutet, dass auch die eingelebte Sittlichkeit der Polis oder die Sittlichkeit im Hegel’schen Sinn immer neu Gegenstand kritischer Prüfung sein müssen und können. Dieser „Bruch mit allen Selbstverständlichkeiten“ (113) steht im Zentrum einer in Habermas’ Sinne „postmetaphysischen“ Sittlichkeit; er schreibt: Nur (! WL) unter den Kommunikationsvoraussetzungen eines universell erweiterten Diskurses, an dem alle möglicherweise Betroffenen teilnehmen und in dem sie in hypothetischer Einstellung zu den jeweils problematisch gewordenen Geltungsansprüchen von Normen und Handlungsweisen mit Argumenten Stellung nehmen könnten, konstituiert sich die höherstufige Intersubjektivität einer Verschränkung der Perspektive eines jeden mit den Perspektiven aller. Dieser Standpunkt der Unparteilichkeit sprengt die Subjektivität der je eigenen Teilnehmerperspektive, ohne den Anschluß an die performative Einstellung der Teilnehmer zu verlie74 Er spricht ausdrücklich von der „Schnittmenge von Ethik und Moral“ (106).

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Teil II Gegensätze

ren. Die Objektivität eines sogenannten idealen Beobachters würde den Zugang zum intuitiven Wissen der Lebenswelt versperren. Der moralisch-praktische Diskurs bedeutet die ideale Erweiterung je unserer Kommunikationsgemeinschaft aus der Innenperspektive. Vor diesem Forum können nur diejenigen Normvorschläge begründete Zustimmung finden, die ein gemeinsames Interesse aller Betroffenen ausdrücken. Insofern bringen diskursiv begründete Normen beides gleichzeitig zur Geltung: die Einsicht in das, was jeweils im gleichmäßigen Interesse aller liegt, wie auch einen allgemeinen Willen, der den Willen aller ohne Repression in sich aufgenommen hat. In diesem Sinne bleibt der durch moralische Gründe bestimmte Wille der argumentierenden Vernunft nicht äußerlich; der autonome Wille wird der Vernunft vollständig (! WL) internalisiert. (113, Hervorhebung WL)

Offensichtlich wird hier ein überaus emphatischer Vernunftbegriff in Ansatz gebracht. Das utopische Element daran wird freilich von Habermas nicht verschwiegen. Es handelt sich um einen normativen Entwurf, der in der Nachfolge Rousseaus und Kants an der Frage orientiert ist, wie der (vernunftfähige) Einzelwille sich zum allgemeinen Willen zu entwickeln vermag, ohne erneuter Repression zu unterliegen. Ein großer Teil der Habermas-Kritik setzt hier seit jeher an, aber mit bloß empiriegestützten Einwänden lässt sich das Fundament der Diskursethik nicht erschüttern. Zwei Anschlussfragen müssen hier nicht näher verfolgt werden, nämlich wie man von den grundlegenden Diskursen über allgemeine Regeln zu „Anwendungsdiskursen“ übergehen kann,75 und welche Übersetzungsschritte zwischen Ethik und Recht eingeschaltet werden müssen.76 Deutlich ist, dass Habermas eine klare Vor- oder Überordnung des moralischen Vernunftgebrauches und damit einer modernen deontologischen Ethik postuliert, dass er aber gleichzeitig die Unaufgebbarkeit der Verbindung der diskursiven Prüfung von moralischen Geltungsansprüchen mit den Fragen einer gemeinsam geteilten Lebenspraxis betont. Eine Konsequenz diese Ansatzes liegt darin, dass es beispielsweise in Fragen der modernen Bioethik nicht bloß um verallgemeinerungsfähige Regeln, Prinzipien und Gesetze geht, sondern immer auch um kulturell überlieferte Vorverständnissse und Verständigungen hinsichtlich dessen, was menschliches Leben ausmacht. Die Moral vernünftiger Wesen bedarf der Einbettung in die Sittlichkeit einer politisch verfassten Gesellschaft, letztlich der Weltgesellschaft. Pragmatisch

Ethisch

Moralisch

Perspektive

Zweckmäßigkeit

Das Gute

Das Gerechte

Theorieansatz

Rational choice

Bene vivere

Pflichtenethik

Beispiel

Hobbes

Aristoteles

Kant

75 Siehe als Beispiel Wolfgang Kuhlmann, Diskursethik und die neuere Medizin. Anwendungsprobleme der Ethik bei wissenschaftlichen Innovationen, in: Jan P. Beckmann (Hg.), Fragen und Probleme einer Medizinischen Ethik, Berlin/New York 1996, 94–117. 76 In seinen Tanner-Lectures (1986) ist Haber-

mas auf diese Fragen näher eingegangen; abgedruckt im Anhang zu seinem rechtsphilosophischen Buch: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, 541– 599.

Konzeptionen philosophischer Ethik

Problem

Rationale Wahl technischer Mittel bei gegebenen Zwecken Rationale Abwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen

Wertentscheidungen der Lebensführung Charakter und Ideal

Vereinbarkeit meiner Maximen mit denen anderer unter Konfliktbedingungen nach einem allgemeinen Gesetz

Fragestellung

Was ist eine rationale Wer bin ich? Was soll ich tun? Wahl? Wer möchte ich sein? („schwaches“ Sollen) Was ist ein „gutes Le- („starkes“ Sollen) ben“?

Anthropologie und Ethos

Homo homini lupus

Autorität

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Animal rationale Animal rationale Einsichtsfähigkeit und „ungesellige GeselligBildsamkeit keit“ Tugenden Gesetz und Pflicht

Historische politische Verfassung

Autoritärer Fürstenstaat

Polis der Freien

Konstitutionelle Republik aller Bürger

Gesellschaft

Ständische Ordnung und Schichtung

Klassen Stationäre Ordnung

Reformen nach Prinzipien rechtliche Gleichheit

Internationale Politik

Staatliche Souveränität Selbstbehauptung und Föderalistische VölkerKoordination rechtsordnung Ius ad bellum Ius in bello Pax et iustitia

Mögliches Motto

Auctoritas non veritas Communio et traditio Veritas et consensus fafacit legem faciunt legem ciunt legem

Imperative

Technische und strate- kluge Ratschläge gische Handlungsanweisungen

Handlungssorten

Strategisches und in- Einverständnishandeln Prinzipiengeleitetes strumentelles Handeln Handeln

Willensform

Willkür

Entschlusskraft Entscheidung

Öffentlichkeit

Gleichgültigkeit der Anderen

Gemeinschaftshandeln Universell erweiterte Inklusion, Diskurszugänglichkeit

Moralische Urteile

Freier Wille zur Selbstgesetzgebung im Blick auf allgemeine Prinzipien

Übersicht: Grundlagen, Dimensionen und Implikationen der Habermas’schen Diskursethik

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Teil II Gegensätze

1.7 Tugendethik Vor zwanzig oder dreißig Jahren klang in vielen Ohren die Rede von Tugenden antiquiert. Dass Menschen sich an traditionellen Tugenden und nicht an kritisch geprüften Gründen in ihrem Tun und Lassen orientieren sollten, war keine zeitgemäße Auffassung. Aus verschiedenen Anlässen kam es indes seither zu einer (behutsamen) Rehabilitierung der Tugenden. Vertreter der praktischen Philosophie, denen das Etikett des „Kommunitarismus“77 angeheftet wurde, haben unter Aufnahme antiker und neuzeitlicher Tugendauffassungen (Aristoteles, Stoa, Hegel) daran erinnert, dass auch die Frage nach rationalen Handlungsprinzipien eine vorgängige Zugehörigkeit zu einer (sittlichen) Gemeinschaft voraussetzt, dass individuelle Selbstbestimmung ohne Rücksicht auf geteilte Vorstellungen eines „guten Lebens“ schnell den Boden unter den Füßen verliert, dass eine Gesellschaft, wenn sie Bestand haben soll, vielfältiger, weithin geteilter Verpflichtungen der Bürgerinnen und Bürger untereinander ebenso bedarf wie gemeinsamer Vorstellungen darüber, wie sie ihr Leben führen wollen. Offensichtlich sind dies zwar alles Argumente, denen sich weder Kant noch Utilitaristen noch Diskursethiker verschließen würden. Vor allem ist leicht zu zeigen, dass, was als Kommunitarismus bezeichnet wird, teilweise völlig unvereinbare theoretische und politische Positionen umfasst. Doch in der Besinnung auf (Bürger-)Tugenden findet sich eine wichtige Gemeinsamkeit. Jean-Claude Wolf versteht unter Tugendethik eine „komplexe Disposition zur weisen Erwägung von moralisch relevanten Umständen“.78 Es geht nicht so sehr um die Erkenntnis, Begründung und Einhaltung von Gesetzen, Maximen und Pflichten, sondern um die in Bildungs- und Erfahrungsprozessen auszubildende und zu verstetigende Fähigkeit, sich unter allen (oder beinahe allen) Umständen klug, abwägend, umsichtig und gemeinschaftsverträglich verhalten und entscheiden zu können. Dahinter schimmert das Ideal des gebildeten und auf seine Weise souveränen Mitgliedes einer politischen Gemeinschaft von Freien und Gleichen durch, also eine gleichsam aristotelische politische Gesellschaft. „Die Tugenden sind Lebenshaltungen, die sich nicht in spezifischen Handlungsvorschriften erschöpfen, sondern sich vielmehr in einem Lebensstil niederschlagen.“79 Wo der Aufriss der Ethik des Aristoteles und insbesondere seine Tugendlehre als bleibend vorbildlich betrachtet wird – über Jahrhunderte hinweg in der stoischen 77 Mit der „dialektischen Theologie“ zu Beginn des 20. Jh. haben die „communitarians“ gemeinsam, dass ihnen das Etikett vor allem von Kritikern angeheftet wurde, unerachtet der tiefen Unterschiede zwischen den Positionen. 1982 erschien das Buch von Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge (21998), das eine Kritik bestimmter liberaler, individualistischer Gerechtigkeitstheorien enthält. Michael Walzer veröffentlichte mit vergleichbarer Stoßrichtung 1983 sein Buch „Spheres of Justice“

(Oxford); Amitai Etzioni aus soziologischer Sicht sein Buch „The Spirit of Community“, New York 1993. Gute Übersichten geben Daniel Bell, Communitariansm, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/communitarianism), sowie Hartmut Rosa, Kommunitarismus, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 218– 230. 78 A.a.O. 107. 79 Ebd.

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Tradition, in der mittelalterlichen Ethik, in der altprotestantischen, von Melanchthon und Calvin geprägten Ethik und dann der römisch-katholischen Moraltheologie bis hin zu heutigen Positionen (Alasdair MacIntyre,80 Martha C. Nussbaum,81 in gewisser Weise auch Robert Spaemann82) –, dort begegnen tugendethische Überzeugungen in unterschiedlichen Verbindungen mit religiösen Überzeugungen, Begründungen von Gesetzen oder Normen oder modernen Ethikkonzepten. Tugendethik erweist sich bei näherer Betrachtung als notwendige Ergänzung fast aller Ethikkonzepte, sofern diese daran interessiert sind, das, was sie lehren, im Leben von Menschen dauerhaft zu verankern, zu „habitualisieren“.83 1.7.1 Der Ort der Tugendethik war in der Antike ursprünglich eine relativ statische (nicht: stabile) Gesellschaft freier Bürger (Männer). Tugendethik zielt auf die Ausbildung der fronvsiß, der klugen, erfahrungsgesättigten und komplexe Umstände berücksichtigenden Urteilsfähigkeit bei Menschen, und zwar durchaus angesichts unsicherer Lebenslagen, in denen es gilt, sich dauerhaft eine gewisse identitätsfördernde, kontinuierliche Weise der Lebensführung – allen Umständen zum Trotz – zu gewinnen und zu erhalten. Der Tugendethik eignet in sozialer Hinsicht eine gewisse Nähe zu einer Aristokratie, nicht notwendig erblicher, sicher nicht finanzieller Art, sondern zu dem, was man „Adel des Geistes“ (Thomas Mann) nennen könnte. In gewisser Weise komplettiert die Tugendethik andere Ethiken vor allem in der Hinsicht, dass sie die Dimension des „inneren Menschen“ anspricht, und zwar in einer indirekten Weise im Blick auf die Verstetigung (und nicht so sehr die reflektierende Begründung bzw. Rechtfertigung) des Verhaltens. In der gegenwärtigen Ethik-Debatte sind tugendethische Ansätze häufig in Antithese zu utilitaristischen, kontraktualistischen und insbesondere zu libertaristischen Entwürfen erneuert worden. Kritisiert werden an solchen Konzeptionen vor allem deren Anthropologie (der Ansatz beim – vermeintlich – isolierten, lediglich Vernunftgründe kritisch prüfenden Individuum) und die Vernachlässigung der kultur80 After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame, IN 1981, 21984, deutsch v. Wolfgang Rhiel, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1987. 81 Zum Beispiel: Gerechtigkeit oder das gute Leben, hg. v. Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt a. M. 1999. 82 Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, bes. 15–44 und 73–84. 83 Die reformatorische Kritik am Habitus-Charakter der kirchlich propagierten Moral richtete sich nicht gegen diesen Aspekt, sondern gegen dessen Verselbständigung im Sinne heilswirksamer frommer Leistungen des (später sich gar als autonom verstehenden) Subjekts. Gegen eine vom Menschen aus eigener Kraft, zu eigener Vollkommenheit entwickelter virtus (im Sinne eines

festen habitus) richtete sich die Kritik Martin Luthers im Namen derjenigen Gerechtigkeit, die Gott allein dem Menschen zuspricht. In der Disputatio contra scholasticam theologiam heißt es pointiert: „Nulla est virtus moralis sine vel superbia vel tristicia id est peccato.“ (1517, StA Bd. 1, 163–172, hier 168; deutsch: Es gibt keine moralische Tugend, die ohne Hochmut oder Verzweiflung, d. h. ohne Sünde ist). Zu Problemen einer evangelisch-theologischen Rehabilitierung der Tugendlehre vgl. Konrad Stock, Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh 1995; Martin Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff Tugend. Die Zweideutigkeit der Tugend (1998), in: ders., Wege evangelischer Ethik, Freiburg i.Ue./Freiburg i.Br. 2002, 88–99.

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ellen, gemeinschaftsbezogenen Rahmenbedingungen, unter denen Menschen handeln (Familien, Stämme, Religionen, Volkszugehörigkeiten, Sprach- und Traditionsgemeinschaften). Ausgespielt werden dann „universalistische“ Prinzipien gegen „partikulare“ Tugenden. Tugenden – als kulturspezifische Fähigkeiten, das herkömmlich Gute aufzunehmen, zu erkennen und zu verstetigen, verstanden – werden der (vermeintlich abstrakten) Frage der Bestimmung des Rechts oder des Gerechten – als Inbegriff universaler Prinzipien verstanden – vorgeordnet. Ob diese Alternative wirklich überzeugen kann, bezweifle ich, denn sie erscheint mir in erheblichem Umfang wie eine Neuauflage des Gegensatzes von Individual- und Sozialethik. Es war aber schon eine fundamentale Einsicht der antiken Ethik, dass es darum gehe, eine gute Bürgerin oder ein guter Bürger in einem politischen Gemeinwesen mit gerechten Gesetzen zu sein. 1.7.2 Die Grundannahme oder Grundeinsicht der Tugendethik ist die Erkenntnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen den kulturellen Rahmenbedingungen des sozialen Lebens, den äußeren und inneren Verhaltensdispositionen, der Prüfung von Handlungsoptionen und Beurteilungsgesichtspunkten für relevante Entscheidungen und einer hinreichenden Folgenorientierung. Tugendethik zielt auf ein von den inneren sittlichen Kräften der Menschen gesteuertes Gleichgewicht und Maß ihrer gemeinschaftlichen Lebensführung. Sie kann durchaus sowohl pflichtenethische Aspekte als auch konsequenzialistische Elemente integrieren, denn sie ist offen für die Vielfalt der Lebensverhältnisse, in denen Menschen miteinander umgehen. Sie zeichnet sich durch eine erhebliche Spannbreite situativ anpassungsfähiger Konkretionen aus. Sie ist relativ stabil und konsequent hinsichtlich des Charakters dessen, der sich um kluges Abwägen bemüht, relativ flexibel in der fallweisen Konkretisierung, ohne von den jeweiligen Situationen abhängig zusein. Tugendethik fördert Charakterstärke und Prinzipienfestigkeit ohne Rigorismus. 1.7.3 Die große Leistung der Tugendethik sehe ich in ihrer Ausrichtung auf Bildungs- und Erziehungsprozesse in einer gewachsenen Kultur. Daher war es nicht erstaunlich, sondern konsequent, dass in der Frühgeschichte evangelischer Ethik schon Melanchthon tugendethische Elemente trotz Luthers harschen Verdikten über Aristoteles wieder aufnahm. Betont werden die gleichsam transmoralischen, sozialen und existenziellen Grundlagen von Recht und Moral. Das gilt bis heute: Man spricht nach wie vor vom „ehrbaren Kaufmann“, wenn dieser sich nicht bloß an die bestehenden Gesetze hält, sondern im Geschäftsleben ein insgesamt zuverlässiger Partner ist, und zwar auch dann, wenn nicht jede kleinste Abmachung gerichtsfest schriftlich fixiert ist. Man spricht ebenso von den vorvertraglichen Grundlagen der Verträge; die alten Redeweisen von „Treu und Glauben“ und den „guten Sitten“ (nicht im moralistischen Sinne) erinnert daran, dass ohne die wechselseitige Erwartung eines irgendwie verlässlichen Charakters und einer tugendhaften Haltung menschliche Kommunikation schlicht und einfach sehr mühsam wird.

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1.7.4 Die Implikationen einer Tugendethik verstehen sich fast von selbst: Es ist vor allem ein offener oder latenter Konservativismus als Ausdruck des Misstrauens gegenüber jeder radikalen Kritik, gegenüber jedem radikalen Individualismus und Liberalismus. Die Tugendethik kennt meist keine Neuerungsbedürfnisse, keine cupiditas rerum novarum , keine Umsturzgesinnung, welche Traditionen kritisch prüft und gegebenenfalls (mit Gründen!) verwirft, keine grundsätzliche Kritikmöglichkeit an allem, was nur de facto besteht. In der neueren Tugendethik, insbesondere im Kontext kommunitaristischer Positionen, wird freilich häufig nicht bedacht, dass es unter der Voraussetzung aufklärerischer Kritik auch eine politische Radikalität jener gegeben hat, die eine abstrakte, revolutionäre Tugend proklamiert haben, dort nämlich, wo die Aufklärung ihren eigenen Willen zur Macht erfolgreich verschleiert und sich hinter der „Maske eines Allgemeinwillens“ versteckt hat.84 Bisweilen eignet ihr eine gewisse Nähe zum sogenannten Tutiorimus, was besagt: Wer eine neue Neuerung, sei es technisch, sei es moralisch, einführen will, hat die Beweislast dafür zu tragen, dass die neue Lösung in möglichst umfassenden Hinsichten gegenüber älteren Verfahren oder Einrichtungen als die bessere erwiesen werden kann. Praktisch kann das eine entsprechende Verteilung von Beweislasten etwa in Genehmigungsverfahren der Verwaltung und ihrer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung oder auch eine relativ konservative Haltung in Fragen der Entwicklungsplanung von Städten und Landschaften bedeuten. Tugendethik scheint eine Affinität zur Bewahrung gewachsener Traditionen zuhaben. Insofern ist es kein Zufall, dass sie in jüngster Zeit besonders im amerikanischen Kommunitarismus ebenso wieder begegnet wie in den Programmen eher konservativer Parteien. 1.7.5 Damit ist auch schon die Stoßrichtung der Tugendethik angedeutet. Sie gilt der Ausbildung einer realistischen, komplexitätsbewussten ethischen Kompetenz, die von fehlbaren, endlichen Menschen gleichsam verinnerlicht, habitualisiert werden kann. Eine tugendethische Erweiterung einer Prinzipienethik ist vermutlich aus mehreren Gründen erforderlich: (1) Die (logische) Herleitung und Begründung von Pflichten, die unter Umständen oder jederzeit zu befolgen sind, kann als solche die Menschen nicht (automatisch) dazu bewegen, entsprechend zu handeln – sie handeln falsch oder böse trotz entgegenstehender Einsicht. Eine theoretische Begründung von Pflichten oder Handlungszielen ist nicht identisch mit einer zureichenden Motivation, dem entsprechend tatsächlich zu handeln. (2) Menschen, die nach universalen Prinzipien fragen und sie formulieren, bleiben in der Regel in irgendeiner Form doch ihrer Herkunft, ihrer Klassenlage, ihrem Geschlecht und ihrer Epoche verhaftet. Sie können diese Ausgangsbedingungen transzendieren, aber nicht vollständig (erfolgreich) negieren. (3) Tugenden bilden den Boden, auf dem die Frage nach rationalen Geltungsansprüchen ausgetragen werden kann.

84 Zu dieser „Diktatur der Tugend“ vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pa-

thogenese der bürgerlichen Welt (1959), Freiburg/München 21969, 132–139.

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1.7.6 Schließlich ergeben sich Fragen an die Tugendethiker; ich nenne nur folgende: Welches Menschenbild steht dahinter? Doch erneut der souveräne, stoisch-stolze, erwachsene, freie, konservative und traditionsbewusste Mann? Wird Tugend als eigene Leistung und Grund des verhaltenen Stolzes verstanden? Tugendethik denkt zwar im Blick auf soziale Verhältnisse, aber von starken, entscheidungswilligen Individuen her. Ihre Selbstvervollkommnung ist wichtiger als Barmherzigkeit (Kant: fremde Glückseligkeit, eigene Vollkommenheit). Was bleibt, wenn die Lage so schlecht ist, dass die Tugenden sich nicht einstellen wollen? (Brecht) Tugenden sind pervertierbar. Was wird aus habitualisierten Tugenden unter Bedingungen des Ausnahmezustandes? Dies war ein Ausgangspunkt von Bonhoeffers Kritik sowohl an der Pflicht- als auch der Tugendethik, und hier liegt das unaufgebbare Recht jeder Kritik an der Verselbständigung sogenannter Sekundärtugenden. Schließlich fehlt in vielen Tugendethiken die Frage danach, was ein tugendhaftes Leben allererst ermöglicht. Welches ist der Grund dafür, inFreiheit tugendhaft leben zu können? Hier berühren wir erneut das Zentrum einer theologischen Freiheitsethik: Für sie ist der entscheidende Grund der Ausbildung von Tugenden die Dankbarkeit für die Erfahrung geschenkter Freiheit – im zwischenmenschlichen Verhältnis ebenso wie im Gottesverhältnis.85

1.8 Rückblick Bei den typisierend dargestellten Ethik-Konzeptionen fällt auf, dass sie sich zwar klar unterscheiden, in wichtigen Hinsichten sich auch berühren und überschneiden. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass alle Ethiken auf sachliche Bezugsprobleme ausgerichtet sind (siehe I, 1.3), die man nicht beliebig vernachlässigen darf. Wichtiger ist aber, dass alle Konzeptionen der Ethik vom Ansatz her kommunikativ sein müssen, ist doch überhaupt die ambivalente Möglichkeit von Konflikt und Kooperation der Boden, auf dem Kommunikation über ethische Sachverhalte unabdingbar ist. Ethik kann niemand monologisch betreiben. Deshalb ist es alles andere als Zufall, dass wir in der antiken Ethik im allgemeinen, in der der Stoa und Ciceros im besonderen, einen ausgesprochenen Eklektizismus antreffen. Dasselbe gilt aber auch für die neuzeitliche Ethik. Selbst noch eine so scheinbar aus einem Guss gefügte Ethik wie die Immanuel Kants erweist sich bei näherem Zusehen in vielfältigen Auseinandersetzungen mit anderen Positionen begriffen, von denen wichtige Einsichten rezipiert und in einen neuen Bezugsrahmen gerückt werden. Aus größerem Abstand betrachtet, erkennt man, dass beispielsweise Einsichten der Tugendethik ebenso wie legitime Interessen utilitaristischer oder eudaimonistischer Traditionen 85 Vgl. hierzu bes. Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998, 166 ff.

Konzeptionen philosophischer Ethik

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durchaus ihren Platz finden, freilich oft in einem ungewohnten Gefüge und Begründungszusammenhang. Alle Ethik-Konzeptionen, die ich – als Grundtypen – skizziert habe, sind überdies je für sich ein Kind ihrer Zeit. Sie reagieren alle erkennbar auf aktuelle Herausforderungen, ihre Autoren nahmen in den Auseinandersetzungen und Hoffnungen ihrer Epochen meist intensiv Anteil, sie haben auch je und dann konkret Stellung bezogen. In diesem starken Bezug auf die (Zeit-) Geschichte unterscheidet sich die praktische natürlich sehr von der theoretischen Philosophie. Überdies habe ich zu zeigen versucht, dass auch die scheinbar abstrakten Grundlagenfragen in einem zumindest mittelbar sehr engen Verhältnis zur konkreten Praxis endlicher Menschen stehen. Die Erörterungen über die Willensfreiheit sind von erheblicher Bedeutung, wenn es um die Arbeit und das Ethos der Strafjustiz geht oder wenn man über geeignete Formen des Strafvollzuges nachdenkt oder wenn man zu begründen versucht, weshalb eine lebenslange „Verwahrung“ eines Delinquenten ohne die Möglichkeit einer richterlichen Nachprüfung der Haftgründe mit elementarsten Menschenrechtsgarantien unvereinbar ist. Und ebenso ist für den Umgang mit mitmenschlichen Geschöpfen die Frage höchst bedeutsam, ob Menschen sich in ihrem Verhältnis zu Tieren einem Schöpfer gegenüber verantwortlich wissen oder sich ein unbegrenztes Verfügungsrecht über Tiere wie über Sachen selbst zuerkennen. Aus dem grundsätzlich dialogischen Charakter der Ethik folgt, dass sie auf die (politische) Öffentlichkeit und damit auf Grundsätze der Publizität bezogen ist. Als kommunikative Praxis lebt sie davon, dass versucht wird, den besonderen „moral point of view“ eines Gesprächspartners zu verstehen, mit eigenen Prämissen und Erwartungen zu vergleichen und, soweit möglich, sich auch in die Position der Anderen, des Fremden, ja des Gegners hineinversetzen zu können. Zur Ethik gehört das Ethos eines möglichst unparteiischen und doch positionell erkennbaren Kommunikationsteilnehmers. Dies ist mehr als eine distanzierte Beobachterrolle; es ist die Rolle eines dialogischen, lernbereiten und argumentationswilligen Kommunikationsteilnehmers. Aus diesen und weiteren Gründen ist es unübersehbar, dass es zwischen den oben vorgestellten Typen zahlreiche Überschneidungen gibt, ja geben muss. So ist auch in Kants Ethik für die Tugenden und das Streben nach Glückseligkeit selbstverständlich Platz, nur bisweilen an ungewohnten Stellen. Utilitaristen sind in der Regel nicht die Egoisten, als die sie oft dargestellt werden, und ganz ohne Metaphysik kommt vermutlich gar keine Ethik aus (es fragt sich nur, welchen Begriff von Metaphysik man verwendet). Die theologische Ethik ist schließlich darüber hinaus keinem bestimmten Typus der Ethik auf Gedeih und Verderb verpflichtet, aber sie tut sicher gut daran, den Dialog mit einer besonders herausfordernden Position wie derjenigen Kants zu suchen. Die folgende kleine Übersicht soll überdies etwas den Zusammenhang der wichtigsten Typen verdeutlichen.

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Teil II Gegensätze

Typen der Ethik Kantische Ethik

Utilitarismus

Diskursethik

Ort/Zeit

Preußen des 18. Jh. (Auf- Britisches Empire des 18./ Sozialliberale bürgerliche klärung) 19. Jh. Gesellschaften 20. Jh.

Personen

Immanuel Kant (1724– 1804)

Kennzeichen – Allgemeingültigkeit des Sollens wird als Pflicht erfahren. – Das Sollen verdankt sich der gesetzgebenden Vernunft, die das unabweisbar Gute und darum Verpflichtende, Allgemeingültige erkennt.

– „Gut“ genannt werden können nur Maximen (=„subjektive Prinzipien des Wollens“), die sich uns aufgrund der Vernunftnatur auferlegen: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“

– Der Wille ist das Vermögen der Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung (Autonomie); Läuterung des eigenen Willens von allen eigensüchtigen Bestimmungen, ist das Ziel der Ethik. – Maßstab für das Wollen, so dass es als gutes, bedingungsloses Wollen, als

Jeremy Bentham (1748– 1832), John Stuart Mill (1806–73)

Jürgen Habermas (* 1929), Karl-Otto Apel (* 1922)

Diskurs: die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation, in der problematisch gewordene – Nicht nur Orientierung Geltungsansprüche auf iham individuellen, sondern re Berechtigung hin theam Wohlergehen aller Be- matisiert werden. troffenen (einfach Aggregation statt solipsistische Einstellung) – Regeln des Diskurses als – Möglichst umfassende herrschaftsfreiem Dialog: 1. Jeder darf teilnehmen; Folgenberücksichtigung 2. Jeder darf jede Behaupfür Beurteilung des gesamten Nutzens (Konse- tung a) problematisieren, b) in den Diskurs einführen quentialismus) c) seine Einstellungen, Wünsche, Bedürfnisse äußern; – Verständigung über Ba- 3. Kein Sprecher darf durch Zwang daran gesiskriterien von Vorziehindert werden, seine henswürdigem (dem Guten) soll gesucht wer- Rechte wahrzunehmen. den (Weg: rationale Begründung) – Diskurs zur Begründung von Normen, die eine gewaltfreie, rationale und – Prinzip des größtmögli- allgemeinzustimmungsfähige Lösung von Konflikchen Glücks („greatest happiness principle“) dop- ten ermöglichen sollen. pelte Maximierung: mög– Diskursethik als Verfahlichst großes Glück für möglichst große Zahl von rensethik, basierend auf formalprozeduralem PrinBetroffenen zip: Inhalte, d. h. alles, was zur Lösung eines Konflikts getan werden soll, wird im – Gut ist, was dem individuellen und sozialen Glück (Wohlergehen) förderlich ist.

Antike und moderne Ethik

Pflicht gelten darf, ist der kategorische Imperativ Prüfungsgrundsatz

Kategorischer Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen kann.“

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praktischen Diskurs der Betroffenen verhandelt. Handle so, dass die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregel für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.

Eine Norm darf nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen, dass diese Norm gilt.

2. Antike und moderne Ethik Im vorigen Abschnitt wurde mehrfach auf die Gegenwart älterer Ethik-Konzeptionen in heutigen Entwürfen verwiesen. Im folgenden versuche ich, die herkömmlichen Vormeinungen über die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegensätze von antiker und moderner Ethik erneut aufzunehmen, vielleicht sogar zu verwirren und auch wieder zu entwirren. Zwischen nur scheinbaren und wirklichen Gegensätzen in diesem Feld ist zu unterscheiden, um zu zeigen, dass und wie sehr die Grundprobleme der Ethik in verschiedenen epochalen Kontexten sich durchhalten. Dass die neuzeitliche Ethik der antiken überlegen sei, denke ich nicht, aber es gibt, wenn man genauer zusieht, unterschiedliche Selbstverständlichkeiten in beiden Zusammenhängen. Auf jeden Fall wird man die Unterschiede von antiker und moderner Ethik, die es zweifelsohne gibt, nicht im Sinne eines Fortschritts in der Moral oder in der Ethik (als ethischer Theorie verstanden), deuten dürfen. Indes kann es für die Verständigung zwischen den aktuellen Auffassungen von Sittlichkeit und Moral zweckmäßig sein, wenn man unterschiedliche Ethik-Konzeptionen typisierend herausarbeitet und ihre besonderen Anliegen, Schwerpunkte, Leistungen und Schwachstellen näher bestimmt. Ein solches vergleichendes Verfahren hat nebenbei den Vorteil, dem tatsächlichen Pluralismus von Ethik-Konzeptionen vor allem, aber nicht nur in der Neuzeit Rechnung zu tragen und zugleich das Weiterwirken älterer Entwürfe – teilweise unter veränderten Ausdrucksweisen – verständlich zu machen. 2.1 Nähe und Ferne: Gemeinsame Motive Antike und moderne Ethik verhalten sich nicht exklusiv-kontradiktorisch zueinander, aber sie stehen in unterschiedlichen Kontexten, die durch teilweise sehr gegensätzliche Herausforderungen, Erfahrungen, Erwartungen, Traditionen und Üblichkeiten – kurz: durch ganz unterschiedlich bestimmte und wirkende Mentalitäten der Menschen und gesellschaftliche Strukturen geprägt sind.

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Teil II Gegensätze

Robert Spaemann beginnt sein Buch Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik 1 mit folgenden Sätzen: Dieser Versuch über Ethik enthält hoffentlich nichts grundsätzlich Neues. Wo es um Fragen des richtigen Lebens geht, könnte nur Falsches wirklich neu sein. Und doch muss das, was Menschen immer schon wissen, von Zeit zu Zeit neu gedacht werden, weil die realen Bedingungen des Lebens und die zur Verfügung stehenden Begriffe für unsere Selbstverständigung sich wandeln.

Sein Ziel ist, Ethik als „Lehre vom Gelingen des Lebens“ zu rehabilitieren, und seine erklärten Gegner sind Ethiken mit universalistischem Anspruch vom Typus des neuzeitlichen Utilitarismus und des Konsequenzialismus, welche die Parole einer modernen Ethik ohne Metaphysik 2 erheben. Dieses hier schon mehrfach berufene Programmwort wird freilich in seinem Gehalt nur klar, wenn man genau angibt, welches Metaphysik-Verständnis ihm zugrunde liegt. Immanuel Kant jedenfalls hat keine Ethik ohne Metaphysik vertreten, wohl aber eine religionsneutrale Moral in dem präzisen Sinne, dass ihre Maximen und Grundsätzen nicht von einer externen Herrschaftsinstanz, womöglich in Gestalt einer Kirchenlehre, vorgeschrieben werden dürfen. Die Vorrede zu seiner Religionsschrift von 1793/94 beginnt mit den Worten: Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Wenigstens ist es seine eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfnis in ihm vorfindet, dem aber alsdann auch durch nichts anders abgeholfen werden kann; weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgibt. – Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objektiv, was das Wollen, als subjektiv, was das Können betrifft) keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft, ist sie sich selbst genug.3

Dass die Moral des Menschen, die (allein?) „aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt“, hinreichend sei für die Orientierung der menschlichen Lebensführung, be1 Stuttgart 1989. 2 So der Titel einer für jede heutige Ethik beachtenswerten Aufsatzsammlung von Günther Patzig, Göttingen 1971. Patzig besteht in Abwehr aller Zumutungen einer heteronomen Ethik zurecht auf der Notwendigkeit, sittliche Überzeugungen und Normen vernünftig und allgemein nachvollziehbar zu begründen. „Ohne Metaphysik“ heißt bei ihm freilich nicht, weitergehende Annahmen (wie die von einem Schöpfergott oder dem Ursprung menschlicher Freiheit in der Rechtfertigung oder Erwählung des Menschen durch Gott) dogmatistisch zu negieren, sondern lediglich, dies aber immerhin, für den Fall der Einführung derartiger Annahmen eine

systematische Darlegung von (aus nicht notwendig allgemein geteilten Prämissen folgenden) rationalen oder zumindest plausiblen Rechtfertigungsgründen zu verlangen. 3 Die Religion innerhalb der bloßen Vernunft (1793, 21794), Zitat in: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 4, 649. Eine neue Edition auf der Grundlage der zweiten Auflage (B), der Akademieausgabe sowie unter Berücksichtigung wichtiger Textvarianten hat Bettina Stangneth in der Philosophischen Bibliothek vorgelegt (Hamburg 2004) und dabei auch die zeitgeschichtlichen Bedingungen (Zensur in Preußen) und Wirkungen des Textes beschrieben.

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streitet Spaemann. Nichts läge näher, als wenn man als Kind des 20. Jahrhunderts dafür die leichte Korrumpierbarkeit der Vernunft und die ungeheuren Gefährdungen der Freiheit des Menschen anführen würde. Spaemann prüft die neuzeitliche Position des Vernunftglaubens, indem er auf die Grundlagen und Leistungen älterer Ethik-Konzepte zurückgeht. Vor dem Gegenbild besonders der Ethik-Entwürfe Platons, Aristoteles’ und Thomas’ v. Aquin, welche bei allen tiefgreifenden Unterschieden doch in dem Streben nach Glück (eudaimonia), den Aufgaben der Erhaltung eines von Gesetzen geordneten Gemeinwesens (poliß) und dem vernünftig-abwägenden Urteilen (fronvsiß) und der Fähigkeit zum Wohlwollen (empaheia) gegenüber Anderen maßgebende Fundamente haben, skizziert Spaemann den Konsequenzialismus als eine spezifisch neuzeitliche ethische Grundstellung. Sowohl die heidnischantiken ethischen Traditionen als auch die christlichen Weiterbildungen, besonders des Mittelalters, folgten im Kern der aristotelischen Auffassung, dass alle Menschen nach Zielen und Gütern streben, deren höchstes das Glück ist. Zwar verstehen die Menschen Unterschiedliches unter dem höchsten Gut, nach dem sie streben, aber es hat in erster Linie damit zu tun, dass es zwischen dem „guten Handeln“ und dem „guten Leben“ eine Entsprechung geben soll und kann, welche Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik (NE) als Glückseligkeit bezeichnet (1095 a 18). Im Vorgriff auf die weiteren Ausführungen nennt Aristoteles in NE I die Glückseligkeit eine „Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen Tugend“ (Übersetzung Olof Gigon); es heißt wörtlich über das „Gute“: to de anhwpinon agahon yucvß energeia ginetai kat‘ aretvn, ei de pleiouß ai aretai, kata tvn aristvn kai teleiotatvn. eti d en biw teleiw (1098 a 16–20) Das für den Menschen Gute ist (a) die Aktivität (energeia ) der Seele (b) gemäß der Vortrefflichkeit (areté ), (c) bzw. wenn es mehrere Arten der Vortrefflichkeit (areté ) gibt, gemäß der besten und vollkommenen – (d) und dies während eines ganzen Lebens.4

Glück ist eine Fähigkeit der Seele „gemäß der ihr wesenhaften Tätigkeit“ (1102 a 5; Übersetzung Franz Dirlmeier). Hinsichtlich der Tugenden oder „wesenhaften Tätigkeiten“ unterscheidet Aristoteles sodann die sogenannten „dianoetischen“ und „ethischen“ Tugenden. Erstere gehen aus mehr oder weniger kognitiven Prozessen hervor; sie bedürfen der Erziehung, der Erfahrung und entwickeln sich in der Zeit. Die Letzteren haben ihren Grund in der (sozial vermittelten) Gewohnheit. Diesen Tugenden bzw. Tüchtigkeiten ist eigentümlich, dass sie auf ein durch Überlegungen und Entscheidungen bestimmtes Verhalten bezogen und nicht einfach instinktiv, reaktiv, fremd gesteuert oder angeboren sind und dass sie charakteristischerweise eine vernünftig abwägende Lebensweise zwischen Extremen voraussetzen und ermöglichen. Die Tugenden sind auf so etwas wie eine Mitte und ein Maß hin angelegt, und 4 Übersetzung nach Christof Rapp, Aristoteles, in: Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 69–81 (72).

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alle individuellen und gesellschaftlichen Bildungsprozesse sollen deshalb darauf hinauslaufen, gute Bürger für eine gut funktionierende, wohlgeordnete Polis hervorzubringen. Welches sind demgegenüber die unterscheidenden Merkmale der neuzeitlichen Ethik und exemplarisch die des „Konsequenzialismus“? Für einen Konsequenzialisten kommt es entscheidend auf die rechtfertigungsfähigen Folgen einer Handlung an; „gut“ kann eine Handlung dann und nur dann genannt werden, wenn sie in der Gesamtsumme ihrer zeitlichen Folgen mehr „Gutes“ hervorbringt als jede andere Handlung, die dem Handelnden auch möglich (gewesen) wäre. Das „Gute“, welches dabei erstrebt und vielleicht erreicht wird, ist das von Individuen oder Kollektiven subjektiv Vorgezogene oder als vorziehungswürdig Empfundene. Zahlreiche Utilitaristen schlagen als Grundbestimmungen eines erstrebenswerten „Guten“ die Vermeidung von Schmerz und Leiden vor; auch Ernst Tugendhat, auf den unten noch einzugehen ist, bezieht seinen Begriff des Guten (zunächst) auf die nahezu von allen Menschen angestrebte Vermeidung physischer und psychischer Krankheit als Inbegriff der Beeinträchtigung des freien Vermögens von Menschen, ihren Willen auf (weitere) erstrebenswerte Güter und ihre Vision eines anerkennungswürdigen, gelingenden Lebens auszurichten. Wenn man hier das Zentrum des modernen Konsequenzialismus sieht, dann liegt es nahe, zum Vergleich an die antike Schule Epikurs (342/1–271/70) zu erinnern.5 Epikur hat zwar nicht, wie das moderne Schlagwort des „Epikuräers“ suggeriert, das pure Genießen als einzige Tugend und Moralprinzip gelehrt. Vielmehr ging es ihm um eine von äußeren Einflüssen möglichst ungetrübte, selbstbestimmte Lebensführung und die Pflege der Freundschaft unter den Menschen.6 Aber er berührt sich mit dem neuzeitlichen Utilitarismus darin, dass er annimmt, dass alle Lebewesen bestrebt sind, Lust zu empfinden und Unlust zu vermeiden. Lust als Inbegriff und Ziel des glücklichen Lebens meint indes bei ihm und seiner Schule nicht Steigerung aller möglichen sinnlichen Erfahrungen und Reize, sondern das Erreichen einer genügsamen, maßvollen Balance aller Vermögen und Neigungen, die Integration leiblichen und seelischen Wohlbefindens. „Liegt doch allen unseren Handlungen die Absicht zugrunde, weder Schmerz zu empfinden noch außer Fassung zu geraten.“7 Dies ist nicht weit entfernt von dem, was bei Platon und Aristoteles das anzustrebende „Maß“ genannt wurde. Dabei denkt Epikur vom Einzelnen aus, der durch die Wahl seines Verhaltens für sich selbst über die für ihn erstrebenswerte „Lust“ entscheidet, während Platon und Aristoteles den Einzelnen stets im Zusammenhang

5 Textausgabe: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, übersetzt und hg. v. Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart 1980. Literatur: Malte Hossenfelder, Epikur, München 1998; Carl-Friedrich Geyer, Epikur zur Einführung, Hamburg 2000; Günther Bien, Grundpositionen der antiken Ethik, in: Heiner Hastedt/Ekkehard Martens

(Hg.), Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek 1994, 2 1996, 50–81 (hier 75–77). 6 In der von Epikur 306 in Athen gegründeten Schule, dem Kepos, lebten seine Schüler ohne persönlichen Besitz. Er nahm auch Verheiratete, Frauen und Sklaven als Schüler auf. 7 Zit. nach Bien, 76.

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des Gemeinwesens, der Polis, ja, dieser letztlich untergeordnet sehen. Auch sind die Individuen keinen Göttern verantwortlich, ohne dass Epikur sie leugnen würde. Diese Beispiele und Fragen lassen vielleicht erkennen, dass eine glatte Gegenüberstellung von antiker und moderner Ethik wenig hilfreich ist, dass aber in der Neuzeit ein entscheidendes und neues Prinzip jeder Begründung der Sittlichkeit darin liegt, dass es sich stets um eine freie, willentliche und vernünftige Entscheidung und Selbstfestlegung einer individuellen Person handelt, während in der antiken Ethik die Menschen überwiegend als Angehörige der Polis, also einer überindividuellen, institutionalisierten Gemeinschaft in den Blick kommen.

2.2 Kritik des Konsequenzialismus: ein Beispiel Eine Pflichtenethik sucht nach Kriterien für Handlungen, die unbedingt geboten oder verboten sind. Derartige Kriterien ziehen einem Nutzenkalkül und der Abwägung von Gütern und Strebenszielen Grenzen, sofern es Handlungen gibt, die grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden können. Der moderne (Handlungs-)Utilitarist oder Konsequenzialist bezieht sich in seiner Beurteilung vorziehenswürdiger Handlungen auf die gesamte in der Welt mögliche Summe von erstrebenswerten Gütern und Handlungsfolgen. In der Variante des sogenannten Regelutilitarismus erstreckt sich die Prüfung der Handlungsfolgen nicht mehr auf jede einzelne Handlung, sondern nur noch auf jene handlungsleitenden Regeln, von deren Befolgung erwartet werden darf, dass diese gesamthaft betrachtet mehr Nutzen als Schaden stiften. Diese Ethik-Konzeption, die oben (II,1.3) schon kurz vorgestellt worden ist, erfreut sich aus mehreren Gründen in der Gegenwart besonderer Zustimmung: Sie nimmt nicht Bezug auf religiöse oder metaphysische Argumente, sondern beschränkt sich auf die von Menschen tatsächlich artikulierten Wertungen und Präferenzen und die entsprechenden erstrebten Zwecke beziehungsweise Güter; sie fragt nach einer allgemein zustimmungsfähigen Regel, um unterschiedliche Wünsche und Wertungen zu gewichten und in eine Rangfolge zu bringen; sie ist primär folgen- und erfolgsorientiert und wenig interessiert an der Frage, ob eine Handlung an und für sich gut sei; sie entspricht sehr gut den Mentalitäten der Menschen in einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft, die grundsätzlich frei sind in Bezug auf ihre Strebensziele und die entsprechenden Handlungsweisen. Es gibt wohl kaum einen größeren Gegensatz sowohl zum antiken epikureischen Eudaimonismus wie auch zum neuzeitlichen Utilitarismus als eine Pflichtenethik, wie sie Kant begründet hat. Statt hier die Moraltheorie Kants näher zu erläutern, soll, wie Spaemann es ähnlich getan hat, dieser Gegensatz von Konsequenzialismus beziehungsweise Regelutilitarismus und Kantischer Pflichtenethik anhand der Positionen des preußischen Kurfürsten und des Prinzen von Homburg in Heinrich von

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Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg 8 kurz anschaulich gemacht werden. Das Drama ist, historisch phantasievoll, nach der Schlacht von Fehrbellin (1675) situiert, in der der Prinz von Homburg mutig zwar, aber voreilig und befehlswidrig den Sieg herbeigeführt hatte. Der Kurfürst lässt dem Prinzen den Prozess machen und verurteilt also denjenigen zum Tode, dessen regelwidrigem Verhalten der große Erfolg, der Sieg in der Schlacht, zu verdanken war, weil dessen Insubordination „eine Regel verletzt, deren Befolgung für den Sieg in der Schlacht meistens unerlässlich“ ist.9 Die geltend gemachte Maxime ist also nicht die strenge, ausnahmslose (deontologische) Regelbefolgung, sondern der Regelvollzug im Blick auf seine durchschnittlich erwartbare Nützlichkeit. Der Prinz, in der Schlacht spontan, erfolgreich, aber regelwidrig handelnd, der also durchaus utilitaristisch den Nutzen des erstrebten Sieges über den Befehlsgehorsam gestellt hatte, verhält sich, als er zur Rechenschaft gezogen wird und der Kurfürst ihm selbst das Urteil in die Hand legt, nicht wie ein Regelutilitarist, sondern folgt der Kantischen Pflichtenethik. Als der Fürst, nach Intervention der Prinzessin Natalie10, der Nichte des Kurfürsten, sowie der hohen Offiziere, ihm selbst die Entscheidung zwischen Gesetz und Neigung, Pflicht und Glückseligkeit und damit das Urteil überlässt, entscheidet er sich für Gesetz und Pflicht: Ich will das heilige Gesetz des Kriegs, das ich verletzt im Angesicht des Heers, Durch einen freien Tod verherrlichen! (V, 7)

Kants Kategorischer Imperativ ist hier das entscheidende Prüfungskriterium; die einzige Instanz dafür ist jedoch nicht der Kurfürst – dieser kann nur das Gesetz (einschließlich der Möglichkeit der Begnadigung) zur Geltung bringen –, sondern der Prinz von Homburg selbst in der Bindung seines Gewissens – unvertretbar. Nachdem diesem die Prüfung und Entscheidung übertragen sind („Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!“ IV, 4), kann er, im Unterschied zum Kurfürsten, nicht mehr anders als den Prinzipien zu folgen, die für ihn in Geltung sind: Er handle, wie er darf, Mir ziemts hier zu verfahren, wie ich soll! (IV, 4)

8 Kleist (1777–1811) schrieb das Drama 1809/ 10; uraufgeführt wurde es erst in Wien 1821. Zur Beziehung des Dramas und Kleists überhaupt zu Kant siehe Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, in: ders., Idee und Gestalt, Berlin 1921 (21924), ND 1971; Georg Geismann, Ein Sommernachtstraum vom ewigen Frieden. Interpretation und Paraphrasen zu Heinrich von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“, in: Der Staat 17, 1978, 205–232. 9 Spaemann, a. a. O., 160. Bei Kleist heißt dies

Prinzip im Munde des Kurfürsten angesichts der Bitte, den Handlungserfolg höher zu schätzen als die Regelbefolgung: Mit welchem Recht, du Tor, erhoffst du das, Wenn auf dem Schlachtenwagen, eigenmächtig, Mir in die Zügel jeder greifen darf? (V, 5) 10 Ihr legt Kleist ein Element seiner Kant-Kritik mit den berühmten Worten in den Mund: Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen, jedoch die lieblichen Gefühle auch. (IV, 1)

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Verurteilt, zur Hinrichtung vorbereitet, wird der Prinz am Ende begnadigt – Nein, sagt! Ist es ein Traum? Ein Traum, was sonst? (V, 11)

Wenn man die Gestalt der Antigone in Sophokles’ gleichnamigen Drama mit dem Prinzen von Homburg vergleicht, treten wichtige Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen antiker und moderner Ethik deutlicher hervor. Antigone gehorcht den Geboten der Götter und dem Gesetz der Polis, wenn sie – gegen die Anordnung des Königs Kreon – ihren Bruder bestattet. Die modernen Nachdichtungen, wie beispielsweise die von Jean Anouilh, haben den entscheidenden Konflikt in Antigones innere, subjektive Entscheidung gelegt (sie betonen gern die Stelle: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“), aber es geht im antiken Drama primär um zwei konfligierende Normen – die ältere der traditionellen, göttlich gewollten Polis, die neuere des willkürlich gesetzten Nomos. Der Kant-Interpret Kleist hingegen verlegt die entscheidende Instanz in die Gesinnung, das heißt in den durch keine äußere Gewalt und Macht affizierbaren, freien Kern der Person. Die äußeren Gesetze spielen eine wichtige Rolle, aber die entscheidende Ebene ist die des individuellen Willens, der sich aus sich selbst heraus dazu bestimmt, ein Gebot zur sittlichen Maxime zu machen, welches geeignet ist, ein allgemeines Gesetz für alle Menschen herzugeben – das Gesetz, jederzeit um des Vaterlandes und um des eigenen Gewissens willen den korrekt aufgestellten Gesetzen, Regeln und Befehlen zu gehorchen. Die konsequenzialistische Moralbegründung setzt demgegenüber entscheidend auf ein Kalkül der Folgenbeurteilung und damit der Güterabwägung – entweder im Blick auf Handlungen als solche oder im Blick auf handlungsleitende Regeln, welche mehr oder weniger für alle Betroffenen gelten sollen. Generell ist dabei erforderlich, die unterschiedlichsten Präferenzen und Nützlichkeitsbestimmungen durchgängig vergleichbar zu machen. (Hierin gründet übrigens die Nähe des Utilitarismus zu ökonomischen Nutzenkalkülen und zum Menschenbild des sogenannten homo oeconomicus , denn es ist letztlich der gemeinsame Maßstab von Geldgrößen, welcher alle Nutzenbestimmungen und Güterabwägungen von unterschiedlichen Menschen als kompatibel erscheinen lässt.) Zwei Einwände vor allem hat Spaemann gegen den Utilitarismus formuliert. Erstens meint er, dass dieser mit einer eindimensionalen vergleichenden Bewertung aller möglichen Nutzengestalten sich selbst eine Universalverantwortung beilegt, welche in der vorneuzeitlichen Ethik allein Gott selbst zukam – damit die endlichen und irrtumsfähigen Menschen vom Zwang zur Selbsterhaltung, wenn nicht sogar zur Selbsterlösung entlastend. Zweitens argumentiert er, dass es Handlungen gebe, die nicht durch Verweis auf erstrebenswerte Ziele gerechtfertigt werden können. Es gebe Grenzen der moralisch zulässigen Güterabwägung. Spaemann verweist beispielhaft auf ein Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes aus den 1950er Jahren, bei dem es um die Mitwirkung von Ärzten während der NS-Zeit bei der Euthanasie und bei tödlichen Experimenten mit Patienten ging und geltend gemacht worden war, dass aufgrund der Anwendung bestimmter Selektionskriterien zahlreichen Be-

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troffenen das Leben gerettet worden sei. Der BGH hielt demgegenüber fest, dass Mord nicht durch Güterabwägung legitimiert werden könne. Spaemann spitzt die Frage so zu: „Gibt es nun Grenzen der Güterabwägung oder gibt es sie nicht?“11 Gibt es Handlungen, die unter keinen Umständen durch einen überragenden Nutzen gerechtfertigt werden können? Klassische Beispiele für diese Fragen sind die Probleme, ob (1) das Leben unschuldiger Menschen zu höheren Zwecken geopfert werden darf, ob (2) zu Zwecken legitimer militärischer Verteidigung Waffen benutzt werden dürfen, die unterschiedslos das Leben von Soldaten und Zivilisten vernichten, oder ob (3) zum Zwecke der Rettung unschuldiger Opfer ein (mutmaßlicher) Täter der Folter unterzogen werden darf. Wo der moderne Utilitarismus ein Kontinuum von Vergleichs- und Vorzugsurteilen im Blick auf Folgenabwägungen und Nutzenüberlegungen öffnet, fragen die traditionelle theologische Ethik und insbesondere die Pflichtenethik Kants nach unbedingten Grenzen der Güterabwägung. Gibt es unübersteigbare Grenzen sittlich vertretbaren Handelns? Gibt es so etwas wie Tabus in ethischen Fragen? Gibt es Handlungen und Verhaltensweisen, die in sich selbst schlecht und darum verabscheuungswürdig sind? Die Scholastik sprach hier von Handlungen, die unter allen Umständen „in sich schlecht“ sind, vom „intrinsece malum “, wozu die römisch-katholische Moraltheologie insbesondere die vorsätzliche Tötung jedes unschuldigen menschlichen Lebewesens rechnet – eine höchst aktuelle Frage in den Diskussionen um die sogenannte verbrauchende Forschung an Embryonen. Derartige Fragen werden vollends dadurch schwer zu beantworten, dass die Erkenntnis und Bestimmung dessen, was als schlechterdings verwerflich gilt oder gelten soll, ihrerseits geschichtlichem Wandel ausgesetzt sind.

2.3 Gegensätze im Freiheitsverständnis Die wichtigste Differenz zwischen antiker und moderner Ethik besteht in der neuzeitlichen Auffassung von Vernunft und Freiheit des autonomen Menschen und dem Anspruch auf universale Geltung sittlicher Prinzipien. In einem Aufsatz Zum philosophischen Begriff der Ethik stellt Georg Picht12 der antiken Ethik, als deren Mitte er die Suche nach und die Entdeckung von „inneren Maßverhältnissen“ sowohl der Seele als auch komplexer Systeme versteht, spezifische Merkmale neuzeitlicher Ethik gegenüber. Zurecht stellt er zunächst die überraschende Kontinuität zwischen antiken und modernen Entwürfen heraus, die sich schon in der Beibehaltung des systematischen Aufrisses philosophischer Konzeptionen manifestiert, allen geschichtlichen Katastrophen und Revolutionen zum Trotz. 11 Ebd. 165. 12 In seinem Aufsatzband: Hier und Jetzt. Philo-

sophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Stuttgart 1980, 137–161.

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Picht hebt vor allem die prinzipiellen Übereinstimmungen zwischen Platon und Kant hervor. Um so deutlicher tritt dann die Differenz heraus: Vergleicht man Kant mit den Griechen, so stellt sich heraus, dass hier die in der „logischen Form“ des „Kategorischen Imperativs“ gedachte Freiheit an die Stelle tritt, an der bei Platon der Satz stand: „Gott ist aller ‚chrêmata Maß‘“. Im unbedingten Bewusstsein der Freiheit setzt die Vernunft ihren eigenen Imperativ als Maß. Protagoras hat über Platon gesiegt.13

Zwar schränkt Picht diese These unter Verweis auf Kants authentisches Verständnis von Subjektivität und Freiheit wieder ein, denn Subjektivität sei für Kant eine „universale Idee“, die keineswegs in menschlicher Subjektivität aufgeht, aber – so die zentrale These – aus dem skeptischen Gehalt der These vom Menschen als Maß aller Dinge bei Protagoras wird die „unbedingte Souveränität der sich als absolutes Subjekt verstehenden Vernunft“ der Neuzeit: Der Mensch nimmt sowohl im ökonomischen wie im politischen Handeln die unbedingte Souveränität der sich als absolutes Subjekt verstehenden Vernunft in Anspruch, obwohl er durch die Zwecke seines Handelns an die Heteronomie des Begehrungsvermögens ausgeliefert ist. Der „homo oeconomicus“ des 19. und 20. Jahrhunderts geht mit hypothetischen Imperativen um, als ob sie kategorische Imperative wären. Das Subjekt nimmt auch, wo es abhängig ist, unbedingte Freiheit in Anspruch. Es projiziert sein absolutes Selbstbewusstsein in das Feld der Heteronomie und erzeugt so das paradoxe Phänomen einer absoluten Heteronomie.14

Einige unterscheidende Elemente abgrenzender Art, wie sie Picht und Spaemann im Blick auf antike und moderne Ethik herausgestellt haben, finden sich – ebenfalls in den 1980er Jahren – bei Ernst Tugendhat. Er hat sich im Laufe seiner Lehrtätigkeit erst relativ spät mit Fragen der Ethik intensiv auseinandergesetzt, dann aber, vielfach herausgefordert, um so intensiver, nachdem er als junger Philosophiestudent vor allem wegen Heidegger nach Deutschland gekommen war und hier über Aristoteles15 und neuzeitliche Wahrheitstheorien16 gearbeitet hatte. Danach war er einer der deutschsprachigen Philosophen, geprägt durch die hermeneutische Tradition, der sich früh für die Anfragen der analytisch-sprachkritischen Philosophie mit bahnbrechenden Abhandlungen geöffnet hat. Er hat sich seit den späten 1970er Jahren (seit 1980 war er Professor an der FU Berlin) zunehmend mit Fragen der Praktischen Philosophie bzw. der Ethik auseinandergesetzt. Die damalige Friedensbewegung und die Bekämpfung des immer wieder grassierenden Antisemitismus haben ihm dazu wichtige Anstöße gegeben. Aus dieser Wendung zur Ethik stammt auch Tugendhats Aufsatz über Antike und moderne Ethik.17 Trotz seiner tastenden Argumentation ist der Vortrag klar geglie13 Ebd. 153. 14 Ebd. 154. 15 TI KATA TINOS. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg 1958 (31982). 16 Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967 (31983).

17 In: Ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 33–56. Der Vortrag wurde anlässlich des 80. Geburtstages von Hans-Georg Gadamer gehalten. Seitenzahlen im Text nach diesem Abdruck.

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dert. In einem ersten Teil, ausgehend von einem Gadamer’schen Vortrag Über die Möglichkeit einer Philosophischen Ethik , exponiert Tugendhat den Gegensatz der beiden Ethik-Typen, wie er sie sieht. Traditionelle Ethik ist demzufolge vor allem dadurch bestimmt, dass sie sich auf den Boden geschichtlich gewachsener Strukturen stellt und von der „tragenden Substantialität von Recht und Sitte“ ausgeht (Gadamer), so wie dies noch bei Hegel als Begriff der Sittlichkeit in seiner Rechtsphilosophie begegnet. Aristoteles ist der Vater dieser (vielfach in sozialpolitisch konservativem Sinne gewendeten) Auffassung.18 Der Boden der Polis beziehungsweise der jeweiligen politischen Gemeinschaft ist die Basis, auf der und durch die begrenzt individuelle Bildungsprozesse stattfinden. Das historisch gewachsene, im Gange der Generationen vermittelte Ethos bestimmt das Maß des Handelns und der Tugenden. Demgegenüber beharre die moderne Ethik, wie sie Kant, aber auch der Utilitarismus repräsentieren, auf der um traditionelle Geltungsvorstellungen unbekümmerten „Frage der Begründbarkeit des praktisch Richtigen“ (40). Vier Merkmale nennt Tugendhat für diese moderne Auffassung von Ethik: (1) Die sittliche Urteilsfähigkeit ist nicht abhängig von der Übereinstimmung mit einer vorgegebenen Verfassung, Erziehung oder Ordnung, sondern hinterfragt jede gegebene Vorstellung von Sittlichkeit. Das entspricht offensichtlich Kants Grundüberzeugung, wie er sie in der Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 dargelegt hat. (2) Philosophie heißt seit Sokrates: „radikale Rechenschaft geben“ (41), das heißt, nur aufgrund rationaler Gründe Argumente als gültige und zwingende anzuerkennen. (3) Die Begründungsansprüche der aristotelischen Ethik sind nicht hinreichend, weil sie als Kriterien für intendierte „Ausgewogenheit“ zu unklar bleiben. (4) „Die Moderne unterscheidet sich von der Antike durch die Radikalisierung der Ausweisungskriterien, und zwar sowohl bei praktischen wie bei theoretischen Urteilen. [. . .] Die Radikalisierung des Begründungsgedankens ist [. . .] ein Fortschritt im Sinn der seit Sokrates intendierten Autonomie und Rechenschaftsabgabe.“ (41) Es gibt nun eine Reihe von Behauptungen und Thesen bei Tugendhat, die mich nicht überzeugen, z. B. über den individuellen Bezug der antiken und den sozialen Bezug der modernen Ethik (44), aber der entscheidende, weiterführende Punkt besteht darin, dass für Tugendhat die alleinige Orientierung an Kant und damit an der Frage nach einem einzigen, universalen Prinzip der Sittlichkeit nicht ausreicht. Die strengen kantischen (aber auch die utilitaristischen) Begründungsanforderungen in der Ethik übernimmt Tugendhat (Allgemeinheit, Unparteilichkeit, Prinzipien- und Regelorientierung), doch zugleich besteht er darauf, dass die Bestimmung einer Handlung als „gut“, sofern sie im Sinne des kategorischen Imperativs verallgemeinerungsfähig ist, weil sie „im unparteiischen Interesse aller ist“ (47), nicht ausreicht. Bei allem Handeln nämlich gehe es immer auch um konkrete Interessen, um mein 18 Vgl. Tugendhats fulminante Polemik gegen die rechtskonservative westdeutsche Bildungspolitik der 1970er Jahre in buchstäblicher Reaktion auf die Studentenbewegung: Gegen die autoritäre Pädagogik. Streitschrift gegen die Thesen „Mut

zur Erziehung“ (1978), in: ders., Ethik und Politik, Frankfurt a. M. 1992, 17–26. Einer der Initiatoren des Kongresses zu diesem Thema war seinerzeit Robert Spaemann.

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bestimmtes Wohl oder das anderer und letztlich um inhaltliche Vorstellungen des „guten Lebens“. Das heißt, es geht immer auch um die individuell oder kollektiv für erstrebenswert erachteten Lebens- und Glückschancen. Anders gesagt: Die antike Ethik lässt uns dafür aufmerksam werden oder bleiben, dass die rationalen Begründungsdiskurse der modernen Ethik19 immer eingebettet sind in konkrete Erfahrungen unserer gemeinsamen Lebenswelt. Also eine Rückkehr zur (aristotelischen) „Substantialität“ von Recht und Sitte und erneuter Dominanz des ethisch ungeprüften traditionellen Ethos? Dies will Tugendhat gerade nicht, aber er ist überzeugt, dass auch eine moderne Ethik nicht ohne eine kommunikative Bestimmung und Ermittlung dessen auskommt, was Menschen unter ihrer Glückseligkeit verstehen. Nun liegt die Faszination der Kantischen Ethik nicht zuletzt in der Konzentration auf die Frage nach dem universalen Moralprinzip, und als dieses wird der „gute Wille“ bestimmt, und nur dieser. Alle empirischen Umstände und individuellen Wünsche einschließlich derer, die die eigenen Interessen betreffen, sollen zurücktreten. Es geht darum, den eigenen moralischen Willen durch ausschließliche Orientierung am Kategorischen Imperativ zu läutern, denn nur, was aus diesem Imperativ folgt oder mit ihm vereinbar ist, taugt dazu, als allgemeines Gesetz anerkannt zu werden. Ethische Bildung ist insofern Ausbildung und Vervollkommnung eines guten Willens – unerachtet aller empirischen Schwächen und Unvollkommenheiten, Neigungen und Interessen. Hier meldet sich seit je freilich auch der Widerspruch gegen Kant, den Tugendhat so formuliert: Es wäre ein Missverständnis, das Streben nach Glück als Selbstsucht und insofern als von vornherein nicht-moralisch anzusehen. Sogar bei Kant findet sich eine Definition, wonach „Glückseligkeit [. . .] der Zustand eines vernünftigen Wesens“ ist, „dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“. (49)20

Das heißt: Die Folgen von Handlungen, sie mögen durchaus aus dem guten Willen hervorgegangen sein, können für die Güte eines Willens und damit für die Identität des Erkennenden und Handelnden nicht gleichgültig sein. Natürlich soll auch bei Tugendhat die Folgenorientierung nicht im konsequenzialistischen Sinne zum (einzig) entscheidenden Kriterium werden, aber kein Mensch soll als Person ihre oder seine Gebundenheit an Interessen bei der Frage nach dem gebotenen Tun gleichsam ausklammern müssen. Vor allem aber gilt: Jede ethische Entscheidung impliziert ein bestimmtes Menschenbild (51), d. h. eine Gesamtsicht der Welt und der Art, wie Menschen leben möchten oder sollten. Im letzten Abschnitt seines Aufsatzes fragt Tugendhat konsequent nach einem objektiven Kriterium für die legitime Berücksichtigung personaler Interessen im Zuge ethischer Urteilsbildung. Er meint, ein solches Kriterium in der körperlichen Gesundheit einschließlich der seelischen Verfassung eines Menschen finden zu können. Jeder Mensch wolle gesund, niemand bewusst und absichtlich krank sein. Dies Interesse kann er dann auch als „Autonomie des durchaus sinnlich bestimmten Wol19 Vgl. dazu Konrad Ott, Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg 2001.

20 Tugendhat zit. KpV, AA 5, 124.

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lens“ verstehen, im Gegensatz zu jeder „Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Wollens“. Das oberste Prinzip der Moralität ist demzufolge nicht (wie bei Kant) der „gute Wille“ als solcher, sondern der von einem sittlichen Wesen bejahte gute Wille auch um seiner selbst willen; Tugendhat schreibt: Dadurch wäre aber genau das erreicht, was gesucht war, ein von den jeweiligen subjektiven Zielen des Wollens unabhängiger und doch aus der Perspektive des Wollens selbst maßgebender Gesichtspunkt. Als Wollende im Sinn von frei Wählenden wollen wir allemal in unserem freien Wählen nicht eingeschränkt sein. Das Ausmaß der Zwanghaftigkeit unseres Wollens ist uns normalerweise nicht bewusst; in dem Maße aber, in dem uns Zwanghaftigkeit bewusst wird, wäre es irrational, sie zu wollen, ebenso wie es irrational ist, physisch krank sein zu wollen, ja der Zusammenhang ist hier noch enger, denn Krankseinwollen ist nur an sich nicht wünschenswert; wir können gleichwohl gute Gründe haben, krank sein zu wollen für andere Zwecke, nicht hingegen dafür, nicht frei wählen zu können. (55)21

Ich halte diese Verquickung der Frage nach dem guten Willen mit der These, dass niemand freiwillig krank sein will, für problematisch. Richtig scheint mir daran aber zu sein, dass ein Wesen, das nach den Kriterien eines guten Willens fragt, immer auch und zugleich eine leibhaftige Person, ein geistbegabtes Sinnenwesen ist und davon nicht einfach absehen kann. Kant wäre freilich der letzte gewesen, der die Suche nach Glückseligkeit als illegitim angesehen hätte. Nur bestand er darauf, dass bei der Suche nach verallgemeinerungsfähigen Prinzipien die Frage der eigenen Glückseligkeit zurücktreten solle.

2.4 Moral und Sittlichkeit zwischen Autonomie und Institutionalität Keine moderne Ethik kann sich dem Anspruch und der Herausforderung entziehen, zwischen dem unaufgebbaren und unhintergehbaren Recht der freien Vernunft (Autonomie) und der Einbettung jedes Vernunftgebrauchs in gewachsene geschichtliche Zusammenhänge und Strukturen (Institutionalität) zu vermitteln. Man kann zahlreiche neuzeitliche Entwürfe zur Ethik bzw. Praktischen Philosophie als Versuche verstehen, die Begründungsanforderungen an jede Theorie der Moral, wie sie Kant ausgearbeitet hat, mit der Analyse der geschichtlichen Welt einerseits und der pädagogischen Herausforderung zur Ausbildung einer personalen sittlichen Identität andererseits zu vermitteln.

21 In einer Anmerkung unterstreicht Tugendhat die intendierte Pointe: Es kommt auf die Negation jeder „Einschränkung des freien Über-sichverfügen-Könnens“ an (ebd.). Genau an dieser Stelle werden theologische Ethiker weiterfragen,

insofern sie, über jede völlig legitime Selbstbestimmung hinaus, an den Geschenk- und den Dienst-Charakter der Freiheit eines Christenmenschen erinnern.

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Der hier gestellten Vermittlungsaufgabe hat sich auf exemplarische Weise Hegel gestellt. In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts mit dem Untertitel „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“, mehrfach in Vorlesungen vorgetragen und zuerst 1821 veröffentlicht,22 lässt schon der äußere Aufbau erkennen, dass und inwiefern zwischen den charakteristischen und unwiderruflichen ethischen Prinzipien der Neuzeit und den Überlieferungen der Tradition, insbesondere Aristoteles, Brücken geschlagen werden sollen. Zwar bildet das gesamte Werk keine Ethik im heutigen Sinne, denn es bezieht sich in erster Linie auf die Themen der Rechtsphilosophie, aber insofern immer auch von Menschen, die mit Vernunft und freiem Willen begabt sind, die Rede ist, geht es insgesamt um alle Hauptthemen der Praktischen Philosophie bzw. Ethik, freilich mit einem Übergewicht der rechtlich-institutionellen Perspektiven (die in den Ethiken des 20. Jahrhunderts demgegenüber häufig entschieden zu kurz gekommen sind).23 Die drei Hauptteile dieser Rechtsphilosophie stehen unter den Überschriften „Das abstrakte Recht“, „Die Moralität“ und „Die Sittlichkeit“. Ich will hier lediglich auf einen einzigen Aspekt hinweisen, der freilich sachlich und architektonisch zentral und gleichzeitig geeignet ist, die Vermittlungsstellung Hegels zwischen antiker und moderner Ethik zu beleuchten. Die Einleitung entwickelt die These, dass die philosophische Rechtswissenschaft die „Idee des Rechts , den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande“ hat (§ 1). Sie ist Teil der Philosophie, weil und sofern diese die Aufgabe hat, die immanente Vernunft eines Gegenstandes begrifflich zu bestimmen (§ 2), und zugleich hat sie es mit ganz realen, empirisch widerständigen Sachverhalten zu tun (§ 3). Entscheidend ist bei dieser Betrachtung, dass der „Boden“ des Rechts „das Geistige“ bzw. der „freie Wille“ ist: Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille , welcher frei ist, so dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist. (§ 4, 46)

Die Konsequenz dieses Ausgangspunktes ist, dass zuerst von den abstrakten Begriffen Person und Freiheit gehandelt wird, nicht von den historisch-institutionellen Gemeinschaftsgebilden, unter deren Bedingungen Menschen leben. Offenkundig stellt sich Hegel damit auf den Boden der spezifisch neuzeitlichen Ethik, wie sie Kant ausgearbeitet hat und die nicht auf Brauch, Sitte und Herkommen, sondern auf Vernunft, Freiheit und Selbstgesetzgebung verpflichtet ist. Hegel knüpft philoso22 Ich zitiere nach der Theorie Werkausgabe, Bd. 7, jeweils mit § und Seitenzahl. 23 Jürgen Habermas, der seit den 1950er Jahren wichtige Beiträge zu Hegel und Marx vorgelegt und sich erst später der Philosophie Kants wieder zugewandt hat, hat in der Ausarbeitung seiner eigenen Theorie des kommunikativen Handelns lange Zeit die rechtlichen Probleme menschlichen Zusammenlebens zugunsten der diskursethischen

Grundlegung der Ethik vernachlässigt. Er hat erst mit Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (Frankfurt a. M. 1992) und in den vorausgegangenen Tanner Lectures von 1986 über Recht und Moral (ebd. wieder abgedruckt) die von Kant und Hegel klar vorgezeichnete rechtsphilosophische Dimension der Ethik wieder eingeholt.

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phisch an Kant und die antike Ethik, historisch an die Französische Revolution an, und dies politisch in kritischer Absicht, nämlich nach den restaurativen Karlsbader Beschlüssen, durch welche auf Betreiben Metternichs die Ordnung des Ancien Régime in Europa wiederhergestellt und gesichert werden sollte. Gleichzeitig hat Hegel in seinen mündlichen Erläuterungen, die wir aus Hörernachschriften kennen, die ganze Ambivalenz des neuzeitlichen Prinzips der Subjektivität in der Moralphilosophie zur Sprache gebracht, indem er auf das Umschlagen der französischen Freiheitsrevolution in die Phase des „terreur“ verweist. Dieses Bewusstsein der Gefahr einer Vereinseitigung rein rationaler, abstrakter Begründungen unter Absehung von der konkreten, geschichtlichen Wirklichkeit durchzieht das gesamte Werk – so immer wieder gleichsam Kants Begründungs-Radikalität auf das an Aristoteles und der anglo-schottischen Moralphilosophie geschulte Gespür für den „common sense“ und eine historisch gewachsene Sittlichkeit zurückbeziehend. Rein äußerlich wird diese vermittelnde Argumentationsweise daran deutlich, dass die Hauptteile der Hegelschen Rechtsphilosophie jeweils durch „Übergänge“ verbunden sind, in denen Ertrag und Ungenügen des zuvor Dargestellten hervorgehoben werden. Der erste Teil des Werkes präsentiert das „abstrakte Recht“, indem er von den grundlegenden Rechtsbegriffen des Eigentums, des Vertrages und des Unrechts handelt, also die Grundbegriffe von Zivil- und Strafrecht mitsamt dem Bezug auf das öffentliche Recht behandelt. Allein dieser Zugang erweist sich als noch gänzlich unzureichend, insofern das charakteristische Prinzip der neuen Zeit, die Subjektivität des freien Willens, damit noch gar nicht erfasst ist. Dies erfolgt erst auf dem „Standpunkt“ der Moralität. „Der Begriff der Moralität ist das innerliche Verhalten des Willens zu sich selbst.“ (§ 112, Zusatz, 211) Dies ist nach Hegel das eigentliche Merkmal der neueren Zeit und ihres Verständnisses von Moral und Sittlichkeit: Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden. (§ 124, 233)

Dieses Recht der Subjektivität hat insbesondere die kritische Philosophie Kants herausgebracht, aber Hegel deutet sogleich auch eine kritische Grenze an, wenn er schreibt: Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjekts, aber durch seine subjektive Bestimmung zugleich formell , und das Recht des Vernünftigen als des Objektiven an das Subjekt bleibt dagegen fest stehen. (§ 132, 245)

Hegel nennt das Recht lediglich „formell“, soweit es nur vom abstrakt Guten handelt und von seinen empirisch-geschichtlichen Verwirklichungsbedingungen absieht. Er stellt ihm das „Recht des Vernünftigen als des Objektiven“ gegenüber, das heißt, er verlangt, dass das freie, urteilende Subjekt stets auch fragt und bedenkt, welche vernünftigen Überlegungen und Entscheidungen in bestehenden Strukturen längst Eingang gefunden haben, d. h. wieviel Vernunft in den überlieferten rechtlich-sozialen

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Gestaltungen der Menschen schon enthalten ist. Darum ist es erforderlich, von der Moralität zum Standpunkt der Sittlichkeit „überzugehen“, also vom nur vorgestellten und gedanklich präzisierten Guten weiterzugehen zum „lebendigen Guten“, wie es in und durch die rechtlich gestalteten Institutionen des politischen Gemeinwesens ermöglicht und verwirklicht wird. Auf dieser Stufe wird das neuzeitliche Prinzip der Subjektivität nicht aufgegeben; es soll vielmehr umfassend realisiert werden. Die (subjektive) Moralität soll auf die (objektive) Sittlichkeit geschichtlich gewachsener Institutionen kritisch bezogen werden.24 Darum handelt Hegel hier von den Gestalten des „objektiven Geistes“, von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft bis zum Staat, schließend mit einem Ausblick auf die Völkerwelt und die Weltgeschichte. Blickt man auf diese komplexen Vermittlungen von antiker und moderner Ethik zurück, dann kann man zusammenfassend und generalisierend von einem antiken Polis-Ethos sprechen, welches die Bildung individueller Tugenden im Blick auf die Erfordernisse der Erhaltung des politisch verfassten Gemeinwesens beschreibt und davon ausgeht, dass die Basis des sittlichen Verhaltens das individuelle, gemeinschaftlich koordinierte Streben nach einem „guten Leben“ ist. Das Christentum hat diese Polis-Ethik mit der Herausstellung individueller Verantwortlichkeit (besonders gegenüber dem Weltenrichter im Endgericht) nicht zurückgewiesen, aber einen Widerpart geboten, aus dem letztlich die neuzeitlichen Prinzipien der (Gewissens-) Freiheit, Selbstverantwortlichkeit und rechtlichen Gleichheit hervorgingen, wie sie unübertrefflich Kant ins Zentrum der Ethik gerückt hat. Hegel hat versucht, (geschichtliches) Polis-Ethos und (prinzipienbasiertes) Kantisches Pflichtethos erneut zu verbinden. Seine Schüler sollten im 19. Jahrhundert erneut extrem gegensätzliche Wege einschlagen – zur Apotheose des preussischen Obrigkeitsstaates oder zur Propagierung der kommunistischen Revolution und Diktatur des Proletariats. Nach dem daraus hervorgegangenen Weltbürgerkrieg erweist sich die Konzeption Kants erneut als wegweisend für das 21. Jahrhundert.

3. Philosophische contra theologische Ethik 3.1 Ethik ohne Metaphysik? Das neuzeitliche, emanzipatorische Postulat einer „Ethik ohne Metaphysik“ und damit verbunden einer rein rationalen, universalen Ethik-Begründung (und gegebenenfalls weiterer Ableitungen angewandter Ethik) hat seiner Entstehung nach (auch) eine antichristliche, genauer: antikirchliche und vor allem antiklerika24 Im Blick auf diesen Unterschied zwischen Kant und Hegel verstehe ich die Ethik nicht bloß

als Theorie der Moral, sondern der Moral und der Sittlichkeit.

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le Stoßrichtung. Moderne Ethik untersteht indes nicht mehr kirchlicher Autorität (Heteronomie), sondern der Selbstgesetzgebung der Vernunft (Autonomie). Zu fragen ist, ob und in welcher Weise die autonome Vernunft zu ihrer eigenen Aufklärung der Erinnerung an Gottes Willen und Gebot bedarf (Theonomie), ohne in einen Klerikalismus der Weltbevormundung zurückzufallen. Ob eine metaphysikfreie Ethik möglich und sinnvoll ist, hängt davon ab, was jemand unter „Metaphysik“ versteht. Wenn man zu den Aufgaben der Metaphysik die Klärung grundlegender Fragen der Logik, Physik und Ethik rechnet, also die Klärung der Bedingungen der Möglichkeit der Natur- und Moralerkenntnis, des Vernunftgebrauchs in praktischer und theoretischer Hinsicht, dann ist kaum zu sehen, wie eine metaphysikfreie Wissenschaft möglich sein soll. Wenn man hingegen die „Metaphysik“ mit empirisch und theoretisch unkontrollierbaren Spekulationen oder mit dem verwechselt, was die Theologie „Offenbarung“ nennt, dann kann man nicht gut bestreiten, dass das Postulat einer Ethik ohne Metaphysik sinnvoll, ja notwendig ist. Sinn und Notwendigkeit einer derartigen Ethik liegen darin, dass sie von keinen partikularen Voraussetzungen ausgeht, die nur in einer bestimmten, religiös und/oder weltanschaulich geprägten Gemeinschaft von Menschen anerkannt sind, sondern sich dem Anspruch allgemein geteilter Kriterien für Verständigung und Wahrheitssuche unterstellt, um auf diese Weise niemanden von der Öffentlichkeit der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in einem rechtlich geordneten Gemeinwesen auszuschließen. Ethik ohne Metaphysik ist politisch der Idee eines Rechtsstaates verpflichtet, der in Fragen des Glaubens, der religiösen und sonstigen Überzeugungen, der Gewissensfreiheit Neutralität übt, um der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu dienen. Ethik ohne Metaphysik ist möglich, weil auch eine Lebensführung ohne (bewusste, artikulierte) religiöse Bindung, Ausrichtung und Orientierung möglich ist und Achtung verdient. Wissenschaftliche Natur- und Geschichtserkenntnisse setzen nicht notwendigerweise einen bestimmten Begriff von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit voraus, um zu gültigen Ergebnissen zu gelangen. Ethik ohne Metaphysik ist das legitime Kind jenes Emanzipationsprozesses der menschlichen Vernunft von jeder kirchlichen Bevormundung. Sie ist Erbin derjenigen geschichtlichen Entwicklung der Neuzeit, die niemand besser als Kant in seiner Schrift „Was ist Aufklärung“ zusammengefasst hat. Ob das Licht der Vernunft im Sinne der Aufklärung sich selbst begründet und genügt, oder ob die menschliche Vernunft einer „Erleuchtung“ durch ein anderes, eventuell „höheres“, jedenfalls nicht einzig und allein von Menschen konstituiertes Licht zugänglich, fähig, vielleicht sogar bedürftig ist, ist die wichtigste Frage im Verhältnis von Theologie und Philosophie, philosophischer und theologischer Ethik. Es ist die unabweisbare Wiederkehr der alten Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen,1 Vernunft und Offenbarung. 1 Im Blick auf die Position des römisch-katholischen Lehramtes in dieser Frage und auf den ent-

sprechenden Dialog zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger siehe meinen Beitrag: Glau-

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3.2 Distanzen zwischen philosophischer und theologischer Ethik Das Verhältnis zwischen philosophischer und theologischer Ethik war stets konfliktreich. In der Gegenwart haben vor allem die Betonung der angewandten Ethik, die veränderte Stellung organisierter Religionen in der säkularisierten Gesellschaft und die historisch begründete Christentumskritik zur verbreiteten Forderung einer rein säkularen Ethik Anlass gegeben. Die Forderung einer metaphysikfreien, nicht theologisch orientierten oder begründeten Ethik ist nicht neu. Sie ist eine legitime Folge der geistigen und gesellschaftlichen Emanzipation von religiös begründeten Autoritäten. Zu diesem Prozess der Aufklärung gehören, jedenfalls in den kapitalistischen Gesellschaften und liberalen Rechtsstaaten der Gegenwart, ein Rückgang der kirchlichen Bindungen und Zugehörigkeiten der Menschen, besonders in den großen industriellen Ballungsräumen, eine Tendenz zur Marginalisierung der Kirchen und zu entsprechendem Verlust an öffentlicher Präsenz und gesellschaftlichem Einfluss, schließlich infolge von Kirchenaustritten häufig auch Abbrüche in der intergenerationellen Weitergabe religiöser Traditionen. Dass die Kirchen der Christenheit sowohl zur Frage ihrer öffentlichen Wirksamkeit als auch in den materialen Fragen der Moral und Sittlichkeit lange Zeit sehr unterschiedliche Positionen vertreten haben und teilweise auch heute noch vertreten, ändert nichts daran, dass sie insgesamt von der gesellschaftlichen Kritik an einer kirchlich sanktionierten Moral stark betroffen sind und die Folgen zu spüren bekommen. Diese und weitere Veränderungen, besonders die vergleichsweise neue Situation eines religiösen Pluralismus und interreligiöser Konflikte, haben auch Auswirkungen auf das Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik. Dieses war selten so widerspruchsvoll und durch zahlreiche Missverständnisse und Vorurteile belastet wie in der Gegenwart.2 Für viele Zeitgenossen gilt jede religiöse oder theologische Begründung des sittlichen Handelns und Verhaltens als obskur. Nicht zuletzt sind es auch Theologen, die für eine allgemein plausible und rein auf Vernunftgründen beruhende ethische Urteilsbildung oder für eine „autonome Moral“ plädieren. Gleichzeitig erwarten selbst Menschen, die den Kirchen fern stehen oder längst ausgetreten sind, nicht ganz selten, dass theologisch-ethische Grundsätze, Überzeugungen und Orientierungen mittels der öffentlichen Wirksamkeit der Kirchen zur sozialen Integration der Gesellschaft beitragen sollen. Die Kirche wird dann zum zivilreligiösen Agenten der öffentlichen Moral. Andererseits misstrauen viele Menschen allen starken Begründungsansprüchen nicht nur theolobe und Vernunft in der Moraltheologie, in: Wolfgang Bock (Hg.), Gläubigkeit und Recht und Freiheit. Ökumenische Perspektiven des katholischen Kirchenrechts, Göttingen 2006, 1–24. 2 Hinweise zur neueren Diskussionsentwicklung

findet man bei Jean-Claude Wolf, Ethik aus christlichen Quellen?, in: Adrian Holderegger (Hg.), Fundamente der theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze, Freiburg i.Br./Wien 1996, 126–153.

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gischer, sondern auch philosophischer Art. Auf die Idee, sich in konkreten sittlichen Problemen der Lebensführung an einen Fachphilosophen zu wenden, kommen nach meinen Beobachtungen nur wenige Menschen. Doch auch an den Priester oder die Pfarrerin wenden sich ratsuchende Menschen wohl nur dann, wenn diese persönlich vertrauenswürdig sind, doch nicht aufgrund ihres besonderen Amtes. Dass philosophische Ethiker seltener als persönliche und öffentliche Ratgeber in Anspruch genommen werden, dürfte auch damit zusammenhängen, dass lange Zeit das Schwergewicht der schulphilosophischen Abhandlungen zur Ethik bei der Frage nach tragfähigen Begründungen für verallgemeinerungsfähige Geltungsansprüche sittlicher Normen lag,3 während in den Fragen der materialen Ethik die meisten Philosophen eine deutliche Zurückhaltung an den Tag gelegt haben.4 Das hat sich freilich in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert. In der angelsächsischen Welt hat freilich längere Zeit die Wendung zur sprachanalytischen Untersuchung ethischer Begriffe und Fragen die Aufmerksamkeit für Fragen der aktuellen Politik, Wirtschaft und Kultur zurücktreten lassen. Thomas Nagel meint, dass erst die politische Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung und die Sensibilisierung für bioethische Probleme den „turn to applied ethics“ ausgelöst habe, welcher zu einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ und einer verstärkten Zuwendung zur „angewandten“ Ethik geführt hat.5 Vor allem in den Niederlanden, in den USA und in Großbritannien war zu beobachten, wie sich Fachphilosophen zunehmend für gesellschaftliche Probleme interessierten. Neue Lehrstühle für Medizinethik oder für Technikethik wurden eingerichtet. Statt KlassikerExegese war problemlösungsorientiertes Philosophieren gefragt. Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung sei für diese Wende beispielhaft genannt, in deren Folge auch der tiefe Graben zwischen den „two cultures“ von Natur- und Geisteswissenschaftlern ansatzweise überwunden wurde. Moderne Bioethik ist nur möglich in der Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern, Ethikern und Juristen. Ähnliches gilt für die Wirtschafts- oder Rechtsethik. Als Gesprächspartner der Fachwissenschaftler sind dabei nach meinem Eindruck heute eher die Philosophen als die Theologen gefragt. Über die Gründe dafür kann man Mutmaßungen anstellen; ich denke, dass diese Entwicklung mit dem tatsächlichen oder vermeintlichen Reputationsverlust von Kirchen und Theologien in (manchen, keineswegs allen) modernen Gesellschaften zu tun hat. Eine Parallelerscheinung sehe ich in der Verdrängung des schulischen Unterrichtsfachs „Religion“ durch „PPP“ – Psychologie, Pädagogik, Philosophie. Doch diese gleichsam standes- und hochschulpolitischen Fragen sollen hier nicht weiter verfolgt werden. 3 Das gilt besonders für die diskurstheoretische Begründung und Prüfung von Moralkonzepten wie bei Jürgen Habermas und Karl Otto Apel. 4 Ausnahmen bilden ganz überwiegend die Grenzgänger der akademischen Philosophie, Karl Jaspers, Hannah Arendt, Carl Friedrich von Weizsäcker, Georg Picht, Walter Schulz, Robert Spae-

mann, Ernst Tugendhat. Es fällt auf, dass diese fast alle in ihrem Werk auch der Religionsphilosophie eine zentrale Stelle einräumen. 5 Genauere Hinweise zu dieser Entwicklung findet man bei Frank Mathwig, Technikethik – Ethiktechnik. Was leistet die angewandte Ethik?, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 18–56.

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Zu einer gegenwärtigen Bestandsaufnahme gehört auch, festzustellen, dass der herkömmliche und hier beschriebene „Streit der Fakultäten“ sich in gewisser Weise innerhalb der alteuropäischen Konstellationen abgespielt hat. Diese Situation hat ein wenig den Blick dafür verstellt, dass die Marginalisierung von organisierten Religionen und religiösen Überzeugungen und die positive Einschätzung der Säkularisierungsprozesse – was immer man darunter historisch-konkret verstehen mag – insgesamt (bisher) ein Phänomen war, das vor allem auf Europa und beide Amerika (in charakteristisch unterschiedlicher Weise) beschränkt war. Nicht in den Blick gekommen ist hingegen das Verhältnis von religiös gebundenen und geprägten Weltsichten einerseits, religiös indifferenten Verhaltensorientierungen andererseits in außereuropäischen Kulturen. Auch dort gibt es selbstverständlich kulturelle Entwicklungen, in deren Verlauf sich spannungsreiche Beziehungen zwischen religiösen und a- oder antireligiösen Lebensentwürfen auftun, bei denen Weltentstehungsmythen auf der einen Seite, naturwissenschaftliche Kosmogonien oder Evolutionstheorien auf der anderen Seite auseinandertreten. Dies alles zu verstehen, erfordert eingehende interkulturell vergleichende Studien, und darin mangelt es an der europäisch geprägten ethischen Tradition. Einen Sachverhalt sollte man dabei aber nicht aus dem Auge verlieren: Der „Streit der Fakultäten“ in der europäischen Geschichte spielte stets – bis in die Gegenwart – vor dem Hintergrund geschichtlicher Machtansprüche der Kirchen. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie sich der Gegensatz von religiös bestimmten Lebens- und Weltentwürfen unterschiedlicher kultureller Prägung sich ohne gesellschaftlich dominante, organisierte Religionen entwickeln wird.

3.3 Moral ohne Religion? Religion als Ursprung der Moral? Es gibt sowohl eine religionslose wie eine im religiösen Glauben von Menschen verwurzelte Moral und Sittlichkeit. Moralische und sittliche Normen können sowohl in religiösen wie in nichtreligiös bestimmten Überzeugungen und Einsichten ihren Ursprung haben. Zwischen dem Ursprung moralischer und sittlicher Überzeugungen einerseits, der argumentativen Begründung eines damit verbundenen Geltungsanspruchs andererseits ist strikt zu unterscheiden. Durch die Wendung zur materialen oder angewandten Ethik6 wird weder die philosophische noch die theologische Ethik die schwierigen Begründungsfragen los; ebenfalls nicht die Rückfrage nach dem in der philosophischen und theologischen Tradition schon erreichten ethischen Problembewusstsein. Hinsichtlich der Anforderungen an eine Begründung von Prinzipien der Sittlichkeit oder von ethischen 6 Vgl. Robert Heeger/Theo van Willigenburg (Hg.), The Turn to Applied Ethics. Practical Consequences for Research, Education, and the Role

of Ethicists in Public Debate, Kampen 1993 (der Band enthält die Beiträge der Tagung der Societas Ethica von 1992).

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Urteilen ist sich die Mehrzahl der Philosophen heute wohl darin einig, dass ein Anspruch auf allgemeine Geltung von Normen den Rekurs auf theologische Argumente und Gründe zumindest in dem Sinne ausschließen sollte, dass damit eine gegen jede Kritik immune Autorität in Anspruch genommen wird. Ich habe schon auf die Programmatik einer Ethik ohne Metaphysik (Günther Patzig7) und von Ethics without Ontology (Hilary Putnam8) verwiesen. Ähnlich bezeichnet Ernst Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik als seine Grundfrage , „ob es eine von den religiösen Traditionen unabhängige Einsichtigkeit von moralischen Normen gibt“.9 Dabei ist für ihn von vornherein klar, dass eine religiöse Moral – die er anscheinend bisweilen mit theologischer Ethik als Reflexion der Moral gleichzusetzen scheint – wesentlich dadurch bestimmt ist, dass sie „gut“ nennt, was mit dem in heiligen Schriften bezeugten Willen Gottes identisch ist. „Schlecht ist, was Gott nicht gefällt.“10 Die Annahme eines inhaltlich bestimmten göttlichen Willens aber setzt die Existenz dessen voraus, der, die oder das „Gott“ genannt wird. Dazu Tugendhat: „Damit ist genau bezeichnet, wie weit die Begründungsressourcen bei der traditionalistischen Moral reichen. Die Tradition selbst, das Wort Gottes ist der letzte Grund, der nicht mehr hinterfragbar ist. Eine religiöse Moral ist daher auch prinzipiell unfähig, mit anderen Moralkonzepten zu diskutieren; sie kann nur glaubensmäßig und also dogmatisch ihre eigene Überlegenheit behaupten und sich von den anderen abschließen.“11 Diese Sätze scheinen mir für ein verbreitetes Urteil (oder Vorurteil) nicht nur von Philosophen hinsichtlich der Ansprüche und Leistung theologischer Ethiken repräsentativ zu sein. Demnach ist eine religiös fundierte und theologisch reflektierte Moral – autoritär und im schlechten Sinne „dogmatisch“ (besser sagt man wohl: „dogmatistisch“), – selbstimmunisierend gegen Kritik, – partikular, gruppenbezogen und exklusiv, dabei tendenziell intolerant, – grundlegend inkommunikativ jenseits der Grenzen der jeweiligen religiösen Gemeinschaft. Im folgenden versuche ich, einige der wichtigen Herausforderungen darzustellen, die eine theologische und eine philosophische Ethik für den jeweiligen Streitpartner bereit halten.

7 Göttingen 21983. 8 Cambridge, MA 2004. 9 Frankfurt a. M. 1993, 13.

10 Ebd., 65. 11 Ebd., 66.

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3.3.1 Die philosophische Kritik und Herausforderung Philosophische Ethik kritisiert zurecht jede theologische Ethik, die entweder die Berufung auf Gott zur autoritären Durchsetzung partikularer Überzeugungen missbraucht oder lediglich in religiöser Sprache wiederholt, was in philosophischer Ethik längst gesagt ist oder ebenso gut gesagt werden kann. Theologische Ethik provoziert darin die philosophische Ethik, dass sie die Frage nach der Bestimmung des Menschen im Blick auf Gott offen hält und nicht verstummen lässt. Es ist nicht schwer, zu zeigen, dass ein Urteil über die theologische Ethik, wie es Tugendhat formuliert hat, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Man kann viele Beispiele dafür nennen. So ist in der Grundlegung der theologischen Ethik innerhalb der Erwählungslehre der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth u. a. zu lesen: „Es gibt keine Humanität außerhalb der Humanität Jesu Christi und des freiwilligen oder unfreiwilligen (? WL) Lobpreises der in ihr Ereignis gewordenen Gnade Gottes. Es gibt keine Verwirklichung des Guten, die nicht mit der Gnade Jesu Christi und ihrer freiwilligen oder unfreiwilligen (? WL) Bestätigung identisch wäre. Denn es gibt kein Gutes, das nicht Gehorsam gegen Gottes Gebot wäre.“12 Hier muss sich jeder philosophische Gesprächspartner schon aus dem äußersten Vorhof des Tempels verwiesen fühlen, bevor ein Dialog überhaupt beginnen kann. Und bekanntlich ist Karl Barth niemals müde geworden, die Möglichkeit eines allen Menschen faktisch oder potentiell gemeinsamen, allgemein als vernünftig aufweisbaren Verständnisses des Humanum vehement zu bestreiten, jedenfalls soweit damit ein natürlicher, womöglich philosophischer allgemeiner „Anknüpfungspunkt“ der menschlichen Rede von Gott auch und gerade im Felde der Sittlichkeit bezeichnet werden sollte.13 Philosophen finden in dieser prominenten Gestalt der Theologie mithin gute Gründe dafür, einen scharfen Trennungsstrich zumindest gegenüber einer theologischen Ethik zu ziehen, welche im Blick auf die Frage nach dem Guten bzw. der Sittlichkeit darauf besteht, dass gerade hier nicht vom Zentrum des christlichen Glaubens, nämlich

12 KD II/2, § 36.1, 601,2. Die letzte Formulierung dürfte als implizite Antithese zum Anfangssatz von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), zu verstehen sein, welcher lautet: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (BA 1) Der Sinn des Barth’schen Hinweises auf das „unfreiwillige“ Tun ist mir an dieser Stelle dunkel geblieben. 13 Durch Äquivokationen in Barths Begriff der

„natürlichen Theologie“ ist leider die eigentliche Stoßrichtung seiner Kritik nicht immer hinreichend deutlich. Im Kern geht es Barth in der Zurückweisung der „natürlichen Theologie“ um die Kritik aller menschlichen Versuche, das Evangelium für innerweltliche, vor allem politisch-gesellschaftliche Zwecke und Ziele zu funktionalisieren und zu instrumentalisieren; vgl. dazu besonders die sachlichen und methodischen Hinweise bei Dieter Schellong, Barth lesen, in: Karl Barth. Der Störenfried? (Einwürfe 3), München 1986, 5–92.

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dem Leben, dem Leiden und der Auferstehung Jesu von Nazareth, abgesehen werden kann. Wenn Barth schreibt, dass es nichts Gutes gebe, „das nicht Gehorsam gegen Gottes Gebot wäre“, so kann man eine Verbindung zu jener Stelle bei Platon ziehen, die als „Euthyphron-Dilemma“ bekannt ist. In dem unter dem Namen des Euthyphron überlieferten Dialog wird das Problem erörtert, ob das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es geliebt wird, fromm ist (9d-11b). Man kann diese Frage auch so stellen: Ist etwas gut, weil Gott es will, oder will Gott etwas, weil es gut ist? Oder anders formuliert: Bestimmt (definiert) Gott die Kriterien des Guten oder anerkennt (rezipiert) Gott sie?14 Diese Alternative, das Euthyphron-Dilemma, ordnet die menschlichen Wünsche oder Überzeugungen und den vorgestellten oder offenbarten Willen Gottes gleichsam auf einer Ebene an, nur in unterschiedlichen Bedingungsrelationen: Entweder dekretiert (der oder ein) Gott, dass etwas gut ist oder sein soll, oder die Güte von etwas wird als (vernünftig) erwiesen oder verbindlich erachtet und behauptet und als solche Gott zugeschrieben. Eine eingehendere Interpretation des Dialoges könnte zeigen, dass schon Sokrates beziehungsweise Platon darlegen wollen, inwiefern die dem Dilemma zugrundeliegende Frage falsch gestellt ist und in unlösbare Aporien jeder Bestimmung des Guten führen muss. Gleichwohl hat die Frage beispielhafte Bedeutung. Denn es ist unbestreitbar, dass religiöse Menschen nicht selten, ja vielleicht sogar typischerweise dazu neigen, die Güte (und damit ineins auch die Gebotenheit) einer Handlung oder Unterlassung darauf zurückzuführen, dass Gott sie will. Ein Beleg dafür ist die häufig begegnende Berufung pazifistisch eingestellter Christen auf einen berühmten Satz der I. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirche von 1948, welcher lautet: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Als aktuelle Beispiele nenne ich die Berufung auf das unbedingte Tötungsverbot im Zusammenhang mit der Problematik von Schwangerschaftskonflikten und Schwangerschaftsabbruch oder die verbreitete Überzeugung, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften schon allein aus dem Grunde abzulehnen seien, weil es Bibelstellen gibt, welche homosexuelles Verhalten (übrigens nur von Männern) eindeutig ablehnen. Die Berufung auf bibli14 Auch hier findet sich bei Kant eine subtile Problemdifferenzierung. Im zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kritisiert er die Versuche, von empirischen Beispielen zu ethischen Prinzipien gelangen zu wollen. In diesem Zusammenhang (und nur in diesem) schreibt er: „Selbst der Heilige des Evangelii muß zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst; was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut, niemand ist gut (das Urbild des Guten) als der einige Gott (den ihr nicht sehet). Woher haben wir aber den Begriff von Gott, als dem höchsten Gut? Lediglich aus

der Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft, und mit dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft.“ (BA 30, Weischedel IV, 36) Entscheidend ist hier, dass es Kant um die menschliche Erkenntnismöglichkeit hinsichtlich des in Wahrheit Guten geht, nicht um dieses als solches, welches ein Grenzbegriff von etwas ist, dessen Unbegreiflichkeit die Vernunft nur innewerden kann, wie der letzte Satz der GMS in Erinnerung ruft. Im übrigen bezieht sich Kant hier auf Mk 10, 18 („niemand ist gut außer Gott“), also eine Stelle, die auch für Karl Barths Ethik-Grundlegung zentrale Bedeutung hat (vgl. KD II/2, § 37.3, 681–701).

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sche Aussagen, die als unumstößlicher Geltungsgrund für Gebote und Verbote angesehen werden, und deontologische Positionen in der Ethik scheinen sich in christlichen Kirchen bisweilen eng zu berühren. Ähnliche Fundamentalismen begegnen auch in Judentum und Islam. Wer biblische Aussagen im Sinne von „Schriftbeweisen“ oder göttlichen Willensbekundungen mit unbegrenztem Geltungsanspruch in Anspruch nimmt, sieht jedes Urteil über die Güte einer Handlung allein im souveränen Willen Gottes begründet. Biblischen Sätzen wird eine unüberwindliche, nicht kritisierbare Autorität zugeschrieben: Weil Gott gesprochen hat, gilt . . . „Gebote“ werden als Befehle verstanden und Gott wird wie ein Oberbefehlshaber, dem alle Untertanen zu gehorchen haben, vorgestellt. Weil Gott das Töten verboten hat, und weil Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe (in einem bestimmten Sinne) Tötung menschlichen Lebens sind, darum sollen derartige Handlungen jederzeit und überall als solche „in sich schlecht“ und verwerflich sein.15 In diesem autoritätsbestimmten Modell wird Gott als souveräner Gesetzgeber vorgestellt, dem gegenüber allein Unterwerfungsgehorsam als Basis für sittliches Verhalten und Handeln in Betracht kommt.16 Dem hat die philosophische Ethik seit jeher und zu Recht widersprochen; eine klassische Formulierung dessen findet sich in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) in der berühmten Anmerkung in der Vorrede, wo es heißt: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.17

Ich nenne dies das Souveränitäts- und Unterwerfungsmodell theologisch-fundamentalistischer Moralbegründung. Es hat zu ungezählten menschlichen Katastrophen geführt – von der autoritären Erziehung mit der Drohung eines alles wissenden, sehenden und verursachenden Gottes bis zur fatalistischen Unterwerfung unter blinde oder tragisch wirkende Schicksalsmächte.18 Diesem Gott der autoritären Souveränität, dessen unverbrüchlicher Wille vielfach und lange Zeit durch die irdische Organisation der Kirche mit „heiliger Gewalt“ durchzusetzen versucht wurde, gilt die philosophische Ablehnung religiöser Ethiken. 15 Eine derartige Argumentation begegnet seit längerem im Bereich der „religiösen Rechten“ in den USA. Siehe dazu beispielsweise: Spirit and Power. A 10-Country Survey of Pentecostals (The Pew Forum on Religion & Public Life), Washington DC 2006; Thomas Grumke, Rechtsextremismus in den USA, Opladen 2001. Dass dieselben teilweise extrem militanten Abtreibungsgegner gleichzeitig in Sachen Todesstrafe oder Kriegführung vom Tötungsverbotswillen Gottes oft anders denken, steht auf keinem anderen, sondern auf

demselben Blatt einer lebensfeindlichen Prinzipienethik. 16 Vgl. auch die Kritik am „normativistischen Missverständnis theologischer Ethik“ bei Johannes Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, 83–95. 17 A XII; vgl. auch ebd., B 780. 18 Zu diesem Motiv bei dem Lutheraner Werner Elert vgl. Albrecht Peters, Unter Gottes Heimsuchung – zum theologischen Vermächtnis Werner Elerts, KuD 31, 1985, 250–292.

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3.3.2 Gott als Ursprung der Frage nach dem Guten Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott (Luther) 19 Im Gegenzug lässt sich die Frage an die Philosophie nicht vermeiden, ob es wirklich gute und zwingende Gründe dafür gibt, eine philosophische Ethik zu entwerfen, ohne die religiöse Dimension im Leben der Menschen überhaupt zu berücksichtigen. Dies ist nicht bloß ein Problem von partikularen, kulturell besonderen Erfahrungen und Einstellungen einerseits, philosophischen Verallgemeinerungsbedürfnissen andererseits, sondern eine Frage an die Fähigkeit und Bereitschaft, die Probleme der Sittlichkeit noch in einen weiteren Zusammenhang zu stellen, in welchem anthropologische und theologische Auslegungen der menschlichen Existenz berücksichtigt werden. Ich frage: Gibt es überzeugende Gründe dafür, eine rein säkulare Ethik unter strikter Ausblendung theologischer Fragen zu entwerfen, also eine Ethik ohne Berücksichtigung der religiösen Dimension im Leben von Menschen zu entwickeln? Ist mit der skizzierten philosophischen Kritik jede theologische Ethik erledigt? Oder lebt diese Kritik von einer Auffassung von Religion und Theologie, die einseitig, vielleicht falsch ist, womöglich von der Theologie selbst schon zum Gegenstand ihrer Kritik gemacht wird? Man kann jedenfalls argumentieren, (1) dass es eine einseitige und teilweise willkürliche anthropologische Abstraktion wäre, religiöse Phänomene wie das Glauben und Vertrauen von Menschen gering zu schätzen, (2) dass es keineswegs erwiesen ist, dass über „Gott“ und das Gute nicht in klaren, verständlichen Sätzen gesprochen werden kann, (3) dass es auch eine nicht-autoritäre, zwangs- und gewaltfreie Auffassung der Begründung von Normen in einem theologischen Argumentationszusammenhang geben kann, und (4) dass es mit dem oben (I. 4) in Erinnerung gerufenen Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen gerade und schlechterdings unvereinbar ist, Gott als Ursprung und Prinzip unveränderlicher Normen zu verstehen. Ich vermute, dass die Art und Weise, wie Menschen „Gott“ denken, vorstellen oder erfahren, auch dafür wichtig ist, wie sie Worte wie „Gebot“ und „gut“ verstehen. Die religiöse Sprache formt die Erfahrungen der Menschen und wird von diesen geformt. Wie ein Mensch „Gott“ denkt oder sich vorstellt – oder auch nicht –, ist nicht gleichgültig für seine gesamte Selbst- und Weltwahrnehmung. (Siehe oben, Teil I, 2.3.) Entscheidende Weichenstellungen dafür, was in der Ethik zu sagen ist, 19 So Luther in der Erläuterung zum 1. Gebot im Großen Katechismus: „Du sollt nicht andere Gotter haben. Das ist: Du sollt mich alleine fur Deinen Gott halten. Was ist das gesagt, und wie verstehet man’s? Was heißt ein Gott haben, oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also dass ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und

gläuben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide, Gott und Abegott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ (BSLK 560,5 ff)

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liegen insofern immer schon weit vor der Ethik, nämlich dort, wo sich entscheidet, ob und wie es Menschen gelingt oder widerfährt, sich selbst und sich selbst im Verhältnis zu Gott zu – ich sage jetzt nicht: zu denken oder vorzustellen, sondern zuerst: – zu finden und in diesem Horizont ihre Welt wahrzunehmen. Die religiöse Dimension des Humanum von der Ethik zu abstrahieren, halte ich deshalb für künstlich und irreführend. Im Zentrum des Streites der philosophischen und theologischen Fakultät hinsichtlich der Ethik steht insofern unvermeidlich die Frage danach, wer oder was „Gott“ für Menschen ist und was daraus für das Handeln und Verhalten von Menschen folgt. Selbst wenn man das Wort „Gott“ als sinnlos aus dem Sprachschatz oder der Argumentation auszuschließen versuchen würde, wird man der mit diesem Wort bezeichneten Wirklichkeit nicht entkommen können. Auf diesen Sachverhalt weist das Luther-Zitat hin, das diesem Abschnitt vorangestellt ist. Es lässt darauf aufmerksam werden, dass es im Leben der Menschen eine Dimension gibt, in der sie sich auf jemand oder etwas in der Weise verlassen, dass sie daran ihr Herz hängen. Andere Theologen haben im Blick auf derartige Erfahrungen vom „Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit“ oder dem, „was unbedingt angeht“ („ultimate concern“), gesprochen. Es sind sprachliche Annäherungen an eine verbreitete existenzielle, fundamentale Erfahrung, die gewiss nicht alle Menschen und schon gar nicht alle in gleicher Weise machen, aber die man auch nicht als leer und sinnlos bezeichnen kann. Dass ein Mensch „Glauben und Vertrauen“ zu seinem Gott findet, prägt das Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis. In welcher Art dieses Glauben und Vertrauen näher bestimmt ist, sich verändert und entwickelt, verdunkelt und erhellt, Krisen und Anfechtungen, Erneuerung und Vertiefung erfährt, das ist in jedem Leben anders. Die Kirche, so werde ich im III. Teil näher darlegen, ist die Gemeinschaft und der Raum, in dem sich dieser Prozess vollzieht, in welchem Menschen darüber Klarheit gewinnen (können), woran sie ihr Herz hängen. Unter diesem Aspekt ist dann vielleicht auch für „säkulare“ Ethiker leichter nachvollziehbar, dass und inwiefern das Gottesverhältnis eines Menschen auch seine Wahrnehmung des Guten, Richtigen und Gebotenen prägt. Diese Wahrnehmung wird bei Juden und Christen maßgeblich durch den Umgang mit ihren biblischen Schriften geprägt und durch die Teilnahme an einer dadurch bestimmten sozialen Gemeinschaft. In eine solche umgreifende Lebenspraxis sind die Fragen nach Moral und Sittlichkeit eingebettet; man kann sie davon unterscheiden, aber nicht definitiv trennen. Dadurch erhalten die Auffassungen einer vom Glauben der Menschen geprägten Haltung eine spezifische Färbung, einen besonderen „Geist“.20 Der Streit zwischen Philosophie und Theologie bleibt gleichwohl unvermeidlich. Das Merkwürdige und oft Übersehene ist dabei, dass in der zuletzt beschriebenen Dimension die Theologie (verstanden als ein menschliches Werk der kritischen Reflexion im Raum der – sichtbaren – Kirche) der Philosophie von Haus aus nichts

20 Diesen „Geist der Liebe“ rückt Johannes Fischer in das Zentrum seiner Auffassung von theo-

logischer Ethik aus dem Geist des christlichen Glaubens.

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voraus hat, sondern genau wie diese zunächst mit leeren Händen dasteht, wenn es darum geht, zu erfahren und zu klären, woran eines Menschen Herz in Wirklichkeit hängt. Eine befreiende Öffnung des streitbaren Verhältnisses von Theologie und Philosophie könnte an dieser Stelle in der Einsicht bestehen, dass die Offenbarung und das Wort Gottes – wenn man mit diesen Worten den Ursprung des Ethos von Juden und Christen bezeichnen will – in keiner Weise allein oder auch nur in privilegierter Weise eine Sache der Theologie sind, sondern zunächst und vor allem alle Menschen angehen, allerdings von Menschen auf ganz unterschiedliche Weise wahrgenommen, gedeutet und in ihr Leben aufgenommen werden. Die Theologie ist durch Tradition, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge und eben auch in mancher professionellen Hinsicht auf „Gott“ und dessen Zeugnisse bezogen, aber sie hat hier grundsätzlich keine Privilegien und kein Sonderwissen zu verteidigen. Denn die Sache der Theologie, das, woran das Glauben und Vertrauen hängen, so sollte man meinen, geht alle Menschen an.

3.4 Gottes Gebote als Kern eines universalen Ethos? Hinsichtlich des Ethos darf und muss der Wille Gottes und seiner Gebote „paränetisch“, d. h. als (in sich konfliktreiche) Lebensmöglichkeiten erschließend verstanden werden. Wenn von „Geboten Gottes“, wenn vom Dekalog die Rede ist, dann assoziieren wohl viele Menschen einen unwiderstehlichen Gebieter – im Englischer spricht man von den „ten commandments“, und dahinter steht ja wohl ein „commander in chief“. Es ist nicht schwer, ihn mit dem „unbewegten Beweger“ der aristotelischen Metaphysik zusammenzudenken. Wenigstens hier, am Ursprung oder in der Spitze des Seins, sollen und müssen alle Rechnungen aufgehen, denn sonst zerbrechen auch die Ordnungen und Berechnungen der Gläubigen. Hier muss es für alle Wirkungen letztlich allgemein einsehbare Gründe und Ursachen geben – in der Natur wie in der Geschichte, im deterministischen Kausalzusammenhang wie im sittlich zurechenbaren freien Wollen. Doch spätestens hier zerschellt das Schiff des Glaubens an den Klippen der harten Wirklichkeit. Wo war der alles wissende und alles bestimmende Gott in Auschwitz und Hiroshima? Wenn etwas nur „gut“ ist, weil und sofern ein Gott es will, dann muss offenkundig unschuldiges Leid in einem verborgenen Ratschluss aufgehoben werden, muss Sinnlosigkeit in Sinn, müssen Folter und Tod in undurchschaubare Umwege Gottes umgedeutet werden, dann muss die Härte der Kirchenstrafen früherer Zeiten als eine verhüllte Gestalt der Liebe vorgestellt werden. Die Abkehr von diesem Gott der Gebote haben viele vollzogen. Das hat unausweichliche Folgen für die Sittlichkeit und die Selbstbestimmung. Es beginnt damit, dass Menschen sich weigern, alles, was geschieht, auf einen allmächtigen Gott zurückzuführen. Das hat Konsequenzen für das Verständnis des Wortes „Gebot“: Wenn Gott nicht der souveräne Gebieter ist, dann dürfen biblische Tora, biblische

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Gebote und Unterweisungen eben auch nicht mehr als unumstößliche Befehle verstanden werden21, die verpflichten, bloß weil es sie gibt oder weil sie von Menschen früherer Zeiten als für alle Zeiten verbindliche Anweisungen verstanden und überliefert worden sind. Aber was sind dann Gebote Gottes, oder: was ist dann „gut“? Gebote Gottes müssen nach dem Abschied vom souveränen Generalissimus als „Weisungen“ einer bestimmten Art, als Einladungen zu einem Weg, als Aufforderungen und Ermöglichungen zu einer neuen Sicht auf die Phänomene der gesamten kreatürlichen Wirklichkeit verstanden werden. Die Einladung, die Welt und die menschlichen Handlungsspielräume im Lichte eines menschenfreundlichen Gotteswillens wahrzunehmen, ergeht an alle Menschen, einschließlich derer, die ohne jede religiöse Bindung forschen und philosophieren wollen. Niemand darf gezwungen werden, dieser Einladung zu folgen. Biblisch bezeugte Weisungen wollen nicht unfehlbare, unwiderlegbare und undiskutierbare letzte Begründungen (wie sie Menschen sich gern ausdenken und anwenden) für unsere Handlungen liefern; sie sind vielmehr Anleitungen zur Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten, Einladungen zu klaren Entscheidungen und Aufforderungen zu (oft nachträglich) vernünftig kommunizierbaren Begründungen. 3.5 Gottes Gebote aus dem Geist des Erbarmens Gottes eindeutiger Wille für den Menschen ist „Barmherzigkeit“ – im Gottes- wie im Menschenverhältnis. Jedes Nachdenken über das Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik führt auf drei Fragen, welche grundlegend sind und durch keine methodische Abstraktion und Selbstbegrenzung aus der Welt geschafft werden können. Es sind dies die Frage nach der Identität dessen, der nach dem sittlich Guten fragt; sodann die Frage, was dasjenige für die eigene Identität bedeutet, welches Menschen „Gott “ nennen; schließlich die Frage, wie es um die Freiheit und Verantwortlichkeit von Menschen im Blick auf das für sie lebenspraktisch wichtige Verständnis Gottes bestellt ist. Die Frage der Identität verweist auf die Tatsache, dass Anthropologie und Ethik nicht zu trennen sind (wenngleich diese Abstraktion vor allem bei sprachanalytisch orientierten Ethikern häufig begegnet, welche sich auf eine Theorie des ethischen Argumentierens konzentrieren). Die unmittelbar anschließende Frage, ob und wie eine Anthropologie ohne Theologie möglich und sinnvoll ist, kann zwar unterschiedlich beantwortet werden, aber sie sollte nicht einfach generell unter Sinnlosigkeitsverdacht gestellt werden. Die dritte Frage nach dem Verständnis der menschlichen Freiheit – im Blick auf oder unter Absehung von „Gott“ – markiert vielleicht den wichtigsten Kontroverspunkt zwischen philosophischer und theologischer Ethik. 21 Vgl. dazu Paul Helm (Hg.), Divine Commands and Morality, Oxford 1981. Dieses Buch war auch der Ausgangspunkt der Analyse vor al-

lem jüdischer Positionen bei Michael J. Harris, Divine Commands Ethics. Jewish and Christian Perspectives, London/New York 2003.

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Diese Zusammenhänge sind auch für Ernst Tugendhat, auf den ich schon mehrfach als einen kritischen Autor im Streit der Fakultäten verwiesen habe, offenkundig von großer Bedeutung, aber er zeigt sich, wenn ich recht sehe, eigentümlich spröde, darüber näher Auskunft zu geben. Gegen Ende der fünften seiner Vorlesungen über Ethik 22, in der er in Grundzügen sein eigenes Konzept skizziert, sagt er deutlich, dass jede Ethik in eine Anthropologie eingebettet ist, denn jeder, der moralisch zu argumentieren versucht, muss sich dabei selbst fragen: „wer will ich überhaupt sein, woran liegt mir im Leben, und was hängt für mich davon ab, ob ich mich als zugehörig zur moralischen Gemeinschaft verstehe?“23 Wenn es um Fragen der ethischen Urteilsbildung geht, stehen also immer auch die Bestimmung meiner Identität – und nicht nur die nach der Beschaffenheit von Handlungen und deren möglicher Begründungen – sowie die Beziehung zu der Sozialität, der jemand zugehört, auf dem Spiel. Jede Ethik, verstanden als Darstellung und Kritik des Ethos in einer Sozialität, impliziert eine Gesamtauffassung der Weltwirklichkeit einschließlich letztlich eines Verständnisses der „Stellung des Menschen im Kosmos“ (Max Scheler), auch wenn dies nicht immer expliziert werden muss oder kann. Dabei ist es für Menschen anscheinend immer wieder unvermeidlich, wie der Metaphysik-Kritiker Kant gesehen hat, auch zur Frage der Existenz und Bedeutung dessen, was Menschen „Gott“ nennen, Stellung zu nehmen. Derart „überschwängliche Gedanken“ können wir uns nicht verbieten lassen (sowenig wie wir uns eine autoritäre Antwort darauf bieten lassen). Eben dies gilt auch für Tugendhat, der in seinen grundsätzlichen Reflexionen zur Ethik zwar die religiöse Begründung der Sittlichkeit als für moderne Menschen überholt verwirft, aber in seinen praktisch-politischen Überlegungen deutlich zu erkennen gibt, dass diese Dimension von der lebensweltlichen ethischen Praxis gar nicht abgespalten werden kann. In einem Vortrag mit dem Titel Als Jude in der Bundesrepublik Deutschland (1987) berichtete er u. a. darüber, wie er, ursprünglich wohl kaum stark religiös geprägt, sich seines Judeseins bewusst geworden ist. Und er sagt dann ausdrücklich über den Weg eines Juden, der sich nicht mehr „religiös“ versteht, im Hinblick auf das Beispiel Werner Scholems, des von den Nazis wegen seiner KP-Mitgliedschaft umgebrachten Bruders von Gershom Scholem: Das Charakteristische dieses Weges im allgemeinen ist, dass man die jüdische Identität ins Universalistische aufhebt, das heißt, die jüdische Erfahrung so interpretiert, dass sie einen empfindlich macht für alles Unrecht, wem immer es geschieht. Diese universalistische Konzeption der jüdischen Identität ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so vernehmbar. Sie hält sich jedoch durch in solchen Figuren wie z. B. Marek Edelmann, dem ehemaligen stellvertretenden Kommandanten des Warschauer Ghettoaufstandes. In einem Interview [. . .] beantwortet der jetzt in Lodz als Arzt tätige Edelmann die Frage, was es bedeute, heute Jude zu sein, so: „Das bedeutet, auf der Seite der Schwachen zu sein [. . .]“24 22 Frankfurt a. M. 1993. 23 Ebd. 96. 24 In: Ernst Tugendhat, Ethik und Politik, Framkfurt/M. 1992, 80–93 (86). Das Zitat erin-

nert mich übrigens an die Gestalt und Überzeugungen des Dr. Rieux in Albert Camus’ Roman Die Pest.

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Tugendhat sagt nicht: Weil Gott es befiehlt, muss der Jude auf der Seite der Schwachen stehen, sondern er sagt wie Edelmann: Durch die Wahrnehmung der Opfer geht dem Juden auf, worin seine Identität besteht und wo sein Platz ist – zugleich prinzipiell oder potentiell der Platz aller Menschen, denen Sinne zur Wahrnehmung der oder des unverwechselbar Anderen gegeben sind.

3.6 Einübung ins Christentum Christlich-theologische Ethik leitet keine unumstößlichen Normen aus einem ihr bekannten „Willen Gottes“ ab. Ihre Aufgabe ist die Beratung und Begleitung für eine im Glauben der Menschen verankerte gemeinschaftliche Praxis. Die meisten philosophischen Ethikerinnen würden wahrscheinlich gegen das in diesem Buch mehrfach eingeführte Motiv und Verständnis einer „partnerschaftlichen“ cooperatio Dei et hominis starke Ablehnungsgründe äußern. Sie könnten etwa argumentieren: Dieses Motiv setzt die Existenz Gottes und den menschlichen Glauben an Gott als Schöpfer, Versöhner und Erlöser voraus; ein intersubjektiv zwingend zu führender Gottesbeweis ist aber weder mit philosophischen noch mit theologischen Mitteln möglich; also ist eine christlich-theologische Ethik im skizzierten Sinne lediglich als Sondermoral partikularer Gruppen möglich und über den Kreis der Gläubigen hinaus weder bedeutsam noch akzeptabel.

3.6.1 Theologisch-kirchliche Ethik als Hilfe zur Einübung einer gemeinschaftlichen Praxis An dieser Stelle kann es keine theologische Apologetik geben, die den hier bestehenden Graben zwischen Theologie und Philosophie mit den Mitteln und Denkformen der Theorie überwinden könnte. Eine theologisch begründete Alternative dazu deute ich mit dem Stichwort der „Einübung“ an. Ich meine damit, dass der Weg zu einer lebensbestimmenden cooperatio hominis cum Deo nicht das Ergebnis einer Reihe kognitiver Akte ist, dergestalt, dass Menschen allein aufgrund ihres freien Willens sich selbst dazu entschließen, beständig und beharrlich in ihrem Tun nach dem Willen Gottes zu fragen, diesen näher zu bestimmen und daraus Normen abzuleiten. Vielmehr handelt es sich nach meiner Einsicht um einen lebenslangen Vorgang, welchen Dietrich Ritschl als ein „Hineinschlüpfen in die ‚story‘ des Gottesvolkes“ bezeichnet hat – also eine teilnehmende Beobachtung und kritisch beobachtende Teilnahme an der befreienden, heilenden, immer wieder gefährlichen und irritierenden Praxis des Gottesvolkes aus Juden und Christen. Einübung schließt ein, dass man sich beteiligen kann, auch wenn man nicht weiß, wohin man auf diesem Weg gelangen mag. Wichtig ist mir, dass bei allen theoretischen Reflexionsanstrengungen

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theologische und philosophische Ethik letztlich immer Reflexionen einer vorausliegenden, kulturell spezifisch geprägten sozialen Praxis bleiben. Den Raum und geschichtlichen Ort dieser vorausliegenden Praxis bildet für die theologische Ethik in ausgezeichneter Weise die Kirche, und zwar die Kirche als eine reale, sichtbare Gemeinschaft von Menschen.

3.6.2 Ein Beispiel: Kirche als Ort der aktiven Gewaltfreiheit Bestätigt diese These nicht die allerschlimmsten Befürchtungen der Philosophen? Hier kommt nun freilich alles darauf an, was unter „Kirche“ verstanden wird. Im Vorgriff auf meine näheren Erläuterungen dazu schicke ich hier voraus: Für die evangelische Theologie ist entscheidend, dass die Kirche creatura verbi divini und als solche ihrer (kontrafaktischen) Bestimmung nach communio sanctorum ist. Kirche ist die Gegenwart Jesu Christi in einer Gemeinschaft von Menschen. Diese Gegenwart ist wirksam, so dass auch die dadurch bestimmte Gemeinschaft als eine im Namen Jesu kommunizierende, helfende und heilende Gemeinschaft sichtbar in Erscheinung tritt. Wie der Christus, den wir jetzt zwar nicht sehen, aber in den Sakramenten feiern, hören und schmecken, der in allen Kirchen der Christenheit in Wort und Sakrament dargestellt und vergegenwärtigt wird, so tritt auch die Gemeinde stellvertretend und sichtbar für die geschundene und gequälte Kreatur ein. Darum tritt die Gemeinde immer für das Leben, also auch für das ungeborene Leben, doch ebenfalls niemals gegen das Lebensrecht einer schwangeren Frau ein. Wenn die Kirche ein bestimmtes Tun oder Unterlassen fordert, dann tut sie dies mit der einmaligen Autorität eines Stellvertreters Christi – an Christi Statt (2Kor 5,20) –, und das heißt: ganz gewiss nicht autoritär-befehlend, sondern in der Gestalt der dringenden, einladenden, aber nicht vereinnahmenden Bitte. Theologische Ethik lädt zu einem gemeinsamen Weg ein, auf dem das Gottesvolk aus allen Völkern immer schon unterwegs ist. Ein sicheres Kriterium dafür, ob die Kirche dies in rechter Weise tut, liegt darin, dass sie klar und unzweideutig nicht um eigener Macht, eigenen Ruhmes oder eigenen Rechtes willen bittet und bisweilen auch fordert und mahnt. Die potestas ecclesiastica und die kirchlich verwurzelte theologische Ethik können deshalb, wie die Wahrheit, über die die Kirche nicht verfügt, die ihr aber anvertraut ist, nur „untödlich“ sein; die Kirche handelt und kommuniziert ihr Ethos grundsätzlich non vi, sed verbo , das heißt, rechtlich-soziologisch betrachtet, als freier Teilnehmer der von ihr in ihrer pluralistischen Verfasstheit bejahten Öffentlichkeit. Für die christlich-theologische Ethik ist danach ihre Einbettung in die Wirklichkeit der Kirche nicht ein Umstand, dessen sie sich zu schämen hätte, wohl aber eine Voraussetzung, welche die theologischen Ethikerinnen zu theoretischer und praktischer Bescheidenheit veranlassen wird. Zur Teilnahme und zur „Einübung“ in diese gemeinschafliche Praxis sind schlechthin alle Menschen eingeladen. Die Zeiten klerikaler Gesellschaftsbevormundung sind lange vorbei, auch wenn viele Kritiker der Möglichkeit und Legitimität theologischer Ethik bisweilen den Eindruck erwecken,

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als müsse der Kulturkampf des 19. Jahrhunderts erst noch zu Ende gebracht werden. Von klerikalen Machtansprüchen hingegen sehr wohl zu unterscheiden ist die Pflicht der theologischen Ethik zu klarer, profilierter und je und dann auch Partei ergreifenden öffentlichen Stellungnahmen, auch über den sozialen Zusammenhang der sichtbaren Kirchen hinaus. Deren Recht auf ungehinderte öffentliche Kommunikation des Evangeliums als einer Kraft zum guten Leben ist gegen Eingriffe zu verteidigen; zugleich besteht dabei jederzeit die Pflicht zu vernünftiger, transparenter Argumentation, und dazu bedarf die theologische Ethik der Herausforderung, Hilfe und Zusammenarbeit von Seiten ihrer philosophischen Schwester.

4. Autorität der Bibel und Autoritätskritik der Vernunft in der Ethik 4.1 Aktuelle Fragen im Umgang mit der Bibel Die Frage der Bedeutung und Verbindlichkeit biblischer Aussagen für Sittlichkeit und Moral sowie die ethische Entscheidungsfindung führt auf die fundamentalen Fragen des Bibelverständnisses und der Formen der Bibelauslegung: Die Bibel im Leben der Kirche, die Inspiriertheit der Schrift, ihre autoritative Geltung, die Geschichtlichkeit und (z. T. gegensätzliche) Mannnigfaltigkeit der biblischen Überlieferungen und die legitimen Weisen der Schriftauslegung. Darüber hinaus sind v. a. die Fragen des Gemeindebezuges der Bibelauslegung und der Geltungsanspruch theologischethischer Überzeugungen in einer pluralistischen, säkularen Gesellschaft strittig. Im Theologiestudium lernt man, dass die Reformation einem von Grund auf erneuerten Bibelverständnis die Bahn gebrochen habe. Sola scriptura! Allein die Heilige Schrift! Ein pragmatisches Verständnis der Einzigartigkeit der Bibel fand ich bei Franz Rosenzweig, der einmal notiert hat: „Die Einzigartigkeit der Bibel lässt sich unwiderleglich aufzeigen nicht am geschriebenen, sondern nur am gelesenen Buch. Die Bibel ist nicht das schönste Buch der Welt, nicht das tiefste, das wahrste, das weiseste, das spannendste und was es sonst noch für Superlative geben mag – wenigstens kann man keine von diesen Einzigartigkeiten einem, der nicht schon ein Vorurteil dafür hat, aufzwingen. Aber die Bibel ist das wichtigste Buch.“ Luthers deutsche Bibelübersetzung nahm die lateinische Bibel aus der Hand des Standes der geistlichen Gelehrten und gab sie dem Volk. Die Reformatoren waren immer, zuerst und auch zuletzt Verkündiger des biblischen Wortes. Für die lutherische Reformation war es genug (satis ), wenn das Evangelium rein und lauter, einmütig, ungehin-

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dert, für jede Frau und jeden Mann zugänglich verkündet und die Sakramente einsetzungsgemäß gefeiert wurden.1 Ich kenne keine empirische Erhebung über Art und Umfang des Umganges mit der Bibel in heutigen evangelischen Kirchen. Aber man wird der Behauptung nicht gut widersprechen können, dass zwar mit großer Sorgfalt allsonntäglich und unter der Woche gepredigt wird, aber der individuelle Umgang mit der Bibel – die regelmäßige Lektüre, das gemeinsame Gespräch, von der stillen Meditation zu schweigen – nicht sehr ausgeprägt ist. Ich mache keine Vorwürfe und klage nicht, nehme mich selbst von der Kritik nicht aus, zumal ich gleichzeitig lese (Oktober 2006), dass in Deutschland 20 Millionen Menschen in einem Monat den religiösen Beiträgen im privaten Hörfunk zuhören. Jeder vierte Einwohner! Trotzdem: Die Bibelkenntnisse sind bei einem Großteil der Bevölkerung und auch der Kirchenmitglieder ziemlich gering. Gründe dafür gibt es zahlreich. Diese Situation ist nicht ohne Folgen für die Aufgaben der theologischen Ethik im Raum der Kirchen und in der Öffentlichkeit. Dabei darf man von der Beobachtung ausgehen, dass in unterschiedlichen kirchlichen Gruppen und Gemeinschaften, doch auch außerhalb der organisierten Kirchen, ganz unterschiedliche Weisen, mit der Bibel umzugehen, begegnen. Ich möchte drei idealtypische Formen unterscheiden, die man natürlich weiter unterteilen kann: (1) In Gemeinschaften, die ich – nicht abwertend, sondern anerkennend – „bibeltreu“ nenne, finden wir (noch) am häufigsten den Willen und die Absicht, mit und aus der Bibel zu leben. Da gibt es Lesekreise. Die Bibel spielt eine Rolle im Alltag der Familien. Die Menschen kennen sehr viele Schriften und Teile der Bibel sehr gut. Die Jungen werden an die Bibel herangeführt, meist behutsam, manchmal auch recht robust. Kirchensoziologisch gesehen, haben wir es hier meist mit kleinen, hoch motivierten Gruppen zu tun, häufig evangelikal oder charismatisch orientiert, mit starkem sozialen Zusammenhalt und häufiger Abgrenzung nach außen. (2) In großen Teilen der Volkskirchen (mainline churches, wie man in der angelsächsischen Welt sagt) begegnet hingegen eine nur schwache Vergegenwärtigung der Bibel. Das heißt nicht, dass die Bibel verachtet würde, aber sie steht oder liegt am Rande. Wenn eine Pfarrerin zum Taufgespräch kommt, wird (vielleicht) die Familienbibel hervorgeholt. Sie gehört zum kulturellen Erbe, aber man streitet nicht (mehr) über sie. Kirchensoziologisch sprechen wir von „distanzierten Kirchenmitgliedern“, obwohl diese Zuschreibung nicht sehr aussage1 Vgl. CA 7: Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, daß das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und

die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, daß überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph 4,4.5).

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kräftig ist. Distanz bedeutet meist weniger starke Verbundenheit und erleichtert die Entscheidung zum Austritt. (3) An den Rändern und auch außerhalb der Kirchen findet man Menschen (weniger Gruppen), denen die Bibel in ihrem persönlichen Leben sehr viel und ganz Unterschiedliches bedeutet, für die es sich vor allem um eine Frage privater Lektüre und Erfahrung handelt. Manche Vertreter dieser Gruppe haben sehr genaue Kenntnisse der Bibel; bisweilen sind sie von Predigten, die sie als oberflächlich oder schlecht vorbereitet erfahren haben, enttäuscht worden. Sie erwarten (für sich) viel von der Bibel, aber wenig von der Kirche.2 Diese Typologie mag man, wenn man sie für zu schlicht hält, nach eigenen Erfahrungen variieren und ergänzen. Hier kommt es mir nur auf die Frage der Bedeutung der Bibel für eine Ethik von Christenmenschen an. Zur ersten Gruppe gehören auch Menschen, die nach wie vor die Bibel Wort für Wort als „inspiriert“ verstehen, das heißt, dass sich alle Sachverhalte „tatsächlich“3 so verhalten, wie die Bibel sie berichtet – von den Schöpfungsberichten und den Chronologien über die Sintflut und die Arche Noahs bis zu den Ankündigungen eines mit einem Weltenbrand hereinbrechenden Endgerichts. Wer so von und mit der Bibel lebt, nimmt zweitens auch oft die Weisungen beziehungsweise Gebote der Bibel wörtlich genau – oder versucht es zumindest. Hier wird es für die Ethik ernst und kontrovers; es geht u. a. um Sklaverei, Todesstrafe, Sexualtabus, deren biblisch bezeugten Überlieferungen auch für die Gegenwart als verbindlich angesehen werden. Ich nannte das ein autoritäres Verständnis der Bibel, wie es im vorigen Abschnitt schon beschrieben worden ist. In der zweiten Gruppe findet man demgegenüber eine allgemeine Akzeptanz gegenüber der sogenannten historisch-kritischen Bibelauslegung. Man liest die Bibel, wenn man sie liest, als historisches Zeugnis historischer Ereignisse. Man liest sie, mehr oder weniger relativierend und kritisch, wie andere Bücher auch. Sie enthält unterschiedliche Wahrheiten, aber es liegt an den heutigen Leserinnen und Lesern allein, sich darauf einen Vers zu machen. Geschichten, die an ein vermeintlich vergangenes Weltbild gebunden sind, werden allegorisiert oder auf ihren (potentiellen) moralischen Bedeutungsgehalt abgeklopft. Zur Historisierung gehört auch, dass man die Überlieferungen der Bibel als sprachliche Äußerungen liest, die bestimmte Funktionen gesellschaftlicher Formationen und Interessen repräsentieren. Oft wird dann ein Bezugsrahmen religionswissenschaftlicher oder kulturgeschichtlicher Art zum maßgeblichen Deutungshorizont der biblischen Überlieferungen. Hier wird von der Bibel ernsthaft keine aktuelle, schon gar keine verbindliche Weisung für die Lebensführung erwartet; eher ist man der Ansicht, dass mit der Bibel ohnehin so 2 Vgl. dazu die einfühlsame Skizze von Elisabeth v. Thadden über die Familien Bonhoeffer, Delbrück, v. Dohnanyi und Harnack in Berlin: Bonhoeffers Welt, in: Die Zeit Nr. 6 v. 1.2.2006. 3 Es gehört zu den historischen Ironien, dass Menschen sich einerseits gern auf die „wahren Tatsachen“, die die Bibel bezeugt, berufen (nach

der alten Parole: „und die Bibel hat doch recht“), dass aber der Tatsachenbegriff im heute gebräuchlichen Sinn ein Kind erst des 19. Jahrhunderts ist; siehe dazu Reinhart Staats, Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes „Tatsache“, ZThK 70, 1973, 316–345.

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ziemlich alles begründet werden kann. Dies nenne ich das funktionalistische Verständnis der Bibel. Meine Frage in diesem Abschnitt ist: Gibt es Alternativen jenseits der Anerkennung der Autorität biblischer Weisungen in ihrem mehr oder weniger getreu aufbewahrten Wortlaut einerseits, der Findung oder Setzung menschlicher Weisungen nach mehr oder weniger vernunftgemäßen und allgemein zustimmungsfähigen menschlichen Regeln andererseits? Gibt es andere Wege als die einer bloß historischkritischen Rekonstruktion und Relativierung der Bibel einerseits, ihrer Verwendung als einer autoritären Setzung andererseits? Eine nicht weit tragende, triviale Antwort liegt nahe: Jenseits der exklusiven Antithese von Autoritäts- und Verstandesorientierung gilt es, nach den Möglichkeiten eines Zusammenspiels von Offenbarung und Vernunft im aufmerksamen Umgang mit der Bibel zu fragen. Es ist sinnvoll, nach den heute möglichen und angemessenen Weisen des Bibelgebrauchs jenseits von relativierender historischer Kritik und diesseits von kirchlicher Bevormundung fragen. Einen ersten biblischen Hinweis auf diese Aufgabe im Blick auf Fragen der Ethik mag man der paulinischen Aufforderung am Anfang des großen paränetischen Schlussteils des Römerbriefes entnehmen, derzufolge das ganze Leben von Christenmenschen ein „vernünftiger Gottesdienst“ (logikv latreia – Röm 12,1) sein soll. Diese Fragen stellen sich nicht abstrakt, sondern ganz konkret im Alltag sowohl von engagierten als auch von distanzierten Kirchenmitgliedern, aber auch allgemein in einer interessierten Öffentlichkeit. Ich verweise auf drei ganz unterschiedliche Beispiele, um die Ethik-Relevanz des Umganges mit der Bibel zu verdeutlichen: (1) Wie argumentieren Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn sie in einem Schwangerschaftskonflikt um Rat gebeten werden, nach sorgfältiger Überlegung zu einer Abtreibung raten und dann an das biblische Tötungsverbot erinnert werden? Sie dürften in der Regel den Wortlaut des fünften Gebotes auf das allgemeine Gebot des Lebensschutzes und der Lebensförderung beziehen und an den unbedingten Schutz der Würde eines jeden Menschen erinnern. Diese Argumentationsstruktur ist klar und einfach: Die aktualisierende Auslegung eines Gebotes wird an dem hier und heute plausibel zu machenden Zweck des Gebotes und seinen ursprünglichen oder umfassenden Intentionen gemessen. Nicht der Wortlaut als solcher, sondern die heute erkennbare Absicht und der geschichtlich bewährte Richtungssinn eines Gebotes sind danach entscheidend; diese verdienen insofern heute Anerkennung und Befolgung. Andere, nicht zuletzt die römisch-katholische Kirche, lehren ein uneingeschränktes Abtreibungsverbot als Gottes Gebot für alle Menschen. Wie sollen Vertreter eines säkularen Staates, wie sollen Christen sich hier entscheiden? (2) Im 20. Jahrhundert betrafen die Kontroversen über die Autorität der Bibel immer weniger die biblisch bezeugten Vorstellungen über die Erschaffung der Welt und insbesondere des Menschen4, sondern biblische Geschichten und Gebote, 4 Obwohl der Kampf gegen den vermeintlich gottlosen Darwinismus und die Evolutionsbiolo-

gie immer wieder bei den amerikanischen „fundamentalists“ neu auflebt, um spätestens nach ei-

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welche sich auf ethische Fragen und hier wiederum mit höchster Priorität auf Ehe und Sexualverhalten beziehen. Die Frage nach kirchlichen Segenshandlungen für gleichgeschlechtliche Partner entzweit viele Kirchen. Außerhalb Westund Mitteleuropas und Nordamerikas ist dies in den Kirchen der Christenheit geradezu ein Tabu. Dieser in der Ökumene äußerst virulente Streit um die Frage der Homosexualität und der homosexuellen Partnerschaften wird sehr häufig als (theologische) Auseinandersetzung um die Frage der Autorität der Bibel im Leben der Kirche geführt (oder inszeniert). Wie kann man diesen Streit behandeln? (3) Erst als anlässlich des Papstbesuches in Deutschland im Jahre 1980 beschlossen worden war, die gegenseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts (selbst-) kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren, hat man entdeckt, dass die unbedingte Verwerfung des täuferischen Pazifismus einerseits, das Festhalten an der Tradition des rechtmäßigen Krieges andererseits5 revisionsbedürftig seien. Im Kern steht hier nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als der biblisch legitimierte (Röm 13,1–7) Anspruch einer Obrigkeit, auch mit Androhung und Anwendung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen und dazu notfalls rechtmäßige Kriege zu führen, einerseits, und die Seligpreisung der Friedensstifter – im Sinne eines radikalen Gewaltverzichts – durch den Bergprediger. Was gilt? Die drei Beispiele sollen verdeutlichen, dass man im Feld der Moral und Sittlichkeit mit dem autoritativen Hinweis auf Bibelstellen nicht so einfach durchkommt. Ja, die angesprochenen Fragen müssen noch verschärft und erweitert werden. Folgende Aspekte sind ebenfalls zu prüfen: niger Zeit vom Supreme Court in Washington wieder zu den Akten gelegt zu werden; siehe zur neuesten Debatte: Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Hannover 2008. 5 Vgl. CA 16: Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment wird gelehrt, daß alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind, und daß Christen ohne Sünde in Obrigkeit, Fürsten- und Richteramt tätig sein können, nach kaiserlichen und anderen geltenden Rechten Urteile und Recht sprechen, Übeltäter mit dem Schwert bestrafen, rechtmäßig Kriege führen, in ihnen mitstreiten, kaufen und verkaufen, auferlegte Eide leisten, Eigentum haben, eine Ehe eingehen können usw. Hiermit werden die Wiedertäufer verdammt, die lehren, daß das oben Angezeigte unchristlich sei.

Auch werden diejenigen verdammt, die lehren, daß es christliche Vollkommenheit sei, Haus und Hof, Weib und Kind leiblich zu verlassen und dies alles aufzugeben, wo doch allein das die rechte Vollkommenheit ist: rechte Furcht Gottes und rechter Glaube an Gott. Denn das Evangelium lehrt nicht ein äußerliches, zeitliches, sondern ein innerliches, ewiges Wesen und die Gerechtigkeit des Herzens; und es stößt nicht das weltliche Regiment, die Polizei (Staatsordnung) und den Ehestand um, sondern will, daß man dies alles als wahrhaftige Gottesordnung erhalte und in diesen Ständen christliche Liebe und rechte, gute Werke, jeder in seinem Beruf, erweise. Deshalb sind es die Christen schuldig, der Obrigkeit untertan und ihren Geboten und Gesetzen gehorsam zu sein in allem, was ohne Sünde geschehen kann. Wenn aber der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden kann, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen. (BSLK 70 f)

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– Inspiration und Autorität: In welchem Sinne können oder müssen biblische Texte als „Wort Gottes“ beziehungsweise als verbindliche und autoritative Bekundungen des „Willens Gottes“ verstanden werden? Was ist unter der „Inspiration“ oder „Inspiriertheit“ der Bibel zu verstehen, was soll die Rede vom „Willen Gottes“ bedeuten? – Tradition und Sachkritik: Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass die biblischen Schriften ohne Zweifel geschichtlich entstanden und Teil eines umfassenden Traditionsprozesses sind, in welchem selbst (innerkanonisch dokumentierte) Schriftkritik stattgefunden hat? – Kanon und Kanonkritik: Welche Bedeutung kommt der Entstehung und Autoritarisierung eines („des“?) biblischen Kanon zu? Hat der Kanon eine verbindliche Geltung und worin besteht diese? – Formen und Prinzipien der Schriftauslegung: Kann es angesichts der Mannigfaltigkeit der Weisen der Bibelauslegung (zweifelsfreie oder wenigstens pausible) Kriterien „richtiger“ Schriftauslegung geben? Wo sind diese zu finden? Und was soll und kann hier heißen: Kriterium?

4.2 Zankapfel Bibel? Im Judentum und in den Kirchen der Christenheit sind die Art und Weise des Umganges mit der Bibel im allgemeinen sowie die Bedeutung der Bibel für die ethische Urteilsbildung niemals unumstritten gewesen. Das ist unter prinzipiell irrtumsfähigen und tatsächlich häufig irrenden Menschen nicht ungewöhnlich, sondern unvermeidlich. Es kommt darauf an, zur Klärung des Verständnisses der Bibel, ihrer Berichte, Bekenntnisse, Lieder, Geschichten, Ermahnungen und Tröstungen immer wieder – auf die Bibel selbst zurückzugehen. Juden und Christen kennen die „Zehn Gebote“ (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21). Was sind „Gebote“? „Commandments“, wie die englische Bibel sagt? Dass alle oder wenigstens die Mehrheit der Juden und Christen sie befolgen würden, wäre sicher zuviel gesagt; dass viele Juden und Christen sich darum bemüht haben und bemühen, steht außer Frage. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die zehn Gebote eine hinreichende Grundlage jeder Sittlichkeit bilden oder jedenfalls bilden könnten; bisweilen hat man versucht, eine theologische Ethik am Leitfaden der zehn Gebote zu entwickeln.6 Aber wie für die Juden die Tora der Vermittlung und Aktualisierung 6 Vgl. Alfred de Quervain, Das Gesetz Gottes. Die erste Tafel. Predigten (ThExh 34), München 1935; ders., Das Gesetz Gottes. Die zweite Tafel (ThExh 39), München 1936; Jan Milic Lochman, Wegweisung der Freiheit. Abriss der Ethik in der

Perspektive des Dekalogs, Gütersloh 1979; Traugott Koch, Zehn Gebote für die Freiheit, Tübingen 1995; Hermann Deuser, Die Zehn Gebote. Kleine Einführung in die theologische Ethik, Stuttgart 2002. Vgl. auch Gottfried W. Locher,

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durch die Propheten bedarf (und zudem durch die „Schriften“ verdeutlicht wird) und neben das schriftliche Gesetz7 die mündliche Überlieferung tritt,8 so hat die christliche Tradition von frühester Zeit an neben die Gesetze vom Sinai die Gesetzeskritik oder die Kritik eines bestimmten Gesetzesgebrauches durch Jesus9 und durch die apostolischen Überlieferungen gerückt sowie die mosaischen Gesetze in den verschiedensten Formen mit Ethik-Konzeptionen der sogenannten „heidnischen“ Antike verbunden.10 Der Bibelgebrauch ist offenkundig nicht erst in der Gegenwart umstritten.11 Eine Schweizer Arbeitsgruppe hat vor etlichen Jahren die Ergebnisse ihrer entsprechenden Beratungen unter dem Titel „Zankapfel Bibel. Eine Bibel – viele Zugänge“ vorgelegt.12 Die Aufsätze sind nach wie vor lesenswert, weil sie von profilierten Vertretern der jeweiligen Positionen verfasst sind und nicht externe Meinungen darstellen. Ulrich Luz stellt in seiner Einleitung dreierlei fest: „Man kann fast alles mit der Bibel begründen. [. . .] Die Bibel ist nur noch in der Theorie die Grundlage der Kirche. [. . .] Einen Bibelgebrauch des christlichen Volkes gibt es sozusagen nicht.“13 Zu diesen Thesen, wären sie wahr, könnte man nur sagen: finis christianismi ! Aber sind sie nicht wahr? Wenn ich mich nicht sehr irre, neigen auch viele Studierende der Theologie aus Resignation oder Erfahrung der ersten These zu, denn es scheint im Blick auf die Praxis in Kirchen und Gemeinden bisweilen tatsächlich so zu sein, als könne man für jedes Anliegen und jede Position einen passenden Bibelvers oder eine biblische Schrift – was übrigens viel seltener begegnet! – aufbieten. Die verschiedenen Gruppen, Fraktionen und Parteien in den Kirchen kennen und pflegen ihre typischen Kanones im Kanon. Wer an der unumstößlichen Autorität jedes Bibelwortes festhalten will – aber wer kann und tut das in einem wortwörtlichen Sinne? –, hat Der Geltungsgrund der Zehn Gebote, ZEE 13, 1969, 129–145. 7 Neben den Zehn Geboten kennen die Juden 603 zusätzliche Weisungen oder Pflichten in den ersten fünf Büchern Mose; vgl. die knappen Hinweise in der Schrift Was jeder vom Judentum wissen muss (im Auftrag des Arbeitskreises „Kirche und Judentum“ hg. v. Arnulf H. Baumann, Gütersloh 1983 [51990], 111–118). Zur klassischen jüdischen Ethik vgl. Schalom Ben-Chorin, Jüdische Ethik anhand der Patristischen Perikopen, Tübingen 1983. 8 Besonders die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n.Chr. machte es erforderlich, die bis dahin mündliche Auslegungstradition schriftlich festzuhalten, und zwar vor allem in den Gestalten des sog. Jerusalemer und des Babylonischen Talmud, wozu später vor allem noch die handbuchartige Lehrentscheidungssammlung Schulchan Aruch (wörtlich: der gedeckte Tisch, vgl. Ps. 23, 5) trat. 9 Vgl. bes. zur Bergpredigt Ulrich Luz, Das Evan-

gelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich usw. 1985, 244-329. 10 Ich betone „sogenannt“, denn der Begriff der „Heiden“ ist unklar und wertend und auf Philosophen wie Platon oder Aristoteles offenkundig nicht sinnvoll anwendbar. Welche Bedeutung der apollinische Monotheismus besonders für Platon hatte, hat Christina Schefer in verschiedenen Untersuchungen gezeigt; vgl. zusammenfassend ihren Aufsatz: Platon und die antiken Mysterien, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4, 2005, 199–250. 11 Einführende Literatur: Rudolf Smend/ Jürgen Roloff, Art. Bibelexegese, EKL3 1, 1986, 450–461; Gunther Wanke u. a., Art. Bibel, TRE 6, 1980, 1– 109 (darin bes. Heinrich Karpp, Die Funktion der Bibel in der Kirche, 48–93, dort weitere Lit.). 12 Hg. im Auftrag der Theologischen Kommission des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes von Ulrich Luz, Zürich 1992 (21993). 13 Ebd. 7–9.

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auch dafür meist die passende Stelle zur Hand. Unter Berufung auf Gal 1,6–12 formierte sich einst eine ganze „Bekenntnisbewegung“ mit dem Namen „Kein anderes Evangelium!“14 Schließlich ist hier auch und vor allem unter dem Blickwinkel auf die Ethik auf den locus classicus 2Tim 3,14–17 hinzuweisen, welcher unübertrefflich den Willen zur Bibeltreue zur Sprache bringt und lautet: (14) Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und dir vertraut ist, da du ja weißt, von wem du gelernt hast, (15) und weil du von Kind auf die heilige Schrift weißt, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Jesus Christus. (16) Denn alle Schrift, von Gott eingegeben (heopneustoß), ist nütze zur Lehre, zur Aufdeckung der Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, (17) dass ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.15

Die zuletzt genannte Stelle, die so traditionalistisch klingt, hat es freilich in sich. Recht verstanden, enthält sie eine vorzügliche Anleitung zu einem sachgemäßen Schriftgebrauch und zur Frage nach dem Verhältnis von biblischer und allgemeinvernünftiger Begründung in der ethischen Urteilsbildung. Ich möchte im folgenden zeigen, (1) dass es starke Gründe gegen die verbreitete Annahme gibt, man könne „die Schrift“ zu den verschiedensten Zwecken instrumentalisieren,16 und (2) dass 14 Die TRE enthält keinen einschlägigen Artikel, sondern verweist an der entsprechenden Stelle (TRE 5 [1980], 487) auf das Stichwort „Fundamentalismus“. Der Art. dieses Titels von Wilfried Joest (TRE 11, 1983, 732–738) geht dann jedoch auf die (deutsche) Bekenntnisbewegung leider nicht näher ein. 15 Zunächst ist die Stelle bemerkenswert wegen der Bezeichnung der „Schrift“ (v. 15: iera grammata „ist der Name für die Heilige Schrift des Alten Testaments im griechisch redenden Judentum s. Philo Vit Mos II 292“ etc., so im Kommentar von Martin Dibelius, Die Pastoralbriefe, neu bearb. von Hans Conzelmann [HNT 13], Tübingen 1955, 89). Sodann und wirkungsgeschichtlich einzigartig ist die Bedeutung des locus classicus von v. 16: pasa grafv heopneustoß. Conzelmann notiert dazu im Kommentar z. St.: „Eines determinierenden Attributes wie heopneustoß bedarf das solenne Wort grafv nicht unbedingt; allein da das Acumen der Stelle zweifellos nicht in der Inspiration, sondern im Nutzen der inspirierten Schrift liegt, da die Frage beantwortet werden soll, inwiefern ‚heilige Schriften‘ ‚weise machen‘ können, so ist heopneustoß wohl als Attribut zu fassen . . .“ Vor allem ist hier der rhetorische Akzent des Kommentars (eine bei Kommentaren selten gewürdigte Eigenschaft!) bemerkenswert, insofern erstens die Überflüssigkeit des

Attributs heopneustoß behauptet wird (im Verhältnis zum „Nutzen“, also in Relation zu einer doch wohl aus der Pädagogik des 19. Jahrhunderts eingetragenen Kategorie), und zweitens die Philologie bemüht wird, um den Attribut-Charakter – also die eigentlich doch wohl nicht-notwendige, da kein „acumen“ darstellende Bedeutung – dieser Bestimmung hervorzuheben. Was aber, wenn das Attribut der Theopneustie für die Sache selbst wesentlich ist, und wenn das acumen gerade in dieser unerhörten Zuordnung läge, dass also – Weisheit und diesbezüglicher Nutzen hin oder her – für den Glauben die Theopneustie der Schrift (was immer darunter nun wieder genauer zu verstehen sein mag) ganz entscheidend ist? Dann ist diese alte Auffassung (einschließlich ihrer Wirkungsgeschichte) höchst explikationsbedürftig, aber ein historisch-kritischer Kommentar „klassischer“ Prägung geht freilich andere Wege. Das hier angeführte Beispiel kann insofern vielleicht ein Stück weit paradigmatisch nachvollziehbar machen, warum „evangelikale“ Kreise Schwierigkeiten mit der historischen Kritik haben, nämlich legitimerweise dann, wenn letztere sich durch einen klar identifizierbaren „blinden Fleck“ auszeichnet. 16 Vgl. das vielzitierte Dictum aus Ambrose Bierce’ The Devil’s Dictionary : „The devil himself can cite scripture for his purpose“! In der deut-

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gleichzeitig kein verantwortlicher Umgang mit der Bibel möglich ist, der das eigene, hier und heute besondere und jeweils neu zu verantwortende individuelle Zeugnis und das gemeinsame Zeugnis der Kirche von Jesus Christus nicht einschließt. Positiv gewendet: Es gibt sehr wohl nachvollziehbare und verallgemeinerungsfähige Grundsätze zur „richtigen“ Interpretation von Texten im allgemeinen und biblischer Texte im besonderen, doch gleichzeitig gilt, dass kein derartiges, von Menschen gefundenes oder ersonnenes Kriterium von der Art sein kann, dass es aus sich selbst unfehlbare Wahrheitserkenntnis verbürgen könnte. Gäbe es nämlich ein solches Kriterium, einen gleichsam unfehlbaren „hermeneutischen Schlüssel“, wären Menschen, die über diesen „Schlüssel“ verfügen, letztendlich Meister und nicht Schüler der Heiligen Schrift.

4.3 Die Bibel als Entdeckungs-, Begründungs- und Erläuterungszusammenhang sittlicher Orientierung Die heiligen Schriften der Juden und Christen bilden für Christinnen und Christen den privilegierten Entdeckungs-, Begründungs- und Erläuterungszusammenhang (auch) der ethischen Orientierung und Entscheidungsfindung; diese Schriften enthalten Modelle sittlicher Weisung und Entscheidungsfindung sowie ethischer Reflexion; sie sind Richtschnur und Maß theologischethischer Forschung, kirchlicher Lehre und lebensweltlicher Orientierung. Sie werden aber nur richtig verstanden und gebraucht, wenn sie gegenüber der „wirklichen Geschichte zwischen Gott und den Menschen“ (Karl Barth) nicht verselbständigt werden. Das biblische Zeugnis ist nicht nur die Quelle unseres Glaubens, sondern auch die Quelle dessen, was wir im Namen Christi zu tun und zu lassen gedenken. Zumindest darin sollte unter Christen Konsens herrschen, dass die Bibel als Ausgangspunkt ethischer Orientierung sehr genau zu hören ist und allen Klärungsversuchen die Richtung weist, selbst dann, wenn unsere im Hören auf die Schrift gewonnene Einsicht in einen Widerspruch zu bestimmten Einzelforderungen der Bibel gerät.17

Diese Formulierungen artikulieren einen heute zu Recht verbreiteten Konsens: Die Bibel soll als Quelle, Ausgangspunkt und Richtung von Glauben und Leben auch dann ernst genommen werden, wenn die maßgeblichen Einsichten, die einer moralischen Entscheidung schlussendlich zugrundeliegen, einzelnen biblischen Formulierungen nur teilweise entsprechen und bisweilen auch widersprechen mögen. Wie ist diese These als Ergebnis einer theologischen Argumentation vertretbar? Ist das nicht doch der Rückfall in die pluralistische Beliebigkeit des „anything goes“? schen Auswahl, hg. v. Dieter E. Zimmer, Frankfurt a. M. 1966, fehlt diese Stelle leider. 17 So Michael Beintker, Die Verbindlichkeit bib-

lischer Aussagen für die ethische Entscheidungsfindung, in: Marburger Jahrbuch Theologie VII, Marburg 1995, 123–135 (124).

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Beintkers These enthält im Kern drei Elemente, die in jeder modernen theologischen Auffassung von der Autorität der Bibel begegnen: Erstens bildet die Bibel – in der Gesamtheit ihrer Traditionen und Verweisungen – den einen und ausgezeichneten Entdeckungs- und Begründungszusammenhang (nicht nur, aber auch) ethischer Überzeugungen von Juden und Christen. Hier kann man, kurz gesagt, in besonderer Intensität und persönlich erfahrbarer Konkretheit lernen und erfahren, was es heißt, zu verzeihen, nicht zu hassen, Gerechtigkeit gegen jeden Menschen zu üben, stellvertretend für die einzutreten, die sich selbst nicht zu helfen wissen, Versöhnung zu erfahren und zu gewähren. Zweitens kann es aber immer wieder zwischen einzelnen biblischen Formulierungen und dem, was man „im Hören“, also im Gesamtprozess des Verstehens, als entscheidend für das biblische Zeugnis wahrnimmt, Unterschiede, ja Widersprüche geben. Derartige Widersprüche können drittens nicht durch autoritären Spruch aufgelöst werden, sondern nur aufgehoben oder überwunden werden – so jedenfalls argumentiert Beintker –, wenn man biblisch-kanonische „Einzelforderungen“ ihrerseits anhand von „Grundbestimmungen christlichen Handelns“18 prüft und misst. Biblisch-exegetisch spricht hierfür schon allein die paulinische Forderung: Alles prüfet und behaltet das Schöne (1Thess 5,21) – also eine ihrerseits die complexio oppositorum einer durch und durch menschlichen Tätigkeit aufrufende Formel. Zugleich hat diese Forderung nicht bloß einen formalen Charakter, sondern einen inhaltlichen Richtungssinn. Beintker illustriert dies anhand des Beispiels der Todesstrafe. Die Bibel kennt – wie anders ist dies bei einer spätantiken Literatursammlung vorstellbar? – viele Beispiele anerkannter Todesstrafen. Mit dem Hinweis, dass derlei „geschrieben steht“, wird bis heute versucht, die Tötung schwer schuldig gewordener Menschen theologisch zu legitimieren. Was spricht dagegen? Kein einziges Bibelwort als solches – außer vielleicht der Sinn der Worte vom Racheverzicht und der Feindesliebe (Mt 5,38–48) – spricht ausdrücklich dagegen, und doch hat jenseits des buchstäblichen Wortlautes über Jahrhunderte hinweg die Einsicht nach und nach um sich gegriffen, dass der Vollzug der Todesstrafe ein Übergriff in die Freiheit Gottes ist, weil es allein Gott zukommt, Leben zu geben und zu nehmen.19 (Ich rede hier nicht von der ärztlichen Kunst und Verantwortlichkeit, aber auch diese könnte davon lernen, dass alles Leben sich nicht sich selbst, sondern seinem Schöpfer verdankt.) Man kann vielleicht sagen, dass die biblischen Zeugnisse gesamthaft in diese Richtung weisen, aber die menschliche Erkenntnis dieses Sachverhaltes hat sich erst in der Geschichte des Umganges mit der Bibel und aufgrund menschlicher Erfahrungen klar und deutlich herausgebildet. Eine wichtige Einsicht bildet in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Wortlaut und Sinn biblischer Einzelgebote und ihrer Unterordnung unter das erste Gebot. Es geht um das Verhältnis der sogenanten „Zwei Tafeln“ des Sinai-Ge18 Ebd. 125. 19 In den USA, in denen die christlichen Kirchen bekanntlich eine starke Rolle im öffentlichen Leben spielen, wird in zahlreichen Bundesstaaten

die Todesstrafe nach wie vor vollzogen. Die entsprechenden UN-Bestrebungen zur Abschaffung der Todesstrafe werden von den USA nicht unterstützt.

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setzes zueinander. Dem ersten Gebot entspricht eine bestimmte Grundhaltung menschlicher Existenz, die Beintker im Anschluss an Augustins Berufung auf das Liebesgebot und die Tradition durch die Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung bezeichnet. Ohne diese drei Elemente vermag die Befolgung biblischer Gebote keinen Menschen in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu bringen; umgekehrt kann die Orientierung am ersten Gebot – im Glauben, um der Liebe willen und auf Hoffnung hin – einen Menschen zwingend dazu veranlassen, dem Wortlaut eines Einzelgebotes zuwiderzuhandeln – bis dahin, dass, wie Luther einmal gesagt hat, die Christen ermächtigt seien, neue Dekaloge zu entwerfen, die klarer seien als der des Mose.20 Man kann auch sagen: Weil alle biblischen Weisungen daran hängen, dass es Gebote eines lebendigen Gottes sind, können und dürfen sie nicht zu einem situations- und geschichtsindifferenten, ewig gültigen Moralgesetz erhoben werden, denn damit würde erneut ein menschliches Kriterium („weil es geschrieben steht“) gegenüber dem ersten Gebot zur selbständigen, höheren Norm gemacht21 und so der „wirklichen Geschichte zwischen Gott und den Menschen“22 Raum und Zeit gerade genommen.

4.4 Die Bibel im Dialog gegensätzlicher Positionen Die Bibel bietet für die ethische Urteilsbildung keine zeitunabhängigen Gesetze, Gebote oder Regeln, wohl aber Modelle für einen menschenfreundlichen und zugleich (selbst- und vernunft-) kritischen Umgang mit normativen Überlieferungen. Diese Ausgangsposition steht zu sogenannten „evangelikalen“ Auffassungen nicht mit Notwendigkeit im Widerspruch.23 Sie enthält die Bejahung der Inspiriertheit der biblischen Schriften (vgl. 2Tim 3,1624 i.V.m. 1Kor 2,13 und 12,13) in dem Sinne, dass es sich dabei nicht bloß um literarische Zeugnisse (der Antike) wie andere auch handelt, sondern dass sie sich dem Wirken des Heiligen Geistes verdanken, im 20 WA 39 I, 47. Heinz Eduard Tödt folgert daraus: „Sittlichkeit muss im Sinne dieser situationszugewandten Ermächtigung begriffen werden.“ (Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 39) S. auch unten, II. 5. 21 Beintker, a. a. O., bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Grundlegung der theologischen Ethik in Karl Barths Erwählungslehre, vgl. bes. KD II/2, § 38.2 („Die Bestimmtheit der göttlichen Entscheidung“, 737–791), wo Barth u. a. – im Anschluss an de Quervain – die Bedeutung der zehn Gebote für die Ethik dahingehend würdigt und zuspitzt, „dass der Begriff des göttlichen Gebotes in der Bibel der Begriff einer geschichtlichen Wirklichkeit ist“ (782, 5).

22 KD II/2, 765, 36. Barth markiert den entscheidenden Unterschied wie folgt: „Ein Anderes ist die hier (sc. in den zehn Geboten) erfolgende Konstituierung des von Gott begründeten und geordneten Verhältnisses zwischen ihm und den Menschen, ein Anderes sind die in diesem Verhältnis den Menschen gegebenen und noch zu gebenden konkreten Weisungen.“ (765, 42) 23 Vgl. als Beispiel Thomas Schirrmacher, Ethik, 3 Bd., Nürnberg/Hamburg 32001. 24 Man beachte: Die Theopneustie wird auf die Geeignetheit der inspirierten Schrift für die Lehre bezogen.

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Raum der Kirche gemeinschaftlich bezeugt werden und insofern auf eine einmalige und besondere Weise mit Gott selbst zu tun haben, auch wenn diese Überzeugung und Einsicht von vielen Menschen nicht geteilt, sondern bisweilen sogar entschieden bestritten wird. Zuerst soll hier versucht werden, ein derartiges Bibelverständnis beziehungsweise Weisen des Umganges mit der Bibel (des „Bibelgebrauchs“) zu erläutern, welche vielleicht geeignet sind, die in meinen Augen fatale Alternative von „historisch-kritischem“ und „evangelikalem“ Schriftverständnis infrage zu stellen und zu überwinden.25 Dazu sollen zunächst einige Grundzüge von Bibelverständnis und – gebrauch skizziert werden, wie sie von Autoren, die sich selbst als „evangelikal“ verstehen und bezeichnen, vertreten werden. Es ist vermutlich wichtig, sich klarzumachen, aufgrund welcher Erfahrungen und Überzeugungen diese Positionen geltend gemacht werden. In einem zweiten Schritt frage ich nach Berechtigung und Grenzen dieser Position im Sinn einer immanenten Kritik, um schließlich meine Grundthese von der Freiheit und Verbindlichkeit des Wortes Gottes gegenüber allen nur menschlichen Kriterien zu erläutern. Das Ganze soll indes nicht auf allgemeine und abstrakte hermeneutische Grundsätze zielen, sondern anhand eines konkreten Problems entwickelt werden, nämlich der strittigen Auslegung von Röm 1,26 f. Der nach wie vor aktuelle Anlass ist bekannt: In verschiedenen Kirchen wird seit geraumer Zeit über die Frage debattiert, ob es für gleichgeschlechtliche Paare, die sich zu einer verbindlichen und auch rechtlich zu ordnenden Gestalt ihrer Partnerschaft entschließen, ein besonderes kirchliches Ritual geben soll. Dabei stellen sich unmittelbar zwei für die Zuordnung von Bibel und ethischer Urteilsbildung zentrale Grundsatzprobleme: (1) Welche Autorität kommt einzelnen biblischen Stellen für die Urteilsbildung zu? (2) Welche Bedeutung haben humanwissenschaftliche Einsichten für die Problemwahrnehmung im Zuge einer ethischen Urteilsbildung? Wenn derartige Einsichten von Bedeutung sind, und wenn man zugibt, dass humanwissenschaftliche Erkenntnisse geschichtlichem Wandel unterliegen (können), dann folgt unmittelbar ein weiteres Problem: (3) Können sich die ethische Relevanz biblischer Stellen und die Autorität, die für

25 Luz hat behauptet: „Einen Bibelgebrauch des christlichen Volkes gibt es sozusagen nicht.“ Die Bibel sei „ein Buch für Eliten“ geworden. Richtiger wäre vielleicht, zu sagen, dass es einen gemeinsamen, aufeinander Bezug nehmenden und, wenn es sein muss, miteinander auch im Streit zu verhandelnden Lese- und Lebensgebrauch der Bibel durch die verschiedenen Gruppen in den Kirchen kaum noch gibt. Dieser Schaden reicht tief und wird nach meiner Überzeugung auf Dauer zu ganz schweren Störungen, wenn nicht Zerstörungen im kirchlichen Leben führen. Denn wenn (Juden und) Christen sich nicht mehr um das

rechte Verständnis der Bibel streiten – was lohnt es dann noch, überhaupt zu streiten? Interkonfessionell, zwischen- und binnenkirchlich akzentuiert: Wenn Gruppen, Parteien und Fraktionen in einer Kirche oder Synode nicht mehr durch den „Zankapfel Bibel“ herausgefordert werden, dann ist auch hier alles sonstige Streiten und Kämpfen vergebens und „ein Haschen nach Wind“ (Koh 1,14). Kurz gesagt: Die evangelikale Herausforderung in der Bibelhermeneutik ist notwendig und heilsam, weil und sofern sie dazu nötigt, sich auf den Anfang (principium) aller Dinge immer wieder neu zu besinnen.

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sie in Anspruch genommen wird, ebenfalls im Laufe der Geschichte aufgrund neuer Einsichten ändern? Wie lassen sich nun die ursprüngliche Einsicht und die grundlegende Leidenschaft „evangelikaler“ Theologinnen26 und Theologen am zutreffendsten charakterisieren? Ich folge zunächst ihrem Selbstzeugnis in drei authentischen Texten27 und einem Konsultationsdokument28 und füge ergänzende Beobachtungen hinzu. Im Zentrum des schon erwähnten, von Ulrich Luz herausgegebenen Bändchens steht die Perikope von der Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–44), also eine sogenannte Wundergeschichte. Damit ist schon ein erster Hinweis auf Ursprung und anfängliches Interesse evangelikaler Schriftverständnisse gegeben: Es geht immer wieder um den Aufweis, dass in der Bibel überlieferte Texte sich auf die dargestellten Sachverhalte genau in der Weise beziehen, wie sie wortwörtlich geschildert werden. Was die Bibel bezeugt, so Ernst Lerle, zeichnet sich aus durch „die volle Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“,29 und Wolfgang Bittner, der insgesamt eine differenziertere, aber auch unklarere Position vertritt, stellt als entscheidendes Merkmal seiner Position die These auf: „Es gibt in der Bibel feststehende ethische Urteile Got26 Wenn ich mich nicht sehr täusche, sind die öffentlich wirksamen Exponenten dieser Richtung ganz überwiegend, wenn nicht ausschließlich Männer. Doch was bedeutet das? 27 Ernst Lerle, Bibeltreue. Ein fundamentalistischer Zugang zur Bibel, in: Luz, a. a. O., 39–54; Wolfgang Bittner, Wort Gottes als menschliches Zeugnis von Gott. Ein evangelikaler Zugang zur Bibel, ebd., 55–72; Wolfhart Schlichting, Dem Wort aus dem Wege gehen. Biblische Befunde zur Homosexualität, in: Horst-Klaus Hoffmann u. a. (Hg.), Die andere Seite. Homosexualität und christliche Seelsorge, Reichelsheim 1995, 219– 228. 28 Wie sollte die Bibel ausgelegt werden? Konsultation zur Frage der Schriftauslegung mit Vertretern evangelischer Landeskirchen, der Bekennenden Gemeinschaften und Angehörigen theologischer Fakultäten, Informationsdienst der Evangelischen Allianz (idea) 18/1990. 29 Im Kern geht es Lerle um das strittige Wahrheitsverständnis: „Die biblische Verkündigung erhebt den Anspruch auf Wahrheit. Jesus Christus leitet viele seiner Sprüche mit dem Wort ‚wahrlich‘ (=Amen) ein. Im Wahrheitsbegriff im Sinne des Alten wie des Neuen Testaments liegen nicht nur Zuverlässigkeit, Treffsicherheit, Festigkeit, Verbindlichkeit, Gültigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue, sondern auch die volle Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Was mit der Wirklichkeit nicht voll übereinstimmt, kann nicht wahr sein.

Die Abtrennung einer vermeintlichen Wahrheit von tatsächlichem Geschehen ist in der Bibel nicht zu finden. Sie ist erst in der abendländischen Philosophie der letzten zweihundert Jahre nachweisbar.“ (Ebd. 48; Hervorhebung WL) Lerle plädiert also für mehr als die Adaequationstheorie der Wahrheit, nämlich für eine Identität von Sache und Bezeichnung (res et signum) jedenfalls im Bereich biblischer Texte: So, wie die Bibel berichtet, ist alles tatsächlich geschehen. Bezeichnend ist indes, dass mit keinem Wort gesagt wird, worin die „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ genau besteht und wie sie festzustellen ist, etwa im Falle paralleler, aber nicht gleichlautender und gleichsinniger Überlieferungen. Letztlich ist Lerle fixiert auf das frühneuzeitliche Problem des Verhältnisses von rationaler Naturerkennntis und übernatürlichen Wundern; sein erster Grundsatz zum Verstehen und Auslegen biblischer Texte lautet deshalb: „Wir trauen Gott zu, dass er auch anders handeln kann als die Menschen, die den Naturgesetzen unterworfen sind.“ (41) Es ist aber leicht einzusehen, dass dieser Grundsatz wenigstens zwei weitere Sätze zulässt und nicht ausschließt, dass (1) die Naturgesetze jene Kräfte bestimmen, die das Handeln und Verhalten der Menschen determinieren, und (2) dass Gott als Schöpfer der Welt auch als Urheber der Gesetze, die in seiner Schöpfung für Menschen erkennbar sind, gedacht werden muss.

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tes, seine Gebote und Verbote. “30 Lerle geht es vor allem um „Bibeltreue“ im Sinne der Bereitschaft, einen biblischen Text „auf sich wirken zu lassen, zu verstehen und aufzunehmen“;31 für dieses glaubende und vertrauende Verstehen ist bei ihm indes die Überzeugung von der „Tatsächlichkeit“ und gleichzeitigen Übernatürlichkeit dessen, was die Bibel erzählt, entscheidend.32 Diese Behauptung einer Identität von Verbalinspiration und (auch im Sinne naturwissenschaftlicher Erkenntnisse) irrtumslosen Aussagen über „Tatsachen“ in allen biblischen Schriften bestimmt bis heute diejenigen theologischen Positionen, die als „fundamentalistisch“ bezeichnet werden.33 Bittner unterscheidet sich von dieser Auffassung anscheinend dadurch, dass er die Bibel als „menschliches Zeugnis von Gottes Handeln und Gottes Reden“ versteht34, gleichzeitig versichert er aber, „dass es sich bei der Bibel in der uns vorliegenden Gestalt (!WL) um das Wort Gottes handelt, welches „feststehende ethische Urteile Gottes“ umfasst.35 Diese wiederum haben aber angeblich unterschiedliche Geltungsbereiche: Während die Zeremonialgesetze nur für Israel gelten, soll beispielsweise dem Wucherverbot universale Geltung zukommen (aber sagt die Bibel etwa, wo beim Leihen auf Zins der Wucher beginnt?). Der implizite oder explizite Gegner dieser und verwandter Positionen ist die sogenannte historisch-kritische Forschung. Problematisch waren dabei, wie schon mehrfach erwähnt, von Anfang an vor allem zwei Komplexe: Die biblischen Berichte über die Entstehung der Welt, der Arten und speziell der menschlichen Gattung einerseits, die Wundergeschichten andererseits. Angesichts der frühneuzeitlichen Geschichts- und Naturwissenschaft war es schwierig, an einer Auffassung der Verbalinspiration und einer darauf basierenden Lehre von der Irrtumslosigkeit der Schrift festzuhalten, wie sie beispielsweise in Kreisen der altprotestantischen Orthodoxie vertreten wurden. Vor allem die Analyse der Bibel durch Baruch Spinoza36 (1632– 1677), Richard Simon37 (1638–1712) oder Johann Salomo Semler38 (1725–1791) nötigte zur (Wieder-)Entdeckung der Unterscheidung von biblischen Schriften und Wort Gottes und zu einer kritischen Hermeneutik, wie sie freilich in den Schriften 30 Ebd. 70. 31 Ebd. 49. 32 Die Wahrheit des Evangeliums erweist sich für Lerle an der Übereinstimmung biblischer Aussagen und Berichte mit den „Tatsachen“, aber er sieht offenkundig nicht, dass dieses Kriterium der Tatsächlichkeit selbst ein Kind des 19. Jahrhunderts und insofern nun doch wohl ein „Fremdeinfluss“ beim Verstehen ist. Vgl. näher Reinhart Staats, a. a. O. 33 Im 19. Jahrhundert in den USA besonders durch die sog. damalige Princeton-Theologie vertreten; vgl. bes. B.B.Warfield (1851–1921) und dessen Buch: The Inspiration and Authority of the Bible, Phillipsburg, NJ 1948, sowie den Überblick von James Barr, Art. Fundamentalismus, EKL3 1, 1986, 1404–1406.

34 Ebd. 60. 35 Ebd. 69 f. Sind die Zehn Gebote „Urteile“? 36 Tractatus Theologico-Politicus, 1670. 37 De l’inspiration des livres sacrés, 1687; Histoire critique du texte du Nouveau Testament, 1689. 38 Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I-IV, 1771–1775. Zu Semler vgl. Gotttfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961; ders., Hermeneutik und Bibelkritik bei Johann Salomo Semler, in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, Wiesbaden 1988, 219–236.

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der Reformatoren längst vorlag. Insgesamt aber ist bemerkenswert, dass weder reformatorische Schriftauslegung noch aufklärerische Bibelkritik die Geltung sittlicher Mahnungen und Weisungen in der Bibel ernsthaft infrage gestellt haben. Bezüglich der Weltbild-Fragen war es anscheinend leichter, die Autorität und Verbindlichkeit biblischer Überlieferungen zu relativieren, als in Fragen von Moral und Sittlichkeit. Selbstverständlich war jahrhundertelang in der kirchlichen Praxis die Bibel nicht die alleinige Quelle und Richtschnur ethischer Urteilsbildung;39 vor allem stand stets neben der Autorität der Bibel die Autorität des Rechts beziehungsweise des Naturrechts.40 Damit waren auch immer Auslegungsspielräume im Umgang mit der Schrift gegeben, wie man sich an Beispielen wie der Ketzergesetzgebung oder den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wuchertraktaten leicht klarmachen kann. Doch gemeinhin konnte man in grundlegenden Fragen von einer Übereinstimmung von (Natur-) Recht und biblischen Überlieferungen ausgehen oder eine solche Konkordanz unterstellen, bis in der Folge der konfessionellen Bürgerkriege die Grundlagen einer gemeinsamen, verbindlichen Rechtsordnung zerfielen und mit und nach der Französischen Revolution ganz neue ethische Problemstellungen auftauchten, die den bisherigen Rahmen sprengten (bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz, Kritik der Sklaverei und der Todesstrafe, Garantie von Menschenrechten, Gleichheit von Männern und Frauen) und tendenziell die traditionelle Machtstellung der Kirchen relativierten oder gar zerstörten. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Problem der Autorität biblischer Schriften seine aktuelle Brisanz. Während die Vertreter fundamentalistischer und evangelikaler Positionen bei den meisten genannten neueren rechtsethischen Problemen durchaus die alleinige sittliche Autorität und Normativität der Bibel längst relativiert oder aufgegeben haben, halten sie aber bezüglich der Beurteilung der Homosexualität an der unbedingten Geltung und Verbindlichkeit biblischer Aussagen fest. Vielerorts wird offen mit Kirchenspaltung gedroht, falls die unbedingte Verurteilung von Homosexualität als „Laster“ aufgegeben werde; Gottesdienste für gleichgeschlechtliche Partnerinnen oder Partner werden schlicht als „gotteslästerlich“ bezeichnet.41

39 So hat der Mailänder Bischof Ambrosius in seiner wichtigen (berufs-)ethischen Schrift De officiis ministrorum auf ganzer Linie die Moralphilosophie des Stoikers Cicero rezipiert. 40 Besonders Melanchthon hat, im Unterschied zu Luther, die Autorität des Naturrechts für die Fragen der Sittlichkeit erneut herausgearbeitet. 41 Wolfhart Schlichting, Dem Wort aus dem

Weg gehen, in: Horst-Klaus Hofmann u. a. (Hg.), Die andere Seite. Homosexualität und christliche Seelsorge, Reichelsheim 1995, 219–228; ähnlich und teilweise schärfer Heinzpeter Hempelmann, Die Autorität der Heiligen Schrift und die Quellen theologischer Grundentscheidungen, ebd., 229–250.

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4.5 Biblisches Ethos und Erfahrungswissen Die heiligen Schriften beider Testamente allein sind nicht zureichend für die Gewinnung situationsgerechter ethischer Urteile hier und jetzt. Vielmehr fordern sie von sich aus in methodischer und sachlicher Hinsicht die Zuordnung zu verschiedenen Erfahrungen und damit zur menschlichen Vernunft sowie wissenschaftlich reflektierten Weisen, mit Erfahrungen umzugehen. Ich formuliere hier zunächst nur Thesen: 1. Das Prinzip sola scriptura ist kein Prinzip, das irgendwo in der Bibel als Prinzip formuliert worden wäre. 2. Sola scriptura meint streng genommen, dass die heiligen Schriften die alleinige Quelle ihrer Auslegung sind und keinem externen, von Menschen ersonnenen und praktizierten Prinzip als einem überlegenen und entscheidenden Auslegungsschlüssel unterworfen werden dürfen. 3. Sola scriptura schließt keine Mannigfaltigkeit der Perspektiven und Methoden der Auslegung der heiligen Schriften aus, sondern fordert diese gerade. Dies ist zugleich dann das Gegenteil von Willkür und Beliebigkeit, wenn in Zweifelsfragen der Auslegung erneut auf die Bibel zurückgegangen wird, auch wenn das akut aporetisch wirken kann. 4. Menschliche Interessen als Maßstab der Auslegung sind nichts anderes als externe Prinzipien, die als solche kein Recht beanspruchen können, über die Schriften zu herrschen. 5. Zu den erschließenden und aufschließenden Perspektiven der Auslegung gehören auch geschichtlich neue Erfahrungen, in deren Licht die Bibel neu gelesen wird. Ich will an dieser Stelle nur noch in thetischer Form einige mir wichtig erscheinende Folgerungen nennen: 1. Ein sachgemäßes Schriftverständnis unter Christinnen und Christen ist dadurch bestimmt, dass man immer wieder gemeinsam sich zum Studium der Schriften trifft. Dabei sollten den Christen die Juden als Mitleser und Exegeten gleichsam „über die Schulter blicken“ (Dietrich Ritschl). Exegese von Christinnen und Christen fragt überdies beharrlich danach, was die Schriften im Ganzen wie im kleinsten Detail für heutige Menschen im Blick auf Person und Werk Jesu bedeuten. 2. Die heiligen Schriften sind menschliches Zeugnis. Ihre Autorität liegt in dem Gegenstand bzw. der Sache, die sie bezeugen. Dieser Gegenstand bzw. diese Sache liegen nicht in der Verfügung derer, die die Sache bezeugen: „sola scriptura“ zielt auf den Schutz der Schrift gegen den Bemächtigungswillen ihrer Ausleger. 3. Eine sachgemäße Handhabung des sog. Schriftprinzips besteht darin, alle Worte der Schriften und ganz besonders die strittigen Stellen an der „Mitte der Schrift“ zu messen, die als solche nicht verfügbar, jedoch in der Vergegenwärtigung des Lebens, des Leidens und der Auferstehung Jesu Christi mitteilbar und erfahrbar ist. Diese Crux aller Interpretation ist nicht auflösbar – weder „fundamentalistisch“ noch „papalistisch“.

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4. Alle ethisch relevanten Weisungen und Inhalte der Schriften können nach Maßgabe dieser Grundsätze gelesen und verstanden werden. 5. Die ethisch belangreichen Traditionen der heiligen Schriften lassen sich (auch) darauf befragen, welche (damalige und heute verständliche) Vernünftigkeit in ihnen zur Sprache kommt. Bevor eine Christin oder ein Christ die Schrift wegen Unbrauchbarkeit, Radikalität, Tendenzcharakter oder Repressivität verwirft, sollte man stets fragen, ob ein „dunkler“ Text nicht etwas zu verstehen geben kann, das vom Interpreten Distanz zu seiner Gegenwart und seinen mitgebrachten Interessen verlangt. 6. Biblische Begründung und Vernunftbegründung sind auf allen Ebenen der Schriften auf vielfache Weise aufeinander bezogen. Vollzieht man diese Einheit durch Interpretation der Texte nach, hat man in der Regel schon ein ethisches Propädeutikum durchlaufen. Dazu muss man aber so stark wie möglich die eigenen Erfahrungen und Fragen mit ins Spiel bringen: Die reiche „Objektivität“ der Texte fordert geradezu, dass die Ausleger ihre subjektiven Fähigkeiten ebenfalls so stark wie möglich machen. Die biblischen Texte, insbesondere wo sie von Fragen der Moral und der Sittlichkeit handeln, sind reich an allgemein-menschlichen Erfahrungen aus den jeweiligen geschichtlichen Kontexten. Sie nehmen ältere Überlieferungen im Lichte neuer Erfahrungen auf, bilden sie weiter und formen sie um. Sie sind insofern auch offen für weitere, neue Erfahrungen, die jenseits des Denk- und Handlungshorizontes der ursprünglichen Traditionsstifter lagen und liegen. Allerdings sollte man sich hüten, derartige neue Erfahrungen mit (stets vorläufigen) Aussagen der empirischen Wissenschaften einfach gleichzusetzen. Wissenschaft kann neue Erfahrungen ermöglichen und freisetzen, aber auch neue Vorurteile und sogar Aberglauben befördern, wie die Annahme einer unbegrenzten Perfektibilität der menschlichen Natur, wie sie in manchen aktuellen bioethischen Utopien begegnet. Demgegenüber laden die biblischen Texte zu einem unbefangenen und kritischen Umgang mit neuen Erfahrungen sowie alten und neuen Vor-Urteilen ein. Die Autorität der heiligen Schriften liegt für Christinnen und Christen letztlich in der Autorität des bittenden und einladenden Christus: Alle Menschen sollen die befreiende Menschlichkeit und die ausweisbare Vernünftigkeit des biblisch bezeugten Ethos erfahren und damit auf den Weg der Nachfolge Jesu Christi eingeladen werden. Dieser Weg kann nur in Freiheit gewählt werden; eingeladen sind alle, gezwungen werden darf niemand. Insofern kann und soll die Vernunft, die im biblisch bezeugten Ethos überliefert ist, befragt und kritisch geprüft werden, kann aber nicht als allgemeines Gesetz intersubjektiv zwingend bewiesen oder demonstriert werden. Dass und inwiefern sich in, mit und unter den Gestalten menschlicher Rede, Schrift und Kommunikation das Wort Gottes erschließt und zu verstehen gibt und auf diese Weise im Leben von Menschen praktisch Gestalt gewinnt, ist im strengen Sinne das Werk des dreieinigen Gottes. Menschenwort wird durch den Geist Gottes zu Gottes Wort.

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5. Evangelium und Gesetz Die „Zehn Gebote“ zwischen Philosophie und Theologie oder: Kritik des Moralismus „Wenn wir Christus haben [. . .] können wir neue Dekaloge machen, so wie Paulus in allen Briefen und Petrus und am meisten Christus im Evangelium. Und diese Dekaloge sind klarer als der Dekalog des Mose, so wie Christi Angesicht klarer ist als das Angesicht des Mose.“ „Habito enim Christo [. . .] novos Decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. Et hi Decalogi clariores sunt, quam Mosi decalogus, sicut facies Christi clarior est, quam facies Mosi.“ (Luther, WA 39 I,47,25–30) Der bisherige Gang der Überlegungen in diesem Teil war so angelegt, dass zentrale Themen der Ethik, der theologischen wie der philosophischen, problematisiert wurden. Es ging nicht um Antworten, sondern um Fragen. Sicher ging es auch um Antwortversuche, aber doch immer mit der Absicht, darauf kritisch zurückzukommen. Ethik ist Aufklärung, insofern alles darauf ankommt, sich darin zu üben, seinen eigenen Verstand ohne Anleitung durch eine fremde Autorität zu gebrauchen. Nun ist andererseits offenkundig, dass zwei Dinge gemeinhin als das Gegenteil von Aufklärung verstanden werden: Der Hinweis auf die Autorität der „Zehn Gebote“ und der Rückbezug auf die Bibel als Inbegriff göttlichen Willens und göttlicher Autorität. Die Autorität der Bibel war oben schon Thema. Wenn jemand in einem ethischen Diskurs als Antwort auf die Frage nach Gründen sagt: „Weil es in der Bibel steht“, dann muss der Philosoph oder die Philosophin widersprechen. Sie wollen vernünftige Gründe hören, und das heißt Gründe, die so stark sind, dass man sich ihnen nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs entziehen kann. Ist das aber möglich angesichts der Massivität der „Zehn Gebote“? Sind das nicht Kommandos? Unverbrüchlich, gewaltig, drohend und einschüchternd? Wird spätestens hier nicht doch wieder alles kassiert, was bisher zum Freiheitsverständnis ausgeführt wurde? Ich versuche diese bisher verfolgte Frage zu vertiefen, indem ich die Bedeutung der theologischen Unterscheidung und Zuordnung von Evangelium und Gesetz in knappen Strichen skizziere.

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5.1 Ursprünge und Anlässe der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium1 5.1.1 Vielfache Gesetzesverständnisse Das Wort „Gesetz“ hat mannigfache Bedeutungen. Es gibt viele Arten und Formen von Gesetzen – die Naturgesetze, Gesetze der Grammatik, das Sittengesetz, auch Stilgesetze, Benimmgesetze und dergleichen mehr. Es gibt Gesetze, die den Erscheinungen der Natur immanent sind wie das Gesetz der Schwerkraft, welches Menschen entdeckt und symbolisch dargestellt haben, es gibt Gesetze, die offenkundig unsinnig, ja sogar unmenschlich sind, solche, die streng verbindlich sind, und wiederum andere, die man folgenlos ignorieren kann. Schließlich kann man Gesetze danach unterscheiden, wer sie mit welcher eigenen oder abgeleiteten Autorität aufstellt und notfalls sogar mit Zwangsgewalt durchsetzt. Ich unterscheide: – Gesetz im heutigen juristischen Sinne ist „die von einem Organ des Gemeinwesens [. . .] gesetzte Regel, nach der sich das Zusammenleben in dieser Gemeinschaft zu richten hat.“2 – Naturgesetz ist die menschliche (oft mathematische) Formulierung einer Regelmäßigkeit oder Regel, nach welcher etwas, das wir beobachten (können), geschieht. – Das Sittengesetz ist der Inbegriff der Regeln, nach denen etwas geschehen soll. Von diesen leicht nachvollziehbaren heutigen Bestimmungen müssen wir noch einmal den alttestamentlichen Begriff des Gesetzes (Tora) einerseits, den griechischen Begriff des Gesetzes (Nomos) andererseits unterscheiden. Mit diesen Ausdrücken betreten wir eine uns fremde Welt. Was den griechischen Gesetzesbegriff betrifft, so ist daran zu erinnern, dass Platon je ein ganzes Buch über die Politeia und die Nomoi geschrieben hat.3 In den Nomoi hat er als erster Philosoph den Gedanken entwickelt, dass ein Gemeinwesen von Menschen dauerhaft nur dann Bestand haben kann, wenn die lebendige Gesamtordnung (politeia) und alle einzelnen, daraus folgenden Regeln und Bestimmungen (nomoi) dazu dienen, ein maßvolles Verhältnis aller Teile zum Ganzen zu ordnen. Die Nomoi sind gleichsam die Maßverhältnisse eines geordneten Gemeinwesens, und dabei ist insgesamt entscheidend, dass diejenigen, welche Herrschaftsämter innehaben, nicht auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, sondern als „Diener der Gesetze“ wirken (oi de arconteß douloi tou nomou). Gesetze (und nicht Menschen!), denen in anerkannter oder begründeter Weise Gehorsam geschuldet ist, sind dabei nach Auffassung Platons nicht wider die Natur, sondern gemäß der Natur, dies freilich nicht in der Weise, dass sie die Regelmäßigkeiten der Natur wiederholen würden, sondern ihrerseits Maße repräsentieren, die – 1 Das wichtigste und umsichtigste Buch zur Sache ist Albrecht Peters, Gesetz und Evangelium (HST 2), Gütersloh 1981. 2 Walter Schick, Art. Gesetz, Gesetzgebung, EvStL3 1987, 1112–1119 (1112).

3 Siehe dazu Georg Picht, Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, Stuttgart 1990.

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wie im Verhältnis der Seelenteile zueinander – die Einheit der Polis in der Vielheit ihrer Gestalten nach einer Regel der Vernunft zusammenstimmen lassen. Dass die alttesamentliche Tora vom modernen Gesetzesbegriff weit entfernt ist, lässt sich leicht zeigen. Tora ist im Alten Testament biblisch-alltagssprachlich vielfach benannt: Es ist die Weisung von Mutter und Vater, die Weisung des Priesters an die Laien, des Propheten an die Schüler. Glücklich wird gepriesen, wer „Lust am Gesetz des Herrn“ hat, wie es gleich zu Beginn des Psalters heißt. Martin Buber und Franz Rosenzweig haben in ihrer deutschen Bibelübersetzung dem gesamten Pentateuch den Titel „Die fünf Bücher der Weisung“ gegeben. „Weisung“ ist mehr als Gesetz und enthält zugleich das Gesetz in sich. Das sieht man schon daran, dass nicht nur förmliche Gebote, sondern auch Erzählungen Weisungscharakter haben können. Frank Crüsemann schreibt dazu: „Der Begriff Tora umfasst somit die beiden Seiten des einen Gotteswortes. Was die Sprache der Systematik als Gesetz und Evangelium, als Zuspruch und Anspruch trennt (und dann oft einander entgegensetzt), ist in ihm zusammengehalten. Der Begriff bezeichnet die Einheit von Gesetz und Evangelium des göttlichen Wortes und Willens. Wo beides auseinanderfällt oder wo gar die mögliche Spannung zwischen beidem zum Prinzip theologischer Erkenntnis und kirchlicher Verkündigung gemacht wird, geht eine der fundamentalsten biblischen Kategorien verloren.“4 Crüsemann greift mit diesen Bemerkungen auf die großen Kontroversen in der Theologie besonders des 20. Jahrhunderts über Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz zurück. Sein Gesamtinteresse geht dahin, die Tora als die große Gnadengabe Gottes nicht dem Evangelium gegenüberzustellen, sondern als die eine, jüdische Gestalt der Selbstoffenbarung Gottes zu verstehen. Diese Tora ist der Inbegriff der heilsamen, lebensdienlichen Weisungen Gottes für die Menschen. Mit Fr. W. Marquardt fordert Crüsemann darum konsequent die „Reintegration der Tora in eine Evangelische Theologie“.5 Hier zeigt sich, dass es in der Frage des Verständnisses von „Gesetz“ im theologischen Sinne von Anfang an zentral um das Verhältnis der Kirche zum Judentum geht.

5.1.2 Die Antithese von Evangelium und Gesetz im Neuen Testament Die griechische Übersetzung des Ersten Testamentes, die Septuaginta, gibt „Tora“ mit „Nomos“ wieder. Schon damit erfolgt eine Sinnverschiebung, welche aber noch nicht dramatisch ausfallen muss, wie man beispielsweise an dem jüdischen Gelehrten Philo von Alexandria sehen kann. Jüdische Exegese ist nicht an die hebräische Sprache exklusiv gebunden. Entscheidend sind aber für den historischen und exegetischen Zusammenhang folgende Elemente: (1) Wie insbesondere die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) zeigen, hat der Bergprediger Jesus die Mose-Tora in vielfacher Hinsicht und an entscheidenden Stellen kritisiert, erneuert und verschärft. Auch sonst begegnen immer wieder 4 Die Tora, München 1992, 8.

5 Ebd. 9.

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Überlieferungen, welche für viele fromme Juden seit der Zeit Jesu bis heute unannehmbar sind, nicht zuletzt die Verehrung Jesu als des verheißenen Messias Israels. Doch auch viele Einzelzüge und Lebensverhältnisse der frühen Jesus-Anhänger waren mit der Tora im herkömmlichen Sinne schwer oder gar nicht vereinbar. (2) Sodann und zentral ist die Kritik „des Gesetzes“ durch Paulus, wie sie in Röm und Gal begegnet. Röm 3–7 und Gal 3–4 stellen in einer höchst komplexen Weise Anknüpfung und Widerspruch zur Tora im herkömmlichen jüdischen Sinne dar. Die These, dass die Gerechtigkeit, die vor Gott (allein) gilt, ohne Zutun des Gesetzes offenbar ist (Röm 3,21), und die andere These, dass das Gesetz „hinzugekommen“ sei (Gal 3,19), „um der Sünden willen“, sind geeignet, die Tora ihres gnädigen, Leben ermöglichenden, schaffenden und erhaltenden Charakters zu berauben, so dass das Gesetz nicht mehr sein soll denn ein paidagwgoß auf Christus hin, ein „Zuchtmeister“ (Gal 3,24), wie Luther übersetzt. (3) Diese Tendenz zu einem torakritischen Verständnis des Glaubens wurde verstärkt durch die sogenannte gesetzesfreie Heidenmission des Paulus und deren Anerkennung durch die übrigen Apostel einerseits, den allmählichen Prozess der Herauslösung der Gemeinschaft der Christusanhänger aus dem Religionsverband des damaligen Judentums. Dabei muss man sehen, dass zunächst innerhalb des Judentums höchst unterschiedliche Richtungen, Auslegungsüberzeugungen und praktische Haltungen begegnen. Vieles spricht dafür, dass man gerade diekritischen Auslegungen der Tora bei Paulus (auch) als Streit unter jüdischen Gelehrten verstehen muss, der zu seiner Zeit alles andere als schon entschieden, sondern noch offen war. Aber die Emanzipation einer sich separat formierenden Kirche, welche dann auch noch politisch-rechtlich Zuspruch und Anerkennung fand, so dass Israel ab- und ausgegrenzt wurde, konnte zu einer herabsetzenden Auffassung des „Gesetzes“ führen. Ich selbst denke, dass man Paulus als streitbaren, in Konkurrenz zu anderen Auslegern agierenden Gottesgelehrten verstehen muss, dem das Schicksal der Kanonisierung widerfuhr, so dass die ursprüngliche Offenheit des Streites um die Heilsbedeutung der Tora abrupt und autoritär beendet wurde. Wenn man hingegen Paulus als eine Position im Konkurrenzdiskurs liest, und wenn man insbesondere die Tora-Kritik nicht von der Einsicht in die bleibend-konstitutive Erwählung Israels (Röm 9–11) isoliert, dann wird man die Tora – in der Vielfalt exegetischer Positionen – neu im notwendigen Streit um ihre Bedeutung hier und jetzt hören und verstehen. 1.3 Die bleibende Herausforderung hinsichtlich des Verständnisses der Tora besteht u. a. in der Frage, ob es gelingt, so etwas wie ein gesamtbiblisches Gesetzesverständnis zu gewinnen. Crüsemann hat mit seinem Tora-Buch und in anderen Veröffentlichungen diesen Weg eingeschlagen. Aber dann stößt man wieder auf die Frage, worin denn der sachliche Gehalt der paulinischen Kritik am Nomos als einem, ja dem Heilsweg liegt. Ich denke, die paulinische Pointe liegt genau darin, zu behaupten

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und zu lehren, dass ein Mensch vor Gott niemals dadurch gerecht gemacht wird oder sich selbst als gerecht erweisen kann, dass sie oder er aus eigener Kraft, eigenem Willen und aufgrund eigener Anstrengungen die Tora bis zum letzten Tüpfelchen hält, so dass er oder sie sich dessen rühmen kann. Vielmehr gilt nach Paulus, dass nicht die guten Werke einen Menschen vor Gott gerecht machen, sondern allein der Glaube an Jesus Christus. Dazu knüpft Paulus einerseits an zentrale Überlieferungen des Alten Testaments wie die Abrahamsverheißung an (Röm 4,3 mit Zitat von Gn 15,6), andererseits negiert er jede Heilsbedeutung des Gesetzesgehorsams als einer menschlichen Leistung. In diesem Sinne hat Martin Luther die Verse Röm 3,22b-24 als „Hauptstück und Mittelplatz dieser Epistel und der ganzen Schrift bezeichnet“, wie Karl Barth in seiner Auslegung notiert hat.6 Dies ist der Kern des Glaubens an den Gott, der den Sünder und den Gottlosen dadurch und nur dadurch gerecht macht, dass er ihm seine Sünden nicht zurechnet und dieser der Gerechtigkeit, die Gott wirkt, uneingeschränkt vertraut. Diese Glaubensgerechtigkeit, verstanden als die Gerechtigkeit, die Gott allein gibt und schafft, hat entscheidende Konsequenzen für das gesamte sittliche Verhalten. Die Werke des Gesetzes wie Beschneidung, Einhaltung von rituellen Vorschriften, Fasten und heiligen Zeiten, dies alles und mehr ist nicht mehr entscheidend. In Christus ist eine neue, transmoralische Freiheit geschenkt worden, die auf das gesamte Leben ausstrahlt (Gal 5,1). Diese Freiheit vom Gesetz ist zugleich eine Freiheit, dem Geist Christi entsprechend zu leben, und als die erste Frucht des neuen Geistes nennt Paulus die Liebe (Gal 5,22).

5.2 Der reformatorische Sinn der Unterscheidung 1. Martin Luther hat – wie vor ihm besonders Augustin, und mit, neben und nach ihm die anderen Reformatoren – von diesen paulinischen Einsichten die entscheidenden Anstöße empfangen. Über der Psalmen-, Genesis- und dann vor allem Paulus-Auslegung ist Luther zum Reformator geworden. Aber diese Einsichten wuchsen ihm nicht allein durch theologisch-exegetische Arbeit zu, sondern gleichzeitig durch die Auseinandersetzung mit den kirchlichen Missständen seiner Zeit. Insbesondere die Ablasspredigt provozierte seinen gewaltigen Zorn, denn sie suggerierte den Menschen, sich durch eigene Leistung, nunmehr in der Gestalt von Geldzahlungen, den Nachlass zeitlicher Sünden erwerben zu können. Im Kapitel über das reformatorische Freiheitsverständnis haben wir schon gesehen, dass die evangelische Freiheit als diejenige Freiheit bestimmt werden muss, die dem Menschen umsonst geschenkt wird, die niemand erst selbst herstellen oder bewirken kann oder muss. Die Freiheit eines Christenmenschen, der die berühmte Schrift von 1520 gilt, hat ihren Ursprung und Grund in der bedingungslosen Annahme des sündigen Menschen durch den gnädigen Gott, in der Rechtfertigung des Gottlosen. 6 Der Römerbrief, (21922) München 1967, 74.

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Diese reformatorische (Wieder-)Entdeckung erfolgte also in einem ganz bestimmten religiös-kirchlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang. Ablass- und Papstkritik sind voneinander nicht zu trennen. Wer die letztgültige Binde- und Lösegewalt des vicarius Christi auf dem römischen Stuhl negierte, legte die Axt an das institutionelle Gefüge der spätmittelalterlichen Welt. So haben es auch die Zeitgenossen lebhaft empfunden. Auf der anderen Seite traten im Winter 1520/21 in Wittenberg Leute auf, die nicht nur die mönchische und anders bestimmte Werkgerechtigkeit ablehnten, sondern grundsätzlich und schlechthin die Geltung des „Gesetzes“ bestritten. In diesen sogenannten antinomistischen Streitigkeiten, in denen vor allem Johann Agricola Luther entgegentrat, entwickelte dieser seine Auffassung von Gesetz und Evangelium im engeren Sinne, und dabei überschnitt sich wiederum die Frage nach dem Verhältnis von Gottes Gerechtigkeit und guten Werken mit der nach dem Verhältnis des weltlichen Gesetzes zum Gesetz Christi. 2. Im Zuge der Antinomerdisputationen kam es zu zwei grundlegenden Klärungen: Luther entwickelte einerseits die These, dass das Wort Gottes grundsätzlich in den Formen des Gesetzes wie des Evangeliums gepredigt werden müsse. Denen, die stark sind und sich sicher dünken, die auf eigene Leistung und Kraft setzen, aber auch denen, die einem schwärmerischen Libertinismus huldigen, muss das Gesetz gepredigt werden. Den angefochtenen und bedrängten Menschen, denen, die umgetrieben sind von der Suche nach dem Heil, denen soll das Evangelium von der alleinwirksamen Gnade Gottes gepredigt werden. Das heißt, dass eine Grundbedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium darin besteht, dass adressaten- und situationsspezifisch Gesetz oder Evangelium zu predigen sind. Die Gesetzespredigt soll anklagen und überführen, die Evangeliumspredigt soll befreien, aufrichten und lebendig machen. Wenn den „Starken“, die sich etwas auf ihre Frömmigkeit und ihre guten Werke und ihre bürgerliche Rechenschaft einbilden, das Gesetz verkündigt wird, dann geschieht es, um sie von den falschen Sicherheiten zu befreien. Dies ist der sog. usus elenchticus legis , auch usus secundus genannt. Wenn den furchtsamen Gewissen das Evangelium gepredigt wird, dann geschieht dies, um sie von ihrer Not zu befreien und ihnen den Geist der Freiheit zu verkünden. Andererseits wird gegen die Antinomer eingeschärft, dass das Gesetz im einfachsten Sinn, nämlich das Recht der äußeren gesellschaftlichen Ordnung, durch die Befreiung vom Gesetz, durch die Gerechtmachung Gottes nicht aufgehoben wird. Dieser primus usus legis , der usus civilis sive politicus , wird durch die Verkündigung des Evangeliums nicht nur nicht aufgehoben, sondern bestätigt. In Art. 16 der Apologie der Augsburgischen Konfession heißt es dementsprechend: Nec fert evangelium novas leges de statu civili, sed praecipit, ut praesentibus legibus obtemperemus, sive ab ethnicis sive ab aliis conditae sint, et hac oboedientia caritatem iubet exercere. [. . .] Nam evangelium non dissipat politiam aut oeconomiam, et non solum propter poenam, sed etiam propter conscientiam iubet illis parere tamquam divinae ordinationi.7 7 BSLK 308. Dazu kritisch oben, 100.

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3. Erst am Abschluss lutherischer Lehrbildung entwickelt die Konkordienformel nach dem reichsrechtlich grundlegenden Augsburger Religionsfrieden von 1555 eine Lehre von einem tertius usus legis. Danach dient der primus usus der äußeren Zucht (disciplina ) gegen wilde und ungehorsame Menschen, der usus secundus der Erkenntnis der Sünden (agnitio peccatorum ), während der tertius usus den Zweck hat, dass auch die Wiedergeborenen (renati ) eine gewisse Regel (regula ) haben, um ihr ganzes Leben zu ordnen.8 Offensichtlich hat man, als man dergleichen schrieb, nicht mehr die feste Überzeugung gehabt, dass aus der Freiheit des Glaubens, „aus freier Liebe umsonst“, wie Luther in der Freiheitsschrift mehrfach sagt, gute Werke mit innerer Notwendigkeit hervorgehen, sondern man war der Ansicht, dass es dazu wieder bestimmter Regeln bedürfte, eben des Gesetzes, aber nun in seinem usus in renatis. Darin meldete sich ein tiefes Misstrauen gegen die ursprüngliche Einsicht, dass die Gerechtigkeit, die vor Gott allein zählt, allein aus dem Glauben aufgrund der zuvorkommenden Gnade Gottes kommt. Nun soll der Wille Gottes doch wieder in der Gestalt menschlicher, lehrbarer und notfalls mit Sanktionen durchzusetzender Regeln und Gesetze dingfest gemacht werden. Genau dieser dritte Gebrauch des Gesetzes begegnet heute dort, wo Christenmenschen einzelne Sätze der Tora als auch und gerade für die „Wiedergeborenen“ verbindlich machen wollen, wenn nicht sogar als Merkmal ihres Wiedergeborenseins erkennen wollen. Wer hingegen den tertius usus ablehnt, wie ich es für geboten halte,9 der ist der Überzeugung, dass allein aus dem Hören des Evangeliums sich als dessen unmittelbare Folge gute Werke mit Notwendigkeit einstellen, so wie nun einmal ein guter Baum – ein von Gott allein gerecht gemachter Mensch – gar nicht anders kann, als aus freien Stücken gute Früchte hervorzubringen. In den Evangelienüberlieferungen steht an dieser Stelle der Ruf in die Nachfolge. Wer hier erneut die Erfüllung vorgegebener Regeln und Maße verlangt, gibt damit zu erkennen, dass das Vertrauen auf das Evangelium letztlich doch nicht reicht, sondern zur Sicherheit durch freiwillige oder zusätzliche Gehorsamsleistungen ergänzt werden muss. Es ist, wie wenn man sich zur Rückversicherung doch noch einmal beschneiden ließe; wer so denkt, hat das alleinige Vertrauen auf Christus schon wieder aufgegeben (Gal 5,1–15). Wer meint, den dritten Gebrauch des Gesetzes doch wieder festschreiben zu sollen, misstraut der völlig hinreichenden Wirkung der Gnade Gottes. 4. Genau hier hat das eingangs zitierte Dictum Luthers von der Freiheit, sogar neue Dekaloge zu erfinden, seinen Ort. Die Zehn Gebote sind natürlich einmal im Sinne des primus usus legis zu verstehen: Sie sind, in der Form der Gebote der sog. „zweiten Tafel“, geradezu der Inbegriff derjenigen Regeln und Normen, ohne die ein friedliches Zusammenleben von Menschen dauerhaft nicht möglich ist, und dies ist 8 BSLK 793–795 (793) und in der Solida declaratio, 962–969. Die Wortwahl usus geht auf 1Tim 1,8 zurück. 9 So auch Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New

York 1995, 527–532. Hingegen scheint Chr. Schwöbel, Art. Gesetz und Evangelium, RGG4, doch wieder den tertius usus zu favorisieren.

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durchaus von der Vernunft aller Zeiten und Völker nachvollziehbar. Es handelt sich um verallgemeinerungsfähige, reziproke Normen. Eine Gesellschaft, die die menschliche Fähigkeit zu Gewalt und Zerstörung eindämmen oder gar überwinden will, braucht verlässliche Regeln im Blick auf Gewalt, Macht, Eigentum, Sexualität und Kommunikation. Wie der Satz derartiger Regeln konkret ausgestaltet wird, ist freilich geschichtlich variabel. Darum gilt, dass die konkreten Gebote in einer Gesellschaft nicht an Wortlauf und Zahl der biblischen Zehn Gebote ausschließlich gebunden sein müssen, aber die Funktionen, die diese Gebote generell abdecken, müssen jederzeit erfüllt sein. So kann beispielsweise das Verbot falscher Zeugenaussage überführt werden in ein viel grundsätzlicheres Verbot der Lüge, das Verbot der Tötung Unschuldiger ist fähig zu derjenigen Präzisierung, die verlangt, durch eine kontinuierliche Anstrengung die Möglichkeit des Krieges institutionell (durch eine Völkerrechtsordnung) zu überwinden, jedenfalls soweit das menschenmöglich ist; das Gebot des Eigentumsschutzes schreit geradezu nach Werken der Diakonie und, in der Moderne, nach der Weiterentwicklung des Rechtsstaates zum Sozialstaat. Der Dekalog richtet sich an alle Menschen als Einladung zu politischer Ordnungsstiftung; er richtet sich in besonderer Weise an Juden und Christen, in seiner situationsgerechten, geschichtlichen Gestaltung einfallsreich zu sein. Die Frage ist dann immer, aus welchem „Geist“ der Umgang mit den Zehn Geboten geschieht. Johannes Fischer hat eben dafür die schöne Formulierung „Leben aus dem Geist“ aufgenommen, also diejenige paulinische Ausdrucksweise, die das „neue Leben“ derer bezeichnet, die der Zusage des Evangeliums vertrauen und eben deshalb neue Dekaloge zu schaffen aufgerufen sind. 5. „Schwärmerei!“, hört man von Paulus bis Luther und heute dagegen rufen. Demgegenüber gibt es nur ein einziges, meines Erachtens aber voll durchschlagendes Argument. Dieses besagt, dass gute Werke nur solche Handlungen sind, die der oder dem Anderen zugute geschehen. Die biblischen Worte, die dafür stehen, sind Liebe und Dienst. Diese sind zwar missdeutbar und missbrauchbar, aber sie sind durchaus erkennbar. Es ist erkennbar, aus welchem Geist mit Regeln umgegangen wird. Daneben steht die platonische Variante, der Gedanke, dass nicht Menschen, sondern die Gesetze herrschen sollen. Dieser Gedanke gewinnt dann sein klares Profil, wenn die Herrschaft der Gesetze nicht um des Gesetzesgehorsams als solchen willen, sondern um des allgemeinen Wohls des Nächsten und der Polis willen gefordert wird. Vielleicht kann man an dieser Stelle noch einen letzten Unterscheidungsgedanken anfügen. Platons Bezugspunkt war das Wohlergehen der Polis, welche von allen Seiten, von innen wie von außen, bedroht war. Der zentralen Aufgabe der Erhaltung (nicht: Expansion) der Polis war das Schicksal der Einzelnen untergeordnet, obwohl Platon der Ansicht war, dass die Bürger je für sich nur recht leben können, wenn es der Polis als ganzer gut geht. Demgegenüber scheint mir das Ethos der Zehn Gebote stärker von der Sippe, ja sogar von deren einzelnen Gliedern her bestimmt zu sein. Ich überspitze: Platon denkt, als Aristokrat und eminenter homo politicus seiner Zeit, von der Polis und ihren Erhaltungsbedingungen her; die biblischen Überliefe-

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rungen stellen ungleich stärker den einzelnen Menschen in seiner Bedrohtheit, Gefährdung und Verantwortlichkeit ins Zentrum. Der Philosophenkönig darf sogar, wenn es ums Überleben der Polis geht, lügen; für Paulus ist die gefährdete Integrität des individuellen Gewissens immer auf das Gegenüber des persönlichen Gottes bezogen, dem ein Mensch verantwortlich ist, weil er ihm seine Freiheit verdankt.

5.3 Die Umkehr der Zuordnung Im 20. Jahrhundert hat Karl Barth die Reihenfolge der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium umgekehrt. Der zeitgeschichtlich-politische Hintergrund und Anlass dazu war, dass die „Deutschen Christen“, also diejenigen, die versuchten, den biblisch begründeten Christusglauben dem weltanschaulichen Nationalsozialismus zu unterwerfen, einerseits eine Lehre von den Schöpfungsordnungen und einem „Volksnomos“ vertraten, bei der unter der Hand das „Gesetz“ als Inbegriff der neuen „völkischen“ Ordnung gedacht wurde, welcher man geradezu Offenbarungsqualität zuschrieb und im Blick auf die man unverbrüchlichen Gehorsam verlangte. 1934 hat die Barmer Theologische Erklärung dagegen gehalten, dass es neben dem Wort Gottes, wie es in Jesus Christus ein- für allemal in Erscheinung getreten und Wirklichkeit geworden ist, keine zweite Offenbarung, Autorität gleichen Ranges und verpflichtende Größe geben könne. 1935 hat Barth diesen Grundgedanken in einem Vortrag mit dem programmatischen Titel Evangelium und Gesetz präzisiert. Er konnte auf Weisung der „Geheimen Staatspolizei“ diesen Vortrag nicht selbst in Barmen halten; Karl Immer hat ihn statt dessen vorgelesen. Dort finden wir den entscheidenden Satz: „Das Eine Wort Gottes ist zuerst Evangelium und dann auch Gesetz.“10 In der Grundlegung der Ethik im Kontext der Erwählungslehre (KD II/2) heißt es dann im Leitsatz zu § 36: Die Ethik als Lehre von Gottes Gebot erklärt das Gesetz als die Gestalt des Evangeliums, d. h. als die Norm des dem Menschen durch den ihn erwählenden Gott widerfahrende Heiligung. Sie ist darum in der Erkenntnis Jesu Christi begründet, weil dieser der heilige Gott und der geheiligte Mensch in Einem ist. Sie gehört darum zur Lehre von Gott, weil der den Menschen für sich in Anspruch nehmende Gott eben damit in ursprünglicher Weise sich selbst für diesen verantwortlich macht. Ihre Funktion besteht in der grundlegenden Bezeugung der Gnade Gottes, sofern diese des Menschen heilsame Bindung und Verpflichtung ist.11

Um den Leitsatz wirklich zu verstehen, müsste ich den gesamten § 36 im Kontext der Erwählungslehre interpretieren. Das geht hier natürlich nicht. Aber die Inten10 ThEx 32, München 1935. Diese Position fiel freilich nicht vom Himmel, sondern hatte sich in Barths Grundsatzüberlegungen zur Ethik seit längerem vorbereitet; siehe insbesondere die Texte: Das Halten der Gebote (1927), Die christliche Dogmatik im Entwurf, München 1927, 325–329;

Ethik I (Vorlesung SoSe 1928/30), Zürich 1973, 81–101; Das erste Gebot als theologisches Axiom (1933), sowie die Vorarbeiten zur BTE vom Mai 1934. 11 KD II/2, 564.

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tion Barths lässt sich auch mit weniger Aufwand erläutern. Dazu zitiere ich noch einen Abschnitt aus den einleitenden Grundsatzüberlegungen dieses Paragraphen: Das eine Wort Gottes ist Evangelium und Gesetz: kein Gesetz für sich und und unabhängig vom Evangelium, aber auch kein Evangelium ohne Gesetz. Es ist Evangelium nach seinem Inhalt, Gesetz nach seiner Form und Gestalt. Es ist zuerst Evangelium und dann Gesetz. Es ist das Evangelium, das das Gesetz enthält und in sich schließt wie die Bundeslade die Tafeln am Sinai. Aber es ist beides: Evangelium und Gesetz. Das eine Wort Gottes als Offenbarung und Werk seiner Gnade ist auch Gesetz, auch Vorentscheidung über des Menschen Selbstbestimmung, auch die Inanspruchnahme der menschlichen Freiheit, auch die Regelung und Beurteilung des Gebrauchs, der von dieser Freiheit gemacht wird.12

Lutheraner haben Barth seither den Vorwurf gemacht, erneut das Evangelium zu „vergesetzlichen“. Das ist natürlich Unsinn, denn Barth teilt die reformatorische Grundeinsicht, dass der Mensch, wenn es um sein ewiges Heil geht, dazu aus eigener Kraft schlechterdings nichts beitragen kann. Aber Barth sah auch, dass wenn man ausschließlich diese Seite der Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes betont, der spezifische Teil des Menschen zu kurz komme. Barths Stichwort dafür ist „Heiligung“. Rechtfertigung, verstanden als das allein zurechtbringende Handeln Gottes am Menschen, wird unzureichend, weil verkürzt verstanden, wenn darüber der Prozess der dadurch ausgelösten Heiligung zu kurz kommt. Natürlich ist Heiligung nicht Selbstheiligung und womöglich Selbsterlösung, sondern „widerfahrende“ Heiligung, aber dies heißt für Barth allemal, im Geist der neuen, geschenkten Freiheit Gott dafür verantwortlich zu sein, was man aus dem Geschenk der Rechtfertigung macht. Weiß man sich ermächtigt, sogar neue Dekaloge zu machen, oder benutzt man den Verweis auf das Evangelium in politisch-öffentlichen Angelegenheiten nur dazu, zu versichern, das Evangelium halte vor allem dazu an, den bestehenden Gesetzen zu gehorchen, woher immer sie kommen mögen? Gegen diese apolitische Auffassung des Ereignisses der Rechtfertigung richtete sich Barths ganzer Protest und Zorn, weil er zu sehen überzeugt war, dass hier, im unpolitischen Quietismus einerseits, der Sorge um das persönliche Seelenheil andererseits, der gefährliche Selbstwiderspruch einer bestimmten reformatorisch-lutherischen Tradition zutage tritt. Andererseits provoziert Barth natürlich auch die Philosophen, wenn er von der „Inanspruchnahme der menschlichen Freiheit“ durch das Wort Gottes spricht. Doch erneut Unterwerfung unter eine heteronome Instanz? Hier ist Barth wieder ganz eng bei Luther, jedenfalls bei dessen Freiheitsschrift, insofern er die Betätigung menschlicher Freiheit als nicht in sich selbst begründet, sondern als durch die Befreiung vom Gesetz ermöglicht versteht. Damit soll die menschliche Freiheit gerade nicht klein gemacht werden, sondern freigesetzt und von erneuter Selbstüberforderung (Gesetzesgehorsam und Moralismus) entlastet werden. 12 KD II/2, 567, 4. Siehe dazu auch Eberhard Jüngel, Barth-Studium, Zürich u. a. 1982, 180– 209. Später (KD IV/3, 427) hat Barth notiert, dass

diese neue Reihenfolge „zum eisernen Bestand der hier vorgetragenen Dogmatik“ gehöre.

Teil III Vermittlungen Kommunikation ethischer Fragen in der pluralistischen Gesellschaft

1. Religionsgemeinschaften im Diskurs über ethische Fragen In modernen pluralistischen Gesellschaften gilt es, die verschiedenen Religionsgemeinschaften ohne jede Diskriminierung an der öffentlichen Kommunikation über ethische Fragen zu beteiligen. In den meisten Ländern Europas hat man noch bis in die jüngste Vergangenheit unter theologischer Ethik hauptsächlich oder ausschließlich die ethischen oder moraltheologischen Konzeptionen verstanden, die die großen Kirchen und die von ihnen autorisierten Institutionen und Personen lehrmäßig vertreten haben. Daneben gab es die philosophische Ethik, die, wie in den ersten Teilen dieses Buches beschrieben, zu jener vielfach in einem spannungsvollen und fruchtbaren, teils komplementären, teils antagonistischen Verhältnis stand. Nicht eigens erwähnt wurde bisher, dass beide stets von Positionen einer jüdischen Ethik begleitet waren,1 die unmittelbar und mittelbar voller Anregungen und Herausforderungen war, aber sie erreichte nicht in vergleichbarer Weise die allgemeine Öffentlichkeit. Es wurde und wird sogar bisweilen von jüdischen Autoren bezweifelt, ob es sinnvoll sei, überhaupt von einer jüdischen Ethik zu sprechen, denn man spreche ja auch nicht von einer englischen oder französischen Ethik oder, es sei denn in der verblendeten Ideologie der Nationalsozialisten, von einer jüdischen Mathematik oder Physik.2 Gleichwohl gab und gibt es eine Ethik aus dem Geist und aus den heiligen Überlieferungen des Judentums, mit unübersehbar vielfältigen Auslegungen und Aktualisierungen der Tora und einem großen Pluralismus rabbinischer und anderer Lehrmeinungen. Die großen Gestalten jüdischer Philosophie wie Moses Maimonides, Baruch Spinoza, Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Franz Rosenzweig oder Emmanuel Lévinas haben selbstverständlich stets Fragen der Ethik behandelt3 und damit in unterschiedlicher Weise andere Gestalten theologischer und philosophischer Ethik beeinflusst, wie umge1 Vgl. Schalom Ben-Chorin, Jüdische Ethik anhand der patristischen Perikopen, Tübingen 1983. Er bezieht sich auf die Sammlung der Pirkej Aboth („Sprüche der Väter“), einen Teil der Mischna, der speziell ethischen Fragen gewidmet ist. Ben-Chorin gibt eine durchgehend narrative Darstellung, weil eine systematische Form der Ethik dem rabbinischen Denken sowenig ange-

messen sei wie der „Ethik“ des Jesus von Nazareth (102). 2 Vgl. Ze’ev Levy, Probleme moderner jüdischer Hermeneutik und Ethik, Cuxhaven/Dartford 1997, 125–147. 3 Vgl. Norbert M. Samuelson, Moderne Jüdische Philosophie. Eine Einführung (zuerst englisch 1989), deutsch von Martin Suhr, Reinbek 1995.

Religionsgemeinschaften im Diskurs über ethische Fragen

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kehrt insbesondere die Ethik Kants großen Einfluss auf Ethik-Konzeptionen jüdischer Autorinnen und Autoren hatte und hat. Seit einigen Jahrzehnten tritt nun zunehmend ins allgemeine Bewusstsein, dass in vielen heutigen Gesellschaften Menschen, die in zahlreichen weiteren Religionen ihre Wurzeln haben, zusammenleben. Sie haben ihre religiösen Überzeugungen und Bräuche, wissen sich ganz bestimmten Traditionen, Normen und Werten verpflichtet und versuchen, entsprechend ihren auch und besonders religiös begründeten Vorstellungen von „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“ zu leben und zu handeln. Bisweilen werben sie für ihre Überzeugungen auch in der Öffentlichkeit oder rufen in Konfliktfällen die Gerichte an, um Schutzgarantien für ihre in der jeweiligen Religion verankerten Lebensformen zu erhalten. In der Arbeitswelt, in Schulen, Kliniken, bei freizeitlichen Aktivitäten, in den Medien, in zahlreichen Sphären des öffentlichen Lebens, auch in Gefängnissen und beim Militär begegnen zunehmend moralische Überzeugungen und religiös-moralisch begründete Verhaltensweisen, die der traditionellen Mehrheitsgesellschaft früher unbekannt waren und auch heute vielen Menschen fremd, ja befremdlich erscheinen. Das ist eine konfliktträchtige Situation. Kommunikationen über moralische und sittliche Fragen – im Sinne meiner eingangs (Teil I/ 1) erläuterten begrifflichen Unterscheidungen – können je länger um so weniger diese Fragen und Dimensionen ausblenden. Es ist in den letzten zwanzig Jahren vielfach festgestellt worden, dass ein Verschwinden oder Absterben der Religionen, wie dies vielfach in einer bestimmten Weltsicht prognostiziert worden war, nicht eingetreten ist.4 Im Gegenteil: Viele sprechen von einer Renaissance oder Revitalisierung der Religion(en) – bisweilen mit staunend-ungläubigen, bisweilen mit triumphierenden Untertönen. Unstrittig ist vermutlich nur die Diagnose, dass Religionen im allgemeinen und ihre Gegenwart in der Öffentlichkeit einem vielfachen Formwandel unterliegen. Ob der für (West-)Europa charakteristische Typ der „Säkularisierung“ ein Sonderweg war oder ist, hängt erstens natürlich von dem in dieser Annahme vorausgesetzten Begriff der Säkularisierung ab und zweitens von der tatsächlichen künftigen Entwicklung der Religionen, Kirchen und Gesellschaften in Europa. Auf jeden Fall ist es aber nicht mehr möglich – wenn es denn je überhaupt sinnvoll war –, Religion ausschließlich als Privatsache zu behandeln und entsprechend Religionsgemeinschaften in die Privatsphäre abzudrängen. Wo man dergleichen versucht, etwa im Zeichen einer traditionellen Legitimationsideologie wie der der „laïcité“ in Frankreich, kommt man im Ergebnis doch nicht umhin, die irreversibel im Plural begegnenden Religionen zur Kenntnis zu nehmen und sie mit den Mitteln des Rechts in eine staatliche Ordnung zu integrieren. Diese Entwicklung hat natürlich Konsequenzen für die Kommunikation über ethische Fragen in der Gesellschaft. Eine Gynäkologin sollte beispielsweise heute 4 Vielen hat der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in den späten 1980er Jahren die Augen für die Vitalität der Religionen und Kirchen geöffnet; vgl. als frühes Beispiel José Ca-

sanova, Religion und Öffentlichkeit. Ein Ost/ West-Vergleich, in: Transit 8 (1994), 21–41; ders., Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.

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Teil III Vermittlungen

wissen, welche sexualethischen Vorstellungen und Überzeugungen Buddhistinnen oder muslimische Frauen in ihre Praxis oder in ein Spital mitbringen. In bioethischen Fragen wie der des Schwangerschaftsabbruchs oder des rechtlichen Status des Embryos argumentieren nicht nur die christlichen Theologinnen sehr unterschiedlich, sondern auch die Ethiker jüdischer oder muslimischer Prägung.5 Klassische wirtschaftsethische Fragen von Geldanlagen, Zins und Wucher, die man unter den Bedingungen einer kapitalistischen Markwirtschaft für längst erledigt gehalten hatte, erweisen sich auf einmal wieder als unvereinbar mit religiösen Überzeugungen und Pflichten. In Zukunft wird auch in Rundfunk- und Fernsehräten oder in EthikKommissionen der Wunsch oder die Forderung aufkommen, die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angemessen zu berücksichtigen. Muss nicht dem von den Kirchen verantworteten „Wort zum Sonntag“ künftig auch ein „Wort zum Freitag“ von Seiten muslimischer Gemeinschaften an die Seite treten können? Der Rahmen des traditionellen Themas einer institutionellen Ethik: „Kirche und Öffentlichkeit“ wird damit in ganz neuer Weise auf eine Vielfalt von Religionsgemeinschaften auszuweiten sein. Wie sich darauf formelle und informelle ethische Kommunikationen einstellen können, ohne die Religionen im Zeichen einer rein säkularen Weltsicht zu marginalisieren und ohne den Religionen eine die Religionsfreiheit und den Rechtsstaat gefährdende Dominanz einzuräumen, ist die leitende Fragestellung dieses Teils.

1.1 Neue Entwicklungen im Verhältnis von Staaten, Kirchen und Religionsgemeinschaften Die Ausdehnung der Europäischen Union, Migrationen, gesellschaftlicher und religiöser Pluralismus sowie eine neue Vielfalt sittlicher Überzeugungen und daraus folgender Verhaltens- und Handlungsweisen werden zunehmend auch in der Gestaltung des Religionsverfassungsrechts berücksichtigt.

1.1.1 Traditionelle Rollen der Kirchen 1991 erschien in der Schweiz ein Buch mit dem Titel Kirche – Gewissen des Staates? 6 Es behandelt das Verhältnis von Staat, Kirche und Politik im Kanton Bern. Wie 5 Vgl. Yves Nordmann, Zwischen Leben und Tod. Aspekte der jüdischen Medizinethik, Bern 1999; Moderne Medizin und Islamische Ethik. Biowissenschaften in der muslimischen Rechtstradition, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Thomas Eich, Freiburg/Basel/Wien 2008. 6 Rudolf Dellsperger/Johannes Georg Fuchs/Pe-

ter Gild/Felix Hafner/Walter Stähelin, Kirche – Gewissen des Staates? Gesamtbericht einer von der Direktion des Kirchenwesens des Kantons Bern beauftragten Expertengruppe über das Verhältnis von Kirche und Politik, Bern 1991. Einberufung der Gruppe und Ausarbeitung des Berichts waren veranlasst durch eine Motion des

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selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass es sich bei den Beziehungen zwischen Kirche(n) und Staat um eine besondere, durchaus privilegierte Nähe zwischen beiden Größen handelt, dass es dabei in Bern primär um die Stellung der ev.-reformierten Landeskirche geht, und dass es eine besondere Mitverantwortung von Christen für die Belange von Staat und Gesellschaft gibt. Dass die Kirche „Gewissen des Staates“ sein könne, reflektiert die alte Auffassung der Reformation Zwinglis, demzufolge die Kirche im politischen Gemeinwesen ein „Wächteramt“ auszuüben habe.7 Auch in Deutschland war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Auffassung verbreitet, dass den Kirchen eine herausgehobene Rolle im demokratischen Gemeinwesen zustehe. In der Staatsrechtslehre und in der Rechtsprechung dominierte die sogenannte Koordinationslehre, wonach Staat und Kirche zwei ursprüngliche, mit hoheitlichen Funktionen ausgestattete Körperschaften darstellen. Der deutsche Bundesgerichtshof erklärte 1961: „Das Grundgesetz geht von der grundsätzlichen Gleichordnung von Staat und Kirche als eigenständigen Gewalten aus.“8 Dahinter steht die jahrhundertealte Auffassung eines Duals zweier maßgeblicher gesellschaftlicher Größen, von imperium und sacerdotium , weltlicher und geistlicher Gewalt, Staat und Kirche, oft verbunden mit der vor allem auf Augustin zurückgehenden Unterscheidung der zwei Reiche oder Regimente, mittels derer Gott die Welt regiert.9 Während das Papsttum jahrhundertelang einen Primat gegenüber den weltlichen Herrschaftsträgern beanspruchte, andererseits seit der frühen Neuzeit der territoriale Fürstenstaat gegenüber den Kirchen und Konfessionen seine Suprematie durchsetzte, die staatliche Kirchenhoheit jedoch mit dem Ende des landesherrlichen Kirchenregimentes am Ende des Ersten Weltkrieges weggefallen war, erfreuten sich vor allem in Deutschland nach 1945 die Kirchen einer großen Anerkennung, welche in den neuen Verträgen und Konkordaten zwischen Staat und Kirchen Ausdruck fand. Besonders der Loccumer Vertrag von 1955 wurde weithin als Gestalt einer koordinationsrechtlichen Vereinbarung zwischen zwei juristischen Personen mit jeweils originärer Rechtsgewalt angesehen. Daran änderten auch die „etatistische“ freisinnigen Großrats Erwin Bischof, der das politische Engagement der Kirche und ihrer Vertreter kritisierte. Er führte in seiner Begründung u. a. aus: „Da der Staat sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirchen einmischt, muss dies auch für die Kirchen gegenüber dem Staat gelten. Die Politisierung der Kirche hat die Polarisierung im Volk verstärkt und den humanitären Anliegen der Kirche einen Bärendienst erwiesen. Da die evangelisch-reformierte Landeskirche eine Volksund nicht eine Bekenntniskirche sein will, muss sie ein weites Spektrum umfassen und sollte sich in der Politik Zurückhaltung auferlegen. Ihre Aufgabe kann es nicht sein, ihr Prestige auf der Kanzel und in den Medien zu Parteipolitik zu missbrauchen, die freie Marktwirtschaft, von der

sie jährlich Millionen an Steuergeldern einnimmt, zu diskreditieren und mit diesem Geld revolutionäre marxistische Bewegungen in der Dritten Welt zu unterstützen.“ (zit. ebd., 11 f) 7 Belege bei Gottfried W. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen/Zürich 1979, 218. 8 BGHZ 34, 372 (373). 9 Zur Entstehung und Geschichte dieser Auffassungen siehe Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970, sowie als kurze Übersicht meinen Art. Zwei-Reiche-Lehre, EKL3 4, 1996, 1408– 1419.

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und die „liberale“ Gegenbewegung10 der 1960er Jahre wenig; jene betonte den grundsätzlichen Vorrang der Staatsgewalt gegenüber allen gesellschaftlichen Verbänden und Gruppen, diese verlangte programmatisch eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Die von Konrad Hesse geprägte, an Camille Cavours (1810–1861) „libera chiesa in libero stato“ angelehnte Formel „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“11 markierte über lange Jahre einen tragfähigen Kompromiss, der vor allem den Interessen der traditionellen, großen Kirchen an einem partnerschaftlichen Verhältnis von Staat und Kirche entsprach.12 Mehrere Faktoren haben dazu geführt, dass sich seit den 1990er Jahren die tatsächlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften allmählich änderten. Zu nennen sind insbesondere eine erhebliche religiöse Pluralisierung infolge der Zunahme von Einwanderungsbevölkerungen und dadurch neu entstehender Integrationsprobleme und Kulturkonflikte13, der langsame, aber beständige Rückgang der Mitgliederzahlen bei den etablierten Großkirchen, eine Zunahme des innerkirchlichen Pluralismus bei gleichzeitiger Betonung des religiösen Individualismus sowie die Notwendigkeit, die rechtliche Stellung auch bisher nicht oder wenig berücksichtigter Religionsgemeinschaften angemessen zu ordnen. Wenn man in Europa den Blick weiter nach Osten und Südosten lenkt, kam vor allem die Aufgabe hinzu, die rechtliche Lage der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den ehedem kommunistisch beherrschten Ländern neu zu regeln.14

1.1.2 Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass der Ausdruck „Religionsverfassungsrecht“ die herkömmliche Rede vom „Staatskirchenrecht“ abzulösen beginnt. Man könnte dies als eine bloße Frage der Terminologie abtun, denn die Sachverhalte und Begriffe, um die es konkret geht, ändern sich nicht durch einen Wandel des juristischen Etiketts. Aber bei terminologischen Veränderungen geht es meist auch um neue inhaltliche Akzente. Kurz und pointiert: Es geht um einen Perspektivenwechsel von einer stärker durch den Blick auf die Institutionen der Kirchen geprägten Sicht 10 Siehe Christian Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006, 191–193. 11 Titel seines programmatischen Aufsatzes in ZevKR 11, 1964/65. Zu Hesse (1919–2005) siehe die Würdigungen von Peter Lerche, Europäische Staatsrechtslehrer. Der Wissenschaftler Konrad Hesse, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 55, 2007, 455–461; Ernst Benda, Konrad Hesse, Bundesverfassungsrichter 1975– 1987, ebd., 509–514. 12 Das Handbuch des Staatskirchenrechts der

Bundesrepublik Deutschland (hg. v. Joseph Listl und Dietrich Pirson, 2 Bd., Berlin 21994/95) bildet den „Höhe- und vielleicht auch Endpunkt“ dieser Entwicklung (Walter, a. a. O., 198). 13 Siehe im Blick auf die Schweiz Walter Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, Zürich 2000. 14 Siehe dazu Wolfgang Lienemann/Hans-Richard Reuter/Iris Döring (Hg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden-Baden 2005.

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hin zu einer vorrangigen Betonung des Grundrechts der Religionsfreiheit für alle Menschen und zu einer angemessenen Berücksichtigung nicht-kirchlicher oder nicht-traditioneller Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht. Im Bezug auf Religionen gibt es herkömmlich sowohl staatliches und zunehmend auch überstaatliches Recht15 einerseits, ein von den Religionsgemeinschaften selbst gesetztes Recht andererseits. Im Bereich der christlichen Kirchen war der Umfang des Regelungs- und Geltungsanspruchs ihres Kirchenrechts geschichtlich sehr unterschiedlich ausgeprägt.16 Jahrhunderte lang sind zentrale Probleme von Politik und Wirtschaft wie etwa das Kriegsrecht (ius ad bellum ) oder die Frage des (Wucher-) Zinses (usura ) wie selbstverständlich als Gegenstände des kanonischen Rechtes betrachtet worden. Für die europäische Geschichte bis weit in die Neuzeit kann man die Bedeutung dieses Kirchenrechtes, auch in den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen, gar nicht hoch genug veranschlagen17 – so lag das Eherecht überwiegend in der Obhut der Kirchen, und die sogenannte geistliche Schulaufsicht wurde zumeist erst im 19. Jahrhundert zugunsten der staatlichen Zuständigkeit abgeschafft.18 Man könnte für alle diese Rechtsgebiete den Ausdruck „Religionsrecht“ als den übergreifenden Titel verwenden,19 der sowohl das staatlich gesetzte Recht für den Bereich von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften umfasst als auch das eigene Recht dieser Gemeinschaften (im Falle der Kirchen das Kirchenrecht). Ein allgemeiner Oberbegriff „Religionsrecht“ hat jedoch den Nachteil, dass die wesentliche Unterscheidung des staatlichen Rechtes und des Rechtes der Religionsgemeinschaften dadurch unterbelichtet wird und sogar der Eindruck entstehen kann, alles Recht in Bezug auf Religionen sei letztlich oder gar ausschließlich staatlich bestimmt. Der Ausdruck „Staatskirchenrecht“20 macht hingegen von vornherein klar, dass es sich um staatliches Recht handelt, welches das Verhältnis des Staates zu den Kirchen sowie zu anderen religiös qualifizierten Gemeinschaften regelt. Der neuerdings häufiger verwendete Ausdruck „Religionsverfassungsrecht“21 hat zunächst den Vorteil, dass der scheinbar ausschließliche Bezug auf Kirchen entfällt, 15 In den Mitgliedsstaaten der EU entwickelt sich auf der Grundlage der EMRK (siehe bes. Art. 9 sowie das Diskriminierungsverbot Art. 14) ein europäisches Religionsverfassungsrecht, das für das entsprechende nationalstaatliche Recht erhebliche Konsequenzen hat; siehe dazu Walter, Religionsverfassungsrecht, Teil IV. 16 Als Überblick vgl. Dietrich Pirson, Art. Kirchenrecht, EKL3 2, 1989, 1164–1176. 17 Vgl. John Witte jr., Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002. 18 Für die Ausbildung des französischen Konzeptes der „laïcité“ spielte der Streit um die Schulhoheit im 19. Jh. eine entscheidende Rolle; vgl. Walter, Religionsverfassungsrecht, 74–76. 19 Vgl. zur terminologischen Klärung Alexander

Hollerbach, Staatskirchenrecht oder Religionsrecht?, in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer (Hg.), Iuri Canonico Promovendo (FS Heribert Schmitz), Regensburg 1994, 869–887. 20 Es handelt sich um eine relativ junge Begriffsprägung des 19. Jh. Der Ausdruck findet sich 1855 bei Robert von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, Erlangen 1855, 489; siehe dazu Klaus Schlaich, Art. Staatskirchenrecht, EvStL3 (1987) II, 3426–3429, sowie Dietrich Pirson in HdbStKirchR2 I, 11. 21 Siehe dazu im Blick auf Deutschland Hans Michael Heinig, Zwischen Tradition und Transformation. Das deutsche Staatskirchenrecht auf der Schwelle zum Europäischen Religionsverfassungsrecht, ZEE 43, 1999, 294–312; Christian Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfas-

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was angesichts des Religionsrechtes der jüdischen Gemeinden, ihres Selbstverständnisses und ihres Verhältnisses zum Staat immer schon problematisch war, aber in einer multireligiösen Gesellschaft vollends unangemessen erscheint. Sodann wird eindeutig klargestellt, dass es sich um staatliches und/oder supranationales Recht handelt, und zwar auch dann, wenn es die Form von Verträgen oder Konkordaten mit Religionsgemeinschaften hat. Dies impliziert durchaus die anerkannte Geltung eines eigenständigen Kirchenrechts, macht aber gleichzeitig unmissverständlich klar, dass auch das Kirchenrecht (und analog das Recht der jüdischen, muslimischen, buddhistischen oder sonstigen Gemeinschaften) nur innerhalb der für alle Menschen und Bürger geltenden Rechtsordnung seinen legitimen Platz beanspruchen kann, also keine mit dem staatlichen Recht konkurrierende, soziale Ordnung eigenen Rechts konstituiert.22 Ferner scheint der Ausdruck Religionsverfassungsrecht geeignet zu sein, geschichtlich und systematisch sehr unterschiedliche Systeme der Zuordnung von Staat und Religionsgemeinschaften zu erfassen, wie dies in einem Bund von Staaten sui generis wie der EU ebenso zweckmäßig ist wie im Blick auf künftige völkerrechtliche Entwicklungen. Schließlich muss der Ausdruck Religionsverfassungsrecht nicht so eng gefasst werden, dass damit nur die religionsrechtlich relevanten Regelungen auf Verfassungsebene in den Blick kommen, sondern der Begriff ist offen für alle Bestimmungen des staatlichen Rechtes, welche Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften betreffen23 – es geht, mit einem treffenden Schweizer sungsrecht?, in: Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht. Völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, Berlin/Heidelberg 2001, 215– 240; Stefan Korioth, Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht?, Chancen und Gefahren eines Bedeutungswandels des Art. 140 GG, in: Michael Brenner u. a. (Hg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel (FS Peter Badura), Tübingen 2004, 727–747; Michael Heinig/Christian Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, Tübingen 2007. 22 Dies schließt im Übrigen die Möglichkeit nicht aus, dass es im Bereich des eigenen Rechtes von Religionsgemeinschaften oder Kirchen Regelungen geben kann, die das staatliche Recht konkurrenzieren oder sogar in Frage stellen, wie man am Beispiel des umstrittenen sogenannten Kirchenasyls sehen kann. Doch auch derartige rechtliche Auffassungen und Entscheidungen sind – im Rechtsstaat – zu verstehen als Beiträge zur Reform des staatlichen Rechtes, nicht als dessen institutionelle Alternative. 23 In den letzten Jahren hat die skizzierte Entwicklung dazu geführt, den herkömmlichen Be-

griff des Staatskirchenrechts zunehmend durch den des Religionsverfassungsrechts abzulösen. Offensichtliche Gründe dafür sind, dass (1) die besondere Rolle der christlichen Kirchen als Partner des Staates zunehmend relativiert worden ist, dass man (2) unter Bedingungen des migrationsbedingten religiösen Pluralismus nicht alle Religionsgemeinschaften unter den Begriff der Kirchen (und erst danach den der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften) subsumieren kann, und dass es (3) geboten ist, für Zwecke internationaler und interkultureller Vergleiche möglichst neutrale Bezeichnungen zu verwenden. Zur Debatte um die geeignete Terminologie vgl. Christian Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006, 128–201; Hans-Michael Heinig/ Christian Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, Tübingen 2007. Bemerkenswert die schon im Titel vermittelnde Position von Axel v. Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa, München 2006. So oder so: Freiheitliche europäische Staaten werden nicht umhin kommen, insbesondere den Islam ohne Diskriminierung in das System des Reli-

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Ausdruck, darum, die Religionen „ins Recht zu fassen“. Die Analogie zum „Wirtschaftsverfassungsrecht“ ist zu bedenken: Es handelt sich jeweils um die Gesamtheit derjenigen rechtlichen Normen, die einen sachlich abgrenzbaren Institutionen- und Handlungszusammenhang betreffen. Das so verstandene Religionsverfassungsrecht muss dann auch selbstverständlich diejenigen Kompetenznormen umfassen, welche in die vom Staat oder einer Staatengemeinschaft zu respektierende eigenständige Verantwortung der Kirchen, Konfessionen, organisierten Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften fallen und diesen zu entsprechender Gestaltung frei stehen. Die Freiheit zu interner (Kirchen- oder Religions-)Rechtsetzung und die grundsätzliche Pflicht, das für alle Bürgerinnen und Bürger geltende Recht zu respektieren, können in schwerwiegende Konflikte miteinander geraten, etwa wenn es darum geht, das Migliedschaftsverständnis und die Eintritts-/Austrittsregelungen einer Religionsgemeinschaft rechtsstaatlich, das heißt immer auch: verfassungs- und menschenrechtsgemäß zu gestalten. Dabei haben grundsätzlich alle Religionsgemeinschaften das Prinzip der Religionsfreiheit uneingeschränkt insoweit zu achten, dass kein Mensch gegen seinen Willen als Mitglied der entsprechenden Gemeinschaft in Anspruch genommen werden darf, also effektiv das Recht ausüben kann, die Gemeinschaft zu verlassen. Das ist für viele religiöse Gemeinschaften eine ungeheure Zumutung. Wie kann ein modernes Religionsverfassungsrecht auf diese und andere gesellschaftliche und religionspolitische Herausforderungen angemessen antworten? 1.1.3 Eckpfeiler des Religionsverfassungsrechts In der Gegenwart fällt das Religionsverfassungsrecht längst nicht mehr allein in die souveräne Zuständigkeit von Nationalstaaten. Es ist eingeordnet in die universellen Instrumente zum Schutz der religiösen Freiheit und Gleichheit,24 d. h. es untersteht den menschenrechtlichen Garantien, wie sie insbesondere in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. Dezember 1948 und den UN-Pakten von 1966 proklamiert worden sind, sowie den entsprechenden institutionellen Gewährleistungen und weitergehenden Konventionen. Für die Mitgliedsstaaten des Europarates sind vor allem die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (bes. EMRK Art. 9) maßgeblich. Das Gemeinschaftsrecht der EU hat diese Bestimmungen übernommen.25 Dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) obliegt es, in Streitfällen für die gionsverfassungsrechts aufzunehmen; siehe dazu die Übersicht von Hermann Weber, Zurückhaltende Abwehr, fürsorgliche Belagerung oder hereinnehmende Neutralität? Die Rechtslage des Islam in den unterschiedlichen europäischen Staaten, ZevKR 52, 2007, 354–399. 24 Vgl. dazu Dieter Kraus, Völker- und europarechtliche Vorgaben an die Ausgestaltung natio-

nalen Religionsverfassungsrechts, in: Wolfgang Lienemann/Hans-Richard Reuter/Iris Döring (Hg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden-Baden 2005, 33–50 (38–41). 25 Siehe Art. 10 der EU-Grundrechte-Charta (proklamiert in Nizza, 7. Dezember 2000).

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Durchsetzung dieser Garantien zu sorgen. Insgesamt sind damit für die Mitgliedsstaaten der EU beziehungsweise des Europarates religionsverfassungsrechtliche Grundsätze vorgegeben, die in der nationalstaatlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung anzuwenden und durchzusetzen sind. Auf dieser Grundlage ergeben sich klare Kriterien26 für die Ausgestaltung des Religionsverfassungsrechts: (1) Ein an den weithin anerkannten Menschenrechtsstandards orientiertes Religionsverfassungsrecht impliziert zuerst und unabdingbar das Recht und die Institutionen des Rechtsstaates.27 Die schwersten Verstöße gegen das Menschenrecht der Religionsfreiheit begegnen vor allem in Ländern der südlichen Hemisphäre, die keine oder nur rudimentäre rechtsstaatliche Strukturen ausgebildet haben. Doch auch dort, wo rechtsstaatliche Institutionen und demokratische Verfahren in einer Verfassung verbürgt und weithin erfolgreich etabliert sind wie beispielsweise in Indien, vielfach als weltgrößte Demokratie bezeichnet, ist die Diskrepanz zwischen den rechtlichen Bestimmungen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch und gerade in Fragen der Religionsfreiheit oft eklatant.28 Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern rechtsstaatliche Garantien verweigern, pflegen insbesondere die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu verweigern. In zahlreichen Staaten, die zwar den UN angehören, aber in ihrem Hoheitsgebiet die Achtung der Menschenrechte nicht durchsetzen wollen oder können, begegnen darum nach wie vor Diskriminierung und Verfolgung aus religiösen Gründen, sogar dann, wenn die Verfassung dergleichen ausdrücklich verbietet.29 Das Gleiche begegnet in Staaten, die sich mit einer bestimmten Religion identifizieren und deshalb die Inanspruchnahme der Religionsfreiheit durch Anhänger anderer Religionen verweigern. (2) Die Religionsfreiheit ist heute weltweit die pièce de résistance des Rechtsstaates.30 Die Probleme, den genauen Umfang dieses Menschenrechtes zu bestimmen, begin26 Siehe dazu Hans-Richard Reuter, Neutralität – Religionsfreiheit – Parität. Prinzipien eines legitimen Religionsverfassungsrechts, in: Lienemann/ Reuter/Döring, a. a. O., 15–31. 27 Zum modernen Begriff des Rechtsstaates siehe die knappe Übersicht bei Katharina v. Schlieffen/Wolfgang Lienemann, Art. Rechtsstaat, EvStL Neuausgabe, Stuttgart 2006, 1926–1939. 28 Nützliche Informationen zu diesen Fragen findet man in den länderbezogenen Beiträgen in der Zeitschrift „Gewissen und Freiheit“. Eine über die Lage von Christen und Kirchen informierende Arbeitshilfe mit weiterführenden Verweisen hat die EKD herausgegeben: Bedrohung der Religionsfreiheit. Erfahrungen von Christen in verschiedenen Ländern, Hannover 2003. 29 Das betrifft insbesondere die Garantie der Freiheit eines Menschen, seine oder ihre Religion zu wechseln. Die allermeisten Religionsgemein-

schaften bieten die Zuwendung und den Beitritt an, erschweren jedoch Abwendung und Austritt. Exemplarisch zu Indien und dem Hinduismus siehe Gauri Viswanathan, Outside the Fold. Conversion, Modernity, and Belief, Princeton NJ 1998; Rowena Robinson/Sathianathan Clarke (Hg.), Religious Conversion in India. Modes, Motivations, and Meanings, Oxford 2003 (22004). 30 Siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen. Gedanken eines Juristen zu den Diskussionen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1965), in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Münster 2004, 197–212; Martin Heckel, Religionsfreiheit. Eine säkulare Verfassungsgarantie, in: ders., Gesammelte Schriften. Staat Kirche Recht Geschichte, Bd. IV, hg. v. Klaus Schlaich, Tübingen 1997, 647–859.

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nen freilich schon damit, dass es keinen Konsens darüber gibt, was als Religion rechtlich anzuerkennen ist. Die Religionswissenschaftlerinnen pflegen sich in dieser Hinsicht meist mit formalen Definitionen zu begnügen,31 und Juristen, die sich hüten, eine bestimmte Auffassung von Religion normativ zu favorisieren, nennen im allgemeinen lediglich einen sogenannten Transzendenzbezug und eine umfassende Deutung von Göttlichem, Mensch und Welt als Merkmale von Religion.32 Zudem genießt auch die Ablehnung von Religion und Transzendenzbezug den Schutz der Religionsfreiheit, zumindest dann, wenn sie in der Form einer gewissensmäßigen Überzeugung auftritt. So muss sich der Staat zunächst um der Freiheit willen damit begnügen, als Religion gelten zu lassen, was Menschen als das für sie Bindende und Verpflichtende verstehen und bekennen.33 Dies schließt unabdingbar ein, dass das Recht der Religionsfreiheit unabhängig von Alter, Herkunft oder Anhängerzahl einer Religionsgemeinschaft zu gewähren ist. Allerdings gilt die Religionsfreiheit – wie andere Freiheitsrechte auch – selbstverständlich nicht uneingeschränkt. Zur Religionsfreiheit gehört ja nicht nur die individuelle Gewissens- und Glaubensfreiheit, so dass sie also lediglich einen Unterfall der allgemeinen individuellen Meinungs- und Handlungsfreiheit bilden würde, sondern sie umfasst auch die individuelle und vor allem die gemeinschaftliche Religionsausübung, also das Recht, dem eigenen Glauben gemäß zu handeln. Dadurch kann es zu Kollisionen mit den Rechten anderer kommen, insbesondere auch zu Konflikten mit anderen Menschenrechten, insbesondere dann, wenn es sich um Handlungen in der Öffentlichkeit handelt. Wenn Witwenverbrennungen oder Drogenkonsum als Ausdruck der Religionsfreiheit reklamiert werden, handelt es sich zweifelsohne um eklatante Eingriffe in grundlegende Menschenrechte. Deshalb muss der Rechtsstaat der Religionsausübung Grenzen ziehen, wenn und soweit Rechte anderer Personen und Institutionen davon verletzt werden können. Diese Schranken genau zu bestimmen, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Religionsverfassungsrechts.34 31 So definiert Karénina Kollmar-Paulenz den Gegenstand des Faches Religionswissenschaft rein formal als „ein Kommunikationssystem aus historisch und kulturell geprägten Zeichen mit spezifischen Bedeutungen“ (Studieninformation Religionswissenschaft, Bern 2008). Der Vorteil einer derartigen Bestimmung besteht darin, zunächst keiner (internen) Religionsauffassung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft verpflichtet zu sein und sich jeder Wertung strikt zu enthalten. Der Nachteil ist die inhaltliche Unbestimmtheit möglicher Gegenstände einer so verstandenen Wissenschaft. 32 Siehe Christoph Winzeler, Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz, Zürich/ Basel/Genf 2005, 10. 33 Dem entspricht im übrigen durchaus auch eine entsprechende Mentalität auf Seiten von Kir-

chenmitgliedern; vgl. Ingolf U. Dalferth, „Was Gott ist, bestimme ich!“ Theologie im Zeitalter der „Cafeteria-Religion“, in: ders., Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 10–35. Ein sehr nahe liegendes, verwandtes Phänomen, das gleichwohl (überwiegend) weder von den Beteiligten noch von Außenstehenden als Religion aufgefasst wird, ist der Fußball. Die merkwürdigen Umstände eines großen Fußballereignisses umfassen viele Aspekte, die man durchaus in Analogie zu religiösen Phänomenen deuten kann. 34 Dazu im Blick auf die deutsche Diskussion Wolfgang Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, Tübingen 1996; ders., Die Religionsfreiheit zwischen Skylla und Charybdis, AöR 123, 1998, 444–475.

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(3) Jenseits der in der Vergangenheit bedeutsamen Unterscheidung von Verbindung oder Trennung von Staat und Kirchen/Religionen ist die Neutralität des Rechtsstaates in Religionsangelegenheiten entscheidend.35 Dies bedeutet in erster Linie, dass der Staat sich nicht anmaßt, eine bestimmte Religion vorzuschreiben, zu begünstigen oder religiöse Sachverhalte selbst zu beurteilen. Dem Staat steht es nicht zu, zwischen „guten“ und „schlechten“ Religionen zu unterscheiden. Gegenüber einem theologisch bzw. kirchenrechtlich konzipierten Sektenbegriff muss der Rechtsstaat gleichsam vorsätzlich blind sein, das heißt, er muss sich eines Urteils über die Vorziehenswürdigkeit von großen wie kleinen, beliebten wie unbeliebten, alten oder neuen Religionsgemeinschaften enthalten.36 Die so verstandene Neutralität kann ebenso durch ein Trennungs- wie ein Verbindungsmodell von Staat und Religionen gewährleistet werden. Ein in dieser Hinsicht bemerkenswerter Nachteil des Trennungsmodells besteht vor allem darin, dass die Trennung – wie im Falle Frankreichs – den Staat effektiv nicht davon entbinden kann, sich doch mit religiösen Phänomenen zu befassen, wie dies in der Kopftuchfrage der Fall ist. Auf der anderen Seite können sich formale Trennungsmodelle wie in den USA oder in Südafrika in der Praxis durchaus als Privilegierungen bestimmter Religionen oder religiöser Praktiken entpuppen. (4) Der Rechtsstaat muss alle Religionen gleich behandeln; er ist zur Parität verpflichtet. Das Gleichheits- oder Paritätskriterium bedeutet in erster Linie ein Willkürverbot, welches untersagt, Gleiches ungleich und Ungleiches gleich zu behandeln. Ein Kanton oder ein Staat, der theologische Bildungseinrichtungen unterhält oder fördert, weil die Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger einer entsprechenden Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, kann und muss nicht im Zeichen formaler Parität auch die Verbreitung religionskritischer oder atheistischer Studiengänge finanzieren. Wohl aber wird dieser Staat dafür sorgen, dass die Schul- und Hochschulcurricula sich in einem rechtsstaatlichen Rahmen bewegen und dass Religionsunterricht, wenn dieser an staatlichen Schulen erteilt wird, keine Religionsgemeinschaft einseitig begünstigt und überdies, im Blick auf das Kriterium der Religionsfreiheit, selbstverständlich die freiwillige Teilnahme voraussetzt. Neutralität und Parität sind nicht mit Indifferenz des Staates gegenüber Religionen, Kirchen und Konfessionen oder gar mit Religionsfeindschaft zu verwechseln. Sie erfordern kein beziehungsloses Trennungssystem. Der Religionsfreiheit ist nicht damit gedient, wenn der Staat alle Religionen in gleicher Weise an ihrer Entfaltung hindert. Vielmehr gehört es zu den Aufgaben eines Sozial- und Kulturstaates, die organisierten Anstrengungen der Zivilgesellschaft und ihrer Gruppen einschließlich 35 Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972. 36 Das schließt selbstredend nicht aus, dass es auch Aspekte gesellschaftlicher Entwicklungen und staatlicher Verantwortung geben kann, aufgrund derer ein Staat Religionsgemeinschaften auf vielfältige Weise unterstützen oder fördern

darf, etwa in den Bereichen der Förderung sozialer Solidarität, kultureller Aufgaben oder in der Denkmalpflege. Nur: die entsprechenden Unterstützungen dürfen im Blick auf Dritte keinen diskriminierenden Charakter haben, d. h. sie müssen ohne Willkür erfolgen.

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der Religionsgemeinschaften zu fördern und auch finanziell zu unterstützen, sofern dies die Bürger demokratisch beschließen. „Das Neutralitätsgebot schließt aktive Religionsförderung nicht aus, wenn sie gesellschafts- und kulturpolitisch erwünscht ist, wenn sie die Religionsfreiheit achtet und wenn sie sich am Prinzip der Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen im Sinne der Parität orientiert.“37 (5) Die Religionsfreiheit ist nicht nur ein Grundrecht, das von Individuen in Anspruch genommen wird, sondern ihre Ausübung ist konstitutiv gemeinschaftsbezogen. Dies schließt öffentliche Handlungen, Bräuche und Rituale ebenso ein wie den Betrieb karitativer Organisationen, von Bildungseinrichtungen oder Medien. Vor allem impliziert die kollektive Religionsfreiheit das Recht, gemäß eigenen, religionsspezifischen Überzeugungen und Lehren auch die Ordnungsformen der jeweiligen Religionen selbst zu bestimmen. Der Umfang dieses Selbstbestimmungsrechtes von Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften ist zunächst um der individuellen wie kollektiven Religionsfreiheit willen sehr weit zu fassen. Dazu gehören nicht nur einzelne Gestaltungsfragen der Liturgie, interne Entscheidungen über orthodoxe und heterodoxe Lehren und Praktiken und vor allem bindende Regeln für die Verleihung von Mitgliedschaft und Ämtern, sondern die freie Entscheidung über den organisatorischen Gesamtaufbau. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird zugleich, ähnlich wie die individuelle Religionsfreiheit, ebenfalls durch die für alle Bürgerinnen und Bürger geltenden Gesetze eingeschränkt. Aber der religionsneutrale Staat ist um der Religionsfreiheit willen gehalten, sich nicht in die inneren Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft einzumischen, sofern gewährleistet ist, dass die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft sich von dieser trennen können.38 Deshalb ist im Rechtsstaat die garantierte Möglichkeit des Austritts aus einer Religionsgemeinschaft gemäß staatlichem Recht ein notwendiges Pendant zum organisatorischen Selbstbestimmungsrecht. Kurzum: Rechtsstaatsprinzip, individuelle und kollektive Religionsfreiheit, staatliche Neutralität und Parität sowie das Selbstbestimmungsrecht der organisierten Religionen sind die Eckpfeiler eines modernen Religionsverfassungsrechtes jenseits von klerikalen Machtansprüchen und antireligiösen Säkularisierungsparolen.

37 Reuter, a. a. O., 28. 38 Während das ius emigrandi das Pendant zum ius reformandi et reprobandi des frühneuzeitlichen Landesherrn darstellte, muss der moderne Rechtsstaat die effektive Möglichkeit, sich von einer Religionsgemeinschaft zu verabschieden, ga-

rantieren. Scharf gesagt: Der Rechtsstaat muss die Religionsfreiheit auch als Möglichkeit und Wirklichkeit der Dissidenz und der Häresie notfalls durch Zwangsmittel gegen eine Religionsgemeinschaft, die Mitglieder bedroht und nicht frei gibt, wahren.

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1.2 Religionsverfassungsrecht als Rahmen des öffentlichen Wirkens der Religionsgemeinschaften Die religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen eines Landes bestimmen in erheblichem Maße die Möglichkeiten und Grenzen des öffentlichen Wirkens der Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften. Mit den verschiedenen Systemen des Religionsverfassungsrechts sind sehr unterschiedliche Gestalten der öffentlichen Präsenz und Wirksamkeit der Religionsgemeinschaften vereinbar, welche wiederum durch zahlreiche, geschichtlich bedingte Faktoren mitbestimmt werden. Die Teilnahme der Kirchen und Religionsgemeinschaften an der öffentlichen Meinungsbildung und damit auch deren Chancen, ethische Überzeugungen öffentlich zu artikulieren und um Zustimmung zu werben, werden durch rechtliche Rahmenbedingungen gesichert und gefördert. Selbstverständlich bilden die rechtlichen Voraussetzungen nicht die alleinige Grundlage für die Teilnahme der Kirchen und Religionsgemeinschaften an öffentlichen Diskursen. Hinzu kommt eine Fülle an individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Ermöglichungsbedingungen kirchlicher Partizipation – von materiellen (finanziellen) Grundlagen über traditionelle Rollenverständnisse religiöser Akteure, von medialen Kommunikationsmöglichkeiten bis zu entsprechenden sozialen Erwartungen und Mentalitäten. Alle diese strukturellen Voraussetzungen sind indes mittelbar oder unmittelbar wiederum Gegenstand rechtlich verbindlicher, durchaus änderbarer Regelungen. In der in diesem Buch primär berücksichtigten juristischen Perspektive39 begegnet das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit in den konkreten Ausformungen des staatlichen und überstaatlichen Religionsverfassungsrechts. Dabei unterscheide ich in demokratischen Rechtsstaaten drei Typen der Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat, von welchen aber freilich nicht automatisch auf die tatsächliche Stellung der Kirche in der Öffentlichkeit geschlossen werden darf. Die drei Typen nenne ich (1) gleichrangig-koordinationsrechtlich, (2) nachrangig-staatsrechtlich, (3) einordnend-vereinsrechtlich. Jeder Typ ist mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Verhältnisses von Kirche und Öffentlichkeit vereinbar. 39 Ich habe lange überlegt, ob die Beteiligung der Kirchen an der öffentlichen Kommunikation über politische und ethische Fragen in diesem III. Teil eher in einer gesellschaftstheoretischen oder in einer rechtstheoretischen Perspektive behandelt werden soll. Zweifellos sind beides sinnvolle Optionen. Ich denke allerdings, dass die eine Perspektive nicht zu Lasten der anderen übergeordnet oder gar eingezogen werden sollte, weshalb ich der transmoralischen Einzeichnung des Rechts in eine (vorgeblich) nicht-normative Ge-

sellschaftstheorie wie bei Niklas Luhmann nicht zu folgen vermag. Beide Dimensionen der (empirischen oder funktional-strukturellen) Gesellschaftstheorie wie die einer (normativen) Rechtstheorie halte ich für grundsätzlich irreduzibel trotz vielfacher Schnittmengen. Ich setze in diesem Buch die Priorität bei der normativen (rechtlichen und theologisch-ethischen) Perspektive, weil es mir im Zentrum um das theologische und philosophische Verständnis und den rechtlichen Schutz der menschlichen Freiheit geht.

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1. Der erste Typ begegnete in seiner reinsten Form in Konkordaten und Verträgen zwischen Staat und Kirche, in welchen beide Vertragspartner als gleichrangige, vertragschließende Rechtssubjekte auftraten. Die Lateranverträge zwischen dem italienischen Staat und dem Vatikan von 1929 sowie das Reichskonkordat zwischen Deutschland und dem Vatikan von 1933 sind dafür die „klassischen“ Beispiele. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man bei der Neugestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche in Westdeutschland an diese Tradition der Konkordate beziehungsweise Verträge zwischen Staat und Kirche angeknüpft. Eingedenk der Erfahrungen des sogenannten Kirchenkampfes in der Zeit des Nationalsozialismus war man sich bewusst, dass die Kirchen in der Bonner Republik eine ganz neue öffentliche Bedeutung hatten. Man sprach von einem „Öffentlichkeitsauftrag“.40 Dieser Ausdruck erfuhr erstmals eine staatsrechtliche Formulierung in der Präambel des Niedersächsischen Kirchenvertrages vom 19. März 1955 (Loccumer Vertrag), wo es heißt, dass der Vertrag „in Übereinstimmung über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und ihre Eigenständigkeit“ geschlossen worden sei.41 In Deutschland waren und sind die Betonung der kirchlichen Eigenständigkeit und die damit früher vielfach verbundene koordinationsrechtliche Auffassung auch eine Folge der Erfahrungen, die während des sogenannten Dritten Reiches gemacht wurden. Die protestantischen Kirchen, die bis 1918 zu großen Teilen an die eindeutige staatliche Superiorität gewöhnt waren und deren Verwaltung bis weit ins 19. Jahrhundert der staatlichen Innenverwaltung inkorporiert war, hatten 1918 ihren „Summepiskopus“ verloren und seit 1933 überdies erfahren müssen, dass die weltliche Gewalt versuchte, sich auch in die innerkirchlichen Angelegenheit energisch einzumischen. Dies hat nach 1945 verständlicherweise dazu veranlasst, die korporative Religionsfreiheit, die organisatorische Eigenständigkeit und historisch verbriefte Rechte der Kirche stark hervorzuheben.42 Eine wichtige Grenze markiert folgende Bestimmung: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (Art. 140 GG i.V.m. Art 137 Abs. 3 Satz 1 WRV).43 Worin diese Schranken exakt bestehen, wel40 Am Anfang stand die Rede vom „Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums“, so in Alfred de Quervains Schrift dieses Titels von 1939 (ThSt H. 4). Aus der umfangreichen Lit. vgl. außer den einschlägigen staatsrechtlichen Handbüchern und Grundgesetzkommentaren bes. Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973; Klaus Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, HdbStKirchR Bd. 2, 21995, 131–18o (= 1 1975); Dietrich Pirson, Öffentlichkeitsanspruch der Kirche, EvStL, hg. v. Roman Herzog u. a., Stuttgart 31987, Bd. II, 2278–2284; Götz Klostermann/Hermann Barth, Art. Öffentlichkeitsanspruch der Kirche, EvStL Neuausgabe, hg. v. Werner Heun u. a., Stuttgart 2006, 1661–1669. 41 Zur Entstehungsgeschichte dieser „Loccumer

Formel“ vgl. Werner Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Göttingen 1964. 42 So haben die römisch-katholische Kirche und die damalige Bundesregierung die Fortgeltung des Reichskonkordats gegenüber der neuen Schulgesetzgebung der Länder durchzusetzen versucht; das BVerfG hat 1957 zwar die Geltung des Konkordats bejaht, aber gleichzeitig die Legalität der Schulgesetze in Länderhoheit anerkannt (BVerfG 6, 309). Vgl. dazu Thomas Brechenmacher, Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente, Paderborn 2007. 43 Vgl. dazu Wolfgang Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, Tübingen 1996.

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ches ihre Funktion ist und was in Konfliktfällen daraus folgt, kann und muss hier nicht entfaltet werden. Nur soviel ist klar: Wenn das kirchliche Recht auf Selbständigkeit zu exzessiv in Anspruch genommen wird, liegt hier eine Möglichkeit, verfassungskonforme Grenzen zu ziehen und damit auch eine koordinationsrechtliche Gleichrangigkeit von Kirche und Staat zugunsten der staatlichen Kompetenzen zu relativieren. Man kann überdies im Blick auf etliche europäische Länder fragen, ob die Betonung der kirchlichen Selbständigkeit in der Vergangenheit nicht (zu) häufig zum Vehikel kirchlicher Selbstbehauptung und Machterweiterung geworden ist und in (zu) geringem Maße dazu gedient hat, in gesellschaftlichen Konflikten und in politischen Streitfragen in der Öffentlichkeit zugunsten marginalisierter Bevölkerungsteile Stellung zu beziehen, m.a.W., ob Staat und Gesellschaft den Kirchen die große Autonomie, die sie zweifellos genossen, nur so lange eingeräumt haben, wie dies als politisch nützlich erscheinen mochte. 2. Der zweite Typ (nachrangig-staatsrechtlich) begegnet beispielsweise in jenen Schweizer Kantonen, in denen die Kirche eine starke öffentliche Stellung hat und zugleich sehr deutlich in die staatlichen Strukturen eingeordnet ist, wie etwa in Bern oder Zürich.44 Diese besondere Zuordnung ist das Ergebnis einer besonderen Rechtsgeschichte, die sich in vielen Aspekten von den Entwicklungen in Deutschland stark unterscheidet. Von außen betrachtet mag es bisweilen scheinen, als ob es sich in manchen Kantonen der Schweiz um fast staatskirchliche Zustände handelt, insofern die Kirche in nahezu allen Belangen dem staatlichen Recht ein- und untergeordnet ist – die Pfarrer sind Staatsbeamte, ihre Gehälter zahlt der Staat, sie unterliegen dem staatlichen Personalrecht (und keinem eigenständigen kirchlichen Amtsund Dienstrecht), und die staatliche Kirchendirektion ist für die „äußeren“ Angelegenheiten der Kirche zuständig – von der Bestimmung der Mitgliedschaft bis zur Umschreibung der Kirchengrenzen, vom Disziplinarrecht bis zur Regelung der Gemeindeordnungen einschließlich Wahlverfahren. Was demgegenüber als „innere“ Angelegenheiten der Kirche übrig bleibt, sind liturgische Gestaltungen und das Predigtamt in seinem konkreten Vollzug. Gleichwohl trügt der äußere erste Anschein einer dem Staat und seinem umfassenden Macht- und Herrschaftanspruch unterworfenen Kirche. Denn tatsächlich ist diese dem Staat so nachhaltig eingeordnete Kirche wiederum erstaunlich frei und in dieser Freiheit – in Grenzen – auch respektiert, wenn ihre Vertreter – ursprünglich vor allem die Pfarrer – den staatlichen Repräsentanten ins Gewissen oder ins Handwerk reden, und zwar unter der Voraussetzung einer weitestgehenden personellen Übereinstimmung von Christengemeinde und Bürgergemeinde. Dass diese historisch bewährte Einheit infolge der Auflösung konfessionell-kirchlicher Milieus und kulturell-religiöser Vielfalt so nicht mehr besteht, macht in meinen Augen das traditionelle Verhältnis von Kirche und Staat, Kirche und Öffentlichkeit in der Schweiz entwicklungsfähig und -bedürftig.45 44 Insgesamt siehe Dieter Kraus, Schweizerisches Staatskirchenrecht, Tübingen 1993. 45 Beispiele dafür sind wie in vielen europäischen Ländern: Kopftücher aus religiösen Grün-

den, Friedhöfe für Muslime, Parität und Neutralität des Staates in Religionssachen, Religionsunterricht, öffentlich-rechtlicher Status der Religionsgemeinschaften etc. Vgl. dazu Walter

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In der Schweiz beziehungsweise in den entsprechenden Kantonen hängt diese besondere Balance von staatlicher Superiorität und kirchlicher Selbständigkeit mit zwei wichtigen Faktoren zusammen, nämlich mit der schon genannten traditionellen weitgehenden Deckungsgleichheit von Christengemeinde und Bürgergemeinde einerseits, mit der besonderen Betonung der individuellen und nicht so sehr der korporativen Religionsfreiheit andererseits. Dem entspricht eine weit stärkere Betonung der innerkirchlichen Glaubens- und Gewissensfreiheit als in Deutschland und – im Kanton Bern – die Tatsache, dass die dortige reformierte Landeskirche „kein allgemein verpflichtendes Glaubensbekenntnis besitzt“.46 Pointiert gesagt: Die reformierte Landeskirche versteht sich nicht so sehr als eigenständiges, institutionelles Gegenüber des Staates als vielmehr als Gewissen des Staates,47 welches sich freilich auch in der bisweilen dissonanten Mannigfaltigkeit individueller Stimmen artikuliert. In Voten einzelner Pfarrer und kirchlicher Gruppen kann dieses Gewissen sich dann freilich sehr wohl mit allerhöchsten Geltungsansprüchen äußern – und entsprechend kritisiert werden. 3. Der dritte Typ (einordnend-vereinsrechtlich) begegnet vor allem dort, wo Staat und Kirche rechtlich streng getrennt sind. Diese Trennung kann extrem kirchenunfreundlich sein (wie in Frankreich 1905 und in der Folge in Genf), sie kann für die öffentliche Präsenz der Kirchen unschädlich oder gar förderlich sein (USA), und sie kann die Kirchen ausgesprochen begünstigen (Republik Südafrika). Gerade bei diesem Typus gilt, rechtlich betrachtet, dass unbeschadet der formellen Trennung von Kirche und Staat die tatsächlichen Beziehungen von Kirche und Öffentlichkeit ganz unterschiedlich ausfallen können. In den USA, deren „First Amendment“ zur Bundesverfassung ausdrücklich jede „established church“ verbietet, ist die öffentliche Präsenz der Kirchen und Religionen im öffentlichen Leben ein ganz besonderer politischer Machtfaktor. In der Zeit der Präsidentschaft von Ronald Regan expandierten die „electronic churches“ und „mega-churches“ rechtskonservativen, evangelikalen Zuschnitts.48 George W. Bush erhielt lebhafte Unterstützung von radikal-konservativen kirchlichen Kreisen. Selbst die Strafgerichtsbarkeit wird gelegentlich zu einem öffentlich-religiösen Vorgang, wenn beispielsweise versucht wird, wie in Texas die Todesstrafe mit religiösen Gründen zu legitimieren. Das US-amerikanische Beispiel ist an dieser Stelle deshalb so wichtig, weil es zeigt, dass es unabhängig von einer säuberlichen rechtlichen Trennung des Staates gegenüber allen Kirchen, Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen sehr wohl eine massive öffentliche WirKälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, Zürich 2000. 46 Hugo Dürrenmatt, Gesetz über die Organisation des Kirchenwesens vom 6.5.1945, Bern 1945. 47 Vgl. Dellsperger u. a., a. a. O.; Ruedi Reich, Kirche und Demokratie. Betrachtungen aus theologischer Sicht, sowie Felix Hafner, Kirche und Demokratie. Betrachtungen aus juristischer Sicht,

beide in: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht 2 (1997), 13–35 und 37–90. Anschließend Rudolf Dellsperger, Fünfzig Jahre Bernische Kirchenverfassung 1946–1996, ebd. 91–106. 48 Vgl. Garry Wills, Under God. Religion and American Politics, New York 1990; Mark A. Noll, Das Christentum in Nordamerika, Leipzig 2000, 164–182.

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kung von Religionen und Kirchen geben kann, der sich kein seriöser Politiker entziehen kann. Über die eminente politische Bedeutung der jüdischen Gemeinschaft in den USA für die Wahlaussichten jedes Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten und etlicher Gouverneure wäre auch noch vieles zu sagen,49 ebenso von der Allianz zwischen fundamentalistischen christlichen Gruppen und politischen jüdischen Gruppen, die eine mächtige Lobby für die derzeitige Politik des Staates Israel bilden.

1.3 Religionsverfassungsrecht der Schweiz in vergleichender Sicht Die Schweiz stellt eine Art Mikrokosmos religionsverfassungsrechtlicher Ordnungsmodelle dar. Schon dass der Titel eines „Religionsverfassungsrechts“ hier ganz unproblematisch verwendet werden kann,50 ist dafür insofern charakteristisch, als die Einbindung auch nicht-christlicher Religionen und Weltanschauungen aufgrund der rechtsstaatlich-liberalen Grundrichtung der früheren wie der geltenden Bundesverfassung allgemein unstrittig ist. Allerdings stellen sich auch hier Fragen der Anerkennung, der Gleichbehandlung und des Selbstbestimmungsrechtes der Religionsgemeinschaften. Ich umreiße am Beispiel der Schweiz einige allgemein wichtige Aspekte des rechtlichen Rahmens für ethische Diskurse in einer modernen Gesellschaft und füge einige unterscheidende Hinweise zur Entwicklung in Deutschland hinzu. (1) Die Bundesverfassung der Schweiz enthält nur wenige religionsrechtliche Rahmenbestimmungen. Die Näherbestimmungen finden auf kantonaler Ebene statt.51 Die Bundesverfassung (BV) von 1999 enthält in ihrem Grundrechtsteil den Art. 15 zu Glaubens- und Gewissensfreiheit: 1

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. 3 Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. 2

Die Regelung der kollektiven Religionsfreiheit bleibt den Kantonen überlassen (Art. 72 BV). Ihnen steht es frei, ob und welchen Religionsgemeinschaften sie öffentlich49 Auf weitere Formen des öffentlichen Religionsrechts kann ich hier nicht eingehen, insbesondere nicht auf die rudimentären Formen in der „Dritten Welt“. 50 Siehe Christoph Winzeler, Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz, Zürich/ Basel/Genf 2005. 51 Das ist übrigens in den USA ganz ähnlich: Der erste Verfassungszusatz, demzufolge es keine

„established religion“ geben soll, schließt nicht aus, sondern ein, dass die Bundesstaaten auf sehr vielfältige Weise Religionen und Kirchen fördern und begünstigen können. Eine wichtige Klausel war lange Zeit, dass in politische Ämter niemand wählbar war, die oder der nicht an die Existenz eines „supreme being“ glaubte. Zu den einschlägigen Gesetzesregelungen in den USA vgl. Walter, a. a. O., 128–161.

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rechtlichen Status verleihen wollen, ob sie Privilegien wie das Kirchensteuerrecht gewähren oder ob sie Garantien für die Ausbildung der Kleriker übernehmen. In Deutschland hat der Verfassungsgeber 1949 in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mittels Art. 140 die entsprechenden staatskirchenrechtlichen Artikel 135–141 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 inkorporiert. Weitere Artikel des deutschen Grundgesetzes betreffen die Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4), die Vereinigungsfreiheit oder den Religionsunterricht. Man sieht an diesen Bestimmungen, dass die Religionsfreiheit als Grundrechtsgarantie weit über die Glaubens- und Gewissensfreiheit ebenso wie über die Gewährung von Toleranz hinausgeht. Im Unterschied zur stärkeren Betonung der Rechte des Individuums in der Schweiz stellt das deutsche Grundgesetz die kollektive Religionsfreiheit stark heraus. Die Religionsgemeinschaften haben das Recht, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und gemäß ihrem Selbstverständnis öffentlich auf vielfache Weise zu wirken. Diese weitgehende Anerkennung strahlt auch auf Bereiche aus, in denen Staat und Kirche partnerschaftlich zusammenwirken, wie im Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, in der Militär- und Anstaltsseelsorge oder in der Unterhaltung von theologischen Fakultäten. Gleichzeitig verwehrt das Trennungsprinzip dem Staat, sich in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einzumischen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass kaum ein religionsrechtliches System den Kirchen soviel Selbstbestimmung und staatliche Unterstützung zuteil werden lässt wie es auf dem Boden des Grundgesetzes in Deutschland der Fall ist. Vor einigen Jahren hat eine Arbeitsgruppe des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes einen Vorschlag für einen religionsverfassungsrechtlichen Artikel in der Bundesverfassung unterbreitet, der (vielleicht) eine gewisse Angleichung des kantonalen Rechts gebracht hätte, ist damit aber nicht erfolgreich gewesen.52 Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kam neu die verbreitete Angst vor einem religiös motivierten Terrorismus hinzu, so dass man sogar die Befürchtung hören konnte, „dass etwas geeignet [sei], den religiösen Frieden zu stören, nämlich die Erarbeitung eines Religionsartikels“.53 Die Eidgenossenschaft verzichtet mithin (derzeit) auf ein umfassendes, gesamtstaatlich verbindliches Religionsverfassungsrecht und begnügt sich mit Rahmenbestimmungen, die vor allem die individuelle Religionsfreiheit gewährleisten. Ob freilich die Garantie institutioneller Rechte der Religionsgemeinschaften auf Dauer in kantonalen Zuständigkeiten am besten aufgehoben ist, darf man insofern bezweifeln, als die Kantone in sehr unterschiedlicher Weise mit dem modernen religiösen Pluralismus konfrontiert sind und eine kantonal zu uneinheitliche Entwicklung des Religionsverfassungsrechtes nicht unbedingt der allgemeinen Rechtssicherheit dient.

52 Ueli Friederich u. a., Bundesstaat und Religionsgemeinschaften. Überlegungen und Vorschläge für ein zeitgemäßes Religionsrecht in der

schweizerischen Bundesverfassung (SJKR Bh. 4), Bern 2003. 53 Zit. bei Winzeler, a. a. O., 9.

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(2) Ausgangspunkt des kantonalen Religionsverfassungsrechts in der Schweiz ist also das Grundrecht der Religionsfreiheit. Man darf das allerdings nicht als Antithese zu einem an den kirchlichen Institutionen orientierten Recht verstehen; vielmehr greift der Staat in Gestalt mancher Kantone tiefer und energischer in das Recht der Religionsgemeinschaften ein, als dies etwa in Deutschland der Fall ist – von Frankreich ganz zu schweigen. Der Ausgangspunkt bei der Religionsfreiheit schließt dabei ein, dass Behörden und Gerichtsbarkeit sich äußerster Zurückhaltung hinsichtlich dessen befleißigen, was als Religion soll gelten können. So hat Peter Karlen Religion so umschrieben: Als Religion im verfassungsrechtlichen Sinn sind die Bindungen des Menschen zu Gott, zu mehreren Göttern oder sonst zu einem höchsten überirdischen Wesen („être suprême“, „supreme being“), aber auch pantheistische, naturalistische und andere in der Transzendenz gründende Vorstellungen vom Sinn menschlicher Existenz geschützt.54

Das Bundesgericht in Lausanne hat knapp ausgeführt: Unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen Weltanschauungen, soweit sie Ausdruck des Religiösen oder Transzendenten sind und eine Gesamtschau der Welt und des Lebens zum Gegenstand haben.55

Noch knapper fällt der Religionsbegriff des ehemaligen Bundesrichters Jörg Paul Müller aus: Als Glaube ist grundrechtlich jede Beziehung des Menschen zu letztverbindlichen Gehalten geschützt.56

In der Schweiz ist, zumindest in Rechtsprechung und juristischer Lehre, unbestritten, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit auch und in gleicher Weise dort zu respektieren ist, wo es sich nicht um die etablierten Großkirchen handelt, sondern um Minderheiten, die nach ihrem eigenen Glauben leben wollen.57 Dass dabei die Grundrechtsgarantien, die für alle geltenden Gesetze und damit die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Schranke bilden, ist offenkundig. Im Unterschied zu Deutschland, aber in Übereinstimmung mit der rechtlichen Lage in den USA kann sich in der Schweiz auch eine Gemeinschaft wie die sich selbst als „scientology church“ bezeichnende auf die Religionsfreiheit berufen und muss (vermutlich) nicht mit einer Ausforschung durch staatliche Stellen rechnen.58 Ob die 54 Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Zürich 1988, 201. 55 BGE 119 IV 263. 56 Grundrechte in der Schweiz: im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, Bern 31999, 82. 57 Die aktuellen Auseinandersetzungen um den Minarettbau lassen freilich erkennen, dass die Bereitschaft, unter Berufung auf die „Volksrechte“ historisch in der Schweiz nicht beheimatete Religionsgemeinschaften zu diskriminieren, relativ

hoch ist. Vgl. zu dieser Problematik Wolfgang Lienemann, Religionsfreiheit und der Umgang mit religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit, in: Dagmar Heller u. a. (Hg.), „Mache Dich auf und werde licht!“ Ökumenische Visionen in Zeiten des Umbruchs (FS Konrad Raiser), Frankfurt a. M. 2008, 355–361. 58 In Deutschland wird „scientology“ seit Jahren vom Verfassungsschutz wegen des Verdachts, eine Organisation mit totalitären und rechtsstaatsfeindlichen Zielen zu sein, beobachtet. Siehe dazu

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weitgehende inhaltliche Entleerung des juristischen Religionsbegriffs allerdings schon der Weisheit letzter Schluss ist, bezweifle ich. Auf diese Weise könnten nämlich auch Satanskulte, neuheidnische Religionen, manipulative Psychogruppen oder Massen-Phänomene wie Fußball sowie andere Sportarten, die von merkwürdigen Ritualen fanatischer Anhänger begleitet sind, als Gestalten von Religion verstanden werden. Wenn alles, was Menschen als (für sie) „letztverbindliche Gehalte“ ansehen, unter die Religionsfreiheit fällt, dann verliert der Begriff leicht seine Konturen. Auf der anderen Seite geht es freilich darum, die staatliche Definitionsgewalt zugunsten eines Freiheitsrechtes gerade in Grenzfällen wie dem der individuellen Religion und ihres Schutzes zurückzunehmen. Das systematische Grundproblem, das hier zum Vorschein kommt, besteht darin, dass ein säkularer Staat einerseits keine eigene inhaltliche Urteilskompetenz darüber hat oder in Anspruch nehmen darf, was Religion ist – schon gar nicht, was eine „gute“ Religion ist –, dass er aber andererseits die Bürgerinnen und Bürger vor physischen und psychischen Schädigungen und Nachteilen schützen muss.59 (3) Mit Christoph Winzeler und anderen ist es sinnvoll, „Teilgehalte der Religionsfreiheit“ in der Schweiz zu unterscheiden. Als solche sind zu verstehen – der subjektive, individualrechtliche Teilgehalt (Beispiel: Abmeldung vom Religionsunterricht, Verwendung religiöser Symbole), – der objektive, institutionell-konstitutive Teilgehalt (Beispiel: die Gebote der staatlichen Neutralität und Parität), und – der programmatische, staatspolitische Teilgehalt (Beispiele: öffentlich-rechtliche Anerkennung von „Landeskirchen“ durch Kantone oder Betrieb theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten). Die Religionsfreiheit ermöglicht damit durchaus institutionelle Garantien und Förderungen für Religionsgemeinschaften. (4) Im Unterschied zu Deutschland fällt in der Schweiz, zuerst auf bundesstaatlicher, dann auch auf kanntonaler Ebene, die weitaus schwächere Ausgestaltung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes auf. Dass eine Einrichtung in kirchlicher Trägerschaft wie ein Krankenhaus, ein Altersheim oder ein Kindergarten einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter wegen dessen mit den Lehren der Kirche nicht zu vereinbarender Lebensweise kündigen darf (Ehescheidung, Kirchenaustritt), ist im Arbeitsrecht der Schweiz ebenso undenkbar wie ein kircheneigenes Arbeits- und Dienstrecht. unter http://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af_scientology/(24.4.2007). Die Rechtmäßigkeit dieser Beobachtung hat zuletzt das VG Köln mit Urteil v. 11.11.2004 bestätigt. 59 Rechtstechnisch stellt sich hier das Problem der staatlichen Registrierung und Anerkennung (Zertifizierung; nicht zu verwechseln mit öffentlich-rechtlicher Anerkennung). Man könnte argumentieren: So wie ein Staat dafür Sorge tragen

muss, dass sich keine beruflich nicht hinreichend qualifizierten Menschen in Heilberufen betätigen dürfen, so kann er auch die Pflicht haben, bestimmte religiöse Aktivitäten gemäß ihren äußeren, sichtbaren Merkmalen zu beurteilen und notfalls zu begrenzen, natürlich nur innerhalb der menschenrechtlichen Bestimmungen, aufgrund gesetzlicher Bestimmungen und gemäß Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen.

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Teil III Vermittlungen

(5) Die korporative Religionsfreiheit ist in der Schweiz im Sinne des religionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts kantonal sehr unterschiedlich geregelt. Der Bogen unterschiedlicher Ordnungen reicht von strikten Trennungsmodellen wie in Genf und Neuenburg bis zu privilegierenden Autonomiemodellen nach Maßgabe kantonalen Rechts. Vor Jahren gab es in der Ev.-Ref. Landeskirche Bern einen Konflikt um einen homosexuellen Pfarrer, der gemeinsam mit seinem Partner im Pfarrhaus leben wollte. Etliche Gemeindemitglieder nahmen daran Anstoß, und der Synodalrat sah sich zu einer Stellungnahme veranlasst. Darin wurde u. a. daran erinnert, dass niemand aufgrund der sexuellen Orientierung diskriminiert werden dürfe und dass der innerkirchliche Frieden ein hohes Gut sei. Grundsätzlich wurde darauf hingewiesen, dass auch die PfarrerInnen dem kantonalen Dienstrecht unterliegen und dieses die Grenzen für zulässiges Verhalten bestimme; darin sei aber von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gar nicht die Rede. Also habe die Kirche auch keinen oder nur geringen eigenen Handlungsspielraum. Man sieht an diesem Beispiel, dass das kantonale Recht tief in die Entscheidungskompetenzen einer Kirche hineinreichen kann, in diesem Fall zugunsten individueller Grundrechte. Es ist eine offene Frage, ob sich aus diesen rechtlichen Rahmenbedingungen unter Umständen auch Konsequenzen für das innerkirchliche Recht in umstrittenen Fragen wie denen des Zölibats und der Frauenordination herleiten lassen.60 (6) Einen weltweiten Sonderfall stellt die Einordnung der römisch-katholischen Kirche in Bundesstaat und vor allem Kantone der Schweiz dar. Nach ihrem Selbstverständnis ist die römische Kirche eine dem Staat frei gegenüber stehende societas perfecta , die mit dem Staat eine Zusammenarbeit im Dienst am Gemeinwesen pflegt, aber ihre Angelegenheiten in einem umfassenden Sinne selbständig ordnet. Dazu gehört insbesondere die Anwendung der Ordnungsgrundsätze des kirchlichen Rechts, wie es im Codex Iuris Canonici von 198361 niedergelegt ist. Danach ist die Kirche in dem Sinne hierarchisch organisiert, dass die Leitung einer Diözese ausschließlich dem Bischof zusteht. Dieser wird sich natürlich beraten lassen und nicht autokratisch oder willkürlich regieren, aber in allen kirchlichen Angelegenheiten ist er souverän. Das gilt grundsätzlich im Blick auf die Ämterstruktur genauso wie für die kirchliche Finanzverwaltung, Rechtsetzung und -anwendung. Dies ist mit den Grundsätzen einer demokratischen Ordnung schwerlich vereinbar, und darum hat die römisch-katholische Kirche in der Schweiz ein dualistisches System entwickelt, in welchem parakirchliche Organisationen administrative, personelle und vor allem finanzielle Zuständigkeiten haben. Das wäre an sich im Verhältnis zum geltenden kanonischen Recht ein schwerwiegender Eingriff in die korporative Religionsfreiheit, sofern nicht die Bischöfe diesem System ausdrücklich oder stillschweigend zustimmen würden. Im Kern schwelt hier ein Konflikt zwischen 60 Vgl. Denise Buser/Adrian Loretan (Hg.), Gleichstellung der Geschlechter und die Kirchen. Ein Beitrag zur menschenrechtlichen und ökumenischen Diskussion, Freiburg i.Ue. 1999.

61 Lateinisch-deutsche Ausgabe Kevelaer 1983; das Parallelwerk für die mit Rom verbundenen Ostkirchen wurde 1990 promulgiert; französischlateinische Ausgabe Cité du Vatican 1997.

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dem ekklesiologischen Selbstverständnis der römischen Kirche und ihrem kanonischen Recht einerseits, dem Religionsverfassungsrecht der Schweiz andererseits. Dies wird spätestens dann sichtbar, wenn Einrichtungen der parakirchlichen Zweitorganisation für sich selbst in Anspruch nehmen, Kirche im Sinne des CIC zu sein, und, beispielsweise wie im Falle von Bischof Haas in Chur, jetzt Vaduz (Liechtenstein), dem ungeliebten Oberhirten den Geldhahn sperren oder einen Pfarrer im Amt halten, den der Bischof dispensiert hat. Dass diese Konflikte nicht schärfere Formen annehmen, dürfte damit zusammenhängen, dass das derzeitige, kanonistisch problematische System für beide Seiten erhebliche Vorteile bietet. Ob eine Nutzenabwägung auf Dauer besser trägt als eine ekklesiologisch und kirchenrechtlich überzeugende Lösung, bezweifle ich. Man kann fragen, wozu es, abgesehen von klar umrissenen Menschenrechtsgarantien, neben der allgemeinen Handlungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in einem Rechtsstaat noch eine besondere individuelle und kollektive Religionsfreiheit geben müsse. Die Antwort ist einfach: Die Religion stellt einen besonderen und einen besonders wichtigen Bereich menschlicher und das heißt immer auch: gemeinschaftlicher Existenz dar, der als solcher geschützt zu werden verdient. Dies ist aber nur dann grundrechtskonform, wenn dieser rechtliche geordnete Schutzbereich grundsätzlich offen ist für jede Religion, insbesondere auch für besonders schutzbedürftige religiöse Minderheiten. Dass dieser Schutz seinerseits nicht schrankenlos ist, versteht sich nach dem bisher Ausgeführten von selbst. Die genaue Bestimmung dieser Schranken wird vermutlich in den verschiedenen Ländern aufgrund ihrer jeweiligen historischen Entwicklungen durchaus unterschiedlich ausfallen62, aber es wäre viel gewonnen, wenn sich ein Konsens darüber bilden würde, dass jedes nationalstaatliche Religionsverfassungsrecht mit den anerkannten Menschenrechtsstandards vereinbar sein muss, und dass die Staaten eine verbindliche, übernationale Rechtsprechung auf diesem Gebiet anerkennen und befolgen.

2. Kirche und Ethos in evangelischer Sicht In einem rechtsstaatlichen, demokratischen Gemeinwesen ist der politische Streit um Güter, Ordnungen, Verfahren, Positionen und Macht nicht stillgestellt, sondern lediglich rechtlich geordnet. In diesem beständigen politischen Streit einer politischen Bürgergesellschaft um Ziele und Wege haben nach dem bisher entwickelten Verständnis des Religionsverfassungsrechtes auch und nicht zuletzt die Religionsgemeinschaften und Kirchen einen legitimen Ort und unverzichtbare Funktionen. Ob 62 Insofern halte ich es für rechtlich und politisch nicht bedenklich, wenn historisch-kulturell tief verwurzelte Religionsgemeinschaften in einem (Kultur-)Staat besondere Wertschätzung und Förderung genießen, etwa im Bereich der

Schulen. Die Grenzen werden allerdings auch hier letztlich nur menschenrechtskonform sein dürfen, sicher nicht Gegenstand willkürlicher und rechtlich nicht überprüfbarer politischer Entscheidungen.

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und wie sie diese indes wahrnehmen, hängt nicht zuletzt von ihrem Selbstverständnis und dessen reflektierter Darstellung, u. a. in ausgearbeiteten Theologien, ab. Diese sollen nur im Blick auf die christlichen Kirchen in Umrissen entwickelt werden. Analoge Darstellungen aus der Sicht anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wären wünschenswert, können hier aber nicht gegeben werden.

2.1 Das Verständnis der Kirche Das theologische Verständnis der Kirche enthält das Bekenntnis zum Ursprung der Kirche im Willen und Wirken Gottes und die Einsicht in den sozialen, kommunikativen Charakter der Kirche. Die Kirche ist als „Geschöpf des Wortes Gottes“ (creatura verbi divini) Gegenstand des Glaubens und existiert zugleich als sichtbarer sozialer Interaktionszusammenhang. Ihre soziale und rechtliche Gestalt sowie ihr öffentliches Wirken sind Gegenstand und Ergebnis der freien und verantwortlichen Handlungen und politischen Entscheidungen ihrer Glieder, die auf verschiedene Weise an der politischen Kultur und den Gütern einer Gesellschaft teilhaben. Theologie ist eine Funktion der Kirche. Die Voraussetzung und Grundlage der christlichen Theologie im allgemeinen, einer christlich-theologischen Ethik im besonderen sind das Wirken Gottes und seine Selbstoffenbarung in Jesus Christus. Der historisch-gesellschaftliche Boden und Ausgangspunkt christlich-theologischer Ethik ist die Kirche, nicht erst in der Gegenwart im weiten Horizont der Ökumene zu verstehen.1 Diese These von der Zusammengehörigkeit von sichtbarer Kirche und Ethos wird Widerspruch finden und ist erläuterungsbedürftig. Widersprechen 1 Karl Barth hat in einer „kirchengeschichtlichen Erwägung“ am Ende der Einleitung zu seiner Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi eine Art Ortsbestimmung der Kirche in der Gegenwart gegeben (KD IV/3, 18 ff): Auf der einen Seite konstatiert er nüchtern den allmählichen Verlust der „Weltgeltung“ der Kirche in der Neuzeit und die (legitime!) Emanzipation der neuzeitlichen Kultur und Politik von kirchlicher Bevormundung. Auf der anderen Seite stellt er die damit neu gewonnene Freiheit der Kirche jenseits der „Illusion“ eines corpus Christianum heraus. In kräftigen Strichen zeichnet er die Neuentdeckung der libertas christiana bei den Reformatoren nach, spannt den Bogen von der schon im späten Mittelalter weit nach Asien ausgreifenden Mission bis zum Pietismus, Methodismus und religiösen Sozialismus, nicht ohne den radikalen Flü-

gel der Reformation zu würdigen, und endet schließlich mit einer fast verwunderten Schilderung der ökumenischen Bewegung seiner Zeit – „der merkwürdige Ausbruch der Gemeinde in die Welt“ (40,7); dieser Teil der KD wurde 1956/57 vorgetragen, also nach der 2. Vollversammlung des ÖRK in Evanston, 1954, aber vor dem II. Vaticanum. Die Pointe dieser Ausführungen ist ein neues Verständnis der Einigung und Einheit der Kirchen: „in der Einheit von Jesus Christus her als Einigung für ihn , nämlich für die Bezeugung seines Werkes in der Welt und für die Welt“ (38,18). Folgerichtig entfaltet Barth in den ekklesiologischen Aspekten des munus propheticum die „Sendung“ der Kirche in die Welt und für die Welt als eine maßgebliche nota ecclesiae (KD IV/ 3, § 72). Es geht um „das Volk Gottes im Weltgeschehen“ und „die Gemeinde für die Welt“.

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werden viele Menschen beispielsweise der Behauptung, die Kirche – ausgerechnet sie – habe eine besondere, unverwechselbare ethische Aufgabe, sie sei womöglich, wie die römisch-katholische Kirche lehrt, Mutter und Lehrmeisterin – mater et magistra 2 – in allen Fragen des Glaubens wie der Sittlichkeit. Widersprechen muss man doch jedem präzeptorischen Monopolanspruch, widersprechen muss man dem Anspruch und der Anmaßung der Kleriker, die „Weltkinder“ bevormunden zu sollen und zu dürfen. Drei zunächst provozierende Aspekte der Zuordnung von Kirche und Ethos hebe ich hervor: (1) Die Zuordnung von Kirche und Sittlichkeit verstehen viele Zeitgenossen (nicht zu Unrecht) als eine Variante des alten Themas „Kirche und Macht“3 in dem Sinne, dass die Kirche, womöglich sie allein, sich die letztinstanzliche Entscheidungsvollmacht in Fragen der Lebensführung zuerst der Gläubigen, dann aber auch, wenn die Verhältnisse es erlauben, möglichst aller Menschen beilegt oder anmaßt. Die Geschichte der Kirchen war immer auch Machtgeschichte; Kirchengeschichte ist immer auch Ketzergeschichte gewesen.4 Goethe hat die Kirchengeschichte als einen „Mischmasch von Irrtum und von Gewalt“ bezeichnet.5 Angesichts dessen wird sich Widerspruch gegen den Anspruch einer Kirche auf jede übergeordnete Kompetenz in Fragen der Moral und Sittlichkeit im Namen der unveräußerlichen Glaubensund Gewissensfreiheit richten müssen, sei es als Protest einzelner Personen, sei es als die Stimme unterdrückter oder marginalisierter Minderheiten. Die Geschichte des Kampfes gegen die Sklaverei bietet dafür ebenso zahlreiche Beispiele wie der Einsatz der Täufer für ein Ethos der Gewaltfreiheit und ihre teilweise blutige Verfolgung.

2 Vgl. die Enzyklika gleichen Titels von Johannes XXIII. vom 15. Mai 1961 (Text: AAS 53, 1961, 405–447, auszugsweise in: DH 3935–3953). Sie erschien zum 70. Jahrestag der bahnbrechenden Sozialenzyklika Leos XIII., referiert die Lehren der Vorgänger, unterstreicht die Prinzipien der katholische Soziallehre und endet mit dem eindringlichen Aufruf, das Leben der Menschen heilig zu halten (hominum vita pro sacra re est omnibus ducenda – 3953). Zur römisch-katholischen Soziallehre siehe unten Abschnitt 4. 3 Siehe dazu Wolfgang Lienemann, Kirche und Macht. Zum Recht der Kirche in Prozessen der Machtbildung, in: Joachim Mehlhausen (Hg.): Recht, Macht, Gerechtigkeit, Gütersloh 1998, 161–178. 4 Zu Gottfried Arnold (1666–1707) und seinem berühmten Werk Unparteiische Kirchen- und Ketzer-Historie von Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688 (Frankfurt 1699/1700, 2 1729, Schaffhausen 31740–42, Nachdruck Hil-

desheim 1967) vgl. Martin Schmidt, Art. Arnold, Gottfried, TRE 4, 1979, 136–140. 5 Die Stelle lautet genau: Glaubt nicht daß ich fasele, daß ich dichte, Seht hin und findet mir andre Gestalt! Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt. Hamburger Ausgabe Bd. 1, München 1974, 334. Siehe dazu Martin Tetz, „Mischmasch von Irrtum und von Gewalt“. Zu Goethes Vers auf die Kirchengeschichte, ZThK 88, 1991, 339–363, der neben Goethes Arnold-Lektüre besonders seine Auseinandersetzung mit Luther und mit der Dogmengeschichte von J. Ch. F. Wundemann erwähnt; sowie Karl Dienst, Die ganze Kirchengeschichte: Mischmasch von Irrtum und Gewalt, in: Journal of Religious Culture 52, 2002 (im Internet unter: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2007/4998/pdf/relkultur52.pdf: 1.5.2008).

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(2) Widerspruch gilt sodann aber auch der Provinzialität und Beschränktheit eines Ethos, wenn dieses bloß auf den Raum und die Gemeinschaft der Kirche bezogen sein soll. In der modernen, pluralistischen und von Intoleranz aller Art bedrohten modernen Gesellschaft bedarf es hingegen, so sagen viele, einer allgemeinen, verallgemeinerbaren und von jedem Menschen auf vernünftige Weise nachvollziehbaren Moral, nicht aber eines kirchlichen, gruppenspezifischen Ethos mit womöglich irrationaler oder übernatürlicher Begründung. Eine allgemeine und allgemein verbindliche Moral, so wird argumentiert, kann nicht aus einer besonderen, „positiven“ Religion gewonnen werden, sondern nur aus der allen Menschen gemeinsamen Natur oder Vernunft, eventuell aus gemeinsamen Interessen, Werten oder Überzeugungen. Man braucht gerade angesichts der Notwendigkeit einer praktischen und friedlichen Koexistenz der Religionen ein deren Partikularitäten übergreifendes „Weltethos“.6 Dieser Widerspruch gegen die enge Verbindung von Kirche und Sittlichkeit wird also im Namen des säkularen Pluralismus, der Toleranz und der Einheit der Vernunft aller Menschen, unerachtet ihrer Religions-, Kirchen- oder Weltanschauungszugehörigkeit, erhoben. (3) Schließlich kann die These vom Zusammenhang von Kirche und Ethos den Widerspruch provozieren, dass die sozialen und kulturellen Grundlagen für eine derartige Beziehung fehlen oder zunehmend schwinden. Wo ist denn die Kirche, die ein in den verschiedenen Öffentlichkeiten einer modernen Gesellschaft unüberhörbares und die Menschen überzeugendes, vollmächtiges Urteil aussprechen könnte oder dies zumindest ernsthaft versuchen würde? Versteht man unter „Säkularisierung“ vor allem den Bedeutungsverlust der Kirchen in der allgemeinen Öffentlichkeit, dann könnte es scheinen, als finde die Stimme der Kirche immer weniger Gehör. Das ist nicht erst eine Folge der Marginalisierung und (Selbst-)Säkularisierung der Kirchen in kapitalistischen Konsumgesellschaften. Dietrich Bonhoeffer erwartete nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten ein derartiges vollmächtiges Handeln und Sprechen von der wahren Kirche, als er im August 1934 anlässlich der Fanø-Konferenz des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen u. a. sagte: „Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es (sc. ein einmütiges, überzeugendes Friedenszeugnis, WL) so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“7 Wir wissen: Dem ist die ökumenische Bewegung damals nicht gefolgt, so haben die Kirchen 1934 und danach nicht gehandelt und gespro6 Vgl. dazu die Programmschrift von Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990, sowie Wolfgang Huber, Gewalt gegen Mensch und Natur – die Notwendigkeit eines planetarischen Ethos, in: ders., Die tägliche Gewalt. Gegen den Ausverkauf der Menschenwürde, Freiburg/Basel/ Wien 1993, 150–184. Zu der von Küng gegründe-

ten Stiftung „Weltethos“ siehe mit zahlreichen weiteren Hinweisen die Homepage: https:// www.weltethos.org/index.htm. 7 Zit. nach Dietrich Bonhoeffer, London 1933– 1935, hg. v. Hans Goedeking/Martin Heimbucher/Hans-Walter Schleicher (DBW 13), Gütersloh 1994, 301.

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chen, und seither auch eher selten und verhalten. Aber sollte die Kirche Christi nicht so oder ähnlich das zur Sprache bringen, was ihr aufgetragen ist – jedenfalls es versuchen? Und erwarten vielleicht nicht nur die Kirchenmitglieder, sondern erst recht diejenigen „draußen vor der Tür“, dass die Kirche doch so oder ähnlich redet und – vor allem – handelt? Wie die Kirche öffentlich handelt und redet, schweigt und nicht handelt, wird ihr beziehungsweise ihren Gliedern, Gemeinden und Körperschaften zugerechnet. Auch wenn man in rechtsstaatlich verfassten modernen Gesellschaften den Kirchen keine privilegierte Position und Kompetenz in Fragen des Ethos zubilligt, bestehen erhebliche Erwartungen in der politischen Gesellschaft hinsichtlich qualifizierter Beiträge der Kirchen zur öffentlichen Meinungs- und Urteilsbildung in praktisch allen ethisch umstrittenen Problemfeldern. Kirchen werden ausdrücklich oder implizit gefragt, ob und wie sie begründet Stellung beziehen können und wie sie ihre (begrenzte) Handlungsfreiheit in Auseinandersetzung mit den Herausforderungen ihrer Gegenwart wahrnehmen. Nicht die Häufigkeit, wohl aber die Qualität des kirchlichen Zeugnisses in der Öffentlichkeit ist gefragt. Dazu gehört auch die Frage, welche soziale und rechtliche Gestalt eine Kirche oder eine Gemeinde wählt und verwirklicht. Kirchen erfinden und ändern ja in der Regel ihre Ordnungen nicht willkürlich und freihändig; auch in dieser Hinsicht verfügen sie meist über spezifische Handlungsspielräume, deren Wahrnehmung von einer kritischen Öffentlichkeit ziemlich genau registriert wird und die sie sich zurechnen lassen müssen.8 Um dieses Feld der Beziehungen von Kirche und Ethos näher zu beschreiben, soll zuerst an Grundzüge eines heute zu vertretenden evangelischen Kirchenverständnisses erinnert werden, um anschließend die dabei schon implizierten ethischen Aspekte der kirchlichen Wirklichkeit zu erläutern.

2.2 Ekklesiologische Grundbestimmungen und Folgen Konstitution und Bestimmung der Kirche können nach evangelischem Verständnis auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. Dabei sind wenigstens vier Elemente und entsprechende Aussagen unverzichtbar: (1) Der Ursprung der Kirche im Willen und Wirken Gottes, (2) die Geschichte des ewigen Bundes Gottes mit den Menschen, (3) die geglaubte und erfahrene Gegenwart Gottes in Jesus Christus unter den Menschen, sowie (4) die von Gott erwählte, erbaute und gesendete wirkliche, leibhaftige und geistige Gemeinschaft von Menschen. 8 Ich verweise nur auf zwei wichtige Beispiele: (1) Im Blick auf das kirchliche Eintreten für Schutz und Durchsetzung der Menschenrechte ist die Stellung der Frauen in der Kirche ein entscheidender Prüfstein. (2) Im Blick auf soziale

Rechte bzw. arbeitsrechtliche Bestimmungen kommt Fragen wie der betrieblichen Mitbestimmung und garantierten Mindestlöhnen in kirchlichen Beschäftigungsverhältnissen eine Signalwirkung auch nach außen zu.

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Es sind nicht nur Hoffnungen und Erwartungen, die sich von außen an die Kirche richten und die nahelegen, nach dem Zusammenhang von Kirche und Ethos zu fragen, sondern zuerst und zuletzt die Gründe, die sich aus dem Verständnis der Kirche selbst ergeben. Deshalb muss der Zusammenhang von Kirche und Ethos aus einem theologisch reflektierten Begriff der Kirche entwickelt werden. Ursprung, geschichtliche Wirklichkeit und Gemeinschaft sind drei zu unterscheidende Dimensionen, in denen von der Kirche zu sprechen ist. Ihrem Ursprung nach ist sie nicht das Ergebnis eines freiwilligen Zusammenschlusses von Gleichgesinnten nach Art eines Vereins oder Zweckverbandes. Sie ist vielmehr konstitutiv bezogen auf einen lebendigen Grund, nämlich den dreieinigen Gott, der der Kirche in jeder ihrer geschichtlichen Gestalten unverfügbar vorausgeht, sie begleitet, führt und sendet. Die Bibel spricht von diesem Grund und Ursprung in vielen Bildern und Geschichten.9 Diesen Ursprung kennen wir nur in der Mannigfaltigkeit menschlicher Bezeugungen und Gestaltwerdungen in der Geschichte , also nur in irdischer, mehrdeutiger, oft unscheinbarer Gestalt und Gestaltung. Diese Gestalten sind sichtbare soziale Gebilde, leibhafte – und nicht bloß ideelle – Gemeinschaften. In theologischer Lehre kann man diese unverzichtbaren Elemente des Kirchenverständnisses unterschiedlich akzentuieren und hervorheben; es sollte aber keines fehlen.

2.2.1 Ekklesiologische Grundbestimmungen Von der Kirche kann auf vielfache Weise gesprochen werden. Drei Bestimmungen bringen wesentliche, einander ergänzende Aspekte des Verständnisses der Kirche zum Ausdruck: (1) Kirche ist die durch das Wort Gottes begründete Gemeinschaft der Glaubenden. (2) Kirche ist, indem es geschieht, dass Gott sein Volk erwählt, erhält und sendet und in Jesus Christus Juden und Heiden mit sich versöhnt. (3) Kirche ist die in Jesus Christus erschlossene Gegenwart Gottes in einer Gemeinschaft von Menschen. Diese elementaren Bestimmungen10 nennen den Grund und Ursprung, den Vollzug und die Wirkung sowie die Form und die Bestimmtheit eines sichtbaren sozialen Geschehens. Der Grund und Ursprung der Kirche liegt außerhalb dieser Gemein9 Vgl. Jürgen Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, Göttingen 1993. 10 Eine Äquivalenz dieser Sätze ist m.E. dann gegeben, wenn sie als Auslegungen des biblisch bezeugten Ursprungs der Kirche und im Horizont der Geschichte, Gegenwart und Zukunft der lebendigen Kirche verstanden werden. Zur ersten Aussage vgl. Wilfried Härle, Art. Kirche VII. Dogmatisch, TRE 18, 1989, 277–317 (285). Die zwei

anderen Formulierungen beziehen sich auf ekklesiologische Grundbestimmungen Karl Barths; vgl. KD IV/1, § 62 (hier: 728 f), IV/2, § 67, IV/3, § 72. Dass der Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, auch in anderen Gemeinschaften von Menschen sich vergegenwärtigen kann, ist damit nicht aus-, sondern eingeschlossen. Wie das freilich zu denken und zu beurteilen sein mag, ist nicht Gegenstand dieses Buches.

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schaft; sie ist als creatura evangelii passiv konstituiert, d. h. kein Ergebnis allein menschlicher Entscheidungen und Handlungen. Dieser Grund ist Gegenstand der Glaubensbekenntnisse christlicher Kirchen; der Gehalt des Satzes kann nicht zwingend-intersubjektiv für jeden Menschen erwiesen werden. Ihrer äußeren sozialen Form nach ist die Kirche sichtbare Gemeinschaft, sie umfasst also bestimmte Sozialbeziehungen im Sinne sichtbarer, leibhafter Interaktionen. 11 Diese sichtbar-unsichtbare Wirklichkeit der Kirche vermittelt den „Glauben“ im Sinne eines Geschenkes, das Menschen aufgrund eines Handelns Gottes zuteil wird (opus Dei ). Darin sind als weitere Bestimmungsmerkmale der wiederum sichtbaren Praxis des Glaubens Gottesdienst, Zeugnis, Dienstbarkeit und gemeinschaftliche Nachfolge (leiturgia, martyria, diakonia, koinonia) eingeschlossen. Von „Glauben“ ist hier zu sprechen, weil Ursprung, Grund und Wirklichkeit dieses Geschehens nicht unvermittelt und für jeden Menschen einsehbar und nachvollziehbar sind. Aber „Glauben“ ist damit nicht als Gegenbegriff zu Verstand und Vernunft oder als defizitärer Modus von Erkenntnis zu verstehen, sondern bezeichnet die tätige Erkenntnis und Bezeugung Gottes in der oben (Teil I, 3) hervorgehobenen Zueignung und tätigen Wahrnehmung der libertas christiana. Ein angemessenes Kirchenverständnis muss also die Einheit und Unterschiedenheit von theologischen, sozialen und rechtlichen Bestimmungen der Kirche zur Darstellung bringen. Das gehört zunächst, technisch gesprochen, in die systematische Theorie der Kirche, in die Ekklesiologie. Doch wie in allen anderen Teilen der Systematischen Theologie geht es auch hier, bei der Frage, was die Kirche zur Kirche macht, darum, die Bestimmungen von Grund und Wirklichkeit der Kirche immer zugleich in der Richtung der dem Glauben eigentümlichen Praxis zu entfalten. Die Kirche ist Geschöpf des Wortes Gottes, und dieses Wort hat die Kraft, die Praxis der Menschen zu orientieren, zu verändern und zu leiten. Wo Kirche „geschieht“,12 also 11 Die Kirche ist demnach nicht gegeben, wenn Menschen, welcher religiösen Überzeugungen immer, in individueller Distanz und Privatheit verbleiben und einander reale Gemeinschaft verweigern; sie ist auch nicht im Rahmen einer privaten Weltanschauung oder einer Gelehrtenreligion anzutreffen. Überdies ist mit den hier vertretenen Bestimmungen die Anerkennung einer „electronic church“ als Kirche im Vollsinne unvereinbar. Eine ganz andere Frage ist, ob und wieweit mediale Vermittlungen in den Dienst der sichtbaren Gemeinschaft treten können und sollen, d. h. welche technischen Kommunikationsmöglichkeiten eine wirkliche Glaubensgemeinschaft zu nutzen pflegt und wie das zu beurteilen sein mag. Zu den vielfachen Übergängen vgl. Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt a. M. 1998.

12 Ein wichtiges Merkmal der Ekklesiologien Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers liegt in der sorgfältigen Zuordnung von Akt und Sein hinsichtlich der Kirche. Vgl. bei Barth: KD IV/1, § 62.2, 727, 6: „Gerade ihr Akt ist ihr wahrhaftes Sein, gerade ihre Existenz ihre Essenz. Kirche ist, indem es geschieht, dass Gott bestimmte Menschen leben lässt als seine Knechte, Freunde, Kinder, als Zeugen der in Jesus Christus schon geschehenen Versöhnung der ganzen Welt mit ihm . . .“ Vielfach verwendet Barth zur Charakterisierung dieses von Gott durch den Heiligen Geist an, unter und mit den Menschen gewirkten Geschehens den Begriff des „Ereignisses“; vgl. etwa KD IV/1, 721,20; 744,34. So gibt er folgerichtig seiner Interpretation der vier Prädikate (Attribute) der Kirche (in der Formulierung des Nicaeno-Constantinopolitanum von 381) die Blickrichtung auf hier und jetzt mögliche prakti-

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sichtbar in Erscheinung tritt, geht es stets um ein äußerlich sichtbares Verhalten, um ein bestimmtes Ethos. Diese sichtbare Gestalt ist freilich missdeutbar, vieldeutig und irrtumsfähig – nämlich (Gott sei Dank!) menschlich. Als von Menschen zu verantwortende Gestalten leibhafter Gemeinschaft verweisen die sichtbaren Verwirklichungen der Kirche zugleich auf ihren Grund und ihre Bestimmung, welche für eine externe Betrachtung nicht direkt zugänglich und offensichtlich sind. Doch wo die Kirche in der Weise existiert, dass Bestimmtes durch Menschen (in der Kraft des Geistes Gottes) geschieht, da begegnen „Umkehr“ (metanoia), „neues Leben“ und „Wandel im Geist“ (Gal 5).

2.2.2 Die wirkliche Kirche Die verschiedenen Aussagen über die Kirche müssen zugleich den Ursprung, die Bestimmung, die Äußerungen (Handlungen) und Formen (Ordnungen) dieser besonderen Gemeinschaft von Menschen zur Sprache bringen. Die Wirklichkeit der Kirche schließt stets ihr besonderes Ethos und ihre Ordnung ein. Die wirkliche Kirche ist zugleich sichtbar und unsichtbar. Was ist die wirkliche Kirche?13 Karl Barth verwendet diesen Begriff,14 um damit auszudrücken, dass aufgrund des (unsichtbaren, geglaubten) Wirkens Gottes das (sichtbare, beobachtbare) menschliche Wirken veranlasst, hervorgerufen und geleitet wird, und zwar in der bestimmten Weise, dass das menschliche Wirken und Werk dazu dient, das Wirken Gottes in der Geschichte zu bezeugen. Die wirkliche Kirche ist Gotteswerk und Menschenwerk in spannungsvoller, von der belebenden Macht des Geistes Gottes getragener Einheit. Karl Barth hat den für die theologische Ethik zentralen Grundgedanken des Zusammenwirkens von Gott und Menschen konsequent auch in seinem Verständnis der Kirche zur Geltung gebracht.15 Die Kirche ist nicht Selbstsche Konkretisierungen, zum Beispiel hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von „Kirche“ und „Israel“: „Die entscheidende Frage lautet nicht: was kann die jüdische Synagoge ohne ihn (Jesus Christus, WL) sein?, sondern: was ist die Kirche, solange ihr ein ihr fremdes und entgegengesetztes Israel gegenübersteht?“ (749,28) Die Rede von der Kirche als „Ereignis“ bedeutet also nicht, dass Barth die Wirklichkeit der Kirche gleichsam in außerordentliche Situationen oder gar Sensationen auflöst; vielmehr dringt er auf das lebendige Wirklich-Werden der Kirche unter aktivem Mittun der Menschen. 13 Vgl. hierzu Wolfgang Huber, Die wirkliche Kirche. Das Verhältnis von Botschaft und Ordnung als Grundproblem evangelischen Kirchen-

verständnisses im Anschluss an die 3. Barmer These, in: ders., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 1993, 147–168. 14 Siehe besonders KD IV/2, § 67.1, 695–724. Der Leitsatz des § 67 lautet: „Der Heilige Geist ist die belebende Macht, in der Jesus, der Herr, die Christenheit in der Welt auferbaut als seinen Leib, d. h. als seine eigene irdisch-geschichtliche Existenzform, sie wachsen lässt, erhält und ordnet als die Gemeinschaft seiner Heiligen und so tauglich macht zur vorläufigen Darstellung der in ihm geschehenen Heiligung der ganzen Menschenwelt.“ 15 So fragt Barth: „. . . was wäre das Gotteswerk

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zweck, stellt sich nicht selbst (womöglich macht- und prunkvoll) dar, sondern stellt sich selbst, ihr Handeln und ihre Ordnung, in den Dienst Gottes, zu dem sie sich herausgerufen und beauftragt weiß.16 Dabei liegt in Barths Ekklesiologie eine wichtige Pointe gerade darin, dass er nicht eine unsichtbare Kirche des Glaubens einer sichtbaren, empirisch fassbaren Kirche derart gegenüberstellt, das jene die „wesentliche“ Idee, diese aber nur eine „unwesentliche“ Verwirklichungsform wäre. Vielmehr hat er stets daran festgehalten, dass es die sichtbare, unvollkommene, oft zweideutige, immer wieder angefochtene, nicht selten irrende und fragwürdig, ja falsch handelnde Kirche in ihrer geschichtlichen Gestalt ist, die – aufgrund des Wirkens Gottes an und in ihr – dazu bestimmt ist, wirkliche und darin wahre Kirche zu sein und immer wieder neu zu werden. Gegenüber jedem ekklesiologischen Doketismus, wie er ihn etwa bei Emil Brunner nicht zu Unrecht erkannt hat,17 bestand Barth darauf, dass gerade die sichtbare Kirche in ihrer vielfach fragwürdigen Gestalt auf ihre wahre Bestimmung, das Wirken Gottes in Jesus Christus zu bezeugen, angesprochen und behaftet werden darf.18 Das Ethos dieser Kirche kommt nicht erst in einem späteren Entschluss und Vollzug sekundär hinzu, sondern ist in der Existenz und Ak-

der Heiligung, wenn es sich dabei nicht gerade um ein menschliches Sein, Tun und Wirken – sei es denn: um ein menschliches ‚Machen‘, nämlich eben um dessen göttliches Inaugurieren und Beherrschen und Tragen handelt?“, um zu antworten: „Aber das ist klar: Um das von Gott Gewirkte, die Kirche in ihrer Wirklichkeit zu sehen und zu verstehen, wird man an dem Geschehen des göttlichen Wirkens und also konkret: an dem Gotteswerk der Auferbauung der Gemeinde durch den Heiligen Geist keinen Augenblick auch nur beiläufig vorbeisehen dürfen. Die Gemeinde ist freilich ein menschliches, ein irdisch-geschichtliches Gebilde, in dessen Geschichte menschliches Tun vom Anfang an am Werk war und immer am Werk sein wird. Sie ist aber dieses menschliche Gebilde, die christliche Gemeinde, weil und indem Gott in Jesus Christus durch seinen Heiligen Geist in ihr auf dem Plan ist.“ (KD IV/2, 697, 29; Sperrungen bei Barth getilgt) Man beachte die feine, grundlegende Unterscheidung von „Gotteswerk“ und dem „menschlichen Tun . . . am Werk“! Ausdrücklich nimmt Barth auch die paulinische Rede von den Christen als sunergoi heou (Mitarbeiter Gottes) auf (1Kor 3,9): IV/2, 717,34. 16 Barth hat öfter in diesem Zusammenhang zustimmend auf den tridentinischen Catechismus Romanus (I, 10, 2) hingewiesen, um eine Elementarbestimmung von ecclesia ?zu geben: „Sig-

nificat ecclesia evocationem. Die Kirche ist eine auf öffentlichen Aufruf hin zusammeneilende und zusammentretende Gemeinde . . .“ (KD IV/1, § 62.2, 727,37) 17 Vgl. KD IV/2, § 67.4, 769, 9. Barth sieht hier Brunner in der Nähe von Rudolph Sohms Unterscheidung von (unsichtbarer) Geist- oder Liebeskirche einerseits, (sichtbarer) Rechtskirche andererseits, eine Unterscheidung, die für ein institutionenkritisches, individualistisches Glaubensverständnis liberaler Prägung nach wie vor charakteristisch ist. 18 Ähnlich hat Dietrich Bonhoeffer die Sichtbarkeit der Kirche in Raum und Zeit betont, die man nicht zu einer „rein spirituellen Größe“ herabwürdigen darf: Ethik, hg. v. Ilse Tödt/Heinz Eduard Tödt/Ernst Feil/Clifford Green, München 1992, 31–61 (48 f). Bonhoeffer schreibt in diesem Text, ebenfalls Barth vergleichbar, im Blick auf das „Mandat der Arbeit“, es handele sich „um ein mitschöpferisches Tun der Menschen“, um sogleich zu präzisieren: „Es ist keine Schöpfung aus dem Nichts, wie die Schöpfung Gottes, aber es ist ein Schaffen von Neuem aufgrund der ersten Schöpfung Gottes.“ (57) Vgl. zu Luthers Auffassung von einer cooperatio hominis cum Deo in De servo arbitrio und zu Karl Barths Lehre vom concursus divinus die Ausführungen oben in Teil I, 2.3, und 4.3.

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tion der wirklichen Kirche schon mit vorausgesetzt. Wie der Glaube die gesamte menschliche Existenz bestimmt, so ist auch die Kirche immer schon eine durch ein gemeinsames Ethos bestimmte Gemeinschaft.

2.2.3 Folgerungen In drei Grundformen ist die Kirche als soziale Kommunikationsgemeinschaft sichtbar: Sie ist (1) Taufgemeinschaft, (2) Mahlgemeinschaft und (3) Überlieferungsgemeinschaft. Alle drei Formen sind für die Verwirklichung des Ethos dieser Gemeinschaft grundlegend. Den bisher beschriebenen Sachverhalt kann und muss man in mehrfacher Hinsicht präzisieren und konkretisieren. Wenn ich die Kirche in dreifacher Hinsicht als eine Kommunikationsgemeinschaft bezeichne, dann handelt es sich dabei keineswegs um eine rein beschreibende Begrifflichkeit, obwohl sie auch beschreibende Elemente enthält, sondern zugleich um eine Bestimmung, die die Spannung zwischen dem, wozu die Kirche in ihrer sichtbaren Existenz berufen ist, und dem, was sie in dem jeweiligen geschichtlichen Kontext daraus zu machen versucht und vermag.19 Als Taufgemeinschaft bildet die Kirche einen Interaktionszusammenhang, der grundsätzlich den freiwilligen – ungehinderten und ungezwungenen – Beitritt aller ihrer Mitglieder voraussetzt. Zwar ist die Kirche in der Spätantike schon früh von der Erwachsenen- zur Kindertaufe übergegangen, aber die Proteste gegen die Kinder- und vor allem die Säuglingstaufe haben über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Recht herausgestellt, dass es insbesondere in der Taufe um den bewussten und freien Entschluss eines Menschen geht, aufgrund ihres oder seines von Gott bewirkten Glaubens Glied der Gemeinschaft der Gläubigen werden zu wollen. Diese besondere Gemeinschaft wird niemand aufgezwungen; insofern beruht sie auf der unbedingten Freiwilligkeit ihrer Glieder. Zur Mitgliedschaft und zum Ethos der Kirche gehört konstitutiv und unabdingbar nicht nur die Abwesenheit jedes Glaubenszwanges, sondern auch der grundsätzliche Verzicht darauf, einen Menschen gegen ihren oder seinen Willen als Mitglied dieser Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. Die Glaubens- und Religionsfreiheit schließt die Freiheit, keinen Glauben zu haben oder zu 19 Insofern besteht hinsichtlich jeder der drei folgenden Näherbestimmungen der Kirche als Kommunikationsgemeinschaft eine Spannung zwischen dem, was ihr vorgegeben, und dem, was ihr aufgegeben ist, aber auch zwischen Darstellung (Reflexion) und Handlung (Aktion) bzw. zwischen Theorie und Praxis, wobei diese Duale nicht deckungsgleich sind. Der Kommunikationsbegriff ist jedoch elastisch genug und kann sowohl im Sinne kommunikativen Handelns als

auch kommunikativer Operationen verstanden werden. Es ist hier allerdings nicht möglich, das Verständnis der Kirche als Kommunikationsgemeinschaft näher im Verhältnis zu modernen sozialphilosophischen Theorien der Kommunikation zu präzisieren; vgl. besonders Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, sowie Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997, 190–412.

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bekennen, ebenso ein wie das Recht, eine Glaubensgemeinschaft zu verlassen und sich einer anderen oder keinen anzuschließen. Dies alles schließt die Verbindlichkeit einer kirchlichen Ordnung nicht aus, sondern gerade ein, allerdings nur im Blick auf die (freiwilligen) Mitglieder sowie im Bewusstsein, dass jede – äußere – Ordnung menschliches Recht (ius humanum ) ist.20 Zugleich besteht im Blick auf die Errichtung einer kirchlichen Ordnung keine beliebige Wahlfreiheit, sondern die vielfältigen Ordnungsformen sind an der Angemessenheit und Geeignetheit im Blick auf die erwähnten Grundbestimmungen und Grundvollzüge der Kirche zu messen, denn diesen gegenüber hat jede kirchliche Ordnung – von der Ordnung der Liturgie bis zur Ordnung des Finanzwesens – eine dienende Funktion. 1. Die sichtbare Sozialität der Kirche erweist sich zuerst und immer wieder darin, dass sie Taufgemeinschaft ist. So wenig sich ein Mensch das Wort Gottes selbst sagen kann, weil dieses im Hören eines fremden Wortes sich vernehmen lässt (vgl. Röm 10,17: der Glaube kommt aus dem Hören – v pistiß ex akovß), sowenig kann sich jemand selbst taufen. Menschen werden getauft; darum heißt es in lateinischen Liturgien: Sie/er wird getauft (baptizatur beziehungsweise baptizata/us sum/est ). Dies gilt auch und ganz besonders, wenn die Taufe erwachsenen Personen vorbehalten wird, die aus freiem Entschluss die Taufe begehren. Sie entscheiden sich damit für eine Selbstbindung aus Freiheit, deren von ihnen anerkannter und bekannter Grund und Ursprung ihnen voraus liegt, was wiederum Konsequenzen für ihr Handeln und Verhalten hat und haben soll. Auf diese unverlierbare und unaufgebbare Freiwilligkeit des Hinzutretens zu einer Gemeinde sollte die Kirche in den liturgischen Vollzügen der Taufe und der Tauferinnerung ausdrücklich hinweisen. Neben dem Konsens-Prinzip der christlichen Ehe ist das Verbot der Zwangstaufe – im Gegensatz freilich zu vielfachen Missbräuchen in der Geschichte der Kirche21 – für ein christliches Ethos konstitutiv. Hier liegt der Grund dafür, dass die Säuglingstaufe nicht unproblematisch ist22, solange jedenfalls, als die Momente der ungeschuldet-freiwilli20 Eine schwierige Frage ist die der früher sogenannten „Kirchenzucht“ (disciplina ). Die römisch-katholische Kirche kennt im Rahmen ihres Kirchenrechts eine Fülle von Strafbestimmungen und Verfahrensvorschriften (siehe CIC 1983, Buch VI und VII). Protestantische Kirchen tun sich damit in der Gegenwart sehr schwer; so hat die VELKD zwar 2003 neue „Leitlinien kirchlichen Lebens“ (Gütersloher Verlagshaus) veröffentlicht, aber diese „Handreichung“ enthält lediglich einen „Handlungs- und Orientierungsrahmen“ (7), jedoch keine verbindlichen Normen und womöglich Sanktionen. Freikirchen und Pfingstkirchen kennen dagegen bisweilen sehr anforderungsvolle normative Erwartungen; die Sanktionsformen sind überaus reichhaltig. 21 Hier ist in erster Linie die in der Geschichte der Kirche immer wieder begegnende Forderung

an die Juden „Tod oder Taufe“ zu erwähnen. Vgl. dazu meinen Beitrag: Taufe – Mitte und Grenze der Kirche. Zur theologischen Vorgeschichte der neuzeitlichen Taufproblematik, in: Christine Lienemann-Perrin (Hg.), Taufe und Kirchenzugehörigkeit, München 1983, 147–191 (bes. 167 ff) 22 Dass daraus eine neue Gesetzlichkeit entstehen kann, ist nicht auszuschließen. Auch ist es grundsätzlich fragwürdig, wenn bestimmte anthropologische Merkmale (freie, individuelle Entscheidung) zur Bedingung einer Taufe gemacht werden; soll die Kirche dann beispielsweise keine geistig behinderten Personen taufen? Die vielfältigen Probleme um Kinder- und Erwachsenentaufe sowie den Taufzeitpunkt können hier nicht erörtert werden, aber es ist wichtig zu sehen, dass die Taufhandlung in der gemeinsamen Verantwortung durch eine Gemeinde zu vollziehen ist, und

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gen Selbstbindung und der damit einhergehenden Bestimmtheit eines selbst gewählten, spezifischen Ethos durch eine gedankenlose Praxis der Unmündigentaufe verdunkelt werden23 und auch im späteren Leben keine bewusst wahrnehmbaren Entscheidungs- und Bekenntnismöglichkeiten mehr erfahren werden.24 2. Unter dem Aspekt der Bestimmung als Mahlgemeinschaft vermag die Kirche ebenfalls eine bestimmte Sozialgestalt auszubilden, zu der wesentlich die Handlungen und Institutionen der Solidarität (caritas) gehören. Die Teilnahme an der eucharistischen Feier begründet und ist Ausdruck einer grundlegenden Gleichheit der Menschen, die Gott in Jesus Christus erwählt, gerechtfertigt und berufen hat. Diese Gleichheit wird darum auch in konkreten Gemeinschaftsformen sichtbar werden. Ein wichtiger, integraler Bestandteil des Ethos der Kirche sind insofern seit der Antike insbesondere die Werke und Einrichtungen der Diakonie in Gestalt von Spitälern, Fremdenherbergen und vielem mehr. In allen diesen Institutionen kann der in Christus begründeten Gleichheit der Menschen praktischer, für jeden Menschen erfahrbarer Ausdruck verliehen werden. Die im Gottesverhältnis begründete Gleichheit hat insofern stets eine sichtbare soziale und politische Dimension. Das Merkmal der Sozialität im Sinne leibhafter Kommunikationen hat sich im sichtbaren Leben der Kirche von Anfang an in diesem Merkmal der Mahlgemeinschaft gezeigt, freilich auch in vielfachen Konflikten gerade in der Frage nach der angemessenen Verwirklichung, wie vor allem die in den Paulus-Briefen dokumentierten Auseinandersetzungen in der Gemeinde von Korinth erkennen lassen. Die paulinischen Ausführungen zum Herrenmahl25 lassen die „sozialethische“ Bedeutung der zwar nicht zuletzt im Blick auf die in Erinnerung zu rufende, lebenslange Bestimmung eines Menschen durch ihre oder seine (einmalige) Taufe. 23 Hier liegt im übrigen das praktische Anliegen der Tauflehre Karl Barths; vgl. dazu meine Untersuchung, Taufe und Kirchenzugehörigkeit in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, ebenfalls in Lienemann-Perrin (Hg.), Taufe und Kirchenzugehörigkeit, 246–279. 24 Natürlich ist die Taufe auch Ritus (rite de passage) und Familienfeier, Ausdrück religiöser „Bedürfnisse“ und gesellschaftlicher Erwartungen, bürgerliche Tradition und Ausdruck eines Bemühens, nichts, was einem Kind förderlich ist, versäumen zu wollen. Die m.E. gleichwohl nach wie vor berechtigte Kritik an der Säuglingstaufe stellt dies alles nicht infrage, sondern fordert, dass stets über den theologischen und praktischen Sinn der Taufe Rechenschaft gegeben werden muss und dass die liturgische und familiäre Gestaltung einer Tauffeier nach Möglichkeit so geschehen soll, dass diese für den theologischen Gehalt transparent wird und die Freiheit der individuellen Entscheidung zu einem christlichen

Leben dadurch gefördert wird. Das erfordert u. a. ganz praktisch, dass die Gestaltung von Taufgottesdiensten und Tauferinnerungsfeiern eine eminent wichtige Aufgabe des Gemeindeaufbaus und der Gemeindeleitung ist, die nur in Zusammenarbeit von Gemeinde, Kirchgemeinderat und PfarrerIn gut gelöst und rechtlich verbindlich geordnet werden kann. An die Tauferinnerung wiederum kann und wird dann die kirchliche Verkündigung insbesondere dort anknüpfen, wo es um, traditionell gesprochen, die Bewährung der Taufgnade geht, d. h. um die Paränese im Blick auf die möglichen und dringlichen „guten Werke“. Nützliche kirchliche Handreichungen zu aktuellen Fragen: Die Taufe. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche, vorgelegt vom Rat der EKD, Gütersloh 2008; Zur Frage der Wiedertaufe. Überlegungen und Empfehlungen des Rates des SEK, Bern 2004. 25 Vgl. dazu die grundlegenden Studien von Ernst Käsemann, besonders seinen Aufsatz: Anliegen und Eigenart der paulinischen Abendmahlslehre, in: ders., Exegetische Versuche und

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Mahlfeiern unmittelbar hervortreten. In der tatsächlichen Interaktion von sozial Ungleichen, von Wohlhabenden und Habenichtsen, „Starken“ und „Schwachen“ begegnet ein ganz neues Ethos, wie es anderen Religionen zur Zeit des Hellenismus (und weit darüber hinaus) weitgehend fremd war.26 Die für die antike Welt ganz erstaunliche caritas der frühen Christen bildet eine sachlich notwendige, unmittelbare Folgewirkung ihrer Mahlgemeinschaft, deren Mitte die Feier der Gegenwart ihres Herrn ist. Nirgends wird die Einheit von Christusglauben und neuem Ethos so sinnenfällig wie hier. 3. Die Sozialität der Kirche zeigt sich schließlich darin, dass sie Überlieferungsgemeinschaft ist. Man kann auch sagen: Die Kirche ist Auslegungs- und Interpretationsgemeinschaft. Sie lebt aufgrund des biblisch bezeugten und überlieferten Wortes Gottes, seiner Gegenwart und Wirklichkeit. Indem sie immer wieder neu auf das Schriftzeugnis in der aktuellen Verkündigung hört und dessen frühere Interpretationen, innerhalb wie außerhalb der Kirche, als Verstehenshilfen kritisch bedenkt, ist sie eine permanente Interpretationsgemeinschaft. Dabei ist die Interpretation kein Selbstzweck, sie ist kein unendliches Gespräch im Sinne des romantischen SalonDiskurses, sondern sie zielt auf die individuelle und gemeinschaftliche Erschließung der Wahrheit des Evangeliums, dessen Aneignung, Bejahung, Weitergabe und Konkretisierung hier und jetzt. Als Interpretationsgemeinschaft kann die Kirche auf verständliche Kommunikation (Mitteilung, Prüfung, Kritik, Lehre) nach innen und außen nicht verzichten. Bildung und Wissenschaft (nicht allein wissenschaftliche Theologie!), Evangelisation und Mission sind dabei unverzichtbare Institutionen der Kommunikation und dienen der Klärung, Vertiefung und Vermittlung des Glaubens wie des Ethos der Kirche. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb die Kirchen der Christenheit in allen Epochen nicht nur diakonisch aktiv waren und sind, sondern ebenso und gleichzeitig auf den Gebieten der Bildung. Eine für die europäische Geschichte überaus wichtige Konsequenz dessen ist die Institutionalisierung einer akademischen theologischen Wissenschaft an Universitäten. Diese Theologie gibt es freilich nur und solange, als es die gelebte Wirklichkeit des Glaubens gibt. Dass diese Wissenschaft an „weltlichen“ Universitäten und nicht bloß an kirchlichen Seminaren gepflegt wird, unterstreicht die Einsicht der Kirche, dass sie eine unabhängige Wissenschaft als kritisches Gegenüber benötigt.27 Besinnungen I, Göttingen 1960 (41965), 11–34, sowie die Paulus-Studien von Gerd Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 201–317. 26 Siehe dazu Klaus Thraede, Diakonie und Kirchenfinanzen im Frühchristentum, in: Wolfgang Lienemann (Hg.), Die Finanzen der Kirche, München 1989, 555–573; Anne Jensen, Reiche Witwen – arme Jungfrauen? Geld und weibliche Diakonie in der Antike, in: Christoph Sigrist (Hg.), Diakonie und Ökonomie. Orientierungen im Europa des Wandels, Zürich 2006, 85–106;

Matthias Konradt, Gott oder Mammon. Besitzethos und Diakonie im frühen Christentum, ebd., 107–154. 27 Es ist leicht vorstellbar, dass in Zukunft die Freiheit der Wissenschaft an Universitäten eingeschränkt oder untergraben wird, etwa durch deren Steuerung nach Maßgabe externer politischer oder ökonomischer Zwecke. Unter derartigen Bedingungen kann es dazu kommen, dass die Theologie die universitas litterarum um ihrer Sache und um der Freiheit der Wissenschaft willen verlassen muss, wie dies in der Geschichte der euro-

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Die hier gewählte Reihenfolge von Tauf-, Mahl- und Überlieferungsgemeinschaft ist wichtig, denn am Anfang des Geschehens von Kirche steht kein rein kognitiver, sondern ein komplexer symbolischer Akt, im Zentrum steht ebenfalls eine symbolische, leiblich-soziale Realität, die Interpretation – eine Gestalt der Reflexion – indes ist den anderen Vollzügen gegenüber nachgängig und nachträglich.28 Darin ist aber auch sie unverzichtbar: Als reflektierende Überlieferungs- und Interpretationsgemeinschaft ist die Kirche ein aktiv handelndes soziales Subjekt, das sich in der Aufnahme, Prüfung und Weitergabe, kurz: der symbolischen (und darin kognitiven) Kommunikation seiner tragenden Überlieferungen manifestiert. Dabei ist diese leibhaftige Gemeinschaft sowohl nach innen wie nach außen auf sichtbare Wirkungen bedacht. Nach außen bewährt sie sich vor allem in der Weise der uneingeschränkten, öffentlichen Mitteilung und der Rechenschaft (Verantwortung) einerseits, entsprechenden Handlungen und Stellungnahmen andererseits. Schon allein in der Gestalt der kritischen Prüfung und Rechenschaft hinsichtlich der eigenen Reden, Texte und Handlungen sowie auch anderer religiöser Kommunikationen leistet die Kirche als Interpretationsgemeinschaft einen charakteristischen Beitrag zur Herstellung einer kritischen demokratischen Öffentlichkeit. Zu dieser gehören ebenso andere religiös und weltanschaulich bestimmte Gemeinschaften als wichtige, im Rechtsstaat grundsätzlich gleichberechtigte Elemente. Eine Kirche, die sich als Teil einer pluralistischen Gesellschaft versteht und zu ihrer kulturellen und politischen Selbstverständigung beiträgt, ist ein wichtiger Faktor der Selbstaufklärung einer modernen Gesellschaft, und wenn sie es noch nicht ist, so könnte und sollte sie es zumindest werden.29 päischen Universitäten gelegentlich vorgekommen ist. 28 Gerd Theißen, Die Einheit der Kirche, ZMiss 20, 1994, 70–86, hat eine etwas andere Typologie von Religionen als Zeichensystemen vorgeschlagen, indem er drei (universale?) Grundformen unterscheidet: Die Erzählungen (stories) in der Form bestimmter Mythen, die Riten in Gestalt bestimmter Feste, und die Normen (Gebote) im Blick auf die Koordination bestimmter Handlungen. Theißen nennt das (Ur-)Christentum „eine Erzähl-, eine Sakraments- und eine Wertgemeinschaft: mit eigener Grunderzählung, eigenen Riten und einer Lebensform, die in die pagane Antike neue, aus dem Judentum stammende Werte einbrachte“ (73). Ich folge diesem terminologischen Vorschlag vor allem deshalb nicht, weil die Gefahr besteht, die symbolischen, kognitiven und operativen Aspekte aller Kommunikationen nicht nur zu unterscheiden, sondern auch zu trennen. Mit der Betonung der Kommunikationsgemeinschaft versuche ich übrigens auch die Engführung eines Kirchenverständnisses durch die Hervorhe-

bung des Institutions- oder Organisationsaspektes zu vermeiden, also derjenigen Akzentuierungen, die für die älteren kirchensoziologischen Untersuchungen wichtig waren; vgl. dazu auch Eilert Herms, Religion und Organisation (1988), in ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 49–79. 29 Zur heutigen Lage und Aufgabe der Theologie in der Universität vgl. Matthias Krieg/Martin Rose (Hg.), Universitas in theologia – theologia in universitate (FS Hans Heinrich Schmid), Zürich 1997; Hans-Richard Reuter (Hg.), Theologie in der Universität, Heidelberg 1999; Adrian Loretan (Hg.), Theologische Fakultäten an europäischen Universitäten. Rechtliche Situation und theologische Perspektiven, Münster 2004; Wolfgang Lienemann, Probleme der Stellung der theologischen Fakultäten im modernen Staat. Ekklesiologische und rechtspolitische Aspekte, in: SJKR/ASDE 8, 2003, 11–43. Speziell zu Deutschland Martin Heckel, Die Theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat, Tübingen 1986; Alexander Hollerbach, Theologische Fakultäten und staatliche

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Versteht man in dieser Weise die Kirche als soziale, sichtbare Größe in der Einheit von Tauf-, Eucharistie- und Überlieferungsgemeinschaft, dann ist zu fragen, ob die eingangs genannten Widerstände gegen die These von der Zuordnung von Kirche und Ethos aufrechterhalten werden können. Die Widerstände beziehen sich ganz überwiegend auf tatsächlich oder vermeintlich angemaßte Überlegenheits-, Machtund Privilegienansprüche der Kirche in der Gesellschaft. Aber das hier entwickelte Verständnis von Kirche und Ethos schränkt die Freiheit der Menschen und Bürger nicht ein, sondern setzt deren kreative Entfaltung notwendigerweise voraus. Aus dem hier entwickelten Begriff der Kirche folgt nämlich, dass diese, in Treue gegenüber ihrem Ursprung, überhaupt nicht wollen kann, dass auch nur eine Seele ihr gegen deren Willen und Überzeugung angehört oder angehören muss. Wo und soweit hingegen eine Kirche Glaubenszwang anwendet oder gut heißt, wo sie Menschen gegen ihren Willen zum Ein- oder Beitritt zwingt30 oder gegen ihren Willen als Mitglieder beansprucht und festhält, negiert sie sich selbst. Kirchliche Mitgliedschaft kann nur angeboten, niemals aufgenötigt und erzwungen werden. Kirchliche Mitgliedschaft als Teilnahme an einer besonderen sichtbaren Gemeinschaft ist darum allerdings alles andere als unverbindlich, sondern gerade auf (aus freien Stücken selbst gewählte) Verbindlichkeit angelegt – als Selbstbindung und Selbstverpflichtung aus der (relationalen) Freiheit des Menschen,31 der auf das vorgängige, freie Zeugnis des Evangeliums antwortet. Der scheinbare Mangel an Universalität des Ethos der Gläubigen ist in Wahrheit dessen Stärke, denn dieses besondere Ethos will und kann sich entfalten, nicht weil es sich selbst genügt oder von niemand etwas zu fordern verspricht, sondern indem es sich selbst werbend mitteilt, doch zugleich die Annahme dieser Einladung freistellt und nicht zu erzwingen versucht. (Bei diesem Verständnis der Religionsfreiheit ergibt sich folgerichtig die Frage, ob und inwiefern es von anderen Konfessionen, Kirchen und Religionsgemeinschaften geteilt wird oder geteilt werden sollte.) Dies hat auch im Blick auf das Projekt „Weltethos“ praktische Konsequenzen. Ich denke, dass nur Religionen, die aus ihren durchaus partikularen Quellen ihre Kraft schöpfen, in der Lage sind, ihren Grund, ihre Identität und ihre Hoffnungen überzeugend darzustellen und mitzuteilen, ohne sie anderen oktroyieren zu wollen.32 Wer hingegen seine oder ihre Identität so weit wie möglich zurücknimmt und unscheinbar macht, also gerade die anstößigen Glaubenslehren zugunsten eines moraPädagogische Hochschulen, in: HbdStKR, Bd. 2, 2 1995, 549–599 30 So Augustinus mit der berühmten Formulierung nach Lk 14,23 „zwingt sie einzutreten“ (cogite intrare ) an die Adresse der staatlichen Autoritäten im Kampf gegen die Donatisten. Vgl. dazu Wolfgang Lienemann, Gewalt und Gewaltverzicht, München 1982, 96–98. 31 Zum freien Beitritt zu einer Kirche und der damit bekundeten Selbstverpflichtung gehört in der Regel auch die konsequente Pflicht, zur äuße-

ren Erhaltung der Kirche materiell beizutragen, und zwar nach den Regeln, welche die Kirchenmitglieder gemeinschaftlich (durch geeignete Rechtsetzungsverfahren) vereinbart haben und die sie auch, da es sich um ius humanum handelt, erneut ändern können, dies aber nicht willkürlich, sondern wiederum in geordneten Verfahren. 32 Hans-Werner Gensichen hat diesen Gedanken im Blick auf die Beiträge der Religionen zu einem Friedensethos näher entfaltet: Weltreligionen und Weltfriede, Göttingen 1985.

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lischen Mindestprogramms zurücknimmt, hat anderen ja auch nicht mehr viel Eigenes zu sagen – schon gar nicht etwas, an dem noch jemand Anstoß nehmen könnte. Wenn deshalb die Rede von einem „Weltethos“ sinnvoll und zukunftsweisend sein soll, dann nur im Sinne der Erfahrung, des Austausches und der wechselseitigen Anerkennung der eigenen und der fremden Glaubensüberzeugungen.33 Der dritte der oben skizzierten Widersprüche gegen die Zusammengehörigkeit von Kirche und Ethos, der Hinweis auf die vermeintliche oder tatsächliche zunehmende Marginalisierung der organisierten Kirchen in säkularisierten Gesellschaften, erscheint je länger um so weniger plausibel. Es gibt erstens keinerlei Indiz dafür, dass die Überzeugungskraft und Evidenz von Werken und Taten von Gläubigen anhand der Quantität der Mitglieder und Parteigänger gemessen werden könnte. Zweitens sind es historisch gerade immer wieder Minderheiten, „Dissenters“ oder abgedrängte Gruppen gewesen, die ein „radikales“ Ethos gelebt haben – wenngleich auch die zahlenmäßige Kleinheit und der soziale Zusammenhalt minoritärer Gruppen als solche ebenfalls keine sicheren „Beweise des Geistes und der Kraft“ hergeben. Vor allem wird man fragen müssen, ob der unter schillernden Titeln wie „Säkularisierung“ und „Individualisierung“ behauptete, vermeintliche Bedeutungsverlust von Religionen und Kirchen in der Öffentlichkeit eine zutreffende Diagnose darstellt oder ob nicht vielmehr ein weithin vielleicht noch nicht zureichend begriffener Gestaltwandel von Religionen sich vollzieht.34 Unabhängig von solchen strittigen Befunden gilt anscheinend, dass Worte und Taten der Angehörigen einer religiösen bzw. kirchlichen Gemeinschaft vor allem dann zum Nachdenken und Nachfolgen einladen, wenn deutlich wird, dass nicht Interessen und Erwägungen, die vor allem der eigenen Interessendurchsetzung und Bestandserhaltung verpflichtet sind, maßgeblich sind, sondern wenn Kirchen und Religionsgemeinschaften Positionen vertreten und Forderungen geltend machen, die allen Menschen und dem politischen Gemeinwesen insgesamt dienen und zugute kommen sollen – wenn sie „der Stadt Bestes“ suchen (Jer 29,7).

2.3 Die Ausrichtung des Ethos der Kirche Das Ethos der Kirche hat inhaltlich einen klaren Richtungssinn, der zwar in mannigfacher und nach Ort, Zeit und Personen unterschiedlicher Weise konkretisierungsbedürftig ist, aber zugleich in seinem Grundverständnis undialektisch klar und eindeutig ist: Das „Eintreten für andere“ impliziert die konstitutive Bedeutung der Diakonie für das Ethos der Kirche; Parteinahme und Bemü33 Vgl. dazu die Arbeiten von Theo Sundermeier (Hg.), Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik, Gütersloh 1991; ders., Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissen-

schaft, hg.v. Volker Küster, Erlangen 1995; ders., Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996. 34 Zu diesen Fragen vgl. Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003.

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hung um Objektivität und Neutralität angesichts gesellschaftlicher Konflikte schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig; das therapeutische Ethos der Kirche versucht, Rationalität und Barmherzigkeit zu vereinen. Dietrich Ritschl schreibt in seiner Logik der Theologie unter anderem: „Letztlich ‚haben‘ Juden und Christen nicht eine Ethik, sondern sie orientieren ihr Handeln an der Tora, an Erinnerungen und Hoffnungen auf Verheißungen, an der Gegenwart des Geistes Gottes und der Erwartung der Transfiguration. Das Bezugsfeld zur Überprüfung ihrer Entscheidungen ist die Gemeinde.“35 Dies bedeutet nicht, dass die Reichweite dieser Art Ethik soweit reicht wie der Blick vom Kirchturm. Dies bedeutet, dass das besondere Ethos der Kirche immer auf eine besondere Gemeinschaft bezogen ist, und dass es ein oft strittiges mixtum compositum aus überkommenem Ethos und neuen Richtungsimpulsen darstellt.36 Hinsichtlich derartiger Richtungsimpulse gab und gibt es indes in Leben und Geschichte der christlichen Kirchen durchaus klare, weithin geteilte Schwerpunkte, welche wiederum mit den drei genannten sichtbaren Grundvollzügen der Kirche in einem inneren Zusammenhang stehen: (1) Diakonie als „Eintreten für andere“ im denkbar weitesten und mannigfaltigsten Sinn ist die Grundform des Ethos der Gemeinde. Eine Kirche, die die Diakonie aufgibt oder vorsätzlich vernachlässigt, negiert sich genauso selbst, wie wenn sie aufhörte, Gottesdienst zu feiern. Diakonie kann indes ihren Zweck der „Existenz für Andere“ nur erfüllen, wenn sie damit nicht gleichzeitig (vereinnahmende) Nebenzwecke verfolgt. Darum ist ein Merkmal der Diakonie ihre buchstäblich grenzenlose Offenheit. Das hat mindestens in säkularen Gesellschaften häufig die Konsequenz, dass die Werke und Einrichtungen der Diakonie nicht einmal notwendig mit dem Zeichen des Kreuzes versehen sein müssen, sondern auch gleichsam anonym auftreten können, wie etwa bei den „petits frères de Jésus“ in der Tradition der Arbeiterpriester. Aber auch die anonyme und verwechselbare Helferin ist eine Helferin, und wer was in Wahrheit ist, wird ohnehin nur vor den Augen Gottes offenbar.37 35 München 1984, 284. 36 Die Geschichte der Ethik hat selbst eine orientierende und die Gegenwart erhellende Funktion, wenn sie versucht, die Wechselwirkungen von Tradition und Innovation im gesellschaftlichen Kontext systematisch zu erklären und nicht lediglich chronologisch nachzuerzählen. Man könnte diese Wechselwirkungen nach Religionen und Konfessionen noch weiter zu unterscheiden versuchen, indem man (1) einem lehrhaften, einen hohen Verbindlichkeitsgrad beanspruchenden Typ (z. B. in der römisch-katholischen Moraltheologie und Soziallehre) einen (2) auf fallweise Beratung und kritische, situationsbezogene Weiterentwicklung setzenden Typ (z. B.

in der jüdisch-rabbinischen Ethik) gegenüberstellt. Die unterschiedlichen (3) Gestalten protestantischer, gemeinschaftsbezogener Ethik würden danach das Mittelfeld zwischen dem Versuch lehrmäßiger Klarheit und Entschiedenheit einerseits, pluralistischer Offenheit andererseits abdecken. 37 Aus dieser besonderen Zuordnung und Zurechenbarkeit von sichtbarer Diakonie und unsichtbarer communio sanctorum ergeben sich in der Praxis (unter bestimmten rechtlichen Rahmenbedingungen wie in Deutschland) keineswegs einfach zu lösende arbeitsrechtliche Probleme in der konkreten Gestaltung diakonischer Werke; vgl. dazu, vor allem im Blick auf das deutsche Ar-

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(2) Zum Ethos der Kirche gehört, dass sie unter bestimmten Umständen Partei ergreift, wenn ihr selbst dies als notwendig und geboten erscheint – im äußersten Fall: wenn anders das Bekenntnis der Kirche zu ihrem Herrn verleugnet werden würde.38 Davon strikt zu unterscheiden ist die Frage, ob die Kirche selbst Partei sein muss oder kann. Viele Debatten um die politische Verkündigung oder das sogenannte Wächteramt der Kirche kranken daran, dass diese einfache Unterscheidung zweier Auffasungen und entsprechender Aktionsformen der Kirche immer wieder durcheinander gebracht wird. Es ist indes leicht zu sehen, dass nur eine Kirche, die normalerweise die Kraft zur (auch selbstkritischen) Aufklärung und den Mut zu fairer Objektivität hat, in entscheidenden Situationen auch die Kompetenz, den Mut und die Entschlossenheit haben wird, überzeugend Partei zu ergreifen, auch wenn sie sich dann gefallen lassen wird, selbst als Partei wahrgenommen zu werden und auf Widerstand zu stoßen. Wenn eine Kirche hingegen ideologisch befangen und insofern Partei ist , tut sie besser daran, zu schweigen und sich selbst kritisch zu prüfen, bevor sie mit falscher oder gespaltener Zunge redet. (3) Schließlich ist das Ethos der Kirche durchgehend „therapeutisch“, wie besonders Dietrich Ritschl betont hat. Dieser Akzent soll bei ihm auch der verbreiteten rabies theologorum Widerpart bieten, denn die christliche Hoffnung auf ein gelingendes Leben will sich vor allem in einladenden und heilenden Handlungen mitteilen und nicht ohne Not in Abgrenzungen und Widerspruch. Zu einem therapeutischen Ethos gehören dabei mindestens zwei Elemente: eine wohlbegründete, theoriegeleitete und fachkundige Rationalität, das heißt die Rezeption moderner Wissenschaften und ihrer therapeutischen Möglichkeiten, einerseits, und die vorbehaltlose menschliche Zuwendung und Barmherzigkeit andererseits.39 beitsrecht, meinen Beitrag: Kirchlicher Dienst zwischen kirchlichem und staatlichem Recht, in: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaus Schlaich (Hg.), Das Recht der Kirche, Bd. 3: Zur Praxis des Kirchenrechts, Gütersloh 1994, 495– 530. 38 Auf die Problematik eines status confessionis der Kirche vor allem in politicis komme ich unten noch einmal zurück. Sie stellte sich historisch-exemplarisch in der Auseinandersetzung der (evangelischen) Kirche mit den „Deutschen Christen“ und der Tyrannei des Naziregimes, zuerst und in sofort entscheidender Weise in der Frage der Geltung oder Nicht-Geltung des sog. Arierparagraphen (also der Entlassung der jüdischen BürgerInnen aus dem staatlichen Dienst und entsprechender Regelungen der Kirchen nach Maßgabe des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ v. 7.4.1933). Dietrich Bonhoeffer hat seinerzeit dazu sogleich im April-Juni 1933 in entscheidender Weise Stellung

genommen (Die Kirche vor der Judenfrage, jetzt in: Dietrich Bonhoeffer, Berlin 1932–1933, hg. von Carsten Nicolaisen u. Ernst-Albert Scharffenorth [DBW 12], Gütersloh 1997, 349–358) und dabei begründet, dass und inwiefern ein Staat, der eine Gruppe seiner Untertanen rechtlos stellt, sich selbst verneint und die Kirche in den status confessionis zwingt (354). Diese Überlegungen gewannen später in anderen fundamentalen Kontroversen über den Weg der Kirchen in der Nachkriegsgesellschaft in Deutschland neue Aktualität, besonders im Zusammenhang der Fragen der Wiederaufrüstung und atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland oder des Widerstandes gegen das Apartheidregime im südlichen Afrika. In anderen kirchlichen Kontexten hat, wenn ich recht sehe, diese zugespitzte Art ethischer Problemwahrnehmung durch die Kirchen kaum eine vergleichbare Rolle gespielt. 39 Ritschl hat in dieser Hinsicht für eine Konvergenz von „athenischem“ und „jerusalemer“ Erbe

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Ob die Beteiligung der Kirche an gesellschaftlichen Kommunikationen und Institutionen, die für ethische Fragen zentral sind, immer nur therapeutisch sein kann und soll, ist jedoch zu bezweifeln. Denn es gibt auch Situationen, in denen eine kirchliche Stellungnahme Protest, Verweigerung, ja (zivilen) Ungehorsam und Widerstand gegenüber einer gesellschaftlichen Entwicklung, gegenüber staatlichen Entscheidungen, sogar gegenüber einem klar bekundeten Mehrheitswillen in einer rechtsstaatlichen Demokratie zum Ausdruck bringen muss. Wenn eine Kirche kritisch Stellung nimmt, kann das in ihrer eigenen Perspektive durchaus mit dem Anspruch, in „therapeutischer“ Absicht zu intervenieren, verbunden sein, aber keineswegs wird diese Sicht von allen, die es angeht, geteilt werden. Das war jedenfalls im 20. Jh. eine vielfach zu machende Erfahrung, als sich Kirchen gegen jede Form von Rassismus engagierten, und es ist nach wie vor offensichtlich, dass pazifistische Konsequenzen des christlichen Glaubens immer wieder auf scharfe Ablehnung stoßen. Hier muss ich mich mit diesen Hinweisen begnügen; die eingehende Behandlung dieser Fragen gehört in den Bereich der Friedensethik. Selbstverständlich bedarf auch das hier ansatzweise erläuterte Kirchenverständnis weiterer Unterscheidungen. Im Anschluss an Überlegungen von Hans Dombois40 lässt sich die sichtbare Kirche nach wenigstens vier sozialen Grundgestalten näher unterscheiden. Die Kirche begegnet nämlich immer in konkreten Gestalten gemäß Ort, Zeit, Organisation und – vor allem – Personen. Alle diese Strukturen sind rechtlicher, d. h. immer auch öffentlich-sichtbarer Ordnung fähig und bedürftig. Ich unterscheide zwischen den strukturell unverzichtbaren Ebenen (1) der Ortsgemeinde (Pfarrei, Parochie), (2) den Orden, Kommunitäten, Personalgemeinden und besonders geordneten Gemeinschaften, (3) den Landeskirchen oder Diözesen, (4) den kirchlichen Föderationen und schließlich (5) der weltweiten, nur ansatzweise organisierten und organisierbaren Ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen. Diese Einteilung betrifft nicht nur die weltweit organisierten „Großkirchen“, sondern auch kleinere kirchliche Gemeinschaften, auch wenn diese nicht auf allen Ebenen in gleicher Weise repräsentiert sind.41 Man muss weiter differenzieren im Blick auf die vielfältigen Formen des „geistlichen Amtes“, einschließlich der entsprechenden „Weihen“ oder „Ordinationen“. Dabei sprechen gute Gründe dafür, sich an einer traditionellen Dreiheit des kirchlichen „Amtes“ (Diakonat, Presbyterat, Episkopat) zu orientieren, insofern dadurch der schon früh angelegten komplementären Viel-

im Christentum gesprochen; vgl. sein Buch: Zur Logik der Theologie, München 1984, 327 f. 40 Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht, Bd. 2, Bielefeld 1974, bes. 87–102. 41 Zum Beispiel haben manche Kirchen kaum oder wenig Kommunitäten ausgebildet, also in besonderer Weise verbindliche, oft lebenslange Gemeinschaften hervorgebracht. Manche Freikirchen, wie z. B. die Amishen in den USA, sind

selbst am besten als Kommunitäten zu charakterisieren. Man darf hier nicht nur auf die Gestalten der klassischen Orden blicken, sondern muss auch die – nicht zuletzt im Protestantismus – lebendige Vielfalt von Kommunitäten berücksichtigen. Diese Gemeinschaften zeichnen sich insgesamt dadurch aus, dass sie oft Vertreter eines radikalen Nachfolge-Ethos sind, das vielfach in die umgebende Gesellschaft ausstrahlt.

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falt der menschlichen Gaben im Gottes- und Menschendienst der Gemeinde (der „Charismen“) Rechnung getragen wird.42 Die strukturell zu unterscheidenden Ebenen der Kirche und die differenzierten Ämter haben jeweils ganz spezifische Handlungsmöglichkeiten, Kompetenzen und Aufgaben, um der Wahrnehmung der ethischen Verantwortlichkeit der Kirche insgesamt und in ihren Institutionalisierungen und Organisationsformen zu dienen. Erst in den vielfältigen Beziehungen zwischen diesen Gestalten und Ebenen wird die Kirche als Tauf-, Abendmahls- und Interpretationsgemeinschaft konkret sichtbar und bildet dann eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft, in der Glauben und Leben eine unverwechselbare Einheit bilden.43 Diese Einheit gewinnt mannigfache Gestalten in den verschiedenen Bereichen der modernen, differenzierten Gesellschaft. Insofern das Ethos der Kirche unabdingbar zur sichtbaren Existenz der Kirche in der Mannigfaltigkeit ihrer sozialen Formen gehört, kann es gar nicht anders sein, als dass es konfessions- und kontextspezifische Ausprägungen des Verhältnisses von Kirche und Ethos gibt. Einheitlichkeit ist weder möglich noch wünschenswert, Einmütigkeit hingegen sehr wohl. Eine wichtige Aufgabe jeder ökumenischen Ekklesiologie bilden deshalb Analyse, Kritik und Weitervermittlung dieser Gestalten des kirchlichen Ethos.

3. Kirche und Öffentlichkeit 3.1 Die Gemeinde für die Welt Die theologische Ethik ist – im Unterschied zur philosophischen Ethik – konstitutiv auf die Kirche als eine besondere, sichtbare Gemeinschaft von Menschen bezogen. Die Bestimmungen der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der Kirche verweisen darauf, dass die Kirche in der Mannigfaltigkeit der Partikularkirchen, Konfessionen und Kulturen hinsichtlich ihres „Grundes“ und „Hauptes“ eine einzige ist, die durch den dreieinigen Gott geheiligt, weltweit erhalten und gesendet wird. Aus 42 Die Diskussionen über „das kirchliche Amt“ allein im 20. Jahrhundert waren ausufernd, voller ökumenisch wertvoller Einsichten und doch im Blick auf die erstrebte Einheit der Christenheit eigentümlich wirkungslos. Zum aktuellen Stand der Gespräche zwischen römisch-katholischer und evngelischer Theologie siehe die Bände: Theodor Schneider/Gunther Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge. I: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg i.Br./ Göttingen 2004; Dorothea Sattler/Gunther Wenz

(Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge. II: Ursprünge und Wandlungen, 2006. 43 Der Ausdruck „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ war eine wichtige theologische Positionsbestimmung der Kirchen in der DDR; vgl. die Texte in: Zwischen Anpassung und Verweigerung. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Im Auftrag des Rates der EKD hg. v. Christoph Demke/Manfred Falkenau/Helmut Zeddies, Leipzig 1994, 172– 252.

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den Bestimmungen der Katholizität und der Apostolizität der Kirche folgt in besonderer Weise, dass Zeugnis und Dienst der Kirche global öffentlich wirksam werden. Dass Kirchen in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten, öffentlich reden und handeln, sich über alle möglichen Medien an die verschiedenen Öffentlichkeiten einer Gesellschaft wenden, ist bekannt, aber nicht selbstverständlich. Sie könnten auch schweigen, ja, sie werden dazu oft aufgefordert oder gar gezwungen. Kirchen, denen öffentliches Wirken verwehrt ist oder die öffentlich zu wirken nicht einmal bestrebt sind, gab und gibt es. Wohl in allen Epochen der Christenheit hat es Kirchen oder kirchliche Gruppen gegeben, die verfolgt und insofern in die Unsichtbarkeit gedrängt worden sind. Sie wurden dadurch zeitweise aus der Öffentlichkeit verbannt, aber ihr Wille zu öffentlicher Wirksamkeit konnte dadurch letztendlich nie gebrochen werden. Die Untergrundkirchen in China und in der ehemaligen Sowjetunion seien als Beispiele genannt. Im Blick auf das frühneuzeitliche Europa ist auf die taufgesinnten Gemeinden zu verweisen, die lange Zeit, beispielsweise in der Schweiz, zwar verboten waren, aber sich häufig in Randgebiete zurückziehen konnten und nicht behelligt wurden, sofern sie nicht von sich aus an die Öffentlichkeit drängten. Das Thema „Kirche und Öffentlichkeit“ hat sehr viele Aspekte. Es ist vielfach der Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche zugeordnet worden, geht aber weit darüber hinaus, denn es umfasst gleichursprünglich die Stellung der Kirche(n) in der gesamten Gesellschaft.1 Aufmerksamkeit findet das Thema vor allem, wenn es zu Konflikten zwischen Kirchen oder Religionsgemeinschaften und dem Staat oder zwischen organisierten Religionen und anderen gesellschaftlichen Institutionen oder Großgruppen kommt. Wenn Religionsgemeinschaften sich in einer staatlich verfassten Gesellschaft frei entfalten können, wird das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit in der Regel nur selten zum Problem. Anders sieht es aus, wenn in einer traditionell religiös, kirchlich oder konfessionell homogenen Gesellschaft „neue“ Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auftauchen, wie dies vielfach nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Parteiherrschaften in Ost- und Südosteuropa der Fall war,2 oder wenn neuartige, womöglich als aggressiv empfundene missionierende Gruppen aktiv werden.3 Das Verhältnis Religionsgemeinschaft – Staat kann aber von jeder der beiden Seiten beziehungsweise von Vertretern auf beiden Seiten problematisiert werden – typischerweise in zwei Grundformen: Entweder versucht eine Kirche die allgemeine Öffentlichkeit nicht nur zu beeinflussen (was legal und legitim ist), sondern zu manipulieren oder gar zu rechtlich fragwürdigen Zwecken 1 Das hat Wolfgang Huber schon früh betont: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. 2 Siehe dazu die Beiträge in: Wolfgang Lienemann/Hans-Richard Reuter/Iris Döring (Hg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden-Baden 2005. 3 So wurde jedenfalls vielfach die „Vereinigungskirche“ (Mun-Bewegung) eingeschätzt, deren

Oberhaupt und seine Ehefrau in Deutschland von 1995 bis 2006 Einreiseverbot hatten, das danach im Blick auf die Erfordernisse der Religionsfreiheit und der nicht nachweisbaren Gefährdungen für die öffentliche Ordnung aufgehoben wurde; siehe die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 1908/03 vom 24.10.2006.

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zu mobilisieren, oder Kräfte und Gruppen, die öffentlich agieren und im Namen „der“ Öffentlichkeit oder des Staates auftreten, versuchen die Spielräume einer Kirche oder Religionsgemeinschaft in der Öffentlichkeit zu beschneiden. Wie der Begriff der Kirche in sehr unterschiedlichen Perspektiven erscheinen kann, je nach dem, ob man eine soziologische, juristische oder theologische Perspektive hervorhebt, so erscheint auch das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit recht unterschiedlich, wenn man eine dieser Sichtweisen zugrundelegt: Für die theologische Perspektive, bei der ich mich auf christliche Kirchen beschränke,4 ist gewiss entscheidend, dass die Kirchen der Christenheit von den frühesten Anfängen dem Auftrag verpflichtet waren, das Evangelium aller Welt öffentlich zu bezeugen. Der sogenannte „Taufbefehl“ (Mt 28,18–20), der als „Befehl“ sicher missverstanden wird, umfasst vier Elemente: Hinausgehen, Einladen, Taufen und Lehren. Wenn man unter „Mission“ die freie und öffentliche, werbende Mitteilung des christlichen Glaubens versteht, dann ist damit auch schon gesagt, dass das Christentum sich nie als Mysterienreligion mit geheimen Praktiken und Ritualen verstanden hat, sondern bemüht war, sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, nach Möglichkeit sogar im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, wie Paulus auf dem Areopag von Athen (Apg 17,16–34). Christinnen und Christen agieren in der Öffentlichkeit erkennbar, identifizierbar, angreifbar, kurz: für alle sichtbar. Gemäß der oben entwickelten Bestimmung der Kirche als Kommunikationsgemeinschaft gilt, dass die kommunikativen Äußerungen der Kirche in Worten und Taten prinzipiell öffentlich sind. Daraus folgt übrigens ein spezifisch in der Kirche geltendes Grundrecht aller Menschen: Das Recht auf freie, undiskriminierte Teilnahme schlechthin jedes Menschen – Frau oder Mann, Freie oder Unfreie, Einheimischer oder Ausländer, Soldat oder Pazifistin – am christlichen Gottesdienst (was freilich nicht unterschiedslose Teilnahme an allen Vollzügen und Ämtern bedeuten kann5). Der Ursprung dieses Grundrechtes liegt in der unbegrenzten Einladung in die Nach-

4 Wie ich in Teil I schon einleitend erwähnt habe, ist es in der Gegenwart dringend geboten, den Theologiebegriff nicht mehr, wie bisher üblich, allein den Reflexions- und Lehrformen der christlichen Kirchen vorzubehalten. Andere Religionsgemeinschaften haben z. T. erheblich andere Auffassungen von Theologie, sowohl hinsichtlich ihrer Selbstdeutung als auch im Blick auf ihre Außenwirkung, aber eben auch Theologien. 5 Zur kollektiven Religionsfreiheit nach Maßgabe geltender Menschenrechtsstandards (z. B. der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950) gehört, wie oben dargelegt, u. a. das Recht der Kirchen, ihre innere Ordnung einschließlich der Regeln zur Verleihung von Ämtern und Diensten selbst zu bestimmen. Ob und wieweit sie sich dabei wiederum von menschenrechtli-

chen Grundsätzen leiten lassen, können sie (in den Grenzen der für alle Menschen bzw. Bürgerinnen und Bürger geltenden Gesetze) selbst entscheiden. Der Staat zwingt demzufolge keine Kirche, die Frauenordination einzuführen, so wie er keine muslimische Gemeinschaft zwingt, Verschleierungsgebote durchzusetzen, aber die Kirchen, die keine Frauen ordinieren, müssen sich selbst fragen , ob sie das Verbot der Frauenordination aus wirklich zwingenden theologischen Gründen gutheißen können, wenn sie gleichzeitig, ebenfalls aus wohlerwogenen, zwingenden theologischen Gründen, die Geltung der Menschenrechte für alle Menschen einfordern. Dass diese Frage für das biblisch grundgelegte (Gal 3,28) Ethos der Geschlechtergleichheit zentral ist, liegt auf der Hand.

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folgegemeinschaft Jesu, die Zielrichtung liegt in der uneingeschränkten Weitergabe dieses Zeugnisses für alle Welt. In soziologischer und historischer Perspektive erscheint das öffentliche Wirken der Kirche in einem anderen Licht, wobei die besondere Beleuchtung im Laufe der Geschichte vielfach gewechselt hat. Es hat Zeiten gegeben, in denen das Wort „Öffentlichkeit“ sinnvoll nur auf die repräsentativen Selbstdarstellungen der Vertreter „staatlicher“ und „kirchlicher“ Hoheitsmächte angewendet werden konnte.6 „Öffentlich“ waren beispielsweise die großen Feste7 – die Wahl oder Inthronisation eines Kaisers oder Königs,8 eine fürstliche Vermählung,9 ein Turnier, ebenso die hohen kirchlichen Feste mit Prozessionen, die Papstwahlen, die Verleihung der Bischofsinsignien und dergleichen mehr. Dieses Phänomen der Öffentlichkeit unterlag einem vielfachen Strukturwandel; Jürgen Habermas’ Marburger Habilitationsschrift zu diesem Thema10 war eine Pionierarbeit, die in damals ganz neuer Weise sozialgeschichtliche, begriffsgeschichtliche und sozialphilosophische Ansätze zusammengeführt hat. Habermas zeigte, dass „Öffentlichkeit“ im 18. und 19. Jahrhundert ein sozialtheoretischer Grundbegriff ist, der in seinen Verwendungsweisen einen historischen Wandel reflektiert und zugleich einen systematischen Bruch markiert. Denn die bürgerliche Öffentlichkeit übergreift und unterminiert die Klassenschranken des Ancien Régime und deren eingeschränktes Verständnis von „repräsentativer“ Öffentlichkeit, indem sie prinzipiell alle selbständig für ihr Leben sorgenden Menschen – und nicht nur die Angehörigen eines „Standes“ – umfasst und ihre politische Teilnahme einfordert. Diese Öffentlichkeit, ursprünglich vorgebildet in der Versammlung der freien Vollbürger der antiken Polis, soll die Personen, die Weise und den Ort bezeichnen, mittels derer allein noch eine Legitimation des Rechtes und damit rechtlich gebundener, politischer Herrschaft als akzeptabel, dann aber auch als uneingeschränkt zu respektierend erscheint. Die „Form der Publizität“ 6 Siehe hierzu näher Wolfgang Lienemann, Öffentlichkeit und bürgerliche Gesellschaft in der europäischen Tradition, in: ders./Christine Lienemann-Perrin (Hg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart 2006, 51–86. 7 Reiches Material zu einer Kulturgeschichte der Feste findet man bei Walter Haug/Rainer Warning (Hg.), Das Fest, München 1989. 8 Im 5. Buch des ersten Teils seiner Erinnerungen mit dem Titel Dichtung und Wahrheit beschreibt Goethe die Krönung Josephs II., die in Goethes Heimatstadt Frankfurt/Main im Jahre 1764 stattfand. Es ist eine historisch gesättigte und zugleich äußerst kunstvolle Komposition, die genau am Übergang von Jugend und Erwachsenenalter situiert ist und die ganz „private“ Welt – die Gestalt des Gretchen – mit der glänzendsten Öffentlichkeit einer Königskrönung ver-

knüpft. Überhaupt reflektiert Goethes Werk immer wieder die sozialgeschichtlich höchst bedeutsame Konstitution einer spezifisch bürgerlichen Öffentlichkeit im Gegenüber zu den spätfeudalen Öffentlichkeiten von Adel und Kirche. Gleich im ersten Buch von Dichtung und Wahrheit findet sich der Satz: „Man fühlte sich frei, indem man mit dem Öffentlichen vertraut war.“ (Hamburger Ausgabe IX, 11) 9 Vgl. die Darstellung der Festlichkeiten anlässlich der Vermählung der Prinzessin Elisabeth von der Pfalz mit dem Kurfürsten Friedrich V. (dem nachmaligen „Winterkönig“) im Jahre 1613 bei Frances Yates, Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes (1972), deutsche Übs. von Eva Zahn, Stuttgart 1975, Kap.I. 10 Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.

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wird zum Kriterium von Recht und Gerechtigkeit.11 Dies ist das Prinzip der Aufklärung: die freie, ungehinderte, öffentliche Kritik, in einer für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen, ursprünglichen Form als Pressefreiheit ausgebildet, oder, wie Kant sagte, das „Palladium der Feder“.12 Vor diesem hier nur angedeuteten Hintergrund sollte deutlich sein, dass die Problemstellung „Kirche und Öffentlichkeit“ heute nach wie vor auf die zentrale Frage jeder politischen Ethik verweist, welche Rolle die Kirchen – neben und gemeinsam mit anderen Religionsgemeinschaften, Verbänden, Organisationen und Gruppen – (1) in allen Diskursen einer politischen Bürgergesellschaft zu spielen haben, und (2) ob und wie sie in Transformationsprozessen mit dem Ziel der Überwindung repressiver Herrschaftsformen zur Konstitution einer politischen Öffentlichkeit beizutragen vermögen. Die bisherige sozialethische und religionsverfassungsrechtliche Erörterung des Verhältnisses von Kirche und Öffentlichkeit war stark auf europäische und nordamerikanische Verhältnisse beziehungsweise die Situation in entwickelten Industriegesellschaften ausgerichtet, in denen die Kirchen traditionell eine starke öffentliche Stellung hatten. In der neueren Zeit trat zunehmend das Wirken der Kirchen in der Öffentlichkeit in den ehemals kommunistisch regierten Ländern in den Blick, in denen solche kirchlichen Aktivitäten jahrzehntelang brutal verhindert worden waren13, sowie in Ländern der südlichen Hemisphäre, in denen Kirchen zum Teil wichtige Rollen im Zuge von Demokratisierungsprozessen gespielt haben.14 Diese weiteren Perspektiven darf die theologische Ethik im 21. Jahrhundert nicht aus den Augen verlieren.

3.2 Das öffentliche Zeugnis der Kirche in ethischen Fragen Um zu den aktuell dringlichen und den bleibend wichtigen Fragen in Gesellschaft und Staat qualifiziert Stellung nehmen zu können, benötigen die Kirchen ihrerseits fachkundige Beratung, umfassende ökumenische Konsultationen und eine sorgfältige, partizipatorische und methodisch reflektierte innerkirchliche Meinungs- und Urteilsbildung. 11 Immanuel Kant hat deshalb als „transzendentale Formel des öffentlichen Rechts“ den Satz aufgestellt: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ (Zum ewigen Frieden, B 99) 12 Zur damit verwandten Redefreiheit siehe Peter Niesen, Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden 2005 (22008); Winfried Brugger, Kants System der Redefreiheit, in: Der Staat 46, 2007, 515–539. Niesen und ihm folgend Brugger

haben zutreffend drei Arten von Redefreiheit im Anschluss an Kant unterschieden: (1) ein Menschenrecht auf Mitteilungsfreiheit, (2) ein Bürgerrecht auf politische Redefreiheit, (3) ein Weltbürgerrecht auf freien öffentlichen Vernunftgebrauch. 13 Siehe in den Länderstudien jeweils die Abschnitte zum öffentlichen Wirken der Kirchen in: Reuter/Lienemann, a. a. O. 14 Dazu Lienemann-Perrin/Lienemann, a. a. O.

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3.2.1 Beispiele öffentlicher Beratung Dass Kirchen zu Fragen des politischen Gemeinwesens öffentlich Stellung nehmen dürfen und sollen, ist heute im Grundsatz in demokratischen Rechtsstaaten unbestritten.15 Bei den meisten Vernehmlassungen zur Gesetzgebung in der Schweiz werden auch die Kirchen mit großer Selbstverständlichkeit um ihre Stellungnahmen gebeten. In Deutschland entsenden die Kirchen Vertreter ihres Vertrauens in ungezählte staatliche und halbstaatliche Gremien, Ethik-Kommissionen, Rundfunkräte und vieles mehr. In der Regel geben sie sich große Mühe mit der Ausarbeitung ihrer problemorientierten Voten. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und sein Institut für Theologie und Ethik (früher: Institut für Sozialethik) veröffentlichen regelmäßig einschlägige Expertisen, um zur kritischen Urteilsbildung in der allgemeinen und der kirchlichen Öffentlichkeit beizutragen. Mehrere Kammern und Ausschüsse der EKD und ihrer Gliedkirchen erarbeiten regelmäßig Stellungnahmen zu Fragen von großem öffentlichen Interesse. Die klassische Form dessen waren und sind die „Worte“, Kundgebungen, Handreichungen und – vor allem – die „Denkschriften“.16 Dergleichen gibt es in zahlreichen Kirchen vor allem in Europa und Nordamerika, hingegen weit seltener in den Ländern der südlichen Hemisphäre. Im internationalen Zusammenhang haben auch zahlreiche regionale Vereinigungen oder Bünde von Kirchen sowie vor allem der Ökumenische Rat der Kirchen vielfach mit Erklärungen, Konferenzen, Programmen und Schriften unterschiedlichster Art öffentlich zu wirken versucht. Was davon zur Kenntnis genommen, öffentlich diskutiert und schließlich auch praktisch-politisch berücksichtigt wird, ist natürlich eine ganz andere Frage.17 Eine empirisch-sozialwissenschaftliche, medienbezogene Wirkungsanalyse kirchlicher Kommunikationen in sozialethischen Angelegenheiten gibt es bisher nicht, soweit ich sehe. 15 Man sollte sich klar machen, dass diese Situation im Grunde gänzlich neu ist, nämlich im wesentlichen erst ein Phänomen des 20. Jahrhunderts darstellt, und zwar in der Folge der Prozesse einer Entflechtung und Trennung von Staat und Kirche. 16 Siehe dazu den schon klassischen Text des Präses der Synode der EKD und Vorsitzenden der „Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung“, Ludwig Raiser (1904–1980): Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland als Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrages der Kirche (1978), in: ders., Vom rechten Gebrauch der Freiheit, hg. v. Konrad Raiser, Stuttgart 1982, 404–431. 17 Ich stelle immer wieder fest, dass Pfarrerinnen und Pfarrer, ebenso Theologiestudierende, derartige Publikationen entweder nicht kennen oder keine Zeit finden, sie durchzuarbeiten und

in geeigneter Weise in der Gemeinde wie in der weiteren Öffentlichkeit zu vertreten. Es wäre gründliche empirisch-politologische Untersuchungen wert, ob, unter welchen Bedingungen, wann und aufgrund welcher Kommunikationsstrategien kirchliche Voten in verschiedenen Ländern einen nachweislichen, messbaren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse, insbesondere bei moralisch hoch umstrittenen Fragen, genommen haben (Militäreinsätze, Atombewaffnung, Abtreibungsgesetzgebung, Ausländerfragen, Entwicklungszusammenarbeit, Umweltgesetzgebung etc.). Raiser, a. a. O., notierte dazu: „Ein verläßlicher Bericht über die Denkschriften würde empirische Erhebungen voraussetzen, die bisher, soviel bekannt, nirgends in der erforderlichen Breite und methodischen Konsequenz unternommen worden sind.“ (430)

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Im Gedächtnis geblieben sind zumeist diejenigen kirchlichen Äußerungen, welche Konflikte mit dem Staat oder mit großen gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden ausgelöst haben. Ich nenne aus den letzten Jahrzehnten dafür vier Beispiele: – Die Vertriebenen-Denkschrift der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung von 196518 – Das Antirassismus-Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen seit 196919 – Die „Handreichung“ der Nederlandse Hervormde Kerk Kirche und Kernbewaffnung von 197920 – Den „Hirtenbrief“ der US-amerikanischen Bischöfe der römisch-katholischen Kirche Economic Justice for All. Catholic Social Teaching and the U.S. Economy von 198721 Bei allen großen Unterschieden haben diese Dokumente gemeinsam, dass sie versuchen, aus einer spezifisch christlich-theologischen Sicht in die allgemeine öffentliche Diskussion über nationale und internationale Schlüsselprobleme argumentativ und beratend einzugreifen. Um das zu ermöglichen, müssen zahlreiche Vorbedingungen erfüllt sein: (1) Die jeweilige Kirche bedarf eines theologisch begründeten Selbstverständnisses, für das derartige öffentliche Stellungnahmen zum Wesen und Auftrag der Kirche gehören und kein Allotria sind. (2) Sie muss bereit und fähig sein, entsprechende Studien anzuregen und in Auftrag zu geben sowie die erforderlichen Konsultationsprozesse mit zahlreichen Fachleuten und Interessierten zu organisieren. (3) Sie muss in der Lage sein, die Ergebnisse eines oft kontroversen Beratungsprozesses zu einem konturierten Beitrag zur öffentlichen Urteilsbildung zu bündeln und sowohl intern als auch extern öffentliche Debatten anzuregen. (4) Eine hinreichende Legitimation des jeweiligen Meinungs- und Urteilsbildungprozesses bis zur Kompetenz, über eine (autorisierte) Veröffentlichung zu entscheiden, ist unabdingbar. (5) Dies alles ist unmöglich ohne hinreichende personelle und finanzielle Kapazitäten, die entsprechende Infrastruktur und eine allmählich sich entwickelnde Kultur der kirchlichen Beteiligung an den Diskursen der politischen Bürgergesellschaft. Für den besonderen Fall kirchlicher Stellungnahmen in Deutschland ist schließlich (6) bemerkenswert, dass zahlreiche dieser Dokumente zustande kamen, obwohl die beteiligten Autorinnen und Autoren von sehr unterschiedlichen theologischen Ausgangspositionen herkamen und durchaus unterschiedliche politische Präferenzen hegten. Der Versuch, sowohl die Problem- wie die Gemeinwohlorientierung dabei 18 Vgl. Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973, 380–432. Im September 2005 erinnerten die EKD und der Polnische Ökumenische Rat sehr zu Recht an diesen bei seinem Erscheinen äußerst umstrittenen Text: http:// www.ekd.de/presse/pm168_2005_ekd_poer_ostdenkschrift.html (23.5.2008). 19 Kurzinformation: Baldwin Sjollema, Art. Programme to Combat Racism, in: Dictionary of the Ecumenical Movement, Geneva 22002, 935–937.

20 Deutsch von Hans-Ulrich Kirchhoff, Neukirchen-Vluyn 1981. 21 Deutsch: Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle. Es existieren unterschiedliche deutsche Fassungen. Eingehend dazu Heinrich BedfordStrohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 41–122.

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stark zu gewichten, scheint die Konsensfindung erleichtert zu haben. Im übrigen hat es sich nie als falsch erwiesen, weiter bestehende Gegensätze klar und scharf zu markieren – auch das fördert die ethische Urteilsbildung. Die römisch-katholische Kirche hat in Sachen der öffentlichen Kommunikation ihrer Soziallehre eine weit längere Tradition, die in Form der Enzykliken schon im 18. Jahrhundert beginnt und mit der Sozialenzyklika Papst Leo’s XIII. Rerum Novarum vom 15. Mai 1891 einen frühen Höhepunkt erreicht hat. Die evangelischen Kirchen in den deutschsprachigen Ländern haben die regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Debatten erst nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisiert. Ausgehend von der im schon erwähnten Loccumer Vertrag vom 19. März 1955 erwähnten „Übereinstimmung über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und ihre Eigenständigkeit“22 sind in Deutschland überaus zahlreiche kirchliche Denkschriften erschienen. Neben der schon erwähnten Ost-Denkschrift erfuhren vermutlich die Friedensdenkschriften der EKD die breiteste Resonanz.23 Die grundsätzliche Frage, ob, wie und in welcher Form sich die Kirche zu aktuell umstrittenen (politischen) Problemen äußern soll, wird regelmäßig kontrovers diskutiert. Weithin zustimmungsfähig ist dabei jene auf Richard v. Weizsäcker zurückgehende Formulierung, dass die Kirche nicht selbst Politik machen, sondern Politik möglich machen soll. Das war seinerzeit aus der Erfahrung einer aktiven Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren geschrieben, die zur Überwindung des Kalten Krieges beizutragen versuchte und die die großen Kirchen, gegen starken gesellschaftlichen Widerstand, mit angestoßen hatten. Aber man kann auch wissen, dass Situationen eintreten können, in denen man allein mit dem Grundsatz „Rat geben – nicht bevormunden“ nicht durchkommt.24 Dann stellt sich die viel debattierte Frage, ob es für die Kirche auch in Fragen des (vor allem politischen) Ethos die Notwendigkeit geben kann, sich verbindlich und definitiv urteilend zu äußern – ob es einen „Bekenntnisfall“ (auch) in ethischen Dingen geben kann (siehe unten, 3.3).

3.2.2 Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften Die Aufmerksamkeit richtete sich in der Vergangenheit beim Thema „Kirchen und Öffentlichkeit“ auf die großen Herausforderungen und Kontroversen in Politik und Wirtschaft, auf Widerstand und Solidarität in Verfolgungssituationen, auf den Kampf gegen Unrechtsregime und repressive Strukturen. Beispiele wurden oben 22 Dazu näher Götz Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen. Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht, Tübingen 2000. 23 Die Resonanz ist naturgemäß am stärksten, wenn eine Denkschrift sich auf aktuelle politische Kontroversen bezieht. 1970 erschien als eine Art rechtfertigende Begründung ein Text über Aufga-

ben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen (die sog. „DenkschriftenDenkschrift“; Gütersloh). 24 Die zurückhaltende Maxime stammt von Hermann Barth, Art. Öffentlichkeitsanspruch der Kirche (Th), in: EvStL Neuausgabe Stuttgart 2006, 1663–1669 (1668).

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kurz erwähnt. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die Brennpunkte deutlich verschoben. Seit der globalen Wende der späten 1980er Jahre sind zahlreiche Regime zusammengebrochen, gegen die bis dahin Kirchen und andere Religionsgemeinschaften gemeinsam gekämpft hatten.25 Auf den Trümmern der alten entstand eine neue Ordnung. Ehemalige Befreiungskämpfer übernahmen die Regierungsgeschäfte. Aber viele der alten Probleme erwiesen sich als hartnäckig und blieben auch unter den neuen Bedingungen ungelöst. Nach einem seither wieder viel zitierten Vers von Bertolt Brecht folgten auf die „Mühen der Gebirge“ die „Mühen der Ebenen“. Hier setzten sowohl die neuere politikwissenschaftliche Transformationsforschung als auch eine neue sozialethische Forschungsrichtung unter dem (nicht neuen) Titel einer „public theology“ ein.26 Unter „Transformationsgesellschaften“ in einem präziseren Sinn verstehen heutige Sozialwissenschaftler vor allem Gesellschaften, die sich im Übergang von einer repressiv-diktatorischen Herrschaft zu einer rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung befinden.27 Meist wirkt die autoritäre oder totalitäre Phase stark nach; eine derartige Vergangenheit lässt sich nicht einfach abtun.28 Rechtsstaatlichkeit und demokratische Verfahren lassen sich nicht einfach transplantieren. Die neuere Transformationsforschung wurde durch die Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Parteiherrschaften in Europa ebenso angestoßen wie durch die Tatsache, dass es in einigen Staaten der südlichen Hemisphäre Prozesse gab, in deren Verlauf Unrechtsregime überwunden oder abgelöst werden konnten – das Ende der Apartheid in Südafrika und anderer, militärisch gestützter Regime wie in Brasilien oder Chile sind die bekanntesten Beispiele. Gleichzeitig wurde in vielen Kirchen in liberalen Gesellschaften zunehmend gegen die bürgerliche Vorstellung, Religion sei (bloß) Privatsache, Widerstand laut. Es verbreitete sich das Bewusstsein, dass es notwendig sei, für Kirchen und ihre Reflexionsformen wie die Theologie einen neuen Ort in der öffentlichen Sphäre zu finden, einen Ort, der nicht mehr definiert ist durch die (Gegen-)Abhängigkeit von (illegitimen) Herrschaftsträgern, sondern durch die kritische Teilnahme an Prozessen des politischen und sozialen Aufbaus. Vielfach erwarteten die neuen Herrschaftseliten jedoch von ihren einstigen (kirchlichen) Kampfgenossen aus dem Befreiungskampf solidarische und dabei vor allem kritiklose Unterstützung. Die durch die Ein25 Ich erinnere mich sehr gut an Seminare, die meine Frau und ich 1991 an der Universität von Pietermaritzburg (Provinz Kwa Zulu/Natal, Republik Südafrika) gehalten haben, an denen Studierende christlichen, hinduistischen und muslimischen Glaubens aus mehr als einem Dutzend religiöser Gemeinschaften teilgenommen haben; in Fragen politischer Ethik einte sie der Kampf gegen den gemeinsamen Gegner. 26 Vgl. William Storrar/Andrew R. Morton (Hg.), Public Theology for the 21st Century, London 2004.

27 Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999. 28 Deshalb sind in vielen Transformationsgesellschaften Kommissionen berufen worden, die sich mit dem Erbe von Unterdrückung und Widerstand auseinandersetzen sollen; ein weithin bekannt gewordenes Beispiel ist die südafrikanische „Truth and Reconciliation Commission“ (TRC); siehe zu diesen Benühungen Gerhard Beestermöller/Hans-Richard Reuter (Hg.), Politik der Versöhnung, Stuttgart 2002; Lukas H. Meyer, Historische Gerechtigkeit, Berlin/New York 2005.

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deutigkeit eines gemeinsamen Gegners erleichterte gemeinsame Front zerbrach vielfach in einen Pluralismus von Optionen und Fraktionen. Unter diesen Voraussetzungen entstanden die neuere Transformationsforschung29 ebenso wie die neuere „public theology“.30 Dabei galt und gilt besondere Aufmerksamkeit Fragen wie diesen: – Wie entwickeln sich Institutionen und Verfahren der politischen Bürgergesellschaft (Zivilgesellschaft) in Transformationsprozessen? – Welches sind die wichtigsten, universalisierbaren Kriterien politischer Legitimität? – Welche Bedingungen sind ausschlaggebend für einen möglichst gewaltfreien Systemwandel? Für die Handlungsspielräume der Menschen, die sich politisch beteiligen, ist, abgesehen von den elementaren Überlebensbedingungen und der Sicherung der Grundbedürfnisse, in allen Systemen entscheidend, wie sie sich organisieren und in der Öffentlichkeit artikulieren können. Öffentlichkeit und politische Bürgergesellschaft sind zwei Seiten derselben Medaille; wie die entsprechenden Strukturen und Prozesse sich entwickeln, entscheidet darüber, ob ein Rechtsstaat mit demokratischen Verfahren gebildet und stabilisiert werden kann. Rechtsstaatliche Institutionen können vermutlich nirgends erfolgreich von außen eingesetzt oder gar oktroyiert werden; sie müssen sich aus politischen Prozessen, nach Maßgabe der Interessen der Menschen und ihren Verständigungsversuchen herausbilden. Eine möglichst umfassende Partizipation und möglichst geringe Manipulationsmöglichkeiten der öffentlichen Meinungsbildung sind dabei nicht unwichtig. Dies alles ist in Transformationsgesellschaften, die sich aus einer mehr oder weniger langen Periode der externen und internen Repression herauszuarbeiten versuchen, ein ungemein schwieriger und unsicherer Prozess. Unter den vielen Akteuren der politischen Bürgergesellschaft, die sich in derartigen Transformationsprozessen einmischen, gehören die Kirchen zu den wichtigsten, weil sie, zumindest wenn sie gut beraten sind, nicht einseitige Interessen, sondern das „Gemeinwohl“ vertreten.31 Das wird man angesichts der Marginalisierung der 29 Siehe dazu den Band Lienemann-Perrin/ Lienemann, a. a. O., in dem sechs charakteristische Transformationsgesellschaften und die jeweiligen Rollen der Kirchen untersucht werden. Die Beispiele sind zwei sehr erfolgreiche Transformationsprozesse: Brasilien, Südkorea; ein nach wie vor stark problembelastetes Beispiel: Südafrika; drei immer noch prekäre Beispiele: Mocambique, Philippinen, Indonesien. In den Fallstudien wird jeweils in besonderer und vergleichender Perspektive die Rolle der Kirchen und kirchlichen Gruppen (z. B. der Frauen) in der Zivilgesellschaft untersucht, ihr Handlungsspielraum, ihre Organisationsformen, internen und externen Un-

terstützer etc., und dabei wird durchgehend nach den handlungsorientierenden theologisch-sozialethischen Leitvorstellungen gefragt. 30 Vgl. zu den Anlässen das Editorial der neuen Zeitschrift International Journal of Public Theology, Heft 1/2007. 31 Der Begriff des Gemeinwohls ist im politischen Meinungskampf zweifellos vielfach missbraucht worden, aber schlussendlich als Inbegriff der normativen Perspektive eines (möglichst) unparteiischen moralischen Beobachters und Beraters unverzichtbar. Die römisch-katholische Soziallehre hat sich stets darum bemüht, das Konzept des Gemeinwohls für Gerechtigkeitstheorien

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Kirchen im „alten“ Europa und der damit einhergehenden (Selbst-)Säkularisierungsschübe vielleicht nicht ohne weiteres erwarten, aber dieser Befund gilt für weite Teile der heutigen Welt, auch wenn politologische Forschungen davon lange nicht hinreichend Kenntnis genommen haben.32 Von Kirchen bzw. organisierten Religionsgemeinschaften wird nicht nur materielle Unterstützung in Notlagen erwartet, sondern geistige Orientierungshilfe, politische und wirtschaftsethische Kompetenz sowie die Bereitschaft und Fähigkeit, öffentlich in Kontroversen Position zu beziehen angesichts der akuten Globalisierungsprozesse. Offenkundig sind dafür die institutionellen Rahmenbedingungen extrem unterschiedlich, aber die sich stellenden Aufgaben, Chancen und Gefahren zeichnen sich deutlich ab. Ich möchte hier nur eine kleine Typologie vorschlagen: (1) In den liberalen Rechtsstaaten, die insgesamt immer noch eine Minderheit der Staatenwelt darstellen, haben die Kirchen insgesamt eine kritisch-loyale Beratungsfunktion in öffentlichen Prozessen wahrnehmen können, wie sie oben für Mitteleuropa kurz beschrieben worden sind. Ihre Stellungnahmen stellen im allgemeinen keine spektakulären Voten dar, überschreiten nur selten den Rahmen des publizistischen „mainstreams“ und sind oft deutlich erkennbar das Ergebnis eines Konsenses zwischen divergierenden Auffassungen. Ich kritisiere das nicht, denn auch die Kontinuität verlässlicher Auffassungen ist wertvoll. Wichtig ist aber, dass Kirchen – wie andere Religionsgemeinschaften auch – in gesellschaftlich hoch umstrittenen Fragen bisweilen in der Lage sind, politisch blockierte Diskussionslagen zu öffnen. So im Falle der deutschen Ostpolitik, so in manchen europäischen Kirchen in den Fragen der Liberalisierung der herrschenden Sexualmoral, so in der begrenzt erfolgreichen, aber im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Gruppen doch nicht wirkungslosen Sensibilisierung für die Notwendigkeiten und Chancen der Entwicklungszusammenarbeit oder der Umweltpolitik im Sinne einer „nachhaltigen Entwicklung“, die diesen Namen verdient.33 Die Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit ist unter diesen Bedingungen überwiegend anerkannt, unspektakulär, eher zurückhaltend als polarisierend, aber in strittigen, vor allem lebenswichtigen Grenzfragen – z. B. wenn es um das Leben und Recht der Menschen geht – unverzichtbar. (2) In wenigstens formalen, aber tatsächlich höchst prekären Rechtsstaaten wie Russland sind die Lage der Kirchen und ihre Beiträge zu öffentlichen Diskursen von völlig anderer Art. Die meisten orthodoxen Kirchen haben wenig bis keine Erfahrung bezüglich der kirchlichen Beteiligung an öffentlichen, kritischen Diskursen, auf allen Ebenen – lokal, regional, global – festzuhalten und zu operationalisieren. Vgl. dazu Christian Kissling, Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Ein Vergleich von traditioneller Naturrechtsethik und kritischer Gesellschaftstheorie, Freiburg i.Ue./Freiburg i.Br. 1993. 32 Siehe aber José Casanova, Public Religion in the Modern World, Chicago 1994.

33 Vgl. dazu Wolfgang Lienemann, „Sustainability“ in Ökumene und Theologien, in: Nachhaltigkeitsforschung – Perspektiven der Sozial- und Geisteswissenschaften, Redaktion Ruth Kaufmann-Hayoz/Paul Burger/Martine Stoffel, Bern 2007, 99–122.

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und zwar nicht nur als eine Folge jahrzehntelanger Unterdrückung, sondern auch aufgrund traditioneller Staatsnähe und der Betonung der wünschenswerten „symphonia“ zwischen Staat und Kirche. Es gibt Ausnahmen wie das traditionell multikonfessionelle Rumänien, aber Ansätze zu einer kritischen Sozialethik sind auch dort eher selten.34 Zu beobachten ist zudem seit einigen Jahren, dass die Stellung der Laien in etlichen verschiedenen orthodoxen Kirchen geschwächt worden ist.35 Kirchliche Traditionen, rechtliche Rahmenbedingungen, Erfahrungen politischer (Nicht-)Partizipation, innerorganisatorische Probleme und viele andere Faktoren entscheiden darüber, ob und wie Kirchen an den Prozessen der politischen Bürgergesellschaft teilnehmen. Derzeit sieht es überwiegend nicht so aus, als würden die orthodoxen Kirchen eine treibende Kraft emanzipatorischer Transformationsprozesse sein. Aber das kann sich ändern. (3) Einen wichtigen Typus bilden Länder, meist traditionell nicht christlicher Prägung, in denen christliche Kirchen in einer Minderheitssituation sind. Hier reicht die Spannweite von völligem politischen Quietismus bis zur überaus aktiven Teilnahme an Prozessen politischer und ethischer Kommunikation. Die jeweilige Konstellation ist meist abhängig von der Art der herrschenden Mehrheitsreligion und natürlich von den staatlich-politischen Vorgaben. Christen in Südkorea spielten und spielen eine bedeutende Rolle in der öffentlichen Kommunikation, unter Einschluss pointierter eigener Stellungnahmen, während sie im Iran, jedenfalls vor dem III. Golfkrieg, anerkannt geduldet waren, sich aber still hielten. (4) Hiervon zu unterscheiden ist der Typus jener Länder vor allem der südlichen Hemisphäre, in denen, wie erwähnt, Kirchen während der Kolonial- und Nachkolonialzeit eine wichtige Rolle im nationalen Befreiungskampf gespielt haben und nunmehr darum bemüht sind, ihren spezifischen Beitrag im Prozess des (Wieder-)Aufbaus zu erbringen. Manche Christen ziehen sich in der neuen Lage in die Privatsphäre zurück; andere sind zu Berufspolitikern geworden, mit schwächeren kirchlich-institutionellen Bindungen. Als organisierte Größe in der unübersichtlichen Welt der Nicht-Regierungs-Organisationen zu agieren, fällt dann oft schwer. Ich vermute, dass in derartigen Lagen die Teilnahme an öffentlichen Bildungsinstitutionen und damit eine Art indirekter Beitrag zur politisch-moralischen Kommunikation angemessen sind. (5) Schließlich sind die weltweit am stärksten wachsenden Gruppen der Christenheit zu nennen, die Pfingstkirchen (pentecostals). Soziologisch gesehen lassen sie 34 Das gilt für die meisten orthodoxen Kirchen, wie die entsprechenden Abschnitte in den Länderbeiträgen in Lienemann/Reuter, a. a. O., zeigen. Die Russische Orthodoxe Kirche hat indes im Jahre 2000 ein höchst beachtenswertes Dokument ihrer Synode verabschiedet: Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Deutsche Übersetzung mit Einführung

und Kommentar hg. v. Josef Thesing/Rudolf Uertz, Sankt Augustin 2001. Man kann und muss freilich fragen, ob und wieweit und für wen dieser Text verbindlich ist. 35 Zuverlässig und kontiuierlich berichtet darüber die Zeitschrift Glaube in der zweiten Welt (G2W), Zürich.

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Teil III Vermittlungen

sich nicht einem bestimmten Typus zuordnen; ihre Vielfalt ist außerordentlich groß. Pfingstler in der Schweiz oder in Nigeria oder in China haben zwar durchaus Gemeinsamkeiten in Frömmigkeitsstil und Verhalten, aber nicht unbedingt in ihren politischen Optionen und sittlichen Überzeugungen. Gleichwohl zeichnen sich viele a) durch eine unverkennbare Nähe zu politischen und moralischen Positionen der „neuen Rechten“ aus, mit entsprechenden Unterstützungen für rigorose gesetzliche Abtreibungsverbote oder autoritäre Führergestalten beispielsweise, und b) durch Massenmobilisierungen, die indes nicht auf strukturelle, gesellschaftliche Transformationen, sondern auf ganz persönliche Bekehrung und Erlösung zielen. Eine neuere repräsentative Untersuchung der PEW-Foundation hat die Affinitäten der Pfingstler zu ausgesprochen konservativen Überzeugungen sowohl in politischen wie sittlichen Fragen recht gut belegen können.36 Ich habe diese Typen herausgestellt, um darauf hinzuweisen, dass in der heutigen Weltgesellschaft die Partizipation der Kirchen und Religionsgemeinschaften an Kommunikationsprozessen über ethische Fragen ganz stark von den strukturellen Rahmenbedingungen und vielfältigen historischen Voraussetzungen abhängt. Darum lässt sich das alteuropäische Modell der Öffentlichkeit nicht umstandslos auf andere Kontexte übertragen. Gleichwohl wird man ihm die Attraktivität nicht absprechen können, und es sollte für künftige Forschungen eine Herausforderung sein, diesen Entwicklungen sorgfältig nachzugehen. Das folgende Schema dafür relevanter Fragestellungen haben Frank Mathwig und ich entwickelt:37

36 Spirit and Power. A 10-Country Survey of Pentecostals; Washington DC: The Pew Forum on Religion and Public Life, October 2006; im Internet unter: http://pewforum.org/publications/ surveys/pentecostals-06.pdf (30.5.2008)

37 Übernommen aus unserem Beitrag: Kirchen als zivilgesellschaftliche Akteure in aktuellen politischen Transformationsprozessen, in: Lienemann-Perrin/Lienemann, a. a. O., 87–123 (118 f).

Kirche und Öffentlichkeit

ekklesiologisch (normativ)

strukturell

Ebene

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Indikatoren

Fragen

intermediärer Bereich

Wie definieren die Kirchen ihr Verhältnis zum Staat und gegenüber der privaten Lebenswelt? In welcher realen Beziehung stehen sie zum Staat?

historisches Verhältnis zum Wie hat sich das Verhältnis von Staat, Kirchen und autoritären Regime privater Lebenswelt historisch entwickelt? Gemeinsamkeit der Ziele

In welcher Beziehung stehen die Kirchen zu anderen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen?

ekklesiologisches Selbstverständnis

Welche traditionellen Verständnisse vom Verhältnis von Staat und Kirche werden rezipiert? Wie sind oder werden diese Traditionen mit den aktuellen Herausforderungen verbunden und reflektiert?

Inklusion

Welches Gemeinschaftsverständnis ist für die Kirchen prägend, was lehren sie über den Umgang mit Fremden?

Gewaltfreiheit

Welche Position vertreten die Kirchen im Hinblick auf Fragen der Menschenrechte und der Gewaltfreiheit?

weltanschauliche Toleranz

Mit welchem Anspruch wird die kirchliche Lehre vertreten, wie ist das Verhältnis zu anderen Kirchen und öffentlichen Gruppen?

sozio-moralische Ressourcen

In welcher Weise fließen die religiösen und kulturellen Traditionen der Region/des Landes in die Lehre der Kirchen ein?

Binnenstrukturen

Wie werden die zivilgesellschaftlichen Grundwerte und Verfahren innerhalb der Kirchen und ihrer Strukturen repräsentiert?

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ekklesial (funktional)

Ebene

Teil III Vermittlungen

Indikatoren

Fragen

Schutzfunktion

Treten die Kirchen für den Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum gegenüber dem Staat ein? Übernehmen Kirchen zeitweilig staatliche Funktionen?

Vermittlungsfunktion

Unterstützen die Kirchen den Aufbau von Vereinigungen sozialer Selbstorganisation?

Kontrollfunktion

Treten die Kirchen als kritische Instanz gegenüber dem Staat in der Öffentlichkeit in Erscheinung? Woran orientieren sich Kirchen in ihrem Urteil über den Staat?

Sozialisierungsfunktion

Fördern die Kirchen die Vermittlung und Aneignung normativer politisch-partizipatorischer Potentiale (Toleranz, Vertrauen, Kompromissfähigkeit, Konsensorientierung)?

Gemeinschaftsfunktion

Stehen die Kirchen für kommunitaristische, gemeinschaftsfördernde Werte ein?

Kommunikationsfunktion

Bieten die Kirchen einen Ort freier Debatte, Beratung und der Teilhabe an demokratischer Willensbildung?

Freiheit

Wie wird die Kirchenmitgliedschaft organisiert, wie kann das Verhältnis zu Nicht-Mitgliedern bestimmt werden?

gesellschaftliche Integration

Resonanzfähigkeit für gesellschaftliche Problemlagen

Interessenvertretung

Inwiefern sind die Äußerungen und das Engagement der Kirchen gesellschaftlich repräsentativ, welche Partikularinteressen werden geäußert?

Demokratisierungsfunktion Wie tragen die Kirchen zur Etablierung rechtsstaatlichdemokratischer Strukturen bei? Zivilgesellschaftsfähigkeit

In welcher Weise fördern die Kirchen zivilgesellschaftliche Ressourcen sowie individuelle und soziale „capabilities“ (Zeit, medizinische, ökonomische Grundlagen, Bildung, Artikulationsfähigkeit)?

(internationale) Vernetzung

Welche Beziehungen unterhalten die Kirchen zu anderen (ausländischen) Kirchen und internationalen Organisationen und Institutionen?

Kirche und Öffentlichkeit

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3.3 Ethos und Bekenntnis Es gibt moralische und sittliche Herausforderungen, die nicht allein mit einer rationalen Wahl zwischen unterschiedlichen Gütern und Handlungsmöglichkeiten beantwortet werden können. Dies ist dann der Fall, wenn Menschen vor Gott und ihrem Gewissen an für sie unüberschreitbare Grenzen ihres Handelns und Verhaltens stoßen, so dass in einer ethischen Frage ihr gesamtes Gottes- und Selbstverständnis auf dem Spiel steht. Die meisten Probleme der Moral und des Ethos stellen sich als Fragen der Gewichtung oder der Präferenzen von Entscheidungsmöglichkeiten. Es geht um möglichst rationale und zugleich zustimmungsfähige Abwägungsurteile im Blick auf Güter, Zwecke und Mittel. Dabei kann man in sehr vielen Fällen mit gutem Gewissen unterschiedlicher Auffassungen sein. Aber es gab und gibt sittliche Fragen, bei denen es um Alles oder Nichts geht. Nicht nur in der existenziellen Perspektive der Betroffenen. Solche Fragen betreffen Leben und Tod, Sünde und Schuld, Widerstand und Ergebung, Treue und Verrat. Es sind Fragen, die immer wieder auch in den Kirchen und Religionsgemeinschaften mit besonderer Intensität wahrgenommen und erörtert werden. Todesstrafe, Folter, Abtreibung, Widerstand gegen Tyrannei, Kriegsdienst und Dienstverweigerung gehören dazu. Der Kern der Zehn Gebote verweist auf diese Fragen: Gibt es unübersteigbare Grenzen für menschliche Handlungen und Unterlassungen? Viele Menschen sind der Meinung, dass in derartigen Fragen zumindest die Kirchen in der Lage sein müssten, klar und einmütig Position zu beziehen. Dürfen, sollen und können Kirchen in zentralen Lebensfragen ein klares Zeugnis, eine unbedingt verbindliche Lehre, geradezu ein Bekenntnis zur Sprache bringen? Sind sie den Menschen nicht ein solches Bekenntnis – mitsamt dem entsprechenden Tun und Lassen – schuldig? Können, dürfen und wollen die Kirchen dergleichen überhaupt? Die römisch-katholische Kirche nimmt eine solche Position traditionell in der Gestalt ihres verbindlichen Lehramtes in Anspruch. Ist das illiberal und autoritär? Hirtenbriefe im Vorfeld von Wahlen mit der Bekundung von politischen Präferenzen der Kirche und womöglich Wahlempfehlungen sind inzwischen selten geworden.38 In modernen, liberalen Gesellschaften ist ein Pluralismus von Überzeugungen, Werten und Verbindlichkeiten typisch und weithin anerkannt. Das staatliche Recht schützt diese Meinungs- und Glaubensvielfalt. In den meisten reformierten Landeskirchen der Schweiz wird sogar immer wieder betont, dass es keinen „Bekenntniszwang“ gebe. 38 Immerhin hat die Kongregation für die Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche in ihren Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen vom 3. Juni 2003 ausdrücklich die „katholischen Politiker“ zum Widerstand gegen die damals in vielen Staaten

anstehende Gesetzgebung aufgefordert. Es heißt ausdrücklich: „Die eigene Stimme einem für das Gemeinwohl der Gesellschaft so schädlichen Gesetzestext zu geben, ist eine schwerwiegend unsittliche Handlung.“ (Tz. 10; deutsch in Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 162)

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Teil III Vermittlungen

Doch was ist das, ein Bekenntniszwang? Ist das etwas anderes als die Überzeugung, überhaupt keine festen Überzeugungen gewinnen oder äußern zu können und zu wollen?39 Für Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht weniger als für ihre einzelnen Mitglieder ist wichtig, sich eigene begründete Überzeugungen zu erarbeiten, diese öffentlich und argumentativ zu vertreten und den dazu erforderlichen Prozess der Problemwahrnehmung und ethischen Urteilsbildung in geeigneter Weise zu organisieren. Zweck derartiger Bemühungen ist die öffentliche Kommunikation des Evangeliums im Blick auf strittige Sachfragen mit nachvollziehbaren, rationalen Gründen. Unter bestimmten, näher zu charakterisierenden Bedingungen zwingt diese Art der Präsenz der Kirchen in der politischen Öffentlichkeit und ihre Teilnahme an öffentlichen Diskursen auch zu einem eindeutigen, abgrenzenden Nein ohne Wenn und Aber. Diese umstrittene Position soll hier ein wenig erläutert werden.

3.3.1 Geschichtliche Voraussetzungen Bekenntnisse haben immer wieder als verbindlich erfahrene Gewissheiten des Glaubens – auch im Blick auf das Handeln und Verhalten der Menschen – zum Ausdruck gebracht. Doch auch der in seinem Gewissen gebundene, bekennende Mensch kann irren. Man kann das Wort „Bekenntnis“ vielfach verwenden.40 Ich beziehe mich hier auf den kirchlich-theologischen Sprachgebrauch, insbesondere der reformatorischen Kirchen, wonach ein Bekenntnis, näherhin ein Glaubensbekenntnis, eine offizielle, verbindliche und öffentlich bekundete Darstellung grundlegender Glaubensüberzeugungen ist. Von bestimmten Personen für bestimmte Adressaten formulierten, womöglich schriftlich fixierten Bekenntnissen liegen sehr oft Akte des mündlichen Bekennens voraus: Des Dankes und des Lobpreises, der Klage, der Selbstanklage aufgrund eigener wie fremder Verfehlungen, der Anbetung und des öffentlichen Zeugnisses. In den Überlieferungen des Alten Testaments begegnen Wortstämme wie ‚jdh‘, die wir meist mit „preisen“, „danken“, „bekennen“ bzw. „Bekennntis“ übersetzen. Im Neuen Testament finden wir in ganz ähnlicher Bedeutung vor allem die Wörter (ex-)omologein bzw. (ex-)omologia, auch marturia (Bekenntnis, Zeugnis). Sie stehen in der Regel in Verbindung mit elementaren Glaubensaussagen zu Jesus Christus, seinem Leben, seinem Werk und seiner Person, oft verbunden mit be39 Die beispielsweise in den Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn vielfach berufene Bekenntnisfreiheit besagt, recht verstanden, selbstverständlich nicht, dass es für die Kirche überhaupt keine (verbindlichen) Bekenntnisse gibt, sondern nur, dass von keinem Kirchenmitglied verlangt und erzwungen werden kann und darf, dass es

sich mit dem Wortlaut historischer Bekenntnisse voll identifiziert, also auf die eigene, kritische Prüfung und entsprechende differenzierte Zustimmung oder Ablehnung von Bekenntnisformulierungen von vornherein verzichtet. 40 Knappe Übersicht bei Christoph Bochinger u.a, Art. Bekenntnis, RGG4 1,1998, 1246–1270.

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stimmten Prädikationen wie „Sohn Gottes“ oder „Menschensohn“.41 Derartige Bekenntnisse (Homologien) kommen schon früh als summarische, feierliche Kurzformeln vor (vgl. 1Kor 15,3–5). In der Alten Kirche findet man derartige Glaubensformulierungen im Sonntagsgottesdienst besonders im Zusammenhang mit Tauf- und Eucharistiefeiern und in feierlichen Erklärungen von Konzilien, deren Glaubensbekenntnissen oder „Symbolen“ nach der sog. Konstantinischen Wende die normative Geltung eines Reichsgesetzes zukommt. In gewisser Weise kann die altkirchliche Bekenntnisbildung mit den ersten sieben, „ökumenisch“ genannten Konzilen (Nicaea 787) als abgeschlossen gelten. Die weiteren Konzile haben nicht mehr dieselbe ökumenische Anerkennung gefunden, obgleich sie weitere Bekenntnisse und damit verbundene Verurteilungen und Verwerfungen formuliert haben. Eine neue Epoche der Bekenntnisbildung beginnt mit der Reformation. Ausgehend vom aktuellen gottesdienstlichen und öffentlichen Bekennen wird es unvermeidlich, zur Abwehr der altgläubigen Kritik und zur Bekundung der eigenen Rechtgläubigkeit mehr oder weniger umfangreiche Bekenntnisse auszuarbeiten, deren bekanntestes die Confessio Augustana von 1530 ist. Diese, Luthers Katechismen und weitere Bekenntnisse wurden 1580 im sogenannten Konkordienbuch zusammengestellt.42 Es enthält jene Bekenntnisse, die in den meisten lutherischen Kirchen in verbindlicher Geltung sind und eine Grundlage der Ordinationsverpflichtung lutherischer Pfarrer und Pfarrerinnen bis auf den heutigen Tag bilden. In den reformierten Kirchen der Schweiz beginnt die Bekenntnisbildung mit Zwinglis 67 Schlussreden für das erste Religionsgespräch in Zürich am 29. Januar 1523 und den zehn Berner Thesen der Prediger Berthold Haller und Franz Kolb. Zwinglis Fidei Ratio wurde ebenfalls für den Augsburger Reichtag 1530 ausgearbeitet. Wichtige Bekenntnistexte sind weiter der Berner Synodus (Wolfgang Capito) von 1532 und das Basler Bekennntis von 1534 (Johannes Oecolampad, Oswald Myconius). Gesamteidgenössische Bedeutung gewannen schließlich die Confessio Helvetica Prior (Leo Jud) von 1536 und die Confessio Helvetica Posterior (Heinrich Bullinger) von 1562/66. Letztere ist weit über die Schweiz hinaus rezipiert worden (Ungarn, Polen, Schottland usw.).43 Viele Bekenntnisschriften und -dokumente enthalten nicht nur pro loco et pro tempore zugespitzte Kurzformeln des Glaubens, sondern auch prononcierte politische und ethische Stellungnahmen einschließlich der ausdrücklichen Verwerfung gegenteiliger Auffassungen. Es handelt sich um verbindliche Formulierungen von Einsichten und Gewissheiten, gegen welche die, die das jeweils formulieren, nicht verstoßen können. Sie sind oder erfahren sich als in ihrem Gewissen „Gebundene“. Die Confes41 Siehe Hans von Campenhausen, Das Bekenntnis im Urchristentum, ZNW 63, 1972, 200– 253. 42 Zu den lutherischen Bekenntnisschriften vgl. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche, 2 Bd., Berlin 1996; zu den reformierten siehe Jan Rohls, Theologie re-

formierter Bekenntnisschriften. Von Zürich bis Barmen, Göttingen 1987. 43 Eine mehrbändige Neuausgabe reformierter Bekenntnisschriften, hg. von der EKD (Heiner Faulenbach u. a.), erscheint seit 2002 in Neukirchen-Vluyn.

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sio Augustana und die darauf bezogene Apologia (1531) sind zudem bemüht, nicht nur die Rechtgläubigkeit, sondern auch die politische Zuverlässigkeit der reformatorisch gesinnten Stände, Gruppen und Personen zu betonen. Häufig dienen diesem Zweck die in die Bekenntnisse integrierten Kurzauslegungen des Dekalogs44, aber auch die explizit die politische Ethik ansprechenden Artikel wie Confessio Augustana 16 oder Art. 24 der Confessio Scotica von 1560. Hier soll jeder Anhalt für einen möglichen Argwohn politischer Dissidenz oder Renitenz von vornherein vermieden werden, indem unter Berufung vor allem auf Röm 13,1 f und 1Petr 2,13 f die Aufgabe jeder Regierung, für Recht und Frieden und den Schutz der (wahren) Religion zu sorgen, herausgestellt wird.45 Aber man scheut sich dann bisweilen auch nicht, zum Widerstand gegen Tyrannei aufzurufen, wie in Art. 14 der Confessio Scotica. Die Spannweite von Bekenntnisformulierungen ist also sehr weit – vom gottesdienstlichen Lobpreis über elementar-systematische Glaubensdarstellungen bis zu zeitgeschichtlich sehr konkreten Selbstfestlegungen. Nicht für alle Christen und Kirchen sind formulierte Bekenntnisse und aktuelles Bekennen in gleicher Weise bedeutsam und verbindlich. Es zeigt sich aber immer wieder, dass das Einmünden einer ethischen Entscheidung in die Dimension eines Bekenntnisses die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass es Grenzen der Abwägung oder des Abstimmens oder der Mehrheitsbildung gibt oder geben kann, Grenzen, die Menschen nur überschreiten (können), wenn sie ihr Gewissen zum Verstummen gebracht haben. Allerdings: Niemand wird behaupten wollen, dass das menschliche Gewissen grundsätzlich und jederzeit irrtumsfrei ist.

3.3.2 Der Streit um einen „status confessionis “ Die Frage, ob es auch in ethischen Fragen eine Situation eindeutigen Bekennens – einen „status“ oder „casus confessionis“ – geben könne, ja müsse, ist höchst umstritten. Es ist sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, dafür allgemeine Kriterien aufzustellen. Als Karl Barth während des sogenannten Dritten Reiches die Confessio Scotica auslegte46, zeigte er sich etwas amüsiert über die Tatsache, dass man in Schottland das dortige historische Bekenntnis ebenso wenig zu kennen schien wie in der Schweiz die Helvetischen Bekenntnisse. Nachdem Barth 1934 maßgeblich für die Formulierung der Barmer Theologischen Erklärung verantwortlich gewesen war, hat er wie wohl kein anderer Theologe des 20. Jh. über die Problematik von Bekenntnissen im 44 Siehe die Dekalogauslegungen in Luthers Kleinem und Großem Katechismus sowie die Fragen 92 bis 115 des Heidelberger Katechismus. 45 Vgl. bes. Art 16 der AC: De ordine politico: „Nec fert evangelium novas leges de statu civili, sed praecipit, ut praesentibus legibus obtemperemus, sive ab ethnicis sive ab aliis conditae sunt, et hac

oboedientia caritatem iubet exercere “ (BSLK 308, 3). 46 Siehe seine Gifford-Lectures von 1937/38, in Aberdeen gehalten, wo er Art. 14 gebührend herausgestrichen hat: Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938.

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allgemeinen und im Hinblick auf ethische Fragen im besonderen nachgedacht.47 In der reformierten Tradition war für ihn ein Bekenntnis nicht primär eine historische, die Identität einer Konfessionsgemeinschaft oder Partikularkirche definierende Gründungsurkunde, sondern Priorität hatte für ihn der Akt des lebendigen, gemeinsamen Bekennens. Das Bekennen und die Bekenntnisse sind besondere Akte im Leben der Kirche, in und mit denen diese auf Herausforderungen antwortet, die den Glauben und die Einheit der Kirche im Kern bedrohen. Barth hat vor allem in den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik eine Lehre vom Bekennen und Bekenntnis entwickelt.48 Danach ist ein kirchliches Bekenntnis ein kirchliches Zeugnis, das a) den Glauben der gesamten Kirche b) nach gründlicher Prüfung im Lichte der Hl. Schrift c) im Blick auf eine aktuelle Herausforderung oder Bedrohung d) öffentlich ausspricht und e) als schlechthin verbindlich bezeugt. Ein Bekenntnis ist nicht etwas, was sich mittels theologischer Kommissionsarbeit allmählich verfertigen lässt oder was aus einem demokratischen Beratungsprozess als Konsens hervorgeht. Barth schreibt dazu: Kirchliche Konfession ist ein kirchliches Ereignis, sie ist das Ergebnis einer Begegnung der Kirche mit der heiligen Schrift, die in ihrer Kontingenz durch keine noch so ernste theologische Arbeit herbeigeführt werden kann. Wenn die heilige Schrift in einer besonderen Lage der Kirche zu Kirche redet: wenn nämlich angesichts bestimmter drängender Fragen gar nichts übrig bleibt als das, was die Schrift dazu zu sagen hat, wenn man auf der Flucht vor bestimmten Irrtümern nur noch zu der ihnen entgegenstehenden Wahrheit der Schrift fliehen kann, wenn man sich also in der Kirche die Wahrheit der Schrift gar nicht mehr nehmen, sondern nur noch geben lassen kann, wenn also nicht die Kirche diese Wahrheit, sondern diese Wahrheit diese Kirche gefunden hat – dann und nur dann kann es zur kirchlichen Konfession kommen. Aus einer Not der Kirche, aus einem der Kirche in dieser Not durch Gottes Wort auferlegten Zwang und aus der diesem Zwang sich fügenden Glaubenserkenntnis wird das echte Credo geboren. Credo im Sinn der kirchlichen Kofession sagt die Kirche erst, wenn alle ihre anderen Möglichkeiten erschöpft sind, wenn man, auf den Mund geschlagen, nichts anderes mehr sagen kann als eben Credo.49

Diese Sätze reflektieren die damals höchst aktuellen und äußerst bedrängenden Fragen des Kirchenkampfes in Deutschland. Die Bekennende Kirche hat nicht von sich aus die Konfrontation mit der Naziherrschaft gesucht; dafür waren viel zu viele ihrer Mitglieder selbst nationalkonservativ nach Herkunft und Position. Aber sie wurden zu einem klaren Bekenntnis genötigt, weil anders sie sich, ihrem Gewissen folgend, sich eines Verrats am Evangelium und einer Komplizenschaft schuldig gemacht hätten, die die Wahrheit des Glaubens insgesamt negiert hätte. Außer Barth und Bonhoeffer haben das damals nicht gerade viele so gesehen. Und selbst Barth hat es später selbst als ein großes Versagen empfunden, dass in der Barmer Erklärung von den Juden nicht eigens die Rede war. 47 Siehe dazu Georg Plasger, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, NeukirchenVluyn 2000. 48 Siehe dazu auch meinen Aufsatz: Hören, Be-

kennen, Kämpfen. Hinweise auf Bekenntnis und Lehre in der Theologie Karl Barths, EvTh 40, 1980, 537–558. 49 KD I/2 (11938), 698.

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Das Zitat aus der Kirchlichen Dogmatik muss man vor diesem Hintergrund so verstehen, dass die Kirche niemals von sich aus, d. h. aus eigenem Abwägen und Entscheiden heraus in Fragen des Glaubens oder des sittlichen Handelns ein Bekenntnis abgeben solle, schon gar nicht einen „status confessionis “ proklamieren dürfe. Sie muss von den Verhältnissen und den zeitgenössischen Mit-Akteuren dazu gleichsam gezwungen werden. Einen „status confessionis “ sucht man nicht, sondern man sieht sich mit dieser Herausforderung unausweichlich konfrontiert. Nun hat aber derselbe Barth in den 1950er Jahren anscheinend genau das getan, was das oben angeführte Zitat abzulehnen scheint. Er hat auf ein (neues) kirchliches Bekennen, jetzt in der Atomdebatte, gedrängt. Er hat im März 1958 angesichts der damaligen Debatten um eine atomare Bewaffnung Deutschlands und dann auch der Schweiz zehn Thesen formuliert, die er mit deutschen Freunden diskutiert hatte und die dann anonym kurz vor der Frühjahrssynode der EKD erschienen.50 Diese Thesen verwarfen jeden Krieg mit Einmischung atomarer Kampfmittel ebenso wie schon die Vorbereitung, d. h. die Rüstung dafür. These 8 lautet: „Schon die Vorbereitung eines solchen Krieges ist unter allen Umständen Sünde gegen Gott und den Nächsten , an der sich keine Kirche, kein Christ mitschuldig machen darf.“ These 10 formuliert dann zwar keine ausdrückliche personale Verwerfung (Anathema), wohl aber eine unüberwindliche Abgrenzung: „Ein gegenteiliger Standpunkt oder Neutralität dieser Frage gegenüber ist christlich nicht vertretbar. Beides bedeutet die Verleugnung aller drei Artikel des christlichen Glaubens und den Bruch mit der einen, heiligen, allgemeinen Kirche.“51 Aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts und nach dem Ende des kalten Krieges können sich gewiss viele nicht mehr oder noch nicht wieder vorstellen, welchen Aufruhr diese Sätze und die entsprechenden Ausführungen von Gustav Heinemann, Barths Freund und späterer deutscher Bundespräsident, auslösten. Dabei ist der Kern der Aussage Barths völlig eindeutig und präzise. Barth und seine Freunde bestritten nicht die Möglichkeit, unter Umständen sogar die legitime Notwendigkeit einer Notwehr unter Einmischung militärischer Verteidigungsmittel, aber sie be50 Die Anonymität erklärt sich daher, dass Barth damals in Deutschland in weiten politischen Kreisen eine völlige persona non grata war und seit seinem Weggang 1935 mehrfach als „Neutraler“ und Ausländer kritisiert worden war, der von den wirklichen Verhältnissen und Gefühlen in Deutschland und von deutscher Geschichte und Mentalität nichts verstehe. Umgekehrt wurde er in der Schweiz immer wieder und von höchsten Stellen (Bundesrat) als jemand kritisiert, der durch sein entschiedenes politisches Engagement die politische Neutralität und Existenz der Eidgenossenschaft gefährde und den Bolschewisten zuarbeite. Siehe dazu Eberhard Busch (Hg.), Die Akte Karl Barth. Zensur und Überwachung im

Namen der Schweizer Neutralität 1938–1945, Zürich 2008. 51 Zit. nach Bertold Klappert/Ulrich Weidner (Hg.), Schritte zum Frieden. Theologische Texte zu Frieden und Abrüstung, Neukirchen-Vluyn 1983, 99. Ein weiterer Sammelband mit einschlägigen Studien, aus dem man auch den damaligen Diskussionsverlauf entnehmen kann, ist Rolf Wischnath (Hg.), Frieden als Bekenntnisfrage, Gütersloh 1984. Die Debatten vorbildlich aufgearbeitet hat Ulrich Möller, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962, Neukirchen-Vluyn 1999.

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stritten jede Legitimität des Einsatzes von Atomwaffen und von daher auch der Dislozierung von Kernwaffen zur Abschreckung.52 Auf diese Position eines „status confessionis “ nahmen viele erneut Bezug, als es Ende der 1970er Jahre zu einer neuen, gefährlichen Aufrüstungsrunde zwischen WTO und NATO kam. Die holländischen protestantischen Kirchen hatten ein „Nein ohne jedes Ja“ zu Kernwaffen und nuklearer Abschreckung proklamiert. Die damalige breite Friedensbewegung in Deutschland, soweit sie kirchlich-protestantisch geprägt war, folgte ihnen darin. Soweit sie der römisch-katholischen Kirche zugehörte, konnte sie auf die alte moraltheologische Auffassung von Handlungen verweisen, die in sich schlecht und verwerflich (intrinsece malum ) sind. Säkulare Pazifisten konnten auf die Entwicklung des Völkerrechts und selbst auf „Realpolitiker“ wie Henry Kissinger verweisen, um zu dem Schluss zu kommen, dass nukleare Aufrüstung unvernünftig und insofern auch moralisch unvertretbar sei. Mit dem Übereinkommen von Reykjavik (Oktober 1986) zwischen Michail Gorbatschev und Ronald Reagan begann eine Wende in der militärischen Konfrontationspolitik, die freilich bis heute nicht zu einem Durchbruch auf den Weg nuklearer Abrüstung geführt hat. Was hieß und heißt in diesen und ähnlichen Zusammenhängen nun Bekenntnis? War ein Bekenntnis gefordert, sinnvoll, notwendig im Blick auf die damalige Rüstungspolitik? Oder handelte es sich um eine politische Abwägungsfrage, die zwar für Menschen, die entsprechende Entscheidungen zu treffen hatten, eine Gewissensfrage war, aber eben nicht das Bekenntnis der Kirche betraf? Bevor ich eine Antwort suche noch zwei weitere Beispiele für diese Problematik. Im südlichen Afrika stand jahrzehntelang die Politik im Zeichen der sog. „getrennten Entwicklung“, der Apartheid. Dieses nach und nach rechtlich verankerte System verweigerte der nicht-weißen Bevölkerung systematisch die Garantie der Menschenrechte, einschließlich politischer Selbstbestimmungs- und Teilhaberechte. Seit den 1950er Jahren und parallel zu den weltweiten Prozessen der Entkolonialisierung entwickelte sich in den Kirchen, aber keineswegs nur dort das Bewusstsein, dass das Apartheidregime in Südafrika mit den elementarsten Menschenrechtsstandards unvereinbar sei. Anlässlich der IV. Vollversammlung des WCC in Uppsala (1968) sagte der damalige Generalsekretär, der Holländer Willem A. Visser’t Hooft: „Es muss uns klar werden, dass die Kirchenglieder, die in der Praxis ihre Verantwortung für die Bedürftigen irgendwo in der Welt leugnen, ebenso der Häresie schuldig sind wie die, welche die eine oder andere Glaubenswahrheit verwerfen.“53 Der Häresie-Vorwurf, hier bezogen auf eine fundamentale Frage der politischen Ethik, ist die Kehr52 Denn Kernwaffen waren und sind von der Art, dass sie jede Verhältnismäßigkeit in der Kriegführung zunichte machen. Sie sind bis auf den heutigen Tag in jeder Gestalt Massenvernichtungswaffen, deshalb – was damals noch nicht so klar und herrschende Meinung im Völkerrecht war – völkerrechtswidrig und als Mittel der Rechtswahrung inakzeptabel.

53 Bericht aus Uppsala. Offizieller Bericht über die vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, hg. v. Norman Goodall, deutsche Ausgabe v. Walter Müller-Römheld, Genf 1968, 337.

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seite der Bekenntnis-Medaille. Es wird festgestellt, dass eine Entscheidung oder Struktur schlechterdings nicht mit dem Glauben der Christenmenschen und der Kirche vereinbar ist. Dass eine brisante politische und verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nicht bloß eine pragmatische Frage von Machtbeziehungen, sondern eine Glaubensfrage sein kann oder soll, hat man nicht nur damals als eine ungeheure Provokation empfunden. In der Auseinandersetzung mit der Apartheid in Südafrika haben die Kirchen (und nicht nur sie) gelernt, dass die Frage, ob und wieweit die Existenz einer scheinbar verfassungsmässigen, in Wahrheit jedoch menschenrechtswidrigen Ordnung – gleichsam „gesetzliches Unrecht“ (Gustav Radbruch) unter dem Schleier einer Verfassung! – eine Herausforderung des kirchlichen Bekenntnisses darstellt. In Erinnerung an die theologischen Erfahrungen und Einsichten vor allem Dietrich Bonhoeffers und Karl Barths und im Blick auf den Weg der Bekennenden Kirche wurde zunehmend deutlich, dass es um scharfes, exklusives Entweder-Oder ging, nicht um eine Ermessensfrage zwischen verschiedenen Optionen. Ein markantes Resultat in diesem breiten Strom theologisch-ethischer Apartheidskritik war das Belhar-Bekenntnis von 198654 das aus der Zeit stammt, als die Repression im südlichen Afrika besonders scharf war und sich gleichzeitig schon am Horizont die politische Notwendigkeit abzeichnete, diesen Kurs definitiv zu verlassen.55 Die Berufung auf einen „status confessionis “ bedeutete unter diesen Bedingungen zumindest die Einsicht, dass es hier nicht um politische und strategische Abwägungen, sondern um eine Frage des Glaubensgehorsams nicht bloß einzelner Individuen, sondern der ganzen Kirche Jesu Christi ging. Durchaus ähnlich der Situation im Dritten Reich ermöglichte die Bekenntnis-Notwendigkeit eine bis dahin unbekannte ökumenische Gemeinschaft der Kirchen. Es war daher durchaus folgerichtig, aber keineswegs unproblematisch, dass damals (1982) der Reformierte Weltbund die Mitgliedschaft der weißen, reformierten Kirchen im südlichen Afrika suspendierte und dies als einen Bekenntnisakt verstanden wissen wollte. Als zweites Beispiel verweise ich auf eine weitere Diskussion, die sich in den 1980er Jahren an der Frage entzündete, ob nicht auch die Weltwirtschaftsordnung Anlass zu einem kirchlichen Bekennen und womöglich zur Proklamation eines „status confessionis “ sein könne oder gar müsse.56 Nun konnte man zweifellos angesichts der Naziherrschaft in Deutschland, der Atombewaffnung in Europa und der Apartheid in Südafrika politische Repression und/oder elementare Rechtsverletzungen Personen, die dafür als verantwortlich gelten konnten, zurechnen und – sei es in rechtlicher, sei es in moralischer Hinsicht – zum Vorwurf machen. Aber kann die 54 Ein Entwurf wurde schon auf der Synode der reformierten, „coloured“ „Sendingkerk“ 1982 in Belhar (Republik Südafrika) eingebracht. Text: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Georg Plasger/Matthias Freudenberg, Göttingen 2005, 267–273.

55 Die „winds of change“ der Perestroika in der UdSSR begannen damals bis Südafrika zu wehen. 56 Die Diskussion wurde angestoßen und bis heute maßgeblich bestimmt von Ulrich Duchrow; siehe sein Buch: Weltwirtschaft heute. Ein Feld für Bekennende Kirche?, München 1986.

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Struktur der globalen Wirtschaft Anlass eines kirchlichen Bekenntnisses sein? Hier wurde der Bogen dessen, was sinnvoll Gegenstand eines kirchlichen Bekenntnisses sein kann, nach meiner Ansicht überspannt, und zwar aus drei Gründen: Erstens ist der Sachverhalt (hier: das Gesamt der Institutionen und Prozesse einer Weltwirtschaftsordnung), der Gegenstand der Kritik und Ablehnung ist, nicht in ähnlicher Weise als ein schlechthin menschenrechtswidriges Unrecht zu identifizieren; zweitens wird man nicht behaupten können, dass die kritisierten Strukturen grundsätzlich keiner demokratischen Legitimation, Beeinflussung, Reform und Steuerung zugänglich seien, und drittens fehlt es offenkundig an der Möglichkeit personaler Verantwortungszuschreibung. Letztlich ist es auch ein nicht unerheblicher, moralisch relevanter Unterschied, ob man es mit einem in sich verabscheuungswürdigen Sachverhalt oder einer prinzipiell nicht irreformablen Größe zu tun hat.

3.3.3 Funktionen und Folgen von Bekenntnissen und lehrmäßigen Verurteilungen Bekenntnisse können höchste Verbindlichkeiten, nicht mehr diskutierbare Abgrenzungen oder scharfe Missbilligungen und Grenzziehungen in ethischen Fragen ausdrücken. Als Sanktionsmittel taugen sie dagegen nicht. Visser’t Hooft sprach im Blick auf die Apartheid, das Nord-Süd-Verhältnis und die Realität objektiv möglicher, schuldhaft unterlassener Hilfeleistungen von (ethischer) Häresie. Dem entsprach in manchen reformatorischen Kirchen die Erklärung eines status confessionis 57, in der römisch-katholischen Kirche die lehramtliche Verurteilung von Handlungen als schlechthin und unter allen Umständen verwerflich. Abtreibung, Völkermord und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gehören zweifellos dazu. Die Situation von Barmen im Mai 1934 bildete – nach Jahrhunderten der primär historisch-statuarischen Relevanz der Bekenntnisse – so etwas wie eine Grundkonstellation: Nicht zu bekennen, hätte die Einwilligung in unverzeihliche Verbrechen gegen Gott und die Menschen bedeutet. Diese Einsicht ließ sich zumindest ansatzweise auch noch auf die Atomwaffen übertragen, weil diese, jedenfalls bei jedem denkbaren Einsatz, keiner sittlichen und völkerrechtlichen Legitimation fähig waren. Die Strukturen der Apartheid hingegen erforderten nach meiner Einsicht zwar auch ein tapferes Bekennen, aber ebenso einen gut organisierten politischen Widerstand mit langem Atem heraus, der sich dann ja auch innerhalb und außerhalb Südafrikas entwickelte. Kirchliches Bekennen hatte hier die wichtige politische Funktion öffentlicher Delegitimation des Apartheidstaates mit den Folgen von oft nur halbherzigen Boykotten und dadurch ausgelösten Irritationen, die indes letztlich zu einem grundlegenden Umdenken, nicht zuletzt im Blick auf ökonomische 57 Keineswegs in allen! So hat sich, wenn ich recht sehe, die anglikanische Kirche an diesen Debatten kaum beteiligt.

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Nutzenerwägungen, führten. Aber weder wurden die Atomwaffen verschrottet, weil die Kirchen tapfer bekannt haben, noch die Apartheid überwunden, weil die theologischen Argumente massenhaft überzeugt hätten. Den Bekenntnissen mussten gleichsam die weiteren Interessenlagen und die verwandelten Rahmenbedingungen zu Hilfe kommen, aber man kann natürlich darüber streiten, ob diese ohne jene durchschlagend gewesen wären. Warum wirken kirchliche Bekenntnisse sowie die neueren Debatten um einen status confessionis angesichts politischer Schlüsselfragen so leicht etwas überholt oder fehlplaciert? Ich vermute, dass das damit zusammenhängt, dass der weitere politische und gesellschaftliche Bezugsrahmen kirchlicher Bekenntnisse sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten erheblich verändert hat. Eingangs habe ich darauf hingewiesen, dass die Bekenntnisse der altkirchlichen Konzilien reichsrechtliche Qualität hatten. Sie konnten mit den Mitteln staatlicher Sanktionsgewalt durchgesetzt werden. Die Bekenntnisse der Reformationszeit hatten weitreichende öffentliche Bedeutung.58 Unter den Bedingungen einer weitgehenden Übereinstimmung von weltlichem und kirchlichem Recht und einer funktionierenden Kooperation von staatlichen und kirchlichen Autoritäten konnte ein kirchliches Verbot, gar ein Anathema, starke Wirkungen zeitigen. Im Kampf gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime ebenso wie gegen das menschenrechtsverachtende System der Apartheid bestand eine fundamentale Entscheidungsnotwendigkeit zwischen Kollaboration und Widerstand, bei dem es um die Wahrheit des Glaubens und seine Bewährung ging. Die Proklamation eines kirchlichen Bekenntnisses in politicis setzt danach eine ganz einmalige externe Herausforderung voraus und bezieht sich zugleich auf einen bestimmten herausgehobenen und anerkannten Status der entsprechenden Kirchen in Staat und Gesellschaft. Doch schon unter den erwähnten außerordentlichen Bedingungen haben bei weitem nicht alle Christen die Einsicht in die unabweisbare Notwendigkeit des Bekenntnisses geteilt. Man muss weiter fragen: Müssen nicht dem Bekennen bzw. der Ablehnung eines Bekenntnisses Sanktionen folgen? Wie verhält man sich zu jenen, die es aus grundsätzlichen oder pragmatischen Gründen ablehnen, in ein Bekenntnis einzustimmen? Schon bei den scharfen Bekenntnissen gegen die Atombewaffnung (Leugnung aller drei Artikel des Credo!) zeigte sich, dass die Kirche über keine griffigen Sanktionsmittel verfügte. Wenn ein Bekenntnis nicht, wie Barth geschrieben hat, eine von außen geradezu aufgezwungene Glaubensnotwendigkeit ist, sondern ein Mittel der Abgrenzung und Ausgrenzung, der öffentlichen Missbilligung und Verurteilung, dann muss man konsequenterweise auch die Mittel einsetzen, um einem solchen Bekenntnis Nachachtung zu verschaffen. Dies hat man unter den volkskirchlichen Bedingungen der 1950/60er und 1970/80er Jahre jedoch gar nicht erst versucht. Dazu hätte man nämlich, traditionell gesprochen, Mittel der Kirchenzucht einsetzen müssen. Theoretisch hätten Kirchen in Deutschland sich beispiels58 Siehe Martin Heckel, Die reichsrechtliche Bedeutung des Bekenntnisses (1980), in: ders., Ge-

sammelte Schriften Bd. II, Tübingen 1989, 737– 772.

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weise im Blick auf die Beurteilung der Wieder- und Atombewaffnung weigern können, verantwortliche Politiker und insbesondere Soldaten zu Gottesdiensten zuzulassen, sie zu trauen oder zu beerdigen, aber solches zu tun, hat man sich nicht getraut. Das Bekenntnis wurde zum Papiertiger. Es verwandelte sich in eine rhetorisch angriffige, aber merkwürdig folgenlose Missfallensbekundung in scharf erhöhtem Ton. Dass der Reformierte Weltbund sich nur eine Suspension, aber keinen Ausschluss der Kirchen, die sich nicht von der Apartheid lossagten und entsprechend handelten, zutraute, machte in den 1980er Jahren die Malaise einer verfahrenen Situation und halbherzigen Sanktion sehr deutlich.

3.3.4 Lebensschutz und Bekenntnis Das Eintreten für den uneingeschränkten Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Würde bildet heute das Zentrum aktuellen kirchlichen Bekennens in sittlichen Fragen. Ein solches Bekenntnis ist offen für kontextuell unterschiedliche Konkretisierungen. Bekenntnisse, jedenfalls im Blick auf ethische Sachverhalte und Probleme und in der Tradition reformatorischer Kirchen, haben die Funktionen von Stoppregeln ethischer Deliberation. Sie markieren „rote Linien“, die nach Auffassung mancher, vieler oder aller, die an ethischen Diskursen beteiligt sind, nicht überschritten werden sollten. Unter Bedingungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus kann aber die „rote Linie“, die einige Diskursbeteiligte unbedingt markiert sehen wollen, nur dann für alle verbindlich gemacht werden, wenn ihr Verlauf zum Gegenstand von Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung wird. Im Fall der Naziherrschaft war der Bekenntnisfall, wenigstens im Rückblick, klar: Es war ein organisiertes Unrechtsregime, gegen das nach allen historisch-christlichen Kriterien politischer Ethik Widerstand erlaubt, ja geboten war. Bei der Apartheid war der Fall schon komplizierter: Das Völkerrecht wandelte sich parallel mit der allmählichen Delegitimation des Systems; diese Wechselwirkung führte zu einer allmählich steigenden Einsicht in die Illegitimität und moralische wie rechtliche Unhaltbarkeit des Regimes. Bei den Kernwaffen war es sehr schwierig: Erstens kam es zu keinen eindeutigen, verbindlichen völkerrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Grenzziehungen, und zweitens dienten diese Waffen ja, jedenfalls nach offizieller Doktrin, gerade nicht zur Kriegführung, sondern zur Kriegsverhütung. Nehmen wir ein anderes Beispiel, das sich ebenfalls auf ganz elementaren Lebensschutz bezieht: Die verbrauchende Forschung an embryonalen Stammzellen. Die römisch-katholische Kirche lehnt dies eindeutig, uneingeschränkt und jederzeit ab.59 Die Verwendung menschlicher Embryonalzellen zur Forschung oder die Euthanasie 59 Zur Begründung siehe den folgenden Abschnitt 4.

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gelten als jederzeit und schlechthin verwerfliche Handlungen, desgleichen die gewollte Abtreibung. In der Enzyklika Evangelium Vitae vom 25. März 1995 hat Papst Johannes Paul II. diese Position der Kirche eindringlich bekräftigt. Unter Berufung auf Apg 5,29 hat er ausdrücklich im Blick auf die Fragen des Lebensschutzes das Sittengesetz, wie es die römisch-katholische Kirche lehrt, als dem staatlichen Gesetz übergeordnet erklärt. Wenn eine demokratische Mehrheitsentscheidung unter Berücksichtigung des „ethischen Relativismus“ in der modernen Gesellschaft den Lebensschutz durchlöchere, dann müsse man dem widerstehen, denn „der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des „Gemeinwohls“ als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben.“ (Tz. 70) Nun wusste der damalige Papst und weiß sein Nachfolger natürlich, dass man hier nicht mit der Androhung und Verhängung von Sanktionen weiter kommt. Darum wird in dieser dem umfassenden Lebensschutz gewidmeten Enzyklika zwar eine glasklare Position vertreten und begründet, aber – und das ist gegenüber der Vergangenheit mit dem autoritären Pochen auf einem kirchlich zu approbierenden Ethos neu – die Weise, wie dafür eingetreten wird, ist die eindringliche, einladende Werbung, sich die Auffassungen der Kirche zu eigen zu machen. An die Stelle der Drohung mit Sanktionen tritt der Versuch argumentativer und durchaus auch emotionaler Überzeugungsarbeit. Der Unterschied der protestantischen Positionen dazu könnte nicht größer sein.60 Die nähere Erörterung dieser Fragen gehört in eine systematische Bioethik. Ich will hier nur darauf hinweisen, dass es eine deutliche Polarisierung zwischen der Mehrheit der evangelischen Kirchenleitungen und Synoden einerseits, der Mehrheit der sich als liberal verstehenden Universitätstheologen andererseits gibt. Diesen Zustand halte ich für sehr bedenklich, aber man kann nun einmal nicht in evangelischen Kirchen „top-down“-Entscheidungen durchziehen und schon gar nicht mit Sanktionen und Bekenntnisaufrufen flankieren. Darin sehe ich wiederum keinen Vorzug und keine Tugend, sondern einen erheblichen Mangel der heutigen reformatorischen Kirchen. Doch muss man gleichzeitig anerkennen, dass erstens auch in der vielstimmigen protestantischen Bioethik die Aufgabe des Lebensschutzes überhaupt nicht im Grundsatz bestritten wird, und dass zweitens dessen Einschränkung stets mit der Anerkennung anderer, ebenfalls grundrechtlich garantierter Rechtsgüter legitimiert wird, so dass eine Güterabwägung als naheliegend erscheint. Dass erstrebens- und verteidigenswerte Zwecke und Güter unter bestimmten historischen Bedingungen in Konkurrenz treten können, ist allerdings offensichtlich unvermeidlich. In etlichen 60 Siehe z. B. einerseits Reiner Anselm/Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen

2003; andererseits Wolfgang Huber, Der gemachte Mensch. Christlicher Glaube und Biotechnik, Berlin 2002.

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Fällen scheint es möglich zu sein, dass einem Grundsatz, er mag Gegenstand eines kirchlichen Bekenntnisses oder einer rechtlich-definitiven Grenzziehung sein, oder einem Zweck mit konkurrierenden Optionen oder Mitteln Rechnung getragen werden kann. Es gibt aber auch sittliche Grenzlinien, mit denen der Gesetzgeber, eine Kirche oder Religionsgemeinschaft, eine Gruppe von Menschen oder auch nur einzelne Bürgerinnen und Bürger ein ausnahmsloses, jederzeit geltendes Verbot verbinden. Ich verweise nur auf die – inzwischen wieder vielfach umstrittenen und diskutierten – uneingeschränkten Verbote der Folter oder das subjektive Recht, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst zu verweigern. Es scheint so zu sein, dass häufig die Kirchen, kleine kirchliche Gemeinschaften oder Religionsgemeinschaften derartige Grenzziehungen fordern und vertreten, oft trotz empfindlicher Sanktionen. Diese Überlegungen führen allesamt auf eine Ausgangsproblematik zurück, die die Fragen der Möglichkeit eines besonderen kirchlich-christlichen Ethos betreffen. Es geht um den Zusammenhang von Kirchenverständnis, öffentlicher Kommunikation des Evangeliums und die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, in grundlegenden ethischen Fragen zu einer (mehr oder weniger) einmütigen kirchlichen Stellungnahme mit entsprechenden Selbstverpflichtungen zu kommen. Es geht um den Ernstfall im Verhältnis Kirche – Ethos – Gesellschaft. Kann, ja muss die Kirche in Fragen von höchstem ethischen Gewicht eine hinreichend klare Position gewinnen und öffentlich vertreten? Die Antwort auf die Frage hängt nicht nur vom Kirchenverständnis, von der Verbindlichkeit des Glaubens und der kirchlichen Praxis ab, sondern auch von den gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. Eine Kirche freilich, die jeden angeblichen „Bekenntniszwang“ ablehnt, darüber unter Umständen die Möglichkeit eines gemeinsamen Bekennens ganz aus den Augen verliert und sich mit einem unhintergehbaren Pluralismus von Meinungen zufrieden gibt, ist auf dem Wege zu einer Dienstleistungskirche, die es allen recht machen will. Sie verliert in Fragen des Glaubens wie des Ethos ihre erkennbare Identität. Sie verliert ihre Bedeutung als kritische Mahner und Wächter in einer Gesellschaft. Eine Kirche auf der anderen Seite, die zentralistisch, hierarchisch und autoritär ein für allemal verbindlich festzulegen versucht, welches Ethos überhaupt und überall gebilligt werden kann oder verworfen werden muss, ohne jedoch ein derartiges Urteil (mit eigenen Mitteln) auch durchsetzen zu können, kann ebenfalls de facto die interne Pluralisierung nicht vermeiden und praktische Dissidenz in Glaubens- und Ethosfragen unterbinden.61 Das führt auf die Frage: Wie kann aus der Sicht des christlichen Glaubens ein nicht-beliebiges Ethos gewonnen, begründet und öffentlich vertreten werden, das inhaltliche Bestimmtheit mit der Freiheit individueller Gewissensentscheidungen überzeugend verbindet? Diese Frage kann nach meiner Auffassung nicht ein für allemal inhaltlich-verbindlich beantwortet werden, sondern eine Ant61 Ich sehe hier ein spezifisches Dilemma der römisch-katholischen Kirche, zumindest in liberalrechtsstaatlich verfassten Gesellschaften: Sanktionen, etwa in der Sexual- und Ehemoral, greifen

praktisch nur noch bei Menschen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche stehen. Die anderen können nicht zum Gehorsam gezwungen werden.

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wort hier und jetzt muss immer wieder neu im Zuge reflektierter ethischer Urteilsbildung erarbeitet werden, und zwar unter maßgeblicher Berücksichtung (bekenntnisfähiger) Grundsätze. Derartige Grundsätze, die, wenn sie nicht auf einem breiten Konsens in und zwischen den Kirchen beruhen, ziemlich wirkungslos bleiben müssen, können nicht durch unbestimmte, weitläufige Formeln von der Art, „dem Leben zu dienen“, ausgedrückt werden. Sie bedürfen einer klaren inhaltlichen Präzisierung. Der unter den Bedingungen der heutigen Weltgesellschaft prominenteste Kandidat für derartige Grundsätze sind nach meinem Verständnis die Menschenrechte. Sie formulieren in der Sprache weltlichen Rechtes ganz wesentliche, unverzichtbare und (zumindest verbal) allgemein anerkannte Überzeugungen, in denen grundlegende Überzeugungen auch und besonders religiösen Ursprungs aufgehoben sind. Selbstverständlich muss man im Blick auf die Menschenrechte weiter sorgfältig unterscheiden, die Standards heutiger Menschenrechtshermeneutik und Menschenrechtsjudikatur berücksichtigen und auch die pragmatischen Fragen der Rechtsanwendung und durchsetzung im Blick haben. Dies ändert aber nichts an der Grundthese, dass im Blick auf die kontroversen Fragen der moralischen Kommunikation der Orientierung an den Menschenrechten eine herausragende Bedeutung zukommt. Spätestens an dieser Stelle drängt sich eine neue, kritische Rückfrage auf: Was ist, wenn menschenrechtliche, unter Umständen auch völkerrechtliche Kriterien ihrerseits umstritten sind? In der Frage der atomaren Abschreckung gab es über weite Strecken eine deutliche Zurückhaltung beziehungsweise einen Positionen-Pluralismus der Völkerrechtler einerseits, eine scharfe moralische Verurteilung jeden Einsatzes dieser Waffen durch zahlreiche, aber keineswegs alle Kirchen der Christenheit und deren theologische Berater andererseits. In der aktuellen Frage des Umganges mit menschlichen Embryonen gibt es vollends keinen Konsens unter den Ethikerinnen und Ethikern. Sie sind sich schon nicht in der Ausgangsfrage einig, ab wann ein Embryo in den Genuss grundrechtlichen Lebensschutzes kommt. Diese rechtliche Frage lässt sich auch nicht allein aufgrund rechtlicher Kriterien und Überlegungen entscheiden, weil eine Stellungnahme hierzu ihrerseits Ausdruck und Folge einer bestimmten Auffassung des Menschen, seiner Würde und seiner Bestimmung ist, einer Auffassung, in die unvermeidlicherweise auch religiöse und areligiöse Elemente eingehen. Wir stoßen hier erneut auf die Frage nach der Vereinbarkeit oder (konfliktträchtigen) Gegensätzlichkeit von Religion, Moral und Recht. Spannungen und Konflikte in diesem Felde lassen sich nach meiner Beobachtung mit den Mitteln des Rechtes und im Medium öffentlicher Kommunikationen entspannen, aber nicht definitiv lösen. An den Grenzen des Rechts können religiöse und moralische Überzeugungen Menschen dazu nötigen, gegen das Recht zu handeln. In der einen Sprache geht es dann um letzte Gewissensfragen, in einer anderen um ein aus dem Glauben heraus notwendiges Bekenntnis, in einer dritten um unübersteigbare Grenzen zulässiger menschlicher Handlungen nach Maßgabe kirchlich-verbindlicher Lehre. Deren Bedeutung wird im folgenden Abschnitt diskutiert, bevor ich in Abschnitt 5 auf die Fragen nach dem Verhältnis von Religion, Moral und Recht zurück komme.

Kirche und Ethos in römisch-katholischer Sicht

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4. Kirche und Ethos in römisch-katholischer Sicht Die römisch-katholische Kirche verfügt in den zuletzt angesprochenen Fragen über eine reiche Tradition in der Gewinnung und öffentlichen Kommunikation sittlicher Urteile. Das verdient auch in anderen kirchlichen Zusammenhängen Beachtung, auch und gerade in den Punkten, bei denen sich Unterschiede, ja Gegensätze ergeben. In diesem Abschnitt soll eine ganz knappe Einführung in einige Grundfragen römisch-katholischer Moraltheologie und Soziallehre gegeben werden. Dabei werden die Geschichte und die enorme Vielfalt heutiger Positionen weitgehend ausgeblendet. Ich konzentriere mich auf die Enzyklika Veritatis Splendor vom 6. August 1993, die zum ersten Mal so etwas wie eine lehramtliche Grundlegung und Abgrenzung für das gesamte Gebiet der Moraltheologie gibt, sowie auf den Zusammenhang dieser Lehrauffassungen mit dem römisch-katholischen Verständnis von Lehrautorität und kirchlichem Recht, sowie auf eine Übersicht über die wichtigsten Grundlagen und Entwicklungen der Soziallehre seit 1891 (Erscheinen von Rerum Novarum , der ersten Sozialenzyklika der Neuzeit),

4.1 Zur römisch-katholischen Moraltheologie Die Enzyklika „Veritatis Splendor“ bildet die erste umfassende lehramtliche Darlegung der Grundsätze der römisch-katholischen Moraltheologie. Sie verbindet eine christologische Grundlegung mit einer Rezeption der Naturrechtsauffassung des Thomas von Aquin, einer starken Betonung der päpstlich-lehramtlichen Autorität und einer glatten Ablehnung aller „rein“ vernünftigen, säkularen Ethikkonzepte. Die Enzyklika Veritatis Splendor („Glanz der Wahrheit“) wurde „gegeben zu Rom, am 6. August, dem Fest der ‚Verklärung des Herrn‘ des Jahres 1993, dem fünfzehnten Jahr meines Pontifikates“, wie Johannes Paul II. das Dokument abzeichnete.1 Nachdem der Papst schon in den Jahren zuvor eine beeindruckende Reihe von Enzykliken versandt hatte, präsentierte er nunmehr seine authentische Lehre von den Grundlagen der christlichen Moral. Im Unterschied zur Soziallehre geht es nicht um 1 Deutscher Text: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 111, Bonn 1993. Ich zitiere wie üblich nach den Teilziffern des Dokuments. Aus der überaus zahlreichen Lit. zu dieser Enzyklika hebe ich hervor: Dietmar Mieht (Hg.), Moraltheologie im Abseits? Antworten auf die Enzyklika „Veritatis splendor“, Freiburg u. a. 1994; Charles Yeats (Hg.), Veritatis Splendor – A Respnse, Norwich 1994; Michael E. Allsop/John

J. O’Keefe (Hg.), Veritatis Splendor. American Responses, Kansas City, MO 1995; Charles E. Curran/Richard A. McCormick S.J. (Hg.), John Paul II. and Moral Theology, New York/Mahwa, NJ: Paulist Press 1998; J.A. DiNoia O.P./Romanus Cessrio O.P. (Hg.), Veritatis Splendor and the Renewal of Moral Theology, Princeton u. a. 1999; Livio Melina/Juan Larrú (Hg.), Veritá et Libertá Nella Teologia Morale, Rom 2001.

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die mehr oder weniger komplexen Gestaltungsfragen in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft und Kultur, sondern um die normativen Grundlagen, um das menschliche Person-, Gottes- und Selbstverständnis, um personale Verantwortung, Gewissensfreiheit und Gewissensbindung, um die Erkenntnis von Gut und Böse und die Bestimmung der guten und der abzulehnenden Handlungen. Die Enzyklika nimmt dabei zahlreiche kirchliche und philosophische Traditionen auf, sie polemisiert gegen zahlreiche Gegner – die freilich allesamt namentlich ungenannt bleiben –, und vor allem konzentriert sie sich auf zwei Aspekte, die weit auseinander liegen und insofern objektiv schwer zu vermitteln sind: das biblisch-theologische Verständnis der durch Jesus Christus erschlossenen Freiheit und Wahrheit einerseits, die Lehre von den in sich schlechten und darum jederzeit, überall und von jedem Menschen abzulehnenden und strikt zu meidenden Handlungen andererseits. „Moraltheologie“ nennt der Papst die „wissenschaftliche Reflexion über das Evangelium als Geschenk und Gebot neuen Lebens, über das Leben, das, von der Liebe geleitet, sich an die Wahrheit hält (vgl. Eph 4,15), über das heiligmäßige Leben der Kirche, in welchem die Wahrheit des zu seiner Vollendung gebrachten Guten glänzt. Nicht nur im Bereich des Glaubens, sondern auch und untrennbar davon im Bereich der Moral greift das Lehramt der Kirche ein, dessen Aufgabe es ist, ‚durch das Gewissen der Gläubigen bindende Urteile jene Handlungen zu bezeichnen, die in sich selber mit den Forderungen des Glaubens übereinstimmen und seine Anwendung im Leben fördern, aber auch jene Handlungen, die aufgrund ihres inneren Schlechtseins mit diesen Forderungen unvereinbar sind‘.“ Diese Definition steht nicht an der Spitze des Dokumentes, sondern erst ganz gegen Ende (110), und beruft sich dabei ausdrücklich auf die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (5) des II. Vatikanischen Konzils.2

4.1.1 Zum Ort von Veritatis Splendor Während der Vorarbeiten zu „Veritatis Splendor“ (im folgenden VS) wurde vielfach befürchtet, ein Hauptzweck der Enzyklika würde darin bestehen, gleichsam nachträglich die Aussagen der Enzyklika Humanae Vitae von Papst Paul VI. von 1968 mit dem Rang unfehlbarer päpstlicher Lehraussagen zu versehen. Jene Enzyklika hatte in nach wie vor höchst umstrittener Weise u.a jede Form „künstlicher“ Empfängnisverhütung verboten. Immerhin hatte eine Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre zur Berufung des Theologen vom 24. Mai 1990 erklärt, dass „das Lehramt Aussagen „definitiv“ vorlegen kann, auch wenn sie nicht in den Glaubenswahrheiten enthalten, wohl aber mit ihnen innerlich so verknüpft sind, dass ihr de2 Zugleich wird auf den entsprechenden Text des I. Vaticanum Die Filius verwiesen. Darin zeigt sich die immer wieder unter Johannes Paul II. begegnende Tendenz, nicht so sehr das II. Vaticanum von seinem Vorgänger her zu relativieren,

wohl aber zu verhindern, jenes gegen dieses kritisch auszuspielen. Darin liegt die Möglichkeit einer großen hermeneutischen Flexibilität, aber auch eines konservativen Opportunismus.

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finitiver Charakter letztlich von der Offenbarung selbst herleitet“.3 Bernhard Fraling hat in seinem Kommentar zu VS erleichtert festgestellt, dass dies nicht der Fall sei; tatsächlich enthält der Text keinen ausdrücklichen Hinweis, dass alle Ausführungen wortwörtlich zu glauben seien. Gleichwohl muss man sehen, dass die Zuständigkeit des päpstlichen Lehramtes grundsätzlich für Fragen des Glaubens wie des Lebens, der Glaubens- wie der Sittenlehre in gleicher Weise und damit in gleicher Verbindlichkeit gilt. Das kann man nur herunterspielen, wenn man die wechselseitige Abstützung und Ergänzung von Enzykliken und Kirchenrecht ignoriert, auf welche noch zurückzukommen ist. Der zeitgeschichtliche Ort der Enzyklika ist ihrem mehrfachen eigenen Zeugnis nach durch die Stichworte Entchristlichung, Atheismus, Demokratie und ethischer Relativismus zu charakterisieren (vgl. 100. 106 u. ö.). Der innerkirchliche Ort sowie die damit einhergehende Autorität der Moraltheologie bzw. ihrer akademischen Vertreter wird klar und übereindeutig benannt: Cum Petro et sub Petro (116). Das heißt: Es geht in der römisch-katholischen Moraltheologie nicht nur um theologische Lehrmeinungen, sondern immer auch um Gehorsam. Die Autorität der Moraltheologie bzw. ihrer Vertreter „beruht, mit dem Beistand des Heiligen Geistes und in der Gemeinschaft cum Petro et sub Petro auf unserer Treue zu dem von den Aposteln empfangenen katholischen Glauben. Als Bischöfe haben wir die schwerwiegende Verpflichtung, persönlich darüber zu wachen, dass in unseren Diözesen die „gesunde Lehre“ (1Tim 1,10) des Glaubens und der Moral gelehrt wird.“ (Nr. 116)4 Angesichts neuzeitlicher Moralkonzeptionen, in denen die Gewissensfreiheit, die autonome Urteilsbildung und das Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit und freien Zustimmungsfähigkeit von Normen, Normenkomplexen, Argumenten und rationalen Begründungsverfahren im Zentrum stehen, wird die Notwendigkeit einer radikal anders gegründeten Moral eingeschärft, von der gleichzeitig freilich gesagt wird, dass ihre Prinzipien universal und unveränderlich und an alle Menschen gerichtet seien.

4.1.2 Grundannahmen und Profil von Veritatis Splendor Es gibt viele Möglichkeiten, Enzykliken zu lesen und zu verstehen. Man kann eine neue Enzyklika an der Tradition messen, welche sie voraussetzt und weiter führt. Man kann anhand der Belegstellen feststellen, welche Auffassungen rezipiert, welche zurückgewiesen und welche relativiert werden. Man kann auf die Art und Weise des Umganges mit biblischen Texten achten. Man kann den Aufbau genauer analysieren. Schließlich kann man darauf achten, an welchen Stellen ein Autor (selbst bei einem

3 Nr. 16. 4 Vgl. auch die klare Gehorsamsforderung Nr. 113: „Im Widerstand gegen die Lehre der Hir-

ten ist weder eine legitime Ausdrucksform der christlichen Freiheit noch der Vielfalt der Gaben des Geistes zu erkennen.“

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Text, der durch viele Hände gegangen ist) wirklich lebhaft wird. Dort wird man in der Regel sein inneres Zentrum zu suchen haben. Veritatis Splendor kann und sollte man von der Christologie und dem Handlungsverständnis her lesen. Dabei ist es nützlich, auf die wiederkehrenden Bilder und Metaphern zu achten. Im Zentrum steht zweifellos die Vergewisserung, inwiefern das neue oder erneuerte Leben von Menschen sich letztlich einzig und allein der Begegnung mit Jesus Christus verdankt. Das erste Kapitel nimmt als biblische Exposition die Perikope vom reichen Jüngling (Mt 19,16–26).5 Danach gibt es, kann und soll es keine christliche Moral und Ethik geben, welche in Ansatz und Durchführung an der Grundlegung des Glaubens in Person und Werk Jesu Christi vorbeisieht. Diese christologische Basis wird weiterhin durch die sehr zahlreichen Bezugnahmen auf die johanneische Christologie einerseits, die paulinische Lehre von Jesus Christus als dem Befreier vom Gesetz andererseits entfaltet. Dass Christus zur Freiheit befreit hat (Gal 5,1) und dass die in Christus offenbar gewordene Wahrheit die Menschen frei macht (Joh 8,32) – diese beiden Grundeinsichten legt die Enzyklika immer wieder neu vor und sucht sie eindringlich zu erläutern. Dieser erste Schwerpunkt kontrastiert nun aber auf eigentümliche und charakteristische Weise mit wenigstens zwei moraltheologischen Argumentationen, nämlich dem grundlegenden Rückbezug aller Erwägungen über Gut und Böse auf das ewige Naturgesetz (lex naturalis ) und einer daraus folgenden Grundunterscheidung zwischen gebotenen (auch: bloß erlaubten) und schlechthin verbotenen, weil in sich selbst stets schlechten Handlungen. Dabei wird zugleich vorausgesetzt, dass die lex naturalis die entscheidende Instanz und das Kriterium für alle rechten oder eben unrechten Handlungen (actiones ) ist. Unter der Voraussetzung, dass die lex naturalis klar und deutlich erkannt werden kann – und zwar prinzipiell von jedem Menschen, sofern er sich nicht in einem unverschuldeten Irrtum befindet –, kann es demzufolge nicht erlaubt sein, mittels Handlungen, die in sich schlecht sind, ein Gut oder Ziel anzustreben. Insofern begegnet hier eine deontologische und antikonsequenzialistische ethische Grundposition in gleichsam reiner Gestalt. Dabei ist wichtig, dass dem Papst vor allem zwei Beispiele für in sich schlechte Handlungen vor Augen stehen: die Tötung eines unschuldigen Menschen (50) und die chemische oder technische Empfängnisverhütung (42). Unerachtet der äußerst schwierigen Begründungsfragen, die sich hier stellen, ist klar, dass die ursprüngliche Einsicht in die unbedingt verpflichtenden Grundlagen christlicher Moral den durch schlechterdings nichts und niemanden einzuschränkenden Schutz des menschlichen Lebens ins Zentrum rückt. Von dem Zentrum der im Glauben erkannten Gottebenbildlichkeit, Versöhnung, Befreiung und Erlösung jedes menschlichen Lebens her wird alles andere erst verständlich, daran soll die Morallehre der Kirche ausgerichtet, dafür soll auch um die Zustimmung aller ande5 Es ist sehr aufschlussreich, diese Exposition mit Karl Barths Ausführungen zur „christologischen Bestimmung der Form des göttlichen Gebotes“ zu vergleichen, welche er im Rahmen der

Ethikgrundlegung innerhalb der Erwählungslehre anhand der Parallelüberlieferung von Mk 10,17– 31 par exemplifiziert (KD II/2. § 37.3, 681–701).

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ren Menschen, sofern sie nur guten Willens sind, geworben werden. Es geht um die „frohe Botschaft für das Leben“. Evangelium vitae heißt nicht von ungefähr der Titel der für die Bioethik grundlegenden Enzyklika des Papstes zu Fragen von „Wert und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“.6

4.1.3 Bedeutung und Leistung dieses Ansatzes Nur wenn man die Enzyklika von diesem Zentrum her liest, kann man sie richtig verstehen. Das Eintreten für Behinderte, Schwerstgeschädigte, ausgebeutete Arbeiter, ungeborene und unmündige Kinder sowie Alte wie Sterbenskranke, aber auch für die Opfer der Shoa und der modernen Kriege bildet den Kern dieser Lebensethik. Erst wenn man dies verstanden und gewürdigt hat, wird es legitim, ja unabweisbar, auch kritische Fragen an das Dokument zu richten. Bekanntlich haben viele heutige Menschen Johannes Paul II. wegen seines moralischen Rigorismus und seiner angeblichen Halsstarrigkeit kritisiert. Man kann unter Schülern (und Studierenden?) fragen, was sie unter Moral verstehen, und sehr oft ergibt sich dann die Assoziationskette: „Moral“ ist vor allem der Inbegriff von Sexualnormen (bzw. entsprechenden Verboten) und wird primär von „der Kirche“ eingeschärft und eingefordert und diese wird dann mit dem päpstlichen Lehramt identifiziert. Demgegenüber kann man nicht genug den christologisch begründeten Personalismus, wie ihn Johannes Paul II. vertreten hat, hervorheben. Auch nach ihm ist die Kirche mater et magistra und ist der Papst servus servorum , heißt es doch: „Die Kirche stellt sich immer nur in den Dienst des Gewissens.“ (64). Zweitens ist es vorbildlich und bleibend wichtig, nach dem Zusammenhang von in Jesus Christus gründender Freiheit und Wahrheit zu fragen. Aber es gilt auch: Nur Normen, die in einem ausweisbaren Verhältnis zur Wahrheit und ihrer Erkenntnis stehen, können sinnvoll Anspruch auf universale Geltung machen. Viele säkulare Ethiker der Gegenwart umgehen diese Problematik, die ich in diesem Buch mehrfach als Frage nach der in jeder Ethik doch irgendwie und oft unausdrücklich vorausgesetzten Anthropologie angesprochen habe. Nur mit einiger Willkür kann man den (für viele Menschen) grundlegenden Zusammenhang von Anthropologie, Glauben und Theologie bestreiten. So kann man sagen, dass die Enzyklika Fragen, die von rein säkularen Ethiken gern verdrängt oder gar als sinnlos, mindestens als nur für partikulare Gruppen interessant hingestellt werden, erneut unabweisbar und bewusst zu machen versucht.

6 Vom 25. März 1995 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 120, Bonn 1995).

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4.1.4 Ökumenisch kontroverse Implikationen Auf der anderen Seite enthält die Enzyklika Erläuterungen und Begründungen, welche ihre ursprünglichen Einsichten von Grund auf gefährden, ja zu verkehren geeignet sind. Ich nenne vier: (1) Zunächst vertritt die Enzyklika ein angeblich auf Thomas von Aquin zurückführbares Verständnis von universalen und unabänderlichen Normen, welches dem Neuthomismus des späten 19. Jahrhunderts entspricht. Abgesehen davon, dass Thomas in seinem Gesetzestraktat (STh I-II, 90–105) mit keinem Wort Erkenntnis und Bestimmung der lex naturalis an das Papstamt und dessen Lehrvollmacht bindet, ist es schwer nachvollziehbar, wenn man behauptet, dass die Erkenntnis „ewiger Normen“ ohne das schöpferische Mittun des Menschen nach Maßgabe seiner jeweils im Gewissen gründenden Einsicht möglich wäre. Thomas hat das Naturgesetz impressio divini luminis in creatura rationali genannt (I–II, q 91, a 2; q 96, a2 ad 1). Die neuere Thomasforschung, ausgehend von den Vertretern der französischen „Nouvelle Théologie“ wie Marie-Dominique Chenu und Yves Congar, hat ein Thomas-Bild vor Augen gestellt, welches ganz anders die geschöpfliche Freiheit und die Würde der menschlichen Vernunft und die Freiheit des Gewissens vor Augen stellt, als dies der Papst tut.7 (2) Ich habe die starke Stellung des Gewissens in der Enzyklika betont. Hier gilt freilich, dass, was mit der einen Hand gegeben, sofort mit der anderen wieder genommen wird. Zwar steht die Kirche im Dienst der Gewissen, aber dessen Freiheit wird eingeschränkt auf diejenigen Einsichten und Entscheidungen, die es zu einem „rechten“ machen. Wahre Gewissensfreiheit kann es nur dort geben, wo sich das Gewissen in Übereinstimmung mit der Wahrheit befindet; Kriterium der Wahrheitserkenntnis ist aber letztlich die unfehlbare Einsicht des Vertreters des Lehramts, und zwar des derzeitigen! Unter Berufung auf sich selbst8 erklärt der Papst: „Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Natur tief eingeprägt, welche die Übereinstimmung seiner Entscheidungen mit den Geboten und Verboten begründet und bedingt, die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegen.“ (60) Dahinter ist leicht der alte römische Anspruch zu erkennen, welcher lautet: Nur die Wahrheit hat das Recht auf Anerkennung. Der Irrtum hat kein Recht, in der Öffentlichkeit propagiert zu werden. (3) Bernhard Häring, ein führender Vertreter der nachkonziliaren katholische Morallehre, hat darauf hingewiesen, dass der päpstliche Doktrinarismus die Notwendigkeit „pastoraler Lösungen“ in Fragen der Moral verkennt und sich darüber hin-

7 Vgl. dazu bes. Bd. 13 der deutschen ThomasAusgabe, hg. v. Otto Hermann Pesch, 1977.

8 Nämlich in Anm. 106 der Enzyklika.

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aus im Widerspruch zu klassischen Traditionen der Moraltheologie befindet.9 Er hat das anhand der Beispiele der Hexenverfolgung, des Zinsverbotes, der Religionsfreiheit und – vor allem – der Empfängnisverhütung dargelegt. Es ist leider nur zu offenkundig, dass die ganze Enzyklika eine unverkennbare Stoßrichtung im Blick auf die kirchlich approbierte Sexualmoral hat. Hier vor allem geht es um universelle und unveränderliche Normen, und hier befindet sich das faktische Verhalten der Mehrheit der Gläubigen im alltäglichen praktischen Dissens mit der Einsicht des Papstes. Damit werden die Gläubigen entmündigt und die Priester und Seelsorger zu reinen Befehlsausführern der päpstlichen Morallehre degradiert. (4) Ökumenisch inakzeptabel wird diese Position in meiner Sicht, wenn sie auf der einen Seite – am Exempel der Perikope vom reichen Jüngling – den Ursprung der christlichen Freiheit im Heilswerk Jesu Christi erkennt, andererseits aber den irdischen Stellvertreter Christi in der Einforderung des Gehorsams der Gläubigen nahezu an dessen Stelle rückt. Der sittlich geforderte Gehorsam der Christenmenschen kann im strengen Sinn nur ein Gehorsam gegenüber dem, der in die Nachfolge ruft, sein. Das lehrt die Enzyklika auch richtig im ersten Teil. Aber der freie Gehorsam (Nr. 41) gegenüber dem einladenden und bittenden Christus – der Ursprung aller wahrhaft christlich zu nennenden Ethik – wird verkehrt in einen der geistlichen Hierarchie und ihrer einsamen Spitze, dem Papst, geschuldeten Gehorsam. „Die Gläubigen sind verpflichtet, die spezifischen, von der Kirche im Namen Gottes, des Schöpfers und Herrn, vorgelegten und gelehrten sittlichen Gebote anzuerkennen und zu achten.“ (Nr. 76) Ja, die Sache wird dadurch noch schlimmer und unannehmbar, dass „die Kirche“, welcher der Gehorsam geschuldet wird, mit der Hierarchie, diese mit dem Lehramt und dieses letztlich mit dem derzeitigen Papst kurz geschlossen, um nicht zu sagen: identifiziert wird. Johannes Paul II. hat vor allem in den letzten Jahren seiner Amtszeit ganz folgerichtig unverkennbar versucht, seine Einsichten und Entscheidungen auf Dauer zu stellen, indem er – unfehlbar? – andere Lehren für alle Zukunft verboten hat, nämlich in der Frage der Zulassung von Frauen zum Priesteramt. Mit diesem Ewigkeitsanspruch für „unfehlbare“ Entscheidungen kann indes nach meiner Überzeugung auch ein starker Papst nur scheitern. 4.2 Zur römisch-katholischen Soziallehre Die Soziallehre der römisch-katholischen Kirche umfasst die Lehre der Kirche über das gesamte Gebiet des Zusammenlebens in der menschlichen Gesellschaft, wie diese einzurichten und zu ordnen sei und wie die Menschen sich in größeren oder kleineren Gruppen oder als Einzelne in dieser Gesellschaft und ihren Institutionen zu verhalten haben. 9 Vgl. seinen Beitrag in Dietmar Mieth (Hg.), Moraltheologie im Abseits?, Freiburg i.Br. 1994, 285–295.

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„Die katholische Soziallehre umfasst das Ganze der aus Naturrecht und Offenbarung gewonnenen Normen, die sich auf die Ordnung der Gesellschaft richten.“10 Man kann insofern auch die Soziallehre als eine normative Theorie der Gesellschaft verstehen.

4.2.1 Quellen und Träger der Soziallehre In der römisch-katholischen Kirche üben Papst und Bischöfe das Lehramt aus;11 der Papst und die zum Konzil oder zur Bischofssynode versammelten Bischöfe für die Gesamtkirche, die Bischöfe für ihre Diözesen, außerdem die Bischöfe eines Landes, die zu einer Bischofssynode zusammentreten. Dieses Lehramt betrifft die Glaubens- ebenso wie die Sittenlehre (doctrina fidei, doctrina morum ). Maßgebliche Quellen der Soziallehre der römisch-katholischen Kirche12 sind die Konzilstexte, die verbindlichen Lehräußerungen der Päpste, vor allem in Gestalt von Enzykliken an die Gesamtkirche, seltener auch an einzelne Kirchen, Ansprachen und Predigten (Homilien). Hinzu kommen Apostolische Schreiben, lehrmäßige Ansprachen, päpstlich approbierte Ausarbeitungen und Stellungnahmen von Vatikanischen Stellen wie der Kongregation für die Glaubenslehre.13 10 H. Schaefer, Art. Soziallehre, LThK 2. Aufl., Bd. 9 (1964), 917–92o, hier: 917. 11 Vgl. die umfassende Darstellung von Norbert Lüdecke, Die Grundnormen des katholischen Lehrrechts in den päpstlichen Gesetzbüchern und neueren Äußerungen in päpstlicher Autorität, Würzburg 1997. 12 Nützliches Hilfsmittel zum Studium römischkatholischer Dokumente: Heiner Grote, Was verlautbart Rom wie? Eine Dokumentenkunde für die Praxis, Göttingen 1995. 13 Die wichtigsten Enzykliken, die man in der Regel mit den Anfangsbuchstaben ihrer ersten Wörter abkürzt: RN Rerum novarum (Leo XIII. 1891) QA Quadragesimo anno (Pius XI. 1931) MM Mater et magistra (Johannes XXIII. 1961) PT Pacem in terris (Johannes XXIII. 1963) PP Populorum progressio (Paul VI. 1967) OA Octogesima adveniens (Paul VI. 1971) LE Laborem exercens (Johannes Paul II. 1981) SRC Sollicitudo rei socialis (Johannes Paul II. 1987) CS Centesimus annus (Johannes Paul II. 1991) VS Veritatis splendor (Johannes Paul II. 1993) EV Evangelium vitae (Johannes Paul II. 1995) Wichtige Lehrdokumente des II. Vatikanischen Konzils:

GS Gaudium et spes (1965 Vat. II) DH Dignitatis humanae (1965 Vat. II) Als gesamtkirchliches Lehrdokument, das die wichtigten Aussagen der Konzile und Päpste in Übereinstimmung mit dem Codex Iuris Canonici (1983) systematisch geordnet zusammnenzufassen versucht, ist der Katechismus der Katholischen Kirche (11. Oktober 1992), München 1993, zu nennen. Wichtig sind ferner Dokumente und Beschlüsse gesamtkirchlicher Synoden wie nationaler oder kontinentaler Bischofskonferenzen. Die amtliche Veröffentlichung der Lehrdokumente der Päpste und der Konzile erfolgt – meist in der approbierten ursprünglichen lateinischen Version – in den Acta Apostolicae Sedis (AAS; Romae 1909 ff). Gute deutschsprachige Ausgaben wichtiger Dokumente sind: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit einer Einführung von Oswald von Nell-Breuning, hg. v. Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deuschlands, Kevelaer 6 1985; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Vatikan/Freiburg i.Br 2004. Grundlegend für die Zeit Papst Pius’ XII. ist: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius’ XII., hg. von Arthur-Frido-

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4.2.2 Grundsätze der römisch-katholischen Soziallehre Im Zentrum der römisch-katholischen Soziallehre stehen die Prinzipien der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität. Diese Prinzipien verdienen ökumenische Anerkennung und Geltung und sind darüber hinaus argumentativ als Grundlagen einer umfassenden, allgemeinen Theorie der Sittlichkeit über ihren partikularen Entstehungskontext hinaus verallgemeinerungsfähig. Personalitätsprinzip Grundlage sind die Inkarnation Jesu Christi für alle Menschen in ihrer jeweiligen Besonderheit sowie die unantastbare Würde eines jeden Menschen unabhängig von Rasse, Stand, Herkunft, Alter, Geschlecht oder welchen Eigenschaften immer. Die Unantastbarkeit jedes Menschenlebens bildet die stärkste und unaufgebbare Seite der Soziallehre (SL); der „christologische Personalismus“ Johannes Pauls II. hat hier seine Wurzeln. Das Personalitätsprinzip hat seine Stärke im unbedingten Eintreten für das Lebensrecht jedes Menschen; hier vor allem haben deontologische Prinzipien in der kath. SL ihren Ort (z. B. unbedingtes Verbot der Folter). Andererseits können deontologische Grundsätze im Konfliktfall auch unbarmherzige Konsequenzen nach sich ziehen. Solidaritätsprinzip Jede und jeder Einzelne ist immer auch ein ens sociale : deshalb gilt, dass zur Würde jeder und jedes Einzelnen unabdingbar gehört, Gemeinschaft zu suchen und zu gewähren. Die SL schärft dies für alle Lebensbereiche ein, insbesondere für die Regelung der Arbeitsbeziehungen. Die Stärke dieses Prinzips liegt in der Kritik an jeder Gestalt eines egoistischen, nützlichkeitsorientierten Individualismus, insbesondere in Fragen der Wirtschaftsordnung; die Unzulänglichkeit erweist sich im Hang zu sozialen Harmonisierungen bei handfesten Konflikten, in der Tendenz zu einem politischen und sozialen Paternalismus sowie im ganz überwiegenden Bestreben der Hierarchie, sich selbst einer streng begrenzten Parteinahme möglichst zu entziehen. lin Utz/Joseph-Fulko Groner, 3 Bd., Freiburg i.Ue 1954–1961 (21962). Aus der Literatur siehe Stephan H. Pfürtner/Werner Heierle, Einführung in die katholische Soziallehre, Darmstadt 1980; Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik, Paderborn u. a. 1997; Marianne Heimbach-Steins (Hg.), Christliche Sozialethik, 2 Bd. Regensburg 2004. Eine grundlegende, umstrittene Neuorientierung der katholischen Soziallehre erfolgte durch die vor allem von Lateinamerika ausgehende Theologie der Befreiung; siehe dazu nach wie vor als

Einstieg die Theologie der Befreiung von Gustavo Gutierrez, zuerst 1972 (deutsch Mainz 1973); zu Entwicklung und Konzeptionen siehe exemplarisch die Überblicke: Hans-Jürgen Prien (Hg.), Lateinamerika. Gesellschaft – Kirche – Theologie, 2 Bd., Göttingen 1981; Alfred T. Hennelly (ed.), Liberation Theology. A Documentary History, Maryknoll, NY 1990; Ignacio Ellacuría/Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung (zuerst spanisch 1990), deutsch von Norbert Arntz u. a., Luzern 1995.

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Teil III Vermittlungen

Subsidiaritätprinzip Dieses Prinzip betrifft die Zuordnung von ens individuale et sociale im Sinne der Pflicht zu einer bestimmten Form der Unterstützung. Grundsätzlich ist jede und jeder für die Lebensführung selbst verantwortlich, aber wo die Kräfte nicht hinreichen, ist die jeweils komplexere oder „höherrangige“ Einheit einer Gesellschaft zur Hilfe zur Selbsthilfe verpflichtet. In der Gegenwart hat das Subsidiaritätsprinzip sogar Eingang in das EU-Vertragswerk von Maastricht gefunden. Die Stärke des Prinzips liegt in der Bewahrung individueller Freiheitsrechte und Verantwortlichkeiten angesichts drohender kollektiver Unmündigkeiten in modernen Gesellschaften. Die Schwäche des Prinzips liegt in seiner Einfachheit angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften und in seiner fast unbegrenzten Auslegungsbedürftigkeit, was meist den jeweils besser organisierten gesellschaftlichen Interessen entgegenkommt.

4.2.3 Probleme der römisch-katholischen Soziallehre Die römisch-katholische Soziallehre stößt auf verschiedene schwerwiegende Probleme hinsichtlich Begründung, Geltungsanspruch und Zustimmung. Diese betreffen (1) Kompetenzabgrenzungen (wer lehrt mit welcher Verbindlichkeit?), (2) das Verhältnis von Vernunft und Glauben (Philosophie und Theologie), (3) das Problem der (inner-)kirchlichen Autorität und (4) die Zuordnung von (allgemeiner) Sittlichkeit und (partikularer) kirchlicher Existenz. 4.2.3.1 Kompetenzabgrenzungen Die Soziallehre tritt mit dem Anspruch umfassender Anleitung zur gesellschaftlichen Orientierung an. Wie aber kann der Sachverstand aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, der gegensätzlichen Interessen und konfliktträchtigen gesellschaftlichen Bewegungen berücksichtigt werden? Ethiken aus den reformatorischen Traditionen haben im Gegensatz zu diesem umfassenden Leitungs- und Urteilsanspruch die Selbständigkeit „weltlicher“ Zuständigkeiten anerkannt und positiv beurteilt (Unterscheidung von zwei Reichen und/oder Regimenten, Legitimation des Eigenwertes weltlicher Berufe usw.); das Aequivalent dazu findet sich in der Soziallehre – besonders in der Zeit Johannes Paul II. – in der Betonung der Pflicht der katholischen Laien zu öffentlicher Verantwortung und in den Versuchen der Kirche, auf allen zugänglichen Ebenen das Gespräch der Theologie mit den säkularen Wissenschaften zu führen (Aufgaben der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, von Fachkongressen usw.). Grenzen dieser Öffnung zeigen sich aber immer, wenn die Frage des Gehorsams gegenüber der päpstlichen Lehre berührt wird.

Kirche und Ethos in römisch-katholischer Sicht

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4.2.3.2 Vernunft und Glaube Nach der eingangs genannten Definition bezieht die römisch-katholische Soziallehre ihre Grundsätze aus Naturrecht und Offenbarung. Versteht man – mit Thomas von Aquin – die Natur des Menschen nicht im Sinne eines empirisch begründeten Naturalismus, sondern als seine Vernunftnatur, als dasjenige spezifische Vermögen zur Selbstbestimmung von Handlungen aus Freiheit, das Erfolg und Verfehlung, Schuldigwerden und Erfolg umfasst, so ist deutlich, dass das theoretische Grundproblem in der Zuordnung von Glaube und Vernunft liegt. An dieser Fragestellung hat sich die innerkatholische Diskussion um die sog. „autonome Moral“ entzündet14, die im allgemeinen darauf hinausläuft, dass das Vermögen der Vernunft so umfassend wie möglich entfaltet und dargelegt werden muss, um die Perspektive des Glaubens zu bereichern, ihr aber nicht zu widersprechen. Ziel der Rede von einer autonomen Moral ist selbstredend nicht die Verabschiedung vom Christentum zugunsten einer in sich selbst genügsamen, autonomen Vernunft, sondern die Anerkennung der Größe und Leistungsfähigkeit humaner Vernunft. Tatsächlich hat sich in der weiteren Auseinandersetzung um Auers Arbeiten gezeigt, dass die eigentliche Konfliktlinie auch gar nicht im Verständnis der menschlichen Vernunft lag und liegt, sondern in der Frage der Autorität des Lehramtes – also in der Gehorsamsfrage. 4.2.3.3 Autorität und Gehorsam In allen schwerwiegenden und auch die nicht-römisch-katholischen Kirchen keineeswegs unberührt lassenden Auseinandersetzungen um die römisch-katholische Soziallehre geht es immer wieder im Kern um die Frage des der lehramtlichen Autorität geschuldeten Gehorsams. Anders gesagt: es geht darum, ob die an sich unstrittige, ja zur Menschenwürde unabdingbar gehörige Freiheit des Denkens und Handelns auch beansprucht und geübt werden darf, ja: muss, wenn dies im Gegensatz zu den Lehren der höchsten kirchlichen Autorität geschieht. Unstrittig ist dabei im römisch-katholischen Kontext dreierlei: (1) Recht und Pflicht des Lehramtes, zur ethischen Urteilsbildung anzuleiten, (2) Recht und Pflicht der Gläubigen, die Lehre der Kirche zu prüfen, gegebenenfalls Kritik vorzubringen und dann nach Möglichkeit zu vertreten, (3) Unantastbarkeit des Gewissens jeder Person. Um die an dieser Stelle mit innerer Folgerichtigkeit auftretenden Konflikte zu entspannen, hat schon die mittelalterliche Kirche gefordert, auch das irrende (nicht: das häretische) Gewissen zu achten. Exakt an dieser Stelle hat Papst Johannes Paul II. die Zumutungen an die Gehorsamsbereitschaft der möglicherweise dissentierenden Gläubigen verschärft. Die Autoritäts- und Gehorsamsproblematik verweist auf die tiefere Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Wahrheit. Es geht letztlich um die Fragen der Wahrheit der Offenbarung, der Möglichkeit ihrer zweifelsfreien, klaren und eindeutigen Erkenntnis, der Form und Mitteilbarkeit dieser Erkenntnis und schließlich um das 14 Ausgehend von Alfons Auer, Autonome Moral und christlicher Glauben 1971; dazu jetzt Hans Hirschi, Moralbegründung und christlicher

Sinnhorizont, 1992; Auer selbst hat interessanterweise eine seiner ersten Arbeiten dem Berufsverständnis bei Thomas und Luther gewidmet.

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Verhältnis der Aussagen des Lehramtes zur Wahrheit der Offenbarung. Es geht also um den unauflösbaren, aber in sich Unterscheidungen fordernden Zusammenhang von Theologie, Ontologie und Hermeneutik. Erneut zeigt sich hier methodisch die Notwendigkeit, in der theologischen Dogmatik und Ethik den Zusammenhang von Schriftauslegung (Hermeneutik), Kirchenverständnis (Ekklesiologie) und die Frage nach der Offenbarung der Wahrheit (Fundamentaltheologie/Christologie) zu bedenken. Das sind freilich alles Fragen, die sich in Kirchen, die sich nicht (mehr) trauen, klar und deutlich zu sagen, was ihnen an Erkenntnis zuteil geworden ist, und die auch ihre soziale und rechtliche Gestalt (als Teil ihres Zeugnisses) nicht ernst nehmen, gar nicht stellen. Wenn man in dieser Hinsicht deutliche Versäumnisse evangelischer Kirchen feststellen muss, nötigt der Vergleich mit der römisch-katholischen Kirche zu der Frage, ob und wie denn ein besserer Umgang mit diesen Problemen aussehen kann. Ich skizziere dazu folgende Schritte einer möglichen Argumentation: (1) Es gilt, den Prozess der kirchlichen Urteilsbildung in Konflikt und Konsens so zu gestalten, dass man zu einem möglichst sachhaltigen, biblisch begründeten und für die Gläubigen aus freier Einsicht anzuerkennenden Ergebnis gelangen kann. Zustimmung muss erbeten, darf aber nicht autoritativ eingefordert werden, Dissens nicht zum Gegenstand von Sanktionen gemacht werden. (2) Die unaufhebbare Differenz zwischen einer heute möglichen, gemeinsam formulierbaren ethischen Erkenntnis samt den entsprechenden Handlungen und Verhaltensweisen einerseits, dem Ursprung und Grund dieser Erkenntnis in der Freiheit der Offenbarung Gottes andererseits muss jederzeit gewahrt werden. Die Einziehung dieser Differenz führt zum Autoritarismus des römisch-katholischen Lehramtes; die Vergleichgültigung dieser Differenz zu einem offenbarungs- und erkenntniskritischen Skeptizismus und letztlich zu einer Indifferenz gegenüber der Wahrheitsfrage, wie in Teilen des heutigen Protestantismus. Gibt es einen Ausweg? Meines Erachtens nur die ökumenische, kontinuierliche Anstrengung zur Gewinnung eines gemeinschaftlichen, öffentlichen Zeugnisses auf der Basis gründlicher, gemeinsamer, streitbarer und für den Gegenstand offener theologischer Arbeit, ohne dass für die Autorität dieses Zeugnisses äußere Machtmittel in Anspruch genommen werden dürfen. (3) Ein derartiger verbindlicher Konsens unter dem vielstimmigen Zeugnis der Bibel (und der Traditionen der Kirche) muss zur Prüfung, Annahme oder Bestreitung (mit Gründen) öffentlich gemacht und Gegenstand erneuerter ökumenischer Kommunikation werden.

Werte und Normen

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5. Werte und Normen Die philosophischen, sozialwissenschaftlichen, juristischen und theologischen Debatten um Normen und Werte sind seit langem unklar, widersprüchlich und unübersichtlich. Der alltägliche Sprachgebrauch ist diffus. Allgemein anerkannte Versuche von Definitionen sind kaum auszumachen. Zwar ist Balzacs Diagnose,1 derzufolge der Wertbegriff – wenn es denn ein Begriff ist – mit der kapitalistischen Revolution der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommt, durchaus zuzustimmen, aber das, was die Rede von Werten bedeutet oder bedeuten kann, gab es in anderen sprachlichen Ausdrücken schon lange zuvor. Was sind „Werte“, was „Normen“, wie verändern sie sich oder wie werden sie verändert, wie soll mit Normen und Werten umgegangen werden?2

5.1 Werte Der Wertbegriff der europäischen Sprachen3 hat seine Ursprünge, wie vielleicht als Erster Honoré de Balzac klar erkannt hat, in der Sphäre der Ökonomie – diese in gleicher Weise verstanden als Gegenstandsbereich und darauf bezogene Theoriebildung. „Wert“ und die entsprechenden Wörter (valor, valeur, value) bezeichnen durchweg den Preis oder die Kaufsumme oder die subjektive Einschätzung (Wertschätzung) einer Sache oder auch eines Menschen. Es geht stets um eine Güte oder eine Qualität von jemand 1 Er schreibt: „Die Umordnung der Verhältnisse im Jahre 1830 brachte, wie jedermann weiß, viele alte Ideen ans Licht, die geschickte Spekulanten zu verjüngen suchten. Insbesondere wurden seit 1830 die Ideen zu Werten; und, wie ein Schriftsteller gesagt hat, der geistreich genug war, nichts zu publizieren, man stiehlt heute mehr Ideen als Taschentücher. Vielleicht werden wir eines Tages eine Börse für die Ideen haben. Aber schon jetzt, seien sie nun gut oder schlecht, werden die Ideen nach ihrem Kurswert notiert; man sammelt sie; man importiert sie; man trägt sie; man verkauft sie; man setzt sie um; sie bringen Zinsen. Wenn es keine Ideen zu verkaufen gibt, versucht die Spekulation, bloße Werte in Gunst zu setzen; sie gibt ihnen die Konsistenz einer Idee und lebt von ihren Werten wie der Vogel von seinen Hirsekörnern. Lachen Sie nicht! Ein Wert gilt ebensoviel wie eine Idee in einem Land, wo man durch die Aufschrift des Sackes leichter verführt wird als durch seinen Inhalt. . . Indem sie zu einem Ge-

werbebetrieb wurde, musste die Intelligenz mitsamt ihren Produkten natürlicherweise dem Verfahren gehorchen, das von den gewerblichen Manufakturen angewendet wird.“ So in: L’Illustre Gaudissart (La Comédie humaine, tome IV : Études de mœurs : Scènes de la vie de province), Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1976, (545)561–598 (566). Übersetzung Georg Picht (s. unten). 2 In diesen Abschnitt nehme ich, inhaltlich weitgehend wörtlich, meinen Beitrag „Grenzverschiebungen – Grenzüberschreitungen“ auf, der erschienen ist in: Katrin Kusmierz u. a. (Hg.), Grenzen erkunden zwischen Kulturen, Kirchen Religionen, Frankfurt a. M. 2007, 353–374. Die dortige Thesenform sollte die Tatsache unterstreichen, dass die Debatten über Normen und Werte eine erheblich breitere Darstellung und Kritik erfordern. 3 Siehe Anton Hügli u. a., Art. Wert, HistWbPhilos Bd. 12 (2004), 556–583 (Lit.).

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oder etwas für sich und/oder andere, sei es um eine Selbsteinschätzung, eine Fremdzuschreibung, eine „objektive“ oder eine „subjektive“ Einschätzung der Vorziehenswürdigkeit von etwas – von Gütern, Handlungen, Lebensformen und eben auch: Menschen. Der moderne Wertbegriff ist (auch) ein Erbe des traditionellen Begriffs oder der Idee des Guten. Insofern steht die moderne „Wertethik“ auch in der Tradition der antiken wie der neuzeitlichen „Güterethik“. Schon der antike Begriff des Wertes oder Wertgeschätzten (axion) oder des Guten oder eines Gutes (agahon) umfasst wenigstens drei Aspekte: die Schätzung von etwas oder jemand „an sich“, die Beurteilung eines sachkundigen Prüfers oder den subjektiven Vorzug.4 Ein Wert oder Werte sind, wie alle Bestimmungen des Guten, stets bezogen auf gesellschaftlich relevante (nicht notwendigerweise: allgemein geteilte) Auffassungen des für jeden Menschen Erstrebenswerten. Um den eigentümlichen Wert von etwas oder jemand auszudrücken, hat die Tradition vor allem den Begriff des „Naturgemäßen“ verwendet. Was der Natur entspricht, ist vorziehenswürdig oder unbedingt einzuhalten. Es ist offenkundig, dass hier nach Maßgabe des jeweiligen Verständnisses von Natur (fusiß) die Antwort unterschiedlich ausfallen muss: Als „Natur“ oder „natürlich“ kann angesehen werden, was typischerweise und unabänderbar in der mitmenschlichen „Natur“ oder im natürlichen Leben (natura , bioß) begegnet, was immer schon so gewesen ist (Tradition) oder was der Natur der Vernunft entspricht. Dass die Vernunft zu erkennen versuchen muss, was der Erhaltung der mitmenschlichen Natur dient, ist eine antike Einsicht, die unter dem Druck der aktuellen ökologischen Herausforderungen neu entdeckt worden ist.5 Der moderne Wertbegriff, der „späteste und zugleich schwächste Nachkömmling des agahon“ (Heidegger6), zeichnet sich dadurch aus, dass seine Verwendung einerseits durch den Verlust einer zugrunde liegenden Ontologie und Naturtheorie bestimmt ist, andererseits die spezifisch kapitalistische Annahme einer durchgehenden geldförmigen Vergleichbarkeit und Verfügbarkeit aller Sachverhalte voraussetzt. „Ein Königreich für ein Pferd“7 ist eine extrem notgeborene, subjektiv-vergleichende Wertschätzung und die Urform der ökonomischen Grenznutzentheorie des Wertes.

4 Vgl. Maximilian Forschner, Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt, 1998, 31– 49. 5 Die Reflexion auf den Zusammenhang von Natur und Sittlichkeit und die Theorieformen von Physik und Ethik steht im Zentrum von Georg Pichts Aufsatz „Zum philosophischen Begriff der Ethik“ (1978), in dem sich auch das eingangs an-

geführte Balzac-Zitat findet (in: ders., Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Stuttgart, 1980, 137–161). 6 Platons Lehre von der Wahrheit (1947), in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M., 1967, 109– 144 (133). 7 „A horse! A horse! My kingdom for a horse!“ William Shakespeare, Richard III., 5,4.

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Die Verwendung des Wertbegriffs in moralischen und ethischen Zusammenhängen hat im 19. und 20. Jahrhundert weithin die Traditionen des Naturrechts beerbt und dabei vor allem drei Ausprägungen erfahren: – Im Sinne subjektiver Wertsetzungen, die letztlich Ausdruck und Folge einer Vielfalt und eines (unauflösbaren) Antagonismus von Wertsetzungen und Werthaltungen sind (Max Weber). – Im Sinne eines „objektiven Wertdenkens“ (Max Scheler8, Nicolai Hartmann9), für das Werte irrationale, emotionale und intuitive Akte einer spezifischen Haltung zur Welt sind. Ich denke, dass beide Linien des Nachdenkens über Werte in Sackgassen geführt haben: Webers Annahme einer Unvereinbarkeit letzter, subjektiv geprägter „Werthaltungen“ unterschätzt die Möglichkeiten menschlicher Kommunikation; ein „objektives Wertdenken“ scheitert an der empirisch unbestreitbaren Tatsache eines Wertewandels.10 – Im Sinne einer Bestimmung eines „Reflexionsgleichgewichts zwischen dem Guten und dem Rechten“, wie sie im „nachmetaphysischen“ Pragmatismus von William James, John Dewey oder John Rawls begegnet.11 Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbreitete Rede von Werten – zunehmend auch von Grundwerten – hat unterschiedliche Zielrichtungen und Funktionen. Entsprechend begegnen typische Formen der Kritik an (vor allem: politischen) Werten. In der politischen Rede von „Grundwerten“ werden in einer demokratischen Öffentlichkeit Vorstellungen oder Visionen eines guten Lebens präsentiert, welche zu allgemeiner Zustimmung einladen.12 Dabei kann es sowohl um den Versuch gehen, eine Art demokratischen Grundkonsens zu formulieren, als auch um die (kämpferische) Durchsetzung von bloß partikularen Überzeugungen. Die Kritik richtete sich vor allem darauf, eine Menge traditioneller Werte mit Hilfe staatlichen Rechtes gegen mögliche Kritik und Nichtbeachtung zu immunisieren. Unter Aufnahme des von Nicolai Hartmann geprägten Ausdrucks einer „Tyrannei der Werte“ hat Carl Schmitt13 den Blick darauf gelenkt, dass (subjektive) Wertset8 Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (1913/1916), Ges. Werke Bd. 2, Bern 61980. 9 Ethik (1925), Berlin 41962. Zur Wertphilosophie siehe Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, 197–231. 10 Siehe hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: OIKEIwSIS (FS Robert Spaemann), Weinheim, 1987, 1–21. Zur „Wertethik“ des 20. Jh. in ihrer Beziehung zur Theologie vgl. Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin/ New York 1990, 214–222; Hartmut Kreß, Ethi-

sche Werte und der Gottesglaube. Probleme und Perspektiven des neuzeitlichen Wertbegriffs, Stuttgart u. a. 1990. 11 Siehe zu diesen Traditionen Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997 (Zitat 264). 12 So hat die deutsche SPD 1959 in ihrem Godesberger Programm erklärt: „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die aus der gemeinsamen Verbundenheit folgende gegenseitige Verpflichtung, sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens.“ Als deren „Wurzeln“ werden die christliche Ethik, der Humanismus und die „klassische Philosophie“ genannt. 13 Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation

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zungen unter bestimmten Umständen ein aggressives Potential enthalten oder entbinden. Wer Werte setzt, will sie geltend machen und durchsetzen. Sobald das haltgebende Vertrauen in religiös oder metaphysisch begründete Ordnungen schwindet, werden nach Schmitt die Werte zu Symbolen im ideologischen und/oder politischen Kampf. Eine solche „Wertethik“, die allerdings nur den Namen mit dem von Hartmann vertretenen Verständnis teilt, dient der Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung, auch und besonders unter dem Mantel politischer Ideologien und polemogener Freund/Feind-Unterscheidungen.14 Werte oder Grundwerte wurden und werden vielfach in politisch-ideologischer Rhetorik instrumentalisiert, um partikularen Überzeugungen (notfalls mit gewaltbereitem Nachdruck) zur Durchsetzung zu verhelfen. Eine spezifische Verwendung des Wertbegriffs im Kontext der politischen Ethik und der Jurisprudenz war in Westdeutschland in den 1970/80er Jahren zu beobachten: Die Berufung auf „Werte“ oder, wie man damals gern sagte, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (FDGO) diente (auch) dazu, politische und soziale Abweichler zu diskriminieren. Die Instrumentalisierung von „Werten“ im Dienst einer durchaus politischen Jurisprudenz erneuerte die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in politischer Absicht, wie dies schon in der Judikatur des NS-Staates der Fall war. Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist dem Gedanken einer „Wertbegründung des Rechts“ oder einer maßgeblichen Berufung auf die angebliche „Wertordnung“ des Grundgesetzes letztendlich nicht gefolgt.15 und Utopie. Ebracher Studien (FS Forsthoff), Stuttgart 1967, 37–62. 14 Im Blick auf einen solchen Wert„begriff“ hat Eberhard Jüngel zurecht festgestellt: „Wertethik und christliches Ethos sind einander feind.“ So in seinem Beitrag: Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“ (1979), in: ders., Wertlose Wahrheit, München, 1990, 90–109 (105). Allerdings hat Jüngel im Rahmen seiner Fragestellung nicht den Versuch gemacht, ein Verständnis von Wert im Sinne einer – wie immer ermöglichten – Vision gelingenden Lebens zu bedenken. 15 Zum gesellschaftlichen Wertbewusstsein als Grundlage einer Wertbegründung des Rechts hat Böckenförde (a. a. O., 20) zutreffend bemerkt: „Die Wertbegründung des Rechts gründet das Recht auf ein schwankendes Element, den zeitigen Wertkonsens, der gerade in einer pluralistischen Gesellschaft häufigen Schwankungen unterliegt und in sich keine Richtigkeitsgewähr bietet. Sie verzichtet darauf, diesen Konsens nach außerkonsensualen Kriterien auf seinen Inhalt zu prüfen, nimmt ihn vielmehr als unüberfragbare Instanz. Damit huldigt sie in neuer Form einem Positivismus, nämlich dem Positivismus der Ta-

geswertungen. Diesen gegenüber vermag sie kein Rechtsprinzip aufrechtzuerhalten, wenn es vom aktuellen Konsens nicht mehr getragen wird. Sie vertraut lediglich darauf, dass dies nicht geschieht.“ Dazu aber, so Böckenförde, bestehe nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts kein Grund. Zur weiteren Diskussion siehe die Beiträge in: Ralf Dreier (Hg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts (ARSP-Bh. 37), Stuttgart 1990. – Zwar hat das deutsche Bundesverfassungsgericht zeitweise dem Grundgesetz eine „objektive Wertordnung“ entnommen (BVerfGE 7, 198 [204]), doch hat dazu Ernst Benda zutreffend bemerkt: „Diese Beschreibung würde missverstanden, wollte man aus ihr eine Ermächtigung des Staates entnehmen, eine für alle verbindliche Ideologie zu entwickeln. Aufgabe der Wertordnung ist es nicht etwa, die Freiheit des Einzelnen zu begrenzen, die es ihm auch erlaubt, seine eigenen Überzeugungen zu bilden und zu äußern. Im Gegenteil soll durch den Hinweis auf die Wertordnung des Grundgesetzes die Wirkkraft der Grundrechte noch verstärkt werden. Zu ihnen gehören unverzichtbar gerade auch die Freiheit des Glaubens und des Gewissens sowie die Meinungsfreiheit.“ So in dem Beitrag: Grund-

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Ziemlich unberührt von den theoriegeschichtlichen Überlegungen zur Bedeutung von Werten und einer Wertethik gibt es empirische Forschungen zur Frage, was Menschen im Blick auf ihre typischen Lebenslagen wirklich wichtig ist, was sie – empirisch beobachtbar und befragbar – im Blick auf Lebensführung, Einstellungen, Überzeugungen und Handlungsorientierungen für wichtig und persönlich verpflichtend halten. Was dabei beispielsweise als „European Values“16 in den Blick empirischer Forschung kommt, ist allerdings begrifflich extrem unscharf, aber man darf zwei Sachverhalte nicht ignorieren: die riesige Weite der Inhalte der sinnvollen Rede von „Werten“ einerseits und die bezeichnenden kulturellen Unterschiede allein in Europa andererseits. Ich halte es für angemessen und diskutabel, von Werten dann zu sprechen, wenn es um vorziehenswürdige Güter, Einstellungen, Verhaltensweisen und Handlungsorientierungen geht, denen durch konkretes Handeln von Individuen und Kollektiven zielgerichtet entsprochen werden kann und soll. Werte bilden einen je geschichtlich variablen Komplex von Visionen und Erwartungen eines guten Lebens. Die Menschen, die diese Werte schätzen, erwarten, dass ihre Visionen und Erwartungen hinsichtlich eines guten Lebens auch andere Menschen angehen (sollten) und allgemein zustimmungsfähig sind oder sein könnten. Sie wissen aber auch (oder könnten wissen), dass diese Erwartungen und Schätzungen nur einen Teil eines tatsächlichen Pluralismus von Werten in der (Welt-)Gesellschaft bilden. Werte sind Ausdruck dessen, was Menschen insgesamt für ein lebenswertes Leben halten. Werte sind in einem auch heute noch vertretbaren Sinne die Erben dessen, was seit Aristoteles in der Ethik der Inbegriff des „guten Lebens“ ist. Darum kann man eine (kontroverse, multikulturelle) Diskussion über Werte vermutlich am besten mit der Frage einleiten: Was ist für die (individuelle und kollektive) Lebensführung unabdingbar, lebenswichtig, haltgebend?17

5.2 Normen Der Begriff der Norm wird wie der des Wertes in einem mehrfachen Sinne gebraucht. Seiner Herkunft (griech. kanwn, lat. norma) und allgemeinen Verwendung nach bedeutet er Regel, Richtschnur, Maßstab, Vorschrift. Es ist zweckmässig, unterschiedliche gesetz – Verfassung/Verfassungsreform, in: Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 52003, 237–244 (240). 16 Siehe hierzu Loek Halman u. a., Atlas of European Values, Tilburg (NL) 2005. Die in diesem Band dokumentierten empirischen Befragungen interessierten sich u. a. unter dem Stichwort „religion“ für die Teilnahme von Menschen an religiösen Anlässen, das Verhältnis zur Kirche oder

die Wichtigkeit Gottes. Die Antworten sind aufschlussreich, aber dies alles unter values zu rubrizieren, ist zumindest nicht selbstverständlich. Ich plädiere für einen engeren, Unterscheidungen ermöglichenden Wertbegriff. 17 So als Theologe zu fragen, bedeutet daran zu erinnern, dass für Martin Luther die Frage nach Gott identisch war mit der Frage, woran ein Mensch im Leben und im Sterben sich letztendlich orientiert.

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Sorten von Normen zu unterscheiden, und zwar vor allem im Bezug auf ihren Status (die Art ihrer Geltung), ihren Gegenstandsbereich und die (möglichen oder notwendigen) Sanktionsarten im Falle der Nicht-Beachtung von Normen. Die Menge der sozialen Normen umfasst insbesondere sittliche und rechtliche Normen. Normen sind, soziologisch gesehen, allgemein kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen,18 welche als Regeln oder Regelsysteme für menschliches Denken, Deuten, Ordnen, Gestalten, Handeln, Unterlassen und Verhalten dargestellt werden können, zu denen ein Anspruch auf Geltung (Anerkennung und Verbindlichkeit) gehört. Normen sind einerseits tatsächlich befolgte Orientierungen des Handelns und Verhaltens im Sinne von anerkannten Regeln (deskriptiv), andererseits stellen sie gegenüber alternativen Handlungsmöglichkeiten geltend gemachte, aber – unter möglicher Sanktionsfolge – übertretbare Vorschriften dar (präskriptiv). 5.2.1 Soziale Normen beziehen sich auf (tatsächliche oder mögliche) Kommunikationen in der Gesellschaft (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen betreffen soziale Normen das als üblich erwartete soziale Verhalten und Handeln, den Brauch und die Sitte und dabei in besonderer Weise das rechtlich gebotene Handeln und Verhalten. Ihre Herkunft liegt in den verhaltenssteuernden Traditionen und den politisch bestimmten rechtlichen Setzungen einer Gesellschaft. Der Status von sozialen Normen (Geltung) kann zwischen Anerkennung und Bestreitung (Nicht-Befolgung) schwanken, und zwar hauptsächlich aufgrund von (1) tradierten Üblichkeiten, (2) vernünftiger Einsicht, (3) rationaler Nutzenerwägung und (4) Erzwingung durch eine überlegene Instanz. Bei sittlichen Normen dominieren die Gründe (1) bis (3), zu den rechtlichen Normen gehört in aller Regel die Befugnis zu zwingen (4), doch überlappen sich alle vier Elemente auf vielfache Weise. Viele soziale Normen unterliegen einem geschichtlichen Wandel: Normen können veralten und abgetan werden, neue Normen können entstehen oder verfügt werden. Das macht das Element des „Kontrafaktischen“ aus: Soziale Normen können, müssen aber nicht eingehalten werden, ihre Befolgung ist in dem Sinne kontin18 So Niklas Luhmann, Normen in soziologischer Perspektive, in: Soziale Welt 20, 1969, 28– 48. Dieser Normbegriff hat seinen Ort im Feld sozialer Interaktionen (Kommunikationen) mit dem Merkmal wechselseitiger Verhaltenserwartungen. Zu diesen Erwartungserwartungen gehört, dass (1) sie enttäuscht werden können, dass (2) die Interagierenden das auch (mehr oder weniger klar) wissen und (3) gleichwohl hinlänglich an ihren Erwartungserwartungen festhalten, da

sie (4) grundsätzlich mit einer (wechselseitig unterstellten) Stabilität der Erwartungen rechnen (können), und zwar (5) nicht nur, aber auch aufgrund erwartbarer Sanktionen. – Zur ethischen Diskussionslage vgl. Willi Oelmüller (Hg.), Materialien zur Normendiskussion, 3 Bd., Paderborn 1978/1979; Konrad Ott, Art. Prinzip/Maxime/ Norm/Regel, in: Marcus Düwell u. a. (Hg), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 457–463.

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gent, dass dies weder unmöglich noch notwendig ist. Es kann auch anders kommen. . . Neue soziale Normen können durch Vorbilder, Erfahrungen, Erschütterungen, geschichtliche Ereignisse oder charismatische Führerpersönlichkeiten hervorgerufen werden. Neue rechtliche Normen sind in modernen Gesellschaften vor allem das Ergebnis gesetzgeberischer und richterlicher Tätigkeit, doch nicht unabhängig von geschichtlichen Herausforderungen. Beide Normgruppen bedürfen, um als Normen wirksam zu fungieren, erfolgreicher sozialer Stabilisierung durch hinreichende Anerkennung. 5.2.2 Rechtliche Normen 19 sind vom Gesetzgeber auf verfahrensmäßig korrekte Weise anerkannte und gesetzte sowie von Verwaltung und Justiz konkretisierte und weitergebildete (positive) Regeln vielfältiger Art und umfassen auch den positiven Regeln übergeordnete (legitime) Kriterien zur Beurteilung positiv-rechtlicher Normen. Normen können durch Entscheidungen von Menschen (neu) beschlossen und durchgesetzt werden, in der Regel aufgrund vernünftiger Prüfung und rationaler Zweckorientierung. Dies betrifft hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich rechtliche Normen. Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis von positiven Rechtsnormen und über-positiven Gerechtigkeitskriterien (traditionell: Naturrecht; aktuell: Menschenrechte). Vielfach geht man heute davon aus, dass positivrechtliche Normen eines Minimums sittlicher Begründbarkeit fähig sein müssen.20 – Als Ursprünge von (positiven) rechtlichen Normen können, analog zu Max Webers Typen legitimer Herrschaft21, drei Grundtypen der Normherkunft bzw. -begründung verstanden werden: (1) traditionell: Gewohnheitsrecht, (2) charismatisch: Aufkommen und Durchsetzung neuer Normen aufgrund bestimmter Führungsgestalten; (3) rational: Tätigkeit eines legalen Gesetzgebers – Legitimation durch Verfahren im Rechtsstaat. – Rechtliche Normen können im Unterschied zu sittlichen Normen grundsätzlich gerichtlich geprüft, anerkannt, eingeklagt und auch gegen Widerstreben unter Anwendung von rechtmäßigem Zwang durchgesetzt werden. „Gesetze sind gerichtsfähige Normen.“22 19 Zum Rechtsbegriff der Norm und dem Problem der sittlichen Rechtfertigung von Recht(snormen) vgl. Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, in: ders., Recht-Staat-Vernunft, Frankfurt a. M. 1991, 95–119. 20 Ebd. Den (vermeintlichen) Gegensatz von Naturrecht und Rechtspositivismus kann ich hier nicht weiter erörtern. Mir scheint, dass man diesen Gegensatz kulturell relativieren kann und muss im Blick auf die Frage nach der Bedeutung der Sittlichkeit a) für eine konkrete Gesellschaft, b) für ihr Justizwesen (und die darin tätigen Per-

sonen) und c) für das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit im Sinne einer Freiheit ermöglichenden Unterscheidung. 21 Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft (1922), in: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (MWG I/22–4), Tübingen 2005, 717– 742 (Text 726–742). 22 Wolfgang Bock, Art. Gesetz, staatlich, in: Evangelisches Staatslexikon. Neuausgabe, Stuttgart 2006, 763–772 (763). Zur Vielfalt des Gesetzesbegriffs siehe ders., Gesetz und Gesetzlichkeit in den Wissenschaften, Darmstadt 2005.

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– Rechtliche Normen (Rechtssätze) – geschriebene (Gesetze, Verordnungen) wie ungeschriebene (Gewohnheitsrecht) – enthalten Anordnungen für das Handeln und Verhalten von Menschen und verbinden einem verantwortlichen Rechtssubjekt zuzurechnende Tatbestände mit bestimmten Rechtsfolgen. In diese Verknüpfung gehen stets gesellschaftliche Machtpositionen, Wertungen und sittliche Normvorstellungen ein. „Rechtssätze enthalten normative Wertentscheidungen für soziale Konflikte.“23 5.2.3 Sittliche Normen beziehen sich nicht nur auf Handlungen, sondern auch auf erwartete Eigenschaften und Verhaltensdispositionen (Tugenden), auf als zu befolgende vorgestellte Pflichten (Sollen) und auf als erstrebenswert erachtete Ziele und Werte (Güter).24 Sittliche Normen vermitteln zwischen rechtlichen Pflichten und subjektiven Einstellungen bzw. Überzeugungen. Die (mehr oder weniger) strikte Unterscheidung von sittlichen und rechtlichen Normen (Moralität und Legalität) ist auf dem Boden der europäischen Aufklärung entstanden und stark von der Moralphilosophie Kants geprägt. Danach gelten rechtliche Normen allein im Blick auf konfliktträchtige, koordinationsbedürftige äußere Handlungen von Menschen, während sittliche Normen die inneren Beweggründe, Überzeugungen, Wertschätzungen und Zielsetzungen betreffen und insoweit nicht Gegenstand rechtlicher Beurteilung sein dürfen. Allerdings sind (öffentlich) bekundete sittliche Überzeugungen keineswegs irrelevant bei der gerichtlichen Beurteilung der Recht- und Gesetzmäßigkeit von Handlungen. Sittliche Normen können jedoch nur dann gerichtlich eingeklagt werden, wenn ihre Berücksichtigung rechtlich geboten ist. Sittliche Normen können in modernen, liberalen Rechtsstaaten zwar nicht vor Gericht eingeklagt werden, aber ihre Verletzung kann zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen schärfer sanktioniert werden als dies bei etlichen Rechtsbrüchen der Fall ist. Menschen vieler Kulturen und Rechtsordnungen teilen die europäische Unterscheidung von Moralität und Legalität nicht.25 Kulturkonflikte im Zusammenhang mit Migrationen entstehen oft aus Spannungen und Gegensätzen von sittlichen und rechtlichen Normen, die in unterschiedlichen Traditionen verwurzelt sind.26 Durch eine bestimmte Kultur geprägte Wertvorstellungen und sittliche Normen, insbesondere Normen der Ehre, der Familien- und Sexualmoral, der religiösen Bräuche u. a.m., können in Konflikt geraten mit den Rechtsnormen einer staatlich verfassten 23 Bock, Gesetz, 769. 24 Die Dreiteilung von Tugend-, Pflichten- und Güterethik liegt dem Ethikkonzept F.D.E. Schleiermachers zugrunde, wie er es in seinen Akademievorträgen entwickelt hat (KGA Bd. 11), Berlin/New York 2002. 25 Sowohl im kanonischen Recht der römischkatholischen Kirche wie in der überwiegenden

Rechtsauffassung des Islam spielt die hierarchische Stufung von Sittlichkeit und Recht eine entscheidende Rolle, oft verbunden mit einer Überordnung der geistlichen Judikatur in Recht und Moral gegenüber der weltlichen Justiz. Vgl. näher unten, III. 6. 26 Siehe Walter Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt, Zürich 2000.

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Gesellschaft. Die Dynamik derartiger Konflikte kann zum Motor eines innergesellschaftlichen und eines interkulturellen Wertewandels werden. Sittliche Normen sind im vorherrschenden Verständnis der europäisch geprägten Moralphilosophie an Maximen und Prinzipien des in seiner Verhaltenswahl (relativ) freien Wollens von Menschen orientiert. Die Beziehung von sittlichen Normen auf Maximen und (mögliche) Prinzipien impliziert Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer argumentativen Begründung (siehe unten 5.2.5).27 Sittliche Normen können in einem begründenden, komplementären oder indifferenten Verhältnis zu rechtlichen Normen stehen. Sittliche Normen können über das rechtlich Gebotene weit und exklusiv hinausgehen (religiös begründete Sonderpflichten – traditionell: opera supererogatoria ), aber auch (funktional) in einem Ergänzungsverhältnis zu positiven Rechtsnormen stehen (z. B. rechtsethische Klauseln wie „Treu und Glauben“), aber auch dahinter zurückbleiben (sittliche Normen lediglich als Teil eines umfassenden Nutzenkalküls betrachtet28). 5.2.4 Im Unterschied zu sozialen Normen sind technische Normen in erster Linie aufgrund empirischer Beobachtungen und rationaler Erkenntnisse festgesetzte Regeln (Vorschriften), denen instrumentelles Handeln im Rahmen geltenden Rechts folgen soll. Sie definieren Richtlinien und Standards (z. B. DIN-Normen für Qualitäten, Quantitäten, Verfahren), denen eine rechtlich zulässige zweck- und zielorientierte Mittelwahl auf dem betreffenden Gebiet genügen muss. Technische Normen können aus der Natur der Sache geboten und insofern immanent rational sein (z. B. Belastbarkeitsstandards bei Bauwerken) oder extern – aus welchen Gründen immer – vorgeschrieben werden (Schutznormen, „Stand von Wissenschaft und Technik“). Technische Normen können aufgrund von Erfahrungen oder der Einsicht in natürliche Gesetzmäßigkeiten gewonnen werden, Ergebnis pragmatisch-konventioneller Vereinbarungen sein oder Regeln darstellen, die ihrerseits das (gewichtete) Ergebnis empirischer Beobachtungen, gesellschaftlicher Wertvorstellungen und normativer Entscheidungen sind. Man kann sinnvoll unterscheiden: – Technische Normen aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse sind im allgemeinen unproblematisch (Beispiele: Feuerschutz in Gebäuden, Feuerverbot in Wäldern). 27 Kants Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft beginnt mit dieser Bestimmung: „Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird“. Kritik der praktischen Vernunft (1788), A 35, ed. Weischedel Bd. IV, 125. Analog präzisiert

Kant in einer Anmerkung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) das Verhältnis von Prinzip und Maxime, wenn er schreibt: „Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens; das objektive Prinzip (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz.“. (BA 15, ed. Weischedel Bd. IV, 27) 28 Siehe dafür Karl Homann/Andreas Suchanek, Ökonomik. Eine Einführung, Tübingen 22005.

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– Technische Normen als Konventionen unterliegen vor allem Zweckmässigkeitserwägungen (Beispiele: Maßeinheiten für Länge, Wärme, Dichte, Zeit usw.). – Technische Normen als rechtlich verbindliche Vorschriften aufgrund gesellschaftlicher Wertvorstellungen, sittlicher Überzeugungen und rechtlicher Vorgaben stellen soziale Normen im Blick auf menschliches Handeln dar, das zugleich instrumentell (Optimierung der Zweck-Mittel-Relation) und sozial ist (Kommunikation in Bezug auf zugrundeliegende Werte und Normen) (Beispiele: Gesundheitsstandards, Sicherheitsgarantien und Risikozumutungen bei technischen Anlagen). Technische Normen sind zu einem großen Teil (auch) sozial bestimmte Normen. Die Rede von einer wertfreien Technik wird dann ideologisch, wenn die Fragen der sozialen Einbettung, Voraussetzungen und Folgen von Techniken den ethischen Diskursen einer Gesellschaft entzogen werden. Technische Normen sind wandelbar, und zwar vor allem aufgrund neuer Erfahrungen, neuer Erkenntnisse, neuer Handlungsmöglichkeiten und neuer Bewertungen. Neue Schutznormen nicht einzuführen, obwohl sie technisch realisierbar sind, ist sowohl sittlich verwerflich als auch rechtlich einklagbar (Beispiel: Lawinenschutzbauten). Tatsächlich verhindern oft Vertreter partikularer Interessen die Einführung technisch oder sittlich gebotener und rechtlich durchsetzbarer Schutznormen (Beispiele: Sicherheitsgurte, Grenzfall Rauchverbote29). Mit sittlichen und rechtlichen Normen sind bestreitbare Geltungserwartungen und -ansprüche verbunden, d. h. Erwartungen von normalerweise unterstellten, aber durchaus enttäuschbaren Weisen von Anerkennung und Befolgung. Sittliche wie rechtliche wie technische Normen können tatsächlich gebrochen oder übertreten werden, und sie wären keine Normen, wenn diese reale Möglichkeit nicht bestünde. Die Enttäuschungsreaktionen sind bezeichnend unterschiedlich: Gegenüber der Verletzung von Rechtsnormen sind Sanktionen üblich und anerkannt, bei sittlichen Normen gibt es in der Regel (nur) die Möglichkeit der Missbilligung (bis hin zur Beschämung und Missachtung), die Übertretung technischer Normen kann Unfälle bis hin zu Katastrophen zur Folge haben. 5.2.5 Begründungen sozialer Normen können vielfältig sein. Sie sind weder von in sich zwingender Geltungskraft wie Naturgesetze noch beliebig wie Geschmacksurteile. In die Begründung sozialer Normen (sittlicher wie rechtlicher) gehen in unterschiedlichen Mischungen Elemente von Tradition wie von bewussten Wahlentscheidungen ein. Für moderne Gesellschaften scheint das Element der bewussten, freien Prüfung und Wahl (Kritik) sozialer Normen charakteristisch zu sein. Es lassen sich wenigstens drei Begründungsmuster für vor allem sittliche, aber auch rechtliche Normen in der heutigen Ethik unterscheiden: 29 Rauchverbote kann man technisch als Emissionsschutznormen verstehen, rechtlich als Ver-

bot der Fremdschädigung, sittlich als Formulierung einer Pflicht gegen sich selbst.

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(1) das Kriterium der Publizität aller Entscheidungen und das Verallgemeinerungskriterium im Kantischen Sinne (kategorischer Imperativ als Prüfstein für alle Handlungsmaximen) (2) das Kriterium der Publizität aller Entscheidungen und der diskursethischen Zustimmung aufgeklärter Staatsbürger (qualifizierter demokratischer Konsens als Prüfstein) (3) das Vereinbarungskriterium im Sinne des Kontraktualismus (Übereinstimmung über Regeln der Regelerzeugung als Prüfstein) Muster (1) macht vernünftige, einsehbare Prinzipien zur Grundlage und fragt erst danach nach den empirischen Verwirklichungsbedingungen; Muster (3) basiert auf tatsächlichen Willensentscheidungen; Muster (2) vermittelt zwischen intelligiblen und empirischen Begründungselementen. 5.2.6 Die Geltung und damit auch die Durchsetzbarkeit der unterschiedlichen Normtypen sind durch zahlreiche Faktoren bedingt. – Die Geltung technischer Normen ist dann notwendig und unproblematisch, wenn diese zwingenden technischen (naturgesetzlich beschreibbaren) Regeln und Imperativen unterliegen. – Die Geltung rechtlicher Normen ist unproblematisch, soweit sie in korrekten Verfahren gesetzt sind und auf einem hinreichend breiten traditionellen und prinzipiellen Konsens beruhen und in einem hinreichenden Maß mit sittlichnormativen Erwartungen übereinstimmen. Sobald diese Komplementarität brüchig oder zerstört wird, wird die Rechtsgeltung problematisch. – Die Geltung sittlicher Normen ist in dem Sinne schwächer als diejenige rechtlicher Normen, insofern sie i.a. nicht gerichtlich durchsetzbar sind. Auf der anderen Seite können sittliche Normen, obwohl nicht mit Rechtsmitteln durchsetzbar, in besonders starker Weise eine subjektive Verbindlichkeit haben. Rechtliche und sittliche Normen sind auf unterschiedliche Typen von Sanktionen bezogen (äußerer Zwang – Gewissenszwang – Fremd- und Selbst-Achtung). Die Geltung sittlicher Normen kann sich den genannten Kriterienarten (sieh oben 5.2.2: traditionell, charismatisch, rational) verdanken. Für eine rationale Prüfung und Begründung sittlicher Normen ist entscheidend, dass vernünftig nachvollziehbare Argumente vorgetragen, öffentlich zur Diskussion gestellt und (im Normalfall) zur freien Zustimmung oder Ablehnung angeboten werden. Zur Geltung sittlicher Normen gehört unabdingbar die Möglichkeit, sie infrage zu stellen, zu kritisieren oder abzulehnen. Es ist sogar möglich, sich dem Diskurs über Normengeltung und -befolgung zu entziehen.30 Sittliche Normen sind keiner allgemein zustimmungsfähigen rationalen Letztbegründung fähig, sondern für unterschiedliche meta-ethische Überzeugungen oder 30 Wenn das konsequent und radikal geschieht, bedeutet das nichts anderes, als sich der menschlichen Interaktionsgemeinschaft zu entziehen

und Kommunikation überhaupt aufzukündigen. Das muss man wohl als autistisch bezeichnen.

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Begründungen offen, welche ihrerseits u. a. religiöser oder weltanschaulicher Art sein können. Auch diese meta-ethischen Überzeugungen können und sollten jedoch Gegenstand öffentlicher Diskurse sein. Die spezifisch neuzeitliche Unterscheidung von rechtlichen und sittlichen Normen (Legalität und Moralität) ist u. a. eine Folge des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus seit dem konfessionellen Zeitalter und eine notwendige Bedingung der bürgerlichen Freiheit und der Anerkennung und Gewährleistung subjektiver Rechte (individueller Menschenrechte). Im Unterschied zu Werten sind Normen (in der wiederum bedeutsamen Unterscheidung von rechtlichen und sittlichen Normen) nicht in erster Linie auf Visionen des „guten Lebens“ bezogen, sondern stellen generalisierte Verhaltenserwartungen dar, von denen Menschen in ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft überzeugt sind, dass ihre Befolgung für alle Menschen (oder wenigstens für alle Mitglieder einer bestimmten Gruppe) verpflichtend geboten ist.

5.3 Relationen Man kann zwischen Werten und Normen eine scharfe Trennung vornehmen, man kann aber auch nach den vielfältigen geschichtlichen, kulturellen und sozialen Vermittlungen zwischen beiden Sorten menschlicher Orientierung im Verhalten und Handeln fragen. Versteht man unter Werten dasjenige, was Menschen wirklich wichtig ist und wonach sie deshalb streben (Güter, Zwecke, Ziele), so kann man sittliche wie rechtliche Normen als (relativ oder absolut) verbindliche Regeln auffassen, auf die sich Menschen verständigen (können), um ihr Streben (nach Gütern, Zwecken, Zielen) in wechselseitiger Anerkennung zu koordinieren. Jürgen Habermas unterscheidet deutlich zwischen „Normen im Sinne einer Erfüllung generalisierter Verhaltenserwartungen“ einerseits, Werten oder Gütern im Sinne von erstrebenswerten Handlungszielen andererseits: „Die Sollgeltung von Normen hat [. . .] den absoluten Sinn einer unbedingten und universellen Verpflichtung: Das Gesollte beansprucht, gleichermaßen gut für alle (bzw. für alle Adressaten) zu sein. Die Attraktivität von Werten hat den relativen Sinn einer in Kulturen und Lebensformen eingespielten oder adoptierten Einschätzung von Gütern: gravierende Wertentscheidungen oder Präferenzen höherer Ordnung sagen, was aufs Ganze gesehen gut für uns (oder für mich) ist.“31 31 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, 72. Siehe dazu auch die wichtigen Anfragen von Hilary Putnam, Werte und Normen, in: Lutz Wingert/Klaus Günther

(Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2001, 280–313.

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Im Unterschied zu Habermas denke ich, dass die Beziehungen zwischen Werten und sittlichen Normen enger sind, insofern das Gesollte ebenso als ein Gut angesehen oder erfahren wird oder erfahren werden kann wie ein Wert, sofern man unter diesem ein erstrebtes, vorziehenswürdiges Gut versteht. Hingegen ist der Unterschied von Werten und rechtlichen Normen ebenso wie der Unterschied zwischen sittlichen und rechtlichen Normen durch die Merkmale der Gerichtsfähigkeit und der Zwangsbefugnis im letzteren Fall scharf und klar markiert. Werte, verstanden als Visionen eines guten Lebens, kann man ebenso wenig als allgemein verbindlich (gegen Widerstand) vorschreiben und/oder durchsetzen wie sittliche Normen. Verbindliche soziale Regeln sittlicher oder rechtlicher Art schließen stets Rechte und Pflichten ein. Mit jeder Norm sind Erwartungen hinsichtlich ihres verpflichtenden Charakters verbunden, doch unterscheiden sich sittliche und rechtliche Normen bezüglich der Adressatenkreise, der Befolgungserwartungen und ihrer Sanktionierbarkeit. Insofern in jeder Auffassung von Werten und Normen die Frage nach Rechten und Pflichten mitgesetzt ist, kann eine Normenethik grundsätzlich auch als Pflichtenethik entfaltet werden, wobei man wiederum (in der Nachfolge Kants) zwischen Tugend- und Rechtspflichten unterscheiden muss. Die Rede von Werten und Normen verweist auf die (begrenzten) Fähigkeiten von Menschen, sich für deren verbindliche Anerkennung und Befolgung erfolgreich einzusetzen. Der Erkenntnis von erstrebenswerten Gütern, Zwecken oder Zielen ebenso wie der Einsicht in Normen und Pflichten müssen individuelle und kollektive Bildungsprozesse entsprechen, um die entsprechenden kognitiven, emotionalen und ästhetischen Fähigkeiten bei Individuen und in Gemeinschaften zu entwickeln. Normenethik und Pflichtenethik verweisen insofern auf die Probleme einer Tugendethik. Ob es typische, regelmäßige Stadien sittlicher Bildungsprozesse gibt, womöglich in einem Kontinuum von Heteronomie zur Autonomie,32 ist eine offene Frage. Auf jeden Fall verschränken sich in sittlichen Bildungsprozessen somatische, emotionale, kognitive und evaluative Elemente, und dies wieder in Auseinandersetzung mit geschichtlichen Herausforderungen und Erfahrungen. Nicht zuletzt wegen der Individualität und Komplexität solcher Bildungsprozesse ist der Gedanke einer planmäßigen Wertevermittlung frag-würdig. Auch in einer säkularen Gesellschaft oder unter „nachmetaphysischen“ (Erkenntnis-)Bedingungen setzen Werte und Normen in aller Regel ein bestimmtes Bild vom Menschen (in Gemeinschaft mit anderen und inmitten der außermenschlichen Natur), seiner Bestimmung und seiner Stellung in der Welt voraus. Häufig, aber keineswegs immer sind Vorstellungen von Werten und verpflichtenden Normen ebenso wie die Auffassungen von zu entwickelnden Tugenden in religiöse Überzeugungen eingebettet, die jenen erst ihre Tragfähigkeit und Kraft verleihen.

32 Siehe hierzu Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde (1932, deutsch zuerst 1973),

Stuttgart 1983; Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a. M. 1995.

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5.4 Konflikte Hochrangige und wichtige Werte können nicht nur zwischen Zivilisationen unterschiedlich sein, sondern auch innerhalb von Kulturen, zwischen sozialen Gruppen und sogar und nicht zuletzt in einer einzigen Person. Es gibt empirisch zahlreiche Konflikte zwischen unterschiedlichen Werten und Normen.33 Das größte Gewicht wird derzeit jenen Konflikten zugeschrieben, die beim Zusammenstoß oder im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller, insbesondere religiöser Prägung entstehen. Darüber sollte man aber nicht die nach wie vor brisante Dynamik von Klassenkonflikten – irreversibel im globalen Maßstab – unterschätzen; auch hier geht es um sehr handfeste Werte in antagonistischen Konflikten. Die neuen empirischen Untersuchungen zu „European Values“ haben gezeigt, dass es in Europa und angrenzenden Ländern (Türkei) enorme Unterschiede gibt in Bezug auf das, was als gut, erstrebenswert und unbedingt wichtig angesehen wird. So gibt es große Differenzen in der Wertschätzung von Ehe und Familie, der Religion, der Kirchen, der Arbeit, der Demokratie usw.34 Die Unterschiede zwischen Wertauffassungen in Europa korrelieren in hohem Maße mit jenen kulturellen Veränderungen, die man gemeinhin als Säkularisierung bezeichnet. Säkularisierungsprozesse scheinen spezifische Grenzverschiebungen hinsichtlich der Verhaltenserwartungen und Gewichtungen von Lebenszielen der Menschen auszulösen. Die Untersuchungen über „European Values“ lassen erkennen oder lassen sich zumindest so deuten, dass die Anerkennung als traditionell geltender Werte dort am geringsten ist, wo die Säkularisierung (einschließlich einer relativen Entkirchlichung) am stärksten war (Skandinavien, Niederlande, Schweiz, Tschechien). Man darf aber an diesem scheinbar so klaren Befund auch Zweifel anmelden, denn wenn beispielsweise ein erheblicher Teil der befragten Bevölkerung die Form der Ehe nicht als konstitutiv für ein gutes (Zusammen-)Leben ansieht, so heißt das mitnichten, dass die entsprechenden Wertschätzungen (Verlässlichkeit, Vertrauen, Treue) nicht mehr in Ansehen stehen. Ich vermute: „Alte“ Werte sind erstaunlich stabil, bisweilen zählebig und ändern häufig nur die Form oder Bezeichnung. Im übrigen ist es leicht, kulturübergreifende, praktisch universal anerkannte Werte zu identifizieren, wie Respekt/ Achtung für andere und sich selbst. 33 „Values may easily clash within the breast of a single individual; and it does not follow that, if they do, some must be true and others false. Justice, rigorous justice, is for some people an absolute value, but it is not compatible with what may be no less ultimate for them – mercy, compassion – as arises in concrete cases.“ So Isaiah Berlin, The Pursuit of the Ideal, zit. nach

Andreas Graeser, Philosophie und Ethik, Düsseldorf 1999, 39. 34 In Moldawien und Polen bezeichnen sich 93 % der Befragten als religiös, hingegen in Tschechien und Estland eine (kleine) Mehrheit als nicht-religiös; vgl. Atlas of European Values, a. a. O. (Anm. 16), 70–73.

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Die neuere Kritik an Säkularisierungsprozessen hat darauf aufmerksam werden lassen, dass diese hauptsächlich auf Europa und Nordamerika beschränkt sind. Die Kritik daran kommt vor allem aus manchen Kirchen und organisierten Religionen. Solche Kritik stellt dabei häufig auch Werte und rechtliche Normen in Frage, die für das menschliche Zusammenleben in Freiheit und Frieden unabdingbar sind.35 Wenn in solcher Kritik beispielsweise Menschenrechte diffamiert werden (etwa das Recht der sexuellen Selbstbestimmung), weil sie traditionelle Lebensformen (vermeintlich) bedrohen, dann sollte man zur Beurteilung dieser Kritik vor allem die Opfer von Menschenrechtsverletzungen für sich selber sprechen lassen. Werte- und Normenkonflikte sind aufgrund der „ungesellige(n) Geselligkeit“36 von Menschen unvermeidlich. Es ist aber möglich und sinnvoll, eine Hierarchie von Normen im Sinne steigender Abstraktheit und Universalisierbarkeit ihrer Regelungszuständigkeit zu entwickeln. Dabei sehe ich nicht, dass (allein) Verfahrenskorrektheit das maßgebliche Kriterium für universale Normen sein kann, weil die Basis nur – günstigenfalls – ein empirischer Konsens sein könnte. Statt dessen taugt der Kategorische Imperativ Kants nach wie vor als Prüfungskriterium für die Universalität oder Universalisierbarkeit sittlicher und rechtlicher Normen.

5.5 Wandel Zweifelsohne gibt es kulturell in besonderer Weise geprägte Werte und Normen. Das heißt zweierlei: Werte und Normen sind stets relativ gemäß Zeit, Ort und Personen, und: Werte und Normen können sich ändern.37 Ob Werte und Normen vorsätzlich und planmäßig mit Erfolg geändert werden können, bezweifle ich. Unter einem Wertewandel kann man in formaler Betrachtung eine „Änderung der Rangfolge der Werteinstellungen zu einem späteren gegenüber einem früheren Zeitpunkt“ bestimmen.38 Forschungen zum Wertewandel verstricken sich leicht in einem Zirkel, insofern die Bestimmung jedes Wandels abhängig ist von 35 So hat der Leiter des Außenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), Metropolit Kyrill von Smolensk, gesagt: „Es gibt Werte, die nicht weniger wertvoll sind als die Menschenrechte. Das sind Werte wie Glauben, Moral, Heiligtümer, Vaterland. Wenn diese Werte und die Durchsetzung der Menschenrechte miteinander in Widerspruch geraten, müssen Gesellschaft, Staat und Gesetze harmonisch beides miteinander verbinden.“ (zit nach epd-ZA Nr. 73 v. 12. April 2006; vgl. auch Reinhard Thöle, Russisch-orthodoxe Kritik am westlichen Wertesystem , MDKI 57, 2006, H. 3, 49–51, dort bes. das einleitende

Zitat von Bischof Hilarion Alfejev, der die ROK bei den europäischen Institutionen vertritt). 36 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), A 392, hg. Weischedel VI, 37. Vgl. auch ders., Metaphysik der Sitten (1797), Tugendlehre § 47, A 157, hg. Weischedel IV, 611. 37 Siehe Günther Patzig, Relativismus und Objektivität moralischer Normen, in: ders., Gesammelte Schriften 1, Göttingen 1994, 9–43. 38 So J. Berthold, Art. Wertewandel; Werteforschung, HistWBPhilos Bd. 12 (2004), 609–611 (610).

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den vorgängigen „Definitionen“ von „Werten“ und „Wertewandel“.39 Die durchaus nicht eindeutigen Ergebnisse empirischer Erhebungen zum Wertewandel bedürfen sorgfältiger Interpretationen, bei denen die Vorverständnisse der Interpreten transparent werden sollten.40 Ob die These eines Wandels von „materialistischen“ zu „postmaterialistischen“ Werten plausibel ist, ist nicht nur eine Definitionsfrage, sondern bedarf vor allem empirischer Langzeitstudien. Einen nicht bloß oberflächlichen Wertewandel in nur einer Generation anzunehmen, leuchtet mir nicht ein, weil die im kollektiven Gedächtnis überlieferten Wertvorstellungen von Menschen auch unter äußerlichem Gestaltwandel sehr beharrlich sein können. Vor allem kann sich die Gewichtung (Rangfolge) von Werten (verstanden als Inbegriff von Visionen gelingenden Lebens) angesichts unterschiedlicher Bedürfnislagen und sozialer Herausforderungen verändern. Im übrigen sollte man nicht jeden Modewechsel als Wertewandel interpretieren (siehe das Balzac-Zitat zu Beginn). Gleichwohl ist das ambivalente Phänomen eines Wertewandels nicht zu bestreiten. Auslöser eines Wertewandels können mannigfaltig sein. Typischerweise gehören dazu: – grenzüberschreitende Kulturkontakte – veränderte individuelle und kollektive Bedürfnisse – historische Einsichten und Relativierungen – selbständige kritische Prüfungen – experimentelles Verhalten – Erkenntnis (neuer) geschichtlicher Aufgaben und Verantwortlichkeiten41 Im Blick auf den sogenannten Wertewandel sollte man besonders darauf achten, ob sich die inhaltlichen Bestimmungen von Werten und Normen wirklich geändert haben oder ob die Verfahren und Formen der Sanktionierung von Normverstößen ei39 Die neueren Debatten sind stark durch die Auseinandersetzungen mit den Thesen von Ronald Inglehart, The Silent Revolution, Princeton 1977, und dessen weiteren Arbeiten geprägt; siehe ders., Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York 1998; ders./Christian Wetzel (Hg.), Modernization, Cultural Change, and Democracy. The Human Development Sequence, Cambridge 2005. Inglehart ist maßgeblich beteiligt an den empirisch-vergleichenden Studien des „World Values Survey“ (folgende Anm.). 40 Die MitarbeiterInnen der European Values Study (www.europeanvalues.nl) kooperieren mit dem World Values Survey (www.worldvaluessurvey.org) und mit dem Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität Köln; Daten sind zugänglich über www.gesis.org/za.

41 Zur Erläuterung dieses Punktes: Die Einsicht in die Zerstörungskraft von Kernwaffen hat einen Wandel in der Einstellung zur traditionellen Legitimität militärischen Gewaltgebrauchs erzwungen. (Um so schwerwiegender ist es, wenn Schwellenländer wie Iran das Streben nach Atomwaffen mit der Bekundung völkerrechtlich strikt verbotener Aggressionsabsichten verbinden.) Oder: Im Blick auf die Ziele einer globalen Friedensordnung ist ein Wandel des Völkerrechts zu einer „wertsetzenden Ordnung“ zu diskutieren – freilich eingedenk der oben erwähnten Kritik an der Wertbegründung des Rechts. Siehe hierzu die Ausführungen bei Jost Delbrück, Die Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, Berlin 1996, 266–274.

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nem Wandel unterliegen. Vor allem im Bereich sexualethischer, bis vor kurzem strafrechtlich fixierter Normen kann man feststellen, dass die sittlichen Normen (im oben erläuterten Sinne von kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenserwartungen) im Grunde sehr stabil sind, während in liberalen Gesellschaften dieser Bereich der Verhaltenssteuerung zunehmend und in dem Maße dem Bereich der strafrechtlichen Normierungen entzogen worden ist, wie dies mit den allgemeinen staatlichen Schutzpflichten vereinbar war.42

5.6 Ausblick Die vielfältige Rede vom Wertverlust und dem Schwinden normativer Orientierungen ist so alt wie die ethische Reflexion selbst. In der Gegenwart fungiert die Rede von verbindlich sein sollenden Werten oft als eine Art Ersatzreligion, genauer: als Minimalbestimmung einer Zivilreligion. „Werte“ lösen die Ideen, die Güter, die verbindlichen Zwecke ab und werden als mehr oder weniger kurzlebige, von Menschen ersonnene, subjektive Strebensziele verstanden, für die geschickt geworben wird. Werte in diesem Sinne werden wie Moden gewählt und befolgt, um vor anderen und sich selbst gut dazustehen. Den Religionen wird dann folgerichtig eine Marketing-Strategie empfohlen, um die ihnen wichtigen „Werte“ an die Frau oder an den Mann zu bringen. Werte werden, ganz im Sinne der Diagnose Balzacs, zur Ware, die man tauschen kann.43 Aber niemand stirbt für bloße Werte. Demgegenüber ist die in den Religionen aufbewahrte und ausgeprochene Wahrheit in einem präzisen Sinne „wertlos“: Man kann für sie nichts eintauschen, sondern sie nur – nach reiflicher, vernünftiger Prüfung – annehmen oder verwerfen. Nach dem Glaubenszeugnis der Bibel und der Juden wie Christen wird kein Mensch bloß durch die Befolgung von Werten und Normen in seinem Herzen gut, denn wir gottlosen Menschen werden allein im Glauben durch die Gnade Gottes angenommen, in unserer Einmaligkeit gewürdigt und zurechtgebracht. Über die wahre Güte, den wahren „Wert“ eines Menschen können Menschen nicht verfügen und entscheiden, sondern nur der „Herzenskündiger“, wie Kant Gott in der Ethik aufruft. Freilich: der vor und von Gott gerechtfertigte Mensch kann und wird sich darum bemühen, mit Werten und Normen so umzugehen, dass sie der menschlichen Lebensführung dienen. 42 So hat man auf der einen Seite Homosexualität nicht mehr als Straftatbestand angesehen, auf der anderen Seite (zurecht) den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe neu eingeführt. 43 Gut hundert Jahre nach Balzac hat Martin

Heidegger in seiner Einführung in die Metaphysik (Vorlesung 1935), Tübingen 31966, 151 f, den Werten und ihrer Geltung den Status von „Halbheiten“ bescheinigt, die „verhängnisvoller als das so sehr gefürchtete Nichts“ seien.

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Es ist der Ruin jedes vertretbaren Religionsunterrichts, wenn die Frage nach Werten an die Stelle der Frage nach Gott tritt. Menschen mögen Werte erstreben, aber sie haben keinen Wert, sondern eine Würde. „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde.“ (Kant44) Diese Würde wird nach Überzeugung von Juden und Christen jedem Menschen von Gott zuerkannt, völlig ohne Ansehung des vermeintlichen „Wertes“ einer Person.

6. Religion, Moral und Recht in der pluralistischen Gesellschaft Unter Bedingungen der modernen Weltgesellschaft sind liberale Gesellschaften und Rechtsstaaten, die durch Migrationsprozesse sich verändern, mit einer Vielzahl von Religionen konfrontiert. Anhänger vitaler Religionen vertreten teilweise Überzeugungen, die der einheimischen Bevölkerungsmehrheit fremd sind – etwa im Blick auf religiöse Bräuche, Ehe, Geschlechterrollen und Moral. Um des Schutzes der Freiheit willen ist eine sorgfältige Unterscheidung und Zuordnung von Religion, Moral und Recht geboten. In diesem letzten Abschnitt geht es um die Kommunikation über ethische Fragen im Spannungsfeld von Religion, Moral und Recht. Die Schwierigkeiten beginnen hier schon damit, dass man im Blick auf die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften keineswegs davon ausgehen kann, dass ihre Anhänger unter den Sachverhalten Religion, Moral und Recht dasselbe verstehen. Folgt aus der Religion eine bestimmte Moral? Verlangen die Menschen aufgrund religiöser Prägungen und/oder moralischer Überzeugungen eine darauf beruhende materiale Rechtsordnung? Gibt es oder darf es eine Vor- und Nachordnung von Religion/Moral einerseits, Recht andererseits geben, oder muss das für alle geltende, auf einer (geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassung beruhende Recht auch für jede Religion und Moral klare Grenzen ziehen? In säkularisierten Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Überzeugung aufgekommen, dass Religion bloß Privatsache sei. Aber die gläubigen Anhänger religiös bestimmter Gemeinschaften scheren sich um dieses Vorurteil wenig. Sie feiern ihre Feste, präsentieren sich und ihre Symbole in der Öffentlichkeit, fasten, „brechen“ das Fasten, pflegen privat und öffentlich, individuell und kollektiv religiöse Bräuche – ob die Mitwelt das versteht und schätzt oder nicht. Religionen sind nicht 44 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

(1785), BA 78, ed. Weischedel, Bd. IV, 68.

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tot zu kriegen, außer dadurch, dass der sie belebende Geist die Menschen, ihre Institutionen, Bräuche, Glaubensweisen und Gebäude verlässt. Dann sterben sie dahin. Ich habe schon erwähnt, dass die Säkularisierungs-Diagnose erstens vom vorausgesetzten Säkularisierungs-Begriff abhängig ist (beziehungsweise eine zirkuläre Struktur hat); zweitens enthält sie prognostische Elemente, auf deren Wahrheitsgehalt nur derjenige Einfluss nehmen kann, der in der Lage ist, das Vorausgesagte auch herbeizuführen. Und wer kann das schon? Also muss man sich mit der skeptischen oder fröhlichen Auskunft begnügen, dass wir über die Zukunft der Religionen nichts wissen können. Unter der Voraussetzung, dass es Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften de facto gibt, muss man sich darüber Gedanken machen, wie sie zusammenleben können, denn ihr Miteinander ist potentiell konfliktreich. Fragt man nach der Stellung von Religionsgemeinschaften in einem politischen Gemeinwesen, ist die Klärung ihrer Auffassungen und Begriffe von Recht und Moral und ihres Verhältnisses zueinander unerlässlich. Unbestreitbar ist wohl, dass alle Religionen es im Zusammenhang mit den jeweiligen Glaubensüberzeugungen und -praktiken mit Recht und Moral zu tun haben, freilich in sehr unterschiedlichen Formen. Es gibt keine Religionsgemeinschaft, die nicht sehr bestimmte Erwartungen im Blick auf das Handeln und Verhalten ihrer Anhänger, wenn nicht potentiell aller Menschen hegt. Und die Anhänger der Religionen und ebenso diejenigen, die (rechtlich) keiner Religionsgemeinschaft angehören, erwarten, dass derartige Erwartungen normalerweise erfüllt werden. Aus solchen wechselseitigen Erwartungen ergibt sich eine Fülle menschlicher Kommunikationen, von denen jene, die ausdrücklich ethische Probleme betreffen, einen Unterfall darstellen, nach dem in diesem Buch gefragt ist.

6.1 Schwierigkeiten der Unterscheidung Die Unterscheidung und Zuordnung von Religion, Moral und Recht ist schwierig, künstlich und notwendig. Die Schwierigkeiten der Unterscheidung von Religion, Moral und Recht sind komplex. Es geht um die Verhältnisse von Recht und Religion, Moral und Recht, Religion und Moral. Die erste Unterscheidung gehört in das Religionsverfassungsrecht, also in den Problemzusammenhang von Rechtsstaat und Religionsgemeinschaften. Die zweite Unterscheidung führt auf die Grund- und Grenzfragen der Rechtsethik bzw. Rechtsphilosophie, nicht nur in der Vergangenheit vielfach zugespitzt auf die Kontroversen um die Positionen von Naturrecht und Rechtspositivismus. Beide Unterscheidungen werden gleichsam umklammert durch die Zuordnung von Religion und Moral, die aus der Sicht verschiedener Religionsgemeinschaften in sehr unterschiedlicher Weise bestimmt werden.

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6.1.1 Staat und Religion Die strikte Trennung von Staat/Recht und Religion und die klare Überordnung des Rechts haben in Europa historisch ihren Ursprung in der Überwindung der religiöskonfessionellen Bürgerkriege durch den religionsneutralen, tendenziell „säkularen“ Staat der frühen Neuzeit. Was kann noch Inbegriff der wahren Religion und der mit dieser verbundenen Moral oder einer moralisch bindenden Wahrheit sein, wenn auf demselben Territorium unvereinbare Wahrheits- und daraus hergeleitete Rechtsansprüche geltend gemacht werden? Thomas Hobbes gab darauf die vielzitierte, bis heute aktuelle Antwort: auctoritas, non veritas facit legem. Nur der Staat, der sich auf die rechtlich geordnete und politisch wirksame Sicherung der äußeren Bedingungen friedlichen Zusammenlebens beschränkt, vermag die verschiedenen religiösen und sittlichen Überzeugungen seiner Bürger zu achten und zu schützen.1 In Europa haben wir uns in den meisten Ländern an eine religionspolitische Situation gewöhnt, in der der „säkularisierte“ Staat von den organisierten Religionsgemeinschaften mehr oder weniger strikt unterschieden oder getrennt ist. Allerdings sind, wie in Abschnitt 1 dargestellt, insgesamt recht unterschiedliche, historisch gewachsene Konstellationen mit den grundsätzlich anerkannten Rahmenbestimmungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 vereinbar. Auf der einen Seite des Spektrums finden wir die Konzeption des laizistischen Staates wie in Frankreich, auf der entgegengesetzten Seite eine unverkennbare Privilegierung traditioneller Religionsgemeinschaften wie in Russland. Im religionsverfassungsrechtlichen Mikrokosmos der Schweiz reicht die Bandbreite von der Genfer „laïcité“ bis zu einer für externe Beobachter nahezu (spät-)staatskirchlich anmutenden Einordnung der Kirche in den Kanton wie in Bern oder Zürich. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in ähnlicher Weise zwei gegensätzliche Konzepte staatlicher Neutralität in Religionsangelegenheiten unterschieden und von „distanzierender“ und „offener“ Neutralität gesprochen.2 Die deutschen Verhältnisse liegen im europäischen Vergleich im Mittelfeld einer partnerschaftlichen Zuordnung der Religionsgemeinschaften und des grundsätzlich religionsneutralen Staates. Religionsneutralität heißt freilich nicht Blindheit oder Indifferenz des Staates in Angelegenheiten der Religion. Unterscheidung und Trennung bedeuten zunächst lediglich, dass der Staat erstens keine Form von Religionshoheit kennt, dass es zweitens grundsätzlich keine Staatsreligion oder -kirche gibt, und dass der Staat sich nicht anmaßt, über die inneren Angelegenheiten der Religionen urteilen zu können. 1 Siehe dazu den grundlegenden Beitrag von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1964), erweitert und überarbeitet in ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, 43–72.

2 Wie können die Religionen friedlich und frei beisammen leben?, NZZ Nr. 143 v. 23./24.6.2007, B 1. Die ausgearbeitete Version liegt unter dem Titel „Der säkularisierte Staat“ in der Veröffentlichung gleichen Titels (vorige Anm.) vor, dort 11– 41 (15).

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Unverzichtbarer Grund der Legitimität des Rechtsstaates heute ist die Gewährleistung der Menschenrechte, also auch die Garantie der Religionsfreiheit, und zwar für alle Religionsgemeinschaften ohne Diskriminierung. Der religionsneutrale Staat hat gesellschaftlichen und religiösen Pluralismus nicht hervorgebracht, aber als legitim anerkannt, buchstäblich hoffähig gemacht und gegen Anwandlungen von Intoleranz zwar nicht überall, aber doch im Großen und Ganzen erfolgreich rechtlich gesichert. Nicht nur Religions-, sondern auch Dissidenztoleranz ist ein wesentliches Merkmal des modernen Rechtsstaates. Arianer und Antitrinitarier, Wiedertäufer und Apokalyptiker, Agnostiker und Atheisten, Mormonen und Zeugen Jehovas werden nicht mehr mittels staatlicher Zwangsgewalt konvertiert oder sanktioniert. Den Reformatoren galt, was sie von diesen Gruppen kannten, zwar als üble Häresie, die aber nicht schon als solche gewaltsam zu unterdrücken war, sondern nur insoweit, als sie die öffentliche Ordnung untergrub. Der moderne Rechtsstaat mischt sich in derartige Auseinandersetzungen grundsätzlich nicht mehr ein. Er maßt sich keine Urteilskompetenz darüber an, was eine „gute“ oder eine „schlechte“ Religion sei. Der säkulare Rechtsstaat ist allen Religionen gegenüber zur Gleichbehandlung verpflichtet, denn die Religionsfreiheit ist nicht abstufbar und nicht teilbar. Begrenzt wird sie einzig durch die Erfordernisse der friedlichen Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften, durch die Gewährleistung der Menschenrechte und durch die Schranken, die durch die für alle Menschen geltenden Gesetze gezogen werden.

6.1.2 Moral und Recht Ist Recht die Voraussetzung von Moral? Oder bedarf das Recht einer Begründung durch moralische Überzeugungen, wenn es nicht bloß auf Legalität, sondern auch auf Legitimität Anspruch erheben will? Oder ist das Recht, insbesondere in einem säkularen Rechtsstaat, strikt von der Moral zu trennen? Führt möglicherweise jede Bindung des Rechts an bestimmte moralische Überzeugungen zur Intoleranz gegenüber anderen moralischen Ausgangspunkten? Aber kann umgekehrt das Recht seine Funktionen der Konfliktbearbeitung, gesellschaftlichen Steuerung, Friedenswahrung und -durchsetzung wahrnehmen, ohne sich auf vorrechtliche, moralische Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger abzustützen?3 In modernen liberalen Gesellschaften werden im alltäglichen Verhalten und Handeln Recht und Moral nur selten noch heillos vermischt;4 sie koexistieren weithin friedlich-schiedlich miteinander, 3 Dies der Kern der sog. Böckenförde-These schon von 1964: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, in der eben genannten Veröffentlichung 72. 4 Vgl. bes. Jean-Claude Wolf, Zur Trennung von

Recht und Moral in der analytischen Rechtsphilosophie, in: Helmut Holzhey/Jean-Pierre Leyvraz (Hg.), Die Herausforderung des Rechts durch die Moral, Bern 1985, 34–48; Jan Schapp, Freiheit, Moral und Recht, Tübingen 1994; Thomas Raiser, Recht und Moral, soziologisch betrachtet, JZ

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auch wenn die Bereitschaft, rechtliche Entscheidungen mit moralischer Aufgeregtheit zu kommentieren, ungebrochen, aber weithin eben praktisch folgenlos weiterlebt. Jedoch in grundsätzlich wichtigen Fragen und Krisen, dort, wo es bei politischen und juristischen Entscheidungen um Gewissen und Freiheit, historische Schuld und Versöhnung, Leben und Tod geht, kann es gar nicht anders sein, als dass Recht und Moral spannungsvoll konfrontiert werden. Das geschieht insbesondere bei umstrittenen Gesetzgebungsvorhaben und Abstimmungen, die weitreichende Auswirkungen auf das moralische Selbstverständnis der Menschen haben – wenn es um das Leben des Ungeborenen oder des Sterbenskranken geht, wenn aus Gewissensgründen der Wehrdienst abgelehnt oder Widerstand gegen die Staatsgewalt geübt wird, wenn für Verbrechen in der Vergangenheit Anklage erhoben oder Amnestie beschlossen werden soll, wenn es darum geht, religiöse Überzeugungen gegen üble Nachreden oder Verunglimpfung zu schützen. In diesen grundsätzlich und existenziell wichtigen Fragen scheint das Konzept eines Rechtspositivismus5 unter bestimmten Bedingungen an seine Grenzen zu stoßen, weil es – möglicherweise – Kriterien richtigen Rechts gibt, die nicht allein durch legale Setzung und korrekte Verfahren gewährleistet werden können. Versteht man unter positivem Recht nur die Gesamtheit der Normen, die ein dazu befugter Gesetzgeber verfahrensmäßig korrekt erlassen hat, die hinreichende Anerkennung gefunden haben und sozial wirksam sind, dann kann es gleichwohl immer wieder geschehen, dass das geltende Recht gegen fundamentale moralische Überzeugungen und Prinzipien verstößt – wie dies in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft der Fall war und derzeit auch in den Augen mancher Israelis hinsichtlich der jahrzehntelangen Vorenthaltung elementarster Rechte für die Palästinenser der Fall ist. 59, 2004, 261–266; Lorenz Engi, Recht und Moral. Herkunft und Aktualität einer Unterscheidung, SJZ 101, 2005, 565–572. 5 Der Begriff des Rechtspositivismus ist keineswegs so klar, wie seine schlagwortartige Verwendung vermuten lassen könnte. In einem elementaren Sinn kann man ihn jedoch verstehen als die Überzeugung, dass Recht ist oder als Recht gilt , was von einem dazu befugten Gesetzgeber formal korrekt als Recht gesetzt und sozial wirksam ist. Siehe Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts (1986), in: ders., Recht – Staat – Vernunft, Frankfurt a. M. 1991, 95–119 (96–99). Dreier selbst vertritt hingegen einen rechtsethisch (schwach) fundierten Rechtsbegriff, der folgendermaßen bestimmt wird: „Recht ist die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören, sofern dieses im grossen und ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist, und der Normen, die gemäss dieser Verfassung gesetzt

sind, sofern sie, für sich genommen, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen.“ (116) Vgl. auch die ähnliche, aber explizit normierende Definition des Rechts bei Robert Alexy: „ein Normensystem, das (1) einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt, (2) aus der Gesamtheit der Normen besteht, die zu einer im grossen und ganzen sozial wirksamen Verfassung gehören und nicht extrem ungerecht sind, sowie aus der Gesamtheit der Normen, die gemäss dieser Verfassung gesetzt sind, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance aufweisen und nicht extrem ungerecht sind, und zu dem (3) die Prinzipien und die sonstigen normativen Argumente gehören, auf die sich die Prozedur der Rechtsanwendung stützt und/oder stützen muss, um den Anspruch auf Richtigkeit zu erfüllen.“ (Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 1992, 201).

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Geschichtliche Erfahrungen von schwerem Unrecht haben immer wieder zu einer Infragestellung der glatten Trennung von positivem Recht und Moral genötigt, und sei dies zunächst bloß die Wahrnehmung einer minoritären Gruppe. So vertrat Gustav Radbruch bis 1933 einen relativistischen Rechtspositivismus, doch die Erfahrungen und Reflexionen der folgenden Jahre nötigten ihn zu einer Revision dieser Auffassung. 1946 schrieb er in dem berühmten Aufsatz Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht , dass zwar in einem Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, zwischen Recht und Moral in der Regel dem positiven Recht der Vorrang gebühre, fügte aber hinzu: „es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ An diese Position hat man sich in Deutschland erneut erinnert, als es um die rechtliche (!) und moralische Auseinandersetzung mit dem Unrecht der kommunistischen Herrschaft in der ehemaligen DDR ging,6 und es ist daran u. a. bemerkenswert, dass schon Radbruch versucht hat, den Widerstreit von Moral und Recht als ein rechtliches Problem („unrichtiges Recht“) zu erfassen und so die Grunddifferenz von Recht und Moral durch einen veränderten und erweiterten Rechtsbegriff wieder den Juristen – oder besser: allen Bürgerinnen und Bürgern – zurückzugeben. Diese Korrektur erfolgt mithilfe der Relationierung von Recht und Gerechtigkeit, in der die alte naturrechtliche Tradition fortlebt. Diese erweist sich damit als Katalysator, Einfallstor und Inbegriff „überpositiver“, sittlicher Rechtskriterien. Die in der angelsächsischen Welt aufgekommene „New Natural Law Theory“, angestoßen vor allem von John Finnis und Gabriel Grisez, mag dafür als ein weiteres markantes Beispiel stehen. Eine m.E. missbräuchliche Berufung auf solche Kriterien beginnt freilich dann, wenn diese nicht in sich selbst mit positivem Recht und Menschenrechten vereinbar sind, sondern in Gestalt unbestimmter Rechtsbegriffe, populistischer Appelle an die übergeordnete „Wertegemeinschaft“ oder transrechtlicher Bezugsgrößen wie „dem Volk“ letztlich dazu dienen, die Rechtsordnung selbst zu relativieren oder ganz auszuhebeln. Derartige sittliche Rechtskriterien entstehen nun nicht zufällig immer wieder auf dem Boden religiöser Überzeugungen, wiederum häufig von Minderheiten. Nach 1945 waren es weltweit vor allem die elementaren Menschenrechte, die auf diese Weise die Brücke zwischen universalen oder wenigstens universalisierbaren sittlichen Gerechtigkeitskriterien und positivem staatlichen Recht herstellten. Hier gilt es nun eine für das weitere 20. Jahrhundert entscheidende Weichenstellung zu beachten, die darin besteht, dass die zunächst nur als moralische und/oder politische Forderungen begegnenden Menschenrechte „positiviert“ werden, d. h. als begründender, legitimierender Teil der staatlichen Rechtsordnung vom zuständigen Gesetzgeber verabschiedet werden.7 Diese Positivierung der Menschenrechte stellt insofern 6 Siehe Jens Kreuter, Staatskriminalität und die Grenzen des Strafrechts. Reaktionen auf Verbrechen aus Gehorsam aus rechtsethischer Sicht, Gütersloh 1997; Ralf Dreier, Juristische Vergangenheitsbewältigung, Baden-Baden 1995.

7 Die einzelnen Menschenrechte hatten vor ihrer umfassenden und unabgeschlossenen Kodifizierung im 20. Jahrhundert natürlich eine unterschiedlich lange Entwicklungsgeschichte. So waren die sog. Justizgrundrechte teilweise schon

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keine Moralisierung des Rechts dar, sondern ist die in der Gegenwart wichtigste Form einer sittlichen Fundierung des Rechts. Mit der rechtlichen Garantie unveräußerlicher Menschenrechte wird in der Neuzeit die Zuordnung von Recht und Moral nunmehr innerhalb des Rechts reformuliert. Um der Integrität und Dignität des Menschen ist es so zu einer gerechtigkeitsorientierten Prüfung, Begrenzung und Weiterbildung des positiven Rechts kommen.

6.1.3 Wirkungen von Religion und Moral auf das Recht Wenn die staatliche Gewährleistung der Religionsfreiheit auf eine religionsunfreundliche Konzeption der „laïcité“ beschränkt ist, wird sie grundsätzlich alle religiösen Äußerungen aus der Öffentlichkeit in die Privatheit abzudrängen versuchen. Das ist seit langem nicht einmal mehr in Frankreich der Fall, von der geradezu aufdringlichen Präsenz der Religionen im öffentlichen Leben der USA ganz zu schweigen. Wenn hingegen das Recht der öffentlichen Darstellung und Bekundung eines gemeinsamen Glaubens einschließlich entsprechender Institutionen anerkannt ist, dann haben die Menschen auch ein Recht darauf, ihre religiösen Überzeugungen öffentlich zu kommunizieren, den daraus folgenden moralischen Orientierungen, sofern sie rechtmäßig sind, zu folgen und für diese wiederum werbend einzutreten. Die Garantie der Religionsfreiheit schützt mithin auch die identitätsverbürgende Einheit von Glauben und Handeln, soweit diese für die Anhänger einer Religionsgemeinschaft wichtig ist. Zu den religionsgemäßen oder aus religiösen Überzeugungen folgenden Handlungen und Verhaltensweisen gehören bestimmte Lebensweisen, die Befolgung von religiös-sittlichen Regeln, die öffentliche Verwendung von Symbolen und die Wahrung der kollektiven Identität.8 Diesen religiös und sittlich verpflichtenden Lebensäußerungen sollte nicht mit der Erwartung der Assimilation, sondern mit dem geschuldeten Respekt begegnet werden, denn dies ist eine unabdingbare Grundlage eines tragfähigen gesellschaftlichen Pluralismus. Spätestens an dieser Stelle entstehen nun unvermeidlich Konflikte, welche leicht eskalieren können. Wenn die Garantie der Religionsfreiheit die Gewährleistung entsprechender Lebensformen einschließt, dann gehört dazu auch die Freiheit, für die jeweils favorisierte Lebensform werbend einzutreten. Dann gehört dazu auch das Recht, zu versuchen, die Visionen einer religiösen Gemeinschaft von dem, was für sehr früh Teil des positiven Rechts, während die Verbote von Sklaverei, Folter oder rassischer sowie sexistischer Diskriminierung erst in der Neuzeit nach und nach und teilweise noch gar nicht hinreichend durchgesetzt werden konnten. Zur Frage der Sklaverei siehe Wolfgang Lienemann, Sklaverei und Menschenrechte. Die exemplarische Funktion des Sklavereiverbots in der europäischen Geschichte für die Bestimmung universaler Menschenrechte, in: Hans-Richard Reuter

(Hg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee, Tübingen 1999, 135– 171. 8 Vgl. Wolfgang Lienemann, Religionsfreiheit und der Umgang mit religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit, in: Dagmar Heller u. a. (Hg.), „Mache Dich auf und werde licht!“ Ökumenische Visionen in Zeiten des Umbruchs (FS Konrad Raiser), Frankfurt a. M. 2008, 355–361.

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ihre Anhänger Inbegriff eines guten Lebens ist – manche nennen das Werte (values) –, allgemein zur Anerkennung und Geltung zu bringen. Entscheidende Fragen dabei sind, ob solche Bestrebungen (1) mit der freiheitlichen Rechtsordnung und ihren Grundlagen vereinbar sind, (2) also auf demokratischem Wege erfolgen, (3) die anerkannten Menschenrechtsstandards nicht verletzten und dabei (4) insbesondere keine Minderheiten bedrängen und bedrohen. Religion und Moral wirken auf die Rechtsgestaltung, wenn die Gläubigen dies energisch anstreben, indem beispielsweise ehedem lediglich moralische Forderungen rechtlich positiviert werden. Aber gleichzeitig kann, jedenfalls in „säkularisierten“ Gesellschaften, auch die gegenläufige Erwartung begegnen, dass das Recht entmoralisiert wird, dass der Gesetzgeber sich also gerade nicht in die sittlichen Grundlagen der Lebensführung seiner Bürgerinnen und Bürger einmischen darf und soll.9 Dieses Spannungsverhältnis enthält unter den Bedingungen einer religiös pluralistischen Gesellschaft eine besondere Herausforderung an die demokratische Gestaltungs- und Reformfähigkeit des säkularen Staates.

6.2 Die Künstlichkeit der Unterscheidungen von Religion, Moral, Recht Den meisten religiösen Traditionen ist eine strikte Trennung von Religion, Moral und Recht ursprünglich fremd. Kulturkontakte und wechselseitige Anerkennung nötigen zur Einübung einer klaren Unterscheidung, auch wenn dies vielen Menschen zunächst schwer fallen mag.

6.2.1 Positionen einer differenzierten Einheit von Religion, Moral und Recht In einer (noch zu schreibenden) Problemgeschichte der Entwicklung und Differenzierung der Einheit von Religion, Recht und Moral kann man zunächst auf folgenden Sachverhalt hinweisen: Im Alten Testament wie im Talmud begegnet ein auf den ersten Blick verwirrendes Miteinander von knappen Rechtssätzen, sittlichen Imperativen und religiösen Anordnungen. Die sprachlichen und stilistischen Formen sind enorm vielfältig.10 Sie alle zielen auf die rechte Ordnung der Gottesverehrung, 9 Man kann diese Spannung gut am Beispiel des Sexualstrafrechts illustrieren: Der säkulare Staat hat sich im 20. Jh. zunehmend aus der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für das Sexualleben der Bürgerinnen und Bürger zurückgezogen, soweit es sich dabei um freie Entscheidungen zurechnungsfähiger (erwachsener) Personen handelt. Homosexualität ist kein Straftatbestand (mehr), und „same-sex-unions“ werden (gegen vielfachen

Widerstand nicht zuletzt religiöser Art) legalisiert. Umgekehrt werden neue Straftatbestände rechtlich definiert und mit Sanktionen belegt, wie die Vergewaltigung in der Ehe oder die Zwangsverheiratung von Kindern. Die leitende Rechtsidee dahinter ist offensichtlich: es geht um den personal verstandenen Freiheitsschutz. 10 Gebote/Verbote, Geschichten/Erzählungen, Bilder/Metaphern, Zitate/Interpretationen etc.

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auf die Integration und Behauptung des Gemeinwesens sowie auf die individuelle und kollektive Lebensführung. Sind die Zehn Gebote rein religiös, lediglich moralisch oder allgemein-verbindlich rechtlich zu verstehen? Sind sie alles zugleich? Kann man die zweite Tafel des Dekalog gegenüber der ersten verselbständigen? Theologen behaupten bisweilen, aufgrund der Begründung der zweiten Tafel des Gesetzes in der ersten Tafel bekundeten Einzigartigkeit JHWHs sei der Glaube an Gott „eine notwendige Bedingung der Gebotserfüllung“ – der religiöse Glaube (faith, nicht: belief) verbürge gleichsam den unverbrüchlichen Grund der Gültigkeit der Gebote.11 Auf der anderen Seite kann und muss man m.E. die zweite Tafel durchaus von der ersten unterscheiden und dann im Dekalog mit den schönen Worten Thomas Manns das „Ewig-Kurzgefasste“12 einer umfassenden humanen Moralität erkennen, unabhängig von der Frage, ob einem Gott oder welchem Gott der Ursprung dieser Bestimmungen zugeschrieben wird. Unbestreitbar scheint mir zu sein, dass im Horizont antiker Vorstellungen Religion, Moral und Recht nicht auseinander gerissen werden konnten,13 aber eine sorgfältige Lektüre des Alten Testaments lässt m.E. erkennen, dass diese Einheit in sich sehr genau sprachlich und sachlich differenziert werden konnte. Darf man die im Alten Testament bezeugte Pflicht, dass ein Richter einerseits die Armen nicht bedrücken darf, andererseits unparteiisch Urteil sprechen soll (Ex 23,3 und 6), vielleicht als eine Keimzelle der Überordnung des Rechts über die Macht verstehen, analog dem Konzept Platons von der Herrschaft der Gesetze? Auch die zahlreichen privatrechtlichen Verfahrensvorschriften des AT lese ich als einen fundamentalen Beitrag jüdischen Denkens zur Rechtskultur Europas. Die zweite Tafel des Dekalogs enthält jedenfalls wesentliche Bestimmungen, die in keiner säkularen „Bill of Rights“ fehlen dürften: Das Tötungsverbot, das Schutzgebot des rechtmäßigen Eigentums, das Sorgegebot gegenüber den Verwandten, das Verbot der Lüge usw. Gleichzeitig gibt es Indizien dafür, dass die Ansätze zu einer Unterscheidung von Religion, Moral und Recht älter sind als die expliziten neuzeitlichen Differenzierungen. Viele sind der Meinung, dass vor allem die großen Entwürfe mittelalterlicher Theologie und Jurisprudenz alle drei Ebenen hemmungslos verwischt hätten, bis 11 Hermann Deuser hat in seinem schönen Buch über die Zehn Gebote diese Position vertreten, indem er schreibt: „Der Gottesglaube muss nicht in vorweg bestimmter Weise für die allgemeine Ethik vorausgesetzt werden, aber die Funktionsstelle des Gültigwerdens der Gebote kann und darf nicht leer bleiben. Die erste Tafel signalisiert folglich (aus allgemein-ethischer Sicht) eine notwendige Bedingung der Gebotserfüllung, und darin besteht die Verklammerung zwischen der ersten und der zweiten Tafel des Dekalogs: das Glaubensprinzip; aus der Sicht des jeweiligen religiösen Glaubens selbst handelt es sich um die hinreichende Bedingung zur Erfüllung der Gebo-

te.“ (Die Zehn Gebote. Kleine Einführung in die theologische Ethik, Stuttgart 2002, 39) Ich bin nicht sicher, ob die hier genannte „Funktionsstelle“ genau denselben Sinn hat wie die oben erwähnte Rede von den transrechtlichen Voraussetzungen des Rechtsstaates bei Böckenförde. 12 Das Gesetz, zuerst englisch in: Ten Short Novels of Hitler’s War Against the Moral Code (1943), in: ders., Die Erzählungen, Frankfurt a. M. 1986, 1020. 13 Zur griechischen Welt vgl. Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn u. a. 4 1995, 167–179.

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endlich in der frühen Neuzeit, womöglich erst in der mühsamen Verarbeitung der Erfahrungen der Religionskriege, eine systematische Trennung stattgefunden habe – gemäß der Devise silete theologi in munere alieno , wie Carl Schmitt wiederholt den großen Juristen Alberico Gentili (1552–1608) zitiert hat. Demgegenüber denke ich, dass sowohl in der kirchenrechtlichen Sammlung Gratians als auch im Gesetzestraktat in der Theologischen Summe von Thomas v. Aquin eine sorgfältig differenzierte Zuordnung und keineswegs eine Vermischung der drei Bezugsgrößen zu finden ist. An der Spitze des Decretum steht folgende Bestimmung: Das menschliche Geschlecht wird von zwei (Instanzen) regiert, nämlich vom natürlichen Recht und den Sitten (der Moral). Das Naturrecht ist (alles), was im Gesetz und im Evangelium enthalten ist, wonach jedem/jeder geboten ist, anderen das zu tun, was sie/er will, dass es ihm/ihr selbst geschieht, und daran gehindert wird, anderen (etwas) zuzufügen, was er/sie selbst nicht will, dass es geschieht. Wie nämlich Christus im Evangelium sagt: Alles, von dem ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, dasselbe fügt ihr auch jenen zu. Das sind das Gesetz und die Propheten.14

Gratians Dekret zufolge gewinnt man also das Naturrecht materialiter aus den beiden Teilen der Bibel sowie aus den rechtlichen Überlieferungen der Völker, muss es jedoch gleichzeitig formaliter durch die Goldene Regel präzisieren und dadurch einem universalen oder universalisierbaren Auslegungs- und Geltungskriterium zuordnen. Thomas v. Aquin hat im Gesetzestraktat der Theologischen Summe hier angeknüpft und die lex naturalis als Teilhabe am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf bezeichnet, dies wiederum aufgrund der Einstrahlung des göttlichen Lichts in den Menschen. Er spricht hier davon, dass das Licht der natürlichen Vernunft letztlich nichts anderes ist als das „Einstrahlen“ (impressio ) des göttlichen Lichtes in uns: Unter Verweis auf Ps 4,715 „quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum, quod pertinet ad naturalem legem, nihil aliud sit quam impressio divini luminis in nobis. Unde patet quod lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeternae in rationali creatura. “ (I-II, q. 91 a. 2)16 Ein Schlüsselwort ist hier die Teilhabe (participatio , griech. mehexiß), und die Art der Verwendung der Lichtmetapher macht klar, dass es sich hier um eine klare Relation von Ursache und Wirkung handelt. Es geht um die vom göttlichen Licht erleuchtete Vernunft der Menschen, die die lex naturalis zu erkennen vermag. Also gewiss nicht aus eigener Kraft, Willensfreiheit und Machtvollkommenheit des Men14 Lat.: Humanum genus duobus regitur, naturali uidelicet iure et moribus. Ius naturae est, quod in lege et euangelio continetur, quo quisque iubetur alii facere, quod sibi uult fieri, et prohibetur alii inferre, quod sibi nolit fieri. Unde Christus in euangelio: „Omnia quecunque uultis ut faciant uobis homines, et uos eadem facite illis. Haec est enim lex et prophetae.“ 15 Vulgata: Leva super nos lucem vultus tui Domine (Luther: Lass leuchten über das Licht deines Antlitzes, Herr).

16 Deutsch nach Pesch, Deutsche Thomas Ausgabe Bd. 13, 21: „Das Licht unserer natürlichen Vernunft, durch das wir unterscheiden, was gut und böse ist – und dieses Unterscheiden ist Sache des natürlichen Gesetzes –, ist demnach nichts anderes als die Einstrahlung göttlichen Lichtes in uns. Mithin wird klar, dass das natürliche Gesetz nichts anderes ist als die Teilhabe am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf.“

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schen! Diese subtile Zuordnung und Unterscheidung von Offenbarung, vernehmender Vernunft, Erkenntnis des Naturgesetzes und Gestaltung positiven Rechtes wird beim Aquinaten im übrigen nicht durch ein letztinstanzlich entscheidendes Lehramt kurzgeschlossen. Es wird vielleicht erstaunen, aber ich möchte hier die These vertreten, dass der Islam im Ansatz eine nicht ganz unähnliche Konzeption der Zuordnung von Religion, Moral und Recht vertritt oder zumindest dafür offen ist. Grundlage aller theologischen und praktischen Erkenntnis ist hier natürlich der Koran, gleichsam die infallible „Uroffenbarung“, ergänzt um die mündliche Überlieferung der Worte und Taten des Propheten, die Sunna. Die Scharia ist sodann der Inbegriff des islamischen Rechts, die Gesamtheit aller religiösen, moralischen und rechtlichen Normen. Wie im mittelalterlichen naturrechtlichen Denken wurzelt dieses „Recht“ im Willen Gottes und wird von Menschen mit Hilfe ihrer Vernunft rezipiert, interpretiert und angewendet. Die Arten der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Scharia sind in den diversen Rechtsschulen unterschiedlich. Rechtsanwendung und -fortbildung durch die Rechtsgelehrten, die hohe Autorität genießen, dienen der gleichzeitig mit Koran und Sunna übereinstimmenden und vernunftgemäßen Anpassung der Scharia an gewandelte Verhältnisse.17 Nicht gibt es freilich dafür systematische Kodifizierungen, keine verbindlichen öffentlichen Textsammlungen eines unstrittigen Grundbestandes der Scharia, keine allgemein zugänglichen Übersetzungen der Scharia in nicht-arabische Sprachen, schon gar keine allgemein anerkannten hierarchischen Kompetenzordnungen einer Scharia-Judikatur oder womöglich allgemein zugängliche Rekursmöglichkeiten, etwa im Falle einer Fatwah. Eine wichtige Frage, die man mit muslimischen Fachleuten diskutieren muss, ist an dieser Stelle: Können sie zugeben oder zustimmen, dass ein großer Teil der Scharia unstrittige Bedeutung für die Moralität der Gläubigen hat, haben und behalten soll, aber nicht als staatliches Recht haben muss, das für alle Bürgerinnen und Bürger verbindlich ist und mit einer Zwangsbefugnis verbunden sein muss? Anders gesagt: Kann und darf man die Scharia als Inbegriff der Moralität einer Gemeinschaft verstehen, ohne sie Nicht-Muslimen als allgemeinen Inbegriff von Legalität aufzunötigen? Im naturrechtlichen Denken, das heißt sowohl in katholischen wie evangelischen Naturrechtskonzeptionen wie in verschiedenen Scharia-Auffassungen, hängt alles Weitere davon ab, wer die Kompetenz hat, darüber zu entscheiden, was dem göttlichen Willen und dem angeborenen Recht entspricht. Das Naturrechtsdenken ist bis in die Gegenwart immer wieder in die Versuchung oder die Falle geraten, als „Natur“ oder „naturgemäß“ das zu verstehen und auszugeben, was nichts anderes als Ausdruck vorherrschender gesellschaftlicher Vorurteile war. Die Geschichte der Sexualmoral und des Sexualstrafrechts kann man lesen als eine Geschichte der von 17 Beispiele zum Beleg dieser These finde ich in dem Buch: Moderne Medizin und Islamische Ethik. Biowissenschaften in der muslimischen

Rechtstradition, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Thomas Eich, Freiburg u. a. 2008.

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Kirchen und Staaten sanktionierten herrschenden Ideologien. Als „Natur“ und „natürlich“ galt und gilt dabei, was vom traditionellen, religiös sanktionierten, sozialen „mainstream“ nicht abweicht. Dass das genuin thomasische Naturrecht auch die andere Lesart eines der menschlichen Natur, d. h. der menschlichen Vernunft entsprechenden Rechtes enthält, entscheidet sich am vorausgesetzten Naturbegriff. Letztlich spitzt sich diese Frage zu auf die Alternative: Natur oder Vernunft, Bios oder Nous? Es ist kein Zufall, dass etliche Kontroversen der modernen Bio- und Sexualethik genau hier ihren Ort haben. Ist es natürlich, dass jede sexuelle Vereinigung von Frau und Mann dafür offen sein muss, menschliches Leben zu zeugen, oder entspricht es der Vernunftnatur der Menschen, ihre sexuelle Vereinigung aus gemeinsamer Verantwortlichkeit bewusst zu gestalten? Umgekehrt kann die Frage, ab wann ein Menschenleben jeglichen erdenklichen Schutz verdient, nicht durch die Beobachtung natürlicher Vorgänge entschieden werden, schon gar nicht durch eine naturwissenschaftliche Definition, sondern allein aufgrund einer sittlichen Entscheidung vernünftiger Wesen. Insofern ist die sorgfältige Entflechtung von Moral und Recht eine zentrale Aufgabe des Rechtsstaates in einer pluralistischen Gesellschaft.

6.2.2 Recht und Moral bei Kant Die genaueste und sorgfältigste Unterscheidung von Recht und Moral finde ich bei Immanuel Kant.18 Er hat als erster eine klare, begriffliche Unterscheidung der Größen Religion, Moral und Recht eingeführt. Der Gliederung seiner Ethik im Sinne der alten philosophia moralis hat er sogar die Unterscheidung von Rechtslehre und Tugendlehre zugrunde gelegt und streng und konsequent zwischen Rechts- und Tugendpflichten unterschieden. Das beginnt damit, dass er einen auf den ersten Blick rein formalen Rechtsbegriff verwendet, demzufolge Recht „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, ist.19 Dieser formale Rechtsbegriff ist freilich auf starke inhaltliche Prämissen gegründet: Vernunft als Factum,20 Freiheit als Postulat. Unter diesen beiden Voraussetzungen: Freiheit und Vernunft, bildet das Recht die vernunftgemäße, notwendige Handlungskoordination um des Schutzes der Freiheit willen. Kant verbindet das Freiheitspostulat 18 Vgl. bes. Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (1797/8), AB 13–52 (Hg. Weischedel IV, 323– 350). Vgl. dazu Otfried Höffe, Recht und Moral. Ein kantischer Problemaufriss, in Neue Hefte für Philosophie 17, 1979, 1–36; Andreas Wildt, Zum Verhältnis von Recht und Moral bei Kant, in: ARSP 83, 1997, 159 ff. 19 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AB 33. Gleichsinnig damit ist die andere Bestimmung des Rechts als „die Einschränkung der Freiheit ei-

nes jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der Gesetze, welche solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen.“ (Über den Gemeinspruch usw., Hg. Weischedel, VI, 144) 20 Siehe dazu Marcus Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992, 169–193.

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Rousseaus mit einem starken, allerdings formalen Rechtsbegriff Hobbes’scher Prägung. Vor diesem Hintergrund ist die grundlegende Unterscheidung von Legalität und Moralität zu verstehen, die lautet: Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.21

Kant zufolge ist die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft eine doppelte: sie ist eine rechtliche, sofern sie äußere Handlungen und ihre Gesetzmäßigkeit verbindlich regelt; sie ist dann eine ethische, wenn sie eine Handlung zur Pflicht und zugleich diese Pflicht zur (inneren) Triebfeder des Handelns macht. Das Recht bezieht sich auf die äußeren Handlungen, die Moral auf die persönlichen Maximen des Gewissens und Willens. Rechtlich koordinationsbedürftig sind die äußeren freien Handlungen; die innere Freiheit hingegen – sittliche Überzeugungen und Maximen, Handlungsmotive und -zwecke – ist rechtlicher und damit staatlicher Regelungsbefugnis entzogen. Die klare Unterscheidung von Recht und Moral dient dem Schutz des Gewissens, der Wahrung der Integrität der Personen und dem durch wechselseitige Toleranz geprägten Miteinander von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Um des politischen Friedens und der Koexistenz der (anerkannten) Religionen willen wurde im religionsneutralen Verfassungsstaat der Neuzeit die rechtliche Begrenzung der Moralen und religiösen Wahrheitsansprüche notwendig. Allerdings darf man über dieser offenkundigen Unterscheidung nicht die vielfachen Zuordnungen zwischen beiden Seiten der Ethik Kants übersehen. Auch die vielfachen Bezugnahmen auf christliche Überlieferungen bei Kant sind nicht einfach der Tradition oder der Zensur geschuldete Zugeständnisse, sondern haben m.E. eine konstitutive Bedeutung für die Theoriebildung insgesamt. Einerseits sagt Kant in der Vorrede zur Religionsschrift (1793), dass die Moral „keineswegs der Religion“ bedarf, sondern „sich selbst genug“ sei;22 andererseits bezeichnet er Religion ausdrücklich als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“.23 Wenn es am Ende des ersten Abschnittes der Vorrede zur Religionsschrift allerdings heißt: „Moral führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden (! WL) moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert“24, dann ist damit freilich nicht eine „positive“, durch geschichtliche Besonderheit bestimmte Religion gemeint, sondern eine Vernunftreligion jenseits partikularer kirchlicher Offenbarungsansprüche. Zudem ist die Reihenfolge von Moral und Religion bei Kant entscheidend, die einer zumindest epistemischen Überordnung der Vernunft über den Glauben entspricht. Das dürfte im strikten Widerspruch zum Selbstverständnis der meisten Religionsgemeinschaften stehen. 21 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AB 15 (Hg. Weischedel IV, 324). 22 Ed. Weischedel IV, 649.

23 B 230, Hg. Weischedel IV, 822. 24 BA X, Hg. Weischedel IV, 652.

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Ich kann Kants raffinierte Zuordnungen hier nicht näher darstellen, sondern wollte nur deutlich machen, dass jedenfalls ein beziehungsloses Nebeneinander von Recht, Moral und Religion und auch eine rechtliche Neutralisierung von Moral und Religion nicht Kants Position war. Wohl aber war sein Ziel, Recht und Moral niemals zu vermischen, um auf diese Weise religiöse Machtansprüche zu legitimieren oder durchzusetzen. Das Recht gibt den äußeren Rahmen und die Grundlagen einer Friedensordnung, innerhalb derer unterschiedliche organisierte Religionen und eine Vielfalt individueller und kollektiver moralischer Überzeugungen koexistieren können. Damit das Recht die gesetzmäßige Koordination individueller Freiheiten leisten kann, kommt alles darauf an, es nicht mit partikularen Moralvorstellungen, religiösen oder weltanschaulichen Imperativen zu vermischen.

6.2.3 Naturrecht oder „Leitkultur“? – Differenztoleranz, soziale Integration und Rechtsdurchsetzung Wie ist eine konstruktive Zuordnung von Religion, Moral und Recht näher zu bestimmen? In dem schon genannten Vortrag25 hat Ernst-Wolfgang Böckenförde von einem Briefwechsel mit dem damaligen Präfekten der römisch-katholischen Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, berichtet. Ausgangspunkt waren dabei Böckenfördes zwei Grundthesen, dass nämlich um der Religionsfreiheit und des interreligiösen Friedens willen der säkulare Staat prinzipielle Religionsneutralität wahren muss, und dass dieser Staat zugleich auf einen „kulturelle(n) Sockel“26 angewiesen ist, also auf vorrechtliche, moralische oder religiöse Überzeugungen der Menschen und Bürger, die er indes nicht selbst schaffen, anordnen oder garantieren kann. Ratzinger hat demgegenüber geltend gemacht, dass der säkulare Staat nicht einfach in jeder Hinsicht (religiös) neutral sein könne und dürfe, denn dann müssten ja beispielsweise die Privilegien des Sonntags und christlicher Feiertage verschwinden und in der staatlichen Ehe- und Familiengesetzgebung müssten dann in gleicher Weise etwa christliche, jüdische und muslimische Auffassungen von der Ehe berücksichtigt werden. Böckenförde zitiert Ratzinger, der geschrieben hat: Ein Staat kann sich nicht völlig von seinen eigenen Wurzeln abschneiden und sich sozusagen zum reinen Vernunftstaat erheben, der ohne eigene Kultur und ohne eigenes Profil alle für Ethos und Recht relevanten Traditionen gleich behandelt und alle öffentlichen Äußerungen der Religionen gleich einstuft. Was in der Diskussion der letzten Jahre ziemlich unzulänglich mit dem Wort „Leitkultur“ angesprochen war, ist in der Sache fundiert.27

Böckenförde antwortete darauf zunächst, dass der säkulare Staat um der unteilbaren Religionsfreiheit willen an der strikten Gleichbehandlung (Nichtdiskriminierung) der Religionen festhalten müsse, deshalb auch grundsätzlich offen zu sein habe für die Lebensäußerungen aller Religionen (also auch ihrer Symbole in der Öffentlich25 Oben, Anm. 2. 26 Ebd., 32.

27 Ebd. 32 f.

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Teil III Vermittlungen

keit), und dass dieser Staat, in Übereinstimmung mit der Kantischen Recht-MoralUnterscheidung, nur die Gesetzesloyalität aller Menschen zur Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens machen darf. Ob und wieweit dieses Ethos der (äußeren) Rechtsbefolgung mit einem „inneren Vorbehalt“ gegenüber dem Staat verbunden sein mag, gehe diesen nichts an. Böckenförde erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass genau diese unterscheidende Auffassung die Integration der Katholiken in den säkularen Staat im 19. und 20. Jh. ermöglicht habe, obwohl Papst Leo XIII. den säkularen Staat der Neuzeit zur „nationalen Apostasie“ erklärt habe, eine These, die sich noch bei dem Kanonisten Klaus Mörsdorf im Jahre 1964 finden lasse.28 Dann nimmt Böckenfördes Argumentation jedoch eine überraschende Wende. Sie besteht in der Auffassung, dass der säkulare Staat die Religionsfreiheit für Menschen, die diesem Staat gegenüber innerliche Vorbehalte haben, vor allem dann gewähren kann, wenn die entsprechenden Gruppen lediglich Minoritäten in einer Diaspora darstellen. Was aber ist, wenn Menschen, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen den säkularen Staat zugunsten einer besseren, mit ihrer Religion harmonierenden Ordnung überwinden wollen, aus einer Diaspora-Situation heraustreten und mehrheitsfähig werden, gar eine tatsächliche Mehrheit bilden? Böckenförde argumentiert an dieser Stelle folgendermaßen: (1) Von allen Religionsgemeinschaften ist im säkularisierten Staat zu verlangen, dass sie die aus dem Denken der Aufklärung hervorgegangene Trennung von Religion und Staat übernehmen, und das sei möglich ohne jede Selbstaufgabe. (2) Der säkulare Staat muss auf den Einsichten und Forderungen der Aufklärung unnachgiebig beharren und alle Religionsgemeinschaften daraufhin beobachten, ob sie seinen freiheitlichen religionsverfassungsrechtlichen Prinzipien entsprechen. (3) Wenn indes das Ergebnis dieser Beobachtungen negativ ist, dann ist der Staat ungeachtet seiner Freiheitlichkeit und Offenheit gehalten, Barrieren zu errichten, die die Anhänger des Islam daran hindern, direkt oder indirekt aus der Minderheitsposition innerhalb des Staates herauszutreten. Darin läge kein Selbstwiderspruch, sondern nur die eigene Selbstverteidigung des säkularisierten Staates. Und zugleich läge darin der Hinweis auf ein nicht aufgebbares Vernunftfundament oder, wenn man so will, „Naturrecht“ des säkularisierten Staates, das womöglich an den antik-jüdisch-christlichen Kulturkreis im Reflexionshorizont der Aufklärung gebunden ist.29

Ich lasse offen, ob diese Quadratur des Kreises aus Aufklärung und Naturrecht im Sinne einer „Leitkultur“ mit Mitteln des Staates gelingen kann.30 Ich sehe hier ent28 Ebd. 39. 29 Ebd. 41. Über die Art möglicher „Barrieren“ äussert sich Böckenförde nicht. 30 In früheren Zeiten, die nicht die heutigen Formen von Migration und vor allem nicht das Prinzip gleicher (Menschen-)Rechte kannten, war es mehr oder weniger selbstverständlich, dass die Zugewanderten sich den Regeln der Mehr-

heitsgesellschaft zu unterwerfen hatten. Klassisch hat das Martin Luther in der Vorrede zum Kleinen Katechismus formuliert und dabei schon die Unterscheidung von Recht und Religion bedacht: „Denn wiewohl man niemand zwingen kann noch soll zum Glauben, so soll man doch den Haufen dahin halten und treiben, dass sie wissen, was Recht und Unrecht ist bei denen, bei welchen

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scheidende Aufgaben und Herausforderungen nicht so sehr des Staates und seines Rechtes, sondern der politischen Bürgergesellschaft, in der sich entscheidet, ob christliche Gruppen oder Muslime, aber auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften nicht nur angesichts ihrer Diasporasituation sich mit dem säkularen Rechtsstaat arrangieren, sondern diesen aus eigener, mit ihrem Glauben verbundener Einsicht wahrnehmen, anerkennen, bewahren und durchsetzen helfen. Christen haben erst im 20. Jahrhundert mehrheitlich begriffen, dass auch und gerade der säkulare Rechtsstaat ihren Glauben und dessen freie, öffentliche Bekundung und Entfaltung schützt. Wenn und soweit Muslime vergleichbare positive Erfahrungen mit dem Rechtsstaat machen können, werden voraussichtlich auch ihre entsprechenden Vorbehalte verschwinden. Denn diese Vorbehalte betreffen ja, wenn ich recht sehe, nicht den Rechtsstaat als solchen, sondern die Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind, und gegen die sie der Rechtsstaat tatsächlich oder vermeintlich zu wenig schützt.

6.3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung Die sorgfältige Unterscheidung von Religion, Moral und Recht dient der freien Kommunikation über alle ethischen Fragen in der politischen Bürgergesellschaft. Aus meinen bisherigen Überlegungen möchte ich als Ergebnis festhalten: Unter den Bedingungen des heutigen gesellschaftlichen Pluralismus sollen um des friedlichen Zusammenlebens der Bürger willen sowohl die Verbindungen von Religion und Moral als auch von Moral und Recht soweit entkoppelt werden, wie dies mit den Bedingungen der politischen Friedenssicherung vereinbar ist. Diese Forderung steht unverkennbar in Spannung zu den Bemühungen zahlreicher Religionsgemeinschaften, in ihrem Sinne auf die staatliche Gesetzgebung Einfluss zu nehmen. Zurückhaltung ist in dieser Hinsicht praktisch allen Religionsgemeinschaften fremd, und wenn sie eine gesellschaftliche Mehrheitsrolle innehaben, versuchen sie in der Regel besonders intensiv und oft erfolgreich, die je partikularen Moralvorstellungen soweit als möglich in staatliches Recht zu überführen, durchaus auch zu Lasten sozialer Minderheiten. Hier ist eine Selbstbeschränkung der (öffentlichen) Religionen dringend geboten, und dazu darf und muss der säkularisierte Staat die freiheitlichen Regelungsprinzipien vorgeben, die ihrerseits den Menschenrechten verpflichtet sind und damit auch der Religionsfreiheit dienen. Es gibt zahlreiche sensible Bereiche, in denen religiös begründete Moralvorstellungen in Konflikte untereinander und mit der staatlichen Ordnung geraten können. Jenseits der aktuellen, leidigen Fragen von Kruzifixen in Gerichtssälen, Kopftüsie wohnen, sich nähren und leben wollen. Denn wer in einer Stadt wohnen will, der soll das Stadtrecht wissen und halten, des er geniessen will,

Gott gebe, er gläube oder sei für sich ein Schalk oder Bube.“ (BSLK 504, 1)

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Teil III Vermittlungen

chern in Schulklassen und Minaretten in bestimmten Stadtteilen geht es anscheinend vor allem um Probleme, die eng mit tief verwurzelten kulturellen Eigenarten verbunden sind. Das gilt keineswegs bloß für muslimische Gemeinschaften, sondern auch für zahlreiche andere Religionsgemeinschaften einschließlich der christlichen Kirchen und Gruppen. Im Hintergrund spielt bei vielen vitalen Religionsgemeinschaften praktisch immer die Selbstinterpretation als der allein „wahren“ Religion eine entscheidende Rolle, bisweilen mit einem sogenannten „Absolutheitsanspruch“ verbunden. Derartige Basisüberzeugungen sind dann natürlich sehr oft nicht folgenlos für ethisch zentrale Fragen. Dabei stehen weniger die Fragen der Ethik des Politischen oder der Wirtschaft im Vordergrund,31 sondern die konkreten Verantwortlichkeiten der Menschen in den Nahbereichen der Familie, des Berufes und des Bildungswesens. In diesen Bereichen, in denen jeder Staat vielfach politisch eingreift und gestaltet und dabei die politisch-demokratische Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen hat, stellt sich immer wieder die Frage, ob und wie weit auf religiöse Bedürfnisse und Überzeugungen Rücksicht zu nehmen ist. Konkret geht es dabei im sozialen Nahbereich vor allem um die Fragen des Eheund Familienrechts, der Geschlechtergleichheit, des Respektes für religiöse – und dabei auch abweichende – Überzeugungen und Äußerungen bis hin zu öffentlicher Kritik, die dann vielfach als Verunglimpfung religiöser Gefühle, ja als Blasphemie empfunden wird, schließlich um die besonders schwer zu regelnden Aspekte der Religionsfreiheit, die den freien, ungehinderten Religionswechsel betreffen, der von vielen als ganz und gar abzulehnender Proselytismus betrachtet wird. In allen diesen Bereichen darf es der säkulare, dem Schutz der Menschenrechte verpflichtete Rechtsstaat nicht zulassen, dass religiöse und/oder sittliche Überzeugungen, die an sich als Ausdruck der Religionsfreiheit schützenswert sind, dazu missbraucht werden (können), die Geltung freiheitssichernder Rechte einzuschränken. Gleichzeitig hat ein Rechtsstaat aber auch die Pflicht und die Möglichkeit, der (positiven wie negativen) Religionsfreiheit aller Menschen und aller Religionsgemeinschaften dadurch zu dienen, dass er ihre Übereinstimmung mit seinen rechtsethischen Prinzipien einfordert und durchsetzt. Er ist verantwortlich für die Einhaltung der Hausordnung für alle. Eine solche Verfassungsordnung dient der Freiheit aller Menschen. Mit dieser differenzierten Zuordnung verbinde ich ein pragmatisches Modell sozialer Kommunikation über ethische Positionen, Postulate und Prinzipien, welches der Diskurstheorie nahe steht. Dieses Modell bezeichnet die wichtigsten Voraussetzungen, Zusammenhänge und Aspekte gesellschaftlicher, ethischer Kommunikation, zwischen denen vielfache Wechselwirkungen stattfinden:

31 Obwohl auch letztere beispielsweise für Muslime eine erhebliche Bedeutung haben können,

etwa im Blick auf die (religiöse) Legitimation des Zinsnehmens.

Religion, Moral und Recht in der pluralistischen Gesellschaft

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Religion

Moral

Politik

Recht

Wahrnehmungen des Wirklichkeitszusammenghanges von Gott – Welt – Mensch

Visionen des guten Lebens

Soziale Interaktionen Kooperationen

Rechtliche Rahmenbestimmungen höchster Ordnung (Verfassung)

Konflikte

Gesetze

Machtbeziehungen

Rechtsprechung

Gesellschaftliche Grundkonsense

Ethos der Rechtswahrung

Institutionen

Normenkontrolle

Erfahrungen der TranszendenzErschließung Bildung eines persönlichen Glaubens Erfahrungen des GemeinschaftsCharakters von Religion

Suche nach Kriterien und Grundsätzen Konflikte von Argumenten und Begründungen kognitive Überzeugungen

Verbindliche und informelle Verfahrensregelungen Herbeiführung bindenKritische Prüfung von Moralische Rechte und der Entscheidungen Reformen des Rechts Pflichten Glauben, Handeln und (individuell/sozial) Verhalten Maximen und Prinzipien

Öffentliche Diskurse

Maßstäbe akzeptabler Gesetze

Dieses Modell geht davon aus, dass zu den spezifischen Aufgaben und Leistungen von Religionen (wie auch nicht-religiösen Weltauffassungen und – interpretationen) die umfassende Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit in ihrer Gesamtverfassung gehört. Aus einem solchen umfassenden Wirklichkeitsverständnis mit zahlreichen weiteren Grundlagen und Aspekten, die hier nicht auszuführen sind, ergeben sich (auch) die Möglichkeiten der Ausbildung moralischer Überzeugungen, der Vorstellungen von Gütern, Zielen, Pflichten, Tugenden und Prinzipien, der intergenerationellen Überlieferung entsprechender Erfahrungen, Einstellungen und Motivationen. Diese alle wiederum können einfließen in den politischen Prozess des Kampfes um Macht, Einfluss, Gestaltungschancen, Herrschaftspositionen und Mehrheitsbildungen, was immer die Motive und Strebensziele sein mögen. Den Rahmen dessen stellen rechtliche, letztlich auf einer Verfassung begründete Grundprinzipien einer wohlgeordneten Staatlichkeit dar. Wichtig, ja entscheidend ist für dieses Modell, dass zwischen allen vier in der theoretischen Abstraktion des Modells unterschiedenen Bereichen zahlreiche Rückkoppelungen stattfinden (können), so dass beispielsweise aus religiösen Glaubenswahrheiten und moralischen Überzeugungen Erwartungen an die Politik hervorgehen, die, wenn sie berücksichtigt werden, eine Mehrheit finden und verfassungsgemäß sind, der Selbsttransformation und Reformation der politischen Bürgergesellschaft dienen. Alle Religionsgemeinschaften sollten an diesem Prozess der offenen Kommunikation über ethische Fragen ungehindert und diskriminierungsfrei teilnehmen können, gemäß dem alttestamentlichen Imperativ: „Suchet der Stadt Bestes!“ (Jer 29,7)