Grenzverhältnisse: Kant und das »Regulative Prinzip« in Wissenschaft und Philosophie [1 ed.] 9783428486373, 9783428086375

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Grenzverhältnisse: Kant und das »Regulative Prinzip« in Wissenschaft und Philosophie [1 ed.]
 9783428486373, 9783428086375

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Dietmar Köveker . Grenzverhältnisse

Philosophische Schriften Band 16

Grenzverhältnisse Kant und das "Regulative Prinzip" in Wissenschaft und Philosophie

Von

Dietmar Köveker

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Köveker, Dietmar:

Grenzverhältnisse : Kant und das "Regulative Prinzip" in Wissenschaft und Philosophie / von Dietmar Köveker. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Philosophische Schriften; Bd. 16) Zug!.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08637-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08637-6

e

Gedruckl auf aherungsbesländigem (säurefreiem) Papier enlsprechend ISO 9706

Meinen Eltern

Inhalt Vorwort .....................................................................................................................9 1

Einleitung...................................................................................................... 11

2

Kant und die Einheit der Vernunft ........................................................... 19

2.1

Das "Unbedingte" als "oberstes Prinzip der reinen Vernunft" und die ''Ideen'' als ihre ''Begriffe'' (B 349-396) .................................33

2.2 Das ''regulative Prinzip": Vernunftintegral zur Venneidung der "dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft" .....................................50

2.2.1 Das Argument des ''Transzendentalen Idealismus" (B 518525) ....................................................................................................... .51 2.2.2 Das "Aufgaben"-Argument (B 525-530) .......................................... .53 2.2.3 Das "Widerstreit"-Argument (B 530-535) ....................................... .59 2.2.4 Das "Unbestimmtheits"-Argument (B 536-543) ..............................64 2.3 Die regulativ-empirische ''Auflösung'' der kosmologischen Antinomien (B 543-595) ......................................................................76

2.3.1 "Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen von einem Weltganzen" (B 545-551) .................................................................................. 80 2.3.2 "Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung" (B 551-555) ................................................................................................89 2.3.3 "Auflösung der kosmologischen Idee(n) von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen" ([B 556-560 und] B 560-586) ..............................................................93 2.3.4 "Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Abhängigkeit der Erscheinungen, ihrem Dasein nach überhaupt" (B 587-593) ............................................................................ 101 2.4 Konstruktionsprobleme der ''Kritik'' .................................................. 106

8

Inhalt

2.4.1 Zeitlosigkeit der Zeit, "Raumzeit" und analoge Zeit: Die

philosophische Konstruktion der Wirklichkeit im transzendentalidealistischen "System" ........................................................... 106

Exkurs: Zur Geschichte des Analogiebegriffs ........................................... 146 2.5

Vemunftintegration ohne "Grenzübergang": Zum Fortschritt der Erkenntnis ''gerade auf der Grenze" zwischen Immanenz und Transzendenz .............................................................................. 155

2.5.1 Das "Ideal der reinen Vernunft" (B 595-670): So tun "als

ob" es Gott gäbe ................................................................................ 165

2.5.2 Der "Anhang zur transzendentalen Dialektik" (B 670 732) ...................................................................................................... 193 2.5.2.1 "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" (B 670-696) .................................................................. 193 2.5.2.2 "Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" (B 697-732) ......................................... 220

3

Über regulative Strukturen in der modernen Physik ..........................239

3.1

Propädeutische Überlegungen zum Verhältnis zwischen Physik und Philosophie .....................................................................240

3.2 Die "Kopenhagener Deutung" der Quantenphysik ...........................245 3.3 Zur regulativen StTUktur quantenmechanischer Meßveifahren ...... 262 4

Konsequenzen ............................................................................................278

4.1 Zur Amphibolie universalienrealistischer Argumentation (1): "Universal" oder "realistisch "? ...........................................................281 4.2 Zur Amphibolie universalienrealistischer Argumentation (2): Letztbegriindung oder Diskurs? Philosophie "auf der Grenze" der Verständigung ............................................................................... 301 Literaturverzeichnis .......................................................................................... .315 Anhang ................................................................................................................ .323

Vorwort Vorreden und Vorworte zu philosophischen Werken sind Oasen der Bescheidenheit. "Wenn diese Arbeit einen Wert hat, so besteht er in zweierlei. Erstens darin, daß in ihr Gedanken ausgedrückt sind, und dieser Wert wird um so größer sein, je besser die Gedanken ausgedrückt sind. Je mehr der Nagel auf den Kopf getroffen ist. - Hier bin ich mir bewußt, weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben zu sein."l

Nicht nur durch das Eingeständnis, daß letzteres leicier auch für die vorliegende Arbeit gilt, trotzt die genannte Bescheidenheit dem Wechsel der Schulen und "Paradigmen". Vielmehr bemerkte schon H::gel mit Blick auf seine "Logik" überraschend realistisch, er müsse, "im Angesicht der Größe der Aufgabe betrachtet, sich mit dem begnügen, was es hat werden mögen, unter den Umständen einer äußerlichen Notwendigkeit, der unabwendbaren Zerstreuung durch die Größe und Vielseitigkeit der Zeitinteressen, sogar unter dem Zweifel, ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse."2

Und doch hat sich etwas Wesentliches verändert zwischen diesen beiden Zitaten. Während Hegel "der nur denkenden Erkenntnis" noch zutraute, die "großen Probleme" wenigstens im Prinzip lösen zu können, wird bei Wittgenstein bereits deutlich, wie wenig damit erreicht ist. Seinem unzulänglichen Ausdrucksvermögen ungeachtet scheint ihm "die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind."3

Hieraus wurden in der Folge vor allem zwei Schlüsse gezogen: Zum einen der, Hegel und die philosophische Tradition habe es zu einem guten Teil mit "Scheinproblemen" zu tun gehabt. Zum andern hätten er und seinesglei1

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Vorwort, in: ders., Werkausgabe, Bd. I, Frankfurt/M. 19884, 9.

2

G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Vorrede zur 2. Ausgabe, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt/M. 1981, 33f.

3

Wittgenstein, a.a.O., 10.

10

Vorwort

chen, nicht zuletzt infolgedessen, unzureichende Methoden zur Beantwortung der tatsächlichen Fragen entwickelt. Vor diesem Hintergrund hat mittlerweile die Vorstellung um sich gegriffen, daß die von Hegel und Wittgenstein behandelten Fragen sich nicht im Alleingang lösen lassen. Dabei zeigt sich das relative Recht beider Schlüsse: Zweifellos gibt es "Scheinprobleme" der Philosophie. Diese resultieren aber nicht zuletzt daraus, daß von der intersubjektiven Natur ihrer Fragen abstrahiert wird. Sofern sie alle angehen, sind sie höchst "real" und verlangen nach entsprechenden Lösungen. Die vorliegende Arbeit nimmt von dieser Hypothese ihren Ausgang. Ich freue mich deshalb, mich bei denjenigen bedanken zu können, die mir Gelegenheit boten, sie auch "praktisch" werden zu lassen, indem sie mich mit der Vorläufigkeit meiner Überlegungen konfrontierten. So haben Prof. Dr. Karl-Otto Apel und die Teilnehmer des von ihm geleiteten "Doktorandenkolloquiums", Dr. Peter Eisenhauer und die Teilnehmer des von ihm geleiteten Seminars "Physik der Bedeutung - Geschichte und Systematik" sowie Thomas Marschner, Dr. Marcel Niquet und Alexander Ulfig einzelne Kapitel dieser Arbeit auf höchst fruchtbare Weise kritisiert. Dr. Peter Braun unterzog die "Gedanken" der gesamten Arbeit in verschiedenen Stadien ihrer Entstehung geduldiger diskursiver Kritik, wodurch so manche Sackgasse sich (mindestens) zum "Holzweg" wandelte. Die ärgerlichsten, weil einfachsten und treffendsten Einwände (besonders zu Kapitel 3) verdanke ich schließlich meiner Frau Hilde Beier. Wenn ich in der von Wittgenstein ausgezeichneten Klarheit des Ausdrucks nicht völlig "hinter dem Möglichen zurückgeblieben" bin, so ist (auch) das ihr Verdienst. Für vielfältige Unterstützung, besonders bei der Bewältigung technischer Probleme, bin ich Olaf Asbach zu besonderem Dank verpflichtet. Die "Graduiertenförderung des Landes Hessen" und der "Deutsche Akademische Austauschdienst" unterstützten das Entstehen der Arbeit durch die Gewährung von Stipendien, wofür ich mich ebenfalls bedanke.4

4

Den Text der "Kritik der reinen Vernunft" (im folgenden: KrV) zitiere ich nach der verbreiteten Konvention unter einem dem Zitat nachgestelltem "A" oder "B" (für die Ausgaben von 1781 bzw. 1787) und darauffolgender Seitenzahl. Zugrundeliegt die Ausgabe von R Schmidt, Hamburg 1976. Alle übrigen Kant-Texte werden, soweit nicht anders vermerkt, zitiert nach den von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen "Gesammelten Schriften", Berlin 1902ff. (abgekürzt "AA", Bandzahl in römischen, Seitenzahl in arabischen Ziffern). Aus drucktechnischen Gründen erscheinen griechische Wendungen, Buchstaben etc. (auch solche in Zitaten) in transskribierter Form.

1 Einleitung Die vorli~gende Arbeit beginnt als Kant-Interpretation. Sie orientiert sich am Begriff eines "regulativen Prinzips" bzw. "regulativer Ideen", deren eigentümlicher Status innerhalb der Kantschen Vernunftkritik seltsam ungeklärt ist. Auf der einen Seite herrscht insbesondere in der angelsächsischen "analytischen" Kantliteratur die Tendenz vor, die "transzendentaldialektischen" Überlegungen Kants im allgemeinen als Metaphysik abzuqualifizieren (so besonders J. Bennett) und dem "regulativen" Ansatz im besonderen bestenfalls methodologisch-heuristischen Wert beizumessen (R.C.S. Walker, P.F. Strawson). Wo dies in der englischsprachigen Kantliteratur nicht geschieht, handelt es sich bezeichnenderweise in der Regel um Autoren "kontinentaler" Herkunft (wie etwa St. Körner und G. Buchdahl). Der stellenweise an vulgäre Anti-Dialektik grenzenden Ignoranz gegenüber Kants regulativer Problemperspektive steht ihre zwar vereinzelte, dafür aber um so pointierter vorgetragene positive Rezeption gegenüber, so vor allem bei K.R. Popper und K.-O. Apel. Während jedoch Popper in einem gewissermaßen unmittelbaren Rückgriff auf Kant dessen regulative Vernunfttheorie beerben will, hält Apel dies nur im Rahmen einer lranszendenta/pragmatischen bzw. transzendenta/semiotischell "Transformation" der Kantschen Erkenntnistheorie für möglich. Popper spricht beispielsweise von "Wahrheit" als "einer regulativen Idee"!, von der "Idee des Alltagsverstandes ( ... ) als regulatives Prinzip ( ... ) der Rationalität aller kritischen wissenschaftlichen Diskussion,2,

oder gar von "Gehalt, Wahrheitsgehalt und Wahrheitsähnlichkeit" als "regulative oder bewertende Ideen"3. Weiterhin hören wir von "der regulativen Idee der Suche nach Wahrheit"4, der regulativen Idee der "Gültigkeit"S, "der Annäherung an die Wahrheit"6 sowie dem "regulative[n] Ideal, TheoK.R Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg 19844, 30 (vgl. auch 123, 247, 249, 276 und

330).

2

Aa.O.,6O.

3

Aa.O., 124; vgl. auch 148.

4

Aa.O., 129.

5

Aa.O., 247; vgl. 249.

6

Aa.O., 276.

12

1 Einleitung

rien zu fmden"7. Schließlich dient Popper sogar ein "regulatives Prinzip" als Gelenk zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. "Die Prinzipien, die jeder rationalen Diskussion zugrunde liegen, das heißt jeder Diskussion im Dienste der Wahrheitssuche, sind recht eigentlich ethische Prinzipien. ( ... ) Die Idee der Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip ist ein solches ethisches Prinzip. Die Wahrheitssuche und die Idee der Annäherung an die Wahrheit sind weitere ethische Prinzipien; ebenso auch die Idee der intellektuellen Redlichkeit und die der Fehlbarkeit, die uns zur selbstkritischen Haltung und zur Toleranz führt ..s

Wie schon die wenigen Zitate belegen, speist sich insbesondere Poppers Theorie der "Wahrheitsnähe"9 aus der regulativ-melioristischen "Intuition" einer "unendlichen Annäherung" an etwas, "dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann" (B 383). Demgegenüber scheint Apel ein solcher unmittelbarer Rückgriff auf Kantische Denkmittel verwehrt durch die tendenziell "solipsistische" Verankerung der transzendentalen "Erkenntniskritik" und ihren daraus resultierenden "sinnkritischen" Transformationsbedarf. Bei dieser von Peirce inspirierten "Transformation der Philosophie"lO handelt es sich insofern wesentlich um eine Transformation der Kantschen Transzendentalphilosophie, "als sie auf die Ersetzung der »konstitutiven Prinzipien« Kants durch die »regulativen Prinzipien« für die Methoden des sllthetischen Schließens und der interpretativen Konsensbildung in the long run abhebt." 1

Offensichtlich ist jedoch keiner der beiden Versuche, Kants regulative Vernunft theorie in der einen oder der anderen Form theoretisch fruchtbar zu machen, unproblematisch. Abgesehen von der bei Apel wie Popper nicht hinreichend geklärten - und bei Kant nicht konsequent durchgehaltenen Unterscheidung zwischen einem "regulativen Prinzip" und "regulativen 7

A.a.O., 303.

8

K.R Popper, "Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit (gestohlen von Xenophanes und von Voltaire)", in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, München 19916, 225f.

9

Vgl. etwa K.R Popper, "Über Wahrheitsnähe", in: ders., Logik der Forschung, Neuer Anhang XV., Tübingen 19827

10 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1981 2. 11 A.a.O, Bd. 2, 165 Fn. Vgl. auch ders., "Transcendental Semiotics and Hypothetical Metaphysics of Evolution: A Peircean or Quasi-Peircean Answer to a Recurrent Problem of Post-Kantian Philosophy", in: K.L. Kettner (ed.), Peirce and Comtemporary Thought. Transactions of the Sequicentennial International Congress, Texas Tech. University Press (forthcoming), sowie die einschlägigen Stellen in: ders., Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt/M. 1975.

1 Einleitung

13

Ideen" (bzw. deren "regulativem Gebrauch")12 ist gegen Poppers Theorie der "Wahrheitsnähe" unter anderem auf das ihr innewohnende Maßstabsproblem hingewiesen worden.1 3 Darüber hinaus findet sich bei Popper gelegentlich ein, gerade im Hinblick auf seinen eigenen wissenschaftstheoretischen Ansatz, verblüffend "unkritischer" Umgang mit bestimmten "regulativen" Konnotationen des Ideen-Begriffs. So sagt er etwa, daß "die Ideen, die wir heute totalitär nennen, einer Tradition angehören, die ebenso alt oder ebenso jung ist wie unsere Zivilisation selbst."14 Er, Popper, versuche, "einen Beitrag zum Verständnis dieser Ideen und zur Bedeutung unseres ewigen Kampfes gegen sie zu leisten."15

Hier wird sichtbar, wie ungeklärt der epistemologische Status von "Ideen" ist. Poppers unreflektierte Rede von einem "ewigen" Kampf gegen "totalitäre" Ideen - ein Kampf, der, wie noch zu sehen sein wird, sehr dem (vergeblichen) Bemühen um die Erkenntnis eines "Ding an sich" ähnelt verfällt nicht nur Hegels Kritik an der "schlechten Unendlichkeit" bloß undurchschauter Bedingungsgefüge. Vielmehr reproduziert Popper damit genau jene Argumentationsstruktur, die er wenige Seiten später als eines der Hauptmerkmale "historizistischer" Ideologiebildungen kritisiert. "Eine andere Seite der Lehre vom auseIWählten Volk ist, daß das, was als das Ziel der Geschichte hingestellt wird, in der fernsten Zukunft liegt. Dieses Ziel läßt sich zwar mit einer gewissen Bestimmtheit beschreiben. Dennoch haben wir einen langen Weg zurückzulegen, um es zu erreichen. Und dieser Weg ist nicht nur lang, sondern verschlungen, er führt aufwärts, abwärts, nach rechts und nach links. Es ist daher möglich, jedes erdenkliche historische Ereignis in diesem Deutungsschema unterzubringen: Keine erdenkliche Erfahrung kann das Schema widerlegen. Denen aber, die an es glauben, verleiht es Sicherheit in bezug auf den schließ lichen Ausgang der menschlichen Geschichte: 16

Apel räumt demgegenüber von vornherein ein, daß die weiter oben zitierte regulative Projektion der Gültigkeit "konstitutiver" Prinzipien an das Ende eines hypothetischen Schluß- und Erkenntnisprozesses "in the long

12 Um den sprachlichen Ausdruck nicht unnötig zu erschweren, spreche ich im folgenden der Einfachheit halber des öfteren abkürzend von "Kants Theorie regulativer Ideen" o.ä. Dessen ungeachtet ist der soeben angesprochene Unterschied zwischen einem "regulativen Prinzip" und den "regulativen Ideen" der reinen Vernunft für die vorliegende Untersuchung theoretisch zentral, wie sich noch im einzelnen eIWeisen wird. 13 H. Keuth, Realität und Wahrheit, Tübingen 1978, Kap. 4.

14 K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons, Tübingen 198cf>, 21. 15 Ebd. 16 A.a.O., 33 (Erste beide Hervorhebungen D.K.).

14

1 Einleitung

run" sich nicht sämtlicher Schwierigkeiten des Ideenbegriffs (wie etwa den soeben aufgezeigten) entledigen kann. "Die Problematik der unerkennbaren Dinge-an-sich transformiert sich ( ... ) in die - freilich auch mit Paradoxien behaftete - Problematik der unendlichen Approximation, wie schon im Falle der vorausgesetzten Konvergenz von konstitutiven und regulativen Prinzipien."17

Die drohende Aporetik dieser Konzeption tritt im Zusammenhang von Peirce' Theorie der Verhaltensgewohnheiten ("habits") besonders deutlich hervor. Sie nötigt Apel zu folgender unbefriedigenden Auskunft. "Freilich treten hier, wie bei allen übrigen Zukunftsvisionen Peirces, die Paradoxien des Unendlichen auf: ähnlich der Frage, ob auf lange Sicht die Fragen oder die Antworten schneller zunehmen, ergibt sich hier das Problem, wie die "Habits« die Durchbrüche der ursprünglichen Gefühlspotenz - etwa im Zweifel und im Staunen - jemals überholen sollen. Es bleibt hier offenbar nur die Auskunft, eines der beiden Momente der Evolution zum »regulativen Prinzip« der Praxis zu erheben. Welches von beiden - darüber ist bekanntlich in der Situation des Einzelnen und der Gesellschaft nicht leicht zu entscheiden."18

Diesen ernstzunehmenden Unklarheiten und Schwierigkeiten zum Trotz erfreut sich Kants Unterscheidung zwischen "konstitutiven Prinzipien" (des Verstandes) und "regulativen Prinzipien" (der Vernunft) wachsender Beliebtheit. So spricht etwa D. Horster (im Anschluß an Habermas) davon, die "Ideen der Aufklärung" seien "regulativ" und "zugleich konstitutiv"19. Zur Verdeutlichung bezieht er sich auf die Funktion der Gerechtigkeitsidee in Gerichtsprozessen. "Obwohl die Idee der Gerechtigkeit einen idealen und nur annäherungsweise realisierten Gehalt hat, müssen wir davon ausgehen, daß es Gerechtigkeit faktisch gibt, damit überhaupt ein Prozeß zustande kommen kann."20

W.-D. Narr meint sogar, es gelte, "nüchtern an der regulativen Idee des Sozialismus festzuhalten - als Quelle der Kapitalismuskritik und als historischer Träger der Hoffnung auf ein besseres Leben."21

Wie insbesondere diese letzte Bemerkung zeigt, gilt Kants regulative Vernunfttheorie offenbar als vorrangiger Theorie-Kandidat, um dem nach dem "Ende des Sozialismus", dem "Ende der Ideologien" oder gar dem 17 Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, 175. 18 Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, 284 Fn. 19 D. Horster, "Die utopische Wirklichkeit", Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 12 (1992), 1094. 20 Ebd. 21 W.-D. Narr, "Wider die blinden Sieger", Leviathan 3 (1990), 429.

1 Einleitung

15

"Ende der Geschichte" wie leergefegten Zukunftshorizont irgendeine rational begründbare Handlungs- und Sinn perspektive abgewinnen zu können. Gegenüber den erst theoretisch, jetzt auch praktisch unhaltbar gewordenen substanzialistischen Geschichtsspekulationen unterschiedlicher Provenienz scheint der Formalismus des Kantschen Ansatzes offenbar "kritische" Widerstandsfähigkeit und eine "regulative" Minimalorientierung zugleich zu versprechen. Wie dem auch sei: Die genannten theoretischen Unklarheiten in Kants Theorie "regulativer Prinzipien" und "Ideen" lassen gerade angesichts der gleichzeitigen gesellschaftstheoretischen Konjunktur dieses Ansatzes eine sachliche Klärung seiner Tragfähigkeit dringend geboten erscheinen - in der Hoffnung, daß "man denn einmal etwas Bestimmtes" habe, 'woran man sich bei allen metaphysischen Unternehmungen, die bisher kühn gnug, aber jedeneit blind über alles ohne Unterschied gegangen sind, halten kann.,22

Die vorliegende Arbeit verfolgt deshalb zuallererst das Ziel einer minutiösen und umfassenden immanenten Rekonstruktion von Kants regulativer Vernunfttheorie inclusive ihrer Verzweigungen und Teiltheoreme. Dieser Aufgabe sind gut zwei Drittel des vorliegenden Buches gewidmet. Das damit befaßte Kapitel 2 ist so angelegt, daß es sich auch als Kommentar zur "Transzendentalen Dialektik" der KrV lesen läßt. 23 Es beginnt mit einer den Problem horizont absteckenden Skizze der in der Sekundärliteratur geführten Diskussion darüber, weshalb Kant der "Transzendentalen Analytik" der KrV überhaupt eine "Transzendentale Dialektik" folgen ließ. Schon diese Einführung in die Problematik wird deutlich machen, daß die Art und Weise der Beantwortung dieser Frage grundlegend darüber entscheidet, welches Bild wir von Kants Erkenntnistheorie gewinnen. Der anschließende chronologische Durchgang durch die "Transzendentale Dialektik" - von der "Einleitung" bis zum "Anhang zur transzendentalen Dialektik" - wird eine Vielzahl von Argumenten für die Auffassung zusammentragen, daß die "Transzendentale Dialektik" - ganz im Gegensatz zu der in der analytischen Kant-Literatur vorherrschenden Meinung - keinen mehr oder minder verzichtbaren Appendix zur "Transzendentalen Analytik" darstellt, sondern die in dieser (und der "Transzendentalen Ästhetik") begonnene Erörterung der zentralen erkenntnistheoretischen Fragen aufnimmt, weiterentwickelt und - sofern dies Kant 22 AA IV (Prolegomena), 313. 23 Besondere Bedeutung kommt der kritischen Auseinandersetzung mit den bereits vorliegenden Kommentierungen von J. Bennett, H. Heimsoeth und P.F. Strawson zu.

16

1 Einleitung

überhaupt gelingt - allererst zum Abschluß bringt! Diese These einer internen Verweisungsstruktur und unauflöslichen theoretischen Verklammerung zwischen "Transzendentaler Analytik" und "Transzendentaler Dialektik" wird hauptsächlich durch drei Befunde gestützt: Erstens die Begrnndungskonkurrenz zwischen dem "höchsten Punkt" des Verstandes und dem "Unbedingten" der Vernunft, die zu einer "konkurrierenden Gesetzgebung" zwischen "Verstand" und "Vernunft" führt (Kap. 2.1), sich aber auch schon im Verhältnis zwischen dem "höchsten Punkt" einerseits, dem "obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile" andererseits bemerkbar machte (Kap. 2.4); zweitens das in der Sekundärliteratur entweder mit Kopfschütteln quittierte (Bennett), ignorierte (Heidegger) oder hinsichtlich seiner systematischen Konsequenzen völlig unterbelichtete (Schönrich) Auftauchen "regulativer Prinzipien" innerhalb der (doch eigentlich "konstitutiven") Verstandestheorie (Kap. 2.4); drittens die Tatsache, daß schließlich sogar die Vernunft als "Voraussetzung für den Verstand" erscheint (Kap. 2.5.2). Parallel zu diesem durch eine schrittweise Rekonstruktion des Kantschen Gedankengangs geführten Nachweis seiner immanenten, häufig genug verschwiegenen Voraussetzungsstruktur wird der ebenfalls in der Sekundärliteratur weitgehend ignorierte, sachlich jedoch entscheidende Unterschied zwischen "regulativen Prinzipien" und "regulativen Ideen" (der Vernunft) in den Mittelpunkt des Interesses gerückt (Kap. 2.2, 2.3 und 2.5). Jene stehen für den realistischen Impuls im Denken Kants, der Offenheit des Erkenntnisprozesses ebenso Rechnung zu tragen wie dem Umstand, daß wir (gleichwohl) schon jetzt "erkennen". Diese beiden Momente schlüssig aufeinander zu beziehen, erweist sich im Fortgang der nachstehenden Überlegungen mehr und mehr als das Problem der Erkenntnistheorie schlechthin. Dabei suchen die "regulativen Ideen" andererseits ein Moment unverlierbarer Orientierung in diesem Prozeß zu fIXieren, wodurch sie tendenziell paradoxe Gestalt annehmen. Vor diesem Hintergrund erscheinen der "konstitutive" Ausgangs- wie der "regulative" Endpunkt (qua "regulative Ideen") des Erkenntnisprozesses als gleichermaßen idealistische Abstraktionen. Die Tatsache nun, daß "regulative Prinzipien" erstmals im Rahmen der "Analogien der Erfahrung" ins Spiel kommen, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten analogischer Vermittlung zwischen diesen beiden Polen von "Erkenntnis". Ein Exkurs zur Geschichte des Analogiebegriffs soll deshalb den problemgeschichtlichen Zusammenhang erhellen, aus dem diese "architektonische" Theorieentscheidung Kants verständlich wird. Die intensive Auseinandersetzung mit Kants regulativer Vernunfttheorie zeigt insbesondere, daß das Modell eines "regulativen Prinzips der reinen Vernunft" zunächst und zuerst zur Lösung naturphilosophisch relevanter

1 Einleitung

17

Fragestellungen eingeführt wird. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Entwicklung im allgemeinen und der modernen physikalischen "Relativierung" und "Quantelung" zentraler Annahmen der "klassischen Physik" im besonderen stellt sich dann natürlich die Frage, ob Kants Erkenntnistheorie hinsichtlich ihrer naturphilosophisch-physikalischen Basisaxiome nicht insgesamt als überholt anzusehen ist. Diese Frage wird in Kapitel 3 erörtert. Dabei zeigt sich, daß sich das "regulative Prinzip der reinen Vernunft" in einer solchen Weise in Beziehung setzen läßt zu zentralen Annahmen insbesondere der Quantenmechanik, daß die den Diskurs über Kants Erkenntnistheorie dominierende Auffassung, sie sei jedenfalls hinsichtlich ihrer "klassischen" Hintergrundphysik als mehr oder minder überholt anzusehen, zumindest neu durchdacht werden muß. Die Ergebnisse dieses in gewisser Weise exemplarischen Vergleichs zwischen Kant und der modernen Physik gehen dann ein in das Schlußkapitel 4, in dem einige Konsequenzen aus den systematischen, historischen und vergleichenden Studien der vorangegangenen Kapitel diskutiert werden. Spätestens dort wird klar werden, inwiefern die vorliegende Untersuchung die prinzipielle "Bifurkation"24 transzendentaler Begründungsstrategien bestätigt, die sich bereits Kant-immanent als durchgängige und schon früh bemerkte25 "Doppeldeutigkeit" der Kantschen Begriffe rekonstruieren läßt. (Vgl. besonders Kap. 2.4) Die Diskussion bestimmter Annahmen der "Diskurstheorie" von Apel und Habermas vor dem Hintergrund des erreichten Problem niveaus soll abschließend zumindest plausibel machen, daß und inwiefern es bestimmte Ve1ahren gibt - die "Messung" in der Mikrophysik, die (diversen) "Diskurse" von theoretischer Wahrheitssuche, praktischer Entscheidungsfindung etc. -, die genau das leisten: die angesprochenen zwei Momente der Offenheit dieser Verfahren wie ihrer "Schlüssigkeit" hier und jetzt "unhintergehbar" :mfeinander zu beziehen. Der Arbeit angefügt ist eine kommentierte Gegenüberstellung sämtlicher Stellen innerhalb der KrV, in denen Kant von seiner Unterscheidung zwi24 Vgl. M. Niquet, Transzendentale Argumente, Frankfurt/M. 1991, besonders 11 und 277ff. 25 M. HorkheimerjTh.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1981 8, 76; M.

Puder, Doppeldeutige Sprach figuren bei Kant und ihre sachliche Motivation, Frankfurt/Mo 1968; G. Buchdahl, "The Relation between 'Understanding' and 'Reason' in the Architectonic of Kant's Philosophy", Proceedings of the Aristotelian Society 1966, 213ff.; D. Köveker, "Zwischen »objektiver Gültigkeit« und »subjektiv-notwendigem Probierstein« der Wahrheit - Systematische Überlegungen zum Konsensgedanken in der politischen Philosophie Kants", Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (1995), 274ff., hier 284ff.

2 Köveker

18

1 Einleitung

sehen "konstitutiven" und "regulativen Prinzipien" (bzw. "Ideen") Gebrauch macht. Diese kleine Lese- und Interpretationshilfe ist als Kompensationsversuch für all diejenigen oft langwierigen, ermüdenden und mitunter sogar willkürlich und ziemlich ziellos scheinenden Anläufe der vorliegenden Arbeit gedacht, das Problem der regulativen Vernunft in den Gesamthorizont der Kantschen Erkenntniskritik einzuordnen. Ich bin mir darüber im klaren, daß die kritische Begleitung dieser Versuche dem Leser hier und da einen langen Atem abverlangt sowie das ein oder andere Zugeständnis an die Eleganz der Darstellung. Ich kann demgegenüber hier, am Anfang der Untersuchung, nur auf meine Überzeugung verweisen, daß die hermeneutische Geduld am Ende mit einem Bild der "Kritik der reinen Vernunft" belohnt wird, das eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten erlaubt, die mit den theoretischen Mitteln der derzeit vorherrschenden Literatur zum Teil noch nicht einmal gestellt werden können.

2 Kant und die Einheit der Vernunft Das vorliegende Kapitel soll der Aufgabe dienen, Kants Konzept eines regulativen Prinzips und regulativer Ideen zu entwickeln, wie wir es im wesentlichen in der KrV vorfinden. Im Zuge einer ausführlichen und sorgfältigen Rekonstruktion dieses zum Kernbestand seiner Vernunfttheorie zählenden Begriffs soll vor allem dessen systematische Bedeutung für Kants Theorie der Erfahrung überhaupt sichtbar werden. Dieser Aufgabe kann man nur gerecht werden, wenn es gelingt, die nicht unmittelbar zu greifende, dafür latent um so massivere, "inoffizielle"l interne Rückbezogenheit des Konzepts regulativer Ideen auf den "höchsten Punkt" der Transzendentalphilosophie aufzuzeigen. Wohl und Wehe einer theoretisch fruchtbaren und aufschlußreichen Darstellung von Kants Theorie der regulativen Vernunft hängt m.E. davon ab, sie derart im systematischen Kontext der gesamten Architektonik von Kants Erfahrungstheorie sichtbar werden zu lassen. 2 Dann können sowohl die dahinterliegenden, den Entwurf motivierenden gnmdsätzlichen Probleme und Überlegungen hervortreten als auch Defizite oder gar systematische Widersprüche aufgezeigt werden. Überflüssig zu erwähnen, daß insofern die in einer solchen Rekonstruktion herausgearbeiteten Schwächen und Stärken der Theorie über ihre Erklärungskraft und Fruchtbarkeit entscheiden, in diesem Kapitel also die theoretischen Grundlagen für die weitere Beschäftigung mit der regulativen Problemperspektive gelegt werden. Zunächst ein paar Bemerkungen zur Textsituation. Gerne wird als Kernstelle, in der Kant das Theorem der regulativen Ideen entwickelt, auf den berühmten "Anhang zur transzendentalen Dialektik. Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" (B 670-732) verwiesen. 3 So richtig es ist, daß sich hier die ausführlichsten zusammenhängenden Überlegungen zu diesem Themenkomplex finden, so wenig dürfen doch die voraufgehenVgl. J. Bennett, Kant's Dialectic, Cambridge 1974, 138f., der - wenn auch aus anderer Perspektive als die vorliegende Arbeit - zwischen einer "offiziellen" und einer "inoffiziellen" Theorie regulativer Prinzipien bei Kant unterscheidet. Vgl. auch die Rede von den "!wo faces of the Critique" bei P.F. Strawson, The Bounds of Sense, London 1966, 15.

2

Vgl. Buchdahl, 225; ähnlich B XXIII.

3

So etwa bei RC.S. Walker, "Kant's Conception of Empirical Law", Proceedings of the Aristotelian Society, Supplement 1990, 247, oder auch bei Bennett, a.a.O., 270.

20

2 Kant und die Einheit der Vernunft

den Passagen übersehen werden, in denen bereits von der Begrifflichkeit Gebrauch gemacht wird. Dabei zeigt sich nicht nur, daß schon im "Achten" und "Neunten Abschnitt" der "Antinomie der reinen Vernunft" (B 536-595) eine intensive Beschäftigung mit der Problematik erfolgt. Erst eine eingehende Untersuchung dieser beiden Passagen im Zusammenhang mit der "Einleitung" und dem "Ersten Buch" der "Transzendentalen Dialektik" bringt vielmehr ihre hervorragende Bedeutung für diesen Komplex sowie Kants theoretische Philosophie überhaupt zum Vorschein. Diese Bedeutung schlägt sich nicht zuletzt schon quantitativ darin nieder, daß die genannten Stellen - nach Ausgabe B - rund 130 Seiten Text füllen. 4 Ich sprach soeben von der systematisch relevanten Aufgabe, die Bedeutung des Konzepts regulativer Ideen für die gesamte KrV herauszuarbeiten. Dabei wird es natürlich vor allem darauf ankommen, seine Relevanz und Präsenz dort aufzuzeigen, wo es ungenannt und dennoch wesentlich an der Begründung von Kants Erkenntnistheorie überhaupt beteiligt ist. Das wird zu einem guten Teil durch den Aufweis von Begründungsstrukturen zu geschehen haben, die sich nicht explizit Kants Texten entnehmen lassen, gleichwohl aus ihrer transzendentallogischen Tiefenstruktur hervorgehen. 5 Aber es gibt sogar schon in der "Transzendentalen Analytik" der KrV einen expliziten Gebrauch der Unterscheidung zwischen "regulativen" und "konstitutiven Prinzipien". In seinem "Beweis" der "Analogien der Erfahrung" (B 218-224) findet sich die erste Verwendung dieses Begriffspaars im Rahmen seines Hauptwerks. 6 Bis zu ihrer detaillierten Entfaltung in der "Transzendentalen Dialektik" findet sich nur noch eine Erwähnung dieser Unterscheidung im Kapitel über "Phaenomena und Noumena" (B 296), die jedoch die Bestimmungen von B 218ff. lediglich wiederholt. Da Kant im Analogienkapitel der KrV vor allem ein bestimmtes Teilproblem der Theorie regulativer Ideen, nämlich das der "philosophischen Analogie", erörtert, empfiehlt es sich, ihre Diskussion so lange zurückzustellen,

4

Vgl. dazu H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Erster Teil, Berlin 1966, 1.

5

D. Henrich bezeichnet eine solche Vorgehensweise als die der "argumentierenden Rekonstruktion". Sie "ordnet zunächst zweideutig gebliebenen Begriffen Definitionen zu, die sie eindeutig machen, und isoliert dann in unartikuliert komplexen Texten Prämissen und Argumente, um von ihnen ausgehend durch selbständiges Folgern zu Konsequenzen zu kommen, welche denen des Textes möglichst weitgehend entsprechen" (Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976, 10).

6

Die beispielsweise Bennett (a.a.O., 270 Fn.) vorsätzlich ignoriert (s.u., Kap. 2.4.1).

2 Kant und die Einheit der Vernunft

21

bis das Gesamtkonzept in seinen Hauptzügen aus den einschlägigen Abschnitten der "Transzendentalen Dialektik" rekonstruiert ist. Bevor ich mich jedoch dieser Aufgabe zuwenden kann, müssen wir uns einer Frage stellen, die nicht nur naheliegt. Sie drängt sich geradezu auf. Vor allem aber, das wird im folgenden hinlänglich klar werden, hängt ein zureichendes Verständnis der gesamten Erkenntniskritik Kants davon ab, sich (a) diese Frage in ihrer systematischen Dimension mit aller Schärfe vor Augen zu führen und (b) eine befriedigende Antwort auf sie zu finden. Ich erwähnte soeben, daß es beim Übergang zur Beschäftigung mit der "Transzendentalen Dialektik" aus der KrV ausgesprochen wichtig ist, sich den systematischen Stellenwert und die Funktion dieses zweiten Teils der "Transzendentalen Logik" vor Augen zu führen. Seine interne, begründungslogische Rückbezogenheit auf den "höchsten Punkt" der Transzendentalphilosophie, wie ihn Kant in seiner "Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" herausarbeitet, wird daher noch verschiedentlich Thema werden. Zuvor ist aber doch zu fragen, weshalb die bereits in zahlreichen Details ausformulierte und im "höchsten Punkt" des Verstandes reflexiv begründete Transzendentalphilosophie denn überhaupt noch eines zweiten Teils bedarf. Die subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit, die Kategorien als Formen synthetischer Verstandestätigkeit sowie deren Schematisierung in der Zeit scheinen doch erfolgreich eingeführt. Wozu sich überhaupt mit den Hirngespinsten einer fragwürdigen "Logik des Scheins" befassen, wenn die soliden Einsichten der "Transzendentalen Ästhetik" und der "Transzendentalen Analytik" des Verstandesvermögens uns der Möglichkeit von Erkenntnis bereits hinlänglich versichert haben? In der Tat besteht ja vor allem innerhalb der analytischen Philosophie die deutliche Tendenz, Kants "Transzendentale Dialektik" entweder schlicht zu ignorieren oder ihr zumindest eine genuine Fragestellung und Problematik abzusprechen. Demgegenüber macht G. Buchdahl darauf aufmerksam, daß "those who have not noticed the Kantian advance from understanding to reason, and who are under the impression that the transcendental arguments [of the understanding, D.K] forthwith lay the foundations of science, will not be aware of this problem [or reasonable "knowledge", D.K]; though in return, Kant's procedure will look just that much more arbitrary".7

Diese Kritik gilt allerdings nicht nur für die analytische Kant-Interpretation. Noch 1966 mußte Heinz Heimsoeth, Verfasser des ersten wirklich ausführlichen Kommentars zur "Transzendentalen Dialektik", ganz allgemein feststellen, sie sei,

7

Buchdahl, 221.

22

2 Kant und die Einheit der Vernunft

"wenn überhaupt (wie etwa bei Kemp-Smith), nur gleichsam nachträglich und wenig genau erläutert worden, so als ob es sich um allzusehr durch Kants Jahrhundert und eigene Anliegen bedingte Gegenstände handelte".8

Heimsoeth sah sich demgegenüber mit seinem umfangreichen Kommentarwerk nunmehr ganz im Rahmen des zeitgenössischen philosophischen Interesses, das sich, nicht zuletzt durch Heidegger angeregt, "in den letzten Jahrzehnten auf neue Art dem Thema »Metaphysik« ( ... ) zugewandt"9 hat. Nun kann das damalige Auseinanderklaffen von kontinentalem und angelsächsischem "philosophischem Interesse" kaum besser erhellt werden als durch die Tatsache, daß im gleichen Jahr wie Heimsoeths Arbeit ein englischer Kommentar zur KrV erscheint, der letzten Endes vermutlich mehr zur Diskreditierung der "Transzendentalen Dialektik" beitrug, als Heimsoeths Werk den gegenteiligen Effekt hervorrief. Ich spreche von Peter F. Strawsons Kant-Studie "The Bounds of Sense". Es scheint mir dabei eine offene Frage, wodurch Strawsons Arbeit mehr zur Ablenkung des Interesses vom zweiten Teil der "Transzendentalen Logik" beitrug: Durch seine These, "regulative Ideen" als zentraler konzeptueller Bestandteil von Kants "Transzendentaler Dialektik" hätten einzig und allein in der Kosmologie, aber selbst da nur eine schwache "heuristische" Bedeutung; oder durch seine überaus einflußreiche Herausarbeitung eines Typs sogenannter "transzendentaler Argumente", durch die Strawson - vor allem in dieser frühen Phase - über den Aufweis einer unvermeidlichen Inanspruchnahme kategorialer Strukturen in skeptischen Argumenten den transzendentallogischen Nachweis "objektiver" Erfahrungsbedingungen geführt sah. lO Wie sich jedenfalls zeigen sollte, blendete diese Fokussierung auf die Möglichkeiten der Etablierung einer "kategorialen Synthesis", ähnlich wie es Heimsoeth hinsichtlich des Neukantianismus feststellte,ll Kants metaphysikkritische Überlegungen aus der "Transzendentalen Dialektik" weitgehend aus.

8

Heimsoeth, VIII.

9

Ebd.

10 Der "Neokantianismus" Strawsons hatte eine ausführliche Debatte über den Status und die Logik "transzendentaler Argumente" zur Folge. Die anhaltende Aktualität und Fruchtbarkeit dieses Ansatzes zeigte sich in jüngster Zeit an der überaus sorgfältigen, das Problemterrain vorbildlich sondierenden Studie von Niquet (a.a.O.). Sie legt exemplarisch Zeugnis ab von der Wirkungsmächtigkeit der Strawsonschen Kant-Interpretation und wird an einem späteren Punkt unserer Überlegungen in Beziehung gesetzt zu der zentralen Problematik der vorliegenden Untersuchung. 11 Heimsoeth, VII.

2 Kant und die Einheit der Vernunft

23

Strawson hatte gleich auf der ersten Seite seiner Untersuchung ganz klar herausgestellt, worauf es seines Erachtens bei der Auseinandersetzung mit Kants theoretischer Philosophie in erster Linie ankomme. "1be workings of the human perceptual mechanism, the ways in which our experience is causally dependent on those workings, are matters for empirical, or scientific, not philosophical, investigation. Kant was weil aware of this; he knew very weil that such an empirical inquiry was of a quite different kind from the investigation he proposed into the fundamental structure of ideas in terms of which alone we can make intelligible to ourselves the idea of experience of the world. Yet, in spite of this awareness, he conceived the latter investigation on a kind of strained analogy with the former. Wherever he found Iimiting or necessary general features of experience, he declared their source to lie in our own cognitive constitution; and this doctrine he considered indispensable as an explanation of the possibility of knowledge of the necessary structure of experience. Yet there is no doubt that this doctrine is incoherent in itself and masks, rather than explains, the real character of his inquiry; so that a central problem in understanding the Critique is precisely that of disentangling all that hangs on this doctrine from the analytical argument which is in fact independent of it."12

Aus dieser Gegenüberstellung von einerseits wissenschaftlich-empirischen und andererseits genuin philosophischen Erkenntnissen sowie der These, Kant neige zur Mißinterpretation von diesen nach der Analogie von jenen, erwächst Strawson ein Interpretationsrahmen, im Lichte dessen Kants Hauptwerk in sehr disparate Teile zerfällt. Die "separation of these two strands in the Critique" , also der im Sinn der genannten Analogie korrumpierten und der originär philosophischen Einsichten, dient denn auch der "division between what remains fruitful and interesting and what no longer appears acceptable, or even promising, in its doctrines".13

In diesem Versuch einer kritischen Revision dessen, was in Kants Erkenntnistheorie auch vor dem Hintergrund der analytischen Philosophie sich als haltbar erweisen kann, macht Strawson vor allem das empiristisch deutbare Moment des Kantschen Erfahrungsbegriffs stark. Er bekommt dabei durchaus einen, wenn nicht sogar den Kern von Kants "kritischen" Bemühungen in den Blick, indem er auf Kants These verweist, daß nur diejenigen theoretisch erwogenen Bestandteile unserer Erfahrung den Test einer transzendental-kritischen Überprüfung bestehen, die ihren Bezug auf bzw. ihre konstitutive Funktion für "mögliche Erfahrung" nachweisen können. Dieser Gedankengang repräsentiere "Kant's principle of significance", das sich im folgenden als methodisches Hauptinstrument der Kant-Interpretation Strawsons erweist.

12 Strawson, a.a.O., 15f. 13 A.a.O., 16.

24

2 Kant und die Einheit der Vernunft "This is the principle that there can be no legitimate, or even meaningful, employment of ideas or concepts which does not relate them to empirical or experiential conditions of their application. If we wish to use a concept in a certain way, but are unable to specify the kind of experience-situation to which the concept, used in that wax, could apply, then we are not rea11y envisaging any legitimate use of that concept at a11."l

Diese nicht zuletzt von Wittgenstein inspirierte, sinnkritische Lesart der KrV gewinnt ihre größte Plausibilität und Überzeugungskraft in der Anwendung auf das für die Metastruktur von Kants Erkenntnistheorie entscheidende Begriffspaar von "Ding an sich" und "Erscheinung". Eine der Kantschen Grundannahmen bildet ja den Kern der in der "Vorrede" zur KrV formulierten berühmten "Kopernikanischen Wende" der Metaphysik: Nachdem alle Versuche gescheitert sind, unter der Annahme, unser Denken müsse sich nach den Dingen richten, zu apriorischen Aussagen über die Art unseres Denkens und Erkennens zu gelangen, empfiehlt Kant, "man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten" (B XVI).

Dieser Ansatz führt Kant zur Lehre von der "empirischen Realität" und gleichzeitigen "transzendentalen Idealität" der subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit (vgl. B 44); "denn", wie er erinnernd bemerkt, "weder absolute, noch relative Bestimmungen können vor dem Dasein der Dinge, welchen sie zukommen, mithin nicht apriori angeschaut werden" (B 42).

Die Pointe dieser Lehre besteht in einer paradox anmutenden transzendenthlphilosophischen Reduktion des Programms der dogmatischen Metaphysik.15 Während deren kaum zu überbietender Erkenntnisanspruch einer kritischen Überprüfung nicht standhält, räumt Kants Anschauungstheorie zwar - als "transzendentaler Idealismus" - ein, bloß von "Sachen" gemäß "ihrer Erscheinung" zu handeln, beansprucht aber - als "empirischer Realismus" - gerade auf Grund dieser Einschränkung, "objektiv gültig" zu sein (vgl. B 43f.). Das Problem, das sich hier auftut, läßt sich nun unter anderem als das einer adäquaten Grenzbeschreibung verstehen. Durch die dualistische Entgegensetzung einer Welt noumenaler "Dinge an sich" einerseits und phänomenaler "Erscheinungen" andererseits 16 drängt sich die Frage auf, worin denn noch der Sinn der Rede von "objektiver Gültigkeit" dieser 14 Ebd.

15 "(... ) der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse apriori in einer systematischen Doktrin zu geben (z.E. den Grundsatz der Kausalität) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen." (B 303) 16 Vgl. G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 19n.

2 Kant und die Einheit der Vernunft

25

"bloßen" Erscheinungen bestehen könne. Worauf beziehen sie sich an den Dingen, und wodurch wird gewährleistet, daß unsere Erscheinungen diese nicht völlig verfehlen? Kant hat in anderem Zusammenhang, der sich später aber als völlig strukturanalog erweisen wird, darauf hingewiesen, daß die "Grenze" zwischen zwei Sphären Anteil an beiden hatP Diese Grenze zu explizieren, ist in gewisser Weise das Hauptproblem des vorliegenden Dualismus. Strawson arbeitet sehr klar heraus, daß es Kant vor allem bezüglich seiner Lehre vom "Ding an sich" und der "Erscheinung" nicht gelungen ist, dieses Problem zu lösen, ja daß bei Kant letztlich, wie Strawson anschaulich formuliert, der "point of contact"18 zwischen den beiden Welten vollständig aus dem Blick zu geraten droht. Im speziellen Fall der Rede von Erscheinungen führt dieser Umstand zum Verlust eines wohlbestimmten Sinns dessen, was damit überhaupt noch gemeint sein kann. ·We are aware, then, of ourselves in atemporal guise and hence only as we appear to ourselves and not as we are in ourselves. But what sort of a truth about ourselves is it, that we appear to ourselves in atemporal guise? Do we really so appear 10 ourselves or only appear to ourselves so to appear to ourselves? It seems that we must either choose the first alternative at once or uselessly delay a uselessly elaborated variant of it. Then is it a temporal fact, a fact about what happens in time, that we really so appear to ourselves? To say this would be to go back on our choice; for all that occurs im time belongs on the side oe appearances. So it is not a fact about what happens in time that we really appear to ourselves in atemporal guise. I really do appear to myself temporally; but I do not really temporally appear to myself. But now what does "really do appear« mean? The quest ion is unanswerable; the bounds of intelligibility have been traversed, on any standard.·19

Diese Situation ist nun insofern von erheblichem Einfluß auf Strawsons Behandlung der "Transzendentalen Dialektik", als Kant einige von deren Hauptthesen aufs engste zurückbindet an seine Theorie der Erscheinungen respektive Dinge an sich. Strawson bezieht sich vor allem auf Kants Auffassung, der irreführende Schein in der "natürlichen Dialektik" der um systematische und vor allem vollständige Erkenntnis bemühten Vernunft resultiere aus ihrer Tendenz, die dabei im Spiel befindlichen Vorstellungen und Begriffe als Korrespondenten objektiver Sachverhalte fehlzudeuten. Das heißt etwa im konkreten Fall der kosmologischen Frage, ob die Welt endlich oder unendlich sei, daß der Streit zu einer unentscheidbaren Antinomie führt, wenn und solange ihr Gegenstand - "die Welt" - als vollständig gegeben, mit anderen Worten: als Ding an sich aufgefaßt wird. Das ist jedoch nach Kant ersichtlich nicht möglich, da sich die "Totalität" der Reihe sowohl zeitlicher als auch räumlicher Zustände der Welt nicht gleichsam auf einen 17 Vgl. AA IV (Prolegomena), 356f.

18

Strawson, a.a.O.,

19 Aa.O.,38f.

248.

26

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Schlag vor Augen führen läßt. Die transzendentale Reflexion auf die empirisch relevanten Bedingungen dieser Antithetik kann uns nach Kant demgegenüber daran erinnern, daß wir auch hier an den Erscheinungscharakter möglicher Erkenntnis gebunden bleiben. Strawson faßt diesen Befund dahingehend zusammen, daß Kant in der Unausweichlichkeit der kosmologischen Antinomien, werden ihre Thesen auf Dinge an sich bezogen, einen (indirekten) "Beweis" für die "transzendentale Idealität" von Raum und Zeit sieht. "Kant treats his solution as a confinnation of the thesis of transcendental idealism. If space and time, and the world in space and time, existed as things in themselves, the disjunction in each case would hold as necessary truths. Since the ass um pt ion that they do hold leads to contradiction, we have as good a proof as could be desired that space and time and the natural world do not exist as things in themselves, but only as appearances, are only in us, etc."20

Indem nun Kants Diskussion der "Transzendentalen Dialektik" der Vernunft in der genannten Weise auf der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung fußt, so fällt der Schatten, der auf dieser Unterscheidung ruht, offenbar auch auf Kants Behandlung der "Transzendentalen Dialektik" und ihre kritische Auflösung in Gestalt der Lehre von den "regulativen Ideen". In Strawsons Auseinandersetzung mit Kants "dialektischer" Vernunfttheorie führt das zu einer weitgehenden Zurückweisung ihrer "positiven" Schlußfolgerungen. Ich frage nun aber, ob diese Diskreditierung der Vernunftideen im Geiste von Strawsons völlig berechtigter Kritik an Kants "Dingen an sich" in der Form haltbar ist. Selbst wenn wir der Zurückweisung dieses Teiltheorems der KrV folgen - bleibt dann wirklich nicht mehr als der schwache "heuristische Nutzen", den Strawson den "regulativen Ideen" auf dem Feld kosmologischer Fragen - und nur dort - einräumt? Schrumpft Kants anspruchsvolle Theorie der auf systematische Vollständigkeit und Unbedingtheit zielenden Vernunft tatsächlich auf Strawsons methodologisches Postulat der "identity of reference" in der Verständigung über theoretische Probleme sowie auf das - wie auch immer fortschritts orientierte - Modell eines "corrected view"21 der Wissenschaften? Und vor allen Dingen: Läßt sich nahezu der gesamte zweite Teil der "Transzendentalen Logik" der KrV wirklich so umstandslos zur idiosynkratischen Arabeske erklären, ohne daß die angeblich so soliden Einsichten der Verstandestheorie nicht einen erheblichen Teil der Erklärungskraft verlieren, der ihnen aus Kants

20 A.a.O., 35.

21

A.a.O., 250.

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27

Gesamtkonzeption erwächst? Übersieht Strawson nicht fundamentale immanente Probleme der Verstandestheorie, wenn er behauptet, es sei "Ihere, with some dependence on the earlier section concerned with space and time and called Transcendental Aesthetic, that Kant attempts to show what the limiting features must be of any not ion of experience"22 -

während Kant doch keinen Zweifel daran läßt, daß der Verstand "eines aber gar nicht leisten könne, nämlich, sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen, und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag" (B 297)?

Wenn man diese und ähnliche Fragen beantworten will, muß man sich natürlich zuvor Rechenschaft darüber ablegen, inwieweit Kant selbst tatsächlich den oben skizzierten metaphysikkritischen Standards gerecht wird, die sein transzendentalphilosophischer Ansatz freizusetzen vermag. Erst vor dem Hintergrund eines solchermaßen reflektierten Kantbildes läßt sich dann auch eine in ihren Voraussetzungen transparente Antwort auf die Frage geben, ob Kants transzendentalphilosophische Theorie der Erkenntnis, wie sie uns in Gestalt der "Transzendentalen Ästhetik" und der "Transzendentalen Analytik" vorgelegt wird, tatsächlich schon die konsistente Alternative zu "Dogmatismus" und "Skeptizismus" eröffnet, als die sie Strawson behandelt sehen möchte. Oder ob sie, um ihre "kritischen" Intentionen einlösen zu können, doch der reflexiven Einbettung in einen Horizollt ihres Tuns bedarf, in dem eine jede einzelne Erfahrung und ihr spezifischer Sinn allererst verständlich und somit zugänglich werden. Um all diese meines Erachtens sehr unzureichend geklärten Fragen möglichst unvoreingenommen behandeln zu können, halte ich eine weitere Beschäftigung mit Kants "Theorie der Vernunft" für unbedingt erforderlich. Um entscheiden zu können, welche Antworten sein Werk auf die genannten Fragen, und zwar gerade im Licht der genannten Auseinandersetzung um seinen "Transzendentalen Idealismus", bereithält, ist eine Sichtung des zweiten Teils von Kants Hauptwerk an der Zeit, die am Nutzen analytischer wie hermeneutisch-dialektischer Argumente gleichermaßen interessiert ist. Die soeben aufgeworfenen Probleme führen uns also zurück zur immer noch unbeantworteten Frage, was Kant dazu bewogen haben mag, die KrV nicht sozusagen nach dem letzten Wort der "Transzendentalen Analytik" enden zu lassen. Wozu brauchen wir die "Transzendentale Dialektik"?

22 A.a.O.,24 (HeIVorhebungen D.K.).

2 Kant und die Einheit der Vernunft

In einem für die Gesamtproblematik ausgesprochen aufschlußreichen Aufsatz zum Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft23 identifiziert G. Buchdahl drei Motive Kants 'for demanding 'autonomy' for reason. One is the need to make the 'unity of experience', and the parallel concept of 'the order of nature', self-wrought. Only thus can we make certain that, as Kant once expresses it, »the unity of nature, is not ... quite foreign and accidental to the nature of things«. Moreover, and this is a second motive, only such a subjective approach allows Kant to hold that there is an altogether different 'point of view' alongside that of the theoretical science; the view which regards things, not 'as they are' but 'as they ought to be', when the causal principle as applied hitherto is not relevant. There is however a third, and more basic, motive: Kant's search for a rationale of the concept of God. ,24

Ich halte das für einen sehr hilfreichen Hinweis. Vor der naheliegenden Reaktion, hierin die gängige (an die Systematik der Antinomienlehre angelehnte) Unterscheidung zwischen einem theoretischen, einem praktischen und einem theologischen Motiv zu sehen, kann allerdings nur gewarnt werden. 25 Eine solche "bewährte" Lesart suggeriert Klarheit, wo sich zunächst einmal nur Fragen stellen. Wie nämlich Buchdahls Ausführungen zeigen, berühren wir mit der Untersuchung von Kants Motiven für den Übergang vom Verstand zur Vernunft Konstruktionsprobleme der KrV, die ihre elementaren Grundlagen betreffen und als solche "rarely noticed"26, geschweige denn gelöst sind. Das Verdienst von Buchdahls Aufsatz besteht demgegenüber vor allem darin, nachdrücklich hervorzuheben, inwiefern sich aus der Verstandestätigkeit Schwierigkeiten ergeben, auf die die Vernunfttheorie der "Transzendentalen Dialektik" reagiert. Damit wird überhaupt erst einmal der in der analytischen Kant-Interpretation vorherrschenden Tendenz entgegengesteuert, die "Transzendentale Analytik" und die "Transzendentale Dialektik" der KrV als mehr oder minder selbständige Kapitel zu anzusehen, die völlig verschiedene Fragestellungen behandeln. Das Gegenteil ist der Fall. Buchdahl bemerkt etwa hinsichtlich des dritten der von ihm genannten Motive, 'God, regarded as the 'author of the world' ( ... ), is required by us because the systematic unity of nature is never complete; the processes of theorising are indefinitely extendible; yet we want to proceed 'as if they were complete; »as if all the connexion of things in the

23 S.o., 'Einleitung", Anm. 29. 24 A.a.O., 219f. 25 Vgl. a.a.O., 225.

26

A.a.O.,

210.

2 Kant und die Einheit der Vernunft

29

world had their "TOund in such a being« ( ... ). In other words, this God has methodological driving power,.2

Im Gegensatz zu der verbreiteten "analytischen" Auffassung, Kants These von einem "natürlichen", ja "notwendigen" regulativen Gebrauch der Ideen sei "evidently quite unplausible"28, wird bei Buchdahl überhaupt erst einmal der Gedanke ernsthaft erwogen, daß Vernunftbegriffe "from the 'theoretical' point of view,,29 des Verstandes aus erforderlich werden. Um diesen Zusammenhang verständlich machen zu können, bedient sich Buchdahl Kants Begriff der Gesetzmäßigkeit ("lawlikeness,,30). Entsprechend seinem generellen Hinweis auf die Doppeldeutigkeit der Kantschen Begriffe bemüht er sich zunächst einmal um eine Begriffsklärung. Er unterscheidet zwischen 'Iawlikeness or causality as a transcendental ingredient of the notion of experience (and 'appearance') in general; and lawlikeness as presupposed in the conception of the empiricallaws of science,.31

In dieser zweifachen Bedeutung von Gesetzmäßigkeit offenbart sich für Buchdahl die unvenneidliche Zweidimensionalität des gesamten Erkenntnisprozesses.32 Die entscheidenden Gesichtspunkte sind dabei nicht ganz leicht herauszupräparieren (und bleiben auch bei Buchdahl z.T. implizit), doch von nicht zu überschätzender Bedeutung. Im Anschluß an die genannte Unterscheidung zwischen "transcendental lawlikeness" und "empiricallawlikeness"33 untersucht Buchdahl zunächst die (konstitutive) Funktion von jener in Beobachtungssätzen. Um die in einem solchen "observation-report,,34 enthaltenen Wahrnehmungen überhaupt mitteilen zu können, bedarf es der Inanspruchnahme "of a determinate temporal nexus in accordance with a universal rule,,35. Andernfalls handelte es sich um 27 Strawson, a.a.O., 220.

28

Aa.O., 33.

29 Buchdahl, 220 Fn. (HelVorhebung D.K.).

30

Aa.O., 213ff.

31 Aa.O., 213f. 32 Vgl. die "Bifurkations"-These Niquets (s.o., "Einleitung', Anm. 28). 33 Buchdahl, 214.

34

Ebd.

35 Ebd. Buchdahl spricht von der erforderlichen "intersubjective authority', um bloß subjektive Wahrnehmungsepisoden in die "objectivity of time-determination' (ebd.) zu verwan-

30

2 Kant und die Einheit der Vernunft

"onlya combination or 'synthesis' of 'perceptions' ( ... ). By adding the requisite concept [of causality, D.K), the understanding 'creates' the required notion of an objective sequence. "36

Die entscheidende Überlegung Buchdahls besteht nun in dem Hinweis darauf, daß derlei Sequenzen, wenn auch objektiv "in the sense defined previously"37, als ganze nichtsdestoweniger zufällig sind.38 Im Hinblick auf das Problem des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft heißt das: Wenn auch die Binnenstruktur solcher Sequenzen durch die beschriebene Objektivierung "verständlich" geworden ist, so ist davon die Frage zu unterscheiden, ob sie gewissermaßen als Teil des Erfahrungsganzen "vernünftig" sind. 39 Zur Beantwortung dieser Frage gehört nun nicht nur die Ausarbeitung von "special causal laws"40, etwas, wozu wir ersichtlich auf "observation and the process of induction"41 angewiesen sind. Vielmehr zeigt in Buchdahls Augen diese ganze Überlegung, "that the transcendental argument does not even have the force of generating the empiricallawlikeness of nature, regarded as a justificational component of this notion ..42

dein. Ich bevorzuge den Ausdruck "Mitteilbarkeit", weil das genannte Problem sehr schön den unauflösbaren Zusammenhang zwischen ihr und der "Objektivitäts"-Problematik vor Augen führt. Entgegen Kants Auffassung, in der "Mitteilbarkeit" bestehe ein bloß "äußerliches" Wahrheitskriterium (vgl. Köveker, a.a.O.), macht unser vorliegender Zusammenhang deutlich, daß sich das Objektivitätsproblem überhaupt erst im Rahmen einer Kommunikationsgemeinschaft stellt (und stellen kann), /Ur die etwas mitteilbar werden könnte. Unter der Voraussetzung eines einzelnen "Bewußtseins" käme überhaupt nicht das Problem der objektiven Gültigkeit "meiner" Wahrnehmungen (nämlich /Ur andere) in den Blick (zumal ein solcher "solus ipse" über kein "Bewußtsein" verfügen könnte). 36 Ebd.

37 Ebd. 38 Vgl. ebd. und AA V (Kritik der Urteilskraft),

183.

39 "At the level of the understanding the addition of the concept of causality is made to an

individual sequence of perceptions, a sequence which without it would be 'subjective', in the sense explained ( ... ). At the level of reason, the causal concept is 'added' to the uniformly recurring sequence (constant conjunction), resulting in statement[s) of causally explicit form, e.g., B is caused, or necessitated, by A" (Buchdahl, 215)

40 Aa.O., 214. 41 Ebd. 42 Ebd. _ Im Hinblick auf unsere Beschäftigung mit der Debatte über "transzendentale Argumente" sei bemerkt, daß Buchdahl sie verstand als "transcendental method ( ... ) to 'validate' basic concepts by contending that their 'injection' into a certain situation is

2 Kant und die Einheit der Vernunft

31

Um nun die in Buchdahls Aufsatz vertretene, sich aus dem zuletzt Gesagten nahelegende Konsequenz, daß es ohne Vernunft keine zusammenhängende, genau besehen überhaupt keine "Erkenntnis" gäbe, untermauern zu können, bedarf es weiterer Evidenzen. Buchdahl fmdet sie vor allem im Rekurs auf Kants "Systematische Vorstellung aller synthetischen Grundsätze" des Verstandes (B 197ff.) und die "Einleitung" zur "Kritik der Urteilskraft". Im erstgenannten Text, der Teil von Kants Diskussion des grundsätzlichen Problems der Anwendung allgemeiner Begriffe (Kategorien) auf besondere Fälle ist, geht es um den Status von Naturgesetzen. Dabei offenbart sich für Buchdahl in besonderer Weise ihr spezifischer Doppelcharakter. Als Naturgesetze haftet ihnen die beschriebene Zufälligkeit derjenigen empirischen Phänomene an, die sie erklären wollen. Als Naturgesetze hingegen fügen sie den von ihnen erfaßten "objektiven" Größen den transzendentalen Index von Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit hinzu.43 Diesen Doppelcharakter der Naturgesetze und die damit verbundene Schwierigkeit bringt insbesondere folgende Bemerkung Kants zum Ausdruck. "Selbst Naturgesetze [qua Naturgesetze, D.K], wenn sie als Grundgesetze [qua Natur-

gesetze, D.K] des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich

einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die apriori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich." (B 198)

Das in diesem Doppelcharakter enthaltene Problem der Systematizität von (Natur-) Erkenntnis sieht Buchdahl in der "Einleitung" zur "Kritik der Urteilskraft" noch deutlicher hervortreten. Dort verstärkt sich der Eindruck, daß die bereits genannten Amphibolien Ausdruck derjenigen nichthintergehbaren Doppelstruktur von Erkenntnis überhaupt sind, die in ihrer gleichzeitigen Bezogenheit auf das Besondere ihres Gegenstands und die Allgemeinheit der dafür in Anspruch genommenen transzendentalen Bedingungen möglicher Erfahrung besteht. An einer Stelle thematisiert Kant diese Fragen in explizitem Bezug auf die Spannung zwischen der potentiellen Unendlichkeit verschiedener besonderer Gesetze einerseits und deren notwendigen Einheitsbedingungen andererseits, ohne die jene nicht als solche aufgestellt werden könnten. "Also müssen wir in der Natur in Ansehung ihrer bloß empirischen Gesetze eine Möglichkeit unendlich mannigfaltiger empirischer Gesetze denken, die für unsere Einsicht dennoch zufällig sind (a priori nicht erkannt werden können); und in deren Ansehung beurtheilen wir die Natureinheit nach empirischen Gesetzen und die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung (als Systems nach empirischen Gesetzen) als zufällig. Weil aber required to make that situation possible as an element of phenomenal reality" (a.a.O., 211). 43 Zum Problem der "Naturgesetze" vgl. Popper, Logik der Forschung, 4ff.

32

2 Kant und die Einheit der Vernunft

doch eine solche Einheit nothwendig vorausgesetzt werden und angenommen werden muß, da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung Statt finden würde, indem die allgemeinen Naturgesetze zwar einen solchen Zusammenhang unter den Dingen ihrer Gattung nach, als Naturdingen überhaupt, aber nicht specifisch, als solchen besonderen Naturwesen, an die Hand geben: so muß die Urtheilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Princip apriori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufallige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte. M

Die Tatsache, daß Kant innerhalb seiner Vernunfttheorie verschiedentlich Problemstellungen aufnimmt, die nach der "offiziellen" Lesart der KrV in deren Verstandest eil bereits hinlänglich behandelt wurden, wertet Buchdahl nun als konsequenten Ausdruck der genannten Doppelstruktur. Daß Kant später beispielsweise Kausalität "as a regulative principle of reason'>45 erörtert, kann insofern nicht weiter überraschen.46 Ich will es mit diesen einführenden Bemerkungen zur Problemstellung, die in den Einzelanalysen der nachstehenden Kant-Rekonstruktion Zug um Zug vertieft wird, bewenden lassen. Es kann zwar nicht allen Details von Buchdahls Ausführungen zugestimmt werden.47 Insbesondere bleibt der Status "transzendentaler Argumente" im Rahmen der Vemunfttheorie völlig ungeklärt. Dessen ungeachtet eröffnet jedoch die systematische Hauptthese seiner Abhandlung einen überaus vielversprechenden Zugang zum Verständnis der Kantschen Erkenntnistheorie. Der Verstand ist nicht selbstgenügsam und verlangt von sich aus nach einem "transition from the level of the understanding to that of reason"48. Von dieser These nehmen die folgenden Überlegungen ihren Ausgang - mit der Absicht, die noch stärkere Behauptung zu untermauern, daß wir ohne Vernunft nichts "erkennen" würden.

44 AA V (Kritik der Urteilskraft), 183f. 45 Buchdahl, 218. 46 Zu welcher "Ignoranz" gegenüber solchen systematisch weitreichenden, theoretisch herausfordernden Zusammenhängen die analytische Fixierung auf eine bloße "demarcation" (Bennett, a.a.O., 263) zwischen Verstand und Vernunft führt, werden wir noch verschiedentlich beobachten (s.u., Kap. 2.4.1).

47

So ist z.B. seine Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft an einer Stelle vollkommen irreführend (s.u., 40).

48 Buchdahl, 221.

2.1 Das 'Unbedingte' als 'oberstes Prinzip der reinen Vernunft'

33

2.1 Das "Unbedingte" als "oberstes Prinzip der reinen Vernunft" und die "Ideen" als ihre "Begriffe" (B 349-396) Wie wir sahen, gibt es für Kant offenbar in einem weiten Sinn "systematische" Gründe für die Ergänzung der Verstandes- durch eine Vernunfttheorie. G. Buchdahl hat deshalb versucht, die theoretischen "Motive" Kants für ein "transition from the level of the understanding to that of reason" zu rekonstruieren. Die "analytische" Kant-Interpretation bemüht sich dessen ungeachtet darum, das "dialektische" Komplement zur Verstandestheorie als im Kern metaphysischen Bestandteil des "Transzendentalen Idealismus" Kants mitsamt diesem zurückzuweisen. Angesichts dieser Problemlage stellt sich die Frage, inwieweit Kants tatsächliches Vorgehen die eine oder die andere dieser bei den Interpretationen stützt - oder vielleicht sogar eine dritte nahelegt. Worin besteht Kants "Theorie der Vernunft"? An der textphilologisch identifizierbaren Schnittstelle zwischen Verstand und Vernunft, der "Einleitung" zum Kapitel über "Die Transzendentale Dialektik'~9, unterscheidet Kant Vernunft zunächst einmal formal als "Vermögen der Prinzipien" (B 356; vgl. auch B 24) vom Verstand, den er schon früher "als das Vermögen der Regeln erklärt" (B 171) hatte. Urteilskraft war demgegenüber "das Vermögen unter Regeln zu subsumieren" (ebd.). In den nun folgenden Abschnitten, die die Eigentümlichkeit und Struktur dieses Vernunftvermögens näher bestimmen und begründen sollen, schlägt Kant eine ganz ähnliche Vorgehensweise wie im Fall der Analytik des Verstandes ein. Er vermutet, daß "wir nach der Analogie mit den Verstandesbegriffen elWarten können, daß der logische Begriff zugleich den Schlüssel zum transzendentalen, und die Tafel der Funktionen der ersteren zugleich die Stammleiter der Vernunftbegriffe an die Hand geben werde" (B 356).

Dieser "logische Begriff' der Vernunft besteht für Kant in dem "Vermögen mittelbar zu schließen" (B 355).50 Er bildet durch die detaillierte 49 Dieser einleitende Abschnitt ist ebenso doppelperspektivisch wie der voraufgegangene: "Das ganze Hauptstück [gemeint ist das "dritte" und letzte "Hauptstück" der "Transzendentalen Analytik", überschrieben: "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena", D.K) muß immer nach zwei Seiten hin gelesen werden: Beschluß der Analytik ( ... ) und: Vorgriff auf die Ideenlehre der Dialektik." (Heimsoeth, 34)

50 Das sich nach Auskunft von Kants "Logik" die Vernunft allerdings mit der Urteilskraft teilt: "Die unmittelbaren Schlüsse heißen auch Verstandesschlüsse, alle mittelbaren hingegen sind entweder Vemunftschlüsse oder Schlüsse der Urtheilskraft." (AA IX (Logik

3 Kövekcr

34

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Untersuchung des "Vernunftschlusses" (B 360) den Ausgangspunkt für die systematische Erörterung der reinen Vernunftbegriffe (später "transzendentalen Ideen"). Während der Verstandesschluß die direkte begriffslogische Ableitung aus einem gegebenen Urteil erlaubt (und somit den Bereich der analytischen51 Urteile abdeckt), bedarf es beim Vernunftschluß einer zweiten Prämisse. Nun bewirkt der Schluß nicht mehr lediglich eine "Veränderung der bloßen Form der Urtheile"52, sondern "ein neuer Begriff' verändert "die Materie der Urtheile"53. Sofern die spezifische Leistung der Vernunft darin besteht, die sich daraus ergebenden "Konsequenzen" zu ziehen, erscheint sie nach dieser Schematisierung als das Schlußvermögen schlechthin.54 Deshalb tritt bei der Zuordnung der Erkenntnisvermögen zu den einzelnen Sätzen des Syllogismus der Verstand im Obersatz (durch den er die "Regel" vorgibt), die Urteilskraft im Untersatz (qua Subsumtion eines besonderen Urteils unter diese Regel), die Vernunft aber im Schlußsatz auf, indem erst dort die synthetisierende Verknüpfung von Ober- und Untersatz stattfindet.55 Aus dieser Perspektive wird sowohl die Schlußleistung als auch das Synthesisvermögen zu einer Domäne der Vernunft. Andererseits steht auf dieser Stufe der Untersuchung die Antwort auf die Frage nach einem transzendentalen Synthesisvermögen der Vernunft noch völlig aus. Da diese Frage einen wichtigen Aspekt der abschließenden Gesamtinterpretation der Kantschen Erkenntniskritik betreffen wird, möchte ich jedoch wiederholen, daß die hier bereits einsetzende und im folgenden dominierende Tendenz zur Prinzipialisienmg der Vernunft (qua Schluß- und Synthesisvermögen) in Konkurrenz tritt zum Jäsche), 114) Zu dieser ganzen Problematik vgl. auch M. Frank, Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt/M. 1988, 66ff; zur Logik der "mittelbaren Schlüsse" im Anschluß an Aristoteles vgl. eh. Perelman, Logik und Argumentation, KönigsteinfTs. 1979, 37ff. 51 Im herkömmlichen Sinn einer "Analysis' der Begriffe. Davon streng zu unterscheiden ist nach Kant "die noch wenig versuchte Zergliederung des Verstandesvermögens selbst, um die Möglichkeit der Begriffe apriori dadurch zu erforschen, daß wir sie im Verstande allein, als ihrem Geburtsorte, aufsuchen und dessen reinen Gebrauch überhaupt analysieren; denn dieses ist das eigentümliche Geschäft einer Transzendental-Philosophie; das übrige ist die logische Behandlung der Begriffe in der Philosophie überhaupt." (B 90f.) 52 AA IX (Logik Jäsche), 115. 53 Ebd. 54 Vgl. B 169 und 386. Andererseits legt B 366 nahe, daß in den Vernunftschlüssen (nur) der "Obersatz aus reiner Vernunft genommen". Indessen kann erst die Kritik der Vernunftschlüsse im Kontext ihrer 'systematischen" erkenntnistheoretischen Funktionen mehr Licht auf diese Zusammenhänge werfen (s.u., Kap. 2.5.2). 55 "Die Verbindung desjenigen, was unter der Bedingung subsumirt worden, mit der Assertion der Regel, ist der Schluß." (AA IX (Logik Jäsche), l21; erste Hervorhebung D.K.)

2.1 Das 'Unbedingte' als 'oberstes Prinzip der reinen Vernunft'

35

exklusiven Anspruch der Verstandestheorie, nicht nur ein diskreter "Quell" synthetischer, "erweiternder" Einsichten zu sein, sondern - und vor allen Dingen - auch den "höchsten Punkt" der Transzendentalphilosophie angeben zu können. Auf jeden Fall ist mit dieser Inbeziehungsetzung des syllogistischen Grundschemas zur Trias der Erkenntnisvermögen ein für die Architektonik der KrV im allgemeinen und ihre Ideenlehre im besonderen wichtiger Schritt vollzogen. Das deutet sich schon hier an, indem Kant diese Parallelisierung von Verstand, Urteilskraft und Vernunft mit den drei Sätzen des Schlußschemas als Folie verwendet, um eine erste, für die Systematik der transzendentalen Ideen jedoch maßgebende Ordnung der Vernunft selbst zu begründen. Im Rückgriff auf die logisch relevante "Relation"56, nun jedoch nicht bezogen auf die beiden Glieder einer Proposition, sondern auf die Propositionen des Syllogismus selbst, finden sich für Kant drei Arten des Vernunftschlusses. "Das Verhältnis also, welches der Obersatz, als die Regel, zwischen einer Erkenntnis und ihrer Bedingung vorstellt, macht die verschiedenen Arten der Vernunftschlüsse aus. Sie sind also gerade dreifach, so wie alle Urteile überhaupt, sofern sie sich in der Art unterscheiden, wie sie das Verhältnis des Erkenntnisses im Verstande ausdrücken, nämlich: kategorische oder hypothetische oder disjunktive Vernunftschlüsse." (B 361)

Das ist jedoch nach wie vor bloße Logik. Die Berücksichtigung ihrer strukturellen Vorgaben ist zwar wichtig, um, nach Kants Bestimmung ihrer Funktion innerhalb der Wahrheitsproblematik, den formallogisch artikulierbaren "negativen" conditiones sine quae non (vgl. B 84) Genüge zu tun. Insofern ist die "reine Logik" auch "ein Kanon des Verstandes und der Vernunft" (B 77). Damit ist indessen noch gar nichts ausgemacht über die spezifisch transzendentaßogische "quid iuris"-Frage, wodurch und inwiefern den solchermaßen logisch vorstrukturierten Begriffen "objektive" Gültigkeit zukomme. Im Rahmen seiner "Transzendentalen Analytik" umfaßte Kants Antwort darauf im wesentlichen zwei Schritte. Er unternahm zunächst eine "metaphysische Deduktion" (B 159) der (synthetischen) reinen Verstandes56 Während Kant in der KrV ohne jegliche Begründung schlicht

beluluptet, daß nur das "Verhältnis· zwischen den Sätzen des Syllogismus eine Unterscheidung der Vernunftschlüsse erlaube (vgl. B 361, 379, 386ff. und 390), liefert seine Logik zumindest einen Begründungsversuch für diese These. "Die Vernunftschlüsse können weder der Quantität nach eingetheilt werden, denn jeder major ist eine Regel, mithin etwas Allgemeines; noch in Ansehung der Qualität, denn es ist gleichgeltend, ob die Conclusion bejahend oder verneinend ist; noch endlich in Rücksicht auf die Modalität, denn die Conclusion ist immer mit dem Bewußtsein der Nothwendigkeit begleitet und hat folglich die Dignität eines apodiktischen Satzes. Also bleibt allein nur die Relation als einzig möglicher Eintheilungsgrund der Vernunftschlüsse übrig." (AA IX (Logik läsche), 122)

2 Kant und die Einheit der Vernunft

36

begriffe aus den (Einheits-) Funktionen des Verstandes in Urteilen. 57 Sie diente, und darin scheint mir noch der beste Sinn zu bestehen, den man ihr abgewinnen kann, der Plausibilisierung eines Set von Begriffen, die "parallel"58 zu den analytischen Einheitsfunktionen des Verstandes in synthetischen Urteilen Anwendung auf empirisch Gegebenes finden. Der zweite transzendentaUogische Ableitungsschritt bestand dann in dem Versuch, den demgegenüber begründungslogisch entscheidenden Nachweis zu führen "( ...) das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte"59 -, daß diese reinen Verstandesbegriffe Erfahrung (einerseits) ermöglichen, indem sie (andererseits) auf deren Gegenstände in legitimer Weise angewandt werden.60 Übertragen wir diese Problematik auf den bis dato erreichten Stand in Kants Diskussion des "logischen" Vernunftbegriffs, so führt sie jetzt zu der Frage, "ob Vernunft an sich d.i. die reine Vernunft apriori synthetische Grundsätze und Regeln enthalte, und worin diese Prinzipien bestehen mögen?" (B 363; HelVorhebungen D.K) In Kants Versuch zur Beantwortung dieser als grundlegend empfundenen Fragestellung zeigt sich nun eine signifikante Abweichung vom Argumentationsgang in der "Transzendentalen Analytik". Wir finden hier vor allem eine entscheidende Änderung im Geltungsanspruch, der für die nun anstehende transzendentale Begründung reiner Vernunftbegriffe erhoben wird. Kant eröffnet seine Beantwortung der zitierten "Grundsatz"-Frage im 57 Da erstere im wesentlichen (vgl. die Kernstelle B l04f.) darin bestand, der Kategorien "völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan" (B 159; HelVorhebung D.K) zu haben, treffen sie die nämlichen "Vollständigkeits"Zweifel wie die Urteilstafel. Überdies ist diese Ableitung nach Kants eigenen Standards nichts mehr als "metaphysisch" (und nichts weniger als eine "Deduktion") - ein schlichtes "adding" (Strawson, a.a.O., 77). Konsequenterweise schaltet er sie deshalb auch in der systematischen Abfolge seiner Untersuchungsschritte der mit Recht so genannten (transzendentalen) "Deduktion" vor, behauptet aber dennoch, er konnte sich der "Zahl" der Verstandesbegriffe "versichern (... ), nämlich aus einem einzigen Princip" (AA IV (Prolegomena),260). 58 Strawson, a.a.O., 75. 59 AA IV (Prolegomena), 260. 60 Im Hinblick auf die Frage nach einer möglichen Transformierbarkeit dieses "kategorialen Apriori" im Kontext einer semiotisch und sinnkritisch gewendeten Transzendentalphilosophie, die ich in Kapitel 4 diskutieren werde, ist zu sagen, daß die spezifische Begründungsleistung einer "Transzendentalen Deduktion" nicht gekoppelt ist an das Wohl und Wehe von VOllständigkeitsbeweisen für die Kategorientafel u.ä. Indem die "Allgemeinheit und Vollständigkeit" eines "transzendentalen Arguments" zunächst und zuerst auf die (Sinn-) Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überlulupt - d.h. "vor" aller kategorial-strukturellen Ausdifferenzierung - zielt, teilt es nicht das Schicksal seiner begründungslogisch darauffolgenden Explikationsversuche.

2.1 Das 'Unbedingte' als 'oberstes Prinzip der reinen Vernunft'

37

unmittelbar darauffolgenden Satz mit einer sehr interpretationsbedürftigen Wendung. "Das formale und logische Verfahren derselben [Vernunft, D.K) in Vernunftschlüssen gibt uns hierüber schon hinreichende Anleitung, auf welchem Grunde das transzendentale Prinzipium derselben in der synthetischen Erkenntnis durch reine Vernunft beruhen werde." (Ebd.)

Um zu einem angemessenen Verständnis der - ungeachtet der irreführenden Kapitelüberschriften - hier einsetzenden transzendentalen Begründung der Vernunft 61 zu gelangen, sind meines Erachtens zumindest die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen. a) Zunächst einmal wird gesagt, es handele sich um eine genuin andere Begründung als die "Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" . Inwieweit das im einzelnen der Fall ist, muß der Gang der Darstellung zeigen. Sie ist in Kants "offizieller" Perspektive jedenfalls insofern eine grnndsätzlich andere Begründung, als der für die "Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" zentrale Nachweis ihrer "objektiven Gültigkeit" und "Realität" als Bedingungen der Möglichkeit "immanenter" Erfahrung im Fall der Vernunftbegriffe nicht geführt werden kann (vgl. besonders B 365 und 383). b) Gleichwohl und nichtsdestoweniger - ist hier etwas zu begründen. Dieses "Etwas" soll gegenüber dem dominanten, exemplarischen transzendentalanalytischen Begründungsmodell mit seinem Kernbegriff der "Transzendentalen Deduktion" verteidigt und durch den Kernbegriff der "subjektiven Anleitung" herausgearbeitet werden - obwohl die Frage, inwieweit auch hier gegebenenfalls "objektive Richtigkeit" (B 365) nachgewiesen werden kann, erst zu klären ist. 62 c) Auf einer nicht mehr Kant-immanent "genetisch kommentierenden", sondern "argumentativ rekonstruierenden"63 Ebene gehört zum Verständnis dieses Begründungsversuchs ein drittes Moment, das hier zunächst nur behauptet werden kann und dessen Stichhaltigkeit sich vom Ende dieser Kant-Interpretation her erweisen muß. Es fußt auf der dreiteiligen These, daß (c-l) selbst noch das scheinbar gegenstandslose Vernunftproblem eine objektive Dimension hat, (c-2) diese "objektive" Dimension nur z.T. mit Kantischen (verstandestheoretischen) Mitteln zugänglich wird, und daß (c3) Kant, trotz aller Anstrengungen und Differenziertheit seiner begrifflichen Arbeit, diesen darüber hinausgehenden "Rest" infolge der letztendlichen 61 Vgl. zu dieser und weiteren Unklarheiten in Kants "Anleitung" der Vernunftbegriffe: R

Zocher, "Zu Kants transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft", Zeitschrift für philosophische Forschung XII (1958),43-58, hier 44f.

62 Zum Unterschied zwischen "subjektiver" und "objektiver Deduktion" vgl. G. Schönrich,

Kategorien und transzendentale Argumentation. Kant und die Idee einer transzendentalen Semiotik, Frankfurt/M. 1981, 303.

63 Vgl. Henrich, 9f.

38

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Dominanz der bewußtseinsphilosophisch konzipierten Subjekt-ObjektDyade nicht zufriedenstellend beschreiben konnte. Wo und inwiefern die genannten drei Aspekte von (c) in Kants Begründungsversuch thematisch werden, ob sie sich als seine Tiefenstruktur erweisen können usw., darüber muß das folgende Aufschluß geben. Im Versuch, der zitierten Stelle einen für die Begründungsproblematik relevanten Sinn abzugewinnen, stellt sich zunächst einmal die Frage, wie hier überhaupt Kants ( erstmalige) Rede von "Anleitung" zu verstehen ist. 64 Unserem umgangssprachlichen Verständnis nach wie auch entsprechend Kants sonstiger Verwendung dieses Ausdrucks wird er gebraucht etwa im Sinn von Hilfestellung, wobei der Wortstamm "leit-" an das orientierende Moment erinnert.65 Kinder werden dabei angeleitet, sich ihre Schuhe selber zu binden, Auszubildende in der Bedienung einer Maschine; hier wie auch im Fall einer Betriebs- oder Bedienungsanleitung sprechen wir davon, jemand (oder etwas) "zeige" uns, möglichst Schritt für Schritt, "wie etwas geht". In allen diesen Fällen gibt es einen anerkannten, kompetenten Wegweiser, dessen Kompetenz nicht in Frage steht. In diesem Sinn spricht Kant unter anderem davon, die Kategorien (deren Gültigkeit andernorts "abgeleitet" wurde) dienten zur "Anleitung", um Erscheinungen "als eine Reihe von Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten vorstellen" (B 444) zu können. Dieser "Leitfaden der Kategorien" (B 265) gibt "die natürliche und sichere Leitung" (B 187) zur Systematisierung der Grundsätze des reinen Verstandes usw. usf. Mit anderen Worten: Eine Anleitung benutzt einen "Leitfaden" (wie ihn Kant sehr früh seiner "Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe" in B 91 zugrundelegt), ohne dadurch schon etwas über seine Zuverlässigkeit auszumachen. Es geht vorrangig um das Wie, nicht das W01Um, um Anwenden, nicht Begründen. Kants Begriffswahllegt zunächst einmal eine solche unbekümmerte Fokussierung auf quid facti-Probleme nahe. Daß hier gleichwohl zentrale quid iuris-Fragen zur Beantwortung vorliegen, hat demgegenüber nicht nur Kants Hinführung zu dieser Stelle und damit der thematische Kontext unmißverständlich klargemacht. Vielmehr wird die spätere explizite Inbeziehungsetzung der "subjektiven Anleitung" zu und ihre gleichzeitige Abgrenzung von der "objektiven Deduktion" der Kate-

64 Vgl. etwa B 643 und 691; Strawson nennt sie "a philosophical curiosity" (Strawson, a.a.O., 33f.). In B 200 heißt es, die Tafel der Kategorien gebe eine "Anweisung zur Tafel der Grundsätze" (HelVOrhebung D.K). 65 Gerhard Wahrigs 'Deutsches Wörterbuch' "Richtlinie(n)" als erläuternde Substantive.

(1981)

nennt

"UntelWeisung"

und

2.1 Das 'Unbedingte' als 'oberstes Prinzip der reinen Vernunft'

39

gorien zeigen, daß Kant hierin das vernunfttheoretische Gegenstück zur Begründung der Gültigkeit reiner Verstandesbegriffe sieht.66 Vorläufig bemüht sich Kant jedoch darum, den spezifischen Eigensinn

dieser transzendentalen Begründung herauszuarbeiten. Im Text folgen jetzt

nämlich zwei interessante Anmerkungen zu der fraglichen "Anleitung, auf welchem Grunde" (B 363; Hervorhebung D.K.) das transzendentale Vernunftprinzip "beruhen" werde. Zunächst stellt Kant fest, daß es lediglich eine indirekte Beziehung der Vernunft auf Gegenstände der Anschauung gibt. Hier erscheint der Vernunftschluß als eine exklusiv begriffliche Operation, die als solche keiner sinnlichen Zutat bedarf, um ihre spezifisch synthetische Leistung zu vollbringen. Gleichwohl findet sie sozusagen am empirischen Material statt. "Erstlich geht der Vernunftschluß nicht auf Anschauungen, um dieselbe unter Regeln zu bringen (wie der Verstand mit seinen Kategorien), sondern auf Begriffe und Urteile." (Ebd.)

Während also die Synthesis des Verstandes nur durch die "Kooperation"67 von Denken und Anschauung zustande kommen kann - prototypisch entwickelt in der wechselseitigen Konstitution von bzw. "zwischen"68 erkennendem Selbstbewußtsein und "seinem" Gegenstand in der synthetischen Einheit des "höchsten Punkts" -, sieht Kant in der Synthesis der Vernunft eine genuin intellektuelle Leistung. 69 Andererseits entbehrt sie aber nicht "ihres" Gegenstands: es ist der Verstand selbst. "Wenn also reine Vernunft auch auf Gegenstände geht, so hat sie doch auf diese und deren Anschauung keine unmittelbare Beziehung, sondern nur auf den Verstand und dessen Urteile, welche sich zunächst an die Sinne und deren Anschauung wenden, um diesen ihren Gegenstand zu bestimmen." (Ebd.)

In diesem Punkt ist im übrigen Buchdahls Beschreibung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Verstand ersichtlich falsch. "( ... ) the mode of operation of reason is altogether autonomous, and its relation to the understanding only an indirect one."70

Wie aus der zitierten sowie verschiedenen anderen Kantstellen (vgl. B 435, 671, 693) ganz unzweifelhaft hervorgeht, hat die Vernunft zu den 66 s.u., Kap. 2.5.2.2. 67 Vgl. Strawson, a.a.O., 30.

68 Vgl. M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Tübingen 19873, 188f. 69 Vgl. auch AA V (Kritik der Urteilskraft), 40lff. 70 Buchdahl, 219.

40

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Gegenständen (der Verstandeserkenntnis) "keine unmittelbare Beziehung", aber sehr wohl zum Verstand selbst. Den besten Beleg dafür liefert kurioserweise genau das Kant-Zitat, mit dem Buchdahl im Anschluß an den zitierten Satz das genaue Gegenteil untermauern möchte. "This 'indirectness' is stated explicitlyat K.547 [B 693, D.K]: Since every principle which prescribes apriori to the understanding thoroughgoing unity in its employment, also holds, although only indirecdy, of the object [siel] of experience, the principles of pure reason must also have objective reality in respect of that object ... but only in order to indicate the procedure whereby the empirical and determinate employment of the understanding can be brought into complete harmony with itself." (Letzte Hervorhebung D.K)71

Angesichts dieser Stelle ist es völlig unverständlich, wie Buchdahl zu seiner obengenannten, ganz unzutreffenden Bestimmung dieses Aspekts im Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft gelangen konnte. Es ist jedoch wichtig, auf dem genannten Unterschied zu beharren, da die Binnenstruktur des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft sich im folgenden als neuralgischer Punkt der gesamten Erkenntniskritik Kants erweisen wird. Mißverständnisse hier schlagen sich in irrtümlichen Schlußfolgerungen andernorts nieder. Buchdahl etwa gelangt - als Konsequenz seiner Fehlinterpretation der angeführten Stelle aus B 693 - zu der völlig un-Kantischen Frage: "But why should the .J2rinciples of the understanding also hold 'although only indirectly', at the level of reason?"

Kants Frage hingegen lautet, was Vemunjtprinzipien "at the level of the understanding" bedeuten - denn auf ihn beziehen sie sich "geradezu", und "vermittelst desselben auf ihren [der Vernunft, D.K.] eigenen empirischen Gebrauch" (B 671)!

Dieser Zusammenhang beschreibt die für Kants Behandlung des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft bedeutsame Auffassung, daß sich nur jener direkt auf Gegenstände der Anschauung bezieht. Erst nachdem diese sinnlich gegebenen Objekte die kategoriale Synthesis durchlaufen haben (die sie freilich erst zu "Objekten" formt), können sie als solche der sozusagen intellektualisierte Gegenstand der Vernunft werden.13 Was heißt aber hier "Gegenstand" der Vernunft? Gewinnt sie nicht doch eine, wenn 71 Ebd. 72 Ebd.

73 Freilich ist die Suggestion, der Verstand beziehe sich "direkt" auf die Gegenstände, letztlich irreführend. Eine solche Unmittelbarkeit kommt nach Maßgabe der Kantschen "Architektonik" einzig der "Rezeptivität des Anschauungsvermögens" zu (s.u., Kap. 25.2.2).

2.1 Das 'Unbedingte' als 'oberstes Prinzip der reinen Vernunft'

41

auch "mittelbare", indirekte Beziehung auf Gegenstände der Anschauung? Und wie ist diese gegebenenfalls aufzufassen? Diese Fragen werden im Zentrum des Interesses stehen, wenn es später um die generelle Einschätzung der Plausibilität bzw. Tragfähigkeit von Kants Konstruktion des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft gehen wird. Im Hinblick auf die genannten Fragen ist hier zunächst als erstes Charakteristikum von Kants "Deduktion" der Vemunftbegriffe festzuhalten: Kant sieht in ihnen eine "intellektuelle Synthesis", die sich nur "mittelbar", nämlich über die partikularen Verstandesurteile, auf "Gegenstände" bezieht. Es bleibt zunächst abzuwarten, in welcher Form diese Bezugnahme genau zu denken ist, ob (und inwiefern) die Vernunft sich dabei nicht doch auf Anschauliches (etwa in Gestalt der sinnlichen Bestandteile des Verstandesurteils) bezieht.74 Kant selbst führt den Gedankengang zunächst weiter durch die zweite Anmerkung zu diesem Problemkomplex. Wie die erste auch, nimmt sie ihren Ausgang von einer weiteren vorderhand bloß logischen Charakterisierung der Vernunfttätigkeit. Diese suche "in ihrem logischen Gebrauche die allgemeine Bedingung ihres Urteils (des Schlußsatzes), und der Vernunftschluß ist selbst nichts anderes als ein Urteil, vennittelst der Subsumtion seiner Bedingung unter eine allgemeine Regel (Obersatz)" (B 364).

Diese vordergründig logische Betrachtungsweise scheint auch noch im folgenden Satz gewahrt. Dort werden nämlich die "Konsequenzen" einer Radikalisierung dieser Vernunfttätigkeit erwogen. Zur Verdeutlichung der impliziten Schritte des nun folgenden Gedankengangs sei daran erinnert, daß es hier - selbstredend - nicht um konkrete, irgendwie inhaltlich bestimmte Schlüsse geht. Kant reflektiert nach wie vor ausschließlich auf den "logischen Begriff' (der Vernunft), der "den Schlüssel zum transzendentalen ( ...) an die Hand geben" (B 356) soll. Er spricht vom "logischen Gebrauche" (B 364). Dadurch richtet sich das Interesse auf die "prinzipielle" Frage, welche Besonderheit des synthetischen Schlusses (gegenüber dem "analytischen" des Verstandes, s.o.) ihn als Sitz der Vernunft prädestiniert. Angesichts der voraufgegangenen Darlegungen Kants richten sich die Erwartungen also auf eine nähere Erläuterung dessen, was (logisch) geschieht, wenn die Vernunft aus der Anwendung einer allgemeinen Regel auf eine besondere Bedingung ihre Schlüsse zieht. Ihr erster (gewissermaßen reflexiver) Schluß besteht darin, daß sie ihre Bedingtheit durch eine inhaltlich bestimmte Regel (im Obersatz) abstreift. Ihr zweiter (selbstreflexiver) Schluß lautet, daß selbst noch ihre eigene Rede von einer wenn auch formalen "allgemeinen Regel" dem logischen Determinismus unterliegt - sie "bedingt" zumindest den Untersatz. Aus dieser Einsicht in ihre logische 74 Zu dem Licht, das vom Ende der "Transzendentalen Elementarlehre" her auf diese Fragestellung fällt, sowie der dort zu findenden Antwort, S.u., Kap. 2.5.2.2.

42

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Beschränktheit und deren selbstreflexiven Radikalisierung geht nun drittens der das logische System und den Verstand sprengende Schluß auf das Unbedingte hervor,75 Da das (selber schon virtuell pleonastische) Konzept einer "allgemeinen Regel" immanent nicht sinnvoll zu steigern ist - was wäre "allgemeiner" als allgemein? -, "entspringt" die Vernunft buchstäblich dem Nexus logischer Bestimmungen ins Un-Bedingte,76 Mit diesem Begriff stößt die bis dato lediglich "problematische" Vernunft sozusagen auf Grund. Diesen Gedankengang verdichtet Kant im Anschluß an die zuletzt zitierte Stelle zu folgender Formulierung. "Da nun diese Regel wiederum eben demselben Versuche der Vernunft ausgesetzt ist, und dadurch die Bedingung der Bedingung (vermittelst eines Prosyllogismus) gesucht werden muß, so lange es angeht, so sieht man wohl, der eigentümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche) sei: zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben [sie!) vollendet wird." (Ebd.; Hervorhebung D.1,variable« transzendentaler Grundsätze zu lesen.) (2) Mögliche Erfahrung (im Sinn von »Etwas als Gegenstand möglicher Erfahrung«) ist uns gegeben. (3) Also ist die Wahrheit von p notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Die Wahrheit von (3) scheint ihren Beweisgrund, (2), selbst erst möglich zu machen: (3) kann aber nur transzendental bewiesen werden, wenn die Wahrheit von (2) vorausgesetzt wird; die Wahrheit von (3) kann beweisunabhängig auf keine Weise etabliert werden, steht also für die ReChtfertigung von (2) nicht zur Verfügung; folglich kann (2) nicht gerechtfertigt werden; folglich (3) nicht bewiesen werden: Transzendentale Beweise scheinen also in keinem Fall transzendentale Grundsätze begründen zu können ..513

Offensichtlich besteht das Problem hierbei in der Frage danach, wie dieses "Etwas" möglicher Erfahrung zu verstehen ist. Niquet vermutet daher 509 AA IV (Prolegomena), 274 (Hervorhebung DK). 510 Sc. und nur so die in den "Prolegomena" anvisierte Systembegründung gelingen kann. 511 Vgl. Niquet, 155ff. 512 Vgl. H. Palmer, "Tbe transcendental fallacy", Kantstudien 74 (1983), 387-404 (und Niquet, 157ff.). 513 A.a.O., 168f.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

183

auch, daß die Problemlösung "in einer Sinn-Differenzierung des Ausdrucks »mögliche Erfahrung«"514 zu suchen sei. Wenn sich nämlich "zeigen läßt, daß transzendentale Grundsätze Erfahrung in einem anderen Sinn von »mögliche Erfahrung« möglich machen als mögliche Erfahrung im Sinn von »Etwas als Gegenstand möglicher Erfahrung« in Prämisse (2i vorausgesetzt werden muß, wäre das zirkuläre Abhängigkeitsverhältnis durchbrochen ...5 5

Niquet nimmt diese "Sinn-Differenzierung" im folgenden vor im Rekurs auf Kants Ausführungen zum "obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile" (B 193ff.). Er sieht völlig richtig, daß wenn, dann hier die entscheidenden Ausführungen zu dem in Frage stehenden Problem zu suchen sind.516 Zu fragen ist allerdings, ob Niquet diesen schwer auszulegenden Formulierungen Kants auch die richtige Lesart gibt. Dessen Erläuterung, was "einen Gegenstand geben" (B 195) heißen kann - nämlich "dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen" (ebd.) -, bedeutet nach Niquets Interpretation, die genannte Vorstellung "auf die synthetische Einheit der Apperzeption als Einheit der Form des inneren Sinns, der Zeit, in der Vorstellungen überhaupt gegeben werden können [,I beziehen·517.

Indem Niquet seine Interpretation der fraglichen Stelle solchermaßen auf Kants Rede von der "Vorstellung" (des präsumtiven "Gegenstands") und deren Beziehung auf (bei Niquet nur noch) "mögliche" Erfahrung aufbaut, eröffnet sich ihm die Möglichkeit folgender "Sinn-Differenzierung" der Kantschen Rede von "möglicher Erfahrung", die in der zweiten Prämisse und der Konklusion des skizzierten, scheinbar zirkulären Schlusses erscheint. "Der Sinn des Ausdrucks »mögliche Erfahrung« in der zweiten Prämisse des Beweisschemas lautet dann: Einheit aller möglichen Vorstellungen unter Bedingungen der transzendentalen Apperzeption. Wie nun aber diese Einheit als Einheit aller möglichen Erfahrungen/Gegenstände der Erfahrung zu verstehen ist, das zu zeigen, ist die Aufgabe transzendentaler Beweise: ihre Konklusionen, transzendentale Grundsätze, repräsentieren ja Bedingungen der Möglichkeit dieser Einheit als Einheit aller möglichen Erfahrung/Gegenstände der Erfahrung...518

514 A.a.O., 170. 515 Ebd. 516 Vgl. Heideggers bereits zitierte Hochschätzung dieses Abschnitts der KrV . 517 Niquet, 171. 518 Ebd. (Hervorhebung D.K.).

184

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Wird diese Interpretation durch Kants Ausführungen gedeckt? Ersichtlich konnte sich Niquet selbst nicht von jeglichem Zweifel hieran befreien, wie seine vorsichtige Einschätzung dieses Interpretationsvorschlags zeigt. "Wenn diese Sinndifferenzieru~ von »mögliche Erfahrung« stichhaltig ist, liegt keine Zirkularität des Beweisgangs vor. 19

Um den Klärungsprozeß in dieser zugegebenermaßen äußerst schwierigen und facettenreichen Frage nach Möglichkeit ein Stück voranzubringen, bediene ich mich im folgenden zunächst eines minutiösen Vergleichs der soeben entwickelten Interpretation Niquets mit dem ihr zugrundeliegenden Textbestand. Dabei fällt zuerst eine gewisse Selektivität in Niquets Zitierweise auf. Das von ihm angeführte und seiner gesamten Interpretation letztlich allein zugrundegelegte "... dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen"520 lautet im Zusammenhang: "Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anderes, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen." (B 195)

An dieser Gegenüberstellung ist im Hinblick auf das vorliegende Problem dreierlei bemerkenswert: Erstens spricht Kant ausdrücklich vom "unmittelbaren" Geben eines Gegenstands "in der Anschauung". Diese Formulierung konfligiert offenkundig mit der (bereits zitierten) methodischen Auszeichnung "transzendentaler Beweise", die für Niquets Kant-Rekonstruktion wesentlich ist, daß sie nicht durch Bezugnahme auf "Anschauung", sondern "etwas ganz Zufälliges, nämlich mögliche Erfahmng" (B 765), schließen. Diese soll als "Einheit aller möglichen Vorstellungen unter Bedingungen der Transzendentalen Apperzeption"521 aufgefaßt werden ersichtlich etwas ganz anderes als etwas "unmittelbar in der Anschauung darstellen". Insofern muß Niquet Kants Rede von "unmittelbarer" Gegebenheit "in der Anschauung" ausblenden. Mit Recht? Zweitens baut Niquet seine Interpretation wie gesagt auf Kants (durch die ellyptische Zitierweise in der Tat aufgewertete) Rede von der "Vorstellung" (eines Gegenstands) auf. Kommt dem durch diese "transzendental-reflexive" Lesart pointierten Vorstellungsbegriff im Original tatsächlich dieses Gewicht zu? Kants Fortsetzung dort lautet:

519 A.a.O., 172 (Hervorhebung D.K). 520 Vgl. a.a.O., 171. 521

Ebd.

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"Selbst der Raum und die Zeit, so rein diese Begriffe [respektive "Vorstellungen"522, D.K) auch von allem Empirischen sind, und so gewiß es auch ist, daß sie völlig apriori im Gemüte vorgestellt werden, würden doch ohne objektive Gültigkeit und ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn ihr notwendiger Gebrauch an den Gegenständen der Erfahrung nicht gezeigt würde [notabene: nicht "werden könnte", D.K) ( ... )." (B 195, Hervorhebung D.K)

Mir scheint, Kant bedient sich hier nicht von ungefähr einer sehr empiristischen Ausdrucksweise, die nicht zuletzt durch die schon erörterte "Spontaneität" des Gegebenwerdens von Gegenständen gefordert wird. Scheint angesichts dessen Niquets Kaprizierung auf den genuinen Reflexionsbegriff "Vorstellung" angemessen? Ich meine, in den beiden genannten Auslegungsversuchen Niquets wird bereits eine idealistische Tendenz seiner Interpretation erkennbar, die sich drittens im völligen Übergehen der zwar zitierten, in der Interpretation aber unter den Tisch fallenden Bezugnahme Kants auch auf "wirkliche" Erfahrung niederschlägt. Selbstverständlich ließe sich einwenden, darin bestehe eine vernachlässigbare Reverenz an die im vorliegenden Zusammenhang irrelevante (empirische) Möglichkeit, daß die "Vorstellung" eines Gegenstands mit dessen "wirklichem" Gegebensein zusammenfällt. Vordem Hintergrund der beiden anderen signifikanten Ellypsen in Niquets Interpretation scheint jedoch eine solche Antwort leichtfertig, zumal die Rede von "wirklicher" Erfahrung die angesprochene empiristische Diktion dieser Stelle nachhaltig unterstreicht. Nimmt man deshalb diese drei auffallenden Befunde ernst, so ist zu fragen, durch welche Interpretation sie in einen schlüssigen Zusammenhang mit dem oben angesprochenen Grundproblem des Nachweises "objektiv gültiger" Begriffe gebracht werden können. 523 Die hierfür erforderliche andere "Sinn-Differenzierung" in Kants Rede von "möglicher Erfahrung", die sich überdies mit den übrigen hier zu berücksichtigenden Bemerkungen Kants zum "obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile" verträgt, eröffnet sich wiederum mit Hilfe von Kants analogischem "Grenz"-Begriff der "Prolegomena". Dann erklärt sich die Unentschiedenheit524 Kants zwischen den angeführten empiristischen und transzendentalen Wendungen damit, daß eben auch der "oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile" »gerade auf der Grenze«, nämlich zwischen empirischen und transzendentalen Erkenntnismomenten angesiedelt ist. Darin besteht ja letztlich auch seine Charakteristik, daß er 522 Vgl. Kants berühmte "Stufenleiter" zentraler erkenntniskritischer Termini, "Vorstellung" der Gattungsbegriff ist, unter den u.a der "Begriff' fällt (vgl. B 367f.).

wo

523 Was natürlich nicht gleichbedeutend ist mit einem Konsistenznachweis für Kants Ansatz. Dieser kann defekt sein und dessen ungeachtet (oder gerade deshalb) höchst aufschlußreich eine prinzipielle Problemstruktur wiederspiegeln. Es dürfte inzwischen klargeworden sein, daß vorliegende Arbeit diese Sichtweise zu untermauern sucht. 524 S.o., Kap. 2.4.

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eben jenen Gesichtspunkt zu artikulieren sucht, unter dem Empirie und Apriorie gewissermaßen deckungsgleich werden. Erfahrung, so weit ist Niquet (und Kant) zuzustimmen, "hat also Prinzipien ihrer Form apriori zum Grunde liegen, nämlich allgemeine Regeln der Einheit in der Synthesis der Erscheinungen" (B 196).

Diese "synthetischen Sätze apriori" haben jedoch keinen eigenen "reinen Gegenstand" (ebd.), sondern selbst wiederum nur "objektive Realität", wenn sie "jederzeit in der Erfahrung, ja sogar ihrer Möglichkeit gewiesen werden kann" (ebd.). Insofern, darin scheint mir der tiefere Sinn dieses Grundsatzes, zum al im Hinblick auf seine systematische Funktion zur Erklärung der Kernstruktur von "Erkenntnis", zu bestehen, sind hier, "gerade auf der Grenze" zwischen Empirie und Apriori, beide nicht mehr voneinander unterscheidbar.525 Ich fasse zusammen: "Mögliche Erfahrung" ist "etwas ganz Zufälliges" (B

765). Erst "wenn diese (etwas als Gegenstand möglicher Erfahrungen) vorausgesetzt wird" (ebd.), sind die "die ganze reine Vernunft" (B 764) ausma-

chenden synthetischen Grundsätze "apodiktisch gewiß", die "an sich selbst aber (direkt) apriori gar nicht einmal erkannt werden können" (B 765). Aufgrund der aufgezeigten internen geltungslogischen Verknüpfung dieses "etwas als Gegenstand möglicher Erfahrung" mit der für den kritischen Erkenntnisbegriff entscheidenden "Spontaneität" der Natur kann ich mich nicht Kants (und Niquets) Meinung anschließen, die "synthetische Lehrart" der KrV lege "nichts »außer die Vernunft selbst« zugrunde"526. Wie die für Niquets Argumentation wichtige Stelle aus B 765 zeigt527 , handelt es sich hierbei nicht um "architektonische" Idiosynkrasien, sondern um ein Voraussetzungsgefüge, das sich als Sprengsatz an Kants transzendentalem Begrün-

525 Ich veIWeise stellvertretend und exemplarisch auf hierfür aufschlußreiche Kantische Wendungen wie etwa die im Zusammenhang der "Auflösung der kosmologischen Idee(n) von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen" aufgetretene Behauptung, die "Erscheinungen" gewännen dabei eine "doppelte Seite" (B 566): eine empirische und eine transzendentale (s.o., 99). Noch greifbarer wird diese sich "gerade auf der Grenze" einstellende empirisch-transzendentale Indifferenz in Hinweisen wie demjenigen, "daß es euch gleich viel gelten muß, ob jemand sage, die göttliche Weisheit hat alles so zu seinen obersten Zwecken geordnet, oder die Idee der höchsten Weisheit ist ein Regulativ in der Nachforschung der Natur und ein Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit derselben nach allgemeinen Naturgesetzen ( ... ), d. i. es muß euch da, wo ihr sie wahrnehmt, völlig einerlei sein, zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet." (B 727, Hervorhebungen D.K.) Dazu s.u., Kap. 2.5.2.2.

526 Niquet, 120. 527 Vgl. ihr ausführliches Zitat a.a.O., 98, unter irrtümlichem VeIWeis auf B 762.

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dungsanspruch - und allen diese Struktur nicht hinreichend berücksichtigenden Anknüpfungen daran - erweist. Das belegt nicht zuletzt die betont leise, in ihren Konsequenzen m.E. von der Kant-Literatur noch nicht annähernd ausgeschöpfte Bemerkung Kants, genau diese sozusagen "spontane" V oraussetzung transzendental nicht einholen zu können. "Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, geg,eben sein müsse; wie aber, das bleibt hier unbestimmt." (B 145, Hervorhebungen D.K.)"'28 Die hiermit angesprochenen "nicht bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen"529, die Kants Transzendentalphilosophie "immer schon - etwa in der Annahme einer »Afflzierung« der »Sinnlichkeit« durch »Dinge-an-sich« - gemacht hat und bei der Begründung der Möglichkeit experimenteller Wissenschaft [d.h. in der regulativen Vernunfttheorie, D.K.) vollends machen muß..530, können nicht ohne Einfluß auf eine Theorie Kantischer "transzendentaler Beweise/Argumente" bleiben. Insofern überrascht es nicht, daß Niquet später selbst das soeben artikulierte Voraussetzungsgefüge "transzendentaler Beweise/Argumente" thematisiert und dabei auf erhellende Weise die in dieser Arbeit vertretene These des unauflöslichen, nichthintergehbaren Verweisungszusammenhangs zwischen Verstand und Vernunft bestätigt. Niquet stellt zunächst folgende Frage: "Transzendentale Beweise sind Schlußfolgerungen transzendentaler Grundsätze aus reiner Vernunft unter Voraussetzung der Form möglicher Erfahrung; als solche exponieren sie transzendentale Bedingungen der formalen Einheit möglicher objektiver Erfahrung überhaupt. Beruht nun nicht die Explikation ihrer inferentiellen Struktur auf der Verwechslung der transzendentalen Apperzeption mit der Funktion der reinen Vernunft als Vermögen der Schlüsse?..531 Dieser "in strikter Orientierung an Kantischen Differenzierungen"532 vorgetragene Einwand erinnert daran, daß Kant eingangs der "Trans-

528 Dazu, daß es nicht nur hier, sondern überhaupt "unbestimmt" bleibt und angesichts des "regulativen Prinzips der reinen Vernunft" unbestimmt ("indefinit") bleiben muß, s.u. 529 Apel, Der Denkweg von CharIes S. Peirce, 61 Fn. 530 Ebd. 531 Niquet, 202. Vgl. auch die oben gemachten Ausführungen zur "Begründungskonkurrenz" zwischen den diversen "höchsten" Punkten des Verstandes, der "dreizehnten Kategorie" des "Unbedingten" usw. 532 Ebd.

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zendentalen Dialektik" die Vernunft (im "engeren Sinn"533) als "Vermögen der Schlüsse", und damit der "inferentiellen Struktur" "transzendentaler Beweise/Argumente", ausgezeichnet hat.534 Nimmt man diese Bestimmung ernst, entsteht sofort das Problem, in welcher Weise Verstand und Vernunft in der Durchführung "transzendentaler Beweise/Argumente" kooperieren. Das hieße, daß eine weniger freiwillige als willkürliche Selbst beschränkung auf "transzendentalanalytische" Aspekte solcher Beweisverfahren unwillkürlich zu einem verzerrten und schiefen, mindestens jedoch unvollständigen Bild führen muß. Niquet möchte dieses sich aus der selektiven Berücksichtigung transzendentalanalytischer Gesichtspunkte ergebende Problem durch den Hinweis lösen, daß "selbst wenn der Vorwurf der Verwechslung von Verstand und Vernunft als Explikans ihrer inferentiellen Struktur nach den fonnalen Kriterien der kantischen Differenzierung berechtigt wäre," dies "nichts an der Funktion der transzendentalen Appeneption als Voraussetzung transzendentaler Beweise"535 änderte. Niquets Hauptargument besteht darin, daß doch selbst ein solches Verfahren nicht umhin könnte, die für "transzendentale Beweise/ Argumente" entscheidende synthetische Leistung "transzendentaler Apperzeption" einzuführen. "Eine - vielleicht mögliche [sic!)- Analyse transzendentaler Beweise, die nur Vernunft als Vennögen der Schlüsse in Anspruch nimmt, müßte doch ebenfalls dem spezifisch synthetischen Charakter transzendentaler Grundsätze gerecht werden, d.h. sie müßte auf eine apriorische Synthesisfunktion rekurrieren, die von der der transzendentalen Appeneption nicht zu unterscheiden wäre ..536 Dem muß wohl zugestimmt werden. Damit ist aber der genannte Einwand nicht ausgeräumt. Abgesehen (1) von Kants vemunfttheoretischer Begründung dieser "Synthesisfunktion" (s.o., 33)537 wird hier (2) nicht nur die oben entwickelte Voraussetzungsstruktur der "transzendentalen Apperzeption" selber virulent.538 Vielmehr - und vor allem - muß hier (3) an das Problem der "Sinn-Differenzierung des Ausdrucks »mögliche Erfah533 Vgl. Schönrich, "Der Begriff einer unbedingten Regel als Problem transzendentaler Argumentation", 681. 534 S.o., Kap. 2.1. 535 Niquet, 203. 536 Ebd. 537 Und auch abgesehen davon, daß, wie vorliegende Arbeit zu zeigen versucht, die Alternative nichllautet: Verstand ("Transzendentale Analytik") oder Vernunft ("Transzendentale Dialektik"), sondern: nur eines von beiden, oder die Untersuchung ihrer jeweiligen, irreduziblen Funktionen, die erst zusammen "erkenntniskonstitutiv" sind. 538 Vgl. Kap. 2.4.

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rung«"539 erinnert werden. (Niquet behandelt im vorliegenden Kontext "die Voraussetzung »möglicher Erfahrung« im Sinn der transzendental-synthetischen Einheit der Apperzeption."540) Ich hatte diesbezüglich verschiedene Vorbehalte gegen Niquets selektive Lesart der einschlägigen Kant-Stellen angemeldet und zu zeigen versucht, daß sich in Kants Formulierung des "obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile" gewissermaßen ein "empirischer Rest" (objektiver Kontingenz) theoretisch und systematisch unvermeidlich zur Geltung bringt, dem a) die genannten Schwierigkeiten "transzendentaler" Interpretationen geschuldet sind und dem Kant b) "gerade auf der Grenze" zwischen Empirie und Apriori Rechnung zu tragen sucht. Trotz dieser Schwierigkeiten sieht sich Niquet zu folgenden Resümee in der Lage. "Angesichts der Nicht-Substituierbarkeit der transzendentalen Apperzeption als »ursprünglicher« Funktion der Synthesis transzendentaler Grundsätze scheint das Beharren auf der kantischen Vernunft-Verstand-Differenzierung bloß »architektonisches« Interesse zu besitzen: das Problem der Explikation der Möglichkeit transzendentaler Beweise läßt sich ohne Bezug auf diese Differenzierung diskutieren ..541 Vor dem Hintergrund der soeben noch einmal wiederholten drei dialektischen "Stachel im Fleisch" eines (selektiven) "analytischen" Begriffs "transzendentaler Beweise/Argumente" belegt dieses Zitat jedoch eine unzulässige Verkürzung der Problematik.542 Um so aufschlußreicher, daß Niquet schließlich doch noch den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Verstand und Vernunft, bezeichnenderweise in der Anmerkung zu diesem Fazit, bestätigt. Mit Hilfe seiner Unterscheidung zwischen einer "Feinstruktur" und einer "Grobstruktur" "transzendentaler Beweise / Argu-

539 Niquet, 170. 540 Aa.O., 202. 541 Aa.O., 203. 542 Niquet folgt damit, der genannten Explikationsleistung und des hohen theoretischen Niveaus seiner Untersuchung ungeachtet, leider der bereits aufgezeigten "analytischen" Tendenz, die theoretische Bedeutung der "Transzendentalen Dialektik" unterzubewerten (oder gar zu ignorieren). Dabei kommt es zu der in gewisser Weise kuriosen Argumentationsfigur, daß Niquet in seiner von der "analytischen Transzendentalphilosophie" inspirierten Zurückweisung des angeblich bloß "architektonisch" motivierten Einwands auf eine unverzichtbare "apriorische Synthesisfunktion" - qua transzendentale Apperzeption zurückgehen muß. Genau die will Strawson jedoch "analytisch" reformuliert wissen (Strawson, a.a.O, 93ff., bes. 96), wie Niquet weiß (vgl. Niquet, 300ff.).

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mente"543 will Niquet Verstand und Vernunft auf die einzelnen Sätze des Schlußschemas von jenen verteilen. "Wenn man auch in Anknüpfung an die oben exponierte Distinktion Feinstruktur-Grobstruktur transzendentaler Beweise die erste Prämisse des Argumenttyps (im Sinne des (PB)-Schema~) geltungslogisch dem "Vermögen« des Verstandes, u.d.h. der transzendentalen Synthesis der Apperzeption, zurechnet - also die Feinstruktur dieser "WennDann«-Prämisse -, die Konklusion des Schemas dagegen dem "Vermögen« der Vernunft, da diese erschlossen wird: so bleibt doch die Notwendigkeit bestehen, auf die transzendentale Synthesis der Apperzeption als Voraussetzung zu rekurrieren, selbst wenn die Gesamtheit des transzendentalen Beweises (als Grobstruktur) der reinen Vernunft als "Vermögen« der Schlüsse zuzuordnen ist ..545 Darin besteht indessen eine fundamentale Konzession, und zwar genau diejenige, die unsere obige Argumentation verlangt und die überdies mit Kants eigenem Vorschlag zur vermögens theoretischen Analyse des Syllogismus in Einklang steht.546 Damit erweist sich jedoch zugleich Niquets "analytische" Theorie "transzendentaler Beweise/Argumente" als mindestens unvollständig, weil seiner eigenen Überlegung in dieser Fußnote zufolge nur noch die erste Prämisse des Schlußschemas Gegenstand seines eigenen Beschreibungsversuchs sein könnte. Die Alternative, den gesamten Beitrag der schliessenden Vernunft zur "transzendentalen Beweisen/Argumenten" explizit zu berücksichtigen, verfolgt Niquet nicht. Erst ein solcher Ansatz jedoch könnte insbesondere die "reiche Prämissenstruktur"547 "transzendentaler Beweise/Argumente", aber auch ihre Konklusions- und Inferenzdimension voll entfalten. Daraus folgt, daß auch die Auseinandersetzung mit der Diskussion über "transzendentale Argumente" nachhaltig den Befund bestätigt, daß erst die konsequente Berücksichtigung der Arbeitsteilung zwischen Verstand und Vernunft im Prozeß des Erkennens ihrem jeweiligen Beitrag "gerecht" werden läßt. Kehren wir zu unserer Kant-Rekonstruktion im engeren Sinn zurück, so finden wir diese Diagnose auch noch auf eine andere Weise erhärtet. Wie 543 A.a.O., 15Hf. 544 Gemeint ist "das Schema progressiv-transzendentaler Beweise" (a.a.O., 196), das Niquet im Anschluß an 'Prolegomena', § 5 (AA IV, 276 Fn.) als spezifische "Lehrart" der KrV gegenüber der "analytisch-regressiven' der 'Prolegomena" - entwickelt hat (vgl. Niquet, lOHr. und 120ff.). 545 A.a.O., 203 Fn. 546 S.o., Anfang Kap. 2.1. 547 A.a.O., 122.

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schon bemerkt, hebt Kant verschiedentlich das transzendental-"inhaltliche" Moment am "Grundsatz der durchgängigen Bestimmung" hervor. Danach wird also jedes "Ding selbst, mit dem Inbegriff aller möglichen Prädikate, transzendental verglichen" (B 601).

Dieser Satz hat erhebliche Konsequenzen für die Erkenntnis - respektive Erkennbarkeit - der einzelnen "Dinge", indem diese allem Anschein nach zutiefst mit der Erkenntnis des Ganzen zusammenhängt. Konsequenterweise fährt Kant daher auch fort (ohne, so behaupte ich, die "analytischen" Folgen für den Gegenstandsbegriff seiner Verstandestheorie zu überschauen): "um ein Ding vollständig zu erkennen, muß man alles Mögliche erkennen, und es dadurch, es sei bejahend oder verneinend, bestimmen." (Ebd., Hervorhebung D.K.)

Was der Einführung eines "regulativen" Vernunftbegriffs, dem des "entis realissimi", dienen sollte, wächst sich aus zur massiven Untergrabung des "konstitutiven" Gegenstandsbegriffs. Wenn Kant nämlich am Ende dieses Absatzes sagt: "Die durchgängige Bestimmung ist folglich ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Totalität nach darstellen können, und gründet sich also auf einer Idee, welche lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauchs vorschreibt" (ebd.),

so können wir dem zwar zustimmen - aber nur unter Hinzufügung der kleinen, jedoch entscheidenden Ergänzung, daß das für jeden Gegenstand gilt. Angesichts dieser Problemspannung ist es von größtem Interesse zu erfahren, wie Kant seinen Begriff vom "Ideal der reinen Vernunft" in den Gesamtzusammenhang seiner Erkenntniskritik einbaut. Diese abschließenden Ausführungen Kants werden wesentlich über die Haltbarkeit seiner Theoriekonstruktion im ganzen entscheiden. Hier schließt sich auch der Kreis unserer eigenen Problemstellung, indem jetzt Kants Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wozu es überhaupt einer "Transzendentalen Dialektik" bedurfte5 48 , zum Abschluß gelangt. Insofern muß sich an diesen Schlußbestimmungen Kants auch die hier vertretene These von der regulativ-konstitutiven Doppelstruktur der Erkenntniskritik Kants bewähren. Kant faßt die für unsere Diskussion entscheidende Frage zunächst noch einmal im vorgegebenen Rahmen einer "transzendentalen Theologie" (B 608) zusammen.

548 S.o., 21.

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"( ... ) wie kommt die Vernunft dazu, alle Möglichkeit der Dinge als abgeleitet von einer einzigen [Idee, D.K], die zum Grunde liegt, nämlich der der höchsten Realität, anzusehen, und diese sodann, als in einem besonderen UlWesen enthalten vorauszusetzen?" (B 609)

In meiner "Einleitung" zu der vorliegenden Studie habe ich u.a. die These vertreten, daß die angelsächsische Kant-Interpretation (vor allem Strawson und Bennett) zu einem "analytischen Fehlschluß" neigt, indem sie einer gleichsam verstandes- und damit bewußtseinszentrierten Erkenntnistheorie Vorschub leistet. Im Verlauf der voraufgegangenen rund 100 Seiten habe ich zahlreiche systematische Argumente - nicht zuletzt im Rückgriff auf Strawson - entwickelt, die zeigen sollten, wie berechtigt diese These ist und daß der "analytische" Verstand im Sinne Kants keine konsistente Erkenntnistheorie begründen kann. Die KrV ist zwar kein solches hermeneutisches Fiasko wie etwa die Erkenntnispsychologie Nietzsches, in der sich für (beinah) jede Behauptung ein widersprechender Beleg finden läßt. Gleichwohl habe ich in der regulativ-konstitutiven Doppelstruktur von Kants Erkenntnistheorie die "Quelle" für eine - tendenziell widersprüchliche "Doppeldeutigkeit" seiner zentralen Begriffe aufzuzeigen versucht, die sich auch jetzt wieder nachdrücklich bemerkbar macht. Trotz seiner diversen Hinweise auf die vermeintliche immanente "Problem"-losigkeit des Verstandes respektive einer Art prästabilierter Harmonie und Irrtumslosigkeit seiner "konstitutiven" Erkenntnisse549 sagt Kant auch, daß die zuletzt zitierte Vernunftproblematik "aus" der Verstandestätigkeit hervorgeht. Im Anschluß an die soeben angeführte Stelle heißt es hinsichtlich der zitierten Frage: "Die Antwort bietet sich aus den Verhandlungen der transzendentalen Analytik von selbst dar. Die Möglichkeit der Gegenstände der Sinne ist ein Verhältnis derselben zu unserem Denken, worin etwas (nämlich die empirische Form) apriori gedacht werden kann, dasjenige aber, was die Materie ausmacht, die Realität in der Erscheinung, (was der Empfindung entspricht) gegeben sein muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht und mithin seine Möglichkeit nicht vorgestellt werden könnte. Nun kann ein Gegenstand der Sinne nur durchgängig bestimmt werden, wenn er mit allen Prädikaten der Erscheinung verglichen und durch dieselbe bejahend oder verneinend vorgestellt wird. Weil aber darin dasjenige, was das Ding selbst (in der Erscheinung) ausmacht, nämlich das Reale, gegeben sein muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht werden könnte; dasjenige aber, worin das Reale aller Erscheinungen gegeben ist, die einige allbefassende Erfahrung ist: so muß die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne, als in einem Inbegriffe gegeben, vorausgesetzt werden, auf dessen Einschränkung allein alle Möglichkeit empirischer Gegenstände, ihr Unterschied voneinander und ihre durchgängige Bestimmung, beruhen kann. Nun können uns in der Tat keine anderen Gegenstände, als die der Sinne, und nirgend, als in dem Kontext einer möglichen Erfahrung gegeben werden, folglich ist nichts

549 S.o., Kap. 2.2.3.

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für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt." (B 609f.)

Mir geht es an dieser Stelle wie gesagt nicht um denkbare Einwände gegen einzelne Aspekte dieser Ausführungen Kants. Entscheidend für die systematische Dimension unserer Kant-Interpretation ist vielmehr die Tatsache, daß, wie bereits oben gezeigt, die Verstandestätigkeit ganz unausweichlich sich als Vernunftproblem erkennt. Deshalb kommt es hier auch zu dem zweifachen "regulativen Prinzip", "daß ihr das absolut Notwendige außerhalb der Welt annehmen müßt; weil es nur zu einem Prinzip der größtmöglichen Einheit der Erscheinungen, als deren oberster Grund, dienen soll, und ihr in der Welt niemals dahin gelangen könnt, weil die zweite Regel euch gebietet, alle empirischen Ursachen der Einheit jederzeit als abgeleitet anzusehen." (B 645)

Erst beides zusammen ist Ausdruck jener regulativ-konstitutiven Doppelstruktur, durch die auch Kants "Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft" (B 698) sich auszeichnet. Dieser Aufgabe wendet er sich jetzt zu.

2.5.2 Der "Anhang zur transzendentalen Dialektik" (B 670-732)

2.5.2.1 "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" (B 679-696) Wir wenden uns also dem Abschnitt der KrV zu, der den Titel trägt "Anhang zur transzendentalen Dialektik. Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" (B 670). Am Anfang dieses Kapitels werden wir gewissermaßen in Empfang genommen mit dem erneuten Hinweis darauf, daß die Vernunft probleme aus der Verstandestätigkeit hervorgehen, damit in irgendeiner Art in dieser gründen. Darauf beruht nicht zuletzt der Sinn der vor allem im Zusammenhang der Antinomienlehre eingeführten Rede, es gebe eine "natürliche Illusion" der Vernunft. "Natürlich" ist sie nicht zuletzt deshalb, weil sie "aus" der Naturerkenntnis des Verstandes hervorgeht. Unter anderem deshalb fühlt sich Kant berechtigt zu der Bemer13 Köveker

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kung, das "dialektische" Bestreben nach einer Überschreitung der Verstandesgrenzen zeige, "daß die menschliche Vernunft dabei einen natürlichen Hang habe, diese Grenze zu überschreiten", ja "daß transzendentale Ideen ihr (dabei, D.K] ebenso natürlich seien, als dem Verstande die Kategorien" (ebd., HeIVorhebung D.K).

So gesehen läge es im Hinblick auf die Antinomienproblematik nahe, hier einen "objektiven" Widerstreit und eine objektive Dialektik zu sehen.550 Genau diese Schlußfolgerung hatte Kant jedoch andererseits zurückweisen woUen, weil seines Erachtens die Natur selbst nicht objektiv "widersprüchlich" sein könne551 und die in den Thesen und Antithesen der Antinomie behauptete Vollständigkeit des WeItbegriffs "nirgend anders als in unseren Gedanken gegeben werden kann" (B 509). Auf diese oben analysierte Unerfahrbarkeit weder einer vollständigen Endlichkeit noch einer ebensolchen Unendlichkeit der WeIt gründet Kant vielmehr die subjektivistische Auffassung, derlei "Gegenstand ist bloß in eurem Gehirne" (B 512, vgl. auch B 170). Für die hier zu verhandelnden Fragen sowie Kants Lösungsvorschlag am Ende der "Transzendentalen Logik" ist es meines Erachtens von entscheidender Bedeutung, beide Momente im Blick zu behalten: Sowohl den erkenntniskritisch unverzichtbaren "Rest" gegenstandsbezogener Objektivität als auch die ebenfaUs erkenntniskritisch fundamentale Berücksichtigung des nichthintergehbaren subjektiven Faktors im Erkenntnisprozeß. (Erkenntnis ist immer "Erkenntnis für .. .".) Diese doppelte Perspektive ist Voraussetzung dafür, um das gewissermaßen "transzendentale" Erbe der modernen Physik, wie es weiter unten behandelt wird, und ein Spezifikum der "regulativen" Auflösung dieser Probleme verdeutlichen zu können. Ich möchte zu diesem Zweck die Aufmerksamkeit auf einen hier einschlägigen Begründungsversuch Kants lenken, an dem sich zugleich bestimmte Grenzen der Erklärungskraft seines Ansatzes zeigen. Wir hatten gesehen, daß Kants "transzendentalidealistische" Wendung des Antinomienproblems wesentlich mit dem Gedanken der "VoUständigkeit" respektive "Totalität" der "Reihen" von Bedingungen und der ihnen korrespondierenden Erfahrungen arbeitet. Diese "schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen" (B 509) sei kein Gegenstand möglicher 550 Dadurch ist die theoretische Gabelung markiert, an der Hegels Denkweg abzweigt. Daraus erklärt sich ja auch das Ausmaß der Anerkennung, das er insbesondere Kants Diskussion des (zweiten) Antinomienproblems zukommen läßt (vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I, 216). Zur Bedeutung dieser Fragen innerhalb der modemen Physik sh. u., Kap. 3.1. 551 S.o., Kap. 2.2.3.

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Erfahrung und damit ein "Problem" der Vernunft. Zu dessen Auflösung entwickelte Kant die oben auseinandergelegten vier Schritte. Kehren wir noch einmal zu dieser Argumentation zurück und betrachten sie im Licht unserer bisherigen Überlegungen, so ließe sich einwerfen, sein "Erscheinungs"-charakter stelle ja noch keine Besonderheit des Gegenstands "Welt" dar. Diese Eigenschaft teilt er vielmehr mit sämtlichen (immanenten) Gegenständen "möglicher Erfahrung". Nun zeigte sich schon im "Zweiten Widerstreit", daß sich Vernunftprobleme sowieso auch hinsichtlich anschaulich erfaßbarer Gegenstände ergeben. War dort noch lediglich die "Teilbarkeit" das Problem, so offenbarten Kants Ausführungen zum "Ideal der reinen Vernunft" später sogar, daß jedes "Ding" eine regulative Problem dimension aufweist.552 Was hinsichtlich des "Ersten Widerstreits" noch als eine die Erkenntnis besonders erschwerende Unanschaulichkeit der Weltgrenzen erschien, das sieht nun eher als Spezialfall eines einheitlichen prinzipiellen Problems aus. Es konzentriert sich offenbar um den Begriff einer "vollständigen" Erfahrung. Warum soll die "vollständige Erkenntnis" irgendeines553 Gegenstands unmöglich sein? Das Problem besteht in der Tat nicht in der Anschaubarkeit des Gegenstands, wie eine hierfür aufschlußreiche Stelle zeigt, sondern in dem, was den genannten "subjektiven Faktor" und damit die reflexive Struktur von Erkenntnis ausmacht. Die entscheidende Bemerkung steht dabei in Klammern. "Nehmet an, die Natur sei ganz vor euch aufgedeckt; euren Sinnen, und dem Bewußtsein alles dessen, was eurer Anschauung vorgelegt ist, sei nichts verborgen: so werdet ihr doch durch keine einzige Erfahrung den Gegenstand eurer Ideen in concreto erkennen können, (denn es wird, außer dieser vollständigen Anschauung, noch eine vollendete Synthesis und das Bewußtsein ihrer absoluten Totalität erfordert, welches durch gar kein empirisches Erkenntnis möglich ist,) ( ... )" (8 510f., Hervorhebung DK).

Das heißt mit anderen Worten, daß Subjekt und Objekt, wenigstens in

unserer Erkenntnis, unauflöslich verklammert sind. Darin besteht aber auch in gewisser Weise das Problem der Quantenphysik, und es ist der Grund für

die letztliche Untrennbarkeit von "Subjekt" und "Objekt", "empirisch" und "transzendental", "regulativ' und "konstitutiv" - und ihre regulativ-konstitutive Doppelstruktur, die Kants Schlußbestimmungen der KrV nur reproduzieren kann.

In unserer Rekonstruktion des "Anhangs zur transzendentalen Dialektik" waren wir von Kants These ausgegangen, daß der "Hang" der menschlichen Vernunft, "das Feld möglicher Erfahrung ( ...) zu überschreiten" (B 670), ganz "natürlich" sei. Auf Grund der Eigenart der hiermit angesprochenen Gedanken-"bewegung" liegt die Vorstellung nahe, daß die Vernunft als Ver552 S.o. 553 So sage ich, da die Frage sich als so allgemein erwies.

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nunft das "Feld möglicher Erfahrung" - und damit den Verstand - (völlig)

verläßt. Derlei findet in der Tat statt, jedoch nur insofern und dann, wenn -

wie Kant sagt - die Vernunft "überfliegend" und "transzendent" wird. Davon kann jedoch beim regulativen Gebrauch der Vernunft keine Rede sein. Kants Darlegungen dienen ja gerade dem Zweck, den "überfliegenden" und "durch nichts zu rechtfertigenden" Vernunftgebrauch von dem "regulativen" und "transzendental" begründbaren zu unterscheiden. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Differenz zwischen sinnlosem und sinnvollem Vernunftgebrauch, wobei der letztere gerade nicht "allen" Bezug auf die Gegenstände der Erfahrung verliert, deshalb auch nicht bloß "methodologisch" oder "subjektiv" ist. Andernfalls, so behaupte ich, wäre Kants Rede von einer "natürlichen" Illusion auch unhaltbar: Ohne irgendeinen Bezug auf mögliche (Natur-) Gegenstände fiele diese Vorstellung dem erkenntniskritischen Verdikt zum Opfer, als transzendente These (ebenso wie die einzelnen Thesen und Antithesen der Antinomienlehre) "lauter Sinnleeres (Nonsens)" (B 513) zu behaupten.554 Die sinnvolle Rede von "natürlichen" Phänomenen hingegen bedarf auch (und gerade) bei Kant der mindestens "prinzipiellen" Möglichkeit, sie in irgendeiner Weise auf den Horizont der Natur (-gegenstände) beziehen zu können.555 Das ist der Sinn des Junktims zwischen "Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt" und "Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" (B 197) im "obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile", und darin besteht auch eines der Hauptmomente von Strawsons "weighty sense"-Interpretation der "Transzendentalen Deduktion". Freilich hängt dieser Umstand aufs engste zusammen mit dem soeben analysierten tieferen Grund für Kants Zurückweisung der Möglichkeit "vollständiger" Erkenntnis - wenn man so will, den Schwierigkeiten einer "Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt"556. Kants nun folgender Lösungsversuch spiegelt diese Komplexität, ohne sie hinreichend zu reduzieren. Er bildet gleichzeitig das aufregendste Zeugnis seines Bemühens, dem gleichsam regulativ 554 Kant hatte betont, daß gerade die Fixierung auf eine Seite des "Widerstreits" zum Irrtum führe. Die "Wahrheit" liegt in der oben beschriebenen Weise dazwischen und damit auch das "korrespondierende" Phänomen. Zur Frage, inwiefern es dessen ungeachtet eine Tendenz Kants gibt, den Wahrheitsbegriff des Verstandes korrespondenztheoretisch zu fassen, den der Vernunft hingegen kohärenztheoretisch (bzw. konstruktivistisch im Sinne des "verum et factum convertuntur"), S.u.; vgl. auch Köveker, "Zwischen »objektiver Gültigkeit« .. .", Teil 111. 555 Das verlangt jedenfalls Kants "materialer" Naturbegriff (vgl. AA IV (Prolegomena), 295) als unterschieden vom "formalen" qua "Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" (a.a.O., 294). 556 Popper, Objektive Erkenntnis, 109ff. Vgl. dazu: Habermas, a.a.O., Bd. 1, 115ff.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

197

rationalisierten Erkenntnissubjekt557 den unverzichtbaren konstitutiven "Objekt"-Rest zu sichern, ohne den Kants Vernunft theorie auf den Haufen des "sinnleeren Nonens" gehörte. Sich gegenüber den hiermit verbundenen theoretischen Problemen auf die vermeintlich solide Verstandes theorie zurückzuziehen, löst sie nicht, sondern verkennt sie. Doch wozu diese Präliminarien? Auf Grund der, soweit mir bekannt, sehr unzureichenden Interpretationsvorschläge zu Kants regulativer Vernunfttheorie sowie angesichts der nicht unbedingt klaren und einsichtigen Form, in der Kant sie vorträgt, sehe ich mich zugegebenermaßen zu mehr kommentierenden Bemerkungen veranlaßt, als vielleicht wünschenswert wäre. Da wir andererseits hier eine der m.E. schwierigsten philosophischen Fragen vor uns haben und uns jetzt dem entscheidenden Schritt von Kants Beantwortungsversuch zuwenden, schienen mir die gemachten Hinweise erforderlich. Der zweite Absatz des "Anhangs" bestätigt zunächst in allgemeiner Form die soeben angebrachten Hinweise auf die Unterscheidung zwischen "transzendentem" und "regulativem" Gebrauch der Ideen und dessen konstitutiver, "immanenter" Restobjektivität. "Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein, wenn wir nur einen gewissen Mißverstand verhüten und die eigentliche Richtung derselben ausfindig machen können. Also werden die transzendentalen Ideen allem Vermuten nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben, obgleich, wenn ihre Bedeutung verkannt und sie für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden, sie transzendent in der Anwendung und eben darum trüglich sein können. Denn nicht die Idee an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch kann, entweder in Ansehung der gesamten möglichen Erfahrung überfliegend (transzendent), oder einheimisch (immanent) sein, nachdem man sie entweder geradezu auf einen ihr vermeintlich entsprechenden Gegenstand, oder nur auf den Verstandesgebrauch überhaupt, in Ansehung der Gegenstände, mit welchen er zu tun hat, richtet, und alle Fchlcr der Subreption sind jederzeit einem Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstande oder der Vernunft zuzuschreiben." (ß 670f.)

Kants Konkretisierung dieser grundsätzlichen Feststellung beginnt im Lichte der Frage nach dem Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft. Hier kehrt der Gedanke wieder, der uns bereits bei der expliziten Einführung des Vernunftbegriffs eingangs der "Transzendentalen Dialektik" begegnet war558 , daß die Vernunft keineswegs jeglichen Gegenstandsbezugs entbehre. Sie bezieht sich lediglich nicht unmittelbar auf Objekte, sondern 557 Beachte den Hinweis von R.CS. Walker: "( ... ) regulative principles determine what is rational, and might themselves be called constitutive of rationality." (Walker, "Kant's Conception of Empirical Law", 246) 558 S.o., Kap. 2.1.

198

2 Kant und die Einheit der Vernunft

"indirekt", nämlich gewissermaßen auf dem Umweg über den Verstand. Er ist ihr Gegenstand. "Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand ( ... )." (B 671)

Unter dieser tendenziell objektivierenden Perspektive auf den Vernunftgebrauch gewinnt dieser empirische Bedeutung, denn die Vernunft bezieht sich nicht nur auf den Verstand, sondern auch "vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch" (ebd.). Übrigens spricht Kant in der Regel von "Verstandestätigkeit" und "Vernunftgebrauch". Letzterer scheint dabei reflektierter, vermittelter, eben "indirekter". Das hat damit zu tun, daß der Verstand als "Vermögen der Begriffe" (B 199) "spontan" aktiv, eben "tätig" wird, und zwar am passiv "rezipierten" Sinnesmaterial. Das heißt freilich umgekehrt, daß schon die Verstandesbegriffe die Welt nicht (völlig) "direkt" erkennen. Auch sie sind bereits "von der objektiven Realität entfernt" (B 595), die Vernunftbegriffe bloß "noch weiter" (ebd.). Die aktive "Spontaneität" begrifflicher Synthesis schließt eine völlige Unmittelbarkeit, bzw. "Direktheit", des Gegenstandsbezugs gerade aus, wodurch ein weiteres Mal die idealtypische Unterscheidung zwischen erfahrungsunmittelbarem Verstand und reflektierter Vernunft "kritisch" wird. So gesehen avanciert vielmehr gerade die Vernunft zum eigentlichen Kandidaten für das Vermögen "spontaner" Begriffsbildung: Sie ist von den Gegenständen am weitesten entfernt - folglich am wenigsten durch sie "bestimmt". Nun ist dergleichen dem Text so freilich nicht ohne weiteres zu entnehmen. Einschlägig für das Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft ist dort vielmehr das Theorem, daß so "wie dieser das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind" (B 672; vgl. B 610).

Ausdrücklich und zum wiederholten Male bemerkt Kant deshalb auch, die "transzendentalen Ideen" seien "niemals von konstitutivem Gebrauche" (ebd.). Sie so zu verstehen, verwandle sie vielmehr in "vernünftelnde (dialektische) Begriffe" (ebd.). Verfolgen wir also zunächst weiter Kants Selbstauslegung dieses Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft. Wie er im weiteren ausführt, besitzen die Vernunftbegriffe gleichwohl einen "vortrefllichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch" (ebd., Hervorhebung D.K.), der darin besteht, "den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (tocus imagillarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht

2.5 Vemunftintegration ohne 'Grenzübergang'

199

ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen" (ebd.).

Hierzu muß zunächst bemerkt werden, daß Kant jetzt ausdrücklich diejenige Problemsperspektive einnimmt, aus der die Vernunftbegriffe bzw. Ideen "ganz außer halb den Grenzen möglicher Erfahrung" liegen. Ich hatte bereits früher darauf hingewiesen, daß in Kants regulativer Vernunfttheorie offenkundig zwei verschiedene Theoreme zugrundegelegt werden, die a) miteinander unvereinbar sind und b) von Kant nicht hinreichend voneinander abgegrenzt werden. Schon beim Übergang vom ersten zum zweiten "Widerstreit" der "dynamischen Antinomie"SS9 war aufgefallen, daß Kant mit diesem Schritt einen Gesichtspunkt ''ganz außer halb der Sinnenwelt" (B 593, Hervorhebung D.K.) einzunehmen sucht. Von den diesbezüglichen Ideen gilt im Hinblick auf den "empirischen Vernunftgebrauch", "sie trennen sich davon gänzlich" (ebd., Hervorhebung D.K.). Dieser Gedanke erwies sich später als "kritische" Achillesverse von Kants "transzendentaler Theologie".S60 Es kann meines Erachtens nicht genug darauf hingewiesen werden, daß ohne die Berücksichtigung dieser doppelten Perspektive, wonach einerseits (vornehmlich) das "regulative Prinzip" die Kategorien (im engeren "kosmologischen" Zusammenhang) nur "bis zum Unbedingten erweiterte" (B 436, Hervorhebung D.K.), andererseits (bestimmte) »Ideen« "ganz außerhalb der Sinnenwelt" gedacht werden, kein zureichendes Verständnis von Kants regulativer Vernunfttheorie erreicht werden kann. Dies gilt um so mehr, als Kant selbst diese zwei Momente seiner Theoriestrategie nicht in hinreichendem Umfang voneinander unterschied und als zu unterscheidende explizierte. Das folgende wird zeigen, wieviel von dieser Unterscheidung abhängt. Um wieder auf die zuletzt zitierte Passage zurückzukommen, so bringt Kant dort einen Gesichtspunkt ins Spiel, der für diesen ersten Teil des "Anhangs" (also bis B 696) bestimmend wird. Es geht im folgenden ausdrücklich um "das Systematische der Erkenntnis" (B 673), also dasjenige, was, Kants eigenem Sprachgebrauch folgend, die "distributive Einheit" des Verstandes zur "kollektiven" Einheit der Vernunft zu erweitern und zu vervollständigen sucht. In welchem Sinn kann nun der damit befaßte Vernunftgebrauch nicht nur als "vortrefflich", sondern auch als "unentbehrlich notwendig" bezeichnet werden? Wozu ist er solchermaßen "unabdingbar"? Im Hinblick auf die aus dem genannten "foeus imaginarius" hervorgehende

SS9 Sc. der dritten zur vierten "Antinomie". S60 S.o., Kap. 2.5.1.

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2 Kant und die Einheit der Vernunft

"Täuschung", ihm korrespondiere ein realer Gegenstand, gibt Kant eme erste Antwort auf diese Frage. "(... ) diese Illusion (welche man doch hindern kann, daß sie nicht betrügt,) ist gleichwohl unentbehrlich notwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d. i. wenn wir, in unserem Falle, den Verstand über jede gegebene Erfahrung (dem Teile der gesamten möglichen Erfahrung) hinaus, mithin auch zur größtmöglichen und äußersten Erfahrung abrichten wollen." (B 672f., Hervorhebung O.K.)

Kant spricht hier ein Motiv an, das er in den "Prolegomena" noch pointierter vorträgt. Dort rückt er das Problem wiederum ein in den Horizont seiner Diskussion des analogischen "Grenz"-begriffs. Zunächst stellt Kant fest, daß der Verstand unausweichlich Dinge an sich selbst "annehmen muß", und zwar "weil er die Gegenstände der Erfahrung für bloße Erscheinungen erkennt"561. Wir können hier für die Zwecke unserer Darlegungen außer Acht lassen, ob diese transzendentale "Annahme"562 mit Recht dem Verstand (anstatt der Vernunft) zugeschrieben wird. Ebenso können wir einen Moment von der Unhaltbarkeit des Begriffs der "Dinge an sich" absehen.563 Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist hingegen das Licht, das von diesen Ausführungen Kants auf den Verstand fällt, indem von ihm qua "Erfahrung, welche alles, was zur Sinnenwelt gehört, enthält"564, gesagt wird: sie "begrenzt sich nicht selbst"S65. Mit dieser vor der Hand lapidaren Feststellung sind jedoch weitreichende Konsequenzen verbunden. Genau betrachtet wird hier die Unfähigkeit der strikt "immanenten" und "konstitutiven" Verstandes theorie eingestanden, einen zureichenden Begriff von Bewußtsein, geschweige von Selbstbewußtsein zu entwickeln. Da der "Erfahrungen" machende Verstand "von jedem Bedingten immer nur auf ein anderes Bedingte (gelangt)"566, ist es nicht allein so, daß er insofern, um ein Wort von Grabbe zu variieren, nicht aus der Welt fallen kann. Vielmehr wüßte er gar nicht, daß er in ihr ist. Die Unterscheidung dieses "innen" und "außen" leistet erst die Vernunft. Da in ihr "beide zusammen befaßt (sind)"567, ist nur sie in der Lage, "den Verstand in Ansehung bei der Felder

561 AA IV (Prolegomena), 360 (Hervorhebungen O.K.). 562 Zu diesem Terminus vgl. u., Anm. 638. 563 Die sich ja im Sinne einer regulativen Idee dechiffrieren lassen (s.o.). 564 Ebd. 565 Ebd.; vgl. B 297. 566 Ebd.

567 Ebd.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

201

zu begrenzen"568 - und insofern überhaupt erst "Erkenntnis" und "Erfahrung" möglich zu machen. Nun besteht in der Frage nach dem Verhältnis zwischen der KrV und den "Prolegomena" ein besonderes Problem der Kantforschung. Von daher wäre der Einwand denkbar, Kant habe (ähnlich wie in seinen "Kleineren Schriften"569) die Entpflichtung von völliger systematischer Strenge zu freieren Assoziationen und solchen weniger stringenten Überlegungen genutzt, für die die soeben vorgetragenen ein Beispiel seien. Tatsächlich besteht jedoch die originäre Leistung der "Prolegomena" in unserem Fall lediglich in der Einführung bzw. Explikation des unverwechselbaren transzendental-analogisehen "Grenz"-Begriffs. Die genannten Argumente finden sich als solche auch in der KrV. Wie das Beispiel der Naturforschung zeige, so Kant dort, machen wir eine Reihe von Beobachtungen, die zunächst auf ganz verschiedene Ursachen schließen lassen. Dabei bleiben wir indessen nicht stehen, weil wir, geleitet von der "Idee einer Grundkraft" (B 677), unseren Beobachtungen größtmögliche Einheit zu geben suchen. Hinsichtlich der sich hierbei einstellenden Frage, ob dergleichen nicht ein bloß "logisches Prinzip der Vernunfteinheit" (B 678) sei, antwortet Kant, dieses selbst sei gar nicht "abzusehen" ("verständlich"?), "wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt würde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, apriori als notwendig angenommen wird" (B 678f.).

Andernfalls ergäbe sich das Problem, wie überhaupt erklärt werden könne, daß die Vernunft zu einer solchen logischen Regel gelange, "wenn es ihr freistände zuzugeben, daß es ebensowohl möglich sei, alle Kräfte wären ungleichartig, und die systematische Einheit ihrer Ableitung der Natur nicht gemäß?" (B 679)

Die den Gedanken der "Prolegomena" variierende Stelle bedient sich dann eines Arguments, das Kants Kritik an Humes Assoziationspsychologie ähnelt. Der Kontext zeigt wiederum, daß auch diese Kontroverse erst vernunfttheoretisch einer Lösung zugeführt werden kann. "Auch kann man nicht sagen, sie [die Vernunft, D.K.) habe zuvor von der zufälligen Beschaffenheit der Natur diese Einheit nach Prinzipien der Vernunft abgenommen. Denn das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermanglung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig voraussetzen müssen." (ebd., Hervorhebungen D.K.)

568

Ebd.

569 Vgl. Köveker, a.a.O.

202

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Es ist jetzt an der Zeit, alle höfliche Zurückhaltung gegenüber der eingefahrenen Vorstellung aufzugeben, mit den Mitteln der transzendentalanalytischen Verstandeskonstitution bestehe (Kant-immanent) irgendeine Möglichkeit, einen konsistenten Erkenntnisbegriff zu entwickeln. Ich denke, spätestens angesichts der soeben zitierten Stelle sind wir nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, klipp und klar zu sagen, daß aus Kantischer Perspektive nicht die geringste kognitive Leistung erbracht würde, wenn die Gesetze der Vernunft nicht ebenso zur Anwendung gelangten wie diejenigen des Verstandes. In Analogie zum Verhältnis zwischen Anschauungs- und Denkvermögen muß gesagt werden: Verstandesregeln ohne Vernunftbegriffe sind blind. Damit wird auch die oben vorgenommene Einschätzung "transzendentaler Beweise/Argumente" nachhaltig unterstrichen. Der Versuch ihrer Analyse muß in wesentlichen Hinsichten unvollständig bleiben ohne Berücksichtigung der erkenntnis-"konstitutiven" Rolle der Vernunft. Zu dieser Ausdrucksweise berechtigt uns Kants Gesamtbild von "Erkenntnis", wie es in der zuletzt zitierten Stelle zum Ausdruck gelangt und in dem nachfolgenden Zitat beinah noch stärker pointiert wird, indem Kant ganz konkret elementare "analytische" Operationen (wie Begriffsvergleiche) von dem transzendentalen "Prinzip der Gattungen" abhängig macht. ·Wäre unter den Erscheinungen, die sich uns darbieten, eine so große Verschiedenheit, ich will nicht sagen der Form (denn darin mögen sie einander ähnlich sein), sondern dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit existierender Wesen nach, daß auch der allerschärfste menschliche Verstand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht die mindeste Ähnlichkeit ausfindig machen könnte (ein Fall, der sich wohl denken läßt), so würde das logische Gesetz der Gattungen ganz und gar nicht stattfinden, und es würde selbst kein Begriff von Gattung, oder irgendein allgemeiner Begriff, ja sogar kein Verstand stattfinden, als der es lediglich mit solchen zu tun hat. Das logische Prinzip der Gattungen setzt also ein transzendentales voraus, wenn es auf Natur (darunter ich hier nur Gegenstände, die uns gegeben werden, verstehe,) angewandt werden soll. Nach demselben wird in dem Mannigfaltigen einer möglichen Erfahrung notwendig Gleichartigkeit vorausgesetzt (ob wir gleich ihren Grad apriori nicht bestimmen können), weil ohne dieselbe keine empirischen Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre." (B 68lf., Hervorhebung D.K.)

Deutlicher läßt sich im Grunde nicht sagen, daß Vernunftbegriffe/Ideen nicht nur "aus" der Verstandestätigkeit hervorgehen, sondern daß diese ohne jene überhaupt nicht zustande käme. Ich habe im vorigen verschiedentlich "Regiebemerkungen" eingestreut. Ohne diese erläuternden Hinweise könnte die Vielzahl der Begründungsstränge, Teiltheoreme und Einzelüberlegungen des vorliegenden Kanttextes nicht zu einem wenigstens annähernd übersichtlichen Gesamtbild integriert werden. Nachhaltig hatte ich darauf verwiesen, wie wichtig die Berücksichtigung von zwei fundamentalen Unterscheidungen für das Verständnis von Kants regulativer Vernunfttheorie ist: die zwischen den für Kants kritischen Erkenntnisbegriff gleichermaßen entscheidenden Momenten gegenstands-

2.5 Vernunft integration ohne 'Grenzübergang'

203

bezogener "Restobjektivität" der Vernunftbegriffe und dem nichthintergehbaren subjektiven Faktor von Erkenntnis; so dann diejenige zwischen dem "regulativen Prinzip", das die Kategorien nur "bis zum Unbedingten erweiterte", und denjenigen "regulativen Ideen", die sich von der Sinnenwelt "gänzlich trennen". Beide Unterscheidungen stehen ständig im Hintergrund von Kants Ausführungen im "Anhang zur transzendentalen Dialektik". Erstere wird jedoch jetzt insofern besonders virulent, als das "Prinzip der Gattungen" (wie auch die ihm folgenden beiden anderen Prinzipien), seiner "objektiven" transzendentalargumentativen Dimension ungeachtet, besondere erkenntnismethodologische Relevanz zu besitzen scheint. (Wie gesagt: Beide Dimensionen spielen hier ständig ineinander. Nur ihre simultane Vergegenwärtigung und die jeweilige Entscheidung, welchen der beiden Aspekte Kant aktuell hervorhebt, läßt meines Erachtens die vorliegenden Passagen der KrV verständlich werden.) Das wird besonders deutlich, indem die Begriffslogik nicht bloß ein "Prinzip der Gattungen", sondern auch ein - diesem gewissermaßen gegenüberstehendes - Prinzip "der Arten" (B 682) kennt, das einem ganz entgegengesetzten Interesse verpflichtet ist, dem an der Unterscheidung. Es ist sehr interessant zu sehen, wie Kant in seiner Diskussion dieser Fragen in Schwierigkeiten gerät und gewissermaßen hin- und hergerissen wird zwischen der "objektiven Gültigkeit" der Idee (wie im Fall der "Vernunfteinheit") und ihrer nur "logischen", "subjektiven" oder methodologischen Gültigkeit. Um diesen Schleuderkurs Kants zwischen objektivierender und subjektivierender Deutung der Vernunftprinzipien trotz seiner kapriziös anmutenden Wendungen verdeutlichen zu können, bediene ich mich im folgenden einer gewissen Schematisierung dieser Stellen. Sie besteht im Hinweis auf den jeweiligen, entweder subjektivierenden ("[subj.() oder objektivierenden ("[Obj.() Akzent der Stellen. Dem genannten Unterscheidungsprinzip oder "Gesetz der Spezifikation" (B 684)[obj.jliege zwar ebenfalls "ein transzendentales [siel] Gesetz", nämlich das "der Spezifikation zum Grunde" (ebd.).570 Gleichwohl berechtigt es nicht dazu, "den Dingen, die unsere Gegenstände werden können, eine wirkliche Unendlichkeil in Ansehung der Verschiedenheiten" (ebd.) zuzusprechen, wie Kant in einer Variation seines "Unbestimmtheits"-Arguments (4) hinzufügt. Schon die Logik behaupte hier nämlich keine Unendlichkeit, sondern

570 Vgl. hierzu auch AA V (Kritik der Urteilskraft), XXXVII.

204

2 Kant und die Einheit der Vernunft

"lediglich die Unbestimmtheit der logischen Sphäre in Ansehung der möglichen Einteilung" (ebd.).571 Diesen beiden transzendentalen Grundsätzen des Vernunftgebrauchs tritt in der Folge ein dritter zur Seite. Da die ersten beiden allein betrachtet "ein doppeltes, einander widerstreitendes Interesse" (B 682, Hervorhebung D.K.) der Vernunft offenbaren, sieht Kant das Erfordernis, diesen Widerstreit ähnlich wie in der Antinomiendiskussion durch ein drittes Prinzip aufzulösen. Dies soll das "Gesetz der Affinität aller Begriffe" (B 685) leisten. Das Vernunftinteresse an Vereinheitlichung des empirischen Materials[subj.) und dasjenige an seiner Differenzierung[obj.) scheint zu einem auseinanderstrebenden, tendenziell inkonsistenten Vernunftgebrauch zu führen. Um diese Konsequenz abzuwenden, bedarf es offenbar eines zwischen diesen beiden Polen operierenden und insofern "internen" Prinzips.572 Diesen "kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet" (B 685f.) das genannte "Gesetz der Affinität". Beinah überflüssig hinzuzufügen, daß selbstverständlich auch "dieses logische Gesetz des eontinui specierum (fonnarum logiearum) ( ... ) ein transzendentales voraus(setzt) (lex eontinui in nalUra)" (8 688). Kant nennt die damit vollständig eingeführten drei Prinzipien des "regulativen Gebrauchs der Ideen" auch "die Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen" (B

686).

Entscheidend an diesen Ausführungen Kants scheint mir nun die auch für die Thematik dieser Arbeit ausschlaggebende theoretische Grundstruktur, die sich hier zum wiederholten Male zeigt. So diskutabel und in diesem oder jenen Fall sogar fragwürdig uns Kants gewissermaßen vorstrukturierende Anknüpfung an die Denkmittel der traditionellen Logik erscheinen mag573: Kaum jemand wird ernstlich bestreiten, daß (wissenschaftliche) Erkenntnis (schon unter empirischen Gesichtspunkten) ganz wesentlich durch die Ausrichtung auf (und die Inanspruchnahme von) möglichst einheitsstiftende(n) 571 In Kants "Logik" erhält dieses "Princip der Specification" eine etwas andere Wendung, indem es dem "Analogieschluß" zugrunde liegt. "Die Analogie schließt von par/ieularer Ähnlichkeit zweier Dinge auf totale, nach dem Princip der Specifteation: Dinge von einer Gattung, von denen man vieles Übereinstimmende kennt, stimmen auch in dem Übrigen überein, was wir in einigen dieser Gattung kennen, an andern aber nicht wahrnehmen." (AA IX, 133)

572 Vgl. das "transzendentale Schema". 573 Ich verweise stellvertretend auf meine kritischen Anmerkungen zu und Einwände gegen Kants Einführung des "transzendentalen Ideals" (s.o., 2.5.1).

25 Vemunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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Begriffe(n) stattfmdet. Gleichzeitig geht diese "homogenisierende" Vorgehensweise wie selbstverständlich von "heterogenem" Material aus; sie läßt sich sogar nur unter dessen Voraussetzung sinnvoll verfolgen.574 Um das grundsätzliche Problem "zwischen" Subjektivität und Objektivität verdeutlichen zu können, um das es hier geht, müssen wir noch einmal auf Kants These zurückkommen, "uns" werde "das Mannigfaltige" (sinnlich) "gegeben". Dies ist einerseits eine auf das empirische "Dasein" (die "Wirklichkeit"), ja sogar die "Empfmdung" der5 75 Erkenntnisgegenstände bezogene Aussage. Sie ist nicht transzendental, denn sie bezieht sich ja nicht (positiv) auf "unsere(r) Erkenntnisart von Gegenständen" (B 25576). Vielmehr liegt sie auf einer Ebene (der Unerkennbarkeit) mit dem "Ding an sich", die hier im Sinn der "unermeßliche[n] Mannigfaltigkeit der Erscheinungen" (A 127) gedacht wird. Indem wir aber gleichzeitig darauf angewiesen sind, daß uns die Gegenstände der Erkenntnis "gegeben" werden577, handelt es sich hierbei zugleich, und in der gleichen Hinsicht, um eine "Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung" - mithin eine "transzendentale Aussage". Das erhellt sich auch noch einmal im Zusammenhang des "Notwendigkeits"Begriffs. Wie Kant in der schon früher zitierten Anmerkung zum Begriff der "Verbindung" klar macht, ist sie nur als dynamische "Verknüpfung" notwendig (im Gegensatz zur mathematischen "Zusammensetzung") (vgl. B 201 Fn.). Diese Verbindung, die "nicht willkürlich ist", nennt Kant "dynamisch ( ... ), weil sie die Verbindung des Daseins des Mannigfaltigen betrifft" (ebd.).

Dieses wiederum ist jedoch im oben untersuchten Sinn "an sich nur zufällig" (B 199). Ergo brauchen wir für unseren Begriff der Notwendigkeit den Rekurs "auf etwas ganz Zufälliges". Wie § 22 der "Transzendentalen Deduktion" zeigt, gelangen wir mit diesen Überlegungen zu demjenigen Voraussetzungsgefüge, von dem der Hauptgedanke der KrV abhängt. Das All "möglicher" Erfahrung "konstituiert" sich wesentlich durch die dafür unverzichtbare "Sinnlichkeit" ihrer 574 Wo "Einheit" herrscht, brauche ich sie nicht nur nicht zu suchen. Es ist vielmehr überhaupt kein "Grund" denkbar, der zu dieser Suche Anlaß geben könnte (vgl. Frank, 77). 575 "Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zeit) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als wirklich, durch Empfindung, vorgestellt wird." (B 146f.) 576 Vgl.

0.,

Kap. 2.4.

577 Ich verweise auf Grund ihrer zentralen systematischen Bedeutung nochmals auf Kants bereits zitierte Bemerkung, er habe im "Beweis" der "Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" nicht davon "abstrahieren" können, "daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse ( ... )." (B 145, Hervorhebungen D.K)

206

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Gegenstände. Diesen eignet, da jene passiv ("rezeptiv") ist, offenbar eine Art Spontaneität.578 Jedenfalls lassen sich die Gegenstände insofern nicht "a priori" erkennen - und sind doch, insofern, "konstitutiv" für mögliche Erfahrung. "Dinge im Raum und der Zeit werden aber nur gegeben, sofern sie Wahrnehmungen (mit Empfindung begleitete Vorstellungen) sind, mithin durch empirische Vorstellung. Folglich verschaffen die reinen Verstandesbegriffe, selbst wenn sie auf Anschauungen apriori (wie in der Mathematik) angewandt werden, nur sofern Erkenntnis, als diese, mithin auch die Verstandesbegriffe vermittelst ihrer, auf empirische Anschauungen angewandt werden können. Folglich liefern uns die Kategorien vermittelst der Anschauung auch keine Erkenntnis von Dingen, als nur durch ihre mögliche Anwendung auf empirische AnscluJUung, d. i. sie dienen nur zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis. Diese aber heißt Erfahrung. Folglich haben die Kategorien keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als nur sofern diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden." (B 147f., letzte Hervorhebung D.K.)579

Ganz ähnlich heißt es später im Kontext der "Transzendentalen Dialektik", es gebe "in der Naturkunde eine Unendlichkeit von Vermutungen, in Ansehung deren niemals Gewißheit erwartet werden kann, weil die Naturerscheinungen Gegenstände sind, die uns unabhängig von unseren Begriffen gegeben werden, zu denen also der Schlüssel nicht in uns und unserem reinen Denken, sondern außer uns liegt, und eben darum in vielen Fällen nicht aufgefunden, mithin kein sicherer Aufschluß erwartet werden kann" (B 508f.).

578 Vgl. B 712. In dieser Prämisse dürfte einer der Hauptgründe für Poppers affirmative Kant-Rezeption liegen. Ein ganz ähnlicher Gedanke besitzt nämlich (latente) Begründungsfunktionen für Poppers Wissenschaftsphilosophie. Danach müssen wir Theorien 'nicht durch logische Zurückführung auf die Erfahrung' begründen ("auszeichnen", wie Popper - Logik der Forschung, 73 - sagt). Sie sollen sich (lediglich) "bewähren'. Popper geht damit jedoch stillschweigend davon aus, daß uns (der Himmel weiß, woher) immer schon hinreichende Voraussetzungen für wissenschaftliche Erkenntnis zur Verfügung stehen - eben "gegeben" werden. 579 Vgl. auch von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 420. Die zentrale Bedeutung dieser Prämisse, und daß sie auf einer Ebene mit den "Dingen an sich" angesiedelt ist, belegt eine kritische Bemerkung K.-O. Apels zu diesen: "Kant scheint alle diejenigen, welche ihn verstanden haben, vor die folgende Alternative zu stellen: Entweder ist die Existenz unerkennbarer Dinge-an-sich zuzugeben oder man muß darauf verzichten, die objektive Geltung der Wissenschaft zu begründen. Denn die objektive Geltung der Wissenschaft beruht auf der Notwendigkeit ihrer »Grundsätze«; Notwendigkeit synthetischer Erkenntnis aber kann nur erklärt werden, wenn die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zgleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Wäre diese Übereinstimmung als eine solche mit den Dingen-an-sich zu verstehen, dann würde sie ein zufälliges Faktum darstellen, das selbst nicht mehr wissenschaftlich begründet, sondern nur noch - in einer dogmatischen Metaphysik - geglaubt werden könnte." (Der Denkweg von Charles S. Peirce, 73)

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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Im Sinn einer die - in doppelter Hinsicht - "kritischen" Punkte von Kants Erkenntnistheorie verdeutlichenden (statt mystifizierenden) Interpretation der KrV ist darauf aufmerksam zu machen, daß es nach wie vor um den "höchsten Punkt" einer möglichen "Berührung"580 zwischen sinnlichem "Material" und begrifflicher "Form" geht. Kant bezieht sich an dieser Stelle auf die Spontaneität, die einmal in der "Synthesis der Apprehension", das andere Mal in der "Synthesis der Apperzeption" am Werk ist, und fährt fort: "(... ) welche [Spontaneität, D.K.] dort [in der Synthesis der Apprehension, D.K.] unter dem Namen der Einbildungskraft, hier [in der Synthesis der Apperzeption, D.K.] des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt" (8 162 Fn.).

Will man dergleichen nicht bloß als "dunkel" zurückweisen, so muß man das sachliche Problem im Blick behalten, das hier verhandelt wird. Der Einstieg in seine Erläuterung lautete: "Jetzt soll die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände, die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen, ulld zwar nicht der Form ihrer Anschauung, sondern dcn Gesetzen ihrer Verbindung nach, apriori zu erkennen, also der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben ulld sie sogar möglich zu machen, erklärt werden. Denn ohne diese ihre Tauglichkeit würde nicht erhellen, wie alles, was unseren Sinnen nur vorkommcn mag, unter den Gesetzen stehen müsse, die apriori aus dem Verstande allein entspringen." (8 159f.)

Vor dem Hintergrund unserer Ausführungen zur sozusagen erkenntniskonstitutiven Spontaneität der Natur kommt es dadurch zur Spannung und Konkurrenz zwischen dieser und dem zuletzt zitierten transzendentalen Beweisziel, apriorische Regeln der Erkenntnis eben dieser Natur zu (re-) konstruieren. Insofern wird jetzt so etwas wie eine dritte "Transzendentale Deduktion" innerhalb der KrV erforderlich. Auf diejenige der "objektiven Gültigkeit" von Raum und Zeit als "Form der Anschauung" (vgl. B 119f.; s.o., 106f.) folgte die "der reinen Verstandesbegriffe" (B 129ff.) im engeren Sinn. Jetzt geht es um die "Transzendentale Deduktion des allgemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der reinen Verstandesbegriffe" (B 159, Hervorhebung D.K.). Es geht nicht mehr um Raum und Zeit als "Form der Anschauung", sondern als "formale Anschauung" (B 160). Der Unterschied besteht nach Kant darin, daß jene gewissermaßen die Anschaulichkeit des "Mannigfaltigen", diese hingegen die "Einheit der Vorstellung [dieses anschaulich Mannigfaltigen, D.K.] gibt" (ebd., Hervorhebung D.K.). Das Problem dieser "Transzendentalen Deduktion" lautet mithin: Was berechtigt uns zu der Annahme, daß diese Einheit (die "a priori zum Raume und der Zeit (gehört), und nicht zum Begriffe des Verstandes", B 161) und diejenige des Verstandes (vgl. B 130ff.) zueinander ''passen''? Erschwerend kommt hinzu, daß die erstgenannte Einheit 580 So Strawsons Ausdruck (s.o., 25).

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208

"eine Synthesis (voraussetzt), die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden" (B 161, Hervorhebung D.K.). Kants "Lösung" besteht letztlich darin, eine nicht weiter qualifizierte "Spontaneität" zum Garanten und (letzten) Einheitsmoment dieser zwei "Einheiten" (der "Synthesis der Apprehension" und derjenigen der "Apperzeption") zu erklären. Sie erst bildet die Brücke, über die Sinnesmaterial - durch die "Synthesis der Apprehension, welche empirisch [sic!] ist" (B 162 Fn.) - und Denkformen - durch die "Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell und gänzlich apriori in der Kategorie enthalten ist" (ebd.) miteinander in Kontakt treten; denn: ist eine und dieselbe Spontaneität, welche dort, unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt." (Ebd.) "Es

Abgesehen von der Schwierigkeit, daß dadurch die Sinnlichkeit sowohl durch passive "Rezeptivität" (vgl. etwa B 33) wie aktive "Spontaneität" (qua "Einheits"-Vennögen) ausgezeichnet wird, ist dies ein weiterer Beleg für Kants ständige Produktion von Doppel- bzw. Vieldeutigkeiten. Wir sehen uns jetzt nämlich mindestens drei systematisch konkurrierenden "Einheits"Begriffen gegenüber: der "synthetischen Einheit der Apperzeption" (B 131) als Verstandeseinheit; der (soeben behandelten) Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung qua "Synthesis der Apprehension" (B 160f.)581 als Sinneseinheit; schließlich der Vernunfteinheit (vgl. B 359 u.ö.). Der Problem komplex ist aus ganz verschiedenen Gründen höchst interessant. Zum einen legt das aufgezeigte Bedingungsgefüge nahe, Heideggers Versuch, den Verstand "in der auf die Zeit bezogenen reinen Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft (zu) gründen"582, infolge des soeben aufgezeigten Vorrangs der "Spontaneität" als verfehlt zu bezeichnen.583 In einem solchen Nachweis bestünde m.E. ein starkes systematisches Argument gegen Heideggers "seinsgeschichtliche" Perspektive, die sich u.a. aus diesem Gedanken seiner Kant-Interpretation nährt (vielleicht sogar daraus resultierte). Zum anderen stellt sich die Frage, in welchem Licht eine 581 Bezeichnenderweise wird dieser Aspekt der Anschauungstätigkeit entgegen Kants Versicherung ("Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt (... )", ß 16Of.) nicht in der ''Transzendentalen Ästhetik" behandelt. Kant hatte ihn wohl stillschweigend "zur Sinnlichkeit gezählt". 582 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 81. 583 Ein ähnliches Mißverständnis liegt im übrigen auch Heideggers vorherrschender Bezugnahme auf die ältere Version der "Transzendentale Deduktion", der von 1781, zugrunde (vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, 155ff.).

25 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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"Spontaneität des Diskurses" zu sehen ist und wie sie gegebenfalls zu verstehen wäre.584 Vor allen Dingen sehe ich jedoch in dem soeben aufgezeigten Begründungszusammenhang eine massive Untermauerung der oben durchgeführten Kritik an Kants gleichzeitig "seinsvergessenem" Anspruch, die Beweisführung der KrV stütze sich auf nichts "außer die Vernunft selbst" (und der an diesen Anspruch anknüpfenden Überlegungen Niquets). Beides, dieser Anspruch wie Heideggers "logosvergessene"5&5 Seinsgeschichte, vernachlässigt die Modi aktueller Konvergenz von Sein und Denken "genau auf der Grenze" zwischen ihnen. Ganz so, wie Kant mit seiner These von der Unerkennbarkeit des "Ding an sich" nolens volens den Anspruch erhebt, eben diese Unerkennbarkeit "erkannt" zu haben, so beansprucht und antizipiert die Rede von der "Gegebenheit" des Mannigfaltigen eine definitive - "letzte" - Erkenntnis dessen, was als Gegebenes gerade nicht erkannt werden kann; sondern - "erst" - gegeben werden muß. Dieser Gedanke markiert den "genau auf der Grenze" zwischen Empirie und Apriori liegenden "höchsten Punkt" transzendentaler Reflexion und damit die "Seinsvergessenheit" der Kantschen Thesen über das "Ding an sich" und die empirische "Gegebenheit" der "unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen". Beide Behauptungen stellen weder empirische noch transzendentale Sätze dar, sondern "Voraussetzung einer kritischen Philosophie"586: Bliebe kein "zu gebender" und insofern kontingenter (sinnlicher) "Rest", dann würde, wie die Übertragung von Apels Bemerkung auf die "Gegebenheits"-These zeigt, Erkenntnis selbst "ein zufalliges Faktum darstellen, das selbst nicht mehr wissenschaftlich begründet, sondern nur noch - in einer dogmatischen Metaphysik - geglaubt werden könnte,;s87.

Das Gegebenheits-Theorem Kants588 ist - wie die Lehre vom "Ding an sich" - eine metaphysische "Voraussetzung einer kritischen Philosophie", und zwar sogar in Kants eigenem Sinn, wie seine Qualifikation der "metaphysischen Erörterung" von Raum und Zeit belegt, die nämlich dann metaphysisch sei, "wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff, als apriori gegeben [sie!], darstellt" (B 38).

584 Dazu s.u., Kap. 4. 5&5

Zu diesem Ausdruck von E. Heintel vgi. Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, 61.

586 Apel, a.a.O. 587 Ebd.

588 Vgi. auch AA IV (Prolegomena), 350f. 14 Köveker

210

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Das heißt aber mit anderen Worten, daß es für wissenschaftliche Erkenntnis zumindest eines Äquivalents für Kants Gegebenheits-Theorie bedarf. Andernfalls droht man, ähnlich dem Positivismus, "mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft"589 abzuschaffen. In nachmetaphysischer Perspektive, so der Vorschlag der in dieser Arbeit vertretenen Kant"Transformation", besteht dieses Äquivalent in einer realistischen Interpretation des Verhältnisses zwischen den "konstitutiven" Voraussetzungen und den "regulativen" Begriffen des Erkennens.590 Denjenigen denen mittlerweile der Zusammenhang mit dem "regulativen Gebrauch der Ideen" verlorengegangen zu sein scheint, sei versichert, daß nichts weniger der Fall ist. Kant sagt: "Die Vernunft setzt Verstandeserkenntnisse voraus" (B 690) - wir fügen hinzu: und diese die "Gegebenheit" des Mannigfaltigen dieser Erkenntnisgegenstände. Die von Kant programmatisch angestrebte und suggerierte "reine" Konstitution der Erfahrungswelt versucht letztlich doch, von dem soeben abgeleiteten, kritisch unverzichtbaren Rest sinnlicher und "empirischer" Gegebenheit der Erfahrungsgegenstände zu "abstrahieren"591. Weil aber, so die These dieser Arbeit, durch diesen "unreinen" Rest nur, wie Apel sagt, bei Strafe unkritischer Dogmatik gekürzt werden kann, schreckt Kant davor letztlich in genau dem Maße zurück, wie sich dieser kontingente Rest, infolgedessen, immer wieder geltend macht. Das geschah - um damit den Faden unserer Rekonstruktionsbemühungen nunmehr explizit wiederaufzunehmen - zuletzt im Zusammenhang mit dem transzendentalen Prinzip der Spezifikation, das im Gegenzug zur Vereinheitlichungstendenz der Vernunft mit Heterogenität, Differenz sowie Neuem und Überraschendem rechnet. Diese beiden offenkundig i"edllzibien Prinzipien sollen nun nach Kants Vorschlag eine "Vereinigung" durch die "Kontinuität der Formen" erfahren. Wenn ich vorhin sagte, Kants theoretischer Slalom zwischen "objektiver" und (bloß) "subjektiver Gültigkeit" der Vernunftprinzipien sei aufschlußreich, so bestätigt sich das nicht zuletzt an seiner Qualifizierung dieser drei Prinzipien. "( ... ) man sieht es ihnen deutlich an, daß sie die Sparsamkeit der Grundursachen, die Mannigfaltigkeit der Wirkungen, und eine daherrührende VelWandtschaft der Glieder der Natur an sich selbst für vernunftmäßig und der Natur angemessen urteilen, und diese Grundsätze also direkt lind nicht bloß als Handgriffe der Methode ihre Empfehlung bei sich führen" (B 689)'lobj.J

589 Popper, a.a.O., 11. 590 S.u., Kap. 4. 591 S.o., Kap. 2.5.1.

25 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

211

So weit, so gut. Freilich ist das durch den "Widerstreit" der beiden Prinzipien gestellte Problem damit, wie im Lichte des "indefiniten" Progreß regulativer Prinzipien auch nicht anders zu erwarten, keineswegs gelöst. Angesichts des Folgenden bilden Kants Ausführungen im Anschluß an die logischen Gesetze der "Gattungen", der "Arten" und der "Verwandtschaft" (zwischen diesen beiden) nun viel mehr als bloß die Herausarbeitung eines bestimmten methodologischen Aspekts der Vernunfttätigkeit[subj.J' was insofern nur ein Abschnitt des angesprochenen "Slaloms" unter anderen wäre. (Ich sehe keinen Widerspruch darin, daß einzelne dieser drei Prinzipien, wie ich soeben zeigte, intern, also nach Maßgabe ihres Binnenverhältnisses, einen objektivierenden Akzent zu setzen versuchen und gleichzeitig insgesamt einen stärker subjektiv-methodologischen Aspekt zur Geltung bringen.) Hinsichtlich der genannten drei Prinzipien ist nämlich etwas "merkwürdig", und dies ist es, was "uns auch al/ein beschäftigt" (B 691, Hervorhebung D.K.). Offenkundig waren wir bislang nur mit einem Teilaspekt der Problematik befaßt, denn in der Tat gilt hinsichtlich dessen, was hier "merkwürdig" und "allein" von Interesse ist, daß für Kant die eigentliche Pointe noch aussteht. Das Problem bei diesen Prinzipien besteht nach Kants Auffassung darin, "daß sie transzendental zu sein scheinen, und, ob sie gleich bloße Ideen zur Befolgung des empirischen Gebrauchs der Vernunft enthalten, denen der letztere nur gleichsam asymptotisch, d. i. bloß annähernd folgen kann, ohne sie jemals zu erreichen, sie gleichwohl, als synthetische Sätze apriori, objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben, und zur Regel möglicher Erfahrung dienen ( ... )" (ebd., HelVorhebung D.K.).[obj.j

Damit ist ein neues theoretisches Niveau erreicht. Früher versicherte Kant, nur der Verstand befasse sich mit "wirklichen" Gegenständen, also solchen einer möglichen Erfahrung, ein Vernunftprinzip wie das der "Gattungen" hingegen sei "bloß ein subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes, durch Vergleichung seiner Begriffe, den allgemeinen Gebrauch derselben auf die kleinstmögliche Zahl derselben zu bringen, ohne daß man deswegen von den Gegenständen selbst eine solche Einhelligkeit, die der Gemächlichkeit und Ausbreitung unseres Verstandes Vorschub tue, zu fordern, und jener Maxime zugleich objektive Gültigkeit zu geben, berechtigt wäre." (B 362f., HelVorhebungen D.K)592

Im Gegensatz zu den mit solchen Bemerkungen verbundenen Suggestionen erlangt die Vernunft jetzt "objektive", wenn auch "unbestimmte Gültigkeit". Mit diesen Formulierungen erreichen wir die letzte und gewissermaßen "höchste" Stufe von Kants Versuch, den aufgezeigten, buchstäblichen Zielkonjlikt der Erkenntnis zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit aufzulö592 Vgl. "die transzendentale (subjektive) Realität der reinen Vernunftbegriffe" (B 397). 14'

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sen. Wie sieht diese auf den letzten rund 40 Seiten der "Transzendentalen Elementarlehre" entwickelte Lösung im einzelnen aus, worauf kommt es auf dieser letzten und insofern entscheidenden Stufe von Kants Problemdiskussion an? Und vor allem: Kann sie überzeugen, oder führt sie lediglich dazu, die von Bolzano so genannten "Paradoxien des Unendlichen"593 zu reproduzieren? Ich weise zuallererst darauf hin, daß die unmittelbare Fortsetzung der zuletzt zitierten Stelle aus dem "Anhang" das Musterbeispiel für die von mir analysierte "chiastische", regulativ-konstitutive Doppelstruktur der Kantsehen Erkenntniskritik darstellt. Die Stelle fährt fort, daß die Vernunftprinzipien "auch wirklich in Bearbeitung derselben [Erfahrung, D.K.), als heuristische Grundsätze, mit gutem Glücke gebraucht werden, ohne daß man doch eine transzendentale Deduktion derselben zustande bringen kann, welches, wie oben bewiesen worden, in Ansehung der Ideen jederzeit unmöglich ist" (B 69lf., Hervorhebung D.K.)'[subj.) Auf Kants Behauptung, die Vernunft prinzipien hätten "objektive, aber unbestimmte GÜltigkeit"[Obj.j (B 691), folgt also unmittelbar die Zurückweisung der Möglichkeit ihrer "transzendentalen Deduktion"[subj.]. Offenbar erschienen Kant aber auch die mit dieser "Detranszendentalisierung" verbundenen deobjektivierenden Konsequenzen ergänzungsbedürftig. Die wiederum direkt anschließende Passage verstärkt nämlich sofort wieder die "Gegenständlichkeit" der Vernunftprinzipien. Es handelt sich hierbei m.E. um eine SchlüsselsteIle für das Verständnis der gesamten KrV, denn sie wird eingeleitet durch eine für die "Transzendentale Dialektik" in dieser Form einmalige (und durch Kant-Interpretationen wie die von Bennett und Strawson völlig unerklärliche594) Anknüpfung an die "Analogien der Erfahrung". Diese Einleitung wartet auf mit einem ebenso überraschenden wie erklärungsbedürftigen Kommentar zu diesem Kapitel von Kants Verstandestheoneo "Wir haben in der transzendentalen Analytik unter den Grundsätzen des Verstandes die als bloß regulativen Prinzipien der Anschauullg, von den mathematischen, die in Ansehung der letzteren konstitutiv sind, unterschieden. Diesem ungeachtet sind gedachte dynamische Gesetze allerdings konstitutiv [sic!) in Ansehung der Erfahrung, indem sie die Begriffe, ohne welche keine Erfahrung stattfindet, apriori möglich machen."[Obj.] (B 692) dynamischen,

593 Vgl. Bolzano. 594 Und zwar ist diese Anknüpfung für die genannten Kommentare ebenso unerklärlich wie die Einführullg der Unterscheidung zwischen "konstitutiven" und "regulativen Prinzipien" in B 221f. (s.o.).

25 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

213

Ich sehe in diesen Sätzen einen stupenden Beleg für die in dieser Arbeit entwickelte Interpretation der KrV. Da ich mit Popper der Meinung bin, daß sich der Wert einer Theorie (zwar nicht einzig, aber wesentlich) an ihrer "FalsifIzierbarkeit"595 bemißt, will ich meine Kant-Interpretation an dieser Stelle so angreifbar wie möglich machen. Ich behaupte, daß jeder Versuch einer Interpretation der KrV den dort verhandelten objektiven Problemgehalt so lange unangemessen rekonstruiert (bzw. verfehlt), wie er die für deren "Architektonik" tiefgreifende Unterscheidung zwischen "regulativen" und "konstitutiven" Prinzipien nicht aus der Inanspruchnahme dieser Unterscheidung an den systematisch entscheidenden GelenksteIlen der KrV zusammenhängend rekonstruieren kann. Im Gelingen oder Mißlingen dieser Rekonstruktion besteht in dem Maße ein Kriterium für das rationale Niveau einer Theorie, in dem sie sich auf Kantische Denkmittel beruft und von ihnen Gebrauch macht. Es geht also darum, sämtliche Stellen, an denen von dieser den theoretischen Ausgangs- wie Endpunkt596 der KrV markierenden Terminologie Gebrauch gemacht wird, in einen hermeneutisch plausiblen, nach Möglichkeit zwingenden Zusammenhang bringen zu können. Das heißt nicht zuletzt, daß Stellen wie die vorliegende nicht "ignoriert" oder in ihrem Gehalt "relativiert" werden dürfen597, sondern hartnäckig nach ihrem Sinn innerhalb ihres systematischen Zusammenhangs befragt werden müssen. Mein Vorschlag in diesem Zusammenhang lautet, daß Kants idealtypische Konfrontation von "konstitutiven" und "regulativen Prinzipien" letztlich auf Kosten einer realistischen Interpretation des Verhältnisses zwischen regulativen Allgemeinbegriffen (wie etwa "Vollständigkeit der Erfahrung") und der (insofern tendenziell nominalistisch) "konstituierten" Erfahrung selbst geht. Weil Kant gleichzeitig die hiermit verbundenen Inkonsistenzen "architektonisch" aufzufangen suchte, liest sich die KrV letztlich als eine sukzessive Zurücknahme und Entschränkung dieses realistisch unhaltbaren Dualismus. Das führt schließlich noch auf Seite B 692 zu der im Sinne des hier behaupteten "Chiasmus" gegenläufIgen und andernfalls völlig unverständlichen konstitutionstheoretischen Aufladung vormals und "offIziell" bloß 595

Vgl. Popper, Logik der Forschung, 73.

596 Wenn

auch die "konstitutiven Prinzipien" nicht auf Seite 1 der KrV eingeführt werden, lediglich die Einführung der "regulativen Prinzipien" auf der letzten Seite (der "Transzendentalen Elementarlehre") abgeschlossen wird, so legt doch der immanente theoretische Stellenwert dieser Unterscheidung nahe, die erstgenannten als die "konstitutionstheoretische" Basis und gewissermaßen das Startkapital der Erkenntnistheorie zu bezeichnen, das anschließend regulativ "vervollständigt" wird. Im Anschluß an eine gelungene Formulierung Heisenbergs ließe sich sagen, daß die Vemunfttheorie die "Konstitutionstheorie" der Erfahrung regulativ "de-finiert" (vgl. Heisenberg, Physik und Philosophie, 78,139 u.ö.).

597 S.o., Kap. 2.4.

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2 Kant und die Einheit der Vernunft

regulativer "Grundsätze". Um den sich hier zur Geltung bringenden realistischen Impuls mit seinen tendenziell nominalistischen Prämissen in Einklang zu bringen, differenziert Kant an der zitierten Stelle zwischen "anschauungs" und "erfahrungskonstitutiv". Abgesehen davon jedoch, daß allein dadurch der hier vorgetragene Interpretationsvorschlag zur Kr V keineswegs hinfällig würde, führt die Art und Weise, in der Kant diese QualifIkation vornimmt, nachgerade zu einer verschärfenden Bestätigung der These von der chiastischen regulativ-konstitutiven Doppelstruktur der KrV. Wenn Kant nämlich sagt, die "dynamischen" Grundsätze des reinen Verstandes seien "konstitutiv in Ansehung der Erfahrung, indem sie die Begriffe [sic!], ohne weIche keine Erfahrung stattfindet, apriori möglich machen" (B 692),

so besteht darin nicht der geringste theoretische Gewinn. Die "dynamischen" Grundsätze explizierten ja gerade die begrifflichen Dimensionen der "Schematen". Darin bestand ihr wesentlicher Unterschied gegenüber den anschauungsbezogenen "mathematischen" Grundsätzen, daß sie im Gegensatz zu diesen nicht "einer intuitiven", sondern "einer bloß diskursiven, obzwar beiderseits einer völligen Gewißheit fähig sind" (B 201, Hervorhebung D.K.). Als auf Begriffe bezogen, "ohne welche keine Erfahrung stattfmdet" (B 692), waren sie - regulativ. Das heißt jetzt: Sie sind - in ein und derselben begrifflichen ("diskursiven") Hinsicht - regulativ und konstitutiv!598 Darüber hinaus ist es auffallend, daß Kant erst jetzt auf den systematisch äußerst bedeutsamen Umstand zu sprechen kommt, daß die regulativen Grundsätze des Verstandes auch, nämlich "in Ansehung der Erfahrung", konstitutiv sind. Durch den Kontext jedenfalls, in den Kant diese Ergänzung zu (respektive Korrektur an) den Ausführungen des Analogienkapitels einbettet, entwirft er selbst das Bild einer zwischen einer (abstrakten) konstitutiven Ausgangsbasis und ihrem (ebenso absrakten) regulativen Endpunkt geradezu eingespannten Erkenntnistätigkeit. Deren Feinstruktur entsteht nach Auskunft der zitierten Ergänzung zum Analogienkapitel und der nun folgenden, daran anschließenden Stelle ersichtlich durch mehr oder weniger 598 Als Beispiel für Kants gewissermaßen "überarchitektonische" tendenzielle Konfusion seiner Begriffe vgl. die Anwendung der hier relevanten Unterscheidungen auf die Systematik der Antinomienlehre: "Es ist hier nicht um die unbedingte Kausalität, sondern die unbedingte Existenz der Substanz selbst zu tun. Also ist die Reihe, weIche wir vor uns haben, eigentlich nur die von Begriffen, und nicht von Anschauungen, insofern die eine die Bedingung der anderen ist." (B 587) Man beachte darüber hinaus die Unvereinbarkeit der "begrifflichen" Erfahrungskonstitution der dynamischen Grundsätze mit der Tatsache, daß die zu ihnen zählenden "Postulate des empirischen Denkens überhaupt" gleichwohl "die Synthesis der bloßen Anschauung (der Form der Erscheinung), der Wahrnehmung (der Materie derselben), und der Erfahrung (des Verhältnisses dieser Wahrnehmungen) zusammen betreffen" (B 223, Hervorhebung D.K.) sollen.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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"konstitutive" respektive "regulative" Elemente innerhalb dieses konstitutivregulativen Kontinuums. "Prinzipien der reinen Vernunft können dagegen nicht einmal in Ansehung der empirischen Begriffe konstitutiv sein, weil ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann, und sie also keinen Gegenstand in konkreto haben können. Wenn ich nun von einem solchen empirischen Gebrauch derselben, als konstitutiver Grundsätze, abgehe, wie will ich ihnen dennoch einen regulativen Gebrauch, und mit demselben einige objektive Gültigkeit sichern, und was kann derselbe für Bedeutung haben?"(B 692, Hervorhebung D.K.)

An dieser Stelle ist über das bisher Gesagte hinaus von Bedeutung, daß sie zum einen noch einmal die Kants Terminologie und Systematik innewohnende Tendenz verdeutlicht, "konstitutiv" mit "objektiv" und "regulativ" mit "subjektiv" gleichzusetzen.599 Zum andern wird das Problem einer RestObjektivität regulativer Vernunftbegriffe nun explizit in Beziehung gesetzt zu den "Schematen" der Sinnlichkeit. Die Schwierigkeit besteht ja darin, die Vernunftbegriffe nicht "bestimmen" zu können, da sie über "kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit" verfügen. Die Frage nach der Bestimmtheit der Vernunftbegriffe und einem möglichen Schema ihres "objektiv gültigen" Gebrauchs steckt daher den Rahmen ab für die Schlußbestimmungen der "Transzendentalen Elementarlehre". Für Kants Antwort hierauf ist nun wiederum die Anknüpfung an den Analogie-Begriff charakteristisch und wegweisend. Ausgangspunkt hierfür ist die schon früher eingeführte vorentscheidende Prämisse, daß "für die durchgängige systematische Einheit aller Verstandesbegriffe kein Schema in der Anschauung ausfindig gemacht werden kann"[subj.) (B 693).

Mit anderen Worten: "Vollständigkeit" der Erfahrung ist (für uns) unerfahrbar. Dessen ungeachtet fährt Kant an der gleichen Stelle fort, obwohl kein solches Schema verfügbar sei, "kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schema gegeben werden, welches die Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip ist" (ebd.).

Diese Folgerung Kants klingt vorderhand willkürlich, da zunächst nicht zu sehen ist, worauf sie sich stützen könnte. Zur Beurteilung der Triftigkeit des einzigen Grundes, den Kant in diesem Zusammenhang anführt, ist die Vergegenwärtigung des systematischen Problems "Bestimmung" qua Schematismus entscheidend. Bedenkt man, daß nach Kants eigenen Darlegungen selbst "die Verstandeshandlungen ( ... ) ohne Schemate der Sinnlichkeit ( ... ) 599 Auch so gesehen treffen alle oben gemachten Einwände gegen Kants "Objektivitätsbegriff" der "Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" selbstredend auch seine Konstitutionstheorie der Erfahrung.

216

2 Kant und die Einheit der Vernunft

unbestimmt (sind)" (B 692), so erscheint seine nun folgende Begründung als simpler Taschenspielertrick. "Denn das Größeste und absolut Vollständige läßt sich bestimmt gedenken, weil alle restringierenden Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen werden." (B 693, HelVorhebungen D.K)

Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, inwiefern Kants unbeholfene Ausdrucksweise ("das Größeste", "bestimmt gedenken"600) aus seiner Unsicherheit in der Sache resultierte. Tatsache ist, daß Kant hier auf den Umstand Bezug nimmt, daß die "Schematen" die Verstandesbegriffe nicht nur "realisieren", sondern - durch die "Einschränkung" auf "sinnliche" Bedingungen - zugleich "restringieren" (vgl. B 185-87). Er knüpft hier aber in verfälschender Weise an seine früheren Ausführungen an. Durch die attributive Verwendung von "unbestimmt" für "Mannigfaltigkeit" entsteht der - irreführende - Eindruck, als sei diese Zusammensetzung gewissermaßen kanonisch für die Schematismuslehre. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, da die Mannigfaltigkeit lediglich mit "bestimmbar" adäquat bezeichnet ist.601 Ob sie "bestimmt" wird oder "unbestimmt" bleibt, ist Sache des erkennenden Subjekts. Wen diese Argumentation noch nicht überzeugt, der sei auf den sie unterstreichenden Sachverhalt hingewiesen, daß die Behauptung, es gebe "restringierende Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben", a fortiori unvereinbar ist mit den Ausführungen des Schematismus-Kapitels. Sofern und sobald "restringierende Bedingungen" vorliegen, ist (nach B 185ff.) eine Schematisierung bereits erfolgt. Indem diese die Kategorie "realisiert", gibt sie ihr auch (allererst) "bestimmten" "Sinn und Bedeutung". Ergo widerspricht die Rede von "restringierenden Bedingungen", die "unbestimmte Mannigfaltigkeit geben", Kants eigenen Ausführungen, die diesem Satz gerade zugrundeliegen sollen. Der Widerspruch läßt sich, fast möchte man sagen, nach Belieben verschärfen. Die Stelle, auf die Kant nicht nur rückblickend vom Ende der "Transzendentalen Dialektik" her Bezug nimmt, die vielmehr selbst auf das "Einheits"-Problem der Vernunft vorausdeutet, lautet: "Wenn wir nun eine restringierende Bedingung weglassen, so amplifizieren wir, wie es SCheint, den vorher eingeschränkten Begriff; so sollten die Kategorien in ihrer reinen Bedeutung, ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit, von Dingen überhaupt gelten, wie sie sind, anstalt, daß ihre Schemate sie nur vorstellen, wie sie erscheinen, jene also eine von

600 Beachte

"denken".

auch Valentiners Verbesserungsvorschlag für diese Fügung mit Hilfe von

601 Im Gegensatz zur Vernunft: diese "ist bestimmend, aber nicht bestimmbar" (B 584; vgl. B 600 Fn.). Vgl. auch die obigen Ausführungen zum "Grundsatz der durchgängigen Bestimmung" (s.o., Kap. 2.5.1).

25 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

217

allen Schematen unabhängige und viel weiter erstreckte Bedeutung haben. In der Tat bleibt den reinen Verstandesbegriffen allerdings, auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingung, eine, aber nur logische Bedeutung der bloßen Einheit der Vorstellungen, denen aber kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Objekt abgeben könnte. So würde z.B. Substanz, wenn man die sinnliche Bestimmung der Beharrlichkeit wegließe, nichts weiter als ein Etwas bedeuten, das als Subjekt (ohne ein Prädikat von etwas anderem zu sein) gedacht werden kann. Aus dieser Vorstellung kann ich nun nichts machen, indem sie mir gar nicht anzeigt, welche Bestimmungen das Ding hat, welches als ein solches erstes Subjekt gelten soll. Also sind die Kategorien, ohne Schemate, nur Funktionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert." (B 186f., letzte beide Hervorhebungen D.K)

Ersichtlich ist für diese paradigmatische Einführung der Schematismuslehre u.a. der Gedanke ausschlaggebend, daß das Weglassen der "sinnlichen Bestimmung" ein bloßes "Etwas" übrigläßt. Dieses ist damit in der Tat "unbestimmt"; aber dieses "Etwas" ist nicht das Mannigfaltige (der "Erscheinungen" oder "Anschauung": vgl. B 34, 105f., BOff., 235 u.ö.), da wir dieses ja gerade nur durch die Sinnlichkeit - "gegeben" - bekommen. Aus dem soeben Gesagten folgt mithin, daß auch Kants Versuch, "das Größeste und absolut Vollständige" zu etablieren, das sich "gänzlich" vom Erfahrbaren "trennt", aus den gleichen Gründen wie die anderen im Umkreis des "Gottesbegriffs" erwogenen "Ideen", für die ein "transzendenter" Status reklamiert wurde, scheitert. All das läßt sich eben nur "gedenken", bleibt damit aber "unbestimmt", weshalb Kants Versuch, "bestimmtes" Denken gegen "unbestimmte Mannigfaltigkeit" auszuspielen, seine eigenen kritischen Standards verletzt. Stellen wir aber dieses Problem ruhig noch einen Moment zurück und verfolgen zunächst Kants weitere Vorgehensweise. Auf Grund der zitierten Wendung sei also "die Idee der Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit" (B 693). Sofort findet sich ein weiterer Beleg für die erwähnten Schwierigkeiten Kants in diesem "Grenzgebiet" zwischen der "endlichen" Erfahrungskonstitution und ihrer regulativen Vollständigkeit. Es geht um den "Unterschied" zwischen einem (Verstandes-) Schema und einem solchen "Analogon" von einem Schema. Er bestehe darin, "daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft nicht ebenso eine Erkenntnis des Gegenstandes selbst ist (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnlichen Schemate), sondern nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs· (ebd.).

Schaut man sich das Satzgefüge genau an, dann sagt die Stelle u.a., "daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft ( ... )

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nur eine Regel oder Prinzip ( ... ist)". Also wäre eme "Anwendung" eine "Regel" ... ?! Wie auch immer: Um wieder zu den aussagefähigeren Überlegungen Kants zu gelangen, wenden wir uns jetzt seiner Zusammenfassung dieser Diskussion zu, bevor er im zweiten Teil des "Anhangs" auf eine mögliche "Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" zu sprechen kommt. Wenn auch das Verhältnis zwischen "Anwendung" und "Regel" im einzelnen nicht immer ganz klar zu sein scheint, faßt Kant den Ertrag der bisherigen Überlegungen immerhin folgendermaßen zusammen. "Da nun jeder Grundsatz, der dem Verstande durchgängige Einheit seines Gebrauchs a priori festsetzt, auch, obzwar nur indirekt, von dem Gegenstande der Erfahrung gilt: so werden die Grundsätze der reinen Vernunft auch in Ansehung dieses letzteren objektive Realität haben, allein nicht um etwas an ihnen zu bestimmen [sie!], sondern nur um das Verfahren anzuzeigen, nach welchem der empirische und bestimmte Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden kann, dadurch, daß er mit dem Prinzip der durchgängigen Einheit, soviel als möglich, in Zusammenhang gebracht, und davon abgeleitet wird." (B 693f., Hervorhebung D.K.)

Hier kommt nun endlich ein weiterführendes Moment ins Spiel, das überdies von nicht geringer Bedeutung für das Verständnis nach-Kantischer Erkenntnistheorien ist, die das kritische Erbe des Kantschen Ansatzes zu bewahren suchen, ohne sich in die (z.T.) aufgezeigten Fallstricke der verschiedenen Dualismen Kants zu verwickeln. (Ich denke hier vor allem an die Kant-Interpetation von eh. S. Peirce. Ähnliches konnten wir bei der Beschäftigung mit Strawson feststellen.) Das letzte Zitat umkreist den entscheidenden Punkt von Erkenntnis, der darin besteht, die Realität der für jede Erkenntnis in Anspruch genommenen Allgemeinbegriffe angemessen zu explizieren. Kant sagt mittlerweile, daß die Vernunftprinzipien sogar hinsichtlich des "Gegenstande[s] der Erfahrung ( ... ) objektive Realität haben" (B 693, Hervorhebung D.K.). Wie noch zu sehen sein wird, teilt Peirce diese Auffassung. Kant beeilt sich jedoch hinzuzufügen, daß die "Ideen" dadurch nichts "bestimmen". Sie richten sich, und darin besteht der neue Gedanke, lediglich auf das "Verfahren" (vgl. auch B 724 Fn.), gleichsam die Vervollständigung der Erkenntnis. Meines Erachtens eröffnet Kant mit dieser Inbeziehungsetzung von Objektivität und Verfahren die entscheidende Problemperspektive, an der sich dann auch gewissermaßen die Geister scheiden. Kant hat diese Frage auf den Plan gesetzt, und sie wird in der unterschiedlichsten Weise beantwortet: durch tendenziell unhistorische (oder "historizistische") "Überbestimmung" bei Hegel, sofern die Idee bereits uneingeschränkt "existiere", oder durch eine z.T. sogar Kant-immanent, aber vor allem sinnkritisch inkonsistente Unterbestimmung, indem die Gültigkeit der Vernunftbegriffe auf die von heuristisch-methodologischen Prinzipien reduziert wird (Strawson, Walker). Dazwischen liegen pragmatistische Ansätze wie der von Peirce, das Verhältnis zwischen Objektivität und Ver-

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fahren realistisch zu interpretieren, oder auch die Sprechakttheorie von Austin und Searle, indem sie den Nachweis zu führen sucht, daß die mit sprachlichen Mitteln erreichten Sprechaktvereinbarungen zu Veränderungen in der (gemeinsamen) objektiven Welt der Kommunikationsteilnehmer führen.602 Im abschließenden Teil dieser Arbeit wird deshalb der Frage nachgegangen, in welcher Weise die sich in erheblichem Umfang auf sprachpragmatische Annahmen stützende "Diskurstheorie" von Apel und Habermas angesichts der gleichzeitigen "Prozeduralität" des Diskursprinzips möglicherweise eine ausgezeichnete Antwort auf die von Kant aufgeworfene Frage liefert. Hinsichtlich unserer immanenten Kant-Rekonstruktion ist zu der in Rede stehenden Stelle noch zu bemerken, daß sie eine nicht unwesentliche Bemerkung zur Binnenstruktur der KrV enthält. Die "indirekte" Gültigkeit der Vernunftprinzipien für die Gegenstände ist keineswegs exklusiv. Gleiches gilt, wie bereits früher angemerkt, selbstverständlich auch für die "Kategorien" des Verstandes. Auch sie beziehen sich indirekt auf die Gegenstände, insofern dieser sich auf die "Sinnlichkeit" bezieht.603 So gesehen nimmt Kant eine mehrfache Schachtelung in der Bezugnahme der Vernunft auf Gegenstände vor. Strenggenommen bezieht sich einzig die Sinnlichkeit direkt auf Gegenstände. Vor diesem Hintergrund ist die offenkundig als ergänzende Anmerkung zu der gewissermaßen "unbestimmten Verfahrensobjektivität" der Vernunftbegriffe gedachte Bemerkung des folgenden Absatzes zu sehen, in der sich zugleich die Grenze des Kantschen Ansatzes manifestiert. "Ich nenne alle subjektiven Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft, in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts, hergenommen sind, Maximen der Vernunft. So gibt es Maximen der spekulativen Vernunft, die lediglich auf dem spekulativen Interesse beruhen, ob es zwar scheinen mag, sie wären objektive Prinzipien." (B 694)[subj.)

Ich denke, eine weitere Kommentierung dieser im Subjekt-ObjektSchema gefangenen Überlegungen erübrigt sich inzwischen.

602 Vgl. J.L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972; J.R Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M. 1971; zur Frage der Reichweite dieses Ansatzes vgl. D. Köveker, "Zur Kategorisierbarkeit »verdeckt« und »offen strategischen Sprachgebrauchs«. Das Parasitismus-Argument von Jürgen Habermas", Journal for General Philosophy of Science 23 (1992), 289-311. 603 "Der Verstand macht für die Vernunft ebenso einen Gegenstand aus, als die Sinnlichkeit für den Verstand." (B 692)

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2.5.2.2 "Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" (B 697-732) Wir gelangen also zum zweiten der beiden Teile des "Anhangs" zur "Transzendentalen Dialektik", überschrieben "Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" (B 697ff.). Wie bereits erwähnt, sehen wir uns nun buchstäblich Kants Schlußbestimmungen zum theoretischen Hauptteil seiner Theorie der Erkenntnis gegenüber, denen er nun ein möglichst "einheit"liches Bild zu geben versucht. Er beginnt mit einer interessanten Bemerkung zur "Quelle" der transzendentalen Dialektik. "Die Ideen der reinen Vernunft können nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr bloßer Mißbrauch muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trüglichcr Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten. Vermutlich werden sie also ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft haben." (B 697)

Diese Stelle gibt erneut Anlaß zur Verwunderung darüber, in welchem Umfang Kant trotz seines großen Problembewußtseins im ganzen sich im einzelnen immer wieder dem Vorwurf aussetzt, seine Ausführungen seien "full of mistakes and inadequacieso604 • Wenn Kant hier sagt, der "bloße Mißbrauch" der Ideen rufe ihren "trüglichen Schein" hervor, so knüpft er damit offensichtlich an den Gedanken an, daß "alle Fehler der Subreption ( ... ) jederzeit einem Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstande oder der Vernunft zuzuschreiben (sind)" (8671).605

Diese für die "späten" Ausführungen der "Transzendentalen Dialektik" charakteristische Auffassung ist zumindest insofern inadäquat, als sie frühere einschlägige Bestimmungen anscheinend völlig vergessen hat. Der für einen Vergleich heranzuziehenden Vorbemerkung zur "Analytik der Grundsätze" (B 169-171) sowie - vor allem - dem Abschnitt "Vom transzendentalen Schein" (B 349-355) liegt nämlich eine völlig andere Auffassung zugrunde. In jener heißt es etwa schlicht: "Verstand und Urteilskraft haben demnach ihren Kanon des objektiv gültigen, mithin wahren Gebrauchs, in der transzendentalen Logik, und gehören also in ihren analytischen Teil. Allein [sic!] Vernunft in ihren Versuchen, über Gegenstände apriori etwas auszumachen, und das Erkenntnis über die Grenzen möglicher Erfahrung zu erweitern, ist ganz

604 Bennett, Kant's Dialectic, VIII. 605 Vgl. auch 8 708 u.ö.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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und gar dialektisch, und ihre Scheinbehauptungen schicken sich durchaus nicht in einen Kanon, dergleichen doch die Analytik enthalten soll." (B 170f.)

Nun werden auch hier die Anwälte Kants und die Verfechter größtmöglicher Konsistenz seines Hauptwerks (mit vollem hermeneutischen Recht) versuchen, die angesprochene Unvereinbarkeit als einen Scheinwiderspruch zu rekonstruieren. Denkbar sind etwa Emendationen von der Art, daß die "Analytik" die einzelnen Vernunftvermögen ja nur in gewissermaßen idealtypischer Abstraktion und insofern künstlich isoliert. Im Gebrauch der Vernunft wirken sie hingegen zusammen. Es könnte also (zutreffend) daran erinnert werden, Urteilskraft werde benötigt, damit die Vernunft überhaupt, wenn auch hier irrtümlicherweise, (empirische) Fälle unter ihren Begriff "subsumieren" kann: "( ...) der Vernunftschluß selbst ist ein Urteil" (B 378).606 Eine ähnliche Konjektur bestünde in dem Hinweis, Kants Formulierung, nur Vernunft sei "ganz und gar [siel] dialektisch" (B 171), wolle zum Ausdruck bringen, daß sie gewissermaßen die Dialektik anführe. Ausgangspunkt unserer Überlegung war jedoch nicht die Frage danach, wer an Irrtum und Schein in welchem Umfang beteiligt sei, sondern woraus sie entspringen. Wie nun die schon zitierte Stelle aus der "Analytik der Grundsätze" und besonders die Ausführungen zum Anfang der "Transzendentalen Dialektik" belegen, ist für diesen Teil der KrV die Auffassung paradigmatisch, daß die Vernunft sui generis den "transzendentalen Schein" produziert.607 Wir haben es deshalb auch nicht etwa mit dem "empirischen" Schein zu tun, "der sich bei dem empirischen Gebrauche sonst richtiger Verstandesregeln vorfindet, und durch welchen die Urteilskraft, durch den Einfluß der Einbildung verleitet wird, sondern wir haben es mit dem transzendentalen Scheine allein zu tun, der auf Grundsätze einnießt, deren Gebrauch nicht einmal auf Erfahrung angelegt ist, als in welchem Falle wir doch wenig;;tens einen Probierstein ihrer Richtigkeit haben würden, sondern der uns selbst, wider alle Warnungen der Kritik, gänzlich über den empirischen Gebrauch der Kategorien wegführt und uns mit dem Blendwerke einer Erweiterung des reinen Verstandes hinhält" (B 35lf.).

Für diesen "transzendentalen Schein" ist nach Auskunft dieser Passagen kennzeichnend, daß Kant darunter "nicht den transzendentalen Gebrauch oder Mißbrauch der Kategorien (versteht), welcher ein bloßer Fehler der nicht gehörig durch Kritik gezügelten Urteilskraft ist, die auf die Grenze des Bodens, worauf allein dem reinen Verstande sein Spiel erlaubt ist, nicht

606 "Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum,

mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren, nur im Urteile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Verstande anzutreffen." (B 350) Wie freilich der Kontext des Zitats aus B 378 belegt, soll es lediglich sagen, der "Vernunftschluß" habe qua conclusio die Fonn eines "Urteils".

607 Vgl. B 354; ferner AA IV (Prolegomena), 332.

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genug achthat; sondern wirkliche Grundsätze, die uns zumuten, alle jene Grenzpfähle niederzureißen und sich einen ganz neuen Boden, der überall keine Demarkation erkennt, anzumaßen" (B 352, erste Hervorhebung D.K.). Überdies hatten wir in unserer Analyse der Domäne der Vernunft, des Schließens, festgestellt,60S daß schon vor dem Hintergrund logischer Bedingungen die "transzendentale Illusion" wesentlich als Ergebnis eines Fehlschlusses - und nicht eines Fehlurteils - zustande kommt.609 Ich fasse daher zusammen: Es ist zumindest unausgemacht, worin der Ursprung jener "natürlichen und unvermeidlichen Illusion" (B 354) besteht. Genau besehen scheint es so, daß der Segen (die Befreiung von den virtuell deterministischen Restriktionen des Verstandes) und das Unheil der Vernunft (ihre illusionäre Kraft) gleichurspfÜnglich sind. 610 Ich glaube, der Zusammenhang dieses verblüffenden und doch schwer zu leugnenden Auffassungswandels innerhalb der KrV mit ihren anderen Konstruktionsproblemen, insbesondere mit den Inkonsistenzen der "Transzendentalen Analytik", ist inzwischen deutlich genug, um in ihm einen weiteren Beleg für die Unabgego/tenheit der Verstandesprobleme zu erkennen. Einen ganz anderen Gedanken, der jedoch nicht minder wichtig ist für unsere Fragestellung, leitet Kant im nun folgenden Absatz ein. Die Überlegung ist von nicht zu überschätzender Bedeutung für den Zusammenhang der gesamten Erkenntniskritik Kants, indem jetzt durch Anknüpfung an das Problem einer "Deduktion" - respektive "Anleitung" - der Vernunftbegriffe der "Transzendentalen Dialektik" diese eine theoretische Klammer erhält, die - wie zu sehen sein wird - durch die Verschränkung mit der Objektivitätsfrage die gesamte "Transzendentale Elementarlehre" zusammenhält und ihre Grundlagen - nicht zuletzt ihren "höchsten Punkt"611 - als nach wie vor ungeklärt offenbart. Wenige Seiten zuvor hatte Kant noch apodiktisch behauptet, daß man von Vernunftprinzipien keine "transzendentale Deduktion (... ) zustande bringen kann, welches, wie oben bewiesen worden, in Ansehung der Ideen jederzeit unmöglich ist"[subj.) (B 69lf.). 608 S.o., Kap. 2.1. 609 Vgl. auch B 364ff., 396ff. und 527ff. 610 Man bedenke den Zusammenhang mit dem Problem des "natürlichen" Ursprungs der Vernunfttäuschungen (s.o.). 611 Ich hatte ganz zu Anfang unserer Überlegungen die gewissermaßen unterirdischen Zusammenhänge zwischen den elementaren Begründungsfragen der "Transzendentalen Analytik" und denjenigen der "Transzendentalen Dialektik" betont. Lange scheinbar aus dem Blickfeld unserer Betrachtungen entschwunden, bringen sie sich jetzt umso vehementer zur Geltung.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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Jetzt heißt es dazu: "Man kann sich eines Begriffs apriori mit keiner Sicherheit bedienen, ohne seine transzendentale Deduktion zustande gebracht zu haben. Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben, und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchaus eine Deduktion derselben möglich sein, gesetzt, daß sie auch von derjenigen weit abwiche, die man mit den Kategorien vornehmen kann. Das ist die Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft, und dieses wollen wir jetzt übernehmen'"[obj.] (B 697f., Hervorhebungen - mit Ausnahme der lateinischen Ausdrücke - D.K)

Die Ergebnisse unserer bisherigen immanenten Kant-Rekonstruktion und der dabei offenbar gewordenen Schwierigkeiten verlangen nach einer deutlichen Sprache: Wir haben es hier mit einem glatten und durch nichts zu relativierenden Widerspruch zwischen zwei durch sechs Seiten Text und eine Kapitelüberschrift voneinander getrennten Stellen zu tun. Es ist zwar in der Kant-Literatur (und andernorts) gang und gäbe, durch vorgeblich Bedeutungsnuancen differenzierende Paraphrasen die Spannung zwischen sich widersprechenden Aussagen sogenannter "großer Denker" zu "relativieren"612 und diese durch ebenso gelehrte wie aufwendige Konstruktionen miteinander zu versöhnen. Wir sind inzwischen aber an einem Punkt unserer Interpretationsarbeit angelangt, wo sich die Ungereimtheiten und Fragwürdigkeiten in Kants Behandlung des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft derart häufen, daß hier ein grundsätzliches Problem zu sehen ist. Wie im vorigen bereits angeklungen, geht es aus meiner Sicht um die adäquate Verhältnis- oder Grenzbestimmung zwischen Objektivität und Verfahren. Weit entfernt, den Widerspruch abzuschwächen, findet er im folgenden sogar massive Bestätigung. Die "transzendentale Deduktion" der Vernunftbegriffe wird nun in expliziten Zusammenhang gebracht mit dem Problem ihrer möglichen "Schematisierung". Unter dieser Perspektive besteht der Unterschied zwischen Verstandes- und Vernunftbegriffen darin, daß erstere (vermittels des Schemas) dazu dienen, "den Gegenstand zu bestimmen" (B 698). Bei den Vernunftbegriffen hingegen entfällt gewissermaßen der Unterschied zwischen Schema und Begriff. Das ist, Kant-immanent, zumindest insofern konsequent, als das "transzendentale Schema" letzten Endes dazu diente, die "Vermittlung" zwischen Allgemeinbegriff (Kategorie) und einzelner Erscheinung herzustellen. 613 Dieses Problem entfällt insofern, als es nach Kant für Vernunftbegriffe (Ideen) keine "korrespondierende" 612 So Schönrich. 613 S.o., Kapitel 2.4.

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Erscheinung geben kann. Insofern ist seine Darstellung konsistent, eine Idee sei "wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vennittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen" (ebd., Hervorhebungen D.K).

Mit Hilfe dieser bereits eingeführten Rede von einem "analogen Schema" (vgl. B 693) versucht Kant jetzt zu verdeutlichen, worin die "objektive Gültigkeit" der Ideen besteht. Mit Blick auf den "Begriff einer höchsten Intelligenz" etwa bemerkt er, diese Idee sei "ein nach Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema, von dem Begriffe eines Dinges überhaupt, welches nur dazu dient, um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft zu erhalten" (B 698)

- und zwar, wie Kant mit einer hinsichtlich der herkömmlichen Auffassung von der Begründungsstruktur der KrV geradezu frappierenden Wendung hinzufügt, "indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee, als seinem Grunde, oder Ursache, ableitet [und nicht umgekehrt! D.K)" (ebd., Hervorhebungen D.K).

Angesichts der eklatanten Abweichung dieser Stelle von der herkömmlichen Lesart der Kantschen Gegenstandstheorie, wonach der "Gegenstand der Erfahrung" sich durch die Formen des Verstandes und der Anschauung (und ihnen gemäß614) "konstituiert", sei hier eigens darauf hingewiesen, daß eben dieser "Gegenstand der Erfahrung" sich "von dem eingebildeten Gegenstande der Idee" regulativ "ableitet" - sich also gewissermaßen regulativ konstituiert. Weil dieser Satz die Pointe der vorliegenden Kant-Interpretation gleichsam in nuce enthält, der Grad ihrer Abweichung von weitverbreiteten Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft heftige Bedenken hervorrufen dürfte, vor allem aber die in diesem Satz enthaltenen Fragestellungen die meines Erachtens entscheidenden und spannendsten sind, möchte ich zu ihm folgendes bemerken. Nach der herkömmlichen und in gewisser Weise, nämlich im Sinn der klassischen Physik, auch naheliegenden Lesart will der zuletzt zitierte Absatz (im Gegensatz zu meiner Interpretation) nur sagen, daß es - dermaleinst - "Gegenstände der Erfahrung" geben kann/wird, die zwar mit den existierenden Gegenständen "systematisch" zusammenhängen, aber jetzt noch nicht vorliegen. "Um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft 614 S.o. (Strawsons "weighty sense" von "object").

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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zu erhalten", müssen wir dieser (zukünftigen) "eingebildeten" Gegenstände "gedenken" und sie in diesem Sinn von der genannten "systematischen" Idee "ableiten". Mithin könne also keine Rede davon sein, daß man "wirkliche" Gegenstände "von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee ( ...) ableitet"; sie "regulativ konstituiert", wie ich sagte. Das Problem dieser "klassischen" Auffassung steckt in der Vorstellung, daß die "eingebildeten" Gegenstände der Zukunft mit den präsenten (und diese wiederum den vergangenen) "systematisch" zusammenhängen. Es ist sicher nicht ganz leicht, hier den entscheidenden Punkt zu fassen, aber von größter Wichtigkeit: Angesichts der genannten "systematischen" Nichtseparierbarkeit (sagen wir vereinfacht:) der Zukunft von der Gegenwart ist es unzulässig, konstitutive Prinzipien einer gleichsam versteinerten Erkenntnisvergangenheit von denjenigen einer noch "unbestimmten", sozusagen ätherischen Zukunft "gänzlich" zu "trennen". Wir sind zu dieser Ausdrucksweise berechtigt, weil die konstitutiven Prinzipien einer dem Anspruch nach "zeitlosen" Naturordnung (s.o.) in gewisser Weise nur die Prinzipien der bisherigen Ordnung darstellen. Welchen Sinn sollten ansonsten "regulative" Prinzipien haben, wenn doch schon alles "konstituiert" ist? "Tbe regulative principles are so very important because truth in the world of appearances is not determined just by the categories and the forms of intuition, but also by 'sensation'; the material given to us aposterion in sensible intuition. Being given to us aposterion, the character of this material cannot be determined entirely by the synthesising and analysing powers of our minds, thoufh we can only be consciously be aware of it after our minds have been to work on it...61 Zur zentralen Zeitform wird aus dieser Perspektive die gewissermaßen flüssige Gegenwart, denn in ihr "bestimmt" sich der reale systematische Zusammenhang zwischen "nicht mehr", "jetzt" und "noch nicht". Insofern treffen sich die immanenten Befunde unserer Kant -Rekonstruktion mit der von der Quantenphysik herausgearbeiteten Prominenz der Gegenwart für eine "Logik zeitlicher Aussagen".616 Vielleicht wird aus dieser Sicht besser verständlich, weshalb sich hinter der Abstraktheit der Unterscheidung zwischen gleichsam konstitutiver Ausgangsbasis und regulativem Endpunkt der "Transzendentalen Logik" die Tatsache verbirgt, daß sie sich zueinander wie Morgenstern zu Abendstern verhalten: sie sind identisch.617

615 Walker, ebd. 616 Vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 246f. (sh. auch u.). Zu den diskursiven Einlösungsbedingungen für diese Logik zeitlicher Aussagen vgl. a.a.O., 249. 617 Der für Cusanus' Denken zentrale Begriff einer "coincidentia oppositorum" (Cusanus, 16ff. passim) dürfte den frühen Versuch einer Lösung der hierdurch angesprochenen Probleme darstellen. 15 Köveker

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Erst jetzt, so Kant, ist das "kritische Geschäft" vollendet. Im Sinn der hier vertretenen Thesen zur systematischen Tiefenstruktur der KrV können wir uns dieser Einschätzung nur anschließen - und zwar unter der pointierenden Hinzufügung, daß sogar die "Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (im Sinn der Explikation ihrer internen Voraussetzungen) erst jetzt "vollendet" wird: indem auch die Vernunftbegriffe "transzendental deduziert" wurden.618 "Wenn man nun zeigen kann, daß, obgleich die dreierlei transzendentalen Ideen (psychologische, kosmologische, und theologische) direkt auf keinen ihnen korrespondierenden Gegenstand und dessen Bestimmung bezogen werden, dennoch alle Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf systematische Einheit führen und die Erfahrungserkenntnis jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein können: so ist es eine notwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren. Und dieses ist die transzendentale Deduktion [sic!] aller Ideen [sie!] der spekulativen Vernunft, nicht als konstitutiver Prinzipien der Erweiterung unserer Erkenntnis über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann, sondern als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt, welche dadurch in ihren eigenen Grenzen mehr angebaut und berichtigt wird, als es ohne solche Ideen durch den bloßen Gebrauch der Verstandesgrundsätze geschehen könnte." (B 699)

Man sieht es deutlich: Eines von beiden kann nicht stimmen - entweder die "offizielle" Lesart der Kantschen Erkenntniskritik oder diese und ähnliche Bemerkungen vom Ende der KrV.Wir sind damit zumindest am chronologisch "tiefsten" und letzten Punkt der Theoriearchitektonik Kants angelangt. Ersichtlich fangen hier die Probleme jedoch erst an. Wir sind nunmehr, an diesem Endpunkt unserer immanenten Kant-Rekonstruktion, imstande, aber auch gefordert, die damit vorliegende Theorie hartnäckig auf ihre letzten Voraussetzungen hin zu befragen. Ich sehe dabei zwei große Problemfelder, ein mehr Kantisches und ein allgemeines. 1.) Zunächst wäre zu klären, in welchem Verhältnis die letztgenannte "transzendentale Deduktion" zu derjenigen der "Verstandesbegriffe" steht. Die interne Logik der Erkenntniskritik zwingt Kant ja inzwischen zu Bemerkungen wie derjenigen, daß sich empirische Erfahrung genau besehen - zumindest auch - von den Ideen "ableitet". Das ist natürlich im Grunde eine Einsicht, auf die letztlich schon die interne Verfaßtheit des Verstandes hinwies. Denken wir die engere, nämlich konstitutionstheoretische Verstandestheorie konsequent zu Ende, so präsentiert sie sich uns - ich denke, diese 618 Insofern "schließt" sich erst jetzt der Kreis von Kants mit der "Transzendentalen Deduktion" der "reinen Anschauungsformen" und der "reinen Verstandesbegriffe" einsetzenden Begründung apriorischer "Formen der Erkenntnis".

2.5 Vemunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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nüchterne Ausdrucksweise wird durch die Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen unausweichlich - als eine in grundlegenden Hinsichten unhaltbare Theorie. Sofern es der Verstand "nur mit Gegenständen einer möglichen Erfahrung zu tun hat, deren Erkenntnis und Synthesisjederzeil bedingt ist" (B 365, Hervorhebung D.K.),

sofern ist er selbst im gegenstands- respektive konstitutionstheoretischen Determinismusgefangen. Zu dem von Strawson herausgearbeiteten "weighty sense" des Kantschen "Objekt"-begriffs gehört ja nicht zuletzt die Vorstellung eines lückenlosen "gesetzmäßigen Zusammenhangs"619. Die "Unbestimmtheitsrelation" des "Ich denke" hingegen, also dasjenige, was diese "ursprüngliche Apperzeption" (B 132) dazu qualifiziert, den Horizont der empirischen Apperzeption zu "transzendieren", ist auf dieser Ebene noch gar nicht ("vollständig") eingeführt, wird eben (z.T.) bloß vorausgesetzt. 620 Nach alleiniger Maßgabe der konstitutionstheoretischen Prämissen von Kants Verstandestheorie kann ihr Herzstück, die "synthetische Einheit der Apperzeption", überhaupt nicht widerspruchsfrei gedacht werden. Im Bereich des auf objektive theoretische Gesetzeszusammenhänge gerichteten Verstandes herrscht eine durchgängige kausale Detennination. Eingedenk dessen wäre das als "höchster Punkt" der Transzendentalphilsophie deduzierte "Ich denke" niemals in der Lage, dem Kausalnexus auch nur insofern reflexiv zu entrinnen, daß es den Begriff einer - zumindest in actu, als solche - nichtdeterminierten "Einheit der Apperzeption" und "Synthesis" des "Selbstbewußtseins" widerspruchsfrei bilden könnte. Dazu ist nämlich erforderlich, daß sich das Bewußtsein die Vorstellungen als "meine" Vorstellungen zuschreiben kann (B 132), was im strengen konstitutionstheoretischen Rahmen der Natur als "Dasein der Dinge, sofern es einen gesetzmäßigen Zusammenhang bildet", schlechterdings unmöglich ist; ganz zu schweigen von dem daraus folgenden Verstoß gegen die transzendentallogische Forderung, daß die Vorstellung des "Ich denke ( ...) von keiner weiter begleitet werden kann" (B 132).621 619 Im Sinn des "formalen" Naturbegriffs (s.o.); vgl. auch Buchdahl, 211. 620

Ich erinnere nur an die oben behandelte Auffassung Kants, die "Erfahrung" des Verstandes begrenze "sich nicht selbst" (AA IV (Prolegomena), 360), der aufgrund dieser "konstitutiven" Unvollständigkeit seiner Erkenntnisse "Dinge an sich selbst ( ... ) annehmen muß" (ebd., Hervorhebung D.K.). Diese und ähnliche notwendige "Annahmen" der Vernunft werden (erst) regulativ begründet.

621

Der Kontext, in dem dieses "kann" hier (vor allem im Zusammenhang mit dem voraufgehenden "muß begleiten können" (Hervorhebung D.K.» erscheint, zeigt meines Erachtens, daß es sich hierbei um die für die logischen Denk-"gesetze" charakteristische Legierung des faktischoo{}ntischen Nicht-anders-könnens mit dem normativ-deontischen Nicht-anders-

IS·

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Auch hieraus ergibt sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, daß der Verstand nicht selbstgenügsam sein kann. Nach Maßgabe der soeben angedeuteten "Antinomie" des "Ich denke" scheint schon für dessen transzendentale Deduktion ein "dialektisches" Moment von Freiheit unabdingbar.

2.) Im Zusammenhang von Kants "transzendentaler Deduktion" der Ideen offenbart sich ein Problem komplex, der einen gewissen Restdogmatismus seiner Erkenntniskritik betrifft. Aus Gründen der Übersichtlichkeit unterscheide ich (a) die Problematik selbst von (b) Kants Lösungsvorschlag. (a) Im Zusammenhang von Strawsons Kritik an Kants Unterscheidung zwischen "Ding an sich" und "Erscheinung" war deutlich geworden, daß die dem zugrundeliegenden Prämissen zu virtuell sinnlosen Aussagen führen. 622 (Auch Peirce spricht ja, wie noch zu sehen sein wird, davon, "Ding an sich" sei - sofern es als "unerkennbar" qualifiziert wird - "a meaningless word"623.) Dieser Sinnlosigkeit entsprach andererseits insofern ein dogmatischer Zug in der Rede vom "Ding an sich", als Kant damit u.a. die Behauptung aufstellte, dessen Unerkennbarkeit (insofern dogmatisch) "erkannt" zu haben. Jetzt sehen wir uns einem ganz ähnlichen Problem gegenüber. Wenn Kant behauptet, daß die "transzendentalen Ideen ( ... ) die Erfahrungserkenntnis jederzeit elWeitern, niemals aber derselben zuwider sein können" (B 699, Hervorhebung D.K.),

so fragt sich, ob wir es hierbei nicht mit ebenso dogmatischen Behauptungen zu tun haben. Da ihnen - wie dem "Ding an sich" - per definitionem "kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann" (B 383), sie also einer Überprüfbarkeit in der Erfahrung entzogen scheinen, besteht die Gefahr von gegenüber rationaler Kritik "immunisierten"624 Konzepten.6 25 Dabei sticht die eigenartige Unvereinbarkeit der transzendentalen Ideen mit dem bereits diskutierten "obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile" (B 193) ins Auge. Kant sagt am Ende des entsprechenden Abschnitts, "synthetische Urteile apriori" seien "möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung apriori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperzeption, auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis überhaupt beziehen, und sagen: die dürfens handelt. Das "kann" in dem Zitat liegt sozusagen "gerade auf der Grenze" zwischen diesen beiden Dimensionen.

622 S.o., 25. 623 ep 5.310. 624 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 50 mit Rekurs auf H. Albert. 625 Vgl. AA IV (Prolegomena), 340, mit B 679 und 699.

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

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Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile apriori" (B 197).

Wiederum scheint es so, daß nur eines richtig sein kann: Entweder dieses "oberste Prinzipium aller synthetischen Urteile" (ebd.) - dann ist freilich die "transzendentale Deduktion" der Ideen inclusive ihrer "unbestimmten objektiven Gültigkeit" unhaltbar, da sie ja nicht mit möglicher Erfahrung "kongruieren" können. Oder aber die Vernunftbegriffe waren zu Recht "deduziert" worden - dann freilich scheint der "oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile" zumindest korrekturbedürftig. Er sagt ja, daß die Erfahrungsrelevanz begrifflicher Leistungen deren "kritische" Auslese in "Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung" und metaphysischen "Nonsens" steuere.626 "Da also Erfahrung, als empirische Synthesis, in ihrer Möglichkeit die einzige Erkenntnisart ist, welche aller anderen Synthesis Realität gibt, so hat diese als Erkenntnis apriori auch nur dadurch Wahrheit, (Einstimmung mit dem Objekt,) daß sie nichts weiter enthält, als was zur synthetischen Einheit der Erfahrung überhaupt notwendig ist." CB 196f., Hervorhebung D.K)

Freilich steckt in dieser Auffassung bereits ein Problem, verborgen im Begriff der "Erfahrungsrelevanz". Läßt sich eigentlich sagen, daß alles, "was zur synthetischen Einheit der Erfahrung überhaupt notwendig ist", auch "erfahren" werden kann? Kant leistet einer solchen Lesart an vielen Stellen Vorschub; nicht nur in der soeben aufgezeigten Form, sondern auch besonders durch die Vorstellung, "reine Verstandesbegriffe" etwa könnten "in concreto dargestellt werden, wenn man sie auf Erscheinungen anwendet; denn an ihnen haben sie eigentlich den Stoff zum Erfahrungsbegriffe, der nichts als ein Verstandesbegriff in concreto ist" CB 595)627.

Genau besehen operiert aber auch Kant mit dem Gedanken, daß an solcher Erfahrbarkeit und damit letztlich auch Anschauungsgebundenheit des

Begrifflichen (vgl. B 75) zumindest nicht ohne weiteres festgehalten werden kann. Wir hatten gesehen, daß Kant nicht nur die "Dinge an sich" in gewisser Weise zu den "Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis" rechnet628 , sondern darüber hinaus auch noch so etwas wie "Vernunftbegriffe" einführen mußte. Der Schlußsatz des Abschnitt:. über den "obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile" selbst erlaubt jedoch bereits die Unterscheidung zwischen der skizzierten engen Lesart von "Erfahrungsrelevanz" (qua Anschaulichkeit) und einer weiteren, die mit abstrakten "Bedingungen der 626 Vgl. auch AA IV (Prolegomena), 295f. 627 Vgl. B 396f./AA IV (Prolegomena), 332. 628 Vgl. a.a.O., 360.

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2 Kant und die Einheit der Vernunft

Möglichkeit von Erfahrung" kalkuliert, die nicht zu den Gegenständen derselben gehören (und niemals gehören werden). Wenn Kant sagt, "die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfaluung" (B 197),

so läßt sich das einmal konstitutionstheoretisch eng auslegen, so daß die genannten "Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung" am Gegenstand "erfahrbar" sind (freilich nicht als "Ding an sich" verstanden). Der Satz läßt sich aber auch sozusagen "regulativ weit" auslegen, so daß die genannten "Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt" insofern "Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" sind, als ohne sie "überhaupt" keine Erfahrung von Gegenständen möglich wäre. Inwiefern sie dann noch von den Gegenständen gelten würden, bleibt dabei zunächst offen. Diese Lesart nährt sich jedenfalls aus Bemerkungen Kants wie derjenigen, "Natur überhaupt [,I können wir durch keine Erfahrung kennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit apriori zum Grunde liegen.629.

Nun wird der Einwand nicht lange auf sich warten lassen, das sei doch eine buchstäblich "einseitige" Interpretation des "obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile" (wie im übrigen auch der Kontext der soeben zitierten Stelle aus den "Prolegomena" zu unterstreichen scheint). Eben der Untermauerung der diesem Einwand zugrundeliegenden Kant-Interpretation sollen aber gerade diese und alle voraufgegangenen Überlegungen dienen: zu zeigen, daß der "höchste Punkt" der Erkenntnis "gerade auf der Grenze" zwischen ihrem "konstitutiven" und ihrem "regulativen" Aspekt liegt, und daß es deshalb darauf ankommt, diese Grenze besser zu explizieren, als das bisher geschehen ist. Im übrigen sollte die idealtypische Gegenüberstellung von konstitutiv enger und regulativ weiter Lesart des "obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile" dazu dienen, das Spektrum möglicher Kant-Interpretationen zu illustrieren. Der gewissermaßen positivistischen Reduktion des im "obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile" ausgesprochenen Geltungsproblems auf "Anschaulichkeit" einerseits (vgl. die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes, wie sie in der Diskussion um die Quantentheorie hervortrat63O) korrespondiert der tendenzielle Objektver/ust in konsequent inter-

629 A.a.O., 318f. Vgl. auch oben und B 717. 630 S.u., Kap. 3.3. Zur Frage, ob und inwiefern Strawson die mit einem solchen Signifikanzprinzip verbundenen Reduktionismen venneiden konnte, vgl. Niquet, bes. 362ff.

25 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

231

subjektivistischen Ansätzen (vgl. etwa Hegels Verwechslung des "Gegenstands" mit dem "Gegenspieler''()31). Gewissermaßen die Kehrseite der zuletzt diskutierten Probleme des "obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile" bildet die systematisch nicht weniger entscheidende Frage, was Kant eigentlich zu Behauptungen wie derjenigen berechtigt, daß absolute Vollständigkeit einer Bedingungskette "in keiner Erfahrung gegeben werden kann" (B 538; vgl. auch B 644); daß der Vernunftgebrauch Ideen folgt, "ohne sie jemals zu erreichen" (B 691, Hervorhebung D.K.) und ohne ''jemals den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im mindesten zuwider zu sein" (B 708, Hervorhebung D.K.); daß "die Voraussetzung einer obersten Intelligenz" der Vernunft "niemals schaden" (B 715, Hervorhebung D.K.) könne; kurz: daß Vernunftbegriffe "immer nur eine Idee" (B 725, Hervorhebung D.K.) sein werden, die man "niemals erreichen wird" (B 7W, Hervorhebung D.K.). Woher weiß Kant das?! Mit welchen Argumenten begründet er diese letzten Einsichten? (b) Kant will das schließlich "deutlicher machen" (B 700). Dabei erscheint als eine Bedingung für die Einhaltung der "regulativen" Grenze zwischen immanenter Gegenstandserkenntnis und transzendentem Mißbrauch der Ideen (vgl. B 647) die Verwendung von diesen, als ob ihnen Gegenstände einer möglichen Erfahrung "korrespondierten". "Wir wollen den genannten Ideen als Prinzipien zufolge erst/ich (in der Psychologie) alle Erscheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüts an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen, als ob dasselbe eine einfache Substanz wäre, die, mit persönlicher Identität, beharrlich (wenigstens im Leben) existiert, indessen daß ihre Zustände, zu welcher die des Körpers nur als äußere Bedingungen gehören, kontinuierlich wechseln. Wir müssen zweitens (in der Kosmologie) die Bedingungen, der inneren sowohl als der äußeren Naturerscheinungen, in einer solchen nirgend zu vollendenden Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich unendlich und ohne ein erstes oder oberstes Glied sei, obgleich wir darum, außerhalb aller Erscheinungen, die bloß intelligiblen ersten Gründe derselben nicht leugnen, aber sie doch niemals in den Zusammenhang der Naturerklärungen bringen dürfen, weil wir sie gar nicht kennen. Endlich und drittens müssen wir (in Ansehung der Theologie) alles, was nur immer in den Zusammenhang der möglichen Erfahrung gehören mag, so betrachten, als ob diese eine absolute, aber durch und durch abhängige und immer noch innerhalb der Sinnenwelt bedingte Einheit ausmache, doch aber zugleich, als ob der Inbegriff aller Erscheinungen (die Sinnenwelt selbst) einen einzigen obersten und allgenugsamen Grund außer ihrem Umfange habe, nämlich eine gleichsam selbständige, ursprüngliche und schöpferische Vernunft, in Beziehung auf welche wir allen empirischen Gebrauch unserer Vernunft in seiner größten Erweiterung so richten, als ob die Gegenstände selbst aus jenem Urbilde aller Vernunft entsprungen wären, das

631 Habennas, J., "Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser »Philosophie des Geistes,,", in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt/M. 1981 11 , 38; vgl. auch Köveker, ·Zwischen )>Objektiver Gültigkeit« und »subjektiv-notwendigem Pobierstein« der Wahrheit. .. ·, 291f.

232

2 Kant und die Einheit der Vernunft

heißt: nicht von einer einfachen denkenden Substanz die inneren Erscheinungen der Seele, sondern nach der Idee eines einfachen Wesens jene voneinander ableiten; nicht von einer höchsten Intelligenz die Weltordnung und systematische Einheit derselben ableiten, sondern von der Idee einer höchstweisen Ursache die Regel hernehmen, nach welcher die Vernunft bei der Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen in der Welt zu ihrer eigenen Befriedigung am besten zu brauchen sei." (B 700f.)

Dieser als ob-Charakter der transzendentalen Ideen wurde, wenn ich recht sehe, innerhalb der KrV erstmals benannt bei Gelegenheit der Kritik an dem "Paralogismus der reinen Vernunft" (B 399ff.). Kant deutete dort das Mißlingen der materialistischen wie spiritualistischen Versuche, die Beschaffenheit der Seele einmal als Akzidens, im andern Fall als Substanz "bestimmen" zu wollen, als einen "Wink" der Vernunft, "unser Selbsterkenntnis von der fruchtlosen überschwenglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche anzuwenden" (B 421).

Für diesen gilt, daß er, wenn er "auch nur immer auf Gegenstände der Erfahrung gerichtet ist, seine Prinzipien doch höher hernimmt, und das Verhalten so bestimmt, als ob unsere Bestimmung unendlich weit über die Erfahrung, mithin über dieses Leben hinaus reiche" (ebd.).

In diesem Zusammenhang wurde bereits das pragmatisch-prozedurale Moment einer solchen Auffassung der Vernunftprinzipien deutlich, indem sie Einfluß auf "das Verhalten" gewinnt, das sich somit zwischen "seelenlosen MateriaIism" und "grundlosen SpirituaIism" (ebd.) stellt. Im Blick auf Kants weitere Ausführungen im Anschluß an die "transzendentale Deduktion" der Ideen deutet sich an dieser Stelle ein seiner Auffassung nach wesentlicher Unterschied zwischen den drei transzendentalen Ideen an. Kant charakterisiert in der zitierten Stelle aus dem Paralogismuskapitel das "Verhalten" derart, daß das entsprechende regulative Prinzip der psychologischen Idee eine "infinite" Perspektive zu eröffnen scheint, die sich bei dem explizit "indefiniten" der kosmologischen Ideen verbot.632 Danach bestünde ein gravierender Unterschied zwischen den Ideen. "Nun ist nicht das mindeste, was uns hindert, diese Ideen auch als objektiv und hypostatisch anzune/unen, außer allein die kosmologische, wo die Vernunft auf eine Antinomie stößt, wenn sie solche zustande bringen will (die psychologische und theologische enthalten dergleichen gar nicht)." (B 701)

632 Jedenfalls gilt das hinsichtlich der kosmologischen Idee, die "die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen" (B 443) betraf ("Erster Widerstreit"). Im Zusammenhang der "Teilbarkeit" hielt Kant ja die Rede von einem "regressus in infinitum" für sinnvoll (s.o., 67).

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

233

Wie ist das zu verstehen? Zunächst einmal ist daran zu erinnern, daß nach unserem Befund der Kontakt der "kosmologischen Ideen" mit dem "immanenten" Erfahrungszusammenhang in der Tat ihre charakteristische "antinomische" Struktur hervorruft. Im Hinblick auf die erkenntniskritischen Einwände etwa gegen das transzendentaltheologische "Ideal der reinen Vernunft" stellt sich vor dem Hintergrund unserer anderen Überlegungen freilich die Frage, ob darin nicht eher ein - sich im entsprechenden "regulativen Prinzip" niederschlagender - Vorzug zu sehen ist. Ich hatte ferner bereits darauf hingewiesen, daß wir es mit mehreren Textabschnitten der KrV zu tun haben, in denen Kant "regulative Prinzipien" und "regulative Ideen" behandelt.633 Obgleich sich leicht zwei klar abgrenzbare Hauptpassagen benennen lassen, in denen Kant die Grundgedanken seiner regulativen Vernunfttheorie entfaltet634 , werden sie doch durch verschiedene andere Überlegungen sowohl vorbereitet als auch ergänzt. Kants Darstellung ist dabei unabhängig von den in dieser Arbeit analysierten prinzipiellen Konstruktionsproblemen der KrV auch in Einzelheiten nicht immer konsistent. Insbesondere hinsichtlich seiner Systematik der transzendentalen Ideen scheinen Vorbehalte angebracht. Erinnern wir uns zur Verdeutlichung dessen noch einmal Kants Systematisierung der "reinen Vernunftbegriffe". Danach führte die Anwendung des Begriffs des "Unbedingten" auf die Relationskategorien635 zu drei und nur drei "Klassen" transzendentaler Ideen, "davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die driue die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält" (B 391).

Freilich sind die "Gegenstände" von rationaler Psychologie, Kosmologie und Theologie damit zunächst nur allgemein benannt. "Was unter diesen drei Titeln aller transzendentalen Ideen für modi der reinen Vernunftbegriffe stehen, wird in dem folgenden Hauptstücke vollständig dargelegt werden." (B 392)

633 Siehe Anhang. 634 Dies sind - wie erwähnt - die Abschnitte sechs bis neun aus dem Antinomienkapitel (also B 518-595) und der von uns jetzt behandelte "Anhang zur transzendentalen Dialektik" (B 670-732). Hinzu tritt aus der Verstandestheorie die Erläuterung zum allgemeinen "Beweis" der "Analogien der Erfahrung" (B 218-224). 635 Denn diese, so Kant, sind für das Vernunftproblem der Vollständigkeit (Totalität) von Bedingungsketten einzig relevant (s.o. und B 379).

234

2 Kant und die Einheit der Vernunft

Abgesehen davon, daß das "folgende Hauptstück" qua Paralogismuskapitel einzig die "rationale Pyschologie" betrifft636 , ist im folgenden nicht mehr recht zu sehen, in welcher Hinsicht die Ausführungen zu den drei transzendentalen Ideen gemeinsam "am Faden der Kategorien" fortlaufen. Zwischen Kants "Topik der rationalen Seelenlehre" (B 402), die zu "vier Paralogismen" (B 403) führt, und dem "System der kosmologischen Ideen" (B 435ff.), das "vier kosmologische Ideen" (B 442) aufweist, besteht zwar numerische Übereinstimmung. Erstens findet sich aber hierzu kein Äquivalent bezüglich des "Ideals der reinen Vernunft", und zweitens ist die Ableitung bzw. Begründung für die "Topik der rationalen Seelenlehre" bzw. das "System der kosmologischen Ideen" derart unterschiedlich, daß hier bestenfalls von einem losen, assoziativen Zusammenhang gesprochen werden kann. Ich denke, wir können daher die bereits zitierten Einwände gegen die "barocke" (Strawson) Künstlichkeit der Kantschen "Architektonik" vor allem im Hinblick auf die Details des vorliegenden Zusammenhangs unterstreichen. (Die grundsätzlichen Probleme bleiben davon, wie gesagt, unberührt.) Das gilt auch für Kants Begründung der Möglichkeit, die psychologische und die theologische transzendentale Idee "objektiv und hypothetisch anzunehmen". "Denn ein Widerspruch ist in ihnen nicht, wie sollte uns daher jemand ihre objektive Realität streiten können, da er von ihrer Möglichkeit ebensowenig weiß, um sie zu verneinen, als wir, um sie zu bejahen." (B 701)

Abgesehen von der zumindest mißverständlichen Rede von einem "Widerspruch'o(j37 könnte man nämlich auch mit einem gewissen Recht darauf hinweisen, daß das weiter oben angesprochene Scheitern von Materialismus und Spiritualismus im Versuch, die Seele als "Akzidens" bzw. "Substanz" zu bestimmen, einen durchaus "antinomischen" Charakter aufweist, der durch die Hinwendung "zum fruchtbaren praktischen Gebrauche" (B 421) aufgelöst werde. Ferner rief auch der Gottesbegriff einen "Widerstreit" hervor usw. usf. Das gegenüber diesen offenkundig ungeklärten und in gewisser Hinsicht marginalen Details sachlich relevante theoretische Problem kommt demgegenüber wieder in den Blick, wenn Kant fortfährt, Widerspruchsfreiheit sei

636 Kant meinte offenbar die folgenden drei "Hauptstücke": "Von den Paralogismen der reinen Vernunft" (B 399-432), "Die Antinomie der reinen Vernunft" (8432-595), "Das Ideal der reinen Vernunft" (8595-670).

637 Wodurch

Kant - ob nun absichtlich oder aus Versehen - suggeriert, die "Antinomien" enthielten einen solchen (statt des ausführlich behandelten "Widerstreits").

25

Vemunftintegration ohne 'Grenzübergang'

235

"nicht genug" (ebd.), "um etwas anzunehmen" (ebd.).638 Wie er noch im gleichen Satz erläuternd hinzufügt, sei es deshalb keineswegs "erlaubt", die genannten "Gedankenwesen (00') als wirkliche und bestimmte Gegenstände einzuführen. Also sollen sie an sich selbst nicht angenommen werden, sondern nur ihre Realität, als eines Schema des regulativen Prinzips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis, gelten, mithin sollen sie nur als Analoga von wirklichen Dingen, aber nicht als solche an sich selbst zum Grunde gelegt werden" (B 70lf., Hervorhebungen D.K). Durch die sich hierin ausdrückende Indifferenz zwischen konstitutiven Verstandes- und regulativen Vernunftgegenständen639 wird noch einmal die Kernthese der vorliegenden Kant-Interpretation abschließend bekräftigt: Das nach Auffassung der analytischen Kant-Interpretation maßgeblich innerhalb der "Transzendentalen Analytik" behandelte und mehr oder minder gelöste Problem der "objektiven Gültigkeit" von Erkenntnis ist, weil in Wahrheit fortbestehend, auch der originäre Gegenstand der "Transzendentalen Dialektik". Dadurch kommt es zu der auffälligen, im vorigen analysierten "regulativ-konstitutiven Doppelstruktur" von "Erkenntnis", inclusive der zuletzt konstatierten, virtuellen theoretischen Indifferenz zwischen Verstandes- und Vernunftbegriffen. Vor dem Hintergrund dieser Problemlage will ich abschließend den Versuch einer Beschreibung dessen unternehmen, was denn nun den theoretischen Gehalt von Kants regulativer Vernunfttheorie auszeichnet. Dafür sind m.E. mindestens folgende Aspekte zu berücksichtigen: 1.)

Kant thematisiert dieses Problem der "Totalität" bzw. "Vollständigkeit" menschlicher Erkenntnis mit geradezu perennierender Konsequenz im Rahmen des bewußtseinsphilosophischen Subjekt-Objekt-Modells.

2.)

Innerhalb dieses Modells sagt die Auszeichnung "transzendentaler Ideen" als "objektiv" zuviel, die als "subjektiv" zu wenig/AO Zur Überwindung dieser Schwierigkeit spricht Kant davon, die "transzendentalen Ideen" besäßen

a)

"objektive, aber unbestimmte Gültigkeit",

638 Zu diesem mit der Lehre vom "hypothetischen Gebrauch der Vernunft" (8675) verknüpften Begriff der "Annahme" vgl. B 674f., 678f., 701, 799; vgl. demgegenüber Kants Rede von einer "Vermutung" (8 685) und einer "Voraussetzung" (B 678, 681, 685, 688 u.ö.). 639 Diese wie jene sollen "an sich selbst nicht angenommen werden", besitzen beide "Realität" USW. Auch in bezug auf die (freilich immanent fragwürdige) "Bestimmtheit" unterscheiden sie sich in gewisser HinsichtJUr Kam nicht (s.o.). 640 Vgl. B 557, 450, 517f. (und Peirce, CP 6.183).

236

2 Kant und die Einheit der Vernunft

b)

"objektive Realität" (bzw. "Realität"), und er bezeichnet sie als

c)

"Schema" für die Vernunft respektive ihren regulativen "Gebrauch", der

d)

wesentlich "analogisch" ist.

Dabei ist zum einen das "Schema der Vernunft" selbst nur ein "Analogon von einem Schema" (B 693), zum andern erscheinen die (qua Idee "schematisierten") "Gegenstände" transzendentaler Ideen als "Analoga von wirklichen Dingen" (B 702).641 Damit sind die für die Erkenntniskritik als System entscheidenden Begriffe, ihre "Elemente", erarbeitet642, und es läßt sich von diesem Ende der KrV her mit einer leichten Überspitzung, die die hier vertretene Interpretation unterstreicht, Kant zitierend sagen: "So enthält die reine Vernunft ( ... ) nichts als regulative Prinzipien ( ... )." (B 729)

Können wir jedoch auch behaupten, ein konsistentes Bild dieses Versuchs, eine Theorie der "Erkenntnis" zu entwickeln, gewonnen zu haben? Auf der einen Seite stehen die grundsätzlichen Einwände, aber auch die zahlreichen speziellen Defekte, die auf den vorangegangenen Seiten zur Sprache kamen. Andererseits hat Kant die Reflexion auf das chiastische Bedingungsverhält nis zwischen (subjektiv-) objektiver Erfahrungskonstitution und (objektiv-) subjektiver Erfahrungsregulation - und damit das Bedingungsgefüge zwischen Zeit und Logos - auf ein solches Niveau getrieben, daß man hier auf "elementaren" Grund zu stoßen scheint. Doch was davon kann heute noch Gültigkeit beanspruchen? Im Hinblick auf die in der modernen Philosophie geführten Begründungsdiskurse scheint mir daran vor allem Kants Anspruch auf den Nachweis letztbegründeter (regulativer) Vernunftstrukturen von Interesse sowie sein Versuch einer "analogischen" Vermittlung zwischen der "immanenten" und der "transzendenten" Sphäre. Kant bediente sich unterschiedlicher philosophischer Mittel und Methoden - von problemgeschichtlich orientierten Rekonstruktionen wie im Fall der "Transzendentalen Theologie" über die auf klassische formallogische Sätze gestützte Einführung transzendentalregulativer "Vernunftprinzipien" (Homogenität, Spezifikation, Kontinuität) bis hin zu den "transzendentalen Argumenten" - für die Etablierung "letzter" Einheits- und Orientierungs perspektiven, deren Allgemeinheitsgrad eine Widerlegung durch Erfahrung unmöglich machen soll. Die einschlägigen "transzendentalen Ideen" sollen Erfahrung gewissermaßen 641 Vgl. Specht, 26f. 642 Die Ausführungen der "franszendentalen Methodenlehre" können wir für unseren Zusammenhang vernachlässigen. Die zwei Stellen, an denen Kant dort auf "regulative" Probleme eingeht, bringen keine theoretisch entscheidenden Ergänzungen (s.u., "Anhang").

2.5 Vernunftintegration ohne 'Grenzübergang'

237

optimal "anleiten" durch Eröffnung ihres größten denkbaren Horizonts, ohne "jemals den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im mindesten zuwider zu sein" (B 708) - ja sein zu können. Parallel zur Entfaltung dieser Vernunftprinzipien, die kraft ihrer (raum- und) "zeitlosen" Allgemeinheit gleichzeitig kritische Maßstäbe zur Beurteilung jeder "wirklichen" und damit partikularen und bedingten Instantiation von "Erkenntnis" abgeben sollen, gibt es bei Kant jedoch auch Ansätze zur Ausarbeitung eines realistischen "point of view". Damit sucht er jenem, wie Peirce sagen wird, "Instinkt" der Vernunft zu folgen, der bei Kant als "Vernunftinteresse" an der im weitesten Sinn "praktischen" Relevanz von Erkenntnis auftritt. Diesen theoretischpraktischen "Halt" gewinnt die Erkenntniskritik allererst durch Einführung der "analogischen" Dimension regulativen Vernunftgebrauchs. Während die regulative Vernunfttheorie der KrV sie noch in vorrangiger Orientierung am traditionellen Analogiebegriff entfaltet (wodurch sie sich den gegen diesen gerichteten Einwänden aussetzt), eröffnet der analogische "Grenz"-Begriff der "Prolegomena" eine Perspektive auf die reale Konvergenz von "Immanenz" und "Transzendenz". Ich möchte hier sehr dezidiert hervorheben, daß Kants "Lösung" der erkenntnistheoretischen Kernfrage, wie die Offenheit der Erkenntnis in Richtung auf die Zukunft und die Tatsache, daß wir jetzt schon (wie auch immer "bedingt") "erkennen", zueinander in Beziehung gesetzt werden können, m.E. nur unter Zugrundelegung dieses speziellen Analogiebegriffs, wie er oben herausgearbeitet wurde, überzeugen kann. Ich will deshalb am Ende dieses systematischen Hauptteils meiner Arbeit die schon früher eingeführte und vorbereitete643 These untermauern, daß die Konsistenz von Kants regulativer "Vollendung" der Erkenntnistheorie ganz wesentlich von der Auffassung abhängt, daß die regulative Vernunft "gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs"644, und das heißt: zwischen endlicher Immanenz (Wirklichkeit) und unendlicher Transzendenz (Möglichkeit) operiert. Wenn Kant dieses Theorem auch in der KrV nicht explizit einführt, so liegt es doch seinem regulativen Vernunftbegriff nachweislich zugrunde. Das läßt sich zunächst an drei gewissermaßen äußerlichen Umständen ablesen. Einen der auffälligsten habe ich bereits genannt, das für den regulativen Gebrauch a//er drei Ideen kennzeichnende "analogische" Moment.645 Sodann ist eine gewisse Dominanz des theologischen Problemkomplexes festzustellen, in dessen Zusammenhang Kant ja die analogische Problemlö643 Vgl. besonders Kap. 2.5.

644 AA IV (Prolegomena), 356. 645 Vgi. allein im Abschnitt ·Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft· (B 697-732) B 699-707, 711, 713f., 716.

238

2 Kant und die Einheit der Vernunft

sungsstrategie einführte. 646 Schließlich, und vor allem, thematisiert Kant noch einmal genau jene "Grundaporie der Gotteserkenntnis" zwischen Deismus und Theismus/Anthropomorphismus, die er in Reaktion auf Hume mit Hilfe seines analogischen Grenzbegriffs auflöste. 647 Genau hier wird auch die interne Bedeutung und Tiefenstruktur dieses Theorems hinsichtlich des Versuchs einer regulativen Auflösung der Vernunftproblematik im allgemeinen deutlich. Bevor wir die mit dieser Parallelität zwischen kritisch-idealistischen Vernunftprinzipien und analogisch-realistischen "Grenz"-Verhältnissen verbundenen Fragen weiter erörtern, möchte ich dieser Diskussion dadurch mehr Substanz verleihen, daß wir zwei für unsere Heuristik vielversprechende Entwicklungen betrachten, für die Kants im vorigen rekonstruierte Erkenntniskritik in unterschiedlicher Weise als Ausgangspunkt diente. Zum einen will ich der Frage nachgehen, welches Licht die moderne Physik auf das ja vor allem aus "kosmologischen" Fragestellungen hervorgegangene "regulative Prinzip der reinen Vernunft" wirft. Möglicherweise ergibt sich durch das in dieser Arbeit entwickelte, zum Teil von herkömmlichen Auffassungen der Kantphilologie abweichende Bild vom Verhältnis zwischen konstitutivem Verstand und regulativer Vernunft auch eine veränderte Antwort auf die Frage, inwieweit die der Kantschen Erkenntnistheorie eingeschriebenen und zugrundeliegenden naturphilosophischen Grundannahmen durch die Einsichten der modernen Physik "relativiert" oder gar widerlegt wurden (Kapitel 3). Nach diesem Versuch einer indirekten Überprüfung des Geltungsanspruchs von Kants "regulativer Vernunfttheorie" (wie sie hier verstanden wird) will ich einen Blick auf ihre Rezeptionsgeschichte werfen, in der heuristischen Erwartung, daß dabei die ihr zugrundeliegende Problemstruktur noch deutlicher hervortritt. Dieser wirkungsgeschichtliche Ausblick mündet dann abschließend in die hier noch ausgesetzte Beurteilung der regulativen Vernunfttheorie im ganzen (Kapitel 4).

646 V gl. - abgesehen von den oben erörterten und in diesem Zusammenhang eingeführten "Analogien der Erfahrung" - B 594. 647 S.o. und die Bemerkung B 548: "( ... ) die absolute Grenze ist gleichfalls empirisch unmöglich".

3 Über regulative Strukturen in der modernen Physik Ich unternehme im folgenden den Versuch, die Umrisse einer Antwort auf die Frage nach der möglichen Bedeutung (respektive Bedeutungslosigkeit) regulativer Überlegungen im Rahmen der "nachklassischen" Physik abzuschätzen. Nach den voraufgegangenen Ausführungen von Kapitel 2 sowie eingedenk der generellen Hintergrundphysik der Kantschen Erkenntnistheorie ist das einerseits eine innere Konsequenz aus den behandelten Fragen. Eingedenk des fundamentalen Wandels, den Relativitätstheorie und Quantenmechanik hinsichtlich der "klassischen" Voraussetzungen von Euklidischer Geometrie und Newtonscher Mechanik ausgelöst haben, sowie angesichts der Tatsache, daß ein Nichtphysiker dies voraussetzungsreiche Terrain betritt, bedarf ein solches Vorhaben gleichwohl besonderer Rechtfertigung. Sie darf hoffen, um so überzeugender auszufallen, je deutlicher sie die Grenzen des zu rechtfertigenden Unternehmens und seines Geltungsanspruchs artikulieren kann.! Abschnitt (1) dieses Kapitels widmet sich diesen propädeutischen Fragen. In Abschnitt (2) rekonstruiere ich in groben Zügen die Geschichte und einige Grundannahmen der Quantenmechanik, um an Hand dieser Theorie schließlich (3) Bausteine zur Beantwortung der eingangs formulierten Frage nach der Bedeutung - oder auch Bedeutungslosigkeit - regulativer Argumente in der modernen Physik zu sammeln.2

1

Aus Darstellungsgründen beziehe ich mich in diesem Exkurs in exemplarischer Weise auf die etwas spätere der beiden "epochalen" Theorien der modernen Physik (vgl. P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, Mannheim/Wien/Zürich 19897, 5), die Quantenmechanik. Auf Parallelen zur Relativitätstheorie wird von Fall zu Fall verwiesen.

2

Ganz unabhängig vom Ergebnis dieser Untersuchung deutet jedenfalls einiges darauf hin, daß auch an dieser Stelle die Geringschätzung von Kants "Transzendentaler Dialektik" der KrV verhindert hat, diese Frage überhaupt unvoreingenommen stellen zu können. Selbst im Bereich der hermeneutisch~ntologischen Kant-Interpretation hat, wenn ich recht sehe, die Frage nach dem Verhältnis von Kants regulativer Vernunfttheorie zur modernen Physik bis dato keine eingehende Behandlung erfahren - obwohl Helmholtz doch schon 1879 bemerkte, beispielsweise das Kausalgesetz sei als "regulatives Prinzip unseres Denkens"(H.v. Heimholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Nachdruck Darmstadt 1959, 47, Hervorhebung D.K., zitiert nach: F. Kambartei, Erfahrung und Struktur, Frankfurt/M. 19762, 147) anzusehen.

240

3 Regulative Strukturen in der Physik

3.1 Propädeutische Überlegungen zum Verhältnis zwischen Physik und Philosophie Die Rechtfertigung für den Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Kantscher Vernunfttheorie und moderner Physik durch einen physikalisch halbgebildeten Fachphilosophen kann sich meines Erachtens vor allem auf drei Argumente stützen. Es handelt sich (a) um ein philologisches Argument, (b) um ein praktisch relevantes und (c) um ein physikalisch relevantes philosophisches Argument. ad (a) Die sozusagen innerphilosophisch begründete Berechtigung eines solchen Versuchs beruht darauf, daß selbstverständlich bereits eine ganze Reihe von Thesen zum Verhältnis zwischen Kants Erkenntnistheorie und der modernen physikalischen Naturlehre in Umlauf sind. Diese Überlegungen setzen im Grunde genommen ein mit dem Aufkommen von Relativitätstheorie und Quantenmechanik3 und sind heute kontroverser denn je. Den einen Pol bilden hier Arbeiten, in denen die physikalischen Implikationen von Kants regulativer Vernunfttheorie schlicht als überholt angesehen werden.4 Auf der anderen Seite hält zum Beispiel der überdies als Physiker ausgewiesene c.F. von Weizsäcker hartnäckig an dem Programm fest, die moderne Physik im Licht von Kants transzendentaler Klärung der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung als den kohärenten Ausdruck einer "Einheit der Natur" zu interpretieren.5 Aus der Aktualität, die Kants Ansatz hier als (negative wie positive) Kontrastfolie zeitgenössischer Fragestellungen gewinnt, läßt sich auf einigen, zunächst innerphilosophischen Klärungsbedarf schließen. ad (b) Einen ganz anderen Problemaspekt betrifft das zweite Argument für die Berechtigung einer philosophischen Beschäftigung mit der modernen Physik. Entsprechend dem Maß, in dem der technische Erfolg naturwissenschaftlicher Theorien wuchs, übernahmen sie auch in zunehmenden Umfang 3

Vgl. zum Beispiel E. Cassirers Arbeiten auf diesem Gebiet, so etwa: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, in: Acta Universitatis Gotoburgensis XLII (1936).

4

So - trotz aller Differenzierungsbemühungen - der Tenor bei Strawson, vgl. The Bounds of Sense, 119 und bes. 203ff.

5

Vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, München 19795, bes. 19lf.; zu den physikalischen Problemen dieses Programms: ders., Aufbau der Physik, München 1988. Im folgenden stütze ich mich insbesondere auf diese beiden Arbeiten. Zu von Weizsäckers Einbettung physikalischer Sachfragen in den Horizont "einer letzten Einheit von Bewußtsein und Materie, Mensch und Natur, Wissen und Glauben" vgl. insbesondere seine Studie Zeit und Wissen, München 1992 (aus deren Klappentext das vorstehende Zitat stammt).

3.1 Propädeutische Überlegungen

241

die Funktion allgemeiner Welterklärungen. An der Quantentheorie kann besonders gut verfolgt werden, wie die Aussagen der Physik mehr und mehr den Charakter von Theorien darüber annehmen, wie es sich überhaupt verhält. Die Physik wird so gesehen philosophisch. Darüber hinaus erzeugt sie eine praktisch relevante, objektive Betroffenheit der Menschen durch die technischen Auswirkungen der physikalischen Theoriebildung. Da nun die "Rezeption" der Quantentheorie auf weiten Strecken darin besteht, daß sie von einem Heer von Physikern ausgesprochen "erfolgreich" angewandt wird, die die Quantentheorie eingestandenermaßen nicht "verstehen"6, so ist das für sich genommen schon bedenklich genug. Wenn aber darüber hinaus diese Theorie sogar gelegentlich so aufgefaßt wird, daß sie ihrem "Selbstverständnis" nach auch gar nicht "verstanden" werden kann 7 - dann muß man sich zumindest Rechenschaft darüber ablegen, welcher Preis an eine solche Theorie zu entrichten wäre: der letztlich vollkommener Unverantwortbarkeit menschlichen Handelns. Bezeichnenderweise waren es die profiliertesten Vertreter der modernen Physik, allen voran Einstein, Bohr und Heisenberg, die deshalb den philosophischen Stachel im Fleisch der Physik sich nicht preiszugeben trauten.8 Das Recht und die Pflicht zu einer Auseinandersetzung mit der modernen Physik kommt somit all jenen zu, die den szientistischen Implikationen der modernen Physik nicht folgen wollen. Auch wenn dieser Zusammenhang gern geleugnet wird, bestätigen die tech-

6

"»Verstehen" bedeutet hier nicht bloß, die Theorie praktisch anwenden zu können; in diesem Sinne ist sie seit langem verstanden. Es bedeutet, sagen zu können, was man tut, wenn man die Theorie anwendet." (von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 15) Dergleichen sei jedoch "bis heute fast nie präzise" geschehen (a.a.O., 493). Insofern schätzte Bohr die damit verbundene Aufgabe realistisch ein, als er Heisenberg 1922 auf dessen Frage, ob wir "die Atome überhaupt jemals verstehen" werden, zur Antwort gab: "Doch. Aber wir werden dabei gleichzeitig erst lernen, was das Wort »verstehen" bedeutet." (zitiert nach: a.a.O., 499f.)

7

In dieser latent drohenden Implikation ihres eigenen Ansatzes sehe ich eines der Hauptprobleme der Quantentheorie, das sozusagen "in" dem berühmten "Schnitt" zwischen System und Meßinstrument nistet. Jenseits des noch "verständlichen" klassischen Meßinstruments, also in der den "Quantenzustand" des Systems beschreibenden Wahrscheinlichkeitsfunktion, hört das "deutliche Denken" (Schopenhauer) mit Hilfe von Begriffen wie Welle, Teilchen, Objekt, Raum usw. auf. Dort wird nur noch gerechnet. (S.u.) In dieser Schwierigkeit besteht meines Erachtens der "Skandal" der Quantentheorie, wie Kant vermutlich gesagt hätte.

8

Die "Gewissenskonflikte", die sich nach H. Weyl einstellen, wenn ein Naturwissenschaftler über Philosophie schreibt, sind insofern vielfaltiger Natur (vgl. H. Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften, MünchenjWien 198z5, 5).

16 Kövcker

242

3 Regulative Strukturen in der Physik

nische Praxis der angewandten Physik und somit die Physiker durch ihr Tun selbst diese normative Dimension der Physik.9 ad (c) Als Physiker läßt sich freilich nach wie vor sagen, diese ganzen Überlegungen beträfen letztlich nur hausgemachte Philosophen probleme. Vor allem die Frage, ob nun diese oder jene Kant-Interpretation angemessener sei, kann dem Physiker, der die "semantische Revolution" von Relativitätstheorie und Quantenmechanik durchlaufen hat, im Grunde egal sein; derlei ist bestenfalls von antiquarischem Interesse. Deshalb kann nach wie vor gelten: "Ein solches Unterfangen: mit logisch-philosophischen Methoden in das Zentrum der physikalischen Problematik vorzustoßen, wird das schärfste Mißtrauen des Physikers erwecken. "10

Von daher ist es erstrebenswert, auch innerphysikalische Gründe dafür angeben zu können, weshalb sogar die Physik "verstanden" sein will. Poppers Versuch, die "gesunde Skepsis" der Physiker und ihre "berechtigten Widerstände"l1 zu überwinden, arbeitet deshalb mit dem Hinweis darauf, "daß in jeder Wissenschaft Fragen auftreten, die vorwiegend logischer Natur sind"12. Überdies scheint ihm die Tatsache ihrer "intensiven Beteiligung an der erkenntnistheoretischen Diskussion" auf "die Ansicht vieler Quantenphysiker" schließen zu lassen, "daß gerade die Lösung manches ungeklärten quantenmechanischen Problems in diesem Grenzgebiet zwischen Logik und Physik gesucht werden muß"13.

Diese Argumentation besitzt zunächst insofern eine gewisse Plausibilität, als auch die Quantentheorie sich in ihrer Ausarbeitung durchaus noch gewisser "Reste" klassischer Begriffe und Vorstellungen bedient. Mit dieser Überlegung ist indessen nur die gewissermaßen äußere Verbindung in diesem "Grenzgebiet zwischen Logik und Physik" erfaßt. Es kann hier nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese relativ extrinsische, um nicht zu sagen oberflächliche Begründung des Zusammenhangs zwischen Logik und Physik in bestimmten Grundannahmen von Poppers Wissenschafts9

Beachte darüber hinaus die theoretischen Irritationen, die aus einem fehlenden Verständnis der Quantentheorie resultieren: sie lassen "viele Autoren" hoffen, "»hinter ihr« doch wieder eine Physik zu finden, die den klassischen Vorstellungen mehr entspricht" (von Weizsäcker, a.a.O., 288).

10 Popper, Logik der Forschung, 167. 11 Ebd.

12

Ebd.

13 Ebd.

3.1 Propädeutische Überlegungen

243

philosophie begründet ist. Der intrinsische Kern dieses logisch-philosophischen Arguments besteht jedenfalls in dem internen Zusammenhang, in dem die hochgradig abstrakten und unanschaulichen (mathematisch formalisierten) Basisaxiome der modernen Physik mit unseren alltäglichen Anschauungen und den Begriffen der Umgangssprache stehen. Aus der Tatsache, daß dieser Zusammenhang in vielen Hinsichten unklar ist, folgt nicht die Unbotmäßigkeit des Versuchs seiner Erhellung, sondern gerade seine Unabweisbarkeit. Daß es sich dabei nicht um eitle Wunschvorstellungen unterbeschäftigter "Philosophenkönige", sondern, wenn man so will, philosophisch-physikalische Voraussetzungen der Physik selbst handelt, zeigt folgender Zusammenhang. Eine der Hauptaussagen der insbesondere von Bohr und Heisenberg ausformulierten sogenannten "Kopenhagener Deutung" (im folgenden: K.D.) der Quantentheorie besteht in ihrer These, "auch nach der Quantentheorie müsse man jedes unmittelbare Phänomen, also jedes Meßergebnis, mit den Begriffen der klassischen Physik beschreiben"14.

Im Anschluß an Bohr hat von Weizsäcker die philosophische wie physikalische Pointe dieses Gedankens konsequent herausgearbeitet (s.u.). Sein zentraler Punkt läßt sich verdeutlichen anhand der Frage, wie wir zur Kenntnis quantentheoretischer Zustände gelangen. Wie Bohr nicht müde wurde zu erinnern, ist die Erfassung der gewissermaßen latenten quantenmechanischen Effekte abhängig von ihrem manifesten Niederschlag in den "klassischen" Bestandteilen der Versuchsanordnung. Ihre Registrierung und deren Auswertung geschieht also mit Hilfe kontinuierlicher Parameter und Begriffe. Diese sind somit wesentlich beteiligt an der Konstitution der nichtklassischen (hypothetischen) Gegenstände. Genau besehen liegt die Pointe deshalb darin, daß aufgrund der Natur quantenmechanischer Effekte sie in den klassischen Vorstellungen und Begriffen nicht nur ihre historische, sondern offenbar auch materielle Voraussetzung haben. 15 Es handelt sich um den irritierenden und erklärungsbedürftigen Sachverhalt, daß die Quantentheorie die klassische Physik theoretisch überwindet, sie aber zugleich experimentell voraussetzt. Hier gleichwohl nicht nur ein Paradox zu sehen, son-

14 Von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 424. 15 Dieser Gedanke ist zwar innerlich verknüpft, aber nicht identisch mit der für die gesamte moderne Physik charakteristischen Einsicht, daß die Gültigkeit der "klassischen" Begriffe durch ein gewissermaßen inhaltliches Apriori "begrenzt" wird, wie es sich der "Reflexion auf die materiellen Bedingungen, unter denen eine experimentelle Realisierung der Begriffe Raum und Zeit überhaupt möglich ist" (Mittelstaedt, a.a.O., 32), erschließt.

244

3 Regulative Strukturen in der Physik

dern eine einheitliche Perspektive zumindest zu suchen, das "ist die Aufgabe, welche die Physik unserer Zeit der Philosophie stellt"16. Ich hatte weiter oben gesagt, daß die Rechtfertigung des nun folgenden Versuchs einer philosophischen Interpretation einiger Grundgedanken der modernen Physik und damit dieser Versuch selbst desto überzeugender ausfallen werden, je klarer sein Anspruch und vor allem seine Begrenztheit öffentlich reflektiert werden. Ich möchte deshalb betonen, daß es mir nicht darum geht, den Nachweis zu führen, in dieser oder jener Hinsicht oder bezüglich dieses oder jenes (Teil-) Problems habe Kant bereits Einsichten der modernen Physik vorweggenommenP Ich teile vielmehr, übertragen auf unsere Fragestellung, die methodische Einstellung, die J. Bennett hinsichtlich der Frage nach möglichen Vorläufern Kants vertritt. 18 Ich will also nach der Rekonstruktion der Quantenmechanik das Verhältnis zwischen Kant und der modernen Physik vor allem unter zwei Gesichtspunkten untersuchen: a) Nimmt insbesondere die K.D. der Quantentheorie Denkfiguren und Argumente in Anspruch, die in Kants Theorie eines regulativen Vernunftgebrauchs bereits strnkturell vorgeprägt oder angelegt sind? Je nachdem, wie die Antwort hierauf ausfällt, wird zu überlegen sein, b) welchen Status und welche Bedeutung diese Überlegungen innerhalb der Physik besitzen und ob bzw. inwieweit sich hier eine Relevanz der "Transzendentalen Dialektik" aus der KrV eröffnet, die Anlaß zu einer weiteren und gründlicheren Revision dieses Bausteins aus Kants Theoriegebäude gibt, als er sie bisher erfahren hat.

16 Von Weizsäcker, a.a.O., 192. 17 Als ein Beispiel für Kants "unmoderne" Anschauungsgebundenheit mag seine Reaktion auf Eulers frühen Vorschlag für eine Korpuskulartheorie des Lichts dienen: Deren Schwierigkeiten rührten "von einer gar wohl vermeidlichen mathematischen Vorstellung der Lichtmaterie als einer Anhäufung von Kügelchen her, die freilich nach ihrer verschiedentlich schiefen Lage gegen die Richtung des Stoßes Seitenbewegung des Lichts geben würde, da an dessen Statt nichts hindert, diese Materie als ein ursprünglich Flüssiges und zwar durch und durch, ohne in feste Körperchen zertheilt zu sein, zu denken' (AA IV (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft), 520). 18 'If some view of Kant's is high-lighted or clarified by being played off against some view of an earlier thinker, then it is worthwile so to present it. ( ... ) for what I am doing is not history with a special subject-matter, but philosophy with a special technique.' (Ben neu, a.a.O.,6)

3.2 Die Kopenhagener Deutung

245

3.2 Die "Kopenhagener Deutung" der Quantenphysik

Ich möchte den für die K.D. der Quantentheorie charakteristischen Gedanken, daß sie die klassische Physik theoretisch überwindet und praktisch (experimentell) voraussetzt 19, in den Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stellen. Geleitet werden sie von der heuristischen Annahme, daß diese Verschränkung zwischen klassischer und moderner Physik, von der die K.D. von Bohr über Heisenberg bis von Weizsäcker überzeugt ist, eine spezifisch regulative Struktur der Quantentheorie erzeugt. Ich stütze mich jetzt im wesentlichen auf Überlegungen von Heisenberg und von Weizsäcker. Kommen wir zunächst noch einmal auf die Frage zurück, wie wir überhaupt Kenntnis von quantentheoretischen "Gegenständen" erlangen. Im vorigen wurde bereits klar, daß sie nicht unmittelbarer Anschauung zugänglich sind. Das gilt indessen auch für andere, z.T. ältere wissenschaftliche Phänomene. (Vgl. die Rolle optischer Geräte für die "Kopernikanische Wende" in der Kosmologie oder die völlige Unanschaulichkeit beispielsweise von Newtons erstem Bewegungsgesetz. Heisenbergs Bemerkung: "Die Welt der aus der täglichen Erfahrung stammenden Begriffe ist zum ersten Male verlassen worden in der Einsteinschen Relativitätstheorie,20,

ist daher strenggenommen falsch. Noch niemand "sah" die Äquivalenz der Summe der Kathetenquadrate mit dem der Hypotenuse, und für Galileis Vorstellung von einem "sich selbst überlassenen Körper" gilt genau das, was Heidegger dazu bemerkt: "Einen solchen Körper gibt es nicht."21 Quines Rede vom "myth of physical objects"22 zielt in die gleiche Richtung. - Dieser Hinweis ist nicht akademischer Natur. Wenn die Begriffe der Quantentheorie bloß andere Idealisierungen sind - ohne die, wie Heisenberg weiß, Wissenschaft nicht arbeiten kann23 -, so muß eine Auseinandersetzung mit

19 Von Weizsäcker nennt diesen Gedanken "das Zentrum der Kopenhagener Deutung" (Die Einheit der Natur, 225). 20 W. Heisenberg, Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, Stuttgart 1958 (Neudruck der Originalausgabe von 1930),47. 21 Heidegger, Die Frage nach dem Ding, 69. Vgl. auch O. Becker, Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, Freiburg/München 1959, 165. 22 W.V.O. Quine, "fwo Dogmas of Empiricism", in: ders., From a Logical Point of View, Cambridge (Mass.)/London 198if, 44. 23 Vgl. W. Heisenberg, Physik und Philosophie, Frankfurt/M./Berlin 1990 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1959), 84f.

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3 Regulative Strukturen in der Physik

ihnen auch diesen Umstand berücksichtigen.24 ) Es scheint jedoch im Fall der Quantentheorie in verschärfter Form zu gelten. Die Quantentheorie teilt zwar mit der gesamten modernen Naturwissenschaft die Methode der experimentellen Isolierung einzelner, überschaubarer Phänomene.2S Die Geschichte der Quantentheorie26 zeigt jedoch, daß diese Methode im Laufe der Zeit auf experimentelle Befunde stoßen ließ, die mit den für diese Vorgehensweise in Anspruch genommenen Voraussetzungen nicht in Einklang zu bringen waren. Insbesondere führten die Untersuchungen zum Strahlungsverhalten schwarzer Körper zu Ergebnissen, die sich durch die damals anerkannten Gesetze nicht erklären ließen.27 Man war hier offenbar auf einen bis dato völlig unbekannten Phänomenkomplex gestoßen, der, wie Max Planck im Jahr 1900 einzusehen sich genötigt sah, nur mit Hilfe der These erklärbar wurde, "daß Energie nur in diskreten Energiequanten emittiert und absorbiert werden kann"28. Vom Zeitpunkt dieser erstmaligen Formulierung der Quantenhypothese ab lassen sich vor allem drei wichtige Schritte unterscheiden. An erster Stelle sind die verschiedenen Untersuchungen zum Verhalten des Lichts zu nennen. Gemäß den Prämissen der älteren Strahlungstheorie müßte zum Beispiel die Energie von Elektronen, die eine dünne Metallfolie infolge der Bestrahlung durch unterschiedlich starkes Licht emittiert, abhängig sein von der Intensität des verwendeten Lichts. Genaue Messungen dieses sogenannten "photoelektrischen Effekts" mit Licht verschiedener Stärke sowie verschiedener Wellenlänge (Farbe) ergaben jedoch, daß die Frequenz (bzw. Wellenlänge) des einfallenden Lichts über die Energie der vom Metall wiederum ausgesandten Teilchen entschied. Es war Einstein, der in seiner "Lichtquantenhypothese" den Planckschen Ansatz dergestalt zur Erklärung dieses Phänomens heranzog, daß er im Gegensatz zur älteren Auffassung von Huyghens das Licht nicht mehr als Welle betrachtete, sondern als bestehend aus (einzelnen) Energie- bzw. "Lichtquanten", denen 24 Vgl. dazu auch von Weizsäcker, a.a.O., 171, sowie ders., Aufbau der Physik, 226f. Dort wird davon ausgegangen, daß die physikalische Theoriebildung allgemein (also auch die der Quantentheorie) so verfährt, begriffliche Idealisierungen zu finden, die sich mathematisch fonnalisieren lassen. Die Deutung einer physikalischen Theorie besteht dann in der umgekehrt ablaufenden Inbeziehungsetzung des Fonnalismus via Idealisierung zur "Wirklichkeit". (Vgl. Kap. 3.3)

2S Vgl. Popper, a.a.O., 72, und Heisenberg, a.a.O., 54. 26 A.a.O., 16ff.; von Weizsäcker, a.a.O., 276ff. und 489ff. 27 Vgl. a.a.O., 276f. und 287ff. 28 Heisenberg, a.a.O., 17.

3.2 Die Kopenhagener Deutung

247

bestimmte korpuskulare Eigenschaften zukommen. Die Energie des einzelnen Lichtquants war danach gleich dem Produkt von Lichtfrequenz und Planckschem Wirkungsquantum. Einen ähnlich großen Schritt bedeutete die (ebenfalls von Einstein durchgeführte) Anwendung der Quantenhypothese auf die spezifische Wärme fester Körper. Mit Hilfe der auf Kontinuitätsprämissen basierenden herkömmlichen Theorie und deren Gleichungen errechnete man zwar Werte, die im Bereich hoher Temperaturen experimentelle Bestätigung fanden. Im Bereich tiefer Temperaturen lagen die errechneten Werte jedoch viel höher als die Beobachtungen. Wiederum führte Plancks revolutionäre These in ihrer Anwendung auf die Atombewegungen in festen Körpern zu Werten, die der Erfahrung gerecht wurden. Schließlich war die theoretische Deutung der Atomstruktur inzwischen in ein neues Stadium eingetreten. Rutherfords Atommodell aus dem Jahr 1911 bildete hier einen vorläufigen Höhepunkt. So sehr indessen diese Untersuchungen Aufschluß über die atomaren Ladungs- und Massenverhältnisse lieferten, so blieb doch durch die Analogie zum Planetenmodell ungeklärt, weshalb atomare Zustände eine so große Stabilität aufweisen. Im Gegensatz zum Verhalten eines um einen Zentralplaneten kreisenden Trabanten, der unter großer äußerer Krafteinwirkung auf ihn das Planetensystem verlassen würde, zeichnen sich Atome sozusagen durch eine erstaunlich starke Identität aus. "( ... ) ein Kohlenstoffatom zum Beispiel wird ein Kohlenstoffatom bleiben, auch nach dem Zusammenstoß mit anderen Atomen oder nachdem es in einer chemischen Bindung mit anderen Atomen in Wechselwirkung gestanden hat."29

Auch hier eröffnete die Anwendung der Planckschen Quantenhypothese, diesmal durch Bohr, eine Erklärungsmöglichkeit. Zeichnen sich die atomaren Energiezustände dadurch aus, daß sie sich nur um diskrete, nicht-kontinuierliche Beträge ändern können, so lag die Vorstellung eines ausgezeichneten (energieärmsten) Zustands nahe, der sozusagen die stabile Standardform eines Atoms darstellt. 30 Wie Heisenberg berichtet, verstärkten die genannten sowie weitere Experimente zunächst den Eindruck, man habe es hier mit völlig widersprüchlichen Phänomenen zu tun. Vor allen Dingen die klassische "Undurchdringlichkeit"31, also die Annahme, daß ein materieller Körper eindeutig bestimmbare Grenzen hat, innerhalb deren die Anwesenheit 29 Aa.O., 19. 30 Vgl. a.a.O., 122. 31 Auf ihr beruht "der empirische Begriff der Materie" (AA IV (Prolegomena), 295).

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3 Regulative Strukturen in der Physik

anderer Körper ausgeschlossen ist, schien immer deutlicher außer Kraft zu geraten. Im Rahmen der herkömmlichen Begriffe gab es physikalisch exakte Beschreibungen derart, daß ein Körper x zum Zeitpunkt t bestimmte Koordinaten ausfüllte. 32 Insbesondere war ausgeschlossen, daß sich solche "Substanzen" wie Wellen verhalten, die sich nach der klassischen Undulationstheorie (Huyghens, Fresnel) nur in anderen Substanzen ausbreiten können. Nun legte aber Einsteins Interpretation des photoelektrischen Effekts oder auch Comptons Entdeckung der Frequenzänderung gestreuter Röntgenstrahlen außerordentlich nahe, daß dem Wellencharakter des Lichts, der sich z.B. in seinem Interferenz- und Beugungsverhalten manifestiert, ein korpuskulares Moment gegenübersteht.33 Diesen Dualismus von Wellen und Teilchen brachte de Broglie in direkten Zusammenhang mit der Mechanik der Elementarteilchen. Plancks Quantenhypothese sollte jetzt auch das Verhalten von Elektronen erklären, die sich nach diesem Vorschlag als "Materiewellen" um einen Atomkern bewegen. Auf zwei verschiedenen Wegen führte diese Entwicklung schließlich zur Ausarbeitung eines einwandfreien mathematischen Formalismus, einmal in Gestalt von Schrödingers Wellengleichung, dann in Form der äquivalenten Matrizenmechanik. Diese Ausarbeitung eines mathematisch konsistenten und funktionsfähigen Formelapparates bedeutete zwar einen wichtigen Schritt insbesondere hinsichtlich der Anwendbarkeit der (entstehenden) neuen Theorie. Damit waren jedoch keineswegs alle Probleme gelöst; denn, wie Heisenberg sehr schön formuliert, "die Paradoxa des Dualismus zwischen Wellen- und Partikelbild waren ja nicht gelöst, sie waren nur irgendwie in dem mathematischen Schema verschwunden"34.

Die philosophisch orientierten und interessierten Begründer der K.D.35 sahen sich vielmehr mit der Frage konfrontiert, inwiefern offenkundig einwandfreien (mit der Erfahrung übereinstimmenden) mathematischen For32 Zur philosophischen Begründung dieser "Verankerung" von Gegenständen im dreidimensionalen Weltraum etwa bei Leibniz vgl. Bennett, a.a.O., 145. 33 Für eine erhellende Schilderung der Irritationskraft der miteinander unvereinbaren Beobachtungen vgl. W. Heisenberg, "Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik", in: Wort und Wirklichkeit, hg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München 1960, 32ff., hier 48f. 34 Heisenberg, Physik und Philosophie, 24. 35 Selbst Heidegger, der die schöne Frage stellte, welches "die wirkliche Sonne" sei "- die Sonne des Hirten oder die Sonne des Astrophysikers?" (Heidegger, a.a.O., 10), war der Meinung, daß "die heute führenden Köpfe der Atomphysik, Niels Bohr und Heisenberg, durch und durch philosophisch denken" (a.a.O., 51).

3.2 Die Kopenhagener Deutung

249

malismen ein physikalischer Sinn abzugewinnen war. 36 Die charakteristische Antwort, die namentlich Bohr und Heisenberg auf diese Frage gaben, stellt im Grunde die K.D. der Quantentheorie dar. Ihre Schlüsselbegriffe lauten a) Wahrscheinlichkeit und b) Komplementarität. (a) Im Jahr 1924 führten Bohr, Kramers und SI at er erstmals den Begriff der Wahrscheinlichkeit (-swelle) in die Diskussion quanten physikalischer Phänomene ein. 37 Danach sollte die Frequenz des Lichts an einem bestimmten Punkt die Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit der "ein Lichtjgant von einem Atom an dieser Stelle absorbiert oder eventuell emittiert werden kann" .

Wenn auch die zu dieser Zeit sich hieran knüpfenden Folgerungen noch nicht korrekt waren, so eröffnete doch der Übergang zum Denken in Wahrscheinlichkeiten und die damit verbundene Revision der streng dualistischen (Teilchen oder Welle, existent oder inexistent39 usw.) klassischen Prämissen eine Sichtweise, die der Natur der fraglichen Phänomene offenbar wesentlich näher kam. Um die Plausibilität des Wahrscheinlichkeitsmodells für die Erklärung quantenmechanischer Effekte zu verstehen, muß man sich unter anderem klarmachen, daß die erwähnte mathematische Lösung der damit verbundenen Schwierigkeiten auf zwei mehr oder minder voneinander unabhängigen Wegen stattfand. Zunächst entwickelten Heisenberg, Born und Jordan ausgehend von Bohrs Korrespondenzprinzip40 die sogenannte Matrizenmechanik. Dort zeigte sich,

36 Die Beantwortung dieser Frage entscheidet darüber, inwieweit die moderne Physik zu "semantischer Konsistenz" (vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 196f., 23lff. u.ö.; ders., Aufbau der Physik, 253ff., 514ff. u.ö.) gelangt. Es ist die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Mathematik (vgi. a.a.O., 493, 501, 509, 514, 521, 54lff. u.ö.; s.u.) Nach einer gelungenen, freilich zu ganz anderen, nämlich "Entiarvungs"-Zwecken gebrauchten Wendung Nietzsches: "Man will zurück ( ... ) aus den Formeln zu den Formen." (Nietzsche, Band VI, 465) 37 Vgi. von Weizsäcker, a.a.O., 298 und 492. 38 Heisenberg, Physik und Philosophie, 25. 39 Vgi. von Weizsäckers Hinweis auf das Buch von F. Bopp, Sein oder Nichtsein als Grundfrage der Quantenphysik, 1984 (von Weizsäcker, a.a.O., 342). 40 "Korrespondenz bezeichnete bei der Suche nach der Quantentheorie diejenigen Forderungen, die man an die noch unbekannte Theorie stellen mußte, damit sie die bekannte klassische Theorie als Näherung zulassen konnte." (A.a.O., 297f.)

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3 Regulative Strukturen in der Physik

"daß die Matrizen, die die Lage und das Bewegungsmoment der Elektronen darstellen, nicht miteinander vertauschbar sind 41 .

Demgegenüber knüpfte Schrödinger an de Broglies Vorschlag an, Elektronen in Analogie zum Verhalten des Lichts als Materiewellen aufzufassen. Ein wichtiger Umstand hierbei bestand darin, daß es sich nur um stehende Wellen um den Atomkern handeln konnte, deren Bahnumfang infolgedessen als "ganzzahliges Vielfaches der Wellenlänge"42 die Ouantenbedingungen erfüllte. Schon der daraus resultierende Formalismus mußte aber mit der dreidimensionalen Wellenvorstellung brechen. Bedenkt man nun, daß die einmal im Ausgang von der klassischen Punktmechanik, zum andern der klassischen Wellentheorie durch deren jeweilige "Ouantelung"43 aufgebauten mathematischen Formalisierungen sich als äquivalent erwiesen44 , so wird verständlich, inwiefern sich das Wahrscheinlichkeitsmodell als Möglichkeit zur Überwindung des Dualismus von Welle und Teilchen anbot. Angesichts der Beobachtungen und theoretischen Entwicklungen "lag die statistische Deutung ( ... ) in der Luft"45. Wenn ein und derselbe hypothetische Gegenstand sich einmal wie eine Welle, dann wieder wie ein Teilchen verhält, dessen Orts- und Impulskomponente zudem nicht eindeutig aufeinander beziehbar sind, so scheint das Wahrscheinlichkeitsmodell den vorliegenden, eigentümlich flüchtigen und intermittierenden Zwischenzuständen in der Tat näher zu kommen als die klassischen Vorstellungen. In der schließlich anerkannten, bis heute geltenden Form gibt daher eine quantenmechanische Wellengleichung Auskunft über die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons im Raum um den Atomkern.46 (b) Das andere entscheidende Moment der K.D. besteht in der berühmten und bereits zitierten These von der Unverzichtbarkeit "klassischer" Beschreibungen. Heisenberg etwa spricht von dem "Paradoxon", daß 41 Heisenberg, a.a.O., 24.

42

A.a.O.,

22.

43

Vgl. von Weizsäcker, a.a.O., 504f.

44 Vgl. a.a.O., 281, 503ff; ders., Die Einheit der Natur, 16lf.

45 Von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 496; vgl. auch Popper, a.a.O., 173f. 46 Diese Wellengleichung oder "Psi-Funktion, also die Menge der Komponenten des Zustandsvektors, (ist) nichts anderes als die vollständige Liste aller möglichen Vorhersagen, die er [der Beobachter, D.K.) über das Ergebnis einer künftigen Messung machen kann, vorausgesetzt, daß das Ergebnis der letzten bekannt ist" (von Weizsäcker, a.a.O., 517).

3.2 Die Kopenhagener Deutung

251

"jedes physikalische Experiment, gleichgültig, ob es sich auf Erscheinungen des täglichen Lebens oder auf Atomphysik bezieht, ( ... ) in den Begriffen der klassischen Physik beschrieben werden (muß)047.

Im ersten Moment könnte man meinen, das sei zwar vielleicht bemerkenswert, letzten Endes aber doch eine in bezug auf die interessierenden, eben quantentheoretischen Effekte äußerliche und kontingente Tatsache. Betrachtet man sich jedoch den in dem Zitat zum Ausdruck kommenden Zusammenhang zwischen klassischen und atomaren Zuständen genauer, so ergibt sich ein anderes Bild. Stellen wir zunächst einmal die naheliegende Frage, warum es sich überhaupt so verhalten soll, wie Bohr, Heisenberg und andere behaupten. Die Antwort, die hierauf gegeben wird, weist einen mehr physikalischen (bI) und einen eher philosophischen Aspekt (bz) auf. (bI) Hier können wir zunächst an unsere Überlegungen zu der Frage anknüpfen, wie wir Kenntnis von quantenmechanischen Zuständen erlangen. Wir hatten gesehen, daß sie sich in besonderer Weise der unmittelbaren Anschauung entziehen. Deshalb benötigen wir spezielle Vorrichtungen zur Erfassung quantenmechanischer Effekte.48 Es bedarf also bestimmter Experimente und der mit ihnen ausgeführten Messungen. Diese müssen nun, obwohl sie auf Phänomene abzielen, die nicht mehr klassisch erklärbar sind, im Rahmen und mit den Begriffen der klassischen Physik beschrieben und angeordnet werden, um die atomaren Effekte in einer für uns wahrnehmbaren Form manifestieren zu können. In gewisser Weise könnte man sagen, die klassische Versuchsanordnung vereinige die Eigenschaften eines Katalysators mit denen einer speziellen Optik hinsichtlich der für uns als solche nicht wahrnehmbaren Phänomene. Quantenmechanische Zustände sind also immer Zustände "an" oder "in" klassischen Gegenständen (vice versa). Sie sind von diesen nicht isolierbar.49 Dieser Zusammenhang ist es, den von Weizsäcker, vorsichtiger als Heisenberg, als "scheinbares Paradoxon" charakterisiert.

47 Heisenberg, a.a.O., 28. 48 Neben dem Gravitationsfeld sind "Materie und Strahlung die einzigen in der Natur vorkommenden Realitäten" (Mittelstaedt, a.a.O., 103). Ich sehe zunächst ab von sich hieran anschließenden Fragen wie derjenigen, ob die an einem quantenmechanischen "System" vorgenommene Messung dessen Zustand erfasst oder erzeugt. 49 Vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 228. Die abstraktesten "Gegenstände" der Physik teilen diese Eigenschaft mit den allgemeinsten "Werkzeugen" menschlicher Erkenntnis. Auch die Kantischen Kategorien "lassen sich nicht als Dinge, sondern höchstens an Dingen vorstellen" (Specht, 17, Hervorhebungen D.K.).

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'(... ) die klassische Physik hat der Quantentheorie weichen müssen; die Quantentheorie wird durch die Experimente bestätigt; die Experimente muß man in den Begriffen der klassischen Physik beschreiben. ,50

(bz) Der zweite Aspekt der Unverzichtbarkeit klassischer Beschreibungen führt uns zu dem von Heisenberg angesprochenen Problem zurück, wie denn nun der, in der mathematischen Formel lediglich "verschwundene", Dualismus zwischen Welle und Teilchen und damit die Quantentheorie überhaupt zu verstehen sei. Die K.D. zeichnet sich ja u.a. durch die dem skizzierten ("scheinbaren") Paradoxon analoge Doppelstrategie aus, einerseits die Forderung nach "anschaulicher" Darstellung quantenmechanischer Größen zurückzuweisen51 , andererseits und beinah im selben Atemzug dennoch die "korrekte physikalische Interpretation"52, ja sogar so etwas wie die "Deutung ihrer Deutung"53 anzustreben. Von Weizsäcker bemerkt zur Tragweite dieses hermeneutisch-philosophischen Problems treffend: '( ... ) man wird es nicht für leichter halten, die Atome als die Zahlen zu verstehen ...54

Heisenberg weist in diesem Zusammenhang die Idee, zur Vermeidung des zitierten (scheinbaren) Paradoxons die klassischen Begriffe einfach völlig aufzugeben, mit folgenden Worten zurück: 'Dieser Vorschlag beruht aber auf einem Mißverständnis. Die Begriffe der klassischen Physik sind nur eine Verfeinerung der Begriffe des täglichen Lebens und bilden einen wesentlichen Teil der Sprache, die die Voraussetzung für alle Naturwissenschaft bildet. Unsere wirkliche Lage in der Naturwissenschaft ist so, daß wir tatsächlich die klassischen Begriffe für die Beschreibung unserer Experimente benützen und benützen müssen, denn sonst könnten wir uns nicht verständigen. 055

In einer anderen Arbeit Heisenbergs heißt es sogar: 'Wir müssen über sie ~ie Atome, D.K.) reden, denn sonst könnten wir unsere Experimente nicht verstehen. 6

50 Von Weizsäcker, a.a.O., 225. Zur Strukturähnlichkeit des mit diesem "scheinbaren Paradox' verbundenen Zirkels (vgl. a.a.O., 82; Heisenberg, 'Sprache und Bewußtsein .. .", 54f.) mit dem "fruchtbaren" Zirkel diskursiver Verständigungsprozesse s.u., Kap. 4.

51 Vgl. Heisenberg, Physik und Philosophie, 31, 34f. 116; von Weizsäcker, a.a.O., 227. 52 Heisenberg, a.a.O, 17. 53 Vgl. von Weizsäcker, a.a.O., 225. 54 Ebd. 55 Heisenberg, a.a.O., 38.

56 Heisenberg, 'Sprache und Wirklichkeit .. .", 49 (auch 55); ganz ähnlich von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 509.

3.2 Die Kopenhagener Deutung

253

Ich denke, hier wird ein Gedanke ausgesprochen, der von nicht geringer Bedeutung für die Frage nach der Verstehbarkeit der Atomphysik - und letztlich nach dem "Verstehen" überhaupt - ist. Wie aus dem Zitat und vielen ähnlichen Bemerkungen deutlich wird, bildet die Quantenmechanik die letzte Stufe des Voraussetzungsgefüges zwischen Umgangssprache - klassischer Physik - Quantenmechanik. Es scheint nun nicht einfach so, daß wir einerseits die Alltagssprache haben und, andererseits, davon völlig isolierte physikalische Phänomene, zu deren "Kommunikation" sich die Alltagssprache zufälligerweise (mehr oder weniger) eignet. Heisenbergs Bemerkungen deuten vielmehr darauf hin, daß die Alltags- oder Umgangssprache in ganz bestimmter Weise als Voraussetzung "moderner" physikalischer Prinzipien fungiert. Versuchen wir, dieses Voraussetzungsverhältnis näher zu beleuchten. Zunächst einmal läßt sich die Umgangssprache insofern als Voraussetzung der Physik verstehen, als deren Probleme sich aus sprachlich strukturiertem sozialem Handeln heraus stellen57, und als der Versuch, diese Probleme zu "verstehen", wiederum auf Verständigungsprozesse angewiesen ist. "Jede Art von Verständnis aber, sei es wissenschaftlich oder nichtwissenschaftlich, hängt von unserer Sprache ab, hängt davon ab, daß wir Gedanken mitteilen können. Auch jede Beschreibung von Erscheinungen, von Versuchen und ihren Ergebnissen beruht auf der Sprache als dem einzigen Mittel zur Verständigung ..58

So gesehen steht die Artikulation physikalischer Probleme59 in einer internen (wenn auch nicht hinreichend aufgeklärten) Beziehung zu den Verstehens- und, wie Heisenberg sagt, Mitteilungsbemühungen, die wir mit "unserer" Sprache unternehmen. Dieses Voraussetzungsverhältnis besitzt eine (sozial-) geschichtliche (die moderne Physik ist eine recht späte kulturelle Errungenschaff>O), aber auch eine logische Dimension. Letztere besteht darin, daß es, überspitzt formuliert, ohne Umgangssprache auch keine quantentheoretischen Probleme gäbe. Damit diese überhaupt Gegen57 Heisenberg geht ja ebenfalls davon aus, "daß sich unsere natürliche Sprache aus dem Umgang mit der sinnlich erfahrbaren Welt gebildet hat" (Heisenberg, a.a.O., 33). Für eine Zusammenfassung dessen, wie er sich diesen Prozeß vorstellt, vgl. ders., Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, 1; zu Einwänden gegen damit verbundene Folgerungen sh. oben. 58 Heisenberg, Physik und Philosophie, 115f. 59 Die dessen ungeachtet einen "technischen" Kern besitzen und als solche dem "Funktionskreis instrumentellen Handeins" entstammen (vgl. Haberrnas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. 1, 384ff.). 60 Vgl. von Weizsäckers bekanntes Diktum "Der Mensch ist früher als die Naturwissenschaft, aber die Natur ist früher als der Mensch. "(Zitiert nach Apel, Der Denkweg von Charies S. Peirce, 271)

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3 Regulative Strukturen in der Physik

stand wissenschaftlicher Forschung werden konnten, bedurfte es zunächst einmal der Entwicklung und Ausdifferenzierung des "Paradigmas" der klassischen Physik. Deren Begriffe wiederum sind jedoch, wie wir sahen, in gewisser Hinsicht "nur eine Verfeinerung der Begriffe des täglichen Lebens"61 und "eine Folge der allgemeinen geistigen Entwicklung der Menschheit'062. Sofern also die Umgangssprache als ursprüngliches und einziges Medium unserer Verständigung anzusehen ist, müßte sich die Quantenmechanik als "Produkt" ihrer "Verfeinerung" begreifen lassen. So gesehen setzte das "Verstehen" der Quantenmechanik eine lückenlose Rekonstruktion ihrer semantischen Verwurzelung in der Umgangssprache voraus. Darüber hinaus verstehen sich die Gesetze der klassischen Physik als auch diejenigen der Quantenphysik nicht so, als bezögen sie sich auf mit ihnen entstandene Phänomene. Ihr Geltungsanspruch ist vielmehr universal in dem Sinn, daß sie sich auf physikalische Phänomene schlechthin (zu jeder Zeit und an jedem Ort) beziehen.63 Sofern sich dieser Begriff "universaler Gültigkeit" bzw. "Gesetzmäßigkeit" wiederum nur im Rekurs auf die Umgangssprache verständlich machen läßt, wäre auch insofern die Quantentheorie ihrem Problem- und Sachgehalt nach zumindest strukturell in der Umgangssprache angelegt (oder gar potentiell in ihr enthalten). Von Weizsäcker zieht aus den skizzierten genetischen wie logischen Voraussetzungsverhältnissen jedenfalls den Schluß, daß die Beziehung wissenschaftlicher Theorien auf die Umgangssprache über deren Sachgehalt entscheidet (bzw. daß er von der Aufhellung dieses Zusammenhangs abhängt). Der Umstand, daß die Formulierung wissenschaftlicher Theorien Ergebnis eines vielfältigen, langwierigen Mitteilungs- und Verstehensprozesses ist, dieser selbst aber wiederum aus den Verständigungsprozessen in der sogenannten "natürlichen" Sprache hervorgeht, führt dabei nicht nur zur Unmöglichkeit einer (vollkommen) "exakten Realwissenschaft"64. Vielmehr deutet er zugleich darauf hin, daß die Umgangssprache zugleich immer schon Ausdruck naiver, vorgängiger Deutungsprozesse ist und damit das in gewisser Weise ursprüngliche Reservoir für wissenschaftlichen Sach- und Problemgehalt darstellt. Im Hinblick auf die Sprache der Physik führen ihn diese Überlegungen zu folgendem Schluß: "Es gibt einen immer schon erschlossenen Bereich, in dem man sich gut genug verständigen kann, um - auf das dort herrschende Verständnis aufbauend - neue Bereiche zu erschließen. Der schon erschlossene Bereich, in dem wir uns verständigen können, ist uns erschlossen nicht nur, aber weitgehend durch die Sprache, die wir immer schon sprechen.

61 62

Heisenberg, Physik und Philosophie, 38.

63

Vgl. a.a.O., 52.

64

Vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 66.

Ebd.

3.2 Die Kopenhagener Deutung

255

Daher ist die »natürliche« Sprache, d.h. die Sprache, die wir jeweils haben und die die Logiker heute manchmal Umgangssprache nennen, die Voraussetzung der weiteren Erkenntnis und damit auch der weiteren Verschärfung der Begriffe. Verschärfung der Begriffe heißt aber: Korrektur der Umgangssprache. Und so ist diese Sprache ein Mittel, das uns immer von neuem Wirklichkeit erschließt und uns an Hand der erkannten Wirklichkeit gestattet, jenes Mittel selbst zu korrigieren. Dieser, wenn man so will, zirkelhafte Vorgang scheint mir deIjenige zu sein, der, von der sprachlichen Seite her gesehen, in einer Wissenschaft wie der Physik unablässig geschieht..os

Diese Überlegungen zeigen, daß die Umgangssprache in der Tat in einem weiten Sinn nicht nur "die Voraussetzung der weiteren Erkenntnis", sondern, wie Heisenberg sagt, die "Voraussetzung für alle Naturwissenschaft"66 ist. Von Weizsäcker wagt sogar die Behauptung, daß die für die klassische Physik wie auch für seine Interpretation der Quantenmechanik fundamentale "zeitliche Logik in den Ausdrucksweisen der Umgangssprache, vielleicht am deutlichsten in den indogermanischen Sprachen, schon implizite enthalten ist..67.

Die Bedeutung dieses Voraussetzungsverhältnisses wird im übrigen auch daran sichtbar, daß es letzten Endes genau diese Nichthintergehbarkeit der Umgangssprache ist, die auch Popper dazu veranlaßte, die neopositivistischen Bemühungen zur Neuauflage des Programms einer vollkommen "exakten"68, sozusagen erfahrungsunmittelbaren Idealsprache ohne Anschluß an die (oder gar im bewußten Gegensatz zur) Umgangssprache zurückzuweisen. Das läßt sich anband seiner Begründung dieser Kritik zeigen. Da sich sowohl eine völlig "phänomenale" Sprache (Schlick) wie auch die sogenannten "Protokollsätze" (Neurath, Carnap) der einzigartigen Mittel bedienen muß, die sich in der Umgangssprache ausgebildet haben, gehen in beide Ansätze auch diejenigen Bedeutungsmuster, Regeln, Verallgemeinerungen und impliziten Ordnungen ein, von denen die natürliche Sprache durchsetzt ist. Deshalb ist die Vorstellung einer unmittelbaren Sprache in Poppers Augen eine Fiktion. "(... ) unsere Alltagssprache ist voll von Theorien; Beobachtung ist stets BeobaclUung im UclU von Theorien; aber das induktivistische Vorurteil verleitet viele dazu, zu glauben, es könne eine theorienfreie und rein beschreibende Sprache ("phenomenal language") geben, die von einer "theoretischen Sprache" unterscheidbar wäre ...69 65 Aa.O., 82; ähnlich 65.

66 Heisenberg, a.a.O., 38. 67 Von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 315.

68 Zum komparativen Charakter dieses Ausdrucks in denjenigen Wissenschaften, "die sich mit realen Dingen beschäftigen", vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 65.

69 Popper, a.a.O., 31.

256

3 Regulative Strukturen in der Physik

Dieser Zusammenhang zwischen der "Alltagssprache" und der Wissenschaft bleibt freilich bei Popper mehr oder minder unartikuliert. Daß er jene aber als Voraussetzung für diese im oben erörterten Sinn betrachtet, zeigt nicht nur sein ständiger Anschluß an den "Sprachgebrauch"?O Vielmehr erhellt die Berücksichtigung dieses Voraussetzungsverhältnisses eine entscheidende Prämisse seines Begriffs von Wissenschaft: weil die Umgangssprache Voraussetzung der Wissenschaft ist, ist diese (wie jene) immer schon unterwegs und kann verbessert werden. Sie bewegt sich dabei in Poppers Augen auf einem Boden, der durch Tragfähigkeit wie Fragwürdigkeit (Fallibilität) zugleich gekennzeichnet ist 71 - nämlich, wie zu ergänzen ist, insofern sie aus der ebenfalls falliblen wie tragfähigen Umgangssprache hervorgeht. Wenn Popper schließlich "Begründungen" für wissenschaftliche Theorien zugunsten der "Festsetzung" von "Basissätzen"72 ablehnt, so sind auch diese auf umgangssprachliche Mittel angewiesen?3 Als geradezu kongeniale Zusammenfassung dieses Wissenschaftsbilds (die die Nichthintergehbarkeit der Umgangssprache ebenfalls nicht konsequent berücksichtigt hat), kann eine Bemerkung Heisenbergs gelten. Danach scheint es aufgrund der unvermeidlichen Vagheit der "alltäglichsten Begriffe ( ... ) geratener [sie!), zunächst einen großen Reichtum von Begriffen in eine physikalische Theorie einzuführen, ohne Rücksicht auf die strenge Rechtfertigung durch die Erfahrung, und der Natur im Einzelfall jeder Theorie die Entscheidung darüber zu überlassen, ob und an welchen Punkten eine Revision der Grundbegriffe erforderlich sei." 74

Zusammenfassend können wir jedenfalls festhalten, daß das Spektrum der Auffassungen, die von einer grundsätzlichen (wenn auch ganz unterschiedlich interpretierten) Nichthintergehbarkeit der Umgangssprache ausgehen, von der K.D. der Quantentheorie über Poppers Wissenschaftsphilosophie bis hin zur Diskurstheorie von Habermas und Apel reicht. 75 70 Vgl. a.a.O., 51, 56, 69, 97 u.ö. 71 A.a.O., 75f.

72

A.a.O., 73.

73 Vgl. Apel, "Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung", 126ff. 74 Heisenberg, Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, H. Die ungenügende Berücksichtigung des Voraussetzungscharakters der Umgangssprache besteht im Fall dieses Zitats darin, daß das Wörtchen "geratener" suggeriert, man könne über dieses umgangssprachliche Vorverständnis nach Belieben verfügen. 75 Auch wenn Einstein sagt: "Erst die Theorie entscheidet, was beobachtet werden kann" (zitiert nach von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 501), diese daher "nicht aus Beobachtungsresultaten fabriziert, sondern nur erfunden werden kann" (Brief an Popper vom 11.9.1935, abgedruckt in: Popper, a.a.O., 412ff., hier 413), so fragt sich natürlich, was hier

3.2 Die Kopenhagener Deutung

257

Nun sind jedoch andererseits hochabstrakte theoretische Begriffe der Umgangssprache offensichtlich nicht unmittelbar zu entnehmen. Es stellt sich die Frage, was überhaupt "die" Umgangssprache ist. Überdies deutete sich bereits in von Weizsäckers Anerkennung ihres Voraussetzungscharakters ihre gleichzeitige Korrekturbedürftigkeit an.76 Unsere Ausgangsfrage, welche Voraussetzung die Umgangssprache im einzelnen und genau darstellt, verlangt im Hinblick auf die Quantenmechanik unter anderem nach einer Klärung der bislang eher übergangenen (im folgenden nicht ganz treffend formulierten) Alternative, "was ein Experiment, eine Messung ausmacht, und welche Art Sprache zur Mitteilung der Ergebnisse benützt [genauer: "benötigt", D.K) wird; ist es die der klassischen Physik, wie Niels Bohr zu denken scheint, oder ist es die »natürliche Sprache«, in welcher jedermann im Verhalten des täglichen Lebens der Welt, seinen Mitmenschen und sich selbst begegnet?"n

Gleichzeitig muß von der anderen Seite aus, also aus der Perspektive der Physik, betrachtet offensichtlich damit gerechnet werden, daß wir auf Gegenstände und Probleme stoßen, deren Besonderheiten mit den Mitteln der natürlichen Sprache (noch) nicht erfaßt werden können. Erst wenn man das zumindest als Möglichkeit einräumt, kommt man in die Lage, sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Umgangssprache und Wissenschaft in ihrer ganzen (quantenmechanischen) Komplexität vor Augen führen zu können. Betrachten wir die Frage nach dem konkreten Verhältnis zwischen Umgangssprache und Quantenphysik zunächst einmal im Hinblick auf ihre Voraussetzung "klassischer" Begriffe.78 Von der Klärung ihres Verhältnisses zu den Begriffen der Quantentheorie hängt die Vermeidung eines "neuen Dualismus", nämlich desjenigen "zwischen klassischer und quantentheoretischer Beschreibungsweise"79, ab. Nach von Weizsäckers Darstellung erledigt sich eine solche Position, wenn wir uns klarmachen, "was das Auszeichnende der »klassischen« Begriffe eigentlich ist. Es ist nicht eine besondere Eignung, sinnlich Wahrgenommenes zu beschreiben; denn was man sinnlich wahrzu"erfunden" heißt. Ein naheliegender Kandidat für den dazu erforderlichen "Fundus" ist auch hier die Umgangssprache. 76 Wie die theoretische Diskussion über die Umgangssprache zwischen diesen beiden Polen "zirkuliert", dokumentiert J.S.Petöfi/A.Podlech/E. von Savigny (Hg.), Fachsprache Umgangssprache, Kronberg 1975. 77 Weyl,339. 78 Vgl. dazu von Weizsäcker, a.a.O., 289ff., 489ff. u.ö., sowie ders., Die Einheit der Natur, 225.

79

Von Weizsäcker, a.a.O., 158.

17 Kövekcr

258

3 Regulative Strukturen in der Physik

nehmen überzeugt ist, hängt von der Theorie ab, die man mitbringt. & ist vielmehr die

Objektivierbarkeit des Geschehens..so

Hier muß zunächst bemerkt werden, daß von Weizsäckers Übernahme der Einsteinschen These von der Theorieimprägniertheit aller BeobachtungS 1 an dieser Stelle zu einer etwas verkürzenden Behandlung der Wahrnehmungsdimension von "Erkenntnis" verleitet. So richtig es ist, daß die benutzte Theorie den Inhalt des zu Erkennenden begrifflich einschränkt, so sind doch davon diejenigen einschränkenden Bedingungen der Erkenntnis zu unterscheiden, die aus der besonderen Struktur unseres anschauungsgebundenen Wahrnehmungsapparates resultieren. An dieser Einsicht Kants ist zumindest hier noch, beim Versuch der Charakterisierung "klassischer" Begriffe (die jedenfalls bei Kant nur durch die Beziehung auf nicht zuletzt anschauungsgebundene "Erfahrung" "Sinn und Bedeutung" gewinnen), festzuhalten. 82 Andererseits - und vermutlich war von Weizsäcker hier durch diesen Gedanken geleitet - läßt sich der klassische (und damit auch Kantische) Objektbegriff durchaus als Abkürzung für das soeben angesprochene Bedingungsverhältnis zwischen den sinnlichen und den begrifflichen Bestandteilen der Erkenntnis verstehen.83 Wenn nun dieser zentrale Begriff der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie in der Quantentheorie seine Gültigkeit verloren haben soll, so scheint zunächst nicht leicht abzusehen, inwiefern hier ein echter Dualismus, also die Konkurrenz zweier einander ausschließender Beschreibungsmodelle, vermieden werden kann. In der Regel bezeichnet man zumal in den Naturwissenschaften eine Theorie wie die klassische Physik, die ·nicht nur empirisch widerlegt ist, sondern ( ... ) auch apriori kaum eine Chance hat oder hatte, eine exakte Theorie der Phänomene zu sein..84,

schlicht als falsch (Beispiel: die Überwindung des geozentrischen Weltbildes). Steht überdies wie im vorliegenden Fall ein leistungsfähigeres alternatives Erklärungsmodell zur Verfügung, so scheint die widerlegte Theorie von nurmehr antiquarischem Interesse. Warum soll das nicht auch für das Verhältnis zwischen klassischer Physik und Quantenmechanik gelten? Von Weizsäckers Erörterung dieses Problems bedient sich der vieldiskutierten 80 Ebd.

81 S.o., Anm. 65. 82 Wie sich noch zeigen wird, kann die Frage, wie weit diese Einsicht Kants gültig bleibt, als heuristischer Leitfaden bei der Klärung der theoretischen Grundlagen der Quantentheorie dienen. 83 ·Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.· (B 137) 84 Von Weizsäcker, a.a.O., 229.

3.2 Die Kopenhagener Deutung

259

Behauptung der K.D., daß im Zusammenhang mikrophysikaliseher Erscheinungen und insbesondere deren Erfassung die klassische Subjekt-ObjektTrennung nicht mehr in der gewohnten Strenge aufrechterhalten werden kann. 85 Bevor wir also die genannte Frage, inwieweit ein veränderter Objektbegriff das Verhältnis zwischen klassischen und quantentheoretischen Begriffen beeinflußt, beantworten können, müssen wir folglich zunächst klären, inwiefern sich der Objektbegriff verändert hat. Die klassische Physik gelangt am Ende einer langen, gut zweitausendjährigen Geschichte der begrifflichen Beschäftigung mit der Natur dazu, sie unter der paradigmatischen Einstellung von Objekten "für Subjekte"86 zu betrachten. Dieser Objektivierungsprozeß zeigt ein erkenntnistheoretisches Moment, das "den Beobachter strikt vom Objekt (trennt)"87. Dem korrespondiert der Versuch, auch sachlich, experimentell einzelne Objekte bestmöglich zu isolieren und somit zu analysieren.88 Freilich steckt in diesem naturwissenschaftlichen Programm der Beobachtung und Erkenntnis einzelner, isolierter Objekte von vornherein ein methodischer Widerspruch: Ein im Sinne dieses Programms optimal isoliertes Objekt wäre kein Objekt mehr für uns. Insofern ist, wie von Weizsäcker erkannt hat, dieses Programm, wenn man es konsequent verfolgen will, undurchführbar. "Als ein isoliertes Objekt im strengen Sinne wäre eines zu verstehen, das auf den Rest der Welt nicht einwirkt und von ihm keine Einwirkung empfängt. In diesem strengsten Sinne kann es nicht Gegenstand einer empirischen Theorie sein, da jede empirische Kenntnisnahme eine Einwirkung des Objekts auf das kenntnisnehmende Subjekt voraussetzt."89

Die klare Trennung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis wird nun insbesondere quantentheoretisch untergraben. Im atomaren Bereich sind die "Objekte" von solcher Art, daß sie wie erwähnt nur mit Hilfe aufwendiger Versuchsanordnungen beobachtbar werden. Gleichzeitig 85 Vgl. etwa Heisenberg, Physik und Philosophie, 35ff.; von Weizsäcker, a.a.O., 35, 235, 527fr., 557fr., 614 Fn.); Popper, a.a.O., 169; Mittelstaedt, a.a.O., 105fr.

86

Vgl. von Weizsäcker, a.a.O., 199; ähnlich 235 u.Ö.

87 Von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 527. 88 S.o., Anm. 22. - Kant betrachtet in einer berühmten Stelle aus der "Vorrede" zur zweiten Auflage der KrV das Zusammenwirken der beiden genannten Momente als die via regia der naturwissenschaftlichen Methode. "Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." (B XIII) 89 Von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 199. 17·

260

3 Regulative Strukturen in der Physik

übt jedoch diese Beobachtung einen wesentlichen Einfluß auf die Phänomene selbst aus. Mikrophysikalische Phänomene sind derart an der sozusagen "inneren Grenze" der Welt angesiedelt, daß beispielsweise nur sehr energiereiches Licht dazu in der Lage ist, in diesen Grenzbereich vorzudringen. Der Meß- oder Beobachtungsversuch mit solchem Licht führt dazu, daß das zu beobachtende "Objekt" - die präsumtive Bahn des Elektrons aufgrund der Eigenenergie des vom Beobachter verwendeten Lichtes zerstört wird. 90 Das Teilchen würde unweigerlich aus seiner "Bahn" gestoßen. Die klassischen "Spuren" bzw. "Dokumente"91, die ein Elektron beispielsweise als Kondensstreifen in einer Nebelkammer erzeugt92, lassen daher keine verallgemeinernden Schlüsse wie den auf die Existenz einer Elektronenbahn zu. Dies verbieten die "Gedankenexperimente" zur Meßbarkeit atomarer Größen, das Interferenzverhalten des Lichts u.ä.m. Indem die Phänomene ("Zustände") im atomaren Bereich von dieser Art sind, ist das klassische Subjekt-Objekt-Schema ihnen völlig unangemessen. Gleichzeitig aber, und damit eröffnet sich nun eine Antwort auf die Frage nach der davon unberührten Unverzichtbarkeit klassischer Beschreibungen, wüßten wir, wie Heisenberg sagte, bei einem Aufgeben der klassischen Begriffe gar nicht mehr, wie wir uns über die in Frage stehenden Phänomene verständigen sollten. Nun könnte man einwenden, daß mathematisch hinreichend Gebildete sich der rechnerischen Mittel bedienen könnten, wodurch eine formalismusinteme "Verständigung" gewährleistet wäre. Worauf Heisenberg aber eigentlich hinweisen wollte, ist der Umstand, daß das noch keine Physik wäre. Dafür ist die uns umgebende, gegenständliche äußere Welt zumindest teilkonstitutiv.93 Damit diese, so läßt sich jetzt sagen, überhaupt "Objekt" nichtobjektivierender Ansätze (wie der Quantenmechanik) werden kann, müssen wir sie wahrnehmen können. Dafür wiederum brauchen wir die klassischen Begriffe ("Begriffe ohne Anschauungen sind leer. .. "). Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, daß die klassischen Begriffe nicht völlig aufzugeben sind, es aber gleichwohl zu keinem echten Dualismus kommt. Wenn von Weizsäcker sagt, es sei "die Objektivierbarkeit", die die klassischen Begriffe 90 S.u. 91 Vgl. von Weizsäcker, a.a.O., 246ff.; ders., Aufbau der Physik, 139ff. u.ö. 92 Vgl. Heisenberg, a.a.O., 21; von Weizsäcker, a.a.O., 502. 93 Quantentheorie wie Relativitätstheorie führen also zu "Veränderungen derjenigen Begriffe, mit deren Hilfe Erfahrungen überhaupt erst zustande kommen können" (Mittelstaedt, a.a.O., 45). Das bedeutet u.a., daß die klassische Physik, Kantisch gesprochen, eine im bezeichneten Sinn nichthintergehbare Bedingung der Möglichkeit moderner Physik ist und bleibt. Das heißt meines Erachtens nicht automatisch, daß das Wahre etwas Falsches zu seiner Voraussetzung hat, sondern daß wir es hier mit einer originären und unvelWechselbaren (Doppel-) Struktur menschlicher Welterfahrung zu tun haben.

3.2 Die Kopenhagener Deutung

261

auszeichne, so deutet das darauf hin, daß das Subjekt-Objekt-Modell das für die klassischen Gegenstände und die Ausbildung der auf sie bezogenen Theorie adäquate - vielleicht sogar einzig adäquate - Modell war, um dergleichen in den Einzugsbereich menschlichen Wahrnehmens und Denkens gelangen zu lassen. Das wiederum gäbe Grund zu der Annahme, daß die Subjekt-Objekt-Relation erheblich "tiefer" angelegt ist als andere theoretische "Einstellungen,,94. Insofern war und ist die klassische Physik, um mit Hegel zu sprechen, eine "aufgehobene" Voraussetzung der Quantentheorie indem diese jene "widerlegt" .95 Sie vermeidet jedoch den genannten Dualismus, weil sie Teilchen- und Wellenmodell als einander ergänzende, komplementäre Beschreibungen, Kantisch gewendet, "eines einigen zum Grunde liegenden" (B 48) Phänomens "gerade auf der Grenze" zwischen beiden betrachtet. Der Kreis unserer quantentheoretischen Überlegungen schließt sich hier durch die Verbindung zu der wahrscheinlichkeitstheoretischen Lösung des Welle-Teilchen-Dualismus. Wir hatten oben bemerkt, daß dessen Unterminierung der klassischen Vorstellungen zu einer statistischen Deutung führte. Nun können wir sehen, daß in genau dem Sinn, in dem sich die quantenmechanischen Phänomene einer klassischen (deterministischen) Lokalisierung entziehen, sie auch nicht mehr die Bedingungen des klassischen Objektbegriffs erfüllen. Von Weizsäcker nennt den damit verbundenen "Verzicht auf den Glauben an die »objektive Realität« der physikalischen Objekte" den "zentralen Punkt des Opfers"96,

94

Die in der Optik gängige Rede von einem "Objektiv" für die zu Ablichtungen, Vergrößerungen etc. verwendeten projizierenden Linsen verdeutlicht das perspektivische Moment, das - so betrachtet - gleichwohl auch dem Objektbegriff anhaftet.

95 Für Überlegungen zu einer im Objektbegriff angelegten Fähigkeit zur Selbstkorrektur vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 199. - Etwas Analoges gilt offenbar für den relativistischen Zeitbegriff. Dort muß nämlich "beachtet werden, daß z.B. die Relativitätstheorie nicht nur Formeln zur exakten Beschreibung der Welt und des Universums zur Verfügung hat, sondern daß diese Formeln allererst formuliert werden müssen. Dabei ist es zweifelsohne nötig, auf Vorstellungen des allgemeinen Bewußtseins zurückzugreifen, die obzwar im Verlauf der Ableitungen und ihrer Interpretation modifiziert oder gar abgewiesen, dennoch einen wesentlichen Bestandteil des theoretischen Prozesses bilden, wie dies etwa in der Kritik AA Robbs an A Einsteins Begriff der Gleichzeitigkeit deutlich wird." (W. Dupre, "Zeit", in: Krings/BaumgartnerjWild, Bd. 6, 1805) 96 Von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 539. Die "Trauerarbeit" hinsichtlich des Verlustes der klassischen Begriffe (vgl. a.a.O., 561 und 567) erinnert an die drei großen "narzistischen Kränkungen", die die Wissenschaft in Gestalt des Kopernikanischen Weltbildes, der Darwinschen Abstammungslehre und der Freudschen Psychoanalyse den Menschen zufügte (vgl. S.Freud, "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse", in: ders., Darstellungen der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1973, 130-138).

262

3 Regulative Strukturen in der Physik

den ein Verständnis der Quantenmechanik verlangt. Hieran zeigt sich, inwieweit Bennetts Hinweis, Kants Vernunfttheorie verfüge über kein "concept of an object'097, selbst wenn er ihn Kant-immanent adäquat entwickelt hätte, als Argument gegen Kants Vernunfttheorie taugt: überhaupt nicht.98 Daß im Gegensatz zu dieser vorurteilsgelenkten Verkennung des theoretischen Potentials von Kants regulativem Vernunftbegriff dieser höchst erhellende Fragestellungen eröffnet, wird im folgenden deutlich.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren Vor dem Hintergrund der K.D. der Quantentheorie, wie ich sie im vorigen an Hand der für sie zentralen Begriffe "Wahrscheinlichkeit" und "Komplementarität" in groben Zügen rekonstruiert habe, wende ich mich nun der Frage zu, ob bzw. inwieweit dieser Ansatz regulative Strukturen im Sinne Kants aufweist. Wir hatten oben verfolgt99, wie Kant sein "regulatives Prinzip der reinen Vernunft" ursprünglich aus der (erkenntnistheoretischen) Auseinandersetzung mit den physikalischen Problemen von Kosmologie und Atomistik gewinnt. Dabei konnten vier analytisch klar voneinander abgrenzbare, elementare Überlegungen unterschieden werden. Unter der Voraussetzung, daß es sich bei diesen vier Argumentationsschritten um die entscheidenden, theoriekonstitutiven "Züge" Kants zur Herausarbeitung des "regulativen Prinzips der reinen Vernunft" handelt - ich habe verschiedene, philologische wie philosophische Argumente für diese Auffassung zusammengetragen -, unter dieser Voraussetzung sollte es möglich sein, die Frage nach etwaigen regulativen Strukturen in der K.D. am Leitfaden dieser vier Momente einer klaren und einsichtigen Beantwortung zuzuführen. Um den angestrebten Vergleich zu erleichtern, nenne ich noch einmal die vier Argumente: (1) Das Argument des "Transzendentalen Idealismus" (2) Das "Aufgaben"-Argument (3) Das "Widerstreit"-Argument (4) Das "Unbestimmtheits" -Argument. 97 Bennett, a.a.O., 288. 98 Vgl. auch die völlig "klassische" Argumentation Strawsons gegen Kant (etwa Strawson, a.a.O., 201). 99 S.o., Kap. 2.2.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

263

Nach einem ersten flüchtigen Blick auf diese Liste und unsere im vorigen Abschnitt angestellten Überlegungen könnte man verblüfft feststellen, daß diese vier Momente sich ausnahmslos in der KD. der Quantentheorie wiederfinden. Der präsumptive "Gegenstand" der Mikrophysik teilt offenbar mit Kants "Ding an sich" die Eigenschaft, sich einer definitiven Erkenntnis zu entziehen (1). Das führt jedoch nicht zum Agnostizismus. Vielmehr korrespondiert dem ganz ähnlich wie bei Kant die wissenschaftliche "Aufgabe", ihn nichtsdestoweniger in einer schrittweisen Forschungspraxis immer genauer zu erfassen (2). Vor allem aber scheinen die konkurrierenden Beschreibungsmodelle (endliche vs. unendliche Ausdehnung bzw. Teilbarkeit; Welle vs. Teilchen) in beiden Fällen keine logischen Widersprüche darzustellen (3). Schließlich scheint sich die Übereinstimmung bis in die Wortwahl zu erstrecken (vgl. Argument (4) mit Heisenbergs "Unbestimmtheitsrelationen"). Wäre dieser erste Eindruck zutreffend, hätten wir es in der Tat mit einer über alle Maßen überraschenden "Regulativität" der KD. zu tun, die sich schematisch folgendermaßen darstellen läßt.

KANT

KOPENHAGENER DEUTUNG

(1) Das Argument des "Transzendentalen Idealismus" (B 518ff.)

Die Unerkennbarkeit des Elementarteilchens "an sich"

(2) Das "Aufgaben"-Argument (B 525ff.)

Die "Aufgabe" immer neuer "Messungen"

(3) Das "Widerstreit"-Argument (B 53Off.)

Der "Dualismus" von Welle und Teilchen (die "Komplementarität" ihrer Bilder)

(4) Das "Unbestimmtheits"-Argument (B 536ff.)

Heisenbergs "Unbestimmtheitsrelationen"

Diese "Regulativität" wäre derart weitreichend, daß sich beinah fragen ließe, worin überhaupt noch der Unterschied zwischen der Vernunfttheorie Kants und der KD. der Quantentheorie zu sehen sei. Etwas pointierter und nicht ganz zu Unrecht wird ein professioneller Physiker dann vielleicht wissen wollen, warum Kant nicht gleich entsprechende Untersuchungen zur Mikrostruktur der "Elementarsubstanzen" (B 464) angeregt hat (um durch diese Frage implizit auf die Bedeutung realer Experimente und der mit ihnen verbundenen technischen und theoretischen Voraussetzungen der

264

3 Regulative Strukturen in der Physik

Quantenmechanik hinzuweisen). Da, wie die Diskrepanz der beiden Auffassungen nahelegt, es offenkundig wenig Sinn macht, Kant durch eine solche unkritische Lesart die Vorwegnahme weitreichender, insbesondere auch inhaltlicher Einsichten der modernen Physik zuzuschreiben, muß also der ohnehin bislang oberflächliche Vergleich vertieft werden. ad (1) Wir hatten in Kapitel 2 dieser Arbeit festgestellt, daß Kants Einführung des ersten Arguments für ein "regulatives Prinzip" in der Kosmologie im wesentlichen aus einem Rückgriff auf den "Transzendentalen Idealismus" bestand, also einer Erinnerung an seine bereits vorgetragenen Argumente aus der "Transzendentalen Ästhetik". Damit scheint unser Versuch einer Vertiefung des Strukturvergleichs zwischen Kants regulativer Vernunfttheorie und der K.D. der Quantenmechanik nun allerdings unmittelbar zu einem negativen Ergebnis zu führen. Indem Kants transzendentalästhetische Raum- und Zeittheorie die Voraussetzungen der "klassischen Physik" - insbesondere die Vorstellung kontinuierlicher Veränderung im dreidimensionalen Raum und kontinuierlicher Beschleunigung in der unendlichen Zeit - teilt, scheint sich die sich darauf stützende regulative Vernunfttheorie grundsätzlich für einen Vergleich mit der Quantenmechanik disqualifIziert zu haben. Wie vor dem Hintergrund unserer obigen Überlegungen zum Verhältnis zwischen klassischer und moderner Physik leicht zu sehen ist, führt die dort referierte quantenmechanische Inadäquatheit des klassischen Objektbegriffs zu analogen Konsequenzen für die klassische Raumvorstellung. Die feldtheoretischen Überlegungen zur Zurückführung des Raumbegriffs auf die Wechselwirkungseigenschaften von Objekten100 und ähnliche Vorschläge arbeiten nicht mit der dreidimensionalen Vorstellung eines "Ortsraums", sondern in einem vieldimensionalen abstrakten mathematischen Raum. Theoriegeschichtlich geht er zurück auf J. von Neumanns Versuch, das Ensemble der Eigenwerte der Schrödingersehen Wellengleichung (für Ort, Impuls etc.) mit den Mitteln des mathematischen Hilbertraums (einem n-dimensionalen Vektorraum über dem Körper der reellen oder komplexen Zahlen) darzustellen. Dabei werden die kontinuierlichen klassischen Größen für Ort und Impuls im Hilbertraum ersetzt durch diskrete mathematische Funktionen. 101 An dieser Stelle der Theoriebildung wird nun der hiermit verbundene Übergang vom "relativen"

100 Vgl. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 16lff., 203ff., 267ff. u.ö.; ders., Aufbau der Physik, 614 u.ö. 101 "Die Eigenfunktionen der Operatoren mit kontinuierlichem Spektrum wie Ort oder Impuls sind nicht im Hilbertraum. Der Hilbertraum läßt sich aber mit diskreter Basis aufbauen aus den Eigenfunktionen des Drehimpulses und Laguerre-Polynomen des Impulsbetrags." (A.a.O., 387)

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

265

klassischen Atomismus zum "radikalen Atomismus" der Quantentheorie erkauft durch den völligen Verlust der Anschaulichkeit. "In der bisherigen Chemie und Physik hatte sich ein relativer Atomismus bewährt. Alle Objekte bestehen aus jeweils kleineren, in wenige Klassen einteilbaren Objekten (chemische Atome, Elementarteilchen); die Objekte einer Klasse sind untereinander gleich. Der Atomismus ist relativ: man weiß nicht, ob die jeweils kleinsten bekannten Objekte nicht noch weiter teilbar sind. Die Quantentheorie hat den Atomismus präzisiert: die Zusammensetzung von Objekten braucht im allgemeinen nicht als räumliches Nebeneinanderliegen veranschaulicht zu werden; sie besteht in der Bildung des Tensorprodukts ihrer Hilberträume. Dieses notwendige Opfer an Anschaulichkeit haben wir als Hinweis darauf gelesen, daß in der Quantentheorie die Räumlichkeit der Objekte erst eine abgeleitete Eigenschaft ist. "102

Kann eine derart mathematisierte und abstrakte Theorie überhaupt noch Vergleichsmöglichkeiten mit dem Kantischen Ansatz aufweisen? Zwar läßt sich die durch von Neumann durchgesetzte "Machtübernahme der Mathematik in der Quantentheorie"103 in gewisser Weise als konsequente Umsetzung der programmatischen These Kants sehen, "daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eiEtentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist "1 .

Überdies wird die Quantentheorie des Atoms von ihren Vertretern sogar in expliziten Zusammenhang gebracht mit Platons Lehre aus dem "Timaios", daß die stofflichen Elemente sich letztlich aus regelmäßigen mathematischen Formen (gleichseitigen und rechtwinklig gleichschenkligen Dreiecken) zusammensetzen. 105 Gleichwohl hat die Grundlagendiskussion in der 102 A.a.O., 391; vgl. auch 34, 387,504 u.ö. 103 A.a.O., 511. 104 AA IV (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft), 470. 105 Vgl. Heisenberg, a.a.O., 48f.; von Weizsäcker, a.a.O., 499. Inwieweit sich dieses Form- und Ideenproblem von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit durchhält, belegt Cusanus' Ausspruch "Nihil certi habe mus in nostra scientia nisi nostram mathematicam" (hier zitiert nach Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 15). In Cassirers Übersetzung dieser Stelle durch "Wo die Sprache der Mathematik versagt, da gibt es für den menschlichen Geist überhaupt nichts Faßbares und nichts Erkennbares mehr" (ebd.) geht indessen das Moment der geradezu existentiellen Zuverlässigkeit mathematischer Aussagen verloren zugunsten ihrer Erkenntnisfunktion als solcher. Das in dem Satz von Cusanus anklingende Moment der "certitudo incorruptibilis", der unzerstörbaren Gewißheit, ist nämlich nicht nur ein charakteristisches (emanzipatorisches) Moment in Cusanus' Lehre vom Menschen als eines deus secundus: eines (kleinen) Gottes, sofern er Mathematik betreibt. Vielmehr ist es immer noch die nämliche certitudo, die auch Descartes sucht und die er schließlich im reflektierenden Denken ortet: "hic invenio: cogitatio est, haec sola a me divelli nequit; ego sum, ego existo, certum est." (Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, lateiniSCh/deutsch, Hamburg 19772, 46) Daß diese Sicherheit reflektierenden Denkens sehr

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3 Regulative Strukturen in der Physik

Mathematik - in enger Kooperation mit den voranschreitenden Naturwissenschaften106 - seit den Tagen Kants doch einen so tiefgreifenden Wandel ausgelöst, daß hier eine unüberbrückbare Kluft - eben zu den klassischen Vorstellungen - zu bestehen scheint. Überdies verstärkt die quantitative Dimension der Probleme diese Kluft offenbar. "Die Frage, ob sich die Ortskoordinate nach der Galilei-Transformation wie x'= x - vt oder nach der LORENIZ-Transformation wie x'= x -

vt/V1 - ,J.

T

'transformiert, ist

wohl schon deshalb von geringerem Interesse für die philosophische Diskussion, weil es kaum möglich sein dürfte - etwa aus dem erkenntnistheoretischen Ansatz KANrS -, eine Stellungnahme für die eine oder andere dieser Transformationsformeln herzuleiten .•107

Ich hatte jedoch bereits ganz zu Anfang dieses Exkurses darauf hingewiesen, daß es mir ausdrücklich nicht um den Nachweis geht, Kant habe in dieser oder jener Hinsicht Erkenntnisse der Quantentheorie (oder gar den ganzen Ansatz) vorweggenommen. Ich denke, das läßt sich aus den von mir angeführten Gründen kaum im Ernst behaupten. Mir geht es vielmehr um die Frage, ob strnkturelle Analogien (Verwandtschaften) oder gar Homologien (Übereinstimmungen) zwischen Kants Vernunfttheorie und der K.D. der Quantentheorie festzustellen sind. (Vielleicht wirft die Beantwortung dieser Frage dann auch ein anderes Licht auf die von Mittelstaedt angesprochene quantitative Problemdimension.) Um diese Frage angemessen erörtern zu können, müssen wir jetzt einen Umstand berücksichtigen, der bislang völlig unerwähnt blieb. Unsere Kant-Rekonstruktion in Kapitel 2 dieser Arbeit hat unter anderem ergeben, daß es nach Maßgabe der verbreiteten Vorstellung einer erkenntnistheoretischen "Selbständigkeit" der ("Transzendentalen Ästhetik" und) "Transzendentalen Analytik" zu verschiedenen systematischen Widersprüchen innerhalb der KrV kommt. Ich erwähne hier stellvertretend die "immanente" Unfähigkeit des Verstandes zur Selbstkorrektur oder zu "transzendentalen Argumenten", seine immanente Orientierungslosigkeit oder auch die "Begründungskonkurrenz" zwischen den diversen "höchsten Punkten" der Erkenntniskritik. Dieser Befund findet sich jetzt von einer ganz anderen Seite aus bestätigt, indem sich der "Transzendentale Idealismus" aus Kants Vernunfttheorie in signifikanter Weise von demjenigen der "Transzendentalen Ästhetik" unterscheidet. Schon Kant-immanent, vor allen Dingen aber in Hinblick auf die hier zu behandelnden Fragen scheint es mir von außerordentlicher Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, brüchig ist und immer wieder neu gewonnen sein will, darauf verweist ihr Zeitindex: sie währt nur ·quamdiu cogito· (ebd.). 106 Vgl. etwa N. Bohr, "Atomtheorie und Mechanik", Die Naturwissenschaften 14 (1926), 1. 107 Mittelstaedt, a.a.O., 34f.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

267

daß der Raum- und Zeitbegriff108 der "Transzendentalen Ästhetik" sich deutlich von demjenigen der "Transzendentalen Dialektik" unterscheidet. 109 Das belegt vor allem die unterschiedliche Behandlung des UnendlichkeitsBegriffs. In der "Transzendentalen Ästhetik" sind Raum und Zeit unendliche Vorstellungen. Kant sagt in bezug auf jenen, er werde "als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt" (B 39).1 10 Diese Stelle steht nicht nur deshalb in krassem Widerspruch zu Kants regulativer Theorie des Raums, weil dieser sich dort explizit nicht in unendliche (iofmite), sondern nur in unbestimmte (indefinite) Ferne fortsetzt. Vielmehr gewinnt dieser Widerspruch seine volle Schärfe durch den Umstand, daß Kant hier sogar von einer "gegebenen" Größe spricht (die Sperrung in der zitierten Stelle stammt von Kant!), während die Bestimmung des regulativen "aufgegeben" ist. 111 Ferner spricht Kant in der "Transzendentalen Ästhetik" auch hinsichtlich der Zeit von "Unendlichkeit". Sie bedeute indessen "nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei" (B 47f.).

Im Interesse, diesen "ästhetischen" mit dem regulativen 112 Zeitbegriff Kants in Einklang zu bringen, könnte man diese Stelle - gar nicht einmal allzu gewaltsam - so lesen, daß Kant hier lediglich noch die regulative ("indefinite") Terminologie fehle, er aber von der Sache her bereits regulativ argumentiere. Die Vorstellung, "alle bestimmte Größe der Zeit" sei Ergebnis 108 Diese sind freilich "nicht bloße Begriffe ( ... ), sondern viel[e] Vorstellungen als in einer, und deren Bewußtsein, enthalten" (B 136). Kant sagt auch, die Zeit sei "kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung" (B 47).

109 Zur Frage, wie der "ästhetische" Raumbegriff in die Diskussion der Antinomien eingeht, vgl. auch Bennett, a.a.O., 165f. 110 Vgl. auch AA IV (Prolegomena), 284f. und B 606. 111 Diese Widersprüchlichkeit könnte als Unterstützung für die sogenannte "patchwork"Theorie angesehen werden, wonach einzelne Teile der KrV zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden und nachträglich zusammengefügt wurden (vgl. Bennett, a.a.O., 270 u.ö.; dagegen: Heimsoeth, IX). Nimmt man jedoch wie Bennett an, die "regulative" Terminologie sei eine relativ späte Errungenschaft in Kants Werdegang, so steht dem gegenüber, daß die Stelle in der Ausgabe von 1781 einen noch viel slärker regulativen Charakter aufweist. "Wäre es nicht die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung, so würde kein Begriff von Verhältnissen ein Principium der Unendlichkeit derselben bei sich führen." (A 25, Hervorhebung D.K.) Ich halte dieses philologische Problem in unserem Zusammenhang aber nicht für sehr bedeutsam. Viel wichtiger scheint mir die Frage, welche theoretischen und systematischen Spannungen zwischen Kants diversen Raum- und Zeitbegriffen entstehen und welche Konsequenzen daraus für eine Gesamtinterpretation der KrV zu ziehen sind. 112 Vgl. dazu Weyl, 60.

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3 Regulative Strukturen in der Physik

von "Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit", ließe sich unter Umständen als implizite Fassung des regulativen Gedankens verstehen, daß alle "Bestimmung" der Zeit des sukzessiven Fortschritts und damit der "Einschränkung" dieser hypothetisch "einigen zum Grunde liegenden [aber eben noch unbestimmten, D.K.] Zeit" bedarf. Damit wäre jedoch die Konsistenz dieser verschiedenen Zeitvorstellungen nicht gerettet. Kant hatte nämlich darüber hinaus Raum und Zeit als (wenn auch "reine") Anschauungen eingeführt, die insofern zum Katalog der transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gehören. Wie wir jedoch in der "Deduktion" der regulativen Vernunftbegriffe gesehen hatten, beziehen diese sich ja nur "mittelbar" auf Gegenstände der Anschauung und stehen somit dem, was Kant "unmittelbare Anschauung" nennt, die der Zeit (B 48) und dem Raum (vgl. B 41113) "zum Grunde liegen" soll (B 48), diametral entgegen. Im übrigen dürfte auf der Hand liegen, daß der transzendentalästhetische unendliche Raum- und Zeitbegriff Kants unweigerlich auf eine Seite des (zweiten) antinomischen "Widerstreits", nämlich die der "Antithesis" bringen würde. Was folgt daraus? Ganz zwingend doch wohl und zuallererst die Revision all derjenigen Einschätzungen des Verhältnisses zwischen Kant und der modernen Physik, die die genannten Unterschiede zwischen Kants transzendentalästhetischer ("konstitutiver") und seiner transzendentaldialektischen ("regulativen") Raum- und Zeittheorie nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt haben. Soweit ich sehe, trifft das auf alle bislang vorgelegten Beurteilungen dieses Verhältnisses zu.u 4 Solange der Vergleich zwischen Kant und der modernen Physik nicht auf der vollen Abstraktionshöhe der KrV, und das heißt ihrer regulativen Vernunfttheorie, durchgeführt worden ist, sind alle diesbezüglichen bisherigen Ergebnisse einzuklammern. Es besteht also, zweitens, zumindest die Möglichkeit, daß Kants regulative Raum- und Zeittheorie sozusagen nicht-klassische, moderne Elemente aufweist. Das wäre im Licht unserer bisherigen Überlegungen jedenfalls insofern nicht völlig überraschend, als drittens schon auf dem jetzt erreichten Stand unserer Problematisierung dieser Fragen offensichtlich damit gerechnet werden muß, daß das Verhältnis zwischen regulativer und konstitutiver Raum- und Zeittheorie bei Kant eines ebenso "aufgehobener Voraussetzungen" ist, wie wir sie für das Verhältnis zwischen "klassischer Physik" und Quantenmechanik festgestellt haben. Schien unser Versuch einer Vertiefung des Vergleichs zwischen Kants regulativer Vernunfttheorie und der K.D. der Quantentheorie im Zusammenhang mit dem Argument des "Transzendentalen Idealismus" (1) sofort 113 Vgi. auch AA IV (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft), 127; von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 417. 114 Vgi. Kapitel 2.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

269

auf eine elementare Unvergleichbarkeit zu führen, so ist er jetzt in überraschender Weise eröffnet. Was speziell dieses erste Argument betrifft, so werden die sinnkritischen Einwände gegen Kants Lehre vom "Ding an sich"115 durch die soeben angestellten Überlegungen natürlich in keiner Weise entkräftet. Im Gegenteil deuten ja alle bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit darauf hin, daß die damit verbundenen "kritischen" Absichten Kants erst "regulativ" ihren "Halt" finden. Da die zum "regulativen Prinzip" synthetisierten vier regulativen Argumente Kants nach der hier entwickelten Lesart durch eine interne "kumulative Ergänzungs- und Verweisungsstruktur"116 ausgezeichnet sind, läßt sich auch der physikalisch relevante Aspekt dieser Frage nicht einzig im Rekurs auf Kants erstes Argument (des "Transzendentalen Idealismus") erörtern, weshalb ich unseren Vergleich zunächst an Hand der anderen Argumente fortsetze. ad (2) Kants "Aufgaben"-Argument (2) scheint, gemessen an den soeben erörterten Schwierigkeiten, relativ leicht innerhalb der Quantenphysik identifizierbar. Wenn auch die isolierte Übertragung nur dieses Arguments auf die K.D. ihrer "subjektiven Interpretation"117 Vorschub zu leisten scheint, so ist doch nicht zu übersehen, daß es genau auf der Ebene des "Schnitts" liegt zwischen quantentheoretischem "System" und klassischem Meßapparat. Die beständige Wiederholung des Schnitts scheint zumindest im Sinn seiner Voraussetzungsfunktion für jedwede weitere Erkenntnis des "Systems" (zur Erreichung größtmöglicher Wahrscheinlichkeit) "aufgegeben". Freilich läßt sich auch dieser, wenngleich "wichtigste Teil des Meßprozesses"118 nur in dessen Zusammenhang adäquat erfassen. ad (3) Ebenso wie Kant einen logischen Widerspruch zwischen "These" und "Antithese" seiner Antinomien zurückweist, so hält auch die K.D. den Welle-Teilchen-Dualismus nicht für ein formallogisch erfaßbares Phänomen. Im Rahmen der klassischen Begriffe war "der Dualismus eine vollständige Alternative"119. Gerade aus dieser Situation heraus erwuchs ja wie gesehen seine statistische Interpretation, die letztlich sogar in Versuche zu einer expliziten Zurückweisung formallogischer Grundsätze im Rahmen der sogenannten "Quantenlogik" führte. 120 Natürlich müssen wir sehen, daß 115 S.o., 25ff. 116 S.o., Kap. 2.2.4. 117 Dazu s.u., Kap. 4.1. 118 Mittelstaedt, a.a.O., 113. 119 Von Weizsäcker, a.a.O., 491. 120 Vgl. dazu a.a.O., 313ff. und ders., Die Einheit der Natur, 243ff.; Heisenberg, ·Sprache und ... ·, 52ff.; Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, Kap. VI. Es läßt sich natürlich fragen, ob nicht jeder wahrscheinlichkeitstheoretische Ansatz an der

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3 Regulative Strukturen in der Physik

Kant auch hier keine inhaltlichen physikalischen Konsequenzen im Sinne der K.D. zog, wie sie beispielsweise in von Weizsäckers Theorie "koexistierender Zustände" vorliegen. 121 Dessen ungeachtet könnte die strukturelle Übereinstimmung zwischen Kants Widerstreit-Argument und dem Kerngedanken der K.D. kaum stärker sein. Das zeigt besonders schön eine Bemerkung von Weizsäckers, die den Burgfrieden zwischen Bohr und Heisenberg hinsichtlich der "Formel" für die abschließende "Lösung des Dualismusproblems" resümiert. "Materie und Licht sind "an sich« weder Teilchen noch Welle. Wenn wir sie aber für unsere Anschauung beschreiben wollen, so müssen wir beide Bilder gebrauchen. Und die Gültigkeit des einen Bildes erzwingt gleichzeitig die Gültigkeitsgrenzen des anderen. Dies ist der Kern der Kopenhagener Deutung. "122

ad (4) Äußerlich betrachtet ist die Nähe zwischen der K.D. und Kants "regulativem Prinzip" beim "Unbestimmtheits"-Argument (4) am größten. Betrachtet man sich indessen die unmittelbar so bezeichneten jeweiligen Theoriestücke genauer, dann ist gar nicht mehr so klar, worin diese Nähe eigentlich bestehen soll. Kant diente sein Unbestimmtheits-Argument zur Charakterisierung (und Favorisierung) einer Forschungsweise, die in expliziter Abgrenzung von der Vorstellung eines regressus in infinitum den Akzent auf einen schrittweisen Erkenntnisgewinn "in unbestimmte Weite" legte (um dadurch die unhaltbaren metaphysisch-ontologischen ImplikatioFormalen Logik rüttelt. Dieser Gedanke liegt jedenfalls nahe, sobald man die Wahrscheinlichkeitstheorie "logisch" deutet, indem man, wie etwa der frühe Wittgenstein oder J.M. Keynes, TautOlogie und Kontradiktion als "Grenzfalle" der Wahrscheinlichkeit mit deren Werten 1 und 0 identifiziert (vgl. Popper, Logik der Forschung, 108). 121 In Heisenbergs Bezugnahme auf diesen Ansatz (vgl. a.a.O., 58; ders., Physik und Philosophie, 152f.) wird im übrigen schon sein eigener später Versuch sichtbar, quantentheoretischen Zuständen eine Interpretation im Sinne des aristotelischen "dynamis"-Begriffs zu geben (vgl. dazu bes. a.a.O., 118ff., 149 u.ö.). Dabei wird der mit einer Messung verbundene subjektive Eingriff in den quantentheoretischen (Wahrscheinlichkeits-) Zustand und die entsprechende Reduktion des Wellenpakets als "Übergang vom Möglichen zum Faktischen" (a.a.O., 37) verstanden. Eine ähnliche "propensity"-Theorie der Wahrscheinlichkeit hat später auch Popper vorgelegt (vgl. Logik der Forschung, 109 Fn. und die Verweise 251 Fn.). 122 Von Weizsäcker, Aufbau der Physik, 503f. Hier ist gut zu sehen, wie die einzelnen Argumente Kants, die nach meinen Ausführungen erst gemeinsam das regulative Prinzip begründen können, auch rezeptionsgeschichtlich kumulieren. Von Weizsäcker bedient sich an der zitierten Stelle der Terminologie des "Transzendentalen Idealismus", also von Kants Argument (1), um den Schein eines Widerspruchs zwischen Wellen- und Teilchenbild zurückzuweisen (Kants Argument (3». Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß das apostrophierte "an sich" darüber hinaus indiziert, daß von Weizsäcker der K.D. die Erkenntnis, wie es sich "an sich" verhält, offenbar zutraut.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Mcßvcrfahren

271

nen des "regressus in infInitum" methodologisch und inhaItlich l23 zu überwinden). Dagegen macht die Unbestimmtheitsrelation L. p ,6. q ::> l l 2 4 eine sehr konkrete inhaltliche Aussage, und zwar über die größte e~Jich­ bare Genauigkeit beim Versuch der gleichzeitigen Bestimmung von Ort und Impuls eines Elementarteilchens. Heisenbergs Erläuterungen hierzu sind an einer Stelle besonders gut nachvollziehbar. Da sie zudem charakteristisch für seine Denk- und Argumentationsweise in der Zeit der frühen theoretischen Weichenstellungen sind und sie gleichsam in nuce enthalten, seien sie hier im Zusammenhang wiedergegeben. "Das Versagen des Bahnbegriffs im Gebiet kleiner Quantenzahlen kann man sich direkt physikalisch folgendermaßen k1armachen: Unter Bahn verstehen wir die zeitliche Folge von Raumpunkten, an denen das Elektron während seiner Bewegung angetroffen wird: Da die Dimensionen eines Atoms im untersten Quantenzustand von der Größenordnun$ 10~ cm sind, so wird man zur Bahnbestimmung des Elektrons Ortsmessungen einer Genauigkeit von mindestens ca. 10-9 cm verwenden müssen. Man wird das Atom also z.B. mit licht der Wellenlänge lambda-1O-9 cm bestrahlen. Von solchem licht gcnügtjedoch ein einziges liChtquant, um das Elektron durch Compwn-Rückstoß aus dem Atom zu entfernen. Von "der Bahn ist also nur ein einziger Punkt beobachtbar. Man kann jedoch diese Ortsmessung an vielen Atomen wiedemolen und emält dann eine Wahrscheinlichkeitsverteilung des Elektrons im Atom, die nach Bom durch Psi 'Psi (bzw., wenn mehrere Elektronen im Atom umlaufen, durch den Mittelwert von Psi'Psi über die Koordinaten der anderen Elektronen) gegeben ist (psi bedeutet die Schrödingersehe Funktion ( ... )). Dies ist der physikalische Sinn der Aussage, daß PstPsi die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, das Elektron an einem bestimmten Ort anzutreffen."I25

In diesem Zitat finden sich mehr oder minder alle grundlegenden Aspekte der KD. versammelt. Da ist zunächst einmal das Meßproblem. Sein hier thematisierter Aspekt gewinnt seine Tragweite durch die Tatsache, daß die Feinheit und Genauigkeit der Meßapparatur von vornherein die Grenzen der Genauigkeit aller damit möglichen Messungen bestimmt. Man kann sich diesen Zusammenhang auch an einem ganz gewöhnlichen Schneidewerkzeug vor Augen führen: Die Breite seiner Schneide legt von vornher123 Zu dieser spezicllen Frage nach der "Objektiven" Gültigkeit des "regulativen Prinzips" vgl. auch ES.C. Northrop, "Einführung in die Probleme der Naturphilosophie", in: Heisenberg, a.a.O., 176f. 124 Vgl. Heiscnberg, Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, 9ff. (hicr 14). "p" bezeichnet dabei den Impuls des Teilchens, "q" seinen Ort, "h" ist das Plancksche Wirkungsquantum (= 6,625 10-34 Ws 2). Da der Nenner des Bruchs die Masse dcs Tcilchcns angibt, ist klar, daß bei großen Massen (wie denen der klassischen Physik) dcr Ausdruck auf der rechten Seite der Ungleichung so klein war, daß man ihn getrost vcrnachlässigen konnte, genauer: er trat gar nicht erst in Erscheinung. Im Fall sehr geringer, eben atomarer Massen wird indessen selbst ein so kleiner Wert wie die Plancksche Konstante zu einem echten "Zähler" (vgl. Heisenberg, Physik und Philosophie, 39).

125 Heisenberg, Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, 25.

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3 Regulative Strukturen in der Physik

ein die urwnterschreitbare Mindeststärke seiner "Abschnitte" fest. Ein solches "Messer" kann von einem beliebigen Gegenstand nur solche Stücke trennen, die mindestens so breit sind wie seine eigene "Schnittfläche". Alle feineren Einheiten und Strukturen werden gequetscht, gestaucht u.ä. 126 Heisenbergs Gedankenexperimente zur Lichtmessung weisen nun darauf hin, daß dieses Bedingungsverhältnis im atomaren Bereich insofern eine grundlegende Verschärfung erfährt, als ein für die Messung atomarer Größen geeignetes Instrument unweigerlich zur Auflösung dieser Größen führt. Extrem kurzwelliges Licht, das zur Lokalisierung eines Elektrons geeignet wäre, ist gleichzeitig zu energiereich, um das Elektron nicht an seinem Ort zu (zer-) stören. (Das Problem des Lichtmessers ist insofern das umgekehrte Dilemma des Küchenmessers: Ist dieses stumpf, zerquetscht es seinen Gegenstand, ist es sehr scharf, "übersieht" es ihn. Ist jenes zu stumpf (zu langweIlig), entgeht ihm der Gegenstand, ist es scharf genug, zerstört es ihn.) Wir werden auf diesen Aspekt des Meßproblems später zurückkommen. In der zitierten Heisenberg-Stelle spricht sich aber auch das für Relativitätstheorie wie Quantenmechanik charakteristische Bestreben aus, empirisch und praktisch folgenlose Größen und Begriffe aus der Theorie zu eliminieren. Heisenberg bemerkt hierzu u.a., "daß die menschliche Sprache ganz allgemein erlaubt, Sätze zu bilden, aus denen keine Konsequenzen [für die experimentelle Praxis? D.K.) gezogen werden können"127.

Auf Grund von Äußerungen wie dem bereits zitierten "Von der Bahn ist also nur ein einziger Punkt beobachtbar" wurde und wird die K.D. deshalb immer wieder positivistischer Hintergrundannahmen verdächtigt. l28 Diese Einschätzung ist jedoch schwerlich aufrechtzuerhalten, wenn wir genauer unterscheiden zwischen dem damals vorherrschenden wissenschaftlichen 126 Eine solche phänomenologische Betrachtung des Messers eignet sich im übrigen sehr gut dazu, mit der Begrenztheit unserer Wahmehmungsfahigkeit (und durch sie hindurch) auch den Grenzbereich zwischen anschaulicher und abstrakter Realität zu erhellen. Die "sinnliche Gewißheit" neigt angesichts eines sehr scharfen Messers dazu, die konkrete Breite seiner Schneide zu "übersehen". Ist die Schärfe groß genug, verliert sich ihre Stumpfheit im Unsichtbaren, und man sagt, das Messer "geht durch alles" - nicht zuletzt deshalb, weil es scheinbar keinen Abfall eneugt. Daß es guten Grund gibt, diesen im molekularen oder atomaren Bereich zu suchen, "sehen" wir erst am stumpfen Messer: seine Schnitte(n) krümeln. - Inwieweit auch solche Überlegungen nahelegen, die angebliche "Überlegenheit der messenden Methoden gegenüber den qualitativen" (Popper, Logik der Forschung, 88) zumindest in jedem Einzelfall zu prüfen, muß sich in anderem Zusammenhang erweisen. 127 Heisenberg, Physikalische Prinzipien der Quantentheorie, 11. 128 Vgi. Popper, a.a.O., 181, 196 u.ö.; Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, 24.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

273

Selbstverständnis im allgemeinen und dem theoretischen Gehalt der K.D. im besonderen. Wenn auch die positivistische Wissenschaftstheorie die "semantische Revolution" in Kosmologie und Atomphysik "erleichterte"129, so darf nicht vergessen werden,

zweifellos

"daß sich sowohl Einstein wie Heisenberg in höherem Lebensalter dezidiert vom Positivismus losgesagt haben"13O ohne daß sie davon die Gültigkeit ihrer Theorien betroffen sahen. Heisenberg legte darüber hinaus schon in der Zeit der Theoriebegründung Wert auf die Feststellung, daß es ihm um die "Beziehungen zwischen prinzipiell beobachtbaren Größen"131 gehe. Die Pointe der Unbestimmtheitsrelationen besteht dann darin, daß Ort und Impuls eines Teilchens zwar "prinzipiell beobachtbar" sind, "aber sie sind prinzipiell nicht zugleich beobachtbar"132. Vor dem Hintergrund dieses metaphysikkritischen Impulses offenbart sich die Stärke der Parallele zu Kants Auffassung, daß die antinomische Struktur der traditionellen metaphysischen Thesen zu Kosmologie und Atomistik in einer bestimmten, ihnen eigenen Folgenlosigkeit gründet. Die Antinomien entstehen ja laut Kant nur dann, wenn wir von denjenigen Bedingungen absehen, unter denen es uns allein möglich ist, Gegenstände 129 Von Weizsäcker, a.a.O., 500. 130 A.a.O., 501; vgl. auch Heisenberg, Physik und Philosophie, 63, 116 u.Ö. In seinem schon zitierten Brief an Popper bemerkt Einstein unter anderem: "Mir gefällt das ganze modische »positivistische« Kleben am Beobachtbaren überhaupt nicht." 131 W. Heisenberg, "Über quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen", in: Zeitschrift für Physik 33 (1925), 879ff. (zitiert nach: von Weizsäcker, a.a.O., 5(0). Als Gegenbeispiel führt Heisenberg im Zusammenhang der zuletzt zitierten Stelle aus den "Physikalischen Prinzipien" die Behauptung an, "daß es neben unserer Welt noch eine zweite gebe, mit der jedoch prinzipiell keinerlei Verbindung möglich sei" (a.a.O., 11). Den Grund für die "Inhaltsleere" solcher Aussagen sieht er indessen nicht darin, daß dergleichen nicht "beobachtbar" sei, sondern daß "ein solcher Satz weder bewiesen noch widerlegt werden" (ebd.) kann. Schon diese Bemerkung von 1930 zeigt, daß Heisenberg bereits zu dieser Zeit sich zumindest nicht allein auf das Programm von im positivistischen Sinn "beobachtbaren" Größen verpflichtet sah. Auf dessen Grundlage wäre es auch nie zu einer Quantentheorie im Sinn der K.D. gekommen, wie schon die simple Überlegung zeigt, daß aus deren Sicht dieser klassische Begriff der Beobachtung selbst den Unbestimmtheitsrelationen unterliegt; auch er kann "auf atomare Erscheinungen nur übertragen werden, wenn man auf die in den Unbestimmtheitsrelationen angegebene Begrenzung aller raum-zeitlichen Bilder achtet" (a.a.O., 48). Heisenbergs Rekurs auf sinnvolle Sätze erinnert hier vielmehr an Kants "prinzipielle" Frage nach den allgemeinen Bedingungen menschlicher Erkenntnis (und greift in gewisser Weise voraus auf die Renaissance dieser Fragestellung im Zusammenhang der Diskussion um die sogenannten "transzendentalen Argumente"). 132 Von Weizsäcker, a.a.O., 50H. 18 Köveker

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3 Regulative Strukturen in der Physik

zu erkennen. Indem sie das tun, sind jedoch These wie Antithese der ersten beiden "Widerstreite" der "mathematischen Antinomie" ohne "Konsequenzen" für unsere Erfahrung. 133 Diese Parallele zwischen der metaphysikkritischen Argumentation Kants und derjenigen der KD. bezieht sich jedoch dem Augenschein nach stärker auf dessen erstes regulatives Teil-Argument, dasjenige des "Transzendentalen Idealismus"(1). Wie ich indessen schon mehrfach betont habe, besteht zwischen den einzelnen Argumenten eine derartige Verweisungs- und Ergänzungsstruktur, daß sie aus meiner Sicht erst gemeinsam das "regulative Prinzip der reinen Vernunft" begründen können. Es ist insofern sehr interessant zu sehen, wie auch in der KD. des Dualismus von Welle und Teilchen die einzelnen Argumente "kumulieren". Im soeben erörterten Zusammenhang ist nämlich das an Kants Argument (1) erinnernde metaphysikkritische Motiv der Eliminierung sinnloser Größen und Ausdrücke entgegen dem Augenschein unmittelbar verknüpft mit der Komp/ementaritätsthese, also der Kants Argument (3) entsprechenden quantenlogischen Auffassung, Wellen- und Teilchenvorstellung stellten gerade keine "vollständige Alternative" dar (sondern einander ergänzende "Bilder").l34 Die Untersuchung der Frage, ob und inwieweit die zunächst pauschal behaupteten Ähnlichkeiten zwischen den Kantischen vier regulativen Argumenten und den ihnen entsprechenden Aussagen der KD. sich zu strukturellen Übereinstimmungen erhärten lassen, stellt ja auch einen Test dar für meine These von der kumulativen Verweisungs- und Ergänzungsstruktur der genannten vier Argumente. Die folgenden Überlegungen sollen nun abschließend zeigen, daß und in welchem Umfang dieser Test erfolgreich ist, weil auch die Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelationen entscheidende Merkmale mit Kants Unbestimmtheits-Argument (4) teilen. Das wird deutlich, wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, welche Rolle dem Wahrscheinlichkeitsbegriff innerhalb der KD. zukommt. Damit gelangen wir auch zu dem philosophisch vielleicht interessantesten Problem der Quantentheorie, das mir dann auch erlauben wird, den Versuch einer 133 Damit ist freilich eine ganze Reihe von Problemen verbunden: Gibt es keine negativen Konsequenzen (für unser Erkennen und Handeln) durch falsche Vorstellungen?! Wie konnten wir dann ihre Sinnlosigkeit "entdecken"? Worum geht eigentlich der ganze Streit? 134 Ersichtlich macht es aus der Perspektive der entwickelten K.D. keinen Sinn, die Zurückweisung theoretischer Größen, die ohne "Konsequenzen" sind, von der quantenlogischen Deutung des Welle-Teilchen-Dualismus zu isolieren. Diese ist als sozusagen korrigierte Gebrauchsregel für die Anwendung der beiden Begriffe vielmehr ein weiterer Schritt in der Durchjühlung der Metaphysikkritik und steht insofern in einem engen theoretischen Zusammenhang mit jener.

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

275

abschließenden Einschätzung des Verhältnisses zwischen Kants regulativer Vernunfttheorie und der K.D. der Quantenmechanik zu unternehmen. Unser Problem läßt sich am deutlichsten anhand des Youngschen Zweispaltenexperiments diskutieren. Heisenberg beschreibt dieses Gedankenexperiment u.a. folgendermaßen. "Nehmen wir an, daß eine kleine monochromatische Lichtquelle Licht ausstrahlt auf einen schwarzen Schirm, der zwei kleine Löcher hat. Die Durchmesser der Löcher brauchen nicht viel größer zu sein als die Wellenlänge des Lichtes, aber ihr Abstand soll erheblich größer sein. In einigem Abstand hinter dem Schirm soll eine photographische Platte das ankommende Licht auffangen. Wenn man dieses Experiment in den Begriffen des Wellenbildes beschreibt, so sagt man, daß die Primärwelle durch die beiden Löcher dringt. Es wird also zwei sekundäre Kugelwellen geben, die von den Löchern ihren Ausgang nehmen und die miteinander interferieren. Die Interferenz wird ein Muster stärkerer und schwächerer Intensitäten, die sogenannten Interferenzstreifen, auf der photographischen Platte hervorbringen."l35

Die quantentheoretische Deutung dieses und ähnlicher Experimente vollzieht sich nun im wesentlichen in drei Schritten, die noch einmal das Verhältnis zwischen klassischen und quantentheoretischen Begriffen erhellen. In einer formal betrachtet zirkulären Struktur stehen dabei am Anfang und am Ende des Experimentes klassische Beschreibungen. Den ersten Schritt stellt die Übersetzung der klassischen Versuchsanordnung und ihrer Bedingungen in eine Wahrscheinlichkeitsfunktion dar. Auf deren Grundlage ist es im zweiten Schritt möglich, die Veränderung der Ausgangssituation zu berechnen. Im dritten Schritt schließlich wird eine neue, nun wieder klassische Messung durchgeführt. l36 Der entscheidende Aspekt der beschriebenen Versuchsanordnung besteht nun darin, daß man mit ihrer Hilfe folgende berühmte Versuchsreihe ausführen kann. Im ersten Versuch verschließt man das eine Loch und stellt die von dem durch das geöffnete Loch fallenden Licht hervorgerufene Schwärzung der Platte fest. Im zweiten Versuch verschließt man das andere Loch und stellt die nun hervorgerufene Schwärzung fest. Im dritten Versuch schließlich läßt man beide Löcher offen. Nach klassischen Gesetzen wäre zu erwarten, daß die jetzt eintretende Schwärzung genau der Summe der beiden voraufgegangenen Schwärzungen bei jeweils nur einem geöffneten Loch entspricht. Eben das ist aber nicht der Fall. Vielmehr werden die von Heisenberg erwähnten, für solche Experimente typischen Interferenzstreifen auf der Platte erscheinen. Heisenberg nennt daher als eine der unausweichlichen Folgerungen aus dem Zweispaltenexperiment,

135 Heisenberg, Physik und Philosophie, 34. 136 Vgl. a.a.O., 30. 18·

276

3 Regulative Strukturen in der Physik

"daß die Aussage, das Lichtquant müsse entweder durch das eine oder durch das andere Loch gegangen sein, problematisch ist und zu Widersprüchen führt. Man erkennt aus diesem Beispiel deutlich, daß der Begriff der Wahrscheinlichkeitsfunktion nicht eine raumzeitliche Beschreibung dessen erlaubt, was zwischen zwei Beobachtungen geschieht"137. Eine der entscheidenden theoretischen Folgerungen aus diesem Befund bestand darin, daß man eine prinzipielle (ontologisch umstrittene l38) Trennung zwischen dem in der Wahrscheinlichkeitsfunktion ausgedrückten quantentheoretischen Zustand (etwa des Lichts) und seiner klassischen Überprüfung konstatierte. Dieser sogenannte "Schnitt" zwischen dem quantentheoretischen "System" und der an ihm vorgenommenen klassischen "Messung"139 ist eben die Konsequenz aus den schon weiter oben erörterten nicht-klassischen Phänomenen. Ohne hier die Details des quantentheoretischen Formalismus behandeln zu können, sei doch zumindest darauf hingewiesen, daß die beschriebene Problematik und experimentelle Situation in der nach wie vor gültigen Formulierung der Quantentheorie zu der Auffassung führte, daß "im" Hilbertraum nur eine nicht-klassische, nicht-raumzeitliehe Berechnung der Entwicklung eines quantenmechanischen Zustands den fraglichen Phänomenen gerecht wird (also der oben erwähnte "zweite Schritt" der Deutung). Um diese denkbar abstrakte Größe wieder in Beziehung zu der uns möglichen Erfahrung zu setzen, ist jedesmal eine erneute, notwendigerweise mit klassischen Mitteln auszuführende Messung erforderlich. Dieser in gewisser Weise subjektive Eingriff in das "objektive" System führt jedoch zu der bekannten "Reduktion des Wellenpakets", nämlich zu einer unstetigen Veränderung des Verlaufs der Wahrscheinlichkeitsfunktion und damit zu einem "Quantensprung". Kehren wir nun zurück zu meiner Behauptung, auch diese Problembeschreibung enthalte wesentliche Aspekte von Kants UnbestimmtheitsArgument (4) und bestätige insofern die von mir vertretene These einer wechselseitigen Ergänzung der vier regulativen Argumente Kants im, genauer: zum "regulativen Prinzip der reinen Vernunft". Zunächst einmal kann darauf hingewiesen werden, daß nach der von mir vorgeschlagenen Lesart die ersten drei Argumente Kants allererst im vierten und letzten ihre volle Erklärungskraft entfalten, denn erst dieses stellt "das begriffliche tertium zur ungangbaren Alternative von Endlichkeit und Unendlichkeit bereit". In sehr ähnlicher Weise (wenn wir einen Moment lang von seiner unbegrifflichen Seite absehen) kommt im quantenmechanischen Meßverfahren der metaphysikkritische Impuls, seine "Aufgaben"-Struktur und die 137 A.a.O., 35. Vgl. auch die bei von Weizsäcker beschriebene (Aufbau der Physik, 529). 138 S.u., Kap. 4.1. 139 Vgl. dazu a.a.O., 515ff., und Mittelstaedt, a.a.O., Kap. III.

Verzögerung

im dritten Versuch

3.3 Zur regulativen Struktur quantenmechanischer Meßverfahren

277

Komplementaritätsthese der Vereinbarkeit von Wellen- und Teilchenbild zum Tragen. Dabei wird die entscheidende Parallele zu Kants Unbestimmtheits-Argument sichtbar: Die unstetige, an konkrete, einzelne Messungen methodisch gebundene "Reduktion des Wellenpakets" erscheint als Spezialfall des schrittweisen, auf Grund der "an sich" unzugänglichen Phänomene indefiniten Vorgehens bei der Suche nach den letzten (in der Sprache der Metaphysik: "definitiven") Bestandteilen der Materie. Um die These zuzuspitzen: Kants "regulatives Prinzip", das die metaphysischen Fallstricke einer dualen Kodierung in "endlich" versus "unendlich" durch Rücksicht auf die pragmatisch-epistemologischen Bedingungen der Bestimmung und inhaltlichen "Füllung" dieser abstrakten Größen zu umgehen sucht, kommt der strukturellen Beschreibung dessen gleich, wie meßtheoretisch zu verfahren ist, um ein Elektron zu "treffen".l40 Ich will hier auf folgende Konsequenz hinweisen: Sollte diese Interpretation des quantenmechanischen Meßverfahrens sich der Zustimmung versichern können, die ihr meines Erachtens im Rahmen der angeführten Kautelen von der Sache her zukommt, so würde das sofort bedeuten, daß Kants regulative Vemunfttheorie viel stärker in Beziehung zu setzen ist zu den Entwicklungen der modernen Physik, als dies bisher meines Wissens geschehen ist. Es wäre mindestens zu klären, worauf die enorme Elastizität seiner Vernunfttheorie beruht, die sie bei allem inhaltlichen Abstand zu weitreichender struktureller Übereinstimmung mit der modernen Physik befähigt. Das Erklärungspotential dieses Ansatzes, so wäre zu folgern, ist nicht zuletzt aufgrund der durch die analytische Kant-Interpretation zu einer Art common sense gewordenen Unterschätzung der Kantschen "Transzendentalen Dialektik" weitgehend unausgeschöpft.

140 Nicht nur geschichtlich steht Peirce zwischen Kant und der Quantenmechanik: "( ... ) the act of knowing areal object alters it" (CP 5.392, Hervorhebung D.K.).

4 Konsequenzen Wohin haben uns die bisherigen Überlegungen geführt? Welche Schlußfolgerungen drängen sich auf? Fassen wir zunächst einmal zusammen. Unser Versuch einer möglichst immanenten Rekonstruktion der Kantschen Vernunft theorie förderte ein dichtes Netz von Oberflächenverweisen, vor allem aber tiefenstrukturellen theoretischen Korrespondenzen und Verknüpfungen zwischen "Transzendentaler Dialektik" und "Transzendentaler Analytik" zutage, die sich keineswegs darin erschöpfen, daß diese die Voraussetzung von jener ist. An Hand einer ganzen Reihe systematischer bzw. "architektonischer" Konstruktionsprobleme der KrV konnte gezeigt werden, daß Kants "regulative" Vernunfttheorie als theoretisch letztlich verzichtbarer "Appendix" zur im Grunde um die Prinzipien der "Verstandeskonstitution" zentrierten "Erkenntnistheorie" völlig mißverstanden wird. Gegen dergleichen Tendenzen in der "analytischen" Kantliteratur vor allem bei Strawson und Bennett spricht beispielsweise die regulative Umdeutung bzw. Ko"ektur der transzendentalästhetischenjtranszendentalanalytischen Raum- und Zeittheorie 1; die regulative "Einlösung" der Geltungsansprüche der transzendentalanalytischen Kausalitätstheorie 2; die regulative Einlösung der Unbedingtheitsansprüche des ("analytisch" allein inkonsistenten) "höchsten Punkts" der Transzendentalphilosophi&; und damit, und vor allem, der regulative Nachweis der vemunfttheoretischen Unbedingtheits-Voraussetzungen des "analytischen" Verstandes. Der Preis, den eine analytische Kant -Interpretation a la Strawson und Bennett für ihre (vermeintlich) metaphysikkritische Verabschiedung der regulativen Vernunfttheorie bzw. "Transzendentalen Dialektik" der KrV bezahlt, besteht in der einer hermeneutischen Kapitulation gleichkommenden Ausblendung weiter und systematisch tragender (Schlüssel-) Abschnitte und Bestandteile der KrV. Dazu gehört zum Beispiel die regulative Terminologie innerhalb der "Transzendentalen Analytik"; die Unterscheidung zwischen "mathematischen" und "dynamischen" Kategorien, Prinzipien und Antinomien; die an alogische Grundstruktur der KrV und anderes mehr.

1

S.o., bes. Kap. 3.3.

2

S.o., Kap. 25.1.

3

Ebd.

4 Konsequenzen

279

Nun soU damit keiner unkritischen Rehabilitation der klassischen Transzendentalphilosophie das Wort geredet werden. Gegen die überzogenen Ansprüche einer auf die sprachkritische Wende antwortenden tranzendentalsemiotischen restitutio ad integrum der KrV (Schönrich) ist m.E. daran zu erinnern, daß gerade im Anschluß an die substanziellen sinnkritischen Einwände Strawsons gegen den "Transzendentalen Idealismus" Kants das Projekt einer "kategorialen Synthesis" (Niquet) höchst fragwürdig wurde. Gegenüber dieser doppelten Versuchung einer "analytischen" Unter- oder "synthetischen" Überschätzung Kants versuchte die vorliegende Arbeit die systematischen Motive und dahinterliegenden theoretischen Probleme in den Blick zu bekommen, die Kant zum "transition from the level of the understanding to that of reason'04 veranlaßten und als solche aktuell und unabgegolten sind. Unter dieser problemorientierten Perspektive ließ sich Kants regulativ-an alogischer Grenzbegriff (aus den "Prolegomena") als theoretische, systematische und (tendenziell sinn-) kritische Konsequenz der unvermeidlichen regulativ-konstitutiven Doppelstruktur von "Erkenntnis" überhaupt rekonstruieren. Im Licht der erwähnten Konstruktionsprobleme der KrV einerseits und unter Berücksichtigung der darin fokussierten prinzipiellen Schwierigkeiten philosophischer Theoriebildung andererseits erscheint Kants Theorie der "Grenze" zwischen Immanenz und Transzendenz, "auf der" die spezifischen Fehlschlüsse dualer Kodierung in empirisch/transzendental, analytisch/ synthetisch5 und - last not least - regulativ/konstitutiv vermeidbar sind, als radikale "kritische" Konsequenz aus den analysierten "Antinomien" philosophischen Denkens. Die Doppelstruktur von "Erkenntnis" manifestiert sich in der hinlänglich bekannten und kritisierten 6 Doppeldeutigkeit der Grundbegriffe ihrer "Theorie". Es scheint so, als bilde diese Doppelstruktur - oder "Bifurkation"7 - ein charakteristisches Moment transzendentaler Begründungsstrategien. Kants folgerichtiges Bemühen richtete sich auf die Auszeichnung desjenigen Ortes bzw. Modus, an bzw. in dem "Erkenntnis" mit sich selbst und damit ihrer Theorie "zusammenstimmt". Angesichts der "transzendentalen Differenz" zwischen unverwechselbaren Bereichen theoretischer Geltung stellt sich mit allem Nachdruck die Frage ihrer "Verhältnisbeziehung". Die Grenze, die "ebensowohl" zum einen wie zum anderen Bereich "gehört", eröffnet zumindest die Möglichkeit ihrer Kommunikation untereinander, nachdem die theoretische Vergegenständlichung 4

Buchdahl, 221.

5

Vgl. Quine.

6

S.o., Einleitung, Anm. 29.

7

Vgl. Niquet, 11 und

277ff.

280

4 Konsequenzen

"transzendental" differierender Sphären zu den genannten Problemen führte. Kants regulativ-analogischer Grenzbegriff ist daher seine Antwort auf die der "Theorie" der "Erkenntnis" innewohnende grundsätzliche "Amphibolie" ihrer Grundbegriffe. Mir scheint, die oben durchgeführte immanente Rekonstruktion des Gedankengangs der KrV und die exemplarischen Aufweise der Unausweichlichkeit einer regulativen "Vollendung" des ansonsten inkonsistenten (verstandes-) "kritischen Geschäfts" sammelte stärkste Evidenzen und Belege für diese Sicht der Kantschen Erkenntnistheorie. Es kann deshalb auch nicht verwundern, daß Kont selbst schließlich genau diese hier vorgetragene Interpretation des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft ins Auge faßt. Im - wie könnte es anders sein - "Beschluß" der "Prolegomenatt8 kommt er noch einmal auf die "Fragen" des "Anhangs zur transzendentalen Dialektik" zu sprechen. 9 Er bestätigt zunächst das oben herausgearbeitete irritierende Moment "regulativer" Vernunft, daß am Ende der KrV "gewisse Vernunftprinzipien vorgetragen (werden), die die Naturordnung oder vielmehr den Verstand, der ihre Gesetze durch Erfahrung suchen soll, apriori bestimmen'1O.

Der angesichts der "konstitutiven" Verstandestheorie hiermit verbundene "Skandal" besteht darin, daß die genannten Vernunftprinzipien nun ihrerseits "constitutiv und gesetzgebend in Ansehung der Erfahrung zu sein (scheinen), da sie doch aus bloßer Vernunft entspringen, welche nicht so wie Verstand als ein Princip möglicher Erfahrung angesehen werden darf"ll.

Kant umreißt damit exakt jene Amphibolie der "Reflexionsbegriffe", die sich nach unserer Analyse zur "regulativ-konstitutiven Doppelstruktur" der gesamten Erkenntniskritik verdichtet. Hier, am Ende seiner "Prolegomena", zieht er daraus die Konsequenz, daß sich nach der Kritik der Erkenntnis bzw. aus ihr offenbar ein ganz neues Problem und eine ganz neue Aufgabe stellt, zu der die KrV allererst führt und die die vorliegende Untersuchung nach ihren immanenten Bestimmungen zu entwickeln suchte. Im Anschluß an die zuletzt zitierten Sätze fährt Kant fort: 8

Und, um die Verschränkung und Überkreuzstellung zwischen Anfang und Ende de dicto und de re so stark wie möglich zu machen, auf der letzten Seite dieses "Beschlusses".

9

AA IV (Prolegomena), 364. Kant meint, wie der Hinweis der Herausgeber der Akademieausgabe klarstellt, B 670-696.

10 Ebd. 11 Ebd.

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

281

'Ob nun diese Übereinstimmung [zwischen dem ·Princip· des Verstandes und demjenigen der Vernunft, D.K.] darauf beruhe, daß, so wie Natur den Erscheinungen oder ihrem Quell, der Sinnlichkeit, nicht an sich selbst anhängt, sondern nur in der Beziehung der letzteren auf den Verstand angetroffen wird, so diesem Verstande die durchgängige Einheit seines Gebrauchs zum Behuf einer gesammten möglichen Erfahrung (in einem System) nur mit Beziehung auf die Vernunft zukommen könne, mithin auch Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft stehe: mag von denen, welche der Natur der Vernunft auch außer ihrem Gebrauch in der Metaphysik sogar in den allgemeinen Principien eine Naturgeschichte überhaupt systematisch zu machen, nachspüren wollen, weiter erwogen werden; denn diese Aufgabe habe ich in der Schrift selbst zwar als wichtig vorgestellt, aber ihre Auflösung nicht versucht.·12

Fragen wir also erneut: Wohin wurden wir durch unsere Überlegungen geführt? Welche Schlußfolgerungen drängen sich auf? Ich sehe im wesentlichen zwei Gesichtspunkte, die hier zu thematisieren sind. Sie bilden zwei zentrale Aspekte der "Grenzen" der Verständigung. Ich behandle sie unter den Stichwörtern "Universalienrealismus" sowie "Letztbegründung oder Diskurs".

4.1 Zur Amphibolie universalienrealistischer Argumentation (1): "Universal" oder "realistisch"? Der erste Gesichtspunkt erschließt sich auf dem Umweg über die Frage nach der Relevanz unseres Vergleichs zwischen Kants regulativer Vernunfttheorie und den Annahmen der modernen Physik, insbesondere der Quantenmechanik. Die Auseinandersetzung mit der modernen Naturphilosophie im Anschluß an unsere Kant-Rekonstruktion war unausweichlich geworden infolge von Kants Anspruch, das vor allem aus "kosmologischen" Fragestellungen heraus entwickelte "regulative Prinzip der reinen Vernunft" inclusive der daran anschließenden "Vernunftprinzipien" könne niemals "den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im mindesten zuwider" (B 708) sein und - da "die Idee immer richtig (bleibt)" (B 722) - "doch niemals schaden" (B 715). Läßt sich dieser Anspruch z.B. angesichts der Quantenmechanik aufrechterhalten? Die Kantliteratur hat gute Gründe dafür vorgebracht, daß Kants naturphilosophische Auffassungen durch die "semantische Revolution" von Relativitätstheorie und Quantenphysik überholt und widerlegt sind. 13 Unser Vergleich zwischen Kants "regulativem Prinzip" und der "Kopenhagener Deutung" der Quantenmechanik zwingt hier allerdings zu 12 Ebd. 13 S.o., 265f..

282

4 Konsequenzen

einigen Differenzierungen. Vor allem scheint es so, daß sich die Zurückweisung Kantischer Auffassungen vornehmlich auf die naturphilosophischen Implikationen der transzendentalästhetischen bzw. transzendentalanalytischen Erfahrungstheorie Kants stützt. Wie unsere detaillierte Rekonstruktion des "regulativen Prinzips der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen" (vgl. B 536ff.) zeigen konnte, liegt jedoch diesen Einschätzungen eine angesichts ihrer theoretischen Folgen zum Teil eklatante Lükkenhaftigkeit in der Rezeption der "Transzendentalen Dialektik" zugrunde. Eine nicht-selektive, hermeneutisch angemessene und vor allem auf Kohärenz der regulativen Vernunfttheorie im Angesicht der "Transzendentalen Analytik" und ihrer grundsätzlichen Probleme gefaßte Interpretation führt demgegenüber zu einem viel aufschlußreicheren Bild. Dann wird im "regulativen Prinzip" der "Transzendentalen Dialektik" eine Problemstruktur sichtbar, die sich auf verblüffende Weise in der "Kopenhagener Deutung" der Quantenmechanik wiederfindet. Unser diesbezüglicher Vergleich hatte quantenmechanische Äquivalente für alle vier Teilargumente, die sich zum "regulativen Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen" ergänzen, freigelegt.1 4 Was bisher noch nicht thematisiert wurde, sich aber vor dem Hintergrund von Kants Schwanken zwischen einer "objektiven" und einer "subjektiven" Lesart transzendentaler Ideen 15 nunmehr nachhaltig aufdrängt, ist die Prob/emisomorphie dieser Schwierigkeit mit dem Streit um eine "subjektive" und eine "objektive Deutung" der Quantenmechanik. Sie wird deutlich beispielsweise im Zusammenhang von Poppers regulativer Kritik an den Unbestimmtheitsrelationen Heisenbergs. Popper formuliert das quantenmechanische Problem zunächst in folgender Form. "Jede physikalische Messung beruht auf einem Energieaustausch zwischen dem zu messenden Objekt und dem Meßapparat (eventuell dem Beobachter); das Objekt kann z.B. mit Licht angestrahlt und ein Teil der an ihm gestreuten Lichtmenge von dem Meßapparat absorbiert werden. Der Energieaustausch wird den Zustand des Objekts verändern, so daß dieser nach der Messung ein anderer sein wird als vorher. So lernt man durch die Messung eigentlich immer einen Zustand kennen, der durch den Messungsvorgang soeben zerstört wurde. Diese Störung kann man bei makroskopischen Objekten vernachlässigen, nicht aber bei atomaren Objekten, die z.B. durch Bestrahlung mit Licht stark beeinflußt werden können."16

Diesem Umstand des durch die Beobachtung induzierten "Verschmierens" der zu beobachtenden Zusammenhänge gab Heisenberg einen mathematischen Ausdruck in Gestalt der sogenannten "Unbestimmtheits14 S.o., Kap. 2.2.4. und 3.3. 15 Vgi. Kap. 25.2.1 und 25.2.2. 16 Popper, Logik der Forschung, 169.

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

283

relationen". Kontrovers wird nun die Interpretation dieser quantenmechanischen Grundannahme. Der "subjektiven Deutung", die in den Unbestimmtheitsrelationen eine "Beschränkung unserer Kenntnisse"17 sieht, steht eine "objektive Deutung" gegenüber, die von einer metaphysischen Hypostasierung objektiv nicht vorhandener Größen (wie der "Bahn" eines Teilchens) spricht. Ungeachtet der Umstrittenheit einzelner Argumente und Überlegungen Poppers (die ihn ja zu einer teilweisen Revision seiner grundsätzlich jedoch unveränderten Auffassung veranlaßte) ist seine Position als Beispiel einer regulativen Metaphysikkritik aufschlußreich, die ihn auf die Seite einer subjektiven Deutung bringt. Popper wendet sich energisch gegen den Vorschlag, die Unbestimmtheitsrelationen so zu verstehen, daß die Genauigkeit der gleichzeitigen Bestimmung von Ort und Impuls prinzipiell (a priori) beschränkt ist. An diesem Punkt würde die Quantentheorie aus Poppers Sicht die Einlösung ihres Programms der Eliminierung metaphysischer Größen (hier der Elektronenbahn) erkaufen durch die Einführung einer neuen metaphysischen (negativen18) Größe: der "Genauigkeitsbeschränkungen" der "erreichbaren Meßgenauigkeit"19. Popper sieht hier eine Umkehrung des "logischen" Zusammenhangs zwischen Unbestimmtheitsrelationen und "der (statistisch zu deutenden) Schrödingerschen Wellengleichung"20. Das ist insofern wesentlich, als im Fall einer Ableitung der Wellengleichung aus den Unbestimmtheitsrelationen diese den Status einer Naturkonstante gewinnen, deren "objektiver" Gegenstand sich gleichwohl der Erfahrbarkeit entziehen soll. Im umgekehrten Fall, für den Popper eintritt, eröffnet sich jedoch eine "statistische Um deutung der Unbestimmtheitsrelationen"21, die eine experimentelle Überprüfung ihrer "Häufigkeitsprognosen"22 gestattet. Das bedeutet aber im Grunde genommen nichts anderes als eine regulative, nämlich "sukzessive" Annäherung an eine "indefinite", noch nicht bestimmte MöglichkeitP 17

Aa.O.,171.

18 Im Gegensatz zur "positiven" Lichtgeschwindigkeit, deren "absolute Grenze" sich für Popper allerdings den gleichen metaphysikkritischen Einwänden aussetzt (vgl. a.a.O., 196f.). 19 Aa.O., 174. 20 Ebd. 21 Ebd. (Hervorhebung D.K.). 22 Aa.O., ISO. 23 Ich erinnere noch einmal am Rande daran, daß sich die gesamte Problematik aus dem "Dualismus von Welle und Partikel" entwickelt - einem aussichtsreichen Kandidaten für eine "Fünfte Antinomie" - respektive "Widerstreit" - im Sinne Kants.

284

4 Konsequenzen

"Die statistisch interpretierte Theorie steht daher mit der Möglichkeit exakter Einzelmessungen nicht nur nicht in Widerspruch, sondern sie wär~ar nicht nachprüfbar, sie wäre »metaphysisch«, wenn diese Möglichkeit nicht bestünde."

Im Hinblick auf unsere Frage nach der Realität von (regulativen) Allgemeinbegriffen ist hierbei bemerkenswert, daß Popper gewissermaßen das subjektive, kritisch-idealistische Moment der regulativen Vernunft gegen den Objektivitätsanspruch Heisenbergs ausspielt - und diesen damit objektiv überbietet. Diese Problemisomorphie widerspricht den gängigen "Historisierungen" von Kants Naturphilosophie und zeigt, daß hier größere Sorgfalt am Platze ist (z.B. im Sinne einer Kontrastierung von "klassischer" Verstandestheorie der "Transzendentalen Analytik" und "moderner" Vernunfttheorie der "Transzendentalen Dialektik"). Belassen wir es aber zunächst bei dieser Feststellung einer Problemisomorphie in den jeweiligen Deutungen der Kantschen Vernunfttheorie und der Quantenmechanik, und sammeln wir weitere Gesichtspunkte zur Klärung der damit verbundenen Frage nach dem Verhältnis zwischen "objektiver" und "subjektiver" Deutung.25 Die physikalische Auseinandersetzung um eine angemessene Interpretation mikrophysikaliseher Phänomene ebenso wie die Diskussion um die "richtige" Interpretation von Kants "regulativem Prinzip" bilden in einer wesentlichen Hinsicht Facetten des alten Streits um die Realität von Allgemeinbegriffen. Um diesen Problemkomplex in der hier unvermeidlichen Kürze, gleichwohl in seinem für den vorliegenden Zusammenhang relevanten Aspekt zu vergegenwärtigen, sei zunächst darauf hingewiesen, in welch unterschiedlicher Form für die "Realität" von Allgemeinbegriffen argumentiert wird. Ganz "rhapsodisch" beginne ich mit der noch durch und durch "ontologischen" Apologie des "Seins" der "Begriffe" bei Platon, in der gleichwohl bereits ihr regulatives Orientierungsmoment durchschimmert. "Dennoch aber, 0 Sokrates, sagte Parmenides, wenn jemand auf der andern Seite nicht zugeben will, daß Begriffe Seiendes sind, weil er eben auf alles Vorige und mehr Ähnliches hinsieht und keinen Begriff für jedes Besondere bestimmt setzen will: so wird er nicht haben, wohin er seinen Verstand wende, wenn er nicht eine Idee für jegliches Seiende zuläßt, die immer dieselbe bleibt, und so wird er das Vermögen der Dialektik gänz24 Ebd. 25 Für die inkonsistenten Folgen einer bloß methodologischen Interpretation vgl. Northrop, 176f. und 184. Eine gewissermaßen "schwache" Interpretation des ·Verhältnisses· könnte darin bestehen, daß erst die Berücksichtigung der genannten regulativen Bedingungen einer insofern nicht-metaphysischen, streng immanenten Forschung eine optimale Verhältnisbestimmung zwischen "endlichen· und ·unendlichen· Größen erlaubt.

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

285

lieh aufheben; welche FOI~e du eben vornehmlich scheinst beachtet zu haben. - Ganz richtig, habe Sokrates gesagt." 6

Ohne hier den Bedürfnissen einer detaillierten Platon-Exegese auch nur annähernd gerecht werden zu können, sticht doch im Blick auf unsere Fragestellung ins Auge, wie an dieser interessanten Stelle27 aus Platons Spätwerk gleichsam das Kernproblem des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft thematisiert wird. Wenn Parmenides sagt, ohne die Inanspruchnahme von "Ideen" wisse niemand, "wohin er seinen Verstand wende" ("hopoi trepsei tän dianoian"), so problematisiert und fokussiert er eben jenen Punkt zwischen Verstand und Vernunft, im Lichte dessen eine "demarcation"28 zwischen diesen beiden "Vermögen" zwangsläufig "lauter Sinnleeres (Nonsens)" (B 513) hervorbringt. Wir hatten in unserem "Exkurs" gesehen, wie die gleichsam abstrakte Gegenüberstellung dieser Sphären unter anderem in die "Grundaporie der Gotteserkenntnis" führt, deren Überwindung dann die "analogischen" Versuche einer Verhältnisbestimmung zwischen Ideenwelt und Welt des Seienden galten. Vor dem Hintergrund dieser Ansätze versuchten wir Kants "philosophische Analogie" als genuinen Versuch nicht nur zur Bewältigung der religionsphilosophischen Problematik, sondern als analogisch-regulatives Modell eines erkenntniskritischen Realismus überhaupt zu rekonstruieren. Schließlich ist auch Kant der Auffassung, daß unsere Vernunftbegriffe in irgendeiner Form "seiend" sind. "Bisweilen aber finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, daß die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und daß sie darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren." (B 578)

Indem Kant diese "realistische" (regulativ-analogische) Vorstellung verknüpft mit dem "idealistischen" (regulativ-kritischen) Gedanken einer prinzipiellen "Inkongruenz" zwischen Idee und "Wirklichkeit", setzt er sich den Einwänden gegen jedweden "Dualismus" aus, die bereits Hegel sehr pointiert vorgetragen hat. Genau der soeben beschriebenen Spannung zwischen Kants realistischem Analogie-Begriff und seiner kritisch-idealistischen Inkongruenz-Hypothese gilt Hegels Kritik. "In jedem dualistischen System, insbesondere aber im Kantischen, gibt sich sein Grundmangel durch die Inkonsequenz, das zu vereinen, was einen Augenblick vorher als selb26 Platon, Parmenides, 13S b-c (zitiert nach: Platon, Sämtliche Werke, nach der Übersetzung von F. Schleiermacher hg. von W.F. Otto, E. Grassi und G. Plamböck, Hamburg 19TI, Bd. 4,72). Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch III, 999a.

27

Den Hinweis auf sie verdanke ich Prof. Dr. K-O. Apel.

28 Bennett, a.a.O., 263.

286

4 Konsequenzen

ständig, somit als unvereinbar erklärt worden ist, zu erkennen. Wie soeben das Vereinte für das Wahrhafte erklärt worden ist, so wird sogleich vielmehr für das Wahrhafte erklärt, daß die beiden Momente, denen in der Vereinung als ihrer Wahrheit das Fürsichbestehen abgesprochen worden ist, nur so, wie sie getrennte sind, Wahrheit und Wirklichkeit haben. Es fehlt bei solchem Philosophieren das einfache Bewußtsein, daß mit diesem Herüber- und Hinübergehen selbst jede dieser einzelnen Bestimmungen für unbefriedigend erklärt wird, und der Mangel besteht in der einfachen Unvermögenheit, zwei Gedanken - und es sind der Form nach nur zwei vorhanden - zusammenzubringen. "29

Nun haben wir insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Antinomienproblematik und den verschiedenen Argumenten für ein "regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen" nicht nur gesehen, wie schmal der "regulative" Grat zwischen den Verlockungen des "blinden" Finitismus und des "leeren" Infinitismus ist. Vor allem legte der Vergleich mit der modernen Physik nahe, daß Kant regulative Erkenntnisbedingungen freilegen konnte, die offenbar nur bei Strafe eines "Realitäts"-Verlusts dogmatisch außer Kurs gesetzt werden können. Wenn Hegel daher am Ende des zitierten Absatzes sagt, es sei "nur Bewußtlosigkeit, nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist"3O,

so darf das angesichts der gleichzeitigen Unvollkommenheit des "diesseits" nicht zur unkritischen Verkennung der "Begrenztheit" des "Unbegrenzten" führen. Vor dem Hintergrund unseres mittlerweile erarbeiteten Problembewußtseins im allgemeinen und von Hegels Kant-Kritik im besonderen ist es sehr aufschlußreich, eh.S. Peirce' Aufarbeitung dieser Problemlage zu betrachten. Dabei kann der soeben aufgezeigte Dualismus Kants - realistischer Analogiebegriff einerseits, idealistische Erkenntniskritik andererseits durchaus als heuristische Folie zur Identifikation zweier entsprechender, konkurrierender "Erkenntnisinteressen" bei Peirce dienen. In seinen berühmten "Lectures on Pragmatism" aus dem Jahr 1903 unterscheidet Peirce drei "normative sciences" - Logik, Ethik und Ästhetik -, die darin übereinkommen, daß sie zwischen "good and bad" unterscheiden. "Logie in regard to representations of truth, Ethies in regard to efforts of will, and Esthelies in objects considered simply in their presentation."31

29 Hegel, Enzyklopädie, Bd. 1, 143 (§ 60).

30 A.a.O. 144. 31 CP 5.36.

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

2537

Diese Untersuchung der mit einem "ideal state of things"32 befaßten "normativen Wissenschaften" bildet gleichzeitig den Einführungskontext für die "Phenomenology" Peirce'. Diese geht jener sogar voraus, indem sie gewissermaßen als Klärung des "context of discovery" zur Gewinnung des Datenmaterials der "normativen Wissenschaften" die Phänomene unter möglichst vollständiger Rückgängigmachung von durch ihre theoretische Zubereitung hervorgerufenen Verzerrungen "nur betrachten" möchte. "But before we can attack any normative science, any science which proposes to separate the sheep from the goats, it is plain that there must be a preliminary inquiry which shall justify the attempt to establish such dualism. This must be a science that does not draw any distinction of good and bad in any sense whatever, but just comtemplates phenomena as they are, simply opens its eyes and describes what it sees; not what it sees in the real as distinguished from figment - not regarding any such dichotomy - but simply describing the object, as a phenomenon, and stating what it finds in all phenomena alike. ,33

Obwohl Peirce die Namengebung für diese Wissenschaft ausdrücklich von Hegels "Phänomenologie des Geistes" entleiht, läßt er doch keinen Zweifel dar an, worin seines Erachtens die entscheidende Schwäche des Hegelschen Ansatzes besteht. Dabei scheint es interessanterweise so, auch wenn Peirce das nicht explizit zum Ausdruck bringt, als teile Hegels "phänomenologischer" Ansatz die tendenziell "blinde" Verengung auf (aktuelle) Anschaulichkeit mit der Kantschen Verstandestheorie. Hegel verstand nämlich "Phänomenologie" "in a fatally narrow spirit, since he restricted hirnself to what acwally forces itself on the mi nd and so colored his whole philosophy with the ignoration of the distinction of essence and existence and so gave it the nominalistic and I might say in a certain sense the pragmatoidal character in which the worst of the Hegelian errors have their origin. I will so far follow Hegel as to call this science Phenomenology although I will not restrict it to the observation and analysis of experience but extend it to describing all the features that are common to whatever is experienced or might conceivably be experienced or become an object oe study in any way direct or indirect. ,34

Wir können im Rahmen unserer Überlegungen Peirce' hieran anschliessende Entfaltung seiner Kategorienlehre - mit und gegen Hegel35 - nicht im 32

Ebd.

33

ep 5.37 (Hervorhebung D.K.).

34 Ebd.

35

Hegels "three stages oe thinking' (ep 5.38) scheinen Peirce "nearly right' (ebd.) und, "roughly speaking, the correct list of Universal Categories..... (ep 5.43). Den entscheidenden Unterschied zwischen seiner Kategorienlehre und derjenigen Hegels sieht Peirce hingegen darin, daß jener die ersten beiden zugunsten der dritten Kategorie vernachlässigt; Hegel betrachte 'Category the Third as the only true one. ( ... ) the other !Wo are only introduced in order to be aufgehoben." (ep 5.79)

288

4 Konsequenzen

einzelnen verfolgen. Für unsere Fragestellung ist allerdings auch von größerer Bedeutung, in welcher Weise Peirce die mit dem Übergang vom Verstand zur Vernunft aufgetretenen (Kantischen) Probleme "zwischen" Endlichkeit und Unendlichkeit zu lösen versucht. Wir können zu diesem Zweck völlig zwanglos an unsere Ausführungen zum Schlußvermägen der Vernunft anknüpfen 36, da Peirce hierin, wie Kant, einen entscheidenden Ansatzpunkt zur Beantwortung der genannten Fragen sah. Eine der in diesem Zusammenhang zentralen Stellen aus den "Collected Papers" bildet Peirce' explizite Auseinandersetzung mit dem "syllogism" aus dem Jahr 1868.37 Besonders interessant im Licht der Kantschen Probleme ist dabei Peirce' Adaption desjenigen Gedankens, der in Kants Augen zum Vernunftschluß aufs "Unbedingte" führt. Peirce legt sich zunächst die "very ancient notion" vor "that no proof can be of any value, because it rests on premisses which themselves equally require proof, which again must rest on other premisses, and so back to infinity."38

Bei diesem Einwand handelt es sich ersichtlich um das Negativ zu Kants Etablierung des Unbedingten. Er suchte das Wesen des "mittelbaren Vernunftschlusses" gerade als "prosyllogistische" Prinzipialisierung des Bedingungsverhältnisses zwischen minor und (selber "bedingter") maior in einer "unbedingten" conclusio verständlich zu machen. Demgegenüber versucht Peirce unter (selektiver) Verwendung Kantscher Denkmittel die damit verbundene Problemperspektive zugleich zu "transformieren".39 Das geschieht im vorliegenden Fall vor allem dadurch, daß Peirce in signifikanter Abweichung von der "Architektonik" Kants die zitierte Überlegung nicht unmittelbar zur Etablierung des "Unbedingten" heranzieht. Vielmehr versucht er, konsequenter als Kant, die prozeduralen Aspekte (die auch in dessen Rede vom "vermittelst eines Prosyllogismus" (B 364) zu erschließenden Unbedingten enthalten sind) von Erkenntnis in den Blick zu rücken. Peirce wehrt daher den genannten "sehr alten" Einwand nicht "unbedingt" ab. Er entnimmt ihm vielmehr die forschungslogisch grundlegenden Einsichten

36 S.o., Kap. 2.1. 37 CP 5.318ff. 38 CP 5.327. 39 Zu diesem Programm einer "Transformation der Transzendentalphilosophie" vgl. Apel, Transformation der Philosophie (für unseren Zusammenhang vor allem "Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik", Bd. 2, 157-177); vgl. auch Niquet, bes. 239ff.

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

289

"that nothing can be proved beyond the possibility of a doubt; that no argument could be legitimately used against an absolute sceptic; and that inference is only a transition from one cognition to another, and not the creation of a cognition 040. Bevor wir zur Erläuterung dieser drei Schlußfolgerungen übergehen, ist es im Hinblick auf die in Kapitel 2 entwickelte Kant-Interpretation und im Licht der Motive für ein "transition from understanding to reason" (Buchdahl) äußerst wichtig, eigens darauf hinzuweisen, daß sich jetzt auch bei Peirce der Punkt des Übergangs vom Verstand zur Vernunft als das grundlegende Problem der Erkenntnistheorie und sozusagen als Nadelöhr erweist, dessen je unterschiedliches Durchlaufen über die jeweilige Gestalt einer Erkenntnistheorie entscheidet. Diesen Umstand, daß "gerade auf der Grenze" - oder "Mitte" - zwischen Verstand und Vernunft die Gegenstände der Erscheinungen gegenstehen, erhellt noch einmal sehr schön eine gelungene Formulierung Hegels. "Erhoben über die Wahrnehmung stellt sich das Bewußtsein mit dem Übersinnlichen durch die Mitte der Erscheinung zusammengeschlossen dar, durch welche es in diesen Hintergrund schaut. 41

Daß Peirce hier exakt dieses Problem des Verhältnisses zwischen Verstand und Vernunft vor Augen hat, war wenig vorher deutlich geworden. Es begegnet dort in dem allgemeinen Kontext seiner Erörterung der Kantisehen These, "sensation and the power of abstraction or attention" seien "the sole constituents of all thought"42. Peirce konkretisiert sie zunächst im Hinblick auf die Rolle der Aufmerksamkeit ("force of attention") im Erkennen43, dann anhand der Frage danach, welche Bedeutung "Bildern" im Erkenntnisprozeß zukomme.44 Dabei wird sehr schnell deutlich, daß das eigentlich erklärungsbedürftige Phänomen darin besteht, daß wir zu neuen Einsichten und Erkenntnissen in der Lage sind, also in dem "informativen" Moment der "modification of consciousness'045. Für die im vorigen entwikkelte Kant-Interpretation ist jetzt von erheblicher Bedeutung, daß Peirce in seiner Diskussion der genannten Frage eine Überlegung aufnimmt, deren unbefriedigende Behandlung durch Kant wir oben als ein prinzipielles Problem rekonstruiert haben, das (neben anderen) letztlich eine grundsätzliche Infragestellung seiner ("offiziellen") Systemarchitektonik zwischen Verstand 40

CP5.327. 41 Hegel, Phänomenologie, 135. 42 CP 5.295. 43 Vgl. CP 5.295-298. 44 Vgl. CP 5.298ff.

45 CP 5.298; vgl. auch 5.311. 19 Köveker

290

4 Konsequenzen

und Vernunft nahelegte. Ich spreche von dem transzendentalen "Grundsatze der durchgängigen Bestimmung" (B 599).46 In Peirce' Ausführungen hierzu wird nun auch vollends deutlich, weshalb diese "doctrine", als deren "most eminent expounder"47 er Berkeley anführt48 , diese theoretische Sprengkraft im Rahmen von Kants System besaß. In völliger Übereinstimmung mit den oben erwogenen Konsequenzen weist nämlich auch Peirce darauf hin, daß dieser Grundsatz letztlich besage "that no man has a true image of the road to his office, or or any oeher real ehing"49.

Diese Schlußfolgerung scheint einzig vermeidbar unter der Voraussetzung, Erkenntnis sei uns möglich "in all its infinite details"50. Das ist indessen nicht nur "very doubtful',51, wie Peirce hinzufügt. Unsere Ausführungen zum Problem der Unendlichkeit haben vielmehr gezeigt, daß jenes damit nur in diesem tendenziell inkonsistenten52 Begriff "verschwindet", wie Heisenberg hinsichtlich der mit ihm operierenden Formalismen sagt.53 Vor allen Dingen würde das jedoch einen Rückfall hinter all jene kritisch-regulativen Einsichten und Kautelen bedeuten, die die "Transzendentale Dialektik" - nolens volens - gerade als Konsequenz aus der Unhaltbarkeit der Unendlichkeitsimplikationen der Kantschen Verstandestheorie herausarbeitete. Vor dem Hintergrund des "realen" wissenschaftlichen Fortschritts einerseits und der philosophischen Radikalisierung bestimmter fundamentaler Annahmen Kants durch Peirce andererseits erschließt sich demgegenüber das "historische Recht" der Doppelgestalt von Kants "Transzendentaler Logik" der KrV qua Verstandestheorie und Vernunfttheorie, und es wird verständlich, weshalb sie aus ihrer spezifischen historisch-philosophischen Konstellation heraus, nämlich als Antwon auf den erkenntnistheoretischen Skeptizismus Humes, gerade diese Gestalt annahm. Zu dessen Abwehr, das 46 S.o., Kap. 2.5.1. 47 ep 5.299. 48 Vgl. G. 8erkeley, The Principles of Human Knowledge, in: The Works of George Berkeley, ed. by A.A. Luce and T.E. Jessop, LondonjEdinburgh et al. 1949, Vol. 11, 29.

49 ep 5.300 (zweite HelVorhebung D.K.). Diese Schlußfolgerung ist nicht zu verwechseln mit

der ihr zugrundeliegenden (quanten- und chaostheoretisch relevanten) Prämisse, daß alles mit allem zusammenhängt. Das wird später deutlicher, wenn Peirce sagt: "All propositions relate to the same ever-reacting singular; namely, to the totality of all real objects." (ep

5.152)

50 ep 5.300. 51

Ebd.

52 Vgl. die Ausführungen in Kap. 2.3.1. 53 S.o., Kap. 3.2.

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

291

belegen insbesondere Kants Ausführungen aus den "Prolegomena" und der KrV, schien ihm einzig eine transzendentalsubjektive Begründung des Begriffs "notwendiger Allgemeingültigkeit" im Sinn seiner "Kopernikanischen Wende" in der Lage.54 Indem jedoch, wie insbesondere unser Blick auf Strawson zeigte55, auch für jene als "theoretischer" Begriff (wie für die "regulativen Prinzipien" auch) eine gewisse ("Rest"-) Objektivität "konstitutiv" ist, "verschmiert" die vermeintlich säuberliche transzendentale Unterscheidung idealtypischer "Erkenntnisvermögen", und es kommt sozusagen vom Ende her zu einer - allerdings transzendental "aufgeklärten" - Re-Empirisierung von "Erkenntnis". Kant hat diesen Zusammenhang am Beispiel seiner, wie er nahelegt, intern zu überwindenden Unterscheidung zwischen "Ding an sich" und "Erscheinung" mit aller wünschenswerten Klarheit zum Ausdruck gebracht. "Die Analysis des Metaphysikers schied die reine Erkenntnis apriori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen, und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist." (B XXI Fn.)

Kant zog allerdings - wenn auch angesichts der genannten problemgeschichtlichen Konstellation aus sehr verständlichen Gründen - nicht die letzten Konsequenzen aus den beschriebenen systematischen Problemen, wie sie etwa hinsichtlich des "Grundsatzes der Bestimmtheit" manifest wurden und er sie selbst am Ende der "Prolegomena" zumindest erwog. Wie oben dargelegt, zählt zu diesen Konsequenzen beispielsweise das Eingeständnis einer prinzipiellen Unbestimmtheit jeglicher Erkenntnis. In Anbetracht des Satzes ·um ein Ding vOllständig zu erkennen, muß man alles Mögliche erkennen, und es dadurch, es sei bejahend odervemeinend, bestimmen· (B 601)

hätte Kant rückblickend auf die "Transzendentale Analytik" konsequenterweise folgern müssen, daß auch die vermeintlich definitiven, letztbegründeten Einsichten der Verstandestheorie ausnahms/os in den Sog dieses "indefiniten" regulativen Empirismus und den Einzugsbereich der damit verbundenen fallibilistischen Vorbehalte geraten.

Diese Konsequenz zieht jetzt Peirce. Wie das Zitat der drei forschungslogischen Schlußfolgerungen, deren Erläuterung wir zugunsten dieses kurzen Rückblicks von Peirce auf Kant aufschoben und nun nachholen, zeigt, läßt sich aus der "immanenten" Halt-Iosigkeit und Bedingtheit aller Erkenntnis 54 Vgl. etwa B 122ff. 55 Zu dessen teilweise erstaunlichen Übereinstimmungen mit Peirce vgl. zum Beispiel CP 5.299,5.311,5.352 U.ö. (Vgl. Apel, Der Denkweg von Ch.S. Peirce, 41ff., bes. 102) 19'

292

4 Konsequenzen

(nicht zuletzt durch den "Abgrund der Unwissenheit" (B 603 Fn.)56) auch folgern: "not hing can be proved beyond the possibility of a doubt"57. Peirce spricht bereits hier, 1868, ausdrücklich davon "that inference ( ... ) cannot produce infallible cognition"58. Darüber hinaus zeige die zitierte "Unendlichkeit" des Schlußprozesses nicht nur "that no argument could be legitimately used against an absolute sceptic.59, sondern - für unseren Zusammenhang wichtiger - "that inference is only a transition from one cognition to another, and not the creation of an cognition o6O.

Auf Grund dieser und ähnlicher Bemerkungen aus Peirce' "vorpragmatistischer" Phase resümiert Apel, ihr "Wahrheitsbegriff' scheine "im wesentlichen der einer rationalistischen Kohärenztheorie zu sein, jedenfalls wird noch nicht ausdrücklich klar gemacht, daß und wie die »Konsistenz« einer Hypothese, welche die Sinnesdaten zur Einheit einer Meinung reduzieren soll, nicht nur im Hinblick auf ihre Prämissen, sondern im Hinblick auf die Sinnesdaten selbst überprüft werden könnte.61.

Gleichwohl läßt sich doch schon von hier aus die regulative Pointe von Peirce' Kant -Transformation benennen: Sie besteht im wesentlichen darin, daß Peirce Ernst macht mit den aufgezeigten Konsequenzen aus der "regulativ-konstitutiven Doppelstruktur" von "Erkenntnis überhaupt", indem er die (von Kant verstandestheoretisch und "immanent" reklamierte) Gültigkeit "konstitutiver" Verstandesgrundsätze in die langfristige "regulative" Gültigkeit der "ultimate opinion" einer "indefiniten" "Schluß"-Gemeinschaft forschender und kommunizierender Individuen "transformiert". Diese Transformation des "Transzendentalen Idealismus" Kants "makes all reality something which is constituted by an event indefinitely future"62. Im Hinblick auf die oben vorgetragene Rekonstruktion des sozusagen vierstufigen "regulativen Prinzips der reinen Vernunft" liegt im Rahmen dieser Überlegungen der Einwand nahe, nach der - von mir geteilten - sinnkritischen Zurückweisung der Kantschen Rede von einem "Ding an sich" sei doch der genannte Interpretationsvorschlag überhaupt nicht mehr aufrecht56 Vgl. ep 5.172f.; ferner 5.311,5.351 u.ö.

57 ep 5.327. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd.

61 Apel, a.a.O., 115f. 62 ep 5.331. Wenig später heißt es, "that ideal perfection of knowledge by which we have seen that reality is constituted must thus belong to a community in which this identification is complete" (ep 5.356).

4.1 Universalienrealismus 1: 'Universal' oder 'realistisch'?

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zuerhalten. Die "Transformation" des Kantschen "Transzendentalen Idealismus" kann jedoch auf die sinnkritisch unhaltbare Rede vom "Ding an sich" verzichten, ohne daß bei Kants Argument (1) eine Leerstelle entstünde. In der Form, in der Peirce diesen Versuch unternommen hat, findet sich dann vielmehr eine Bestätigung der genannten Verweisungs- und Ergänzungsstruktur, indem 1.) die Kantische Unterscheidung zwischen "Ding an sich" und "Erscheinung" durch den Aufweis ihrer regulativen TiefellstlUktur ersetzt werden kann63, 2.) die sich dazu gewissermaßen eines "futurizing move" (Bennett) hin zum hypothetischen Ende des "aufgegebenen" Forschungsprozesses bedient64 , der 3.) eine Art dialektischen "Widerstreit" mit (nicht Widerspruch zu) der Faktizität der Gegenwart bildet, welchen Widerstreit 4.) aufzulösen einzig im Licht einer "indefinite community of investigators" sinnvoll scheint. Nun bewegt sich Peirce allerdings mit diesem Gedanken vorwiegend auf der Linie der oben apostrophierten, tendenziell idealistischen erkenntniskritischen Bemühungen Kants. Das ist festzuhalten ungeachtet der ausdrücklich realistischen Orientierung von Peirce. Wie Apels Hinweis auf die "rationalistische Kohärenztheorie" des frühen Peirce und den tendenziell idealistischen Syllogizismus seiner Schlußlehre zeigt, steht hier noch der Nachweis aus, "wie die »Konsistenz« einer Hypothese ( ... ) nicht nur im Hinblick auf ihre Prämissen, sondern im Hinblick auf die Sinnesdaten selbst überprüft werden könnte.65.

Wir hatten gesehen, daß schon Kant zumindest über eine ähnliche Problemperspektive verfügte. In "praktischer" Hinsicht hatte er ja bemerkt, daß wir "bisweilen" finden, "oder glauben wenigstens zu rinden, daß die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und daß sie darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Grunde der Vernunft bestimmt waren" (B 578; vgl. B 5641.).

Die Einschränkung darauf, was wir zu finden "glauben", ändert dabei nichts an der Tatsache, daß Kant hier Phänomene vor Augen hat, die wir im Licht der besten uns zugänglichen Informationen nicht anders als im genannten Sinn beurteilen können. Freilich würde es unter Kants Voraussetzung einer (abstrakten) hypothetischen und retrospektiven Kenntnis aller (relevanten) Handlungsbedingungen

63 S.o., Einleitung. 64 Vgl. Apel, Der Denkweg von CharIes S. Peirce, 50 Fn., 68 u.ö. 65 A.a.O., 116 (Hervorhebung D.Iordrecht1972,262-269 Dorschei, A., I>ie idealistische Kritik des Willens. Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel, Hamburg 1992 Dupre, W., "Zeit", in: Krings, H.jH.M. Baumgartner/Ch. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974, Bd. 6, 1799-1817 Forum für Philosophie (Hg.), Kants transzendentale I>eduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, Frankfurt/M. 1988 Frank, M., I>ie Grenzen der Verständigung, Frankfurt/M. 1988 French, St.G., "Kant's Constitutive-Regulative I>istinction", in: L.W. Beck (ed.), Kant Studies Today, La Salle 1969,375-391 Freud, S., "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse", in: ders., I>arstellungen der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 19736, 130-138 Gemoll, W., Griechisch-I>eutsches Schul- und Handwärterbuch, München/Wien 1954 (Nachdruck 1979) Gethmann, C.F., "Allgemeinheit", in: Krings/Baumgartner/Wild, Bd. 1, 3251

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Anhang Kommentierte Übersicht zum Auftreten der "regulativen" Terminologie innerhalb der KrV (unter Angabe des jeweiligen Kapitels)

1.) B 221-223 ("Analogien der Erfahrung")

Einführung der Unterscheidung zwischen "konstitutiven" und "regulativen Prinzipien", hier des Verstandes; diese bilden die "dynamischen" unter den "synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes" und jene die "mathematischen".

2.) B 296

Eine bloße Wiederholung der in B 221-223 gegebenen Bestimmungen.

3.) B 536-595 a) B 536-543

Einführung des "regulativen Prinzips der reinen Vernunft" zur "Auflösung" der "kosmologischen Antinomien"; explizite Abgrenzung von einem "konstitutiven Grundsatz des Verstandes" wie auch von einem des Verstandes" wie auch von einem (für unmöglich erklärten) "konstitutiven Prinzip der Vernunft"; Etablierung des prozeduraZen Charakters des "regulativen Prinzips" qua "regressus in in( de )finitum".

("Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena")

("Achter Abschnitt" des Antinomienkapitels: "Regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen")

21"

324

Anhang

b) B 543-595 ("Neunter Abschnitt" des Antinomienkapitels: "Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft, in Ansehung aller kosmologischen Ideen")

Erläuterung der regulativ-empirischen (!) "Auflösung" des "vierfachen Widerstreits" der Antinomie; Versuch des Aufweises der Übereinstimmung mit "Erfahrung" durch die erkenntniskritische Herausarbeitung und Berücksichtigung der prozeduralen Aspekte von "Erkenntnis".

4.) B 611 Fn. ("Zweiter Abschnitt" des "Hauptstücks" über "Das Ideal der reinen Vernunft": "Von dem transzendentalen Ideal")

Kant erwähnt hier (lediglich) "die regulative Einheit der Erfahrung".

5.) B 644-648 ("Entdeckung und Erklärung des dialektischen Scheins in allen transzendentalen Beweisen vom Dasein eines notwendigen Wesens")

Das "notwendige Wesen" (Gott) als regulatives "Prinzip der größtmöglichen Einheit der Erscheinungen" und als notwendiges (transzendentes) Gegenstück zu dem "zweiten regulativen Prinzip", "alle empirischen [immanenten] Ursachen der Einheit jederzeit als abgeleitet anzusehen".

6.) B 670-732 ("Anhang zur transzendentalen Dialektik")

Neben TextsteIle (3) die systematisch entscheidende Passage durch:

a) B 670-696

1.) "Transzendentale Argumente" für "notwendige Vernunftgesetze" (B 679 und 682); 2.) die Einführung der drei "transzendentalen Vernunftprinzipien" der "Homogenität", "Spezifikation" und "Kontinuität" (B 686); die 3.) "nicht bloß als Handgriffe der Methode" (B 689), sondern "objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben" (B 691);

("Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft")

Anhang

325

b) B 697-732 ("Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der reinen Vernunft")

4.) die "Transzendentale Deduktion" der "dreierlei transzendentalen Ideen" (B 699) als "systematischer Vernunfteinheit"; 5.) die Begründung ihrer (nur) "analogen" Gültigkeit von "objektiven" Gegenständen im Sinne eines "analogen Schemas" der Idee.

7.) B 814 ("Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise")

Rückkehr zu der "offiziellen" subjektivierenden ("methodologisierenden") Sprachregelung, Vernunftprinzipien können "allenfalls nur wie regulative Prinzipien des systematisch zusammenhängenden Erfahrungsgebrauchs gültig sein".

8.) B 828 ("Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft")

Ausdrückliche Einschränkung des "regulativen Gebrauchs" der Vernunft auf "empirisch"-kontingente Phänomene, was (in "praktischer" Hinsicht) "keine anderen als pragmatische Gesetze" ergebe.