Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants 9783110855104, 9783110072198

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Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants
 9783110855104, 9783110072198

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Kapitel. Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns
II. Kapitel. Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung
III. Kapitel. Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft
IV. Kapitel. „Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt
V. Kapitel. Praktisches Sein, Herrschaft der Vernunft und Dialektik der praktischen Vernunft
VI. Kapitel. Handlung in der Ausführung
Schriftenverzeichnis
Register

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Friedrich Kaulbach Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants

Friedrich Kaulbach

Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants

w DE

G_ 1978

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Kaulbach, Friedrich: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants. — 1. Aufl. — Berlin, New York : de Gruyter, 1978. ISBN 3-11-007219-X

©

1978 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter, Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Münster als Dank für hohe Ehrung gewidmet

Vorwort Kant selbst hat den Begriff des Handelns nicht zum expliziten Thema seiner Philosophie gemacht. Aber durch das Geflecht seiner philosophischen Überlegungen ziehen sich Fäden hindurch, aus denen eine Theorie der Handlung gewoben werden kann. Dieses Weberstück soll in diesem vorliegenden Buche vorgelegt werden. Dabei kommt überraschenderweise noch mehr zutage als eine besondere Philosophie des Handelns. Das Thema Handlung führt die Untersuchung zur Aufdeckung des Grundgewebes, welches die Philosophie Kants im Ganzen zusammenhält. Da diese Interpretationsidee maßgebend für die folgenden Überlegungen ist, kommt es dem Verf. auch auf den Beweis dafür an, daß Kants Philosophie im Ganzen als eine durch all ihre Teile hindurchgehende Theorie der Handlung zu interpretieren ist. Es zeigt sich, daß eine sich am Leitfaden des Handlungsprinzips orientierende Darstellung der Kantischen Philosophie durch keine Gebietsgrenzen eingeschränkt wird: vielmehr öffnen sich für dieses Vorgehen von selbst alle Türen, die sonst Bereiche wie Theorie und Praxis, Moralphilosophie, Rechtsphilosophie, Geschichtsphilosophie, Religionsphilosophie voneinander trennen. Uberzeugende innere Verbindungen innerhalb der kantischen Problemgebiete werden sichtbar. Während in der gewöhnlichen Kant-Interpretation das Bild entsteht, daß sich um einen Kern Kantischer Gedanken, der durch die Kritiken und die daran sich anschließenden metaphysischen Ansätze bestimmt ist, eine mehr oder weniger konsistente Umgebung von Untersuchungen über Geschichte, Religion, Politik usw. zeigt, macht diese Untersuchung erkennbar, daß die angeblichen Randgebiete Kantischen Denkens im Aspekt des Handlungsprinzips in Wahrheit mit dem Zentrum unlösbar zusammenhängen. So gibt das Thema Handlung einen Blick auf eine bisher kaum gesehene Einheit des Kantischen „Systems" frei. Beispielsweise wird der Handlungsbegriff in der theoretischen Philosophie einerseits und in der praktischen andererseits im Aspekt einer strukturellen Analogie gesehen werden können, sofern beide Male das Subjekt eine Konstellation zu seinem Gegenstand und zu den andern Subjekten sowie zu der „Welt" herstellt,

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Vorwort

innerhalb deren es handelt. Auch die philosophische Grundlegung der Kommunikationsmöglichkeiten in Theorie und Praxis wird in einer beiden Bereichen gemeinsamen Handlungsstruktur geleistet: in einer den Subjekten gemeinsamen Aufbauarbeit der Gegenstände der Welt, innerhalb deren das Subjekt mit ihnen zu tun hat. Was etwa die gemeinsame Wurzel von Moralphilosophie und Religionsphilosophie angeht, so wird ein beiden zugrunde liegendes Prinzip, dasjenige der durch Freiheit hergestellten moralischen Grundverfassung des Menschen, welche auch als „praktisches Sein" benannt wird, erkennbar gemacht. Und was beide „Philosophien" in ihrem Verhältnis zur Geschichtsphilosophie angeht, so ist es das handlungstheoretische Prinzip Hoffnung, das sie in der Wurzel verbindet. Zur erwähnten Kategorie des „praktischen Seins", welches in der Darstellung des moralphilosophischen Handlungsprinzips eine maßgebende Rolle spielt, ist zu sagen, daß es gegen die einseitige Kant-Auffassung Hegels und derjenigen, die ihm folgen, zur Geltung gebracht wird. Kant ist nicht, wie ihm Hegel vorwirft, auf dem Standpunkt des abstrakten Sollens, der „unendlichen" moralischen Reflexion und der nie endenden Unruhe subjektiver Überlegung stehen geblieben, sondern hat dem Prinzip des praktischen Seins, dessen Charaktere Festigkeit, Entschiedenheit und Beständigkeit im Handeln sind, wesentliche Überlegungen gewidmet. Sie führen in Zusammenhänge, in denen Kant in der Sprache rechtlichpolitischer Kategorien auf Herrschaftsverhältnisse innerhalb des praktischen individuellen Bewußtseins wie in der Gesellschaft die Rede bringt. Dabei tritt der rechtmäßige Anspruch der Vernunft in den Blick, die individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit zu beherrschen. In diesem Zusammenhang wird die Aufmerksamkeit auf Prinzipien wie: Gesinnung, Gewissen und vor allem Achtung fallen, welche den Status der Vernunftmacht über das moralische Bewußtsein des Individuums darstellen. Was die Herrschaft der Vernunft über die Wirklichkeit und die Zuordnung von Freiheit und Natur betrifft, so ist sie Thema der Kantischen Postulatenlehre, in deren Umkreis das Prinzip: Hoffnung maßgebend ist. Das vom Prinzip des Handelns bestimmte Interpretationsprogramm soll auch für die Auslegung und Rechtfertigung der beiden „Metaphys i k e n " , derjenigen der Natur wie derjenigen der Sitten erfüllt werden. Die Aufgabe der Vernunft, beim Handeln die konkrete Wirklichkeit in ihrer unreduzierten empirischen Fülle zu bewältigen, schließt für das theoretische und praktische Denken den Anspruch ein, eine W e l t zu entwerfen, sich an ihr zu orientieren und auszurichten. Was z . B . die theoretische

Vorwort

IX

Vernunft angeht, so zeigt ein Blick auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, daß es hier um die Frage geht: Mit welchen Charakteren muß der Metaphysiker die Welt ausstatten, damit der Physiker seine theoretischen und pragmatischen Aufgaben in ihr stellen und erfüllen kann? An diese Welt muß der „physikalisch" Handelnde die Forderung stellen, daß sie ihm für sein „theoretisches" wie auch „pragmatisches" Handeln eine Orientierungsgrundlage gibt. Orientierung in einer Welt des Handelns ist auch in „praktischer Absicht" Voraussetzung für die E r k e n n t n i s je meiner Pflicht und ebenso für die Rechtfertigung der Hoffnung darauf, daß ich durch mein Handeln einen Beitrag zur Realisierung der Vernunftzwecke zu leisten vermag. Das Thema: Hoffnung fordert das metaphysische Denken dazu heraus, die Einheit von Freiheit und Natur, Sollen und Können, Vernunft und Macht zu begreifen und den Handelnden vom Sinn seines Tuns zu überzeugen. „Hantierung" ist noch keine Handlung. Diese muß vom Kontrapunkt eines Weltentwurfes begleitet werden, der Orientierung und Sinngebung für das Handeln abzugeben vermag. Die Rechtfertigung dieses Entwurfes kann nicht durch „Beweis" geschehen: sie wird durch eine Art e x p e r i m e n t e l l e r Methode geleistet. Es ist hier an den Begriff des Experiments der Vernunft zu erinnern, auf den Kant in der Vorrede zur Vernunftkritik zu sprechen kommt. Der Weltentwurf wird auch im praktischen Zusammenhang einer experimentellen Prüfung unterzogen, in welcher die Konsequenzen durchgespielt werden, die sich aus ihm für den Handelnden in seiner konkreten Situation ergeben. Vermag diese Welt Orientierung und Sinngebung für das Handeln nicht zu leisten, so hat sich der Entwurf nicht als haltbar erwiesen. Das metaphysische Konzept Kants ist von der Philosophie des Handelns aus zu verstehen. Es erweist sich, daß der Ort der Metaphysik im Aufbau des praktischen und theoretischen Bewußtseins nicht „oben", im höchsten „Stockwerk" des über den Fundamenten errichteten Überbaues zu suchen ist. Wenn man von kritischen Voraussetzungen her den Weltentwurf zum Thema der Metaphysik macht, der dem Handelnden als Orientierung und Festigung seiner Hoffnung auf endgültige Vernünftigkeit der Welt zu dienen hat, kommt dieser philosophischen Disziplin eine grund-legende Rolle zu. Ihr Denken steigt nicht auf die oberste Sprosse der Leiter der Reflexion, sondern erforscht den Boden, auf dem diese Leiter steht. Einige Bemerkungen mögen der in diesem Buche befolgten Methode gewidmet werden. In ihr tritt der in der Kant-Forschung beliebte entwick-

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Vorwort

lungsgeschichtliche Aspekt zurück. Entwicklungsgeschichtliche Beiträge, welche auch zu dem Thema: Handlung und Handeln gehören, habe ich in anderen Zusammenhängen gegeben 1 . Es geht in diesem Buche nicht darum, Aussagen Kants verschiedenen, in seiner Entwicklung erreichten Standpunkten zuzuordnen, um vielleicht Widersprüche zu erklären. Es wird kein Wert darauf gelegt, Unstimmigkeiten im Kantischen Gedankengang sichtbar zu machen: vielmehr ist die Absicht leitend, das Prinzip Handlung bzw. Handeln in der Perspektive der kritischen Philosophie Kants plastisch herauszuarbeiten. Diese Perspektive bietet die Möglichkeit, das große Gebiet der Philosophie Kants zu überblicken und in ihren vielen Details die charakteristischen Züge eines Ganzen zu erkennen. Es hat zweifellos seinen Wert, wenn sich die gegenwärtige Kant-Forschung vor allem auf gründliche Detailarbeit verlegt. Gleichzeitig scheint es mir aber geraten zu sein, der Gefahr der Isolierung der Einzelergebnisse zu begegnen und Perspektiven der Kant-Interpretation zu gewinnen, in denen der architektonische Aufbau seines Denkens als Ganzes sichtbar wird. Das Prinzip des Handelns soll sich als fähig erweisen, der Interpretation einen Leitfaden für den Begriff dieses Ganzen zu geben. D e r Gedankengang des Buches ist folgendermaßen zu skizzieren. Er geht im I. Kapitel vom Actio-Begriff der traditionellen Ontologie aus und führt in die transzendentallogische Deutung dieses Begriffes, wobei kategoriale Prinzipien wie Subjekt, Substanz, Kausalität, Kraft eine wichtige Rolle spielen. (1—5). Beim Übergang vom ontologischen zum transzendentalen Begriff der Handlung kommt das aktive Grund-verhalten des Sub-jekts in den Blick, durch welches sich dieses in der „transzendentalen Konstellation" eine „freie" Stellung des Gesetzgebers dem Gegenstande gegenüber gibt. In diesem Zusammenhang (6—7) kommt die gedankliche Handlung des Entwurfes einer „ W e l t " in den Blick. In deren systematische Totalität holt das Denken die durch die „allgemeine" Gesetzgebung transzendental nicht zu bändigende Vielheit des empirisch Besonderen ein (8 — 10). Im II. Kapitel werden synthetisch-apriorische Aufbauhandlungen des Verstandes als Bedingung für Kommunikation erwiesen, wobei als letzte umfassende Synthese die „ W e l t " des Handelns erkannt wird. Auf deren Boden wird die Möglichkeit der Kommunikation philosophischen 1

Z u m Beispiel in der Arbeit „ D e r philosophische Begriff der Bewegung" (Studien zu Aristoteles, L e i b n i z und Kant), Köln/Graz 1965; „ D i e Entwicklung des Synthesis-Gedankens bei K a n t " , in: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, Hildesheim 1968; und in der M o n o g r a p h i e : „Immanuel K a n t " (Sammlung Göschen), Berlin 1970, in der der „ v o r k r i t i s c h e n " Entwicklung Kants besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Vorwort

XI

Denkens und Sprechens begründet. Das III. Kapitel macht mit der dialektischen Struktur der Handlung des Weltentwurfes bekannt; hier erweist es sich, daß dieser juridische Züge trägt (1—3), die der Welt im Experiment der Vernunft beigelegt werden. Transzendentale Dialektik führt zu einem selbstgegebenen Gesetz des Weltdenkens, welches der Richterin Vernunft eine Entscheidungsgrundlage für innere Konflikte (Antinomie) gibt. Das dem Richterspruch der Vernunft zugrunde liegende Gesetz besteht in der methodischen Anweisung des Gebrauchs von Weltperspektiven. Den Ubergang zu einem eigentlich „praktischen" Begriff des Handelns vollzieht das IV. Kapitel, welches aufs neue auf einen Weltentwurf hinweist, der dieses Mal in praktischer Absicht geschieht (2—5). Hierbei tritt die Handlung des praktischen Denkens in den Blick, in der das Subjekt Stand auf dem Boden der praktischen Welt nimmt und dadurch nicht nur Orientierung und Beratung, sondern auch Willensentscheidung ermöglicht. Damit im Zusammenhang kommt die Rede auf ein praktisches Pendant der „transzendentalen Apperzeption" (4) und auf eine für die praktische Vernunft eigentümliche Form von Dialektik (8). Formen des „praktischen Seins" und der Herrschaft der Vernunft (Achtung usf.) sind Gegenstand des V. Kapitels. Schließlich beschäftigt sich das VI. Kapitel mit der Handlung in der Ausführung, wobei jeweils eine „innere" und „äußere" Perspektive Anwendung findet. Während der Weltentwurf bisher als „orientierend" vor den Blick trat, wird er jetzt als Basis für Sinngebung des Handelns und als Rechtfertigung der „Hoffnung" wichtig. In diesem Zusammenhang finden sich die Postulate des Fortschritts und der Unsterblichkeit auf einer gemeinsamen Ebene. Zum Schluß mag ein persönliches Wort des Dankes am Platze sein. Es gilt meinen Mitarbeitern: den Herren Akademischen Oberräten Dr. Jürgen Blühdorn und Dr. Norbert Herold sowie Herrn Dr. Volker Gerhardt. Herrn Dr. Klaus Mainzer sei Dank für die Mitarbeit am Register und Herrn Manfred Middendorf für die Hilfe beim Lesen der Korrekturen. Fräulein Stephanie v. Beverfoerde sei für die umsichtige und geduldige Arbeit bei der Herstellung des Manuskripts besonders gedankt. Münster/Westf., 1978

F. Kaulbach

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII I. Kapitel

Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Die „Stellung" des Denkens und Sprechens zum Gegenstand . . . . Handlung auf der Grundlage von Subjekt und Substanz Handlung als Geschichte: Zeit und transzendentale Grammatik Handlung und philosophischer Kraftbegriff: konstitutiver und regulativer Gebrauch von „Kraft" und „Substanz" Aussagen zum ontologischen Handlungsbegriff in der Kritik der reinen Vernunft Vorbereitung des transzendentalen Handlungsbegriffes: drei Subjektbegriffe Die Grund-handlung des „Sub-jekts" und der „Stand" des Gesetzgebers : transzendentale Konstellation Transzendentale Handlung und Weltidee Der Gegenstand als Geschichte des synthetischen Einigens: Subjektlogik und Prädikatlogik Konstruktion und transzendentale Konstitution

1 3 8 13 17 21 26 30 36 41

II. Kapitel Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung 1. 2. 3. 4.

Denkhandlung als Synthesis: transzendentale Erweiterung 48 Kommunikation in der einzelwissenschaftlichen Sprache 54 Begriff, Urteil und Konstruktionshandlung: Kant und Frege 60 Einzelwissenschaftliche und philosophische Kommunikation: Schema und Symbol 63 5. „Ich denke", Ganzheit des Produkts und Kommunikation 72 6. Konstruktion und philosophische Weltbeschreibung 83

XIV

Inhaltsverzeichnis

7. Handlungswelt als Funktion der Wissenschaft und erweiterter Konstruktionsbegriff 93 III. Kapitel Weltentwurf und Handlung: Dialogisch-dialektische Vernunft 1. „Gegenstand" und Weltkonstruktion: geschichtsphilosophische Aspekte 2. Dialogisch-dialektische Begründung des philosophischen Wissens: der Rechtsprozeß der Vernunft 3. Experiment der Vernunft und Weltentwurf 4. Orientierung und philosophische Sprache: das bürgerliche Arbeitsethos des Philosophen 5. Vernunfthandlung und Mitteilbarkeit der Geschmacksurteile: der kritische Philosoph als ehrlicher Makler

102 110 122 128 137

IV. Kapitel „Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt 1. Theorie auf dem Standpunkt der Praxis 2. Praktischer Weltentwurf und Erkenntnis der Pflicht: der Begriff des reinen Handelns 3. Sprachanalyse vom Standpunkt der Moralität aus 4. Willensentscheidung, Standnehmen im Weltzusammenhang und praktische Apperzeption 5. Der kategorische Imperativ, die Methode des „inneren" Handelns und der experimentelle Weltentwurf 6. Vier Beispiele 7. Praktische Konstellation und moralisches Argumentieren: Gemeinschaft des Denkens und Handelns 8. Die praktische Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit und der methodische Gebrauch von Weltperspektiven: das praktische Sein und das Sollen

143 151 158 162 171 179 183

193

V. Kapitel Praktisches Sein, Herrschaft der Vernunft und Dialektik der praktischen Vernunft 1. Gesinnung und Gewissen

203

Inhaltsverzeichnis

2. Achtung als Zustand der Vernunftherrschaft: Machtgewinn durch Umwertung 3. Rechtlich-politische Beschreibung des ethischen Herrschaftsbegriffes 4. Die Notwendigkeit in der Freiheit und das „praktische Sein" in der Religionsphilosophie 5. Dialektik der praktischen Vernunft und Methode des Gebrauchs von Perspektiven 6. Dialektischer Gebrauch von Perspektiven und seine Bedeutung für das System: der Streit zwischen vernünftiger und natürlicher Freiheit

XV

211 225 234 246

252

VI. Kapitel Handlung in der Ausführung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Gliederung des Gedankens: „innere" und „äußere" Perspektive Selbstzufriedenheit und Hoffnung Experiment der praktischen Weltmetaphysik und die „Postulate" Geschichtliche Welt als „ N a t u r " : der Vorwurf des Naturalismus Fortschrittsidee als geschichtsphilosophisches Experiment zur Uberwindung des Nihilismus und geschichtliche Hoffnung Ubergang zum Standpunkt des philosophischen Beobachters: praktische Konstellation Kausalität durch Freiheit und Begriff des produktiven Handelns „Meine" Handlung als Geschichte, die Gegenwart des Handelns und die Verantwortung Verwirklichung der Freiheit und das Prinzip der Leiblichkeit . . . . Erscheinungsbegriff vom Standpunkt der Praxis aus und praktischer Schematismus Kausaler Handlungsbegriff und Begriff der Praxis: Bezüge zu Aristoteles und Hegel

259 260 262 272 286 292 300 304 311 316 323

Schriftenverzeichnis

332

Register

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I. Kapitel

Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns 1. Die „Stellung"

des Denkens und Sprechens zum

Gegenstand

Das ontologische Denken zur Zeit Kants bearbeitete den Begriff des Handelns im Zusammenhang mit dem Prinzip der Kausalität. „Handeln" (actio) wurde als eine Art von „Bewirken" verstanden und in einer Weise auf Begriff und Sprache gebracht, die so beschrieben werden kann: der über Handeln Denkende und Sprechende stellt dieses als gegenständliche „Sache" vor. Man spricht über die „Sache": Handeln, indem man an ihr Feststellungen trifft und von ihr aussagt, sie sei Ur-sache von Wirkungen. Diese „ A r t und Weise", über Handeln und Handlung zu denken und zu sprechen, entspricht einer der „Stellungen" des Gedankens zur Objektivität, die nach Hegel für die „vormalige", d. h. vorkantische Metaphysik charakteristisch ist 1 . Sofern in unserem Denken der „Verstand", der den „vormaligen" metaphysischen Denkern in die Feder diktiert hat, maßgebend mit am Werke sein muß, meldet er auch in der Gegenwart, etwa im Bereich der analytischen Philosophie, seinen Anspruch auf die beschriebene SubjektObjekt-Stellung an. Das entsprechende Denken stellt sich einen Gegenstand so vor, als könne man von ihm Prädikate aussagen, wie man etwa vom Monde sagen kann, er sei eine Kugel. Der Perspektive des „Verstandes" entspricht es auch, wenn Handeln als Prädikat neben anderen „endlichen" Prädikaten von einer „Sache" ausgesagt wird, wie ζ. B. von einem Elektron, welches in irgendeiner Weise als „handelnd" angesprochen werden kann. Das sprachanalytische Verfahren stellt ζ. B. fest, daß der Sprachgebrauch unter dem Worte „Handeln" bzw. „Handlung" (action) eine Tätigkeit verstehe, welche von irgendwelchen Gegenständen prädiziert 1

Im „Vorbegriff" zum Logik-Abschnitt der „Enzyklopädie" § 26ff.

2

Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

werden kann, mag es sich um einen fallenden Stein oder um den Autor eines Buches handeln, der beim Schreiben seine Finger bewegt. Die „Stellung" des Denkens und Sprechens ist nach dieser Ansicht vom Prinzip des Verstandes diktiert, der sich Handeln als beobachtbare, vergleichbare und prädizierbare Sache vor-stellt und es sich nach dem Modell von Ursache und Wirkung zurechtlegt. Die Stellung, die das Denken der analytischen Philosophie ihrem Gegenstand gegenüber behauptet und die sie zugleich jedem wissenschaftlichen und philosophischen Denken zumutet, entspricht der Methode, Wirklichkeit möglichst als Kausalzusammenhang zu begreifen und Handeln als Verursachen bzw. Bewirken irgendwelcher Art anzusprechen. So kommt es, daß sich das in dieser Mentalität befangene Denken im Hinblick auf die von ihm gewählte „Stellung" dem „Gegenstande" gegenüber selbst an die Seite der Metaphysik des Verstandes stellt, von deren Absolutheitsansprüchen es meilenweit glaubt entfernt zu sein. 2 Das Prinzip Handeln aber gehört zu jenen philosophischen „Gegenständen", von denen Hegel verlangt, daß sich ihnen gegenüber der Denkende und Sprechende eine „Stellung" gibt, in welcher er sie nicht als etwas Anderes, Fremdes von der Art einer Sache zur Sprache bringt. Vielmehr hat er sich zum Wortführer und Anwalt des „Gegenstandes" zu machen, über den er denkt und spricht. Der Denkende und Sprechende findet gemäß der geforderten „unendlichen" Stellung seines Denkens zur „Objektivität" seines Gegenstandes das Prinzip Handeln, welches er zum Thema macht, in sich selbst, nicht bei einer von ihm verschiedenen fremden Sache, von der er unter anderem auch aussagt, sie „handle". 3 Die darin ausgesprochene Forderung, daß sich das Denken selbst als „handelnd" zu begreifen habe, wenn es „Handeln" zu seinem Thema macht, hat Kant in seiner Theorie des Handelns als maßgebende Aufgabe erkannt. Aber er ist nicht mit einem Sprung von der „Stellung" des Verstandesdenkens und seiner Metaphysik in diejenige Stellung hinübergewechselt, in welcher sich der Denkende und Sprechende selbst als Repräsentant des Prinzips Handeln begreift. Vielmehr hat er bei den ontologischen Ansätzen angeknüpft, bis zu denen die Metaphysiker vor ihm die Theorie des Handelns entwickelt haben. 2

3

ζ. Β . H . A . Pritchard, Action, Willing, Desire, in: The Philosophy of Action, ed. by A . R . White, O x f o r d University Press 1968, S. 60. Vgl. auch meine „Ethik und Metaethik, Darstellung und Kritik metaethischer Argumente", Darmstadt 1974, S. 198ff. „ D a s Denken aber ist bei sich selbst, verhält sich zu sich selbst und hat sich selbst zum Gegenstand. Indem ich einen Gedanken z u m Gegenstand habe, bin ich bei mir selbst." (Hegel § 28 des „ V o r b e g r i f f e s " zum Logikabschnitt der Enzyklopädie).

Handlung auf der Grundlage von Subjekt und Substanz

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Aber er gibt dem Sprachspiel der Ontologie des Handelns vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus neue Gesetze. Da Kant die traditionelle Ontologie in seiner Theorie der synthetischen Grundsätze auf die Sprache der transzendentalen Philosophie gebracht hat und gelegentlich selbst die hier vorgetragene Theorie als „Ontologie" anspricht, mag der in diesem Zusammenhang auftretende Handlungsbegriff als der „ontologische" bezeichnet werden. Der Name „ontologisch" ist hier deshalb gerechtfertigt, weil das apriorische Handlungsprinzip zur Verfassung des Seienden als solchem gehört, wobei Kant freilich an Seiendes in der Form der Erscheinung denkt.

2. Handlung auf der Grundlage von Subjekt und Substanz Kant kommt, entsprechend der ontologischen Tradition, im Zusammenhang mit der Kategorie „Relation" auf Handeln zu sprechen. Das hängt damit zusammen, daß Handeln den Bezug zwischen einer Instanz, welche handelt und einer solchen, die „be-handelt" wird, also leidet, bedeutet. Handeln wird als aktives Be-handeln eines leidenden Teiles begriffen. Der handelnd-behandelnde Teil wird auch als „Grund" des Handelns prädiziert. Wie ist aber das „Prinzip" (άρχη), der „Grund" zu begreifen, welcher als Anfang der Bewegung, die Handlung heißt, anzusehen ist? So führt die Frage nach dem Handeln zunächst auf diejenige des Zu-grundeliegenden, des „Sub-jekts". Zunächst mag an das Subjekt des Satzes gedacht werden. Das Subjekt etwa des kategorischen Urteils „a ist b " , hat die Funktion des Zu-grundegelegten, auf welchem die Prädikate gleichsam abgelagert werden können. Damit kommt das freilich bedenkliche Modell von Fundament und Aufbau, Träger und Eigenschaften ins Spiel, welches Anlaß zu Mißverständnissen und Verirrungen gegeben hat, gleichwohl aber bei k r i t i s c h e m Gebrauch unentbehrlich ist. Ich knüpfe an den alten und richtigen Gedanken an, daß das grammatische Subjekt zugleich ein im logischen Sinne Zugrundeliegendes bedeutet, welchem logische Prädikate zugeordnet werden. Wenn man das logische Subjekt-Prädikatverhältnis im transzendentallogischen Rahmen deutet, dann ergibt sich: das logische Subjekt ist als Repräsentant eines realen, zugrunde liegenden „Gegenstandes" zu begreifen, sofern man die einigende Handlung des Denkens, durch welche die vielen Prädikate zur Einheit des Subjekts zusammengefaßt werden, zugleich auch als Vereinigung der Eigenschaften einer realen Sache in der „Sub-stanz"

4

V o m ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

behauptet. Man wird von einer transzendentalen Identität von Satzstruktur und Seinsstruktur sprechen können, auf die in den Metaphysikvorlesungen die Rede kommt. 4 Man nennt, so wird hier gesagt, Substanz das Substratum: „was alles zum Grunde liegt." So, wie das Subjekt des Satzes auf die Rolle des Zugrundeliegenden festgelegt ist, welches die von ihm getragenen Prädikate zur Einheit zusammenfaßt, so ist Substanz dasjenige, was immer nur in der Rolle des Subjekts auftreten und insofern niemals selbst bloße „Inhärenz" werden kann. Substanz ist demgemäß E x i s t e n z g r u n d l a g e für die Akzidenzen bzw. Inhärenzen, wie ζ. B. Wärme und Kälte nicht existieren können ohne den Körper, an dem sie beobachtbar sind. „Substanz ist das, was nicht bloß als Subjekt gedacht wird, sondern an sich selbst nur als Subjekt existiert." Das ist ein gut aristotelischer Satz. Verschiedene Aspekte der Sub-stanz werden dabei erkennbar: sie ist Aktion, sofern sie die Eigenschaften einigt und auf sich konzentriert. Sie ist „principium", d. i. Anfang der Einigungshandlung. 5 Zugleich wird Sub-stanz gleichbedeutend mit „ G r u n d " in dem Sinne, daß sie ihre Eigenschaften hervorbringt, durch die sie auf anderes wirkt. Sie ist das Selb-ständige, welches die unselbständigen Akzidenzen trägt. So ist ζ. B . der Ofen Grund und Prinzip der Wärme, die an ihm wahrzunehmen ist, die Sonne ist Grund für die Helligkeit, die von ihr ausgeht. Akzidenz sei darum etwas Reales, im Prädikat des Satzes als positiver Ausgang Faßbares, weil es die Äußerung der Substanz sei, die zugleich als das Begründete anzusehen ist, welches nicht für sich selbst existiert. 6 Wenn die Substanz das Fundament ihrer Akzidenzen bedeutet, so ist deren Getragen- und Fundiertsein durch und in Substanz nicht im Sinne eines mechanischen Aufruhens zu verstehen, in einem Sinne, der das Fundament nicht als aktiv, sondern als den auf ihm lastenden Aufbau er-leidend vorstellt. 7 Vielmehr wird die durch die Substanz geleistete Fundierung als H a n d e l n der Substanz angesprochen, welches schon geschieht, bevor an ein 4

5 6 7

Metaphysik (Volckmann), X X V I I I , 1, S. 431 ff. Vgl. auch das Konzept der „transzendentalen G r a m m a t i k ! " in vorliegender Untersuchung S. 12ff. (Die Zitierung erfolgt nach der Akademieausgabe; die Orthographie wird der Konvention der Gegenwart angepaßt.) Metaphysik (Schön), X X V I I I , 1, S. 513. z . Β . X X V I I I , 2 , 1 , S. 563. Das hat natürlich bei Leibniz seinen Ursprung. Auch in der Metaphysik von Baumgarten § 2 1 6 heißt es, daß jede existierende Substanz handelt. In § 2 0 6 spricht Baumgarten v o m „ S t a t u s " der Handlungssituation. Dieser Begriff macht noch keinen Gebrauch von U r s a c h e und W i r k u n g , sondern bedeutet nur das Zusammenbestehen von Grund und Begründetem, Unabhängigem und Abhängigem. Sofern der „Status" eine Bedeutung hat, wird Handlung primär nicht als kausales Bewirken, sondern als Be-gründen einer Veränderung eines Abhängigen aufgefaßt.

Handlung auf der Grundlage von Subjekt und Substanz

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Wirken der Substanz nach „außen" zu denken ist. In den MetaphysikVorlesungen begegnet der Satz, daß die Substanz, sofern sie „den Grund enthält zu einer bestimmten Akzidenz", h a n d l e . 8 Dabei geht es um ein Grund-sein von der Art des „ z u r e i c h e n d e n Grundes", so daß es nicht nur bei einer bloßen Fähigkeit und ohnmächtigen Anlage zum Handeln bleibt. Von Handeln der Substanz ist schon im Hinblick auf die „Relation", das Ver-halten zwischen Substanz und Akzidenz, die Rede, nicht erst im Umkreis der Kausalität. Denn Handeln setzt ein handelndes Sub-jekt voraus, das als Substanz auftritt. Die kausale Bedeutung des Handlungsbegriffes kommt erst an der Stelle zur Geltung, an welcher das Begründen bzw. Fundieren von Seiten der Substanz die Bedeutung eines Ein-wirkens von seiten der einen Substanz auf die andere annimmt und „Handeln" der Substanz ein Wirken nach „außen" bedeutet. Das wird so beschrieben, daß die Substanz auf andere Substanzen einen „Ein-fluß" ausübe. Bei dieser Beschreibung bedient sich Kant der Innen-Außen-Terminologie, indem er von einer i n n e r e n Handlung (immanens) eine „äußere" (transiens) unterscheidet. Der Begriff der inneren Handlung bedeutet die Grundlegung der Akzidentien durch die Substanz. „Durch Veränderungen können wir die Kräfte der Dinge erkennen. Actio ist entweder immanens oder transiens. Wenn eine i n n e r e Handlung oder actio immanens verrichtet wird, so heißt es: die Substanz aktuiert. Actio transiens wird auch influxus, der Einfluß, genannt." 9 Die Rede von der „inneren Handlung" in Kants praktischer Philosophie ist mit dieser ontologischen Aussage in Verbindung zu bringen. Leibniz hatte die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die Rede, eine Substanz wirke auf eine andere ein, nicht in dem naiven Sinne verstanden werden dürfe, daß hierbei eine Rollenverteilung zwischen Tun und Leiden so eindeutig stattfinde, daß die eine Substanz handelnd, die andere nur leidend sei. Er hat die Rede, daß ζ. B. eine in Bewegung befindliche Billardkugel, welche eine andere anstößt und dadurch deren Bewegungszustand verändert, auf diese ihren Impuls „übertrage", als der physikalischen Sprache angemessen und relativ auf sie legitimierbar erklärt. Aber „in Wahrheit", d. h. in metaphysischer Per-

8 9

X X V I I I , 1 , S . 512. X X V I I I , 2, 1 (Metaphysik Pölitz (L 2)) S. 565. Auch in §211 der Metaphysik Baumgarten heißt es, daß die Substanz, welche in eine außerhalb ihrer befindlichen Substanz einwirke, in sie „ein-fließe". Der Einfluß einer Substanz auf eine andere ist eine Einwirkung gleichgestellter Instanzen, welche beide auf ihre Weise Prinzipien und Grundlagencharakter für etwas Abhängiges, Veränderliches, Getragenes, Bewirktes haben.

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

spektive sei es ganz anders: der angeblich leidende Körper, auf den die Wirkung ausgeübt wurde, habe kraft seines substantiellen Charakters s i c h s e l b s t in Bewegung gesetzt. 10 Kant nimmt zwar am metaphysischen Sprachspiel von Leibniz nicht teil, der mit dem Modell der prästabilierten Harmonie operiert: aber auch er hält es für nötig, der Rede, daß eine Substanz handelnd auf die andere ein-wirke, eine dem Fundamentcharakter der Substanz angemessene Deutung zu geben. Denn wenn bedacht werden muß, daß Substanz-sein ein Be-gründen von Eigenschaften, Zuständen und deren Veränderungen und d e s h a l b ein Beharren im Wechsel der Zustände ist, dann wird die Substanz, welche bei einer gegenseitigen Einwirkung den leidenden Part übernimmt, ebensowenig wie der handelnde Teil durch eine andere ausgewechselt: sie bleibt vielmehr im Wechsel ihrer Eigenschaften. Sie spielt in dieser Geschichte ihre Rolle der Be-gründung ihrer Akzidenzen weiter: nur diese letzteren wechseln auf Grund des Handelns der Substanzen. Erfährt daher die Substanz eine Einwirkung von seiten einer anderen, so bedeutet ihr „Leiden" in Wahrheit selbständiges Reagieren. Sie wird Grundlage für die Veränderung, die ihre Akzidenzen und Zustände in der Geschichte des Be-handeltwerdens durch eine andere Substanz erfahren. So ist es zu verstehen, wenn Kant sagt, daß alles Leiden zugleich Handlung sei. Auch die „leidende" Substanz sei als solche immer noch „agens", welches in der Situation des Be-handeltwerdens einen Wechsel ihrer Akzidenzen begründet. 11 „Bloßes Leiden in einer Substanz zu denken ist unmöglich". 1 2 Werde eine Substanz in Ansehung des Zustandes einer andern als „handelnd" benannt, so zeige sich hierbei ein „Verhältnis", welches als actio transiens bezeichnet werden müsse. Die „Handlung", um die es hier geht, nimmt ihren Anfang in der ersten, einwirkenden Substanz und setzt ihre Geschichte in der Handlung derjenigen fort, auf welche die Einwirkung geschehen ist. „Ein Einfluß bedeutet bloß die Bestimmung der Kraft einer andern Substanz zu einem gewissen Akzidenz". 1 3 Das sei schon in der Körperwelt zu ersehen. Der Körper, der ζ. B. durch einen andern in Bewegung versetzt wurde, müsse etwas in sich haben, was zur Möglichkeit seiner eigenen Bewegung hinreiche. Es ist hier die Rede von einem „ E r w e c k e n " einer Kraft in einer andern Substanz. Rezeptivität sei Möglichkeit, selbst zu handeln. 14 10 11 12 13

Leibniz, Mathematische Schriften VI (Gerhardt), S. 69. X X V I I I , 1, S. 513. S. 513. S. 514.

Handlung auf der Grundlage von Subjekt und Substanz

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Es ist bemerkenswert, daß Kant diese ontologischen Überlegungen an Beispielen deutlich zu machen versucht, die sich auf das „Verhältnis" berufen, in welches die „Substanz" des menschlichen Subjekts einbezogen wird. Daran ist zu ersehen, daß die hier begegnenden ontologischen Aussagen als der „objektive", auf Sein und Seiendes bezogene Reflex eines Handlungsbegriffes aufzufassen sind, der seinen Ort in der freien menschlichen Subjektivität hat. Noch relativ wenig aufregend ist das Beispiel von der Empfindung der Wärme: diese sei Leiden, sofern sie in mir nur durch fremde Kraft wahrnehmbar geworden sei. Aber sie setze auch eine Kraft in mir, dem „leidenden Subjekt", voraus. Fühlte ich nämlich keine „innere Kraft", so könnte ich auch keine Wärme empfinden. Daher sei die Verallgemeinerung erlaubt, daß jedes Leiden, das ich erfahre, eine innere Veränderung, eine Modifikation der tätigen Kraft meiner Seele sei. 15 Hier hat Kant das empfindende menschliche Subjekt als „Substanz" behandelt und dabei vorausgesetzt, daß man diese Charakterisierung nicht dogmatisch, sondern unter dem kritischen Vorbehalt als handelnde Substanz anspricht, daß man es damit nicht auf eine Stelle im raum-zeitlichen Erscheinungszusammenhang festlegt, sondern daß Substantialität ebenso wie Subjektivität in der Bedeutung des Grund-seins für „Zustände" begriffen wird. Ernster ist dieser kritische Vorbehalt zu nehmen, wenn es sich, wie in einem anderen Beispiel Kants, um „Zustände" des Denkens und deren Veränderung handelt. Höre ich einen Vortragenden, so bin ich leidend. Es fragt sich, ob ich die Rede verstehen könnte, wenn ich nicht zugleich mitproduzieren würde. Die Gedanken des Vortragenden können nicht bloß in mich hinüberfließen wie eine Flüssigkeit, die ich trinke. 16 Würde ich beim Anhören des Gesagten nicht selbst mitdenken, dann würde ich gar nichts aufnehmen: „. . . also muß jede Substanz, die leiden soll, ein Vermögen haben, dasjenige in sich aufzunehmen, was sie leidet." 17 Aus diesen Erörterungen ist folgendes Fazit zu ziehen: eine Substanz wirkt auf die andere nicht so ein, daß sie gleich direkt deren Akzidenzen verändert; denn dazu ist sie nur im Hinblick auf ihre eigenen Eigenschaften fähig. Vielmehr ändert die handelnde Substanz die Akzidenzen der erlei14

15 16 17

Läßt diese Bemerkung auch einen Schluß auf die Interpretation der „Rezeptivität" zu, die von d e r sinnlichen Anschauung ausgesagt wird? Dann wäre Anschauen trotz des U n terschiedes zum spontanen Denken eine Form des Handelns. S. 513. S. 513. S. 514.

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

denden nur dadurch, daß sie deren substantielle Aktivität dazu anregt, selbst die Veränderung ihrer Akzidenzen vorzunehmen. Das ist im Sinne von Leibniz gedacht. Es ist von der Handlung der Substanz die Rede, die als zeitliches Geschehen, als Geschichte zu verstehen ist. Im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit des Handelns treten Begriffe wie Veränderung, Zustand, Beharrlichkeit der Substanz und Wechsel ihrer Akzidenzen, Bewegung auf. Der Zusammenhang dieser Begriffe mag im folgenden erörtert werden: dabei mag nicht aus den Augen verloren werden, daß die handelnde Substanz als „Ver-hältnis" des Begründens und Fundierens in logischer und zugleich realer Hinsicht aufzufassen und daß Begründen bzw. Fundieren selbst schon als Handlung der Substanz zu bewerten ist.

3. Handlung als Geschichte: Zeit und transzendentale

Grammatik

Vorwiegend denkt Kant an die Wechselwirkung von Gesprächspartnern aufeinander. Spreche ich zu jemandem, so spielt er als Hörender eine passive Rolle, sofern auf ihn fremde Ideen einwirken. „. . . ich kann aber wieder in keinem Menschen selbst Ideen hervorbringen, wenn er sie nicht hervorbringt, oder ferner, wenn ich die Saite auf dem Klavier zwicke, so zittert sie und ist insoweit leidend, aber auch zugleich aktiv vemöge ihrer Elastizität, daher ist jede Substanz indem daß sie leidet, auch zugleich s e l b s t ä n d i g . " 1 8 Der aktive Charakter des durch eine andere Person in mir in Gang gesetzten Denkprozesses besteht ohne Zweifel: aber auch in dem Falle, in welchem in mir Leidenschaften „erweckt" werden, bin ich nicht nur passiv, wenngleich es sich dabei auch nicht um den Grad von Aktivität handelt, der mir als Denkendem und die Rede des andern Nachvollziehenden eignet. „Die Begierden zeigen zwar auch einen Grund zum Handeln an, allein da es noch sehr weit von der Tat ist, so grenzt es näher der passio, indem es einen influxum eines andern voraussetzt." 19 Wechselwirkung zwischen Handeln und Leiden setzt ein „commercium" zwischen den Substanzen voraus. Es werde in der Welt „keine Substanz gegen die andere bloß in der Stellung des Leidens" gefunden, sondern sei zugleich auch selbst immer wieder Handlung. Die Welt ist ein commercium handelnder Wesen, nur so gedacht kann sie als „Ganzes" begriffen werden. 18 19

XXVIII, 1, S. 433. S. 433.

Handlung als Geschichte: Zeit und transzendentale Grammatik

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Natürlich ist hier der Name „Welt" im kritischen Sinne zu gebrauchen. Er fungiert nicht als objektiver Gegenstand der Erkenntnis, sondern als Name für eine Devise, an der die Vernunft im Sinne ihrer Selbst-darstellung Interesse hat. Diese Devise lautet: denke jeden einzelnen endlichen und erkennbaren Ausschnitt des commercium zwischen Handeln und Leiden der Substanzen in der P e r s p e k t i v e eines totalen, umfassenden Zusammenhanges, eines Ganzen, in welchem alles mit allem in Wechselwirkung steht. Dieses Ganze ist eine Idee der Vernunft, die eine Welt entwirft und in die Perspektive dieses Entwurfes die einzelnen Handlungsgeschichten einholt: so macht sie aus den einzelnen Geschichten die zusammenhängende Geschichte eines Handelns in der Welt. Diese Geschichte denkt Kant als räumlich-zeitliches Kontinuum. Er befindet sich im Horizont leibnizschen Weltdenkens, wenn er von der „ G e g e n w a r t " (Präsenz) der Handlungssituation spricht, in die das in der Vergangenheit Geschehene ebenso eingeholt, wie von ihr aus Zukünftiges entworfen und geplant wird. Gegenwart ist aber auch räumlich deutbar: sie ist die Präsenz des im jetzigen Augenblick räumlich Anwesenden, von dem aus raum-zeitliche Bezüge zu verfolgen sind, die weit-geschichtlicher Natur sind. Von diesem raum-zeitlichen Augenblick der Anwesenheit aus bestimmt sich der Maßstab für Nähe und Ferne. Eine Substanz, welche in die andere „einfließt", sei durch diese Handlung g e g e n w ä r t i g , „ob nur mittelbar oder unmittelbar, wird nicht in Betracht gezogen. Es gibt eine nahe und entfernte Gegenwart, welche erste unmittelbar ist." 2 0 Je meine Gegenwart ist der mich räumlich-zeitlich umgebende Umkreis mit seinen „Welt"-bezügen in beliebige Ferne: „. . . Praesentia ζ. E. China fließt auf mich sofern ein, als es mir den Tee liefen, den ich trinke, diejenige, die ihn mir aber hier kochen fließen aber noch näher auf mich ein. Indessen das bestimmt doch gar nicht, wie nahe es einfließen muß." 2 1 Jetzt ist zu sagen, was „Zustand" ist: er ist Station in der Geschichte des Handelns der Substanz. Substanz als das Bleibende, für Veränderung in Raum-Zeit den Grund Hergebende hat in be-gründendem Handeln einen „Zustand" als jeweils gegenwärtiges Ergebnis herbeigeführt. Er wird auch als Koexistenz der „beständigen", substantiellen Basis mit den von ihr getragenen „veränderlichen" Bestimmungen in einem gegenwärtigen Augenblick angesprochen. 22 Zugleich faßt er als jeweilige Gegenwart Ver20 21 22

S. 435. Vgl. auch die Erörterungen zum Status-Begriff bei Baumgarten, Metaphysik § 206. S. 4 3 5 . S. 432/33.

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V o m ontologischen z u m transzendentalen Begriff des Handelns

gangenes vom Standpunkt des Resultates und Zukünftiges vom Standpunkt der Ausgangslage her in sich. Zustand ist der jetzt, in der raumzeitlichen Anwesenheit und Gegenwart zu-stande gekommene „Status eines Dinges". Es wurde angedeutet, daß die ontologischen Aussagen über das Sein der „ D i n g e " als objektiver Reflex der Beschreibung gelten kann, welche die Geschichte der subjektiven Vernunft, des Denkens selbst, zum „Gegenstand" hat. Auch diese ist, wie sich zeigen wird, die Geschichte von Handlungen, die im Entwerfen, Setzen, „Sich-versetzen" auf je einen „Stand" bestehen. Wie ζ. B. die Geschichte des Dialogs zeigt, geschehen in ihr gedankliche Schritte, durch welche die an ihm teilnehmenden Partner in der Logik des Gedankenganges jeweils „Stand-punkte" einnehmen und über sie zu neuen Positionen hinausgehen. Jeder gewonnene „Stand" ist als das aus der bisherigen Dialoggeschichte gewonnene „gegenwärtige" Ergebnis zu verstehen, das seinerseits als Ausgangspunkt, „Fundament" und „Basis" für weiterschreitende Bewegungen und Handlungen des Denkens anzusehen ist. Der „Stand" übernimmt in der Geschichte der Denkhandlungen eine analoge Rolle, wie sie dem „Status" der in eine „Handlungsgeschichte" verstrickten „Dinge" bzw. „Sachen" eignet. Die ontologische „Welt" ist somit der dingliche Niederschlag der „Verhältnisse", welche die Vernunft im Hinblick auf ihre eigene Verwirklichung zu erkennen vermag. Für die strukturelle Entsprechung von „Innen" und „Außen" ergibt 23 sich in diesem Zusammenhang der Handlungstheorie noch ein weiterer Beleg: die „Handlung" ζ. B., die eine Billardkugel auf eine andere ausübt, indem sie diese anstößt und ihren Bewegungszustand verändert, ist als Bewegung der letzteren faßbar; diese „äußere", objektive Bewegung bezieht sich auf eine „Bewegung" des Bewußtseins, in der das „Ich denke" den Weg der physischen Körper den Bewegungsgesetzen gemäß 23

Vgl. auch den Abschnitt: „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" in der Kritik der reinen Vernunft. Die Entsprechung von Innen und Außen setzt Kant von Anfang an sehr dezidiert v o m Modell der prästabilierten Harmonie ab. Stattdessen geht er wie auch in der „Widerlegung des Idealismus" von der Situation des die Außenwelt und ihre Dinge erfahrenden Bewußtseins aus, das seiner selbst nur in dem Maße bewußt wird, in welchem es die D i n g e aktiv wahrnimmt. Im Jahre 1755 schreibt er: „ D i e vorausbestimmte Harmonie des Leibniz wird von meinem Satz von Grund aus verworfen, nicht, wie es gewöhnlich geschieht, wegen der Endursachen, die Gottes angeblich unwürdig sind . . . sondern wegen ihrer eigenen inneren Unmöglichkeit. Denn wenn man die menschliche Seele aus dem Realzusammenhang mit den äußeren Dingen herausnimmt, so folgt aus dem Dargestellten unmittelbar, daß sie dann einer Veränderung eines inneren Zustandes vollkommen unfähig i s t . " (Principiorum primorum cognitionis . . ., I, S. 412 (übers, vom Verf.)).

Handlung als Geschichte: Zeit und transzendentale Grammatik

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vor-zeichnet, die es von diesen aussagt. Ich bezeichne diese als „transzendentale Bewegung". 2 4 An dieser Stelle mag hierfür einstweilen ein Beleg beigebracht werden, aus dem die subjektiv-objektive Doppelseitigkeit von Bewegung und Handlung in die Augen springt. Kant erklärt 25 zunächst, daß Bewegung eine Veränderung des Ortes sei: das klingt im Sinne der objektivistischen Sprache der Physik. Aber das Bild ändert sich, wenn man die „Erklärung" berücksichtigt, die Kant dafür gibt. Bewegung sei, so heißt es, „Veränderung des Ortes o d e r (gesp. v. Verf.) Synthesis der mannigfaltigen Stellen im Raum." Dazu nämlich, daß die Bewegungsgeschichte eines frei fallenden Steines beschreibbar wird, wird die zusammenfassende, synthesierende Arbeit des Verstandes gebraucht, welcher die einzelnen Augenblicke und Stationen der Bewegung zur Synthesis a priori bringt, indem er daraus den geometrisch beschreibbaren Weg von der Art einer Geraden, eines Kreises, einer Ellipse oder Parabel zustande bringt. Man kann sich, wie es bei Kant heißt, auch eine apriorische Bewegung denken. Damit sei aber nicht die Bewegung eines Körpers, sondern der transzendentale Vorstellungsvollzug gemeint, durch welchen der objektive Bewegungs-weg beschrieben wird. O b Dinge im Raum „wirklich" beweglich sind, läßt sich nicht a priori ausmachen. Aber die M ö g l i c h k e i t von Bewegung überhaupt kann nur durch eine Bewegungshandlung des „Ich beschreibe den Raum" begründet werden. Bewegung a priori: das sei nicht Bewegung eines Körpers, sondern Vorstellung der Bewegung, da man den leeren Raum beschreibe und nicht die Dinge im Raum. O b die Dinge im Raum beweglich seien, das lasse sich nicht a priori ausmachen.26 Was die Veränderlichkeit der Dinge angeht, so lasse sie sich nicht durch „bloße Begriffe" einsehen; nehme man aber Raum und Zeit dazu, so sehe man, daß dem Körper eine Bestimmung in einem Augenblick zukomme, die in einem andern Augenblick nicht mehr zutrifft. So ergebe sich der Begriff der objektiven Veränderung, die als solche aber nur durch eine Bewegung der subjektiven Synthesis beschreibbar werde. 27 24

25

26 27

Vgl. u. a. mein B u c h : „Der philosophische Begriff der Bewegung", Köln/Graz 1965; außerdem: N . Herold, Artikel „Bewegung", in: Handbuch philos. Grundbegriffe, München 1973, Bd. 1. Metaphys. X X V I I I 2 , 1 , S. 721. Diese Passagen sehe ich als wichtige Bestätigung meiner Interpretation des Bewegungsprinzips bei Kant an, die im Zeichen des Begriffs der „transzendentalen Bewegung" durchgeführt wird. Vgl. mein Buch: Der philosophische Begriff der Bewegung, Köln/Graz 1965. X X V I I I , 2 , 1 (Met. K 2 ) S. 721. X X V I I I , 2 , 1 (Met. K 2 ) S. 736: „Es sind diese Partien deshalb nicht wertlos, weil man aus ihnen sieht, wie Kant wenigstens den Begriff der Substanz betreffs der Seele gern heran-

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Wenn es eine „innere" Bewegung des „Ich denke" gibt, so fragt es sich, ob man dieses auch als handelnde „Substanz" unter dem Vorbehalt der Paralogismuskritik anzusprechen berechtigt ist? Das „Ich denke", welches sich selbst als „Seele" zu benennen gewohnt ist, kann sich in philosophischer Sprache nur dann Substanz nennen, wenn klargestellt ist, daß man mit diesem Namen nicht Ding-artiges zu verbinden berechtigt ist, sondern ihm nur die Bedeutung des Zu-grunde-liegenden, genauer: des „sich selbst zu Grunde Legenden" geben kann. „Seele" darf kein Ding, sondern muß transzendentale Bewegung heißen; der Name bedeutet kein natürlich Gegebenes, sondern sich selbst Realisierendes, nicht Natur, sondern Geschichte. Zum Begriff von Handlung als räum-zeitlichem Geschehen des „SichÄußerns" der „Substanz" sowie ihrer „inneren" Entwicklung gehören Bestimmungen von zweideutigem, subjektiv-objektiv gespaltenem Sinn wie Zu-stand bzw. Stand, Geschichte, Bewegung. Daraus zieht Kant eine bedeutende sprachphilosophische Konsequenz: er unternimmt eine Nachkonstruktion der Sprache am Leitfaden des Prinzips der im Handeln bestehenden Bewegung des Bewußtseins. Sprechen ist Handeln, Geschichte. Der Sprechende redet jeweils in seiner Gegenwart. Um seine Situation zu beschreiben, bedarf es solcher ontologischer Kategorien wie der des „Standes" sowie der transzendentalen Bewegung von einer Gegenwart zur folgenden. Die Philosophie der Sprache hat für die Aussage Grund, daß der Sprechende jeweils einen gegenwärtigen „Stand" (status) behaupte, von dem aus er in sprachlicher Handlung die Vergangenheit einholt und die Zukunft entwirft. Dem analog wurde von der Substanz gesagt, sie stelle einen gegenwärtigen Status dar, von dem aus sie die Geschichte ihrer Handlungen in Vergangenheit und Zukunft hinein kontinuiert. Das stimmt mit dem Gedanken Kants an eine „transzendentale Grammatik" zusammen. Nicht das „ D e n k e n " wird hier von der Sprache her interpretiert, wie es in der empiristisch orientierten Sprachanalyse geschieht, sondern umgekehrt wird Sprache von der Geschichte des Denkens her konstruiert. Unter Hinweis auf die Funktion des Fundierens, die dem Sub-jekt des Satzes dem Prädikat gegenüber in analoger Weise zukommt, wie der handelnden Sub-stanz zieht, o h n e zu sagen, wieweit er ihn auf die Seele selbst anwenden will oder kann." Dasselbe zeige sich auch, wenn Kant sagt, „ K r a f t sei nicht das, was den ersten Grund der Inhärenz der Akzidentien enthalte, sondern dies sei Substanz, während Kraft bloss die Relation der Substanz zu den Akzidentien sei . . . Wenn die Seele bloss Kraft sei, so sei sie keine Substanz, aber als Substanz habe sie eine K r a f t " .

Kraft und Substanz als Handlungskategorien

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im Verhältnis zu ihren Akzidenzen, deutet Kant das Programm der transzendentalen Grammatik an, die den „Grund" der menschlichen Sprache bilde. Präsens, Perfekt, Plusquamperfekt usf., also die durch empirische Klassifikation gewonnenen Zeitformen sind demgemäß nach dem Leitfaden der transzendentalen Handlungs- und Bewegungsstruktur zu deuten und in die Spracharchitektur einzuordnen. Dabei fällt dem Präsens als dem gegenwärtigen Stand des Sprechens eine besondere Rolle zu, da „Vergangenes" wie auch „Zukünftiges" aus der Perspektive der Gegenwart zur Sprache kommen. Wenn man die Andeutungen Kants zur transzendentalen Grammatik in Zusammenhang mit dem bisher Gesagten in die Form eines Programms bringen will, so wäre dieses zu sagen: grammatische Tempusunterscheidungen sind nicht nur im Hinblick auf die Beschreibung des Vorkommens von O b j e k t e n in verschiedenen Dimensionen der Zeit bedeutsam; vielmehr sind sie durch die „transzendentale Bewegung" des „Ich denke" motiviert, welches in seiner Raum-Zeit-Welt durch Sprache seinen Stand in der Gegenwart behauptet, von der aus es sich einerseits in die Vergangenheit, andererseits in die Zukunft erstreckt. „Ich denke" nimmt in der transzendentalen Grammatik zugleich auch die Rolle des handelnden „Ich will" an, das sich jeweils als Gegenwart bewußt ist, die es als Handlungssituation in einem weit-zeitlichen Milieu zur Sprache bringt. Im folgenden geht es darum, die Rolle des Zugrundeliegens, die dem Sub-jekt und der Sub-stanz übertragen wurde, im Hinblick auf Handeln und Bewirken zu präzisieren: dabei wird es darauf ankommen, dem aus der Physik bekannten Begriff der K r a f t philosophische Bedeutung zu geben.

4. Handlung und philosophischer Kraftbegriff: konstitutiver und regulativer Gebrauch von „Kraft" und „Substanz" Wenn es als eine Art „Handeln" ausgegeben wird, daß sich die Substanz ihren Akzidenzen und den Ein-wirkungen auf Anderes zu-Grunde legt, so gebraucht man eine objektiv-maskierte Sprache für das „Handeln", welches vom freien, selb-ständigen Sub-jekt auszusagen ist. Daher ist bei Kant gelegentlich auch die primär nur im Hinblick auf freie Subjekte und ihr Handeln sinnvolle Aussage zu hören, daß sich die handelnde Substanz durch ihr Handeln „äußere", d.h. daß sie dadurch in ein Ver-hältnis zu Anderem eintrete. Aber auch die „innere" Handlung,

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V o m ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

die in der Grund-legung der Akzidenzen bzw. „Inhärenzen" besteht, wird als Ver-hältnis angesprochen, obwohl eine interne Situation der individuellen Substanz gemeint ist. Durch die Aussage, daß die Substanz eine innere Handlung 28 durch Be-gründen ihrer Akzidenzen vollziehe, wird das Modell von Fundament und Stockwerk, Träger und Eigenschaft, Basis und Uberbau kritisch relativiert. Sie versteht das Fundament nicht als Untergrund für einen Bau, auf dem die Mauern „ruhen" und lasten, sondern als eine die Akzidenzen und die Geschichte ihres Wechsels durchgreifende, synthetisch verbindende Bewegung des Einigens. Daß man die Substanz als einigende Bewegung zu begreifen habe, ergibt sich aus der Überlegung, daß nichts „Substantielles" von einer Sache mehr übrig bleibt, wenn man die Akzidenzen und deren Veränderungen wegdenkt. Würde das Basis-Uberbaumodell in statischer Bedeutung gelten, so müßte nach dem Abtragen des Uberbaus immer noch die „Basis", d. h. nach dem Wegdenken der Geschichte der Veränderungen immer noch die Substanz übrig bleiben. In Wahrheit aber ist damit auch diese getilgt, wodurch erkennbar wird, daß Substanz als Geschichte der Handlungen aufzufassen ist, durch welche sie die Akzidenzen und ihre Veränderungen „trägt" und „fundiert". Ihre Begründungsfunktion beruht auf Bewegung, sie hat nicht den Charakter objektiv feststellbarer und isoliert für sich denkbarer Dingheit. Substanzen können wir nur durch ihre Akzidenzen, an denen das Substantiale greifbar wird, erkennen. 29 Der Text in den Vorlesungsnachschriften gibt insofern einen irreführenden Ausdruck des „Ver-hältnisses" zwischen Substanz und dem von ihr „Getragenen", als er Substanz als dasjenige „Sub-jekt" anspricht, welches nach „Absonderung" aller Akzidenzen übrig bleibe: dieses sei uns „unbekannt", da wir die Substanzen nur über die Akzidenzen kennen. Damit leistet Kant selbst einem von ihm sonst kritisch entlarvten Schein Vorschub, als ob die gründende, einheitsbildende Bewegung, welche die Substanz ist, selbst wie eines der „Dinge" faßbar wäre, denen sie zugrunde liegt: der Fehler wirkt sich dann so aus, daß man sich berechtigt glaubt, von einem von den Akzidenzen ablösbaren substantiellen, obzwar unerkennbaren „Ding" zu sprechen, welches im „Fundament" bzw. „Träger"modell die Fundament- bzw. Trägerrolle 28

X X V I I I , 2 , 1, S. 5 6 5 : „ D u r c h Veränderungen können wir die Kräfte der Dinge erkennen. A c t i o ist entweder immanens oder transiens. Wenn eine i n n e r e Handlung oder actio immanens verrichtet wird, so heißt es: die Substanz aktuiert. Actio transiens wird auch influxus, der Einfluß, g e n a n n t . "

29

S. 5 6 3 .

Kraft und Substanz als Handlungskategorien

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spielt. Es ist auch irreführend, wenn sich Kant auf Locke beruft, der die Substanz als „Träger" der Akzidenzen bezeichnet, weshalb sie auch „Substratum" heiße. Das geht gegen seine eigene Auffassung von der Durchdringung der Akzidenzen durch die Substanz. Seine Rede von der Unerkennbarkeit der Substanz an sich will besagen, daß diese nicht als sachlicher, für sich bestehender Kern in der Schale der erscheinenden Eigenschaften objektiv erkannt werden kann, sondern nur als synthetisches Bewegungsprinzip in den erkennbaren Sachen auf ihrem Grunde zu denken ist. Auf die Sprache eines „Dinges" an sich gebracht, dürfte sie nicht als Gegenstand im objektiven Erkenntnissinn ernst genommen werden. 30 In der Kontroverse über Substanz, ihre Verdinglichung und deren kritische Revision spielt auch der philosophische Begriff der Kraft eine wichtige Rolle. Das Fundierungsver-hältnis, welches nicht nur „Beziehung", sondern aktives Verhalten ist, geschieht als Ausübung einer „Kraft". In physikalischem Sprachkontext bedeutet Kraft dasjenige, was den Bewegungszustand eines Körpers verändert. Die philosophische, zum Begriff des Handelns gehörende Bedeutung der „Kraft" kommt ζ. B. in einem Passus zur Sprache, in welchem gesagt wird, daß im Begriff der Kraft auch derjenige der „Ursache" liege. Man könne nämlich die Substanz auch als Ursache betrachten, die das „Akzidenz der Inhärenzien" enthält. „Die Akzidentia sind immer real, weil sie aber nur inhaerendo existieren, so ist es immer wie Folge anzusehen." Substanz nimmt auf Grund ihres Fundierungs- und Unionsver-haltens die Stellung eines „respectus" zu den „accidentibus" ein: das sei die Kausalität, sie stelle das Be-gründungsver-halten der Substanz zu den Akzidenzen dar. Um Kraft handelt es sich, wenn Substanz einen allgemeinen Grund von einer „gewissen Art von Akzidenzen enthält". In der Wissenschaftssprache, die zu Kants Zeit geläufig war, spricht man von einer Wärme-kraft, die in der Substanz aktualisiert wird, wenn sie sich als Wärmespender erweist, von einer bewegenden Kraft, wenn sie auf den Bewegungszustand anderer Substanzen einwirkt usf. „Kraft drückt ein Verhältnis des Grundes zur Folge aus." 3 1 Kant möchte Substanz nicht ganz mit Kraft identisch setzen,

30

31

In der Metaphysik (Pölitz) heißt es, daß wir Substanzen nur durch Akzidenzien erkennen können ( X X V I I I , 2 , 1 , S. 563). Die transzendentale Bewegung des Einigens, die als die Wahrheit der Substanz zu verstehen ist, nimmt, wenn man sie selbst zu denken versucht, den Schein der Dinghaftigkeit an und wird als „Ding" zur Sprache gebracht; die Kritik hat das rückgängig zu machen und zu erklären, inwiefern diese Verdinglichung mit der unbefangenen Verwendung des Trägermodells in Zusammenhang steht. Met. (Schön) X X V I I I , 1, S. 511.

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V o m ontologischen z u m transzendentalen Begriff des Handelns

weil es verschiedene Kraft-arten der Substanz gibt: Substanz ist nicht geradezu Kraft, aber sie „enthält" Kräfte 32 bzw. besteht aus Kräften. Durch die von ihr ausgeübte Kraft setzt sich die Substanz in ein Ver-hältnis zu dem von ihr be-gründeten Abhängigen: Kraft ist „respectus" auf „ G r u n d " der Substanz. 33 Substanz ist Geschichte ihrer hier und jetzt vollzogenen Handlungen und der dabei aktuierten Kräfte. Wenn Substanz die von ihr vollzogenen Handlungen zu einem kontinuierlichen Geschehen verbindet, so besteht für das Denken an die dabei wirkenden substantiellen Kräfte Anlaß, auch auf deren Grund eine identische Grundkraft anzunehmen. Wenn unser Verstand von der Sonne sagt, daß sie Wärme ausstrahlt und Anziehungskraft auf andere Körper ausübt, so übernimmt er dadurch zugleich die Verpflichtung, die zunächst als verschieden in Erscheinung tretenden Kräfte der Wärme und der Anziehung auf eine einzige „Grund-kraft" zurückzuführen: das ist freilich nicht direkt physikalisch einlösbar, da diese nur eine philosophische Idee, aber kein physikalisch konstruierbarer Begriff, nur eine die Bewegung des Denkens bestimmende Regel, nicht ein objektivierbarer Inhalt ist. Sie steht auf dem Niveau der Reflexion über Totalität und Welt. Auf diesem Reflexionsniveau entspringt das Bedürfnis des physikalischen Denkens, von „Weltraum", „Weltformel" usf. zu sprechen. Wenn Physiker auf der Jagd nach diesen Weltbestimmungen sind und hoffen, sie in den physikalischen Begriffskontext einzufangen, so sind sie in einer unkritischen Vorstellung befangen; sie geben sich der Illusion hin, daß die Forderung der Vernunft, die Vielheit der empirischen Kräfte und demgemäß der Gesetze auf eine grund-legende Einheit zurückzuführen, als Versprechen verstanden werden dürfe, diese Einheit eines Tages als Formel schwarz auf weiß nach Hause tragen zu können. So geht es auch mit der „Grundkraft": sie darf nicht als künftig einzulösendes Versprechen verstanden werden, sondern als in der Sprache der Idee gegebene, jetzt und schon immer gültige Regel, die empirisch gefundenen verschiedenen Kräfte so zu denken, „als o b " sie von einer gemeinsamen, einigen Grundkraft ausgingen. Die Wirkung dieser 32 33

X X V I I I , 1, S. 431. S. 5 1 1 : „ B a u m g a r t e n , Wolff u. a. m . erklären die Kraft als den Grund der Inhärenz der Akzidenzen, das scheint auch ganz richtig definiert zu sein: allein dasjenige, was den Grund der Inhärenz der Akzidenzen enthält, ist die Substanz. Kraft ist blos das Verhältnis, die Relation der Substanz zu den Akzidenzen." D i e Gleichsetzung von Kraft und Substanz führe zum Spinozismus — offenbar aus dem Grunde, weil dann eine einzige Substanz angenommen werden müßte, die zugleich der Inbegriff aller Kräfte wäre. Vgl. VIII, S. 18, A n m . : Kraft ist „ b l o s das Verhältnis der Substanz zu den Akzidenzen, s o f e r n sie den G r u n d ihrer Wirklichkeit enthält".

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Aussagen in der Kritik der reinen Vernunft

„Regel" auf das wissenschaftliche Denken der Kräfte hatte unmittelbar vor Kants Auftreten einen auf sein Philosophieren höchst einflußreichen Erfolg zu verzeichnen gehabt: in dem Schritt nämlich, den Newton in der Realisierung des Programms der Vereinigung der Naturkräfte dadurch getan hatte, daß er die Einheit der Kraft, die den Stein zur Erde fallen läßt, mit derjenigen erwies, welche bewirkt, daß sich ζ. B. die Planeten nicht in gerader Linie durch den Raum bewegen, sondern einen elliptischen Weg um die Sonne einschlagen. Das Gesagte mag in dem Fazit vergegenwärtigt werden, daß eine Kraft jeweils für eine bestimmte Handlungsweise der Substanz verantwortlich ist: bewirkt die substantielle Handlung ζ. B. die Bewegung eines Körpers, so ist bewegende Kraft am Werke usf. Kraft ist das Mittel, mit dem die Substanz bestimmte durch sie be-gründete Fakten und Vorgänge zur zusammenhängenden Geschichte einer Handlung vereinigt. Be-gründen heißt Herstellung von Zusammenhang und Einheit: eine Überlegung, durch welche der Grund eines Vorgangs entdeckt wurde, bedeutet, daß sie die für ihn verantwortliche und ihn zur Einheit einer Geschichte verknüpfende Kraft gefunden hat: dadurch wird z . B . motiviert, daß Hegel in der Phänomenologie des Geistes die Prinzipien: „Kraft" und „Verstand" in einem Atem genannt hat. Das bisher zu Subjekt, Bewegung, Kraft im Hinblick auf Handlung Gesagte stützte sich vorwiegend auf die Metaphysikvorlesungen, weil hier die zum ontologischen Handlungsbegriff gehörenden Auffassungen Kants in relativ breiter und ausführlicher Darstellung zur Sprache kommen. Auf ihrem Hintergrund mögen im folgenden die knappen Bemerkungen erörtert werden, die sich zu dem Thema in der Vernunftkritik finden. Sie lassen zugleich die kritische Hermeneutik erkennen, nach der die Aussagen der Metaphysikvorlesungen zu interpretieren sind.

5. Aussagen zum ontologischen Handlungsbegriff Kritik der reinen Vernunft

in der

Wie zu erwarten, begegnen diese Aussagen im Kontext der Kategorienklasse der Relation, in der bekanntlich Substanz, Kausalität und Wechselwirkung vorkommen. In Erörterungen über die Kausalität, in denen der vom Gedanken der Grundlegung her verstehbare Zusammenhang zwischen Sub-stanz, Kausalität und Handlung aktuell wird, kommt der Satz vor, daß Kausalität „auf den Begriff der Handlung,

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

diese auf den Begriff der Kraft und dadurch auf den Begriff der Substanz" führe (B 249). 34 Die Reihenfolge der in diesem Satz genannten Kategorien mag nach der Methode motiviert werden, daß man die Abfolge umkehrt und von der letztgenannten zur ersten übergeht. Substanz erfüllt ihre Rolle des Be-gründens des Wechsels ihrer Zustände durch Kraft: durch diese „handelt" sie. Im Sinne der Kantischen Terminologie könnte man von einer „inneren" Handlung und Kraftausübung insofern sprechen, als die Substanz schon dadurch handelt, daß sie sich als konstantes, „beharrendes" Prinzip im Wechsel ihrer Zustände durchhält und dadurch diese Zustände zu ihrer eigenen substantiellen Geschichte vereinigt. Von einer Handlung im „äußeren" Sinne könnte die Rede sein, wenn die Substanz kausal auf die andere einwirkt. Aber in dem letzteren Falle hat sich ergeben, daß diese Einwirkung eigentlich nur unter selbständiger Mitwirkung der anderen Substanz geschehen kann, welche in diesem Verhältnis die Rolle des erleidenden Teiles spielt. Es wurde gesagt, daß auch die angebliche Passivität der Substanz, auf welche eine andere einwirkt, sich in Wahrheit als Aktivität erweist. Um die maßgebliche Rolle des Handlungsprinzips im Felde der Relationskategorien sichtbar zu machen, spricht Kant Handlung als Kriterium an, nach welchem man zu entscheiden vermag, ob man etwas als Substanz ansprechen darf oder nicht. Stelle ich nämlich Veränderung und Wechsel 35 fest, so ist das „empirische Kriterium einer Substanz, sofern sie sich nicht durch die Beharrlichkeit der Erscheinung, sondern besser und leichter durch Handlung zu offenbaren scheint", (B 249) durch den Gedanken gegeben, daß die Substanz handelnd ihre Zustände und Akzidenzen hervorbringt und trägt, sowie in einer kontinuierlichen Geschichte ihre Folge vereinigt. Dabei setzt sie eine Kraft ein, mit der sie diese Zustände handelnd mit ihrer Einheit durchdringt. Hält man sich an die Handlung als Kriterium der Substanz in dem gekennzeichneten Sinne, so vermeidet man einen Zirkel, der sich ergibt, wenn man Substanz einerseits als „Quelle der Erscheinungen" anspricht, sie aber andererseits von den Erscheinungen her bestimmt (B 250). Das absolute Prinzip in der Substanz, welchem sie ihren Fundierungscharakter 34

35

Die Nachweise von Zitaten aus der Kritik der reinen Vernunft werden im Text in Klammern angegeben. Hier ist an die Unterscheidung zwischen Veränderung und Wechsel bei Kant zu erinnern. Wird ζ. B. ein Stein von der Sonne erwärmt, so „wechselt" sein Zustand von Kälte in Wärme, aber der Stein selbst wechselt nicht: er „verändert" sich nur im Vollzug des Wechsels seiner Zustände und „beharrt" als Substanz in diesem Wechsel.

Aussagen in der Kritik der reinen Vernunft

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verdankt, besteht in der Handlung, durch die sie ihre Akzidenzen und Zustände in einer zeitlichen Folge produziert und sie zur Einheit einer Handlungsgeschichte vereinigt. Kant spricht vom „Subjekt der Kausalität", gelegendich auch vom „letzten" Subjekt, um die absolute Grundund Begründungsstellung dieses Subjekts zu betonen, die es durch Handeln behauptet. Dieses Subjekt nimmt die Physiognomie der Substanz an. Man kann aus dem handelnden Subjekt als dem Grund-legenden die Geschichte des Handelns konstruieren und damit auch das Kriterium für die Beharrlichkeit der Substanz gewinnen. Selbständigkeit und Basischarakter des Subjekts erweisen sich zugleich als substantielle Beharrlichkeit. W e n n sich das „Subjekt der Kausalität" als die Wirkung begründend ver-hält, so vollzieht es dabei schon eine Handlung: ebenso wie es als eine Handlung von Kant angesprochen wird, wenn die Substanz ihre Akzidenzen fundiert und einigt. „Handlung bedeutet s c h o n (gesp. v. Verf.) das Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung" (B 250). Das Wort „Verhältnis" wird in diesem Zusammenhang nicht nur als symmetrische Relation, sondern als aktives Sich-verhalten des Subjekts der Kausalität zur Wirkung begriffen. Das Subjekt ver-hält sich als die begründende, hervorbringende und einigende Instanz. Durch ihre Handlung des Fundierens einerseits von Akzidenzen, andererseits von Wirkungen ver-hält sich die Substanz zu den andern Substanzen, sie setzt sich zu ihnen in ein Ver-hältnis. Im Hinblick auf die Kausalität spricht Kant auch von einem „Zeitverhältnis". Die für die Wirkung den Grund abgebende Ursache muß dieser nicht zeitlich vorhergehen: sie kann auch gleichzeitig mit ihr sein. Das Beispiel Kants von der Bleikugel, die ein „ G r ü b c h e n " in ein Seidenkissen drückt, illustriert diese Gleichzeitigkeit. Ein anderes Beispiel wäre das der Trägerleistung des Baufundaments gegenüber den auf ihm aufruhenden Steinlasten. O b zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung oder Gleichzeitigkeit: jedenfalls gilt, daß das, was die Rolle der Ursache für eine Wirkung übernimmt, sich in ein Ver-hältnis des Fundierens und Bewirkens zu der Geschichte setzt, die sich bei der kausalen Handlung zuträgt. U m den festen Pol in der Flucht der Erscheinungen zu finden, den die Substanz darstellt, braucht man nicht viele Phänomene auf ihr Mehr oder Weniger an Konstanz in der Veränderung empirisch zu vergleichen; es kommt vielmehr darauf an, die Stellung des handelnden Sub-jekts zu dem durch seine Handlung Zu-Stande-Gebrachten zu bedenken: ,,. . . so ist das letzte Subjekt desselben d a s B e h a r r l i c h e als das Substratum alles Wechselnden, d. i. die Substanz. Denn nach dem Grundsatze der Kausalität

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

sind Handlungen immer der erste Grund von allem Wechsel der Erscheinungen und können also nicht in einem Subjekt liegen, was selbst wechselt . . . " (B 250). Hier sei eine vorgreifende Bemerkung zu einem später diskutierten Begriff des Handelns erlaubt, bei welchem es um das menschliche Subjekt geht, das als „Träger" der Handlung auftritt. War ζ. B. von einer handelnden „Substanz" in der Erscheinung die Rede, so mußte von ihr als einem Naturobjekt gesagt werden, daß sie die Stellung, die sie der Wirkung gegenüber behauptet, und kraft deren sie fundierend tätig ist, nicht s e l b s t wählt. Vielmehr bedarf sie eines Regisseurs, der ihr diese Rolle überträgt. Dagegen wählt das frei handelnde menschliche Subjekt seine Rolle des Handelns und Fundierens selbst. Es ist sein eigener Regisseur, weshalb es auch sein Handeln selbst vernünftig zu rechtfertigen und zu begründen vermag: es macht sich selbst zum „Grund" seines Handelns. Aber der Satz Kants vom Handlungscharakter der Fundierung läßt sich gerade darum erst recht auf das menschliche Sub-jekt anwenden, sofern es „schon" als Handlung gewertet werden kann, wenn dieses die Rolle des Be-gründens der Handlung nicht nur übernimmt, wie die „natürliche" Substanz, sondern sie sich selbst gibt. Vernünftiges Begründen des Handelns heißt, sich selbst zum „Träger" der Handlung zu machen und das G e s e t z zu geben, nach welchem die Ursache und Wirkung des Handelns verbunden werden. Der Stand, von dem aus das freie Subjekt des Menschen handelt, ist von ihm selbst gewählt und die Behauptung dieses Standes gehört schon zur Geschichte seiner Handlung. „Schon" das sich Verpflichten zur Realisierung einer Maxime ist Handlung. Es mag bemerkt werden, daß die im ontologischen Kontext der hier betrachteten Aussagen zu lesende Wendung Kants vom „letzten Subjekt" der Kausalität noch keine Anspielung auf das transzendentale Subjekt, das „Ich denke" bzw. „Ich handle", bedeutet. Nichts weiter als das ZuGrunde-liegende alles Wechselnden ist hiermit gemeint. Es wechselt selbst nicht, sondern „beharrt" und ist daher Substanz, die sich dadurch „verändert", daß ihre Eigenschaften „wechseln". Das ontologisch verstandene Subjekt ist als „Objekt", als in den Bereich der erscheinenden Dinge fallender Anfang des Handelns einzuordnen. Wenn das „objektive" Subjekt als handelnde Instanz gegenüber dem Bewirkten die Stellung des Zugrundeliegens einnimmt, so wird ihm diese Rolle übertragen. Das Gesetz seines Handelns wird ihm von anderer Seite gegeben: im Unterschied zum transzendentalen Subjekt, welches sich selbst die Stellung der Ur-sache bzw. des „Urhebers" gibt, wie Kant gelegentlich sagt.

Drei Subjektbegriffe

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Mit diesen Überlegungen ist der Punkt erreicht, an dem es sich anbietet, den Ubergang zu dem Aspekt des Handelns zu vollziehen, bei dem als Subjekt dasjenige vor den Blick tritt, was sich selbst Stand und Rolle des handelnden „Grundes" gibt. Sofern dieses die Handlung des Erkennens und Denkens vollzieht, tritt es als „transzendentales Subjekt" auf, und der dabei aktuelle Begriff des Handelns mag als der „transzendentale" bezeichnet werden. Zunächst mag die Situation beschrieben werden, die den Übergang zum transzendentalen Begriff des Handelns möglich macht.

6. Vorbereitung des transzendentalen Handlungsbegriffs: drei Subjektbegriffe Kant hat mit seiner Rede von der Handlung der Substanz eine Bedeutung verbunden, welche auf den Sprechenden und Denkenden selbst und s e i n theoretisches Handeln zurückweist. Das verraten seine Beispiele, die vorwiegend aus dem Ereignisbereich des Miteinander- und Zueinanderredens gewählt sind. Wenn er in seinen ontologischen Aussagen über die Handlung der Substanz vom „Subjekt" des Handelns spricht, so ist damit eigentlich das „ O b j e k t " gemeint. Aber er bietet damit einen Ansatzpunkt, um auf das Sub-jekt des Sprechenden und Denkenden selbst zurückzublicken. An einer Stelle, die der kritischen Einschränkung der Rede von der Substanz als „Träger" der Eigenschaften gewidmet ist, tritt überraschend und zugleich symptomatisch das „ I c h " als Beispiel für die Substanz auf, von der hier die Rede ist. Sie könne, so wird betont, von ihren „Akzidenzen" — beim „ I c h " sind es ζ. B . Vorstellungen, Gedanken usf. — nicht als angeblich selbständiges Fundament getrennt werden, sondern durchdringe sie. Ich bin „die Substanz, die Begierden, Gedanken etc., die Akzidenzen, folglich ist das Ich gleichsam der Träger dieser Begierden, Gedanken etc. Die Akzidenzen sind aber nicht besondere Dinge, die existieren, sondern nur besondere Arten die Existenzen zu betrachten, diese dürfen also nicht getragen werden, sondern es bedeutet nur die mancherlei Bestimmung des Daseins eines und desselben Dinges. Nur die Substanzen existieren, und diese müssen nicht als verschieden von den Akzidenzen angesehen w e r d e n . " 3 6 Hier wird sichtbar, daß Substanz insofern das Feste, Beharrliche im Wechsel der Erscheinungen darstellt, als sie die Bewegung des Einigens und Zusammenhaltens der Akzidenzien ist, nicht 36

X X V I I I , 1, S. 429 (Met. Volckmann).

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

aber harter Kern im Innern der Erscheinung, der übrigbleiben würde, wenn man die „Schale" der Akzidenzien entfernte. Das wird am „Ich denke" bewahrheitet, welches die Gedanken, die es denkt, nicht als Dinge versteht, mit denen es sich umgibt, sondern als seine eigenen Bewegungen. Aber die „Spiegelung" zwischen Innen und Außen ist ebenso wie diejenige einer Person in einem Spiegel keine symmetrische Relation zwischen Gleichwertigen: vielmehr bin „ I c h " das „Original", welches sich in objektiver Spiegelung abbildet. Spiegelung bringt das Ich dadurch zustande, daß es das Spiegelbild selbst herstellt: dadurch, daß es der objektiven Welt eine Grundverfassung, die „allgemeinen Naturgesetze", gibt und vorschreibt. Dadurch wird das „Sein" der Gegenstände zum „Für-unserkennbar-" bzw. „Aussagbar"-sein. Indem wir die erscheinenden Dinge erkennen, fassen wir in ihnen Strukturen, die wir selbst in sie hineingelegt haben: wir begegnen in ihnen uns selbst wieder. Damit hängt zusammen, daß sich die logisch-sprachliche Subjekt-Prädikatstruktur unserer Sätze auf die Struktur abbildet, die zwischen dem „realen" Sub-jekt, der Substanz und ihren Akzidenzien bzw. den Wirkungen besteht. „ D e r Unterschied zwischen einem logischen und realen Subjekt ist dieser, daß jenes den logischen Grund enthält, das Prädikat zu setzen, dieses den realen Grund (etwas anderes und positives) und also die Ursache ist, das Akzidenz aber die Wirkung . . , " 3 7 Damit ist gesagt, daß das im Satz dem Prädikat ZuGrunde-liegende (Sub-jekt) dem in der „Realität" den Akzidenzien bzw. Wirkungen Zu-Grunde-liegenden, der Sub-stanz, entspricht, von ihm aber gleichwohl zu unterscheiden ist. Die „Ent-sprechung" ist dadurch begründet, daß das denkende und sprechende „ I c h " das von ihm zu-grundegelegte Subjekt des Satzes und die diesem Subjekt übertragene Funktion des Begründens und der Einigung der Prädikate auch auf die in Raum und Zeit versetzte „ S a c h e " überträgt, wodurch diese zur „Sub-stanz" als dem Grund und der Einigung der Akzidenzien und der Wirkungen wird. Zu dieser Ent-sprechung zwischen Satz-struktur und Seins-struktur kommt noch ein drittes „Ver-hältnis": dasjenige zwischen dem sprechend-denkenden, gesetzgebenden Ich und der von ihm durch Vermittlung der Satzstruktur be-gründeten und vorgeschriebenen Seinsstruktur. Zum „logischen" und „realen" Sub-jekt kommt das beiden seinerseits Begründungsfunktion übertragende „transzendentale" Subjekt hinzu. Dieses Subjekt spiegelt sich und seine Handlung des Begründens der R e a l i t ä t in der „ent-sprechenden" Begründungshandlung der Substanz gegenüber ihren 37

X V I I , S. 536 (Refl. 4412).

Drei Subjektbegriffe

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Akzidenzien und ebenso in der von ihm hergestellten L o g i k der Grundlegung der Prädikate durch das Satz-subjekt. Daher heißt es im Passus weiter: ,,. . . Dies Verhältnis der Ursache ziehen wir aus unsem eigenen Handlungen und applizieren es auf das, was beständig in den Erscheinungen äußerer Dinge ist. Wir finden aber endlich alles am Objekt accidentia zu sein. Das erste Subjekt ist also ein Etwas, wodurch die accidentia sind. Es entspringt also indicia synthetica. Zum Beispiel etwas, was ich durch die beständige accidentia der Undurchdringlichkeit kenne, das enthält auch die Anziehung . . . " Der letzte Satz bekräftigt die schon angedeutete Funktions-union der Be-gründung — bzw. Fundierung einerseits und der im synthetischen Urteil ausgesagten Einigung der Akzidenzien andererseits; sie ent-spricht der Doppelfunktion des Satz-subjekts: einerseits den „ G r u n d " der Prädikate darzustellen und sie andererseits zur Einheit einer „Sache" zu bringen. Drei Subjektbegriffe sind begegnet: erstens spricht der Ontologe von der Substanz als dem Subjekt, welches deren „Handlungen" zugrunde liegt und für den Wandel der Akzidenzien verantwortlich ist: es wird das „reale" Subjekt genannt. Die Struktur des „sub-jektiven" Grundes und des Begründeten spiegelt sich dann in der logisch-grammatikalischen Struktur des Satzes, in welchem das „sub-jektive" Prinzip in zweiter Fassung auftritt. In diesem als „logisch" bezeichneten Subjekt gründen die Prädikate, wie es auch schon Leibniz mit seinem berühmten Satze vom „inesse" des Prädikats im Subjekt ausgesprochen hatte. Schließlich kommt an dritter, wichtigster Stelle das transzendentale Subjekt in den Blick, welches sich selbst die Rolle des „Grundes" für die Bildung der Gegenstands- und Vorstellungswelt gibt. Dieses Subjekt setzt sich selbst als „ G r u n d " seiner Welt ein und gibt den zuerst genannten beiden „Subjekten" ihre relative Fundamentrolle. So fundiert es auch noch das Grundsein der andern beiden Subjekte, von denen es jedem aufträgt, sein Fundieren auch als Einigen zu vollziehen. Zur Aufgabe der Substanz, sich als Subjekt zu bewähren, gehört zugleich die Einigung ihrer Akzidenzien zum Ganzen einer „Sache". Als einigender Grund ihrer Akzidenzen bedeutet sie aber auch zugleich „Beharrung" im Wechsel der Erscheinungen: denn das einigende Prinzip muß die wechselnde Vielheit der Zustände fundieren; es darf nicht selbst in den Wechsel eintauchen. Auch das Subjekt des Satzes zeigt sich nicht nur als Träger der Prädikate, sondern als ihr sie einigendes Prinzip, welches dafür sorgt, daß sich viele Prädikate auf eine einzige Sache beziehen und daher auch untereinander als zu einer Sache gehörend zusammenhängen.

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V o m ontologischen z u m transzendentalen Begriff des Handelns

Es ist hier noch die Aufmerksamkeit auf die besonderen Verhältnisse zu lenken, die sich unter diesem Aspekt im Bereich des philosophischen Denkens und Sprechens ergeben. Tritt nämlich in einem Satze ein Subjekt auf, welches einen philosophischen Gegenstand wie etwa Welt, Freiheit, Existenz usw. bedeutet, so besteht in diesem Falle für den Denkenden und Sprechenden die besondere Lage, daß er sich als über einen Bereich denkend und sprechend versteht, dem er selbst angehört, dem er also nicht als „Ich denke" eine Stelle in der Welt der Erscheinungen anweist: in Kantischer Terminologie gesagt, spricht er in diesem Falle über ein Ding an sich. „Welt" ζ. B. kann ich nur zum Subjekt eines Satzes machen und über sie sprechen, sofern ich mich zugleich in sie hineinver-setze, mich mit ihr identisch setze und auf ihrem Boden Stand nehme. 38 Von diesem Stande aus ergibt sich für mich die Perspektive, in der ich mögliche einzelne Gegenstände in der Welt erst zu sehen vermag. Die Gewißheit, mit der ich solche philosophische Sätze über umfassende, unbedingte Gegenstände ausspreche, kann nicht zur objektiven, wissenschaftlichen Wahrheit werden: sie ist lediglich „subjektiv" motiviert. Solch eine Welt ζ. B., in der es ein höchstes Gut gibt, anzunehmen, bedeutet eine „praktisch notwendige Voraussetzung" (B 805). Da eine derartige Aussage „auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern: ich bin moralisch gewiß. Das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, sowenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der erste jemals entrissen werden könne" (B 857). Das heißt: weise ich in einer metaphysischen Aussage der Welt, Gott, der Freiheit oder dem Begriff eines andern metaphysischen „Gegenstandes" die Stelle des Satz-Subjektes an, so wird dessen gegenständliche Bedeutung zugleich dadurch als gegen-ständliche wieder aufgehoben, daß hinter der Maske des „logischen" Subjekts im Satze das denkendsprechende, transzendentale Ich-Subjekt zum Vorschein kommt; dieses spricht seine Denkbewegung des Standnehmens auf dem Boden des Intelligiblen in einem Satze „über" Intelligibles aus. Vom Standpunkt des philosophischen Denkens aus ergeben sich Motive für eine Kritik der Sprache, welche durch den Bau ihrer Sätze zu der irrigen Vorstellung verleitet, als

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Entsprechend etwa der Aussage Kants, daß das höchste Gut zu einer Welt gehöre, in die w i r uns „nach der Vorschrift der reinen, aber praktischen Vernunft durchaus versetzen müssen . . ." (B 842).

Drei Subjektbegriffe

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würde auch das Subjekt eines philosophischen Satzes einen „normalen" Gegenstand bedeuten, über den in einer im Alltag und in der Wissenschaft geläufigen Weise prädiziert wird. Zunächst mag zum Denken und Sprechen über „normale" Gegenstände zurückgekehrt werden. Es war hier die Rede davon, daß sich „Ich denke" in den von ihm gedachten und angesprochenen objektiven Verhältnissen spiegelt. Dazu mag eine Aussage Kants berücksichtigt werden, in der von der „Handlung" des denkenden Ich die Rede ist. „Wir sind uns und unserer eigenen Handlungen bewußt und der Erscheinungen, sofern wir uns der Apprehension bewußt werden, entweder dadurch wir sie einander koordinieren oder eine Empfindung durch die andere apprehendieren . . . " Das heißt: wenn wir die Teile einer empirisch angeschauten Gestalt zur Einheit schrittweise apprehendierend verbinden, oder sie als Teile der fertig geeinten Gestalt koordinieren, so sind wir uns solcher Bewegungen als unserer „Handlungen" bewußt. Nur dieses Bewußtsein unserer Rolle des Be-gründens und Einigens kann uns auch die erscheinenden Gegenstände bewußt machen. In diesem Sinne wäre die abgebrochene Reflexion: „Wir würden uns also gar nicht der Erscheinungen bewußt werden, wenn wir uns nicht . . . " vielleicht durch die Worte „. . . als der subjektive Grund ihrer objektiven Einheit bewußt würden" zu ergänzen. 39 Als Ergänzung zu diesem Gedanken ist eine in umgekehrte Richtung verlaufende Überlegung zu erwähnen: es ist ein Hauptgedanke Kants in seiner „Widerlegung des Idealismus" (B 274f.), daß wir unser empirisches Selbstbewußtsein nur dadurch motivieren dürfen, daß wir uns auf ein empirisches Bewußtsein von Dingen „außer" uns im Räume berufen können. Wir können von der Realität der „Außenwelt" nur insofern überzeugt sein, als sich die empirischen Gegebenheiten im Räume als Herausforderung für das „Ich denke" erweisen, den Stand des Be-gründens und Einigens der Außenwelt gegenüber zu behaupten und dem Einwirken der empirischen Vorkommnisse auf uns durch transzendentales Handeln zuvorzukommen, indem wir diese strukturell antizipieren. 40 So muß der Ausdruck, daß der erscheinende Gegenstand auf meine Sinne „wirke", in der Weise interpretiert werden, daß seine Handlung des Ein-wirkens ein An-sprechen ist. In der Aussage über die „Wirkung" der objektiven Substanz auf mich bringe ich zugleich die be-gründende und

39 40

X V I I , S. 662 (Reil. 4679). Vgl. meinen Aufsatz: Kants Beweis des .Daseins der Gegenstände im Raum außer mir', Kant-Studien, Bd. 50 (1958/59), H . 3, S. 323ff.

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V o m ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

einigende Handlung zur Sprache, die ich selbst als transzendentales Subjekt dieser Substanz gegenüber erweise. 41 Vor dem endgültigen Ubergang zum transzendentalen Begriff des Handelns mag noch einmal auf die „Stellung" des ontologischen Denkens und Sprechens seinem Gegenstande gegenüber, der hier durch das Thema: „Handlung und Handeln" bezeichnet wird, geblickt werden. Es wurde gesagt, daß die traditionelle Ontologie eine Stellung ihres Denkens und Sprechens den Gegenständen gegenüber bezieht, die durch den „Verstand" bestimmt ist. Handeln wird als dinglicher Gegenstand be-handelt, der sich von irgendeiner Naturtatsache nicht unterscheidet und im Grunde dem Denkenden und Sprechenden fremd ist. Aus dem Bisherigen geht hervor, daß Kant in seinen ontologischen Aussagen über Handeln zwar in objektivistischer Weise spricht, aber die diesem Sprechen eigentümliche Stellung zum Gegenstand dadurch zugleich wieder aufhebt, daß er das Handeln, welches er zunächst von Objekten prädiziert, zugleich auch immer als „Ich handle" des so Sprechenden hervorgehen läßt und damit auf den „Grund" und das einigende Prinzip der Objekte, also auf das transzendentale Sub-jekt zurückgeht. Kant gibt dem ontologischen Denken eine Stellung, dergemäß es „eigentlich" über sich selbst als das handelnde Subjekt, den „Grund", spricht, wenn es über Sein und Seiendes redet. Der Begriff des transzendentalen Handelns, auf den jetzt überzugehen ist, motiviert diese Veränderung, die Kant in der Situation des philosophischen Denkens herbeiführt.

7. Die Grund-handlung des „Sub-jekts" und der „Stand" des Gesetzgebers: transzendentale Konstellation Im folgenden ist von dem Subjekt die Rede, welches als „Ich denke" in der Funktion des „Gesetzgebers" für das „Gebiet" möglicher Erfahrung 42 41

42

XVII, S. 6 6 3 (Refl. 4 6 7 9 ) : „ E i n G e g e n s t a n d der Sinne ist nur das, was auf m e i n e S i n n e wirkt, mithin handelt und also Substanz ist. Daher ist die Kategorie der Substanz prinzipial. Ein jeder Anfang eines Zustandes der Vorstellung ist immer ein Ubergang aus einem vorigen, denn sonst würden w i r nicht wahrnehmen, daß jener angefangen hatte. . . . In der Einheit des Gemüts ist ein Ganzes nur dadurch möglich, daß das Gemüt wechselweise aus einer Teilvorstellung die andere bestimmt und alle insgesamt in einer Handlung begriffen sein, die von allen gilt." Kant spricht vom Boden als einem Aufenthalt unserer Begriffe und Denkprodukte. Der Teil des unser Denken tragenden Bodens, für den Gesetzgeber: Verstand seine Gesetze erläßt, ist „das Gebiet (ditio)" der Begriffe und Erkenntnisvermögen. In diese politisch-

Transzendentale Konstellation

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auftritt. Es gibt diesem Gebiet die „allgemeinen" Gesetze. Sofern es sich um ein als da-seiend anzuerkennendes Gebiet handelt, trägt es den Namen: Natur. In politischer Sprache ausgedrückt, ist der Corpus der allgemeinen Gesetze ein Grund-gesetz, eine „Verfassung", die den Rahmen für die besonderen Gesetze bildet. So stellen die vom Gesetzgeber: „Ich denke" gegebenen allgemeinen Gesetze der Natur die Grundlage und den Rahmen für einzelne, im Verlauf der „wirklichen", nicht nur „möglichen" Erfahrung bewährte Gesetze wie ζ. B. dasjenige des freien Falles dar. Welches Raum-Zeitverhältnis sich beim frei fallenden Stein ergeben wird, kann nur experimentell, durch wirkliche Erfahrung erkannt werden: aber mit geschlossenen Augen und bei stillgelegter Wahrnehmung kann ich „von vornherein" vor-schreiben, daß der Vorgang des Fallens gewisse strukturelle Züge „überhaupt" und im „Allgemeinen" zeigt, wie ζ. B. Zugehörigkeit zum Raum-Zeitbereich oder Quantifizierbarkeit, kausale Bestimmbarkeit überhaupt usf. Diese allgemeinen Züge an den Gegenständen „möglicher" Erfahrung überhaupt können im Anschluß an die traditionelle Terminologie als Transzendentalien angesprochen werden: nur unterscheidet sich Kants Transzendentalphilosophie von derjenigen „der Alten" dadurch, daß die von ihm benannten Transzendentalien als Vor-schriften erkannt und verstanden werden, die das Subjekt an die Natur als dem Bereich möglicher und wirklicher Erfahrung, der unter „Gesetzen" steht, erläßt. Die transzendentalen Bestimmungen nehmen die Bedeutung von „Gesetzen" an, die der Gesetzgeber „Verstand" den Naturgegenständen gegenüber in Kraft setzt. Die solches leistende Gesetzgebung soll als transzendentales Handeln erwiesen werden, dessen Resultat die allgemeine transzendentale Verfassung der Natur ist; daß sich dieses „Handeln" im Felde apriorischen Denkens ereignet, ist klar: denn seine Aufgabe besteht darin, „wirkliche" Erfahrung „überhaupt" erst zu be-gründen und zu ermöglichen. Diese Be-gründung geschieht durch das Sub-jekt, welches sich selbst der Natur und ihrer Erkenntnis zu-grunde legt: dadurch, daß es sich autonom den Stand des Gesetzgebers anweist. Vor dem Akt der Gesetzgebung für den Bereich der Gegenstände und ihrer Erkenntnis geschieht noch ein grundlegender Handlungsschritt: derjenige der Selbst-einsetzung des Sub-jekts zum Gesetzgeber. Das Subjekt überträgt sich die Rolle des

juridische Sprache paßt es auch, wenn man, Kant interpretierend, die „allgemeinen" Gesetze, die der Verstand über die Natur erläßt, als Verfassung des rechtlich geordneten Bereiches der Erkenntnis anspricht. (V, S. 174).

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Gesetzgebers und übernimmt diese selbstgegebene Rolle: es macht sich selbst zum „ G r u n d " , zum Fundament möglicher Erkenntnis. Im folgenden wird diese erste, grundlegende Handlung des Sub-jekts als Be-hauptung eines transzendentalen „ S t a n d e s " benannt werden, von dem aus es die Gegenstände der Erkenntnis a priori ihrer allgemeinen Struktur gemäß zurechtlegt. Es ist zu beachten: Das Subjekt gibt sich nicht nur die Rolle des Gesetzgebers, sondern auch die des transzendentalen Architekten der Gegenständlichkeit, der diese „konstituiert". Es schreibt in der Weise vor, daß es in Synthesen a priori aufbaut. Dadurch leistet das Subjekt Selbstbehauptung den Dingen und Vorgängen der Natur gegenüber, deren Kräften wir ausgesetzt sind: wir behaupten uns ihr gegenüber als freie Subjekte, sofern wir als Erkennende den Willen zur Übernahme eines Standes durchsetzen, von dem aus wir die Natur in die Hand bekommen. In der Übernahme der selbstgegebenen Rollen des Gesetzgebers und des Architekten stellt das Sub-jekt eine „transzendentale Konstellation" zwischen sich und den Objekten her, in der es sich selbst das „Grund-sein" diktiert und den Gegenständen ihren Platz im Bereich der Erscheinungen anweist. In die Gesetzgebung ist eingeschlossen, daß das Subjekt seinen Gegenständen eine mögliche Stelle in Raum und Zeit überhaupt anweist. Es behauptet dadurch, daß es den Dingen die Fessel der Notwendigkeit und Bedingtheit anlegt, den Stand der Freiheit und Un-bedingtheit. Die Behauptung des Standes der Freiheit wird von Kant im „Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus" betont, in welchem er die einzige Möglichkeit sieht, dem Spinozismus zu entgehen und das Subjekt selbst vor räumlich-zeitlicher Verdinglichung und Ver-notwendigung zu bewahren. Denn wenn Raum und Zeit transzendentale Idealitäten sind, in deren Netz das Subjekt die Gegenstände einfängt, dann kann man von ihm selbst keine Räumlichkeit oder Zeitlichkeit aussagen. Alles, was im Räume oder der Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, sind nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen. Sie haben so, „wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz." (B 519) Ihre Existenz ist auf die Handlung des Subjekts gegründet, die darin besteht, das empirisch im Medium der Sprache von Empfindung und Wahrnehmung Gegebene in den Raum-Zeitzusammenhang zu ver-setzen und die transzendentale Struktur von notwendiger Gesetzlichkeit darüber zu verhängen. Kraft dieser Fundierungs-Handlung durch das Subjekt kann das Dasein empirischer Gegenstände außer mir

Transzendentale Konstellation

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gewiß und der Unterschied zwischen Traum und Wahrheit klar gemacht werden. Nur das Gegebene, was ich in den Notwendigkeitszusammenhang zu versetzen vermag, in den die räumlich-zeitlichen Ereignisse aufzunehmen sind und über den ich als Gesetzgeber verfüge, darf als da-seiend Gewißheit beanspruchen: diese Verfügung muß sich auch auf Räume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen annehmen muß, um das Dasein empirischer Realitäten gewißmachen zu können. Nur ein empirisch Gegebenes, demgegenüber ich mich als legislativ Handelnder erweisen kann, indem ich es, statt in seinem zufälligen Gegebensein stehenzulassen, handelnd in den raum-zeitlichen Notwendigkeitszusammenhang ver-setze und damit seine objektive Realität be-gründe, kann den Rang eines Da-seienden beanspruchen. „In dem Räume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert und von der Verwandtschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn beide nach empirischen Gesetzen in e i n e r (gesp. v. Verf.) Erfahrung richtig und durchgängig zusammenhängen" (B 520). Empirischen Gesetzen liegt die Her-stellung der transzendentalen Konstellation zwischen Subjekt und Objekt zugrunde. Dasein der Gegenstände kann nur durch die grund-legende H a n d l u n g des Subjekts gewißgemacht werden, durch welche dem empirisch „Gegebenen" eine Stelle auf der objektiven Seite dieser Konstellation 43 angewiesen und es in den notwendigen Zusammenhang der Raum-Zeit-Welt ver-setzt wird. Daseinsgewißheit ist auf theoretisches Handeln der Gesetzgebung und Ver-setzen des Gegebenen in den Bereich möglicher und wirklicher Erfahrung gegründet. Das Subjekt kommt der „Gefahr", das Zufällige, Nichtüberschaubare und Chaotische als Prinzip des Daseins anerkennen zu müssen, in der Weise zuvor, daß es Dasein a priori als „notwendig bestimmte Exi-

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Man kann sich auf entsprechende Passagen des opus postumum berufen, wo zum Beispiel von „ S e l b s t s e t z u n g des Subjekts" die Rede ist, wenn die Konstellation beschrieben wird, die ich als „transzendentale" bezeichne. Das Subjekt beweise dadurch seine Freiheit, daß es seine Objekte in den von Notwendigkeit beherrschten Raum-ZeitZusammenhang hinein versetzt. Dadurch, daß das freie Subjekt in einer transzendentalen Handlung die Gegenstände in Raum und Zeit versetzt, verschafft es sich die S t e l l u n g der Freiheit diesen Gegenständen gegenüber. Wenn man nach der Rolle des Dinges an sich in diesem Zusammenhang fragt, so wird es in der Perspektive der Konstellation als „ G e dankending ohne Wirklichkeit" konzipiert. „Das Ding an sich . . . ist hierbei nur ein Gedankending ohne Wirklichkeit. . . um e i n e S t e l l e zu b e z e i c h n e n (gesp. v.Verf.) zum Behuf der Vorstellung des Subjekts: ein verschiedenes Verhältnis der Anschauung zum Subjekt, insofern dieses unmittelbar vom Objekt affiziert wird mithin der Gegenstand als Erscheinung nach einer gewissen spezifischen Form vorgestellt oder die Vorstellungskraft unmittelbar erregt wird . . . " ( X X I I , S. 25, 31).

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Stenz" erklärt. Als da-seiend kann nur das anerkannt werden, was in der Intention der Grund-handlung des Subjekts vor-gesehen ist und von ihm als daseiend gewollt wird. Das menschliche Subjekt kann sich als gesetzgebende Instanz auch selbst eine Stelle im Erscheinungszusammenhang anweisen: dann ver-setzt es sich in die Perspektive der raum-zeitlichen Notwendigkeit. Medizin, empirische Psychologie usf. machen von dieser Perspektive Gebrauch: das gilt auch für diejenigen wissenschaftlichen Zwecksetzungen, in denen für gesetzlich begründete Vorhersage von menschlichen Reaktionen ein Interesse besteht. Kant selbst sieht es ζ. B. als Aufgabe auch der Geschichtsschreibung an, durch Gesetzeserkenntnis die Ereignisse der Geschichte theoretisch in die Hand zu bekommen. Der Mensch kann sich selbst als natürliches Leibwesen auch in den Zusammenhang der Naturereignisse einreihen, ohne seine Freiheit gefährden zu müssen. Gerade durch das Bewußtsein der Freiheit der Anwendung der Naturperspektive auf sich selbst nimmt er diese zugleich auch wieder zurück und behält für sich die Perspektive der Freiheit vor. Die Bestätigung der Freiheit dessen, der auf sich s e l b s t die Perspektive der Notwendigkeit anwendet, ist durch folgende Stelle im opus postumum belegt. „ A u t o n o m i e der Freiheit. Meine Existenz im Raum u. der Zeit ist empirisch bestimmbar. Ich bin mir selbst ein Sinnenobjekt. Aber um dies sagen zu können ist c o g i t o sum cogitans nicht empirisch". 44 Charaktere der transzendentalen Konstellation werden vor allem im nachgelassenen Werk in der Sprache des Standnehmens, Ver-setzens der Gegenstände auf den ihnen gemäßen Platz sowie der Behauptung der Freiheit des Subjekts in seinen grund-legenden „Handlungen" beschrieben. Eine hierhergehörende Aussage, in der „Ich bin" und „der Gegenstand ist" im Sinne der Be-gründungskonstellation zusammengedacht werden, ist etwa: „Es sind solche Gegenstände oder ich bin ein S u b j e k t dem der Zustand meiner Vorstellung eine solche gesetzmäßige Kette des Mannigfaltigen was wir E r f a h r u n g nennen, zuführt . . ." 4 S

8. Transzendentale Handlung und Weltidee Die gesetzgeberische Handlung hat die Errichtung eines „Staates" zum Ergebnis, dessen Bürger, die Gegenstände der Erkenntnis, dem Grund44

X X I , S. 103.

45

X X I , S. 43.

Transzendentale Handlung und Weltidee

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gesetz unterworfen sind: dieser Staat ist der Bereich möglicher Erfahrung, dessen Verwirklichung sich im Vollzug empirischer Erkenntnis der „Natur" vollzieht. Es entspricht der transzendentalen Konstellation, daß sich die Subjekte zur Gemeinschaft eines gesetzgebenden Körpers zusammenzuschließen. Der so verfaßte Staat hat „Welt"-charakter insofern, als er nicht eine empirische Summierung wirklicher Gegenstände ist, sondern die umfassende Grundlage für deren Möglichkeit gibt. Er bedeutet ein Ganzes, welches in jedem empirischen Gegenstand strukturell als letzte regulative Einheit aller Gegenstände gegenwärtig ist, aber durch keine noch so große Menge von Gegenständen abgedeckt werden kann. Der Welthintergrund des gesetzgebenden Bewußtseins wird in jedem einzelgegenständlichen Inhalt mitgedacht: aber nicht a l s objektive Inhaltsbestimmung, nicht als „Realität", sondern als Perspektive, in welche die realen Inhalte gerückt werden. Das Denken, welches diese Perspektive selbst auf eine quasi-objektive Sprache bringt und thematisch macht, ist Metaphysik. Kant charakterisiert die Eigentümlichkeit des Denkens, welches die „Welt" zum Thema hat, als ein „Sich-hinein-denken", „Sich-hineinversetzen" in den Zusammenhang der Welt. 4 6 Auch die Rede vom „Stand"nehmen auf dem Boden der Welt begegnet. Daß das Thema: „Welt" eine Form des Denkens herausfordert, in welcher der Denkende nicht geradeaus vor ihm Stehendes, Objektives anzielt, wird einsichtig, wenn man sich klarmacht, daß es auf den gedanklichen Entwurf eines umgreifenden Zusammenhanges hinweist, in den sich der Denkende selbst einbezieht. Die Rede Kants vom regulativen Charakter der Idee „Welt" entspricht diesem insofern, als sie Welt nicht als Name für einen objektiv bestimmbaren Gegenstand gelten läßt, sondern als Perspektive behandelt, in welche die objektiven Inhalte gerückt werden. Sie wird als Art und Weise verstanden, wie diese gedacht werden sollen: als totalisierende Devise für das Denken selbst, nicht nur für den Aufbau des Gegenstandes. „Welt" ist aber noch mehr als das, was in diese Perspektive fällt: sie umfaßt auch den, der von ihr Gebrauch macht. Er „denkt" sich selbst in den Welt-zusammenhang hinein, in welchem er sich die Stelle eines freien Subjekts anweist, das über den „andern" Teil dieser Welt, die sog. „Außenwelt", das Netz der Notwendigkeit wirft, welche die andere Seite der Freiheit darstellt. Es entsteht ein in der „Natur" der Vernunft angelegter Schein dadurch, daß wir die Perspektive: Welt so ausmalen und konkretisieren 46

ζ. Β. IV, S. 458.

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müssen, als handle es sich nicht nur um eine bloße Devise für das Denken, sondern um einen objektiv erkennbaren und beschreibbaren Inhalt, über den man wie über „normale", endliche Gegenstände Auskünfte geben kann. Es wird in den folgenden Überlegungen noch erkennbar werden, daß wir geradezu ein Interesse der Vernunft wahren, wenn wir diesen objektiven Schein der Welt nicht verdrängen, sondern ihn aufarbeiten und uns mit ihm auseinandersetzen: Kant läßt aus dieser Situation eine „natürliche Dialektik" der Vernunft entspringen, die wir durch kritisch fundierte und als philosophische Methode ausgebaute Dialektik bemeistern sollen. Dialektik als „Logik des Scheins", in der über das bloße „Wie" so ausgesagt wird, „als o b " man ein objektives „Was" zur Sprache brächte — und zwar nicht willkürlich, böswillig oder nachlässig, sondern auf Grund der natürlichen Täuschungssituation der Vernunft, der auch die Sprache erliegt — zeigt sich in folgender Erkenntnislage: an jedem einzelnen endlichen Objekt der Natur ist Welt insofern gegenwärtig, als es die Aufforderung enthält, die an ihm festgestellten Prädikate weiter zu ergänzen und die Beziehungen zu anderen Objekten immer reicher zu beschreiben, wobei das faktisch nie erreichbare Ideal der vollkommenen, endgültigen Erkenntnis des „Ganzen", d. i. der Welt, vorgestellt wird. Dieses Ideal letzter Einheit wird vom Denken, das noch nicht über Kritik verfügt, im Sinne eines noch nicht erschlossenen objektiven Inhalts gedeutet, statt als bloßes „Wie" des Denkens der Objekte, als bloßer Sollcharakter erkannt zu werden. Kritische Dialektik kann das Unrecht einer mit objektivem Aussageanspruch auftretenden Weltbeschreibung sichtbar machen und gleichzeitig ihren Sinn auf das richtige Maß zurückbringen. Sie kann eine Methode des richtigen Deutens der metaphysischen Weltaussagen bereitstellen. Einerseits werden durch sie diese Aussagen gerechtfertigt, da Vernunft ein Interesse an ihnen hat: andererseits werden sie in die ihnen gemäße Perspektive des Sinnes gebracht und daher unter richtig gewählten Voraussetzungen rehabilitiert. Die Wortverbindung „als ob" gibt das Stichwort für die Rehabilitierung: denke die Objekte so, „als ob" sie Teile eines vollkommenen Weltganzen wären. Zunächst soll festgestellt werden, daß die erkennend-handelnde Vernunft Interesse am Entwurf eines Bildes von der „Welt" hat, in die sie sich hinein-denkt, um ihre theoretischen Aufgaben zu erfüllen. In dieser Welt ist dem Subjekt eine Stelle vorbehalten, von der aus es das Seiende überschaut, über es verfügt, es in die Hand bekommt und technisch-praktisch meistert: das Bild der „Außenwelt" wird durch Züge wie Notwendigkeit, gesetzliche Verbindung, einheitlicher Zusammenhang, Quantifizierbarkeit,

Transzendentale Handlung und Weltidee

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Objektivierbarkeit, kurz Rationalität im Sinne neuzeitlicher Naturwissenschaft und Technik bestimmt. Nur durch Zu-grunde-legung der Welt vermag das Subjekt die Situation der Natur gegenüber herzustellen, in der es von seinem auf Herrschaft über die Natur ausgehenden Erkenntniskonzept überzeugt sein und sich für seine Realisierung mit den technischen Konsequenzen entscheiden kann. Das Subjekt braucht dieses Welt-bild, um seine eigenen Vorstellungen von Wissenschaft als sinnvoll ansehen und dafür arbeiten zu können. Die Frage nach der „Wahrheit" dieses Bildes wäre so sinnvoll oder sinnlos, wie wenn man nach der Wahrheit gewisser lebensnotwendiger Illusionen oder Utopien fragen wollte. Wieder sind es Passagen aus dem opus postumum, aus denen für den Zusammenhang: „Welt" und „erkennendes Handeln" Belege zu entnehmen sind. Als Mittelpunkt dieser Welt müsse, wie da zu lesen ist, das menschliche Subjekt gedacht werden, welches sich selbst die Rolle des Gesetzgebers der „Natur" gibt und die Dinge in den Raum-Zeitzusammenhang ver-setzt, um sie in den Griff der Erkenntnis zu bekommen. Es ist vom „Menschen in der Welt" die Rede, der sich in freier Willkür selbst seinen Stand innerhalb dieser Welt und ihrer Gegenstände gibt und dadurch sein Ver-hältnis zu ihnen bestimmt. 47 Im eingeschränkten Sinne einer „Außenwelt" bedeutet Welt „das Ganze der Sinnenwesen". 48 „Ich" gehe in diese Welt als existierend in Welt-raum und Welt-zeit ein. „Gott, die Welt und das Bewußtsein meiner Existenz in der Welt im Räume und der Zeit . . ," 4 9 Daß Welt sowie Gott, welche die Vereinigung von Freiheit und Natur repräsentieren, als notwendige Entwürfe bzw. An-nahmen der Vernunft rangieren, wird etwa in der Wendung ausgesprochen: „ G o t t und die Welt, und der Geist des Menschen der beide denkt . . ." 5 0 Wenn hier von Welt gesprochen wird, ist die Totalität gemeint, die uns als freie Subjekte mitsamt unserer „Außenwelt" umschließt. Kritische Dialektik rechtfertigt folgende Beschreibung: In diese „Welt" denkt sich das menschliche Subjekt hinein, um sich zu der Erfüllung seiner theoretischen Aufgaben entschließen zu können. Der Gebrauch der Weltperspektive ist Ausdruck der theoretischen Vernunft, die ihre Handlungsabsichten und Zwecke in der Form einer objektiven Beschreibung eines Welt-„bereiches" zur Sprache bringt. Im opus postumum ist häufig vom 47 48 49 50

XXI, XXI, XXI, XXI,

S. S. S. S.

59. 22. 24. 29.

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

„höchsten Standpunkt" der Transzendentalphilosophie die Rede, von dem aus nach kritischer Methode eine Beschreibung der Welt möglich wird, deren Prädikate den Charakter der Vernunft selbst ausdrücken: Totalität, Einheit, architektonische Systematik: Ein Raum, Eine Zeit und Ein Zusammenhang wirkender Kräfte. 51 „Dieser ihr höchster Standpunkt der spekulativen (noch nicht praktischen) Philosophie, von specula — Aussicht von einer Höhe über dem flachen Boden der Erfahrung nicht betastend oder durch Stecken prüfend sondern um sich in der Ferne beschauend zu sein — . . . " 5 2 Der höchste Standpunkt: er ist derjenige, von dem aus das Subjekt sich selbst als durch sich eingesetzt in der Rolle des Gesetzgebers begreift, der die Gegenstände auf ihren Platz im raum-zeitlichen Erscheinungszusammenhang verweist und in Orientierung am Einheits- und Ganzheitsideal einer entworfenen W e l t die Absichten seines Erkenntniswillens erfüllt. Das Subjekt bleibt einerseits selbst außerhalb des objektiven Weltzusammenhanges und behauptet den Stand der Freiheit, sofern es sich der Welt als einer Perspektive des Denkens und Anschauens der Welt-dinge bedient, andererseits aber gibt es sich eine Stelle in dieser Welt: der Mensch ist als „Weltwesen" und zugleich als „Wesen der Freiheit" zu denken. 5 3 Es war von der transzendentalen Konstellation die Rede: der aus der Astronomie stammende Name fügt sich zu Kants eigener Rede von der Copernicanischen Wendung. Diese besagt 54 , daß wir es in der Philosophie im „Experiment" der Vernunft versuchen s o l l e n , einen Stand des Welt-denkens methodisch bewußt und frei zu wählen, den wir durch Überschreitung des uns von der Natur der Vernunft angebotenen Standes und dessen engen subjektiven Horizontes zum Allgemeinen erreichen: so wie Copernicus es „gewagt" habe, nicht die der natürlichen Wahrnehmung unseres erdgebundenen Denkens angebotene Perspektive der Weltbeschreibung zu übernehmen, sondern frei von einer Perspektive Gebrauch zu machen, die dem Standpunkt entspricht, der durch eine Selbst-Versetzung des Denkens und Wahmehmens in einen der Sonne

Vgl. auch die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft". Vgl. meinen Aufsatz: Metaphysik der Natur, Weltidee und Prinzip der Handlung bei Kant, Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 30 (1976), H . 3, S. 329ff. 5 2 X X I , S. 31. « X X I , S. 42. 5 4 Vgl. meine Untersuchung: Die Copemicanische Denkfigur als philosophisches Prinzip, dargestellt an Kant und Nietzsche, in: Nicolaus Copernicus zum 500. Geburtstag Köln/ Wien 1973. 51

Transzendentale Handlung und Weltidee

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nahen Punkt gewonnen wurde. In der entsprechenden Versetzung des „Ich denke" in den Stand der Selbstbestimmung, der freien Wahl der Konstellation zwischen „mir" und den Gegenständen, die auch das Denken zum „Experiment" werden läßt, sowie in der Selbsternennung zum Gesetzgeber vollzieht sich ein grundlegendes Handeln des Sub-jekts: es legt für die Verfassung der Gegenständlichkeit und ihrer „Welt" ebenso wie für die eigene Freiheit der Verfügung über die Gegenstände den Grund. Es wurde ausgeführt, daß Grund-legung durch „Substanz" Handeln, daß weiterhin dieses Handeln zugleich Einigen sei und daß schließlich das „objektive" Bild, das sich von der Substanz und ihrem Handeln ergibt, als Spiegel-bild des Sub-jekts selbst verstanden werden müsse, welches seinerseits das Denken und Reden über die objektive Substanz begründet. Daß zur Rolle des Be-gründens zugleich die Handlung des Einigens gehört, soll Thema der weiteren Überlegung sein, wobei auch der Begriff der synthetischen Handlung begegnen wird. Daß das Subjekt durch grund-legend-einigende Handlung seine Position des Fundamentseins behauptet, spricht folgender Passus aus: „Drei Prinzipien: Gott, die Welt und der Begriff des sie vereinigenden Subjekts welches in diese Begriffe synthetische Einheit bringt (a priori) indem die Vernunft jene transzendentale Einheit selbst macht . . . " 5 5 Das Subjekt gebraucht Vorbild-ideen wie Gott und Welt, um seine eigene synthetische Einigungsbewegung im Bilde Gottes als des Produzierend-handelnden und in dem der Welt als des Ergebnisses der einigenden Produktion „gegenständlich" vor sich zu haben. Es vermag sich an ihnen bei seinem eigenen Handeln als einer Handschrift der eigenen Vernunft zu orientieren. Das denkende Subjekt schafft sich, so heißt es, auch eine Welt als „Gegenstand" möglicher Erfahrung. Die mit der Rede von der Ver-„gegenständlichung" der Welt gegebene Gefahr mag hier nicht weiter stören. 5 6 Wichtig ist die anschließende Bemerkung, daß es sich nur um „Eine" Welt handle. Der Leser wird den Satz etwa so zu begründen versuchen: „Weil es nur Eine Vernunft gibt, die einigend ein einiges Bild vom Ganzen ihrer Handlungsgeschichte und des zugehörenden Gebietes herstellt." Wie die

55 56

X X I , S. 2 3 . Zumal an anderer Stelle Kant selbst mit dieser Vergegenständlichung abrechnet: Gott und die Welt, so heißt es, seien „beide nicht Gegenstände möglicher Erfahrung sondern Ideen selbstgeschaffene a priori Gedankendinge . . . und enthalten Prinzipien der systematischen Einheit des Denkens von Gegenständen." ( X X I , S. 43).

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Vernunft des Subjekts grund-legend und in einigender Bewegung agiert, dem soll im folgenden nachgegangen werden.

9. Der Gegenstand als Geschichte des synthetischen Subjektlogik und Prädikatlogik

Einigens:

In der ontologischen Überlegung hat sich ein Bedürfnis nach dem Fundament-Aufbau-, Basis-Uberbau-Modell im Zusammenhang mit dem Begriff des Grundes und der Be-gründung gezeigt, wie sie etwa das Sub-jekt bzw. die Sub-stanz den Akzidenzien oder Wirkungen gegenüber leistet. Gleichzeitig wurde sichtbar, daß im Zuge einer an der Bewegung orientierten Deutung von Be-gründung, die zugleich Einigung ist, Kritik an diesem Modell notwendig wird. Dieselbe Lage ergibt sich für die Beschreibung der Fundierungsposition des Subjekts. Es darf nicht als passive Unterlage für den Aufbau des Gebäudes der Theorie mißdeutet werden, da es sein Grund-legen in aktiver Weise vollzieht: es ermöglicht den Gegenstand und den Begriff von ihm in der Weise, daß es ihn aus seinen Elementen zusammensetzt: es stellt ihn durch synthetische Handlung her. Das. heißt: der Gegenstand ist nicht gegeben; sein gegenständlicher C h a r a k t e r muß durch synthetische A r b e i t her-gestellt werden. Der Gegenstand möglicher Erfahrung muß, wie Kant geneigt ist zu sagen: „gemacht" werden. Der „transzendentale Idealismus" sieht das Subjekt in einer Situation, in der es der Überwältigung durch die Impressionen von seiten der äußeren „Welt" dadurch zuvorkommt, daß es sich von vornherein auf den Stand des Gesetzgebers stellt, der „Empfindungen" nur insofern a priori „gelten" läßt, als sie auf die Sprache des einigenden Handelns gebracht worden sind. In diesen Zusammenhang gehört die immer wieder vorgebrachte Erklärung, daß wir keine andere „Einheit" als diejenige zu erkennen vermögen, die wir selbst durch a priori-synthetisches Handeln h e r g e s t e l l t haben. „Subjektiver Verstand" konstituiert als Gesetzgeber den Staat der Erkenntnis, der den Namen: „mögliche Erfahrung" trägt, indem er die zu diesem gehörenden Gegenstände in ihrem gegenständlichen Grundcharakter a priori aus ihren „gegebenen" Elementen zusammensetzt und sie zu objektiven Einheiten macht. Als Modell für diese synthetische Handlung kann die Arbeit des Architekten angesehen werden, der den Plan, die „apriorische" Struktur eines

Der Gegenstand als Geschichte

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Hauses noch vor seiner empirischen Verwirklichung aus einzelnen Formelementen konstruiert. In dieser Lage repräsentiert das grundlegend tätige, die Arbeit apriorischen Einigens auf sich nehmende Subjekt das moderne bürgerliche Selbstbewußtsein, das seine Freiheit in der Weigerung sucht, etwas anderes als das von ihm selbst nach allgemein mitteilbaren Regeln Gemachte gelten zu lassen. Wenn Kant im opus postumum wiederholt erklärt, daß wir die Erfahrung selbst „machen" müssen, dann taucht auch die Gestalt Lockes auf, der seine Polemik gegen die eingeborenen Ideen als Wortführer des Prinzips der „Erfahrung" vorgetragen hat, durch welche das Subjekt seinen Erkenntnisbereich nach allgemein gültiger Methode er-arbeitet, statt sie als Erbschaft von der „Natur" oder einem göttlichen Wesen zu übernehmen. Aber Kant radikalisiert den Anspruch der Selbst-ständigkeit und des Handelns, sofern er erkennt, daß ihn Erfahrung solange nicht zu erfüllen vermag, als sie das Subjekt dem Zufall und der Beliebigkeit des Wahrgenommenen ausliefert. Daher plädiert er dafür, daß Synthesen a priori vollzogen werden müssen, die von vornherein verbürgen, daß „mögliche" und demgemäß auch wirkliche Erfahrung auf die Sprache der Gesetzgebung, Begründung und Einigung durch das Subjekt gebracht wird. Dabei sorgt das auf seine Freiheit, Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit bedachte Subjekt, daß die Situation, in der es sich etwas in der wirklichen Erfahrung durch Empfindung und Anschauung „geben" lassen muß, schon von vornherein in der transzendentalen Konstellation strukturell vorweggenommen wurde: es ist ihr dadurch zuvor-gekommen, daß es das „möglicherweise" zu Erfahrende in Raum und Zeit versetzt; dabei kommt die reine A n s c h a u u n g ins Spiel. Ihre Funktion besteht, paradox gesagt, darin, etwas zur „Gegebenheit" zu bringen, bevor es „wirklich", empirisch gegeben ist: ihm die Stelle der Gegebenheit in Raum und Zeit überhaupt vor-sorglich anzuweisen, bevor es als „Inhalt" wirklicher Erfahrung aktuell wird. Von der Anschauung sagt Kant, daß in ihr die Dinge „gegeben" werden, während sie vom Verstand „gedacht", d. i. zur sachlichen Einheit verbunden werden. Dem Denken wird nichts „gegeben", weil es alles durch synthetische Arbeit zu „machen" hat. Aber auch reine Anschauung ist trotz der Rede Kants von ihrer „Rezeptivität" in das Programm des Handelns einbezogen, weil sie die Art und Weise ist, wie das Subjekt Gegenstände möglicher Erfahrung von vornherein in Raum und Zeit „ver-setzt". Es sei noch einmal daran erinnert, daß Kant die mit der These des apriorischen „Versetzens" der Gegenstände in Raum und Zeit ausgesagte „transzendentale Idealität von

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Raum und Zeit" als Bürgschaft für die Freiheit des Subjekts und dessen Verfügungsgewalt über objektive Dinglichkeit deklariert hat. Beim Ausbau des Programms der transzendentalen Konstellation kommt es auf die optimale Ausgewogenheit zwischen dem a priori handelnden und einigenden Subjekt und der uneingeschränkt akzeptierten Mannigfaltigkeit des den Sinnen Gegebenen an. „Ich denke" gewinnt seine eigene Einheit und Identität nur im Rahmen der Konstellation, d. h. es vollzieht Selbsteinigung durch apriorische Handlung des Einigens der Dinge in Raum und Zeit. Ein entsprechendes Verhältnis mag jetzt auch im Bereich des transzendentallogisch-gedeuteten Urteils erkennbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, daß „Ich denke" bzw. „Ich urteile" seine eigene Identität als denkend-sprechendes Subjekt dadurch gewinnt, daß es im Subjekt des Urteils eine Vielheit von prädikativen Inhalten zusammenfaßt und einigt. Das Subjekt des Satzes kann als logisch-sprachlicher Repräsentant des sich selbst sprechend einigenden transzendentalen Subjekts betrachtet werden. So, wie das Subjekt im Satze möglichen Prädikaten als einigendes und fundierendes Prinzip zugrunde liegt, so fundiert das sprechende und denkende Subjekt die im Satze zur Einheit gekommene Vielheit von Vorstellungen. Urteile werden von Kant als „Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen" (B 94) bezeichnet.57 Es gibt zwei Versionen, die für die Deutung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Prädikat des Urteils alternativ sind. Beide sind durch eine Tradition in der Geschichte der Logik vertreten: ich möchte die eine als subjektlogische, die andere als prädikatlogische bezeichnen.58 Als Ahnherr der Subjektlogik ist Aristoteles anzusehen, der entsprechend dem Gewicht, das er der Substanz gegeben hat, dem Subjekt des Satzes als deren Statthalter die Funktion des Fundierens und Einigens der Prädikate gegeben hat. Die durch Aristoteles begründete subjektlogische Tradition findet ihre Weiterführung und Bestätigung durch solche Sätze wie den von Leibniz, daß „praedicatum inest in subjecto". Weiterhin ist diese Tradition über Kant, Schelling, Hegel hinaus zu verfolgen. Dem prädikatlogischen Gedanken gemäß wird nicht dem Subjekt, sondern dem Prädikat die fundierende Rolle im Satz übertragen. Das Prädikat wird als Statthalter des Begriffes, des Allgemeinen erklärt, demgegenüber das Subjekt nur einen Einzelfall beibringt. Einen besonderen 57 58

Zwischen den N a m e n : Urteil und Satz wird hier kein Unterschied gemacht. Vgl. meinen Aufsatz in der Gedenkschrift für Wilhelm Kamiah über „Subjektlogik und Prädikatlogik", Berlin 1978.

Der Gegenstand als Geschichte

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Auftrieb hat die prädikatlogische Auffassung in der modernen Logik seit Frege erhalten, der den Begriff nach dem Vorbild der mathematischen Funktion interpretiert hat. Dieser Auffassung gemäß vertritt das Prädikat im Satze die Stelle des Begriffs bzw. der Funktion, während das Subjekt die Rolle übernimmt, „Argumente" für diese Funktion beizubringen, also Größen in die von der Funktion vorgesehenen Leerstellen einzusetzen. Es soll sich jetzt zeigen, daß Kant die Partei der subjektlogischen Tradition vertritt, sofern er das Urteil vom Standpunkt der Theorie des transzendentalen Handelns aus interpretiert. Kant räumt dem Subjekt im Satze vor dem Prädikat insofern einen Primat ein, als er es als Repräsentant des handelnden, be-gründenden und einigenden „Ich denke" bzw. „Ich spreche" anerkennt. Vom Standpunkt der „allgemeinen" Logik her gesehen ist zwar dem Prädikat im Satze ein Allgemeinheitscharakter zuzubilligen, den es vor dem Subjekt voraus hat: Kant weigert sich nicht, dies anzuerkennen. Wer aber das Urteil vom Standpunkt der transzendentalen Logik aus analysiert, betrachtet das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat des Satzes nicht nur in formaler Hinsicht als Beziehung zwischen einem Allgemeinen und einem Besonderen: vielmehr sieht er im Urteil einen transzendentalen Handlungsvollzug, eine einigende „Funktion" (im philosophischen Sinne Kants verstanden) am Werke, die nicht vom Prädikat, sondern vom Subjekt des Satzes ihren Ausgang nimmt. Unter Berufung auf diesen Gehalt an Aktivität des Subjekts im Satze kann man dann dessen fundamentale Rolle im Satze erkennen und rechtfertigen. Im Zusammenhang mit der „Erklärung der Kategorien" (B 128) spricht Kant zunächst von einem „bloß logischen Gebrauch des Verstandes", der sich nur am formalen Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen orientiert. Der bloß logische Gebrauch des Verstandes vermag es nicht, zwischen Subjekt und Prädikat im Satze einen spezifischen, den G e g e n s t a n d des Satzes betreffenden Unterschied zu finden. „So war die Funktion des k a t e g o r i s c h e n Urteils die des Verhältnisses des Subjekts zum Prädikat, ζ. B. alle Körper sind teilbar. Allein in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs des Verstandes blieb es unbestimmt, welchem von beiden Begriffen die Funktion des Subjekts, und welchem die des Prädikats man geben wolle. Denn man kann auch sagen: Einiges Teilbare ist ein Körper." (B 128). Folgt man aber der transzendentallogischen Devise, nach der die gegenstandsbegründende und einigende Handlung des denkenden und sprechenden Subjekts mit einzubeziehen ist, dann ist das Subjekt des Satzes als gegenstandshaltig, als substantiell aufzufassen: dann ist es ausgemacht, daß in dem Satze „Alle

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Körper sind teilbar" die Körper, sofern man sie als substantiell auslegt, von ihrer Subjektstelle nicht vertrieben werden können und daß die empirische Anschauung des Körpers „in der Erfahrung immer nur als Subjekt, niemals als bloßes Prädikat betrachtet werden" dürfe. Das Primat des Subjekts im Satze ist, transzendentallogisch gesehen, deshalb motiviert, weil der Begriff, den es ausdrückt, nur durch Handlung, insbesondere durch Konstruktion, d. i. durch Darstellung in der reinen Anschauung realisiert werden kann. Das Subjekt benennt niemals einen schon vorhandenen Gegenstand, sondern ist der Name für ein konstruierendes Herstellen des Bildes vom Gegenstande. Macht ζ. B . der Geometer über den Kreis die Aussage, er sei der geometrische O r t all der Punkte, die vom Mittelpunkt gleich weit entfernt sind, so behauptet Kant, diese sei als Anweisung für eine konstruktive Handlung zu interpretieren. In ihr sei eine vom Verstände diktierte „ R e g e l " angegeben, welcher der das Bild des Kreises in der reinen Raumanschauung Darstellende zu folgen hat, um die Punkte zu finden, die bei der Beschreibung einer Kreisfigur verbunden werden müssen. Urteilsbildung über den Kreis und Konstruktionshandlung gehen dabei zusammen: das Urteil kann nur dann objektive „Re-alität", d. h. sachliche Gültigkeit beanspruchen, wenn es das Urteilssubjekt, über welches es prädiziert, nicht als „gegeben" hinnimmt, sondern es in einer apriorischen Handlung aufbaut. Kant radikalisiert das neuzeitliche Arbeitsprinzip, welches schon in der empiristischen Kritik an den eingeborenen Ideen zur Geltung kam, dadurch, daß er es apriorisch verankert, indem er sich auf apriorische Handlungsweisen des Verstandes von der Art der transzendentalen Bewegung beruft, wie sie ζ. B . im konstruktiven Einschlag des Urteils und der in ihm geleisteten realen Synthesis zum Ausdruck kommen. Die Urteilskraft subsumiert nicht einfach vorgefundene einzelne Gegenstände unter allgemeine Begriffe, sondern funktioniert nach der Voraussetzung einer Konstruktion des einzelnen Bildes, bei der die produktive Einbildungskraft federführend ist. Diese verfügt über einen transzendentalen „Schematismus", welcher das „Verfahren" für die Ver-bildlichung und Realisierung des Begriffes abgibt. Schema ist die Methode des Verfahrens, bei dem ein Begriff, ζ. B. der des Kreises, in der Gestalt eines anschaulichen Bildes dargestellt und damit realisiert wird, statt bloß l o g i s c h e Möglichkeit des beliebigen Vorstellens zu bleiben. Die „Existenz" der mathematischen Gegenstände insbesondere beruht auf ihrer Konstruierbarkeit durch das Schema. Das Fazit ist: das von der transzendentalen

Konstruktion und transzendentale Konstitution

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Logik berücksichtigte Prinzip des konstruktiven Handelns bietet die Handhabe für eine subjektlogische Auffassung.

10. Konstruktion

und transzendentale

Konstitution

N u n gilt es, einen wichtigen Unterschied zu bedenken, der zwischen zwei verschiedenen Formen apriorischen Handelns bzw. transzendentaler Bewegung zu berücksichtigen ist. Es ist, kurz gesagt, der Unterschied zwischen Konstruktion und Konstitution. Was hat es mit diesem Unterschied auf sich? Konstruktion ist Darstellung des Begriffes in der reinen Anschauung: Verbildlichung, Realisierung, „Anwendung" des Begriffes auf Besonderes. A b e r die eigentlich transzendentale Fragestellung zielt nicht primär darauf ab, die ursprünglichen Handlungen der Herstellung der apriorischen G e g e n s t ä n d e zu analysieren. Transzendentalphilosophie ist nicht primär Wissenschaftstheorie, welche wissenschaftliches Erkennen vorwiegend als Konstruieren erweisen würde. Sie stellt nicht in erster Linie die Frage, wie Verstand und Einbildungskraft bei ihren Konstruktionshandlungen verfahren. Vielmehr richtet sie ihre Intention auf diejenigen apriorischen Handlungen der erkennenden Vernunft, die sich auf einer im Verhältnis zu den Konstruktionen noch grundlegenderen und tieferen Ebene vollziehen. Die Richtung, in der die eigentlich transzendentale Ebene zu erreichen ist, kann man durch folgende Frage andeuten: welcher Charakter muß dem Gegenstand durch ursprüngliche, gegenstandsbildende Handlungen des Verstandes verliehen worden sein, wenn es gilt, daß er nur auf Grund von Konstruktionshandlungen begreifbar und beurteilbar ist? Damit ist die Frage nicht nach der Konstruktion des Gegenstandes gestellt. Thema der transzendentalen Frage ist vielmehr die Herkunft und Bildung des gegenständlichen Charakters überhaupt, der G e g e n s t ä n d l i c h - k e i t des Gegenstandes als solcher. Aufbau und Bildung nicht des Gegenstandes, sondern der Gegenständlichkeit als solcher geschieht in transzendentalen Grundhandlungen des Verstandes, welche der eigentliche Gegenstand der Transzendentalphilosophie sind. Die transzendentalen Leistungen der Formen der transzendentalen Bewegung, welche nicht den Gegenstand, sondern die Gegenständlichkeit aufbauen und dem Gegenstand seine „objektive Realität" sichern, kann man mit dem von Kant gewählten Namen der „Konstitution" der Gegenständlichkeit bezeichnen. Diese ist von der Handlung des Konstruierens zu unter-

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

scheiden, welch letztere nicht einen Aufbau der Gegenständlichkeit als solcher, sondern des Gegenstandes selbst leistet. Dieser in der Konstruktion zur Realität gebrachte Gegenstand verdankt seinen Charakter als solcher, d. h. seine Gegenständlichkeit noch ursprünglicheren Formen der transzendentalen Bewegung, die als Handlungen der Konstitution der Gegenständlichkeit anzusprechen sind. Diese auch das Begreifen und Konstruieren des Gegenstandsbegriffes fundierenden Handlungen, durch welche die Gegenständlichkeit als solche, nicht aber der einzelne Gegenstand aufgebaut wird, sind eigentliches Thema der Transzendentalphilosophie. 59 In diesem Zusammenhang, in welchem die Transzendentalphilosophie als Wissenschaft von den ursprünglichen, die Konstitution der Gegenständlichkeit als solcher leistenden Handlungen angesprochen wird, mag noch einmal die Aufmerksamkeit auf die transzendentale Konstellation gelenkt werden. In ihr wird die „Stellung" erkannt, die sich das erkennende Subjekt seinem Gegenstand gegenüber bestimmt. Während der Aspekt der Intersubjektivität an späterer Stelle zur Sprache kommen soll, mag im Zusammenhang mit der Frage der Konstitution der Gegenständlichkeit die Stellung des Subjekts oder der Subjekte zum Gegenstand so charakterisiert werden: Gemäß der transzendentalen Konstellation ver-setzt sich das erkennende Subjekt in die Situation des Gesetzgebers, welcher eine Verfassung für die Gegenständlichkeit der Gegenstände, für die Sachheit der Sachen bestimmt. Diese Bestimmung des Sachcharakters der Sachen ist gleichbedeutend mit einer konstitutiven Aufbauarbeit, deren Prinzipien in den synthetischen Grundsätzen festgelegt sind. Der Sachcharakter der Sachen besteht darin, daß sie als gestalthaft und meßbar, als substantiell und der Kausalität sowie der Wechselwirkung unterworfen transzendental beschrieben werden. Gemäß der transzendentalen Konstellation bewährt sich „Ich denke" als „Herr" der Sache dadurch, daß es deren Sach-heit (Realität) produziert. Anders gesagt: das erkennende Subjekt behauptet seine Freiheit, indem es dem „Gegebenen" die Stellung der Sache „für uns", der „Erscheinung" anweist, diese also in Raum- und Zeitformen hineinstellt und Notwendigkeit über sie verhängt. Schon an dieser Stelle der transzendentalen Argumentation begegnet das Prinzip: „Freiheit", nicht erst in der praktischen Philosophie. Kant erklärt an mehreren bekannten Stellen, daß sein „Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus", 59

„Ich nenne alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l , die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt." (B 25)

Konstruktion und transzendentale Konstitution

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demgemäß Raum und Zeit transzendentale Idealitäten darstellen, die einzig mögliche Uberwindung des spinozistischen Determinismus bewirke. Denn die Freiheit, der die transzendentale Konstellation eine charakteristische Stelle angewiesen hat, bewährt sich nur dadurch, daß sie den Gegenständen, den zu erkennenden Sachen jeden substantiellen An-sichCharakter aberkennt und ihre gegenständliche Sachnatur als vom freien Subjekt produziert erklärt. D e r Anspruch auf transzendentale Freiheit des Ich-denke und die Leugnung des An-sich-Charakters der Erkenntnisgegenstände sind komplementär zueinander. Schelling trifft ins Schwarze, wenn er sagt: „Was O b j e k t für mich ist, kann nur e r s c h e i n e n ; sobald es mehr als Erscheinung für mich ist, ist meine Freiheit vernichtet." 60 „Ich denke" konstituiert die Gegenständlichkeit der Gegenstände dadurch, daß es den Erkennenden dazu verpflichtet, sich eines transzendentalen Schemas zu bedienen als eines Verfahrens, mit Hilfe dessen die Gegenstände konstruiert, d. h. in der apriorischen Anschauung dargestellt werden können. Vor uns steht ein Teller. Er ist als Gegenstand empirischer Anschauung „gegeben". Es fragt sich, wie der Transzendentalphilosoph das Verfahren des Verstandes beschreibt, wenn dieser sich die Aufgabe stellt, den Begriff des „Runden" bzw. des Kreises auf die empirische Anschauung „anzuwenden". Sicher ist man richtig beraten, wenn man sich mit Kant auf die Urteilskraft beruft, welche über die Fertigkeit verfügt, den auf dem Tisch vor mir stehenden Gegenstand als „kreisartig" zu beurteilen, das Besondere auf das Allgemeine zu beziehen und es darunter zu subsumieren. Aber soll die Frage der Subsumtion durch die Urteilskraft nicht formal-logisch, sondern transzendental-logisch gestellt und beantwortet werden, so ist zu bedenken, daß in diesem Falle das „Besondere" ein G e g e n s t a n d ist, der in der Anschauung gegeben ist und im Angesicht dessen der Verstand bei der Erfüllung der Aufgabe beobachtet werden soll, nicht nur Besonderes unter Allgemeines zu subsumieren, sondern anschaulich Gegebenes auf den „Begriff" bzw. zur „Sprache" zu bringen. Dabei ergibt sich: der Teller würde uns noch nicht einmal zur anschaulichen Gegebenheit kommen, wenn wir ihn nicht von vornherein (a priori) in die Stellung des Gegenstandes bzw. der Sache für uns gerückt und ihn als etwas bestimmt hätten, welches von uns „gemacht", konstruiert, synthetisch aufgebaut, zusammengesetzt werden muß. Im Falle des Tellers: der Verstand liefert den Begriff des Kreises, der als eine allgemeine Regel fungiert, nach welcher die 60

Schellings Werke (Schroeter), München 1927, Bd. I, S. 171.

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V o m ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Figur des hier vor mir stehenden Gegenstandes in der Anschauung konstruiert wird. Konstruktion als Produktion des Bildes, welches den Begriff realisiert, stellt erst die Situation her, in welcher es für die Urteilskraft als einer logischen Instanz ein Besonderes in der Gestalt eines einzelnen bildhaften Gegenstandes gibt, welches unter einen allgemeinen Begriff — im Falle des Beispiels ist es der Begriff des Kreises — zu subsumieren ist. Kant spricht von der „Funktion" des Verstandes, welche er als die „Einheit der Handlung" erklärt, das Viele zur objektiven Einheit zu bringen. Diese Funktion bleibt gegenstandslos, das Denken bleibt in seinem eigenen bedeutungs-losen Herstellen bloß formaler Einheit befangen, wenn es nicht durch Gebrauch des Schemas das dem Begriff entsprechende Bild konstruiert und dadurch aus der anschaulichen „ G e gebenheit" einen subsumierbaren G e g e n s t a n d macht. Diese Aussage ist eine transzendentale Konstitutionsbestimmung: Sie betrifft den transzendentalen Aufbau der Gegenständlichkeit der Gegenstände. In dieser Konstitutionsbestimmung wird dem Verstand, der die Aufgabe des Erkennens der G e g e n s t ä n d e hat, die Auflage der Konstruktion dieser Gegenstände gemacht. Transzendentalphilosophie konstruiert nicht selber: aber sie gibt eine Theorie der transzendentalen Konstellation, in welcher die Gegenständlichkeit der Gegenstände als deren Konstruierbarkeit und Konstruierbedürftigkeit bestimmt wird. „In der T a t bleibt den reinen Verstandesbegriffen allerdings auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingung eine, aber nur logische Bedeutung der bloßen Einheit der Vorstellungen, denen aber kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Objekt abgeben könnte. So würde ζ. B. Substanz, wenn man die sinnliche Bestimmung der Beharrlichkeit wegließe, nichts weiter als ein Etwas bedeuten, das als Subjekt (ohne ein Prädikat von etwas anderm zu sein) gedacht werden k a n n . " (B186) Damit ist gesagt: Begriffe müssen, um reale Bedeutung zu gewinnen, primär als zeitliche, dann auch als räumliche Objektbestimmungen ausgearbeitet werden. Zugleich müssen sie den Weg bezeichnen, den das denkende Subjekt in seiner „transzendentalen Bewegung" geht, durch welche es die Gegenständlichkeit des Gegenstandes konstituiert und den Begriff des Gegenstandes überhaupt darstellt bzw. konstruiert. Auf der Ebene des logischen Aufbaus des Urteils aus Subjekt, Prädikat und Kopula ergibt sich demgemäß aufs neue: das Subjekt im Satze repräsentiert den Gegenstand. Das heißt aber zugleich: es repräsentiert ihn als Ergebnis der synthetischen Aufbaubewegung, die das „Ich denke" mit

Konstruktion und transzendentale Konstitution

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dem Ziel einer Konstitution der Gegenständlichkeit und einer Konstruktion des G e g e n s t a n d e s leistet. Der Weg zu diesem Ergebnis der Darstellung und Herstellung des Gegenstandes führt über die Einholung der Prädikate. Das Satzsubjekt durchdringt die von ihm ausgesagten und mit ihm synthetisch verbundenen Prädikate mit der Einheit, die „Ich denke urteilend" bei seiner Urteilshandlung und deren „Funktion" geltend macht. Diese Einheit begegnet wieder in gegenständlicher Weise, sofern der Gegenstand als Substanz seine Zustände, die er im Laufe der Zeit durchläuft, als s e i n e Weisen des Existierens vereinigt. So fächert sich die „Einheit", welche als Handlung des Vereinigens zu begreifen ist, in dreifacher Weise: sie tritt in der denkend-darstellenden Arbeit des Subjekts, das seine Vorstellungen zur Einheit bringt, hervor; ebenso begegnet sie im Bereich des Urteilens, in welchem das Subjekt seine Prädikate mit Einheit durchdringt; und zuletzt ist auch die gegenständliche Ebene zu nennen, in der sichtbar wird, daß der Gegenstand als Substanz seine in der Zeit durchlaufenen Zustände einheitlich zusammenfaßt und durchdringt. Auf der Ebene des Urteils vollzieht sich „logische", auf derjenigen der Realisierung der Begriffe durch Konstruktion „reale" Synthesis. Die logische Vereinigung der prädikativen Vorstellungen zur Einheit des Subjekts entspricht zugleich auch einer Verbindung anschaulicher Bildelemente zum Ganzen der Gestalt. Der Satz: „ D e r Kreis ist geometrischer O r t der vom Mittelpunkt gleichweit entfernten Punkte" schafft eine logische Verbindung zwischen dem Subjekt-Begriff: Kreis und seinem Prädikat. Zugleich enthält er eine reale Synthese, die in der durch ihn auch ausgesprochenen Aufforderung vollzogen wird, die entsprechende Figur konstruktiv zu beschreiben. Dabei vollzieht sich eine „Geschichte" des Produzierens in transzendentaler Bewegung. Schematisierung der Kategorie bedeutet ihre selbst unzeitliche Erstreckungsbewegung in die Zeit hinein, auf Grund welcher sich die Begriffe bildlich darstellen und Urteile als sprachliche Gebilde von der Art produziert werden können, wie ζ. B . : Dieser Teller ist kreisartig. Man kann von einer Geschichte der Darstellung sprechen, in der sich die die Raumgestaltung konstruierende Beschreibungshandlung zeitlich auseinanderlegt und sich selbst zur Zeitgestalt vereinigt. Ebenso zeigt sich diese Geschichte von ihrer logischsprachlichen Seite her, sofern sich in ihr die Urteile als sprachliche Gebilde vollziehen. 6 1 61

Vgl. meine „Philosophie der Beschreibung", K ö l n / G r a z 1968, besonders S. 2 5 7 f f .

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Vom ontologischen zum transzendentalen Begriff des Handelns

Diese Geschichte bewirkt zeitliche und räumliche Ausdehnung und zugleich Einigung der dabei durchlaufenen Mannigfaltigkeit. Demgemäß bezeichnet Kant das Schema als ein „transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt nach Bedingungen seiner Form (der Zeit) in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, sofern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in e i n e m (gesp.v.Verf.) Begriff zusammenhängen sollten." (B 181) Die Handlung des konstruierenden Darstellens ist einerseits ein nach einer Regel verfahrendes Durchlaufen vieler „Hier" und „Jetzt" und andererseits ein Zusammensetzen dieser Mannigfaltigkeit. Dabei resultiert die Einheit von räumlichen Gestalten ebenso wie die der Zeitgestalt der Geschichte, in der ich den Begriff konstruiere und damit zugleich auch urteilend seine anschauliche Realität ausspreche. 62 Diese Überlegungen sind in Kants Philosophie der transzendentalen Leiblichkeit hinein zu verfolgen: dabei wird erkennbar, daß aus den späten Aussagen Kants zu diesem Thema hervorgeht, daß er auch den Leib des Menschen als Ergebnis einer Vernunftaktivität begreift und ihn vom Denken, Urteilen und Sprechen her auslegt. Die Rolle des Leibproblems im Bereich der Handlungstheorie wäre aber ein Thema für sich. 63 Im folgenden Kapitel wird das Terrain des Themas: Transzendentale Handlung und Kommunikation näher durchsucht werden. Als bisheriges Ergebnis mag festgehalten werden: der ontologische Handlungsbegriff, zu dem Kategorien wie Substanz, Kausalität, Kraft gehören, be-handelt seinen Gegenstand als Geschehen, welches an Objekten feststellbar ist. Gemäß der „Stellung" des traditionellen metaphysischen Denkens zum Gegenstand, die mit derjenigen der heutigen analytischen Philosophie 62

Daß ich mich durch synthetisches Zusammensetzen in einer transzendentalen, selbst unzeitlichen Bewegung in die Zeit hineinerstrecke, wenn ich Raumgestalten produziere, wird auch aus einer Stelle des Briefes an Tieftrunk vom 11. 12. 1797 deutlich: „ . . . sondern der Begriff oder das Bewußtsein des Z u s a m m e n s e t z e n s (einer Funktion, die allen Kategorien als synthetischer Einheit der Apperzeption zum Grunde liegt) muß vorhergehen, um das Mannigfaltige der Anschauung Gegebene sich in einem Bewußtsein verbunden, d.i. das Objekt sich als etwas Zusammengesetztes zu denken, welches durch den Schematism der Urteilskraft geschieht, indem das Z u s a m m e n s e t z e n mit Bewußtsein zum innern Sinn, der Zeitvorstellung gemäß einerseits, zugleich aber auch auf das Mannigfaltige in der Anschauung Gegebene andererseits bezogen wird." (XII, S. 222). An dieser Stelle wird auch noch einmal deutlich, daß das anschaulich „Gegebene", vom Standpunkt der Verstandesund Urteilsaktivität betrachtet, kein unmittelbar Gegebenes bleibt, sondern in ein von mir produziertes g e g e n s t ä n d l i c h - G e g e b e n e s verwandelt wird.

63

Vgl. meine „Philosophie der Beschreibung", Köln/Graz 1968, S. 257ff., 466ff.; ebenso die vorliegende Untersuchung S. 311 ff.

Konstruktion und transzendentale Konstitution

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übereinstimmt, wird primär vom „Handeln" der Objekte gesprochen. Die transzendentale Wendung bei Kant, die zu einer veränderten Stellung des Gedankens zur Objektivität führt, kündigt sich schon im Bereich der ontologischen Theorie des Handelns dadurch an, daß Kant die am Objekt faßbaren Handlungs-Charaktere als gegenständliche Spuren der Aktivität des „Ich denke" bzw. „ich urteile, spreche" interpretiert. So führt der Gedankengang zwangsläufig auf den Begriff des transzendentalen Handelns, das in der Form des Konstituierens und des Konstruierens begegnet. Konstruktion bedient sich des Schemas, welches ein Verfahren des Darstellens der Begriffe in der Form von Raumgestalten und zugleich des Aussagens über das Verhältnis von allgemeinem Begriff und besonderem Bild auf Grund der Urteilskraft begegnet. In diesem Zusammenhang wird auch die Subjekt-Prädikatsstruktur des ausgesprochenen Satzes handlungstheoretisch interpretiert. Transzendentales Handeln begegnet in der Doppelform des Konstruierens und des Urteilens: das Zusammenwirken beider Leistungen begründet die Möglichkeit objektiver Aussagen. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, die Aktivität der subjektiven Vernunft im Lichte der Frage der Kommunikation zu betrachten. Die Bedeutung dieses Schrittes wird einsichtig, wenn man bedenkt, daß die transzendentale Konstellation bisher nur im Hinblick auf das „Verhältnis" zwischen dem subjektiven „Ich denke" und dem von ihm bearbeiteten Gegenstand betrachtet wurde. Jetzt geht es darum, die Struktur der dabei erkennbar gewordenen Handlungen darauf hin zu untersuchen, in welcher Weise in ihnen der Bezug zwischen den Subjekten untereinander wirksam wird.

II. Kapitel

Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung 1. Denkhandlung

als Synthesis: transzendentale Erweiterung

Kant kommt in einem Brief 1 an J . H. Tieftrunk auf die „Anwendung der Kategorien auf Erfahrungen" zu sprechen und drückt die Gewißheit aus, „dieses jetzt auf eine Art tun zu können, die befriedigend ist und zugleich ein neues Licht über diese Stelle im System der Kritik verbreitet . . . " Dabei kommt die Rede darauf, daß das in der Anschauung „Gegebene" durch eine Handlung des synthetischen „Zusammensetzens" eingeholt werden muß. Diese Handlung ist keine „besondere Kategorie", sondern ist als einigendes „Ich denke" die Seele aller Kategorien. Handelnd in diesem Sinne bauen wir den gegenständlichen Charakter des Gegenstandes auf: so sind die Erkenntnisse, die wir über ihn gewinnen, durchaus unser Eigentum, das wir durch Arbeit im Rahmen einer Verfassung gegenständlichen Denkverhaltens erworben haben. Daher kann das Zusammengesetzte als solches nicht „ a n g e s c h a u e t " werden. Vielmehr muß ich das Objekt als ein von mir methodisch Aufgebautes, „Zusammengesetztes" denken, in welchem sich die vom „Ich denke" in der Geschichte seines denkenden Aufbauens vollzogene Einheit objektiv niederschlägt: „. . . welches durch den Schematism der Urteilskraft geschieht indem das Z u s a m m e n s e t z e n mit Bewußtsein zum innern Sinn, der Zeitvorstellung gemäß einerseits, zugleich aber auch auf das Mannigfaltige in der Anschauung Gegebene andererseits bezogen wird . . . " So versteht sich „Ich denke" im Rahmen der transzendentalen Konstellation in der Weise als a priori handelnd, konstruierend, zusammensetzend, daß es sich des Instrumentes der Kategorien bedient, um mit ihnen die Gegenständlichkeit aufzubauen und dann den Gegenstand selbst

1

vom 11. 12. 1797 ( X I I , S. 222).

Denkhandlung als Synthesis: transzendentale Erweiterung

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zu konstruieren, wobei es die eigene Einheit und Identität in das Produkt einbringt. So kommt am Ende die Einheit des Objektes zustande: sie ist das Ergebnis der Einheit der Handlungsgeschichte, die „Ich denke" beim Aufbau des Objekts in Gang gesetzt hat. Diese Geschichte selbst wieder ist als kontinuierlicher, einiger Zusammenhang zeitlicher Entfaltung zu verstehen, sofern in ihr „Ich denke" handelt, das diese Geschichte zur Einheit seiner eigenen „Ich denke"-Identität zusammenfaßt. In dieser Geschichte vollzieht sich eine „Erweiterung" im transzendentalen Sinne. Erweiterung geschieht schon auf der Ebene der Aussagen über das Objekt: Kant bezeichnet das synthetische Urteil als „Erweiterungsurteil" im Unterschied zum analytischen, welches „erläuternd" verfährt. Im synthetischen Urteil macht sich die Aufbauaktivität des Verstandes geltend, welcher sich dadurch „zeitigt", daß er durch Einsatz seiner eigenen Einheit eine zusammenhängende Handlungsgestalt produziert. Dabei kommt eine „Erweiterung" zustande, etwa in der Gestalt des Zählens, wobei jeweils immer neue Einsen zu dem bereits vorhandenen quantitativen Bestand hinzugenommen werden. Auf Grund dieser konstruktiven Erweiterung ergibt sich auch eine logische: sofern im synthetischen Satz zu dem vorhandenen „Bestand" des Subjekts neue Inhalte im Prädikat hinzugebracht werden. Transzendentale Erweiterung ist aber auch als Selbst-erweiterung des „Ich denke" verstehbar: in dem Sinne, daß sich dieses durch transzendentales Handeln in die Geschichte seines Produzierens ausdehnt und diese Geschichte mit seiner eigenen Einheit und Identität durchdringt. Indem sich „Ich denke" im Gegenstand seiner eigenen synthetischen Handlungen bewußt wird, begreift es dessen Aufbau zugleich als Entfaltung seiner selbst. Es erstreckt sich in die Geschichte seines eigenen Objektaufbaues und Zusammensetzens hinein. Der Gedanke der Erstreckung bzw. Ausdehnung, welche sich in der transzendentalen Bewegung apriorischen Darstellens vollzieht, gibt der Auffassung Kants Sinn, daß „Ich denke" alle einzelnen Vorstellungen, die ich in der Geschichte des Darstellens durchlaufe, müsse „begleiten" können, damit daraus ein einziges Objekt und eine einzige Geschichte des Darstellens werde. Mit Recht korrigiert Hegel den Ausdruck „begleiten" in das Wort: „durchdringen". Auch im synthetischen Urteil wird deutlich, daß „Ich urteile synthetisch" nicht nur eine Erweiterung des Subjekts durch synthetisierend hinzukommende Prädikate bedeutet, sondern daß ich mich als der Sprechende und diese Prädikate Hinzufügende in einer transzendentalen Bewegung des „Ich dehne mich aus" befinde. Insofern

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

ist die Handlung des urteilenden Sprechens im Aspekt der transzendentalen Erweiterung zu sehen. In diesem Zusammenhang erweist es sich als notwendig, die vom „Ich denke" bzw. „Ich spreche" ins Werk gesetzte Einheit als echte Identität, als „Ganz-heit" zu erweisen und von der Kantischen Rede vom „Zusammensetzen" die ungenügende Vorstellung abzuhalten, als ob es sich hierbei um ein mechanistisch verstandenes Aneinandersetzen handle. Um einzusehen, daß ζ. B. der Begriff Kreis oder das synthetische Urteil: 1 + 1 = 2 nicht nur Zusammensetzung bedeutet, sondern daß sich durch die Konstruktionshandlung eine „ganze" Kreisfigur oder ein „ebenso ganzer Urteilssinn" herstellt, muß die Bewegung der Synthesis selbst als kontinuierliche, sich Raum- und Zeitgestalt gebende transzendentale Geschichte verstanden werden. Aus dem Kantischen Ansatz resultiert, daß Erkennen den Charakter des sich ausdehnend-erweiternden Handelns annimmt und eine für Sprache grundlegende Verbindung von Denken und Leiblichkeit vollzieht, die nicht nur Ergebnis eines Aneinanderfügens ist, sondern die von der Einfachheit des „Ich denke" durchdrungen ist. Als Produkte der Geschichte des Beschrieben- und Konstruiertwerdens aufgefaßt, sind die gegenständlichen Gestalten nicht „nur" von der Natur des Zusammengesetzten, sondern zeigen Ganzheitscharakter, sie sind „einfach". Das resultiert daraus, daß in ihnen die Handlung des identischen und einfachen „Ich denke" gegenwärtig ist. Spricht ζ. B. Kepler sein erstes Gesetz aus, demzufolge die Planeten sich in einer Ellipsenbahn bewegen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht, so ist die dabei genannte Bewegungsgestalt nicht nur als Produkt der Zusammensetzung aus Punkten aufzufassen, sondern erinnert an die transzendentale Bewegung des diese Figur beschreibenden „Ich denke". Die Geschichte dieser Beschreibung der Ellipsengestalt ist ein sich einigender Vollzug. Sie besteht in einer Handlung der Selbsterweiterung des seiner Identität bewußten „Ich denke". Die „ursprüngliche" Einheit des seiner Identität in der Beschreibungshandlung bewußten Ich denke findet sich im Produkt der Handlung wieder, deren einzelne Schritte durch das Bewußtsein, daß ich sie tue, zum Ganzen einer einzigen Geschichte zusammengehalten werden. Diese Geschichte kann aus dem Produkt wieder herausdestilliert werden; dann ist es möglich, dieses als ein „nur" zusammengesetztes Gebilde zu deuten. Transzendentalphilosophisch gesehen aber spiegelt der Einfachheitscharakter des Produkts denjenigen der Einheit der darstellenden Handlung und schließlich das ursprüngliche Ganze des „Ich denke" wider. Daß dieses dem Objekt seine identische „Einheit" mitteilen

Denkhandlung als Synthesis: transzendentale Erweiterung

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kann, die ihren Niederschlag im Objekt findet, ist dadurch bedingt, daß das Objekt und ebenso die Begriffe vom Objekt und die Aussagen darüber durch subjektive apriorische Handlungen zustande kommen. „Um aber irgendetwas im Räume zu erkennen, ζ. B. eine Linie, muß ich sie z i e h e n und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird. Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich O b j e k t zu w e r d e n , weil auf andere Art und ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich n i c h t in e i n e m (gesp. v. Verf.) Bewußtsein vereinigen würde." (B 138) Dieser Satz, so geht es weiter, besage nichts weiter, als daß alle „ m e i n e Vorstellungen in irgendeiner gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als m e i n e Vorstellungen zu dem Identischen selbst rechnen, und also als in einer Apperzeption synthetisch verbunden durch den allgemeinen Ausdruck „ I c h d e n k e " zusammenfassen kann." Wenn das Subjekt als eine Bewegung vollziehend und sich in „Er-weiterung" befindlich angesprochen wurde, so gilt es, diese Aussage kritisch zu deuten. Der Satz darf natürlich nicht dazu verleiten, das transzendentale Subjekt als objektives Ding zu begreifen, das in das Netz vom Raum und Zeit eingeflochten ist und nur als sich „im" Räume und „in" der Zeit befindlich aufgefaßt wird. Vielmehr ist er so zu verstehen, daß sich das darstellend-beschreibende Subjekt s e l b s t räumlich und zeitlich ausdehnt und dadurch Raum und Zeit erst als Perspektiven zur Geltung bringt, in welche objektive Dinge gerückt werden können. Das Subjekt, welches von sich Erweiterung in Raum und Zeit und Aus-dehnung aussagt, spricht in philosophischer Rede über sich selbst: es macht sich damit nicht zur bloßen Erscheinung. Während von den Dingen in Raum und Zeit Ausgedehnt-heit auszusagen ist, vollzieht das transzendental beschreibende Ich denke eine Bewegung des Sich-Ausdehnens, Beschreibens und des „Konstruierens": es ist nicht mit Leiblichkeit versehen, sondern v o l l z i e h t seine Leiblichkeit in der handelnden Bearbeitung der Objekte. 2 2

Vgl. meine Untersuchungen: Die Metapyhsik des Raumes bei Leibniz und Kant, Köln 1960; ebenso: Der philosophische Begriff der Bewegung, Köln/Graz 1965; auch verweise ich auf den Aufsatz „Leibbewußtsein und Welterfahrung beim frühen und späten Kant, Kant-Studien, Bd. 54 (1963), H. 4, S. 464ff.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Zu diesen kritischen Überlegungen ist auch folgendes zu erwähnen: in der „Kritik des zweiten Paralogismus der transzendentalen Psychologie" (A 351) zeigt Kant, daß der Schluß der transzendentalen Psychologie, die Seele bzw. das denkende Ich sei „einfach", dann falsch sei, wenn man ihn so dinghaft versteht, wie es bei den dogmatischen Metaphysikern der Fall ist. Denn „Gegenstand" solch eines Schlusses kann nur eine in den Erscheinungszusammenhang gehörige einfache Substanz sein, für die man in gedanklichen Schritten aus gewissen Prämissen durch „Beweis" die Einfachheit schließt. „Ich denke" ist nicht in Raum und Zeit versetzbar: aber es begreift sich selbst als sich in Raum und Zeit hinein ausdehnend und sich in diesem Sinne erweiternd. Es denkt sich als Geschichte einer Handlung des Selbstdarstellens und prädiziert sich auf diesem Standpunkt als „einfach", ohne dieses Prädikat durch Beweis abzuleiten oder in objektiv erkennender Arbeit auszusagen. Philosophie deutet ihre Sätze anders als Naturwissenschaft: nicht konstruierend und objektbezogen, sondern durch mitvollziehendes Begreifen der eigenen begrifflichen Bewegung. „Es ist offenbar: daß, wenn man sich ein denkend Wesen vorstellen will, man sich selbst an seine Stelle setzen und also dem Objekte, welches man erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben müsse (welches in keiner anderen Art der Nachforschung der Fall ist), und daß wir nur darum absolute Einheit des Subjekts zu einem Gedanken erfordern, weil sonst nicht gesagt werden könnte: Ich denke (das Mannigfaltige in einer Vorstellung). Denn obgleich das Ganze des Gedankens geteilt und unter viele Subjekte verteilt werden könnte, so kann doch das subjektive Ich nicht geteilt und verteilt werden, und dieses setzen wir doch bei allem Denken voraus" (A 353/54). Während das einzelwissenschaftliche Denken seinen Gegenstand schematisch darstellt und seine Urteile in einer Konstruktionsbewegung synthetisch erweitert, bringt philosophisches Denken und Sprechen die Erweiterung des „Ich denke" und dessen Charakter der Einfachheit so zur Geltung, daß es von diesem Denken sagt, es „versetze" sich in seinen „Gegenstand", der selbst wieder „Ich denke" ist. Damit wird der Grund für eine Theorie der philosophischen K o m m u n i k a t i o n gelegt. Erweiterung wird jetzt nicht nur als Ausdehnung objektiver Horizonte, sondern als Übergang über die Grenzen des ego-Bewußtseins und als Teilnahme an den gedanklichen Bewegungen anderer Subjekte verstanden. Durch die Bewegung des sich-versetzenden Denkens wird trotz der Unteilbarkeit (Einfachheit) und der Unmittelbarkeit des ego der Grund für Kommunikation philosophischen Sprechens gelegt. Das Subjekt kann sich wohl

Denkhandlung als Synthesis: transzendentale Erweiterung

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selbst an die Stelle setzen, die in der transzendentalen Konstellation dem zu erkennenden Objekt gebührt: dann macht es sich zur Erscheinung. Aber diese „Stellung" sich selbst gegenüber muß es im philosophischen Denken und Reden über sich aufheben. Eine entsprechende Aussage kann sich nicht der üblichen wissenschaftlichen Methode bedienen und keinen Anspruch auf objektive Erkenntnis erheben. „Ich denke" muß als „bloß s u b j e k t i v e B e d i n g u n g " möglicher Gegenständlichkeit und Erkenntnis begriffen werden. Wir können uns das denkende Wesen nicht „vorstellen", ohne „uns selbst mit der Formel unseres Bewußtseins an die Stelle jedes anderen intelligenten Wesens zu setzen." Das heißt: das philosophische Denken, welches ζ. B . das „Ich denke" zum „Gegenstand" macht und darüber spricht, wird diesem nur durch ein „Verhalten" gerecht, durch das es ihm nicht die Rolle des erscheinenden Objekts anweist: vielmehr muß es sich mit diesem Gegenstand identisch setzen, als dessen Wortführer auftreten und das angesprochene „andere" Subjekt auffordern, die Bewegung des Denkens mitzuvollziehen. Dadurch vermag es den Grund für Kommunikation philosophischen Sprechens über solche Gegenstände wie das „Ich denke" zu legen. Gedankliche Bewegung des Sich-Versetzens und Standnehmens kann selbst nicht „geteilt und verteilt", also sprachlich nicht in o b j e k t i v e r Weise mitgeteilt werden: Kommunikation in der philosophischen Sprache kann nur durch einen individuellen Einsatz jedes Mitsprechenden in der Form eines Standnehmens auf einem mit dem andern gemeinsamen Boden geschehen. Sage ich ζ. B. den Satz von der Einfachheit meiner selbst aus, so fordert kritische Methode eine Auslegung dieses Satzes, dergemäß ihn nur derjenige „richtig", kritisch verantwortbar versteht, der sich auf den Stand des so Sprechenden und seines eigenen philosophischen „Ich denke" selbst stellt. Die Einfachheit ζ. B . meiner selbst wird, so sagt Kant, nicht aus dem Satze: „ I c h denke" g e s c h l o s s e n , sondern sie „liegt schon in jedem Gedanken selbst." Weiter heißt es: „Der Satz: I c h b i n e i n f a c h , muß als ein unmittelbarer A u s d r u c k (gesp. v. Verf.) der Apperzeption angesehen werden, . . . " (A 355). Das transzendental handelnde Ich kann über sich selbst in philosophischer Absicht nur unter der Bedingung denken und sprechen, daß die philosophische Mitteilung als Standnehmen auf der gedanklichen Basis jeweils des einfachen Denkens und Sprechens selbst erfolgt. „ I c h denke" ist ein Satz, dessen Bedeutung vielmehr ein bedeutungsgeladener Vollzug, eine Handlung des sich „Aus-drückens" denn die Vorstellung eines objektiven Sachverhaltes ist.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Daher muß der Leser stutzig werden, wenn Kant von der „Vorstellung" vom „Ich denke" bzw. „Ich" spricht und sagt, „Ich denke" sei ein „Etwas überhaupt (transzendentales Subjekt), dessen Vorstellung allerdings einfach sein muß, eben darum, weil man gar nichts an ihm bestimmt, wie denn gewiß nichts einfacher vorgestellt werden kann, als durch den Begriff von einem bloßen Etwas." (A 355). Durch das Wort Vorstellung wird der Gedanke nahegelegt, als sei: „Ich", entgegen allen kritischen Warnungen, als „Gegenstand", statt als reines Handeln des Standnehmens auf dem Boden der gesetzgebenden und darstellenden Vernunft zu verstehen. Das Denken des „Ich denke" kann daher kein Vor-stellen sein, sondern nur ein Sich-stellen auf den Boden der Denkhandlungen. Ebenso ist das philosophische Sprechen über diesen ungegenständlichen „Gegenstand" nur insofern kommunikabel, als ich jeweils das Standnehmen m i t v o l l z i e h e . Wenn ich sage: „Ich bin eine einfache Substanz, d. i. deren Vorstellung niemals eine Synthesis des Mannigfaltigen enthält", so lehrt mich dieser Satz nicht „das Mindeste in Ansehung meiner selbst als eines Gegenstandes der Erfahrung, weil der Begriff der Substanz selbst nur als F u n k t i o n der Synthesis (gesp. v. Verf.), ohne unterlegte Anschauung, mithin ohne Objekt gebraucht wird und nur von der Bedingung unserer Erkenntnis, aber nicht von irgendeinem anzugebenden Gegenstande gilt." (A 356) Von der philosophischen Sprache und ihrem Kommunikationscharakter unterscheidet sich die einzelwissenschaftliche Sprache. Nicht das auf gemeinsamen Stand sich stellende Denken führt hier die Kommunikation herbei, sondern die gemeinsam vollzogene Darstellung und Konstruktion des G e g e n s t a n d e s in der Anschauung.

2. Kommunikation

in der einzelwissenschaftlichen

Sprache

Jetzt mag auf das „normale", alltägliche und einzelwissenschaftliche Denken und Sprechen zurückgeblickt werden. In diesem Bereich wurde die transzendentale „Erweiterung" bisher im Sinne der Synthesis: sowohl der realen Zusammensetzung zu Raum-Zeitgestalten wie auch der logischen Verbindung von Subjekt und Prädikat betrachtet. Jetzt mag die Erweiterung als Kommunikation, als Ausdehnung des individuellen Horizontes auf die Weite vernünftiger Gemeinsamkeit betrachtet werden. Im Briefwechsel mit J. S. Beck heißt es: der „Inbegriff" objektiver Erkenntnis wird nicht dadurch gewonnen, daß wir uns eines gegebenen

Kommunikation in der einzelwissenschaftlichen Sprache

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Gegenstandes bewußt würden. „. . . denn ein Inbegriff erfordert Z u s a m m e n s e t z e n (Synthesis) des Mannigfaltigen." Er realisiert sich im Bewußtsein als gedankliches H a n d e l n , welches gemeinsam geschieht. „Er muß also (als Inbegriff) g e m a c h t werden und zwar durch eine innere Handlung, die für ein g e g e b e n e s Mannigfaltige überhaupt gilt und a priori vor der Art, wie dieses gegeben wird, vorhergeht, d. i. er kann nur durch die synthetische Einheit des Bewußtseins desselben in einem Begriffe (vom Objekt überhaupt) g e d a c h t werden und dieser Begriff, unbestimmt in Ansehung der Art, wie etwas in der Anschauung gegeben sein mag, auf Objekt überhaupt bezogen, ist die Kategorie . . , " 3 Die Kategorie wird wirksam in der „Funktion" als Einheit der Handlung, verschiedene Eigenschaften zur Einheit der Sache „überhaupt" zusammenzuschließen. Diese Sache ist vorerst „Objekt überhaupt", das, was im Vorigen als „Gegenständlichkeit" bezeichnet wurde. Kommt die Sprache auf ein erscheinendes Objekt, so ist eine Grundhandlung des Subjekts am Werke, in welcher „Ich denke" das Objekt in Raum und Zeit a priori versetzt, um es für die Erkenntnis zurechtzulegen: diese Zurechtlegung besteht in einer apriorischen Versprachlichung der Dinge. In Raum und Zeit Gegebenes wird dadurch unter ein Allgemeines, Gemeinsames und Mitteilbares subsumierbar, daß ihm die Stellung eines „Besonderen" übertragen wird. Objektiv Gegebenes zur Einheit einer Gestalt oder eines Geschehens bringen, es dar-stellen und es auf die Allgemeinheit des Begriffs und die Gemeinsamkeit der Sprache bringen: das sind verschiedene Seiten der apriorischen Verarbeitung des Gegenstandes zur Erkenntnis. 4

3

Brief vom 20. 1. 1972, X I , S. 313ff.

4

Kant faßt die genannten drei Aspekte der apriorischen Handlung des auf die Sprache- und den Begriffbringens der Gegenstände in dem Wort „ B e s t i m m u n g " zusammen. Der Vollzug des U r t e i l s : „Der Mensch ist schwarz" bedeutet „Die Handlung meines Bestimmens", während etwa der Begriff: „Der schwarze Mensch" das Resultat dieses Urteils bedeutet. ( X I , S. 339, Anm.) Das ist der Inhalt einer Bemerkung Kants, die er unter einen von Beck an ihn gerichteten Brief (vom 31. Mai 1792) geschrieben hat: Kant stellt hier eine auf schiefe Weise von Beck durchgeführte Unterscheidung zwischen „Begriff" und „ U r teil" zurecht. Auf das für das Urteil in Anspruch genommene „Handeln" des Bestimmens legt Kant hier im Anschluß an die entsprechende Stelle des Beck-Briefes großen Wert, in der von einer „ H a n d l u n g der objektiven Beziehung", die im Urteil geleistet werde, die Rede war, wobei das Wort Handlung unterstrichen war. Die Korrespondenz mit Beck stand im Zeichen der von diesem übernommenen Aufgabe, Kants Philosophie darzustellen. Das bei Hartknoch, Riga, erschienene Werk (1793-1796) haue den Titel: „Erläuternder Auszug aus den Kritischen Schriften des Herrn Professor Kant auf Anraten desselben".

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Das Urteil vollziehe, so heißt es in einem andern Brief, 5 die „ Z u s a m m e n s e t z u n g der Begriffe" in der Weise, daß eine o b j e k t i v e Darstellung des Gegenstandes und zugleich der „Einheit des Bewußtseins" im Denken dieses objektiven Sachverhaltes und in seiner M i t t e i l u n g geleistet werde. N u r die Handlung dieses Bestimmens, nicht die Entgegennahme eines G e g e b e n e n macht sprachliche Kommunikation möglich. Versprachlichung des Gegebenen bedeutet seine synthetische Verarbeitung und die Verwandlung aus bloß subjektiver Bedeutsamkeit in objektive Gültigkeit. 6 „Zusammensetzung" darf nicht nur als mechanisches Aneinandersetzen verstanden, sondern muß als konstruktive Herstellung, als „Machen" eines Ganzen durch Bewegung begriffen werden. In einem weiteren Brief 7 zielt Kant ausdrücklich und direkt auf die These, daß wir auf dem Wege gemeinsamer Handlung des Darstellens bzw. „Zusammensetzens", auf der unser Aussagen beruht, die „Kommunikabilität" unserer Sätze erwirken. Weil z.B. der Keplersche Satz, daß sich die Planeten in einer Ellipsenbahn um die Sonne bewegen, zugleich Ausdruck der schematischen Darstellung und Beschreibung der Ellipsenbewegung ist und daher den inneren Konstrukteur im Hörer zum Nachvollzug dieser Beschreibung auffordert, ist dieser Satz mitteilbar. Diese Mitteilbarkeit setzt demnach den U b e r g a n g des Denkens aus der Befangenheit in der engen Subjektivität bloßer „Gegebenheit" zu einer gemeinsamen produktiven Regel voraus. Anders gesagt: sie „setzt eine „ E r w e i t e r u n g des Bewußtseins" voraus, die Kant in dem erwähnten Brief so ausdrückt: einer Vorstellung müsse, wenn sie „Erkenntnisstück" werden soll, eine „ B e z i e h u n g auf etwas anderem (als das Subjekt ist, dem sie inhäriert) z u k o m m e n , wodurch sie anderen k o m m u n i k a b e l (gesp. v. Verf.) wird, denn sonst würde sie bloß zum Gefühl (der Lust oder Unlust) gehören, welches an sich nicht mitteilbar ist." N u r durch spontanes Handeln, nicht durch rezeptives Aufnehmen von Gegebenem wird

s 6

7

vom 3. Juli 1792, XI, S. 346. XI, S. 347f.: „Da uns nun kein Zusammengesetztes als ein s o l c h e s gegeben werden kann, sondern wir die Z u s a m m e n s e t z u n g des mannigfaltigen Gegebenen immer selbst m a c h e n müssen, gleichwohl aber die Zusammensetzung als dem Objekte gemäß nicht willkürlich sein kann, kann mithin wenngleich nicht das Zusammengesetzte doch die Form, nach der das mannigfaltige Gegebene allein zusammengesetzt werden kann, a priori gegeben sein muß: so ist diese das bloß Subjektive (Sinnliche) der Anschauung, welches zwar a priori, aber nicht g e d a c h t (denn nur die Z u s a m m e n s e t z u n g als Handlung ist ein P r o d u k t des Denkens) sondern in uns g e g e b e n sein muß (Raum und Zeit) mithin eine e i n z e l n e Vorstellung und nicht Begriff (repraesentatio communis) sein muß . . ." vom 1. Juli 1794, XI, S. 514ff.

Kommunikation in der einzelwissenschaftlichen Sprache

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das Niveau der Gemeinsamkeit erreicht. Es wird deutlich, wie Kant die Rede von der „Erweiterung" versteht: sie begegnet im Falle des synthetischen Urteils, in welchem über das Satz-Subjekt hinaus das logisch und sachlich von ihm verschiedene Prädikat zur Einheit des ganzen Gedankens hinzukommen wird. Erweiterung ist es auch, wenn das denkende und sprechende Subjekt über sich hinausgreift, um eine unter einem gemeinsamen Gesetz der Darstellung und Herstellung stehende Handlung mit anderen zusammen zu vollziehen und so Einheit der Subjekte herzustellen. Schließlich vollzieht auch das philosophische Denken selbst eine „Erweiterung", insofern es Einheit zwischen den divergenten Bereichen der Erfahrungsbegriffe und der Ideen herstellt. 8 Die Möglichkeit der Mitteilung auf der Grundlage gemeinsamen „ M a c h e n s " wird in dem Satze erklärt: „Wir können aber nur das verstehen und anderen mitteilen, was wir selbst m a c h e n können, vorausgesetzt, daß die Art, wie wir etwas a n s c h a u e n , um dies oder jenes in eine Vorstellung zu bringen, bei Allen als einerlei angenommen werden kann." 9 Zusammensetzung können wir nicht als Gegebenes übernehmen, sondern wir müssen sie selbst „machen", wenn wir die daraus resultierende Einheit der gegenständlichen Gestalt oder des objektiven Ereignisses begreifen oder m i t t e i l e n wollen. Kommunikation geschieht in einem gemeinsamen Produzieren. Hier beruft sich niemand auf Gegebenes, ihm allein intuitiv Einsichtiges: in unserem Bewußtsein bauen wir in einem gemeinsamen SynthesisVerfahren den Gegenstand auf. Ein Denken, welches das gemeinsame Werk der Wissenschaft aufzubauen gewillt ist, muß einem vorgezeichneten Wege folgen, der für alle Mitdenkenden und Mithandelnden gangbar ist. Im Interesse der Kommunikation als einer Voraussetzung und eines Ergebnisses gemeinsamer Erkenntnisarbeit opponiert Kant gegen so etwas wie intellektuelle Anschauung. Aus demselben Grunde forciert er den transzendentalen Bewegungscharakter des erkennenden Urteilens und das Prinzip der apriorischen Konstruktion. 10 8 9 10

Fortschritte der Metaphysik, X X , z. B. S. 304. X I , S. 515. X , S. 126: „Plato nahm ein geistiges ehemaliges Anschauen der Gottheit zum Urquell der reinen Verstandesbegriffe und Grundsätze an. Mallebranche ein noch dauerndes immerwährendes Anschauen dieses Urwesens. Verschiedene Moralisten eben dieses in Ansehung der ersten moralischen Gesetze, Crusius gewisse eingepflanzte Regeln zu urteilen und Begriffe, die Gott schon so wie sie sein müssen, um mit den Dingen zu harmonieren, in die menschlichen Seelen pflanzte, von welchen Systemen man die erstere den influxum hyperphysicum das letzte aber die harmoniam praestabilitam inrellectualem nennen könnte.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Es wird deutlich, daß Kants Theorie des Schemas als einer praktizierten Methode der anschaulichen Darstellung zu sprachphilosophischen Überlegungen führt: sprachliche Kommunikation findet nicht nur im Vollzug gemeinsamen Denkens, sondern auch im begrifflich vermittelten Zustandekommen gemeinsamer Anschauung statt. Eine vom Prozeß gemeinsamer Begriffsarbeit abgelöste Anschauung ist nicht nur „blind", sondern auch unmitteilbar. Erst das auf gemeinsame und allgemeingültige Methode schematischer Konstruktion angelegte Denken aber begründet Kommunikation durch die Anweisung zum gemeinsamen Handeln des Miteinanderproduzierens. Entsprechend der Aussage, daß Begriffe ohne Anschauung leer sind, gilt für die Sprachphilosophie, die man auf Grund Kantischer Andeutungen und Voraussetzungen zu entwickeln hätte, daß „Methode" ohne schematische Verwirklichung durch Darstellung in der Anschauung keine sprachliche Vermittlung begründet. Soll es nicht zur zirkelhaften Erklärung kommen, dann muß die Methode, deren gemeinsame Befolgung Kommunikation begründet, durch Vor-machen und Mitvollzug mitgeteilt werden. Diese Mitteilung aber setzt Spontaneität in dem angesprochenen Subjekt voraus. 11 Kommunikation und Selbstdenken bzw. selbständiges Konstruieren sind Wechselbegriffe. Wenn wir von anderen etwas fertig Gedachtes übernehmen, können wir niemals sicher sein, es richtig verstanden zu haben: die Gewißheit der gelungenen Kommunikation stellt sich erst ein, wenn wir die Konstruktionshandlungen, die zu der Erkenntnis führen, mitvollziehen. „. . . denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde; was wir von anderen lernen sollen, davon, wenn es geistige Dinge sind, können wir nie gewiß sein, ob wir es auch recht verstehen, und die sich zu Auslegern aufwerfen, ebensowenig." 12

Allein der deus ex machina ist in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unserer Erkenntnisse das Ungereimteste, was man nur wählen kann und hat außer dem betrüglichen Zirkel in der Schlußreihe unserer Erkenntnisse noch das nachteilige, daß er jeder Grille oder andächtigem oder grüblerischem Hirngespinst Vorschub gibt." 11

Beiläufig mag auf eine Unstimmigkeit hingewiesen werden: wir haben es als eine Konsequenz des Kantischen Ansatzes angesprochen, daß unter Vermittlung der Verstandeshandlungen auch die als rezeptiv angesprochene Anschauung ohne Voraussetzung ihrer angeborenen Gemeinsamkeit kommunikabel wird. Dem widerspricht der Passus in dem ererwähnten Briefe ( X I , S. 515), daß wir nur das verstehen und andern mitteilen können, was wir selbst m a c h e n können, „vorausgesetzt, daß die Art wie wir etwas a n s c h a u e n , um dies oder jenes in eine Vorstellung zu bringen, bei Allen als einerlei angenommen werden kann." Darin ist eine Inkonsequenz Kants zu sehen.

12

X I , S. 496.

Kommunikation in der einzelwissenschaftlichen Sprache

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Kommunikation beruht auf Selbst-handeln bzw. Selbst-handeln, weil nur dadurch die Abhängigkeit vom Zufall der diesem oder jenem Einzelsubjekt vorkommenden Gegebenheit überwunden wird. Ich habe copernikanisch den Stand des Gesetzgebers gewählt, von dessen vernünftiger, allgemeiner Perspektive aus ich denke, urteile, handle. Durch diese Perspektive der Vernunft wird Kommunikation im Sinne methodischer Gemeinsamkeit des Handelns beim Aufbau von Wissenschaft, Recht, Gesellschaft realisierbar. Diese Gemeinsamkeit des Handelns wird im „Resultat", dem „Objekt", greifbar: so kann „Objektivität" der Aussagen als Indiz für deren Kommunikabilität 13 angesehen werden. „. . . Wir müssen z u s a m m e n s e t z e n , wenn wir uns etwas als z u s a m m e n g e s e t z t vorstellen sollen (selbst den Raum und die Zeit). In Ansehung dieser Zusammensetzung nun können wir uns einander mitteilen. Die Auffassung (apprehensio) des mannigfaltigen Gegebenen und die Aufnehmung in die Einheit des Bewußtseins desselben (apperceptio) ist nun mit der Vorstellung eines Zusammengesetzten (d.i. nur durch Zusammensetzung Möglichen) einerlei, wenn die Synthesis meiner Vorstellung in der Auffassung, und die Analysis derselben, sofern sie Begriff ist, eine und dieselbe Vorstellung geben (einander wechselseitig hervorbringen), welche Übereinstimmung, da sie weder in der Vorstellung allein, noch im Bewußtsein allein liegt, dennoch aber für jedermann gültig (kommunikabel) ist, auf etwas für jedermann Gültiges, von den Subjekten Unterschiedenes, d. i. auf ein Objekt bezogen wird." 1 4 Die Bedeutung des Gedankens der Fundierung der Gegenstandslogik auf konstruktives Handeln im Zusammenhang mit dem Prinzip: Kommunikation mag durch eine Konfrontierung mit Frege erörtert werden. 13

14

Eine wenig beachtete Überlegung zur Bildung von Kommunikation, die sich in Schleiermachers „Dialektik" findet, kommt der Kantischen These von der Ermöglichung der Mitteilung durch apriorische Konstruktion nahe. Schleiermacher sieht die „wahre Meinung" (όρθη δόξα) Piatons deshalb als unvollkommen und als der Kommunikation unfähig an, weil sie als fertiges Ergebnis gegeben ist, statt als Resultat konstruktiver Arbeit begriffen werden zu können. Im Falle der wahren Meinung könne das „Überzeugungsgefühl" nicht aufkommen, weil wir wohl ein Ergebnis behaupten, aber kein Bewußtsein von der „ K o n struktion" dieses Behaupteten haben. Wir haben „nicht durchgeprüft, . . . ob der Gedanke konstruiert sei, wie ihn alle konstruieren müssen . . . " Friedrich Schleiermacher, Dialektik, hg. von R. Odebrecht, Berlin 1942, S. 329; vgl. auch meine Untersuchung: „Schleiermachers Idee der Dialektik", in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, 10. Bd. (1968), H . 3, S. 245ff. X I , S. 515.

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Transzendentale Bewegung als Basis f ü r Kommunikation: Sprache und Handlung

3. B e g r i f f , Urteil und Konstruktionshandlung:

Kant und Frege

Einer der grundlegenden Schritte, mit denen Frege die moderne Logik begründet hat, besteht in der Unterscheidung zwischen Gegenstand und Begriff. 15 Er trifft von anderen Voraussetzungen her dieselbe Unterscheidung, wie wir sie von Kant kennen. Frege unterscheidet das Fallen des Gegenstandes unter einen Begriff (ζ. B. „Sokrates ist ein Mensch") davon, daß ein Begriff mit einem geringeren Allgemeinheitsgrad unter einen allgemeineren Begriff untergeordnet wird. Während der Satz: „Dieses ist eine Ellipse" als Beispiel für den ersten Fall angesehen werden könnte, (Frege spricht von „Subsumtion") könnte als Beispiel für den zweiten Fall der Satz gelten: „Eine Ellipse ist ein Kegelschnitt", (Frege sagt hierfür: Subordination). 16 Kant begreift das Verhältnis von Begriff und Gegenstand im Zuge einer Theorie der als Handlung verstandenen Konstruktion gegenständlicher „Bilder". Bei Frege liegt der Fall anders. Für ihn ist bei der Vermittlung zwischen Begriff und Gegenstand keine darstellende Handlung wichtig: er interpretiert dieses Verhältnis gemäß dem Prinzip der mathematischen „Funktion" und ihren „Argumenten". 17 Der Satz: „Sokrates ist ein Mensch" wird dann als Funktion verstanden, welche die allgemeine Form hat: „X ist ein Mensch". Nach dem Modell Freges kommt der Satz durch Einsetzen des Namens „Sokrates" in die durch den Namen X bezeichnete Leerstelle der Funktion zustande. Frege grenzt den Blick auf den Aspekt ein, den man als „formallogischen" bezeichnen kann: das heißt: daß er nur nach den Verhältnissen fragt, welche zwischen Begriff und Gegenstand sowie zwischen relativ allgemeineren und mehr besonderen Begriffen bestehen. Aber Kants Frage lautet, wie es denn möglich sei, daß ζ. B. der Gegenstand „Teller" unter den Begriff des Kreisartigen „subsumiert" werden kann. Er sieht es als notwendig an, nicht nur zwischen Subsumtion und Subordination im Sinne Freges zu unterscheiden, sondern das „Verhältnis" zwischen Begriff und seinem Gegenstand selbst transzendentallogisch zu bestimmen. Sub15

16

17

V o r allem in: „Funktion und Begriff", einem 1891 in Jena gehaltenen und dort auch gedruckten Vortrag. Zugänglich in: „Funktion, Begriff, Bedeutung". Fünf logische Studien, hg. u. eingeh von Günter Patzig, Göttingen 1966. Vgl. auch meine Einleitung in: Gottlob Frege, Nachgelassene Schriften (hg. von Hans Hermes, Friedrich Kambartel, Friedrich Kaulbach), Hamburg 1969, S. X X V . G . Frege, Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle/Saale 1879, § 9.

Begriff, Urteil und Konstruktionshandlung: Kant und Frege

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sumtion muß dann im Sinne von Konstruktion interpretiert werden, wenn man sich nicht naiver Weise mit der Vorstellung begnügt, mit der sich auch die Mengentheoretiker mit ihrer Rede vom „Enthaltensein" eines Elementes in einer Menge zufrieden geben: ihr zufolge fungiert der Begriff (Klasse, Menge) „Planet" als eine Art Behälter, in welchem man subsumierend den oder jenen individuellen Himmelskörper Venus, Jupiter, Mars usf. einschließt. Daß mit dem Namen „Subsumtion" nicht nur ein undiskutiertes logisches Verhältnis zwischen „Begriff" und Gegenstand, sondern eine H a n d l u n g begreifenden Einigens des „Gegenstandes" angesprochen wird, ist auch Freges Meinung. Daß der allgemeine Begriff und der besondere Gegenstand nicht wie räumlich Umfassendes und Umfaßtes gedacht werden dürfen, ist klar. Kant fragt, wie dann die „Subsumtionshandlung" verstanden werden muß. Als Antwort ergibt sich: sie kann auch als l o g i s c h e Handlung nur unter der Voraussetzung gedacht und vollzogen werden, daß der „Gegenstand" schon immer in der Perspektive der Begrifflichkeit und Sprachlichkeit gesehen werde soll. 18 Ein begriffs- und sprachfremder Klotz ist überhaupt kein Gegenstand und kann nicht „subsumiert" werden. Kant sieht es daher als Aufgabe an, die „Subsumtion" philosophisch in der Weise auf ihre Möglichkeit hin zu e r k l ä r e n , daß er von einer Vermittlungsaktion zwischen Denken und zeitlich-räumlichem Anschauen Gebrauch macht. In einem Brief an Johann-Heinrich Tieftrunk 19 spricht er von einer „transzendentalen" Subsumtion, um sie als zur Konstruktionshandlung gehörig von der bloß „logischen" zu unterscheiden: „Die logische Subsumtion eines Begriffs unter einem höheren geschieht nach der Regel der I d e n t i t ä t : und der niedrigere muß hier als h o m o g e n mit dem höhern gedacht werden. Die t r a n s z e n d e n t a l e dagegen, nämlich die Subsumtion eines empirischen Begriffs unter einen reinem Verstandesbegriff durch einen Mittelbegriff, nämlich 18

19

W e n n in der Gegenwart die deiktische Geste des exemplarischen Aufzeigens eines Gegenstandes im Zusammenhang mit einer Namensnennung (Dieses hier ist ein Fagott) als nicht mehr weiter hintergehbares Fundament f ü r Bedeutungsbildung deklariert wird, so muß man, v o n Kant her gesehen, einwenden, daß die Zeigehandlung selbst nur dadurch fundierend f ü r Bedeutungsbildung werden kann, daß sie zugleich eine konstruktive Handlung schematischer Darstellung des Bildes eines Fagotts ist. Die sich im Urteil: „Dieses ist ein Fagott" aussprechende Zeigehandlung ist von kantischen Voraussetzungen aus nur deshalb als kommunikabel anzusprechen, weil sie eine Aufforderung an den Hörenden zum Mitund Nachvollzug der konstruierenden, „ r e a l e n " Subsumtion des bezeichneten Gegenstandsbildes unter Begriff und Namen Fagott beinhaltet (vgl. Kamlah-Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim/Wien, Zürich 1967). v o m 1 1 . 12. 1 7 9 7 : XII, S. 2 2 4 f .

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

den des Zusammengesetzten aus Vorstellungen des inneren Sinnes ist unter eine Kategorie subsumiert, darunter etwas dem Inhalte nach H e t e r o g e n e s wäre, welches der Logik zuwider ist, wenn es unmittelbar geschähe, dagegen aber doch möglich ist, wenn ein empirischer Begriff unter einen reinen Verstandesbegriff durch einen Mittelbegriff, nämlich den des Z u s a m m e n g e s e t z t e n aus Vorstellungen des inneren Sinnes des Subjekts, sofern sie den Zeitbedingungen gemäß a priori nach einer allgemeinen Regel ein Zusammengesetztes darstellen, enthält, welches mit dem Begriffe eines Zusammengesetzten überhaupt (dergleichen jede Kategorie ist) homogen ist und so unter dem Namen eines S c h e m a die Subsumtion der Erscheinungen unter dem reinen Verstandesbegriffe ihrer synthetischen Einheit (des Zusammensetzens) nach, möglich macht . . ." Hier wird deutlich, daß Subsumtion im transzendentalen Sinne als G e s c h i c h t e der Bemächtigung des Empirischen durch dessen Nachkonstruktion in einer transzendentalen Bewegung des Beschreibens zu begreifen ist. Transzendentale Bewegung ist eine apriorische Geschichte, in welcher der Gegenstand aus seinen anschaulichen Elementen beschreibend aufgebaut wird, wobei das Bewußtsein der Bewegung im Vollzug der Beschreibung („innerer" Sinn!) als „ich vollziehe die Bewegung des konstruierenden Beschreibens" maßgebend ist. „Nun sind aber reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz u n g l e i c h a r t i g und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die S u b s u m t i o n der letzteren unter die erste, mithin die A n w e n d u n g der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, ζ. B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung enthalten? diese so natürliche und erhebliche Frage ist nun eigentlich die Ursache, welche eine transzendentale Doktrin der Urteilskraft notwendig macht, um nämlich die Möglichkeit zu zeigen, wie r e i n e V e r s t a n d e s b e g r i f f e auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können." (Β 176) 20 Es sei klar, daß es ein „drittes" geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in „Gleichartigkeit" stehen müsse und die Anwendung des Begriffes auf den Gegenstand möglich mache. „Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits i n t e l l e k t u e l l , andererseits s i n n l i c h sein. Eine solche ist das t r a n s z e n d e n t a l e 20

Hieraus ist ersichtlich, daß Frege seinen Sprachgebrauch von der „Subsumtion" eines Gegenstandes „unter" einen Begriff von Kant übernommen hat.

Einzelwissenschaftliche und philosophische Kommunikation: Schema und Symbol

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Schema." (B 177). Durch schematische Verbildlichung wird der Gegenstand in die Perspektive denkender und sprechender Handlung überhaupt einbezogen. Die vom Schema geleitete, ihrer Handlung bewußte transzendentale Bewegung der „Einbildungskraft" produziert das zum Begriff gehörende Bild. Wie die Bewegungs-handlung des Beschreibens gemeinsam, kommunikabel ist, gehören auch Schema und Bild dem Niveau der Gemeinsamkeit an. „Ich beschreibe" bedeutet wegen des in dieser Handlung enthaltenen Selbstbewußtseins der B e w e g u n g : „ W i r beschreiben" bzw. „Wir konstruieren". Das Bild wird als in allgemein mitteilbarer gemeinsamer Arbeit der Beschreibung produziert verstanden. Subsumtion und gemeinsame Konstruktionshandlung gehen zusammen. Intersubjektives Denken und Reden über einen bloß aufgefundenen und vorgefundenen Gegenstand könnte nicht begründet und garantiert werden: Die Bürgschaft für kommunikatives Reden über den Gegenstand und gemeinsame Kontrolle richtiger Subsumtion ist nur dadurch gegeben, daß er gemeinsam in transzendentaler Handlung „gemacht" wird. Transzendentale Handlung bedeutet nicht nur gemeinsame Arbeit zufällig sich zusammenfindender Subjekte, sondern die notwendige, nach einer allgemeingültigen Regel verfahrende und zugleich gemeinsame Bearbeitung des Gegenstandes, in welcher dieser als möglicher Gegenstand des Denkens und Sprechens überhaupt und dann als bestimmte Gestalt mit ihrer Verhaltensfigur hergestellt wird. Im folgenden soll der Unterschied zwischen den Handlungs- und Kommunikationsformen der Mathematik, Physik usf. und denen der Philosophie, der schon andeutend skizziert wurde, weiter ausgeführt werden.

4. Einzelwissenschaftliche und philosophische Schema und Symbol

Kommunikation:

Kommunikation im transzendentalen Sinne kann nur auf dem Boden gemeinsamen Handelns begriffen werden. Es wurde im Vorigen deutlich, daß es verschiedene Weisen des transzendentalen Handelns gibt: so kommt es im Bereich philosophischen Denkens und Sprechens auf einen Weltentwurf und ein Sich-Versetzen in eine gemeinsame Sphäre des „Ich denke" an. Einzelwissenschaftliches Handeln dagegen vollzieht sich als Konstruktion in den synthetischen Urteilen. So verschieden die Formen

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Transzendentale Bewegung als Basis f ü r Kommunikation: Sprache und Handlung

des gedanklichen Handelns in Einzelwissenschaft und Philosophie sind, so verschieden sind die Voraussetzungen der Kommunikation. Darüber mag im folgenden noch einiges gesagt werden. Die Handlung der synthetisierenden Darstellung eines Gegenstandes als objektive Bildeinheit ist konstruktiv. Sie weist auch einen logischen Aspekt auf, demgemäß durch Urteilskraft das Subjekt des Satzes seine Prädikate ein-holt und sie sich einverleibt: beiden Aspekten gemäß, dem konstruktiven und dem sprachlich-logischen, ist die Herstellung von Kommunikation durch gemeinsames methodisches Handeln zu verfolgen. Hierbei kommt auch der Unterschied zwischen Begriff und Urteil in den Blick. Der Begriff ist nicht, wie es die traditionelle Logik unterstellt, Baustein des Urteils, sondern eher Formel für das in der Urteilshandlung des Einigens von Subjekt und Prädikat gewonnene Ergebnis. Spreche ich ζ. B. den Satz aus: „Das menschliche Leben ist kurz", so geschieht das mit Bewußtsein der H a n d l u n g des Einigens von Subjekt und Prädikat, die zugleich die Handlung bedeutet, das Subjekt zu „ b e s t i m m e n " . Im B e g r i f f e : „Leben" werden die Handlungen des Einigens, durch welche das transzendentale Subjekt als die einigend-zugrunde liegende Instanz dieses Begriffs bestimmt, als perfekt g e g e b e n , während diese Handlung im U r t e i l als im Vollzug des Sprechens geschehend, bewußt gemacht wird. Denke ich den Begriff: „Leben" als g e g e b e n e Einheit von Eigenschaften, zu denen etwa die Kürze gehört, so kann ich diese Vorstellung nur als meine s u b j e k t i v e in Anspruch nehmen, denn ich vollziehe bei der Nennung des bloßen Begriffs nicht die kommunikationsbegründende Bewegung des Einigens, sondern berufe mich auf das festgestellte Resultat dieser Bewegung. Denke ich den Begriff: „Leben", so wird das Vorstellungsvermögen mit einer M ö g l i c h k e i t befaßt. Vollziehe ich aber die Handlung des Einigens der Prädikate im Subjekt und fordere den andern bei der Aussage des Urteils zum Mitvollzug dieser Einigungshandlung auf, bringe ich also eine gemeinsame Bewegung des Zusammensetzens der Prädikate im Subjekt in Gang, dann leiste ich den konstruktiven Aufbau des vom Subjekt genannten „Gegenstandes" zu seiner Einheit. Dann be-haupte ich die im Urteil ausgesprochene und v o l l z o g e n e Verbindung, ich entscheide mich für ihre w i r k l i c h e Geltung. In diesem Falle geht es nicht um einen Gegenstand des D e n k e n s , sondern des E r k e n n e n s . Die Subjekt und Prädikat einigende Synthesishandlung ist der Boden für die Ermöglichung der Kommunikation. Wir gehen in eine gemeinsame G e s c h i c h t e synthetisierenden Handelns ein, wenn wir das synthetische Urteil aussprechen: daher kommen Zeitbestimmungen mit ins Spiel.

Einzelwissenschaftliche und philosophische Kommunikation: Schema und Symbol

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D e r Unterschied zwischen der schon vollzogenen „Verbindung der Vorstellungen in einem Begriff und der in einem Urteil ζ. B . der schwarze Mensch und der Mensch i s t schwarz, (mit anderen Worten: der Mensch, d e r schwarz ist und der Mensch ist schwarz) liegt meiner Meinung nach darin, daß im ersteren ein Begriff als b e s t i m m t im zweiten die Handlung meines B e s t i m m e n s dieses Begriffs gedacht wird. Daher haben Sie ganz recht zu sagen, daß in dem z u s a m m e n g e s e t z t e n Begriff die Einheit des Bewußtseins, als s u b j e k t i v gegeben, in der Z u s a m m e n s e t z u n g der Begriffe aber die Einheit des Bewußtseins, als o b j e k t i v gemacht, d. i. im ersteren der Mensch bloß als schwarz g e d a c h t (problematisch vorgestellt) im zweiten als ein solcher e r k a n n t werden solle." 2 1 Werde ich mir im Aussprechen des synthetischen Urteils meiner Rolle als des einigend Handelnden und bestimmend Zusammensetzenden bewußt, so ist in diesem Selbst-bewußtsein eingeschlossen, daß ich die Handlung j e t z t , in diesem Augenblick vollziehe und daß vielleicht später, in einer andern Situation eine andere Handlung des Verbindens angemessen ist. Das wird besonders in empirischen Sätzen deutlich, bei denen ich meine Synthese als in einer bestimmten Gegenwart gültig verstehe. Es wäre ein Widerspruch zu sagen: Der schwarze Mensch ist weiß. Sofern ich den Menschen durch das Prädikat: weiß bestimmen will, kann ich ihn nicht in ein und derselben Urteilshandlung durch das Adjektiv als „nicht weiß" ansprechen. In dieser Handlung geht es um ein und denselben Augenblick. Sage ich aber: der ehedem als schwarz bezeichnete Mensch ist jetzt nicht mehr schwarz, so liegt kein Widerspruch vor, da es sich hier um zwei verschiedene H a n d l u n g e n des B e s t i m m e n s , d. h. um verschiedene Urteile handelt, von denen das später gefällte mit Berufung auf die inzwischen vergangene Zeit das früher ausgesprochene Urteil zurücknimmt. 2 2 Wenn man das Urteil: „ D e r ehedem als schwarz bezeichnete Mensch ist jetzt nicht mehr schwarz" unter dieser Perspektive betrachtet, so findet man in ihm folgendes ausgedrückt: in der jetzt von mir vollzogenen Urteilshandlung stelle ich fest, daß das früher gefällte Urteil auf die Gegenwart nicht übertragbar ist. 2 3 21 22 23

Brief an J . S. Beck vom 3. 7. 1792, X I , S. 347. X I , S. 347. In diesen Überlegungen ist impliziert, daß nur das synthetische Urteil, in welchem eine Einigung durch Zusammensetzung hergestellt wird, als Handlung bezeichnet zu werden verdient. Kant betont, daß die Zeit im a n a l y t i s c h e n Urteil keine Rolle spielen dürfe, so daß im Satz des Widerspruches das Wörtchen: „zugleich" keinen Platz habe, welches etwa in einer Formulierung des Widerspruchverbotes gebraucht wird, in der erklärt wird, daß man nicht Α und „zugleich" non Α behaupten dürfe. Offen bleibt die Frage, worin

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Kommunikation in der einzelwissenschaftlichen Sprache bedeutet Erweiterung in dem Sinne, daß die denkenden und sprechenden Subjekte über sich hinausgehen, daß sie gemeinsam eine allgemeingültige Regel der Darstellung des zusammensetzenden „Machens" befolgen. Wirft man den Blick auf die andersartige Kommunikationslage in der philosophischen Sprache, in der Sätze wie: „ I c h denke", „Ich stelle handelnd Gegenstände d a r " vorkommen, so ist hier ein anderer Aspekt von „Erweiterung" maßgebend. Der hier aktuelle, ungegenständliche „Gegenstand" läßt, kantisch gesprochen, nicht „Erkennen" zu, sondern fordert „ D e n k e n " . Seine Eigenart ist durch das Modell des Sich-selbst-Versetzens auf den Stand gemeinsamen Denkens zu beschreiben. Die Mitteilungsfähigkeit des dabei zustandekommenden Sprechens beruht auf der gemeinsamen Geschichte des Standnehmens im Bereich „ d e r " Vernunft. D a s „subjektive I c h " kann nicht „geteilt und verteilt", auch nicht als objektiver Sachverhalt mitgeteilt werden: es kann höchstens mitvollzogen werden: so daß in der wissenschaftlichen Sprache eine gemeinsame Geschichte des Darstellens nach dem Schema oder in der philosophischen Sprache ein Sich-Versetzen auf den Boden der gemeinsamen Vernunft und der „ W e l t " des „ I c h denke" geleistet wird. „Denn obgleich das Ganze des Gedankens geteilt und unter viele Subjekte verteilt werden könnte, so kann doch das subjektive I c h nicht geteilt und verteilt werden . . . " (A 354). D i e Bemerkungen Kants zum Zusammenhang zwischen der Handlung des Konstruierens und der Herstellung von Kommunikation gewinnen auf Grund seines Konstruktionsbegriffes eine besondere Pointe. Die Eignung dieses Begriffes zur Fundierung der Kommunikation wird deutlich, wenn man Kant in diesem Punkte mit Leibniz kontrastiert. Auch Leibniz hatte dem konstruktiven Prinzip in Zusammenhängen mit Ansätzen bedeutendes Gewicht verliehen, die er zu einer Kritik der Vernunft beiträgt. Seine Überlegungen stehen in der Tradition der „genetischen Definition", welche die „Realität" der definierten Begriffe garantieren soll. Damit meint Leibniz, daß nur dann die Realität eines Begriffes gesichert sei, wenn von jedermann nachvollziehbar und in aller Öffentlichkeit seine widerspruchsfreie Zusammensetzung aus den Elementen, aus denen er

die Kommunikabilität der analytischen Urteile begründet sei. Vielleicht müßte man in der Antwort darauf auf Kants Bemerkung hinweisen, daß die Möglichkeit von Analyse die Synthese voraussetzt, so daß sich die dem synthetischen Urteil eignende Kommunikabilität auch auf das analytische ausdehnt.

Einzelwissenschaftliche und philosophische Kommunikation: Schema und Symbol

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besteht, vorgeführt wird. Er redet in diesem Falle von „Konstruktion". 2 4 Bei einigen Begriffen, die durch Namen in der Superlativform bezeichnet werden, zeigt Konstruktion, daß sie widersprüchlich sind: so ζ. B. der Begriff der größten Zahl, der schnellsten Bewegung. Im Vorausblick auf Kant könnte man sagen, daß es sich hierbei um Begriffe handelt, welche die Grenze objektiver Realisierbarkeit überschreiten. Als Kriterium für diese Realisierbarkeit gibt Leibniz die Widerspruchsfreiheit an. Diese begründet auch Kommunikation. Für Kant dagegen ist Konstruktion Darstellung in reiner Anschauung: mag es sich dabei um die nach einer Regel vorgehende Darstellung einer Figur in der „äußeren" Anschauung, dem Räume, handeln, der die Domäne der Geometrie ist, oder um eine entsprechende Gestaltung in der inneren Anschauung, der Zeit, welche maßgebend für Arithmetik ist. Kommunikation kann man nicht allein deshalb auf die Bewegung der Konstruktion gründen lassen, weil dabei eine widerspruchsfreie Regel gebraucht wird, von der jeweils die Partner Gebrauch machen, die eine Verständigung im Horizont der Konstruktion suchen: denn es müßte erklärt werden, wodurch es möglich ist, daß die Vorstellung der Regel in das Bewußtsein des einen Subjekts ebenso eingeht wie in das des andern. Wodurch ist es zu erklären, daß die Aufforderung zu gemeinsamer konstruktiver Gestaltenproduktion selbst kommunikabel ist? Wenn die Übertragung eines fixierten gedanklichen Inhalts von einem Subjekt zum andern fragwürdig ist, so scheint es nicht weniger problematisch zu sein, Kommunikation auf gemeinsame produktive Bewegung zu gründen. Da scheint Leibniz in der bessern Position zu sein, der Kommunikation zuletzt durch göttliche Harmonieplanung garantiert sein läßt, denn er führt sie nicht auf die Mitteilung einzelner Inhalte, sondern auf die harmonische Abstimmung des Weltganzen zurück. Will der kritische Philosoph auf prästabilierte Harmonie verzichten und gleichwohl das Leibnizsche Niveau nicht verlieren, so muß er die konstruktive Bewegung so deuten, daß jede figürliche Konstruktion zugleich als Bewegung im Horizont einer gemeinsamen W e l t verstanden wird, innerhalb deren sich die Subjekte durch Selbstgesetzgebung die Rolle der die Bilder Produzierenden und sie gemeinsam Konstruierenden geben. Kommunikation in der Form gemeinsamer Bildproduktion gründet sich demnach auf der Gemeinsamkeit der i n n e r e n Handlung der Selbstgesetzgebung und der Übernahme der Rolle des Produzierens von Gestalten. Kommunikation in der Produktion jeder 24

Vgl. Aron Gurwitsch, Leibniz, Berlin 1974, S. 66.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

einzelnen Gestalt in der Konstruktion des Dreiecks, der Ellipse, einer Zahl oder einer Menge kommt auf dem Hintergrund transzendentaler Gemeinsamkeit des Handelns in einer W e l t zustande, die sich als die gemeinsame Bühne erweist, auf der wir uns in ein und demselben Schauspiel die Funktion der Gestaltenproduktion übertragen. Jetzt ist die prästabilierte Harmonie überflüssig geworden: es kann ihr gar kein Erklärungswert zugestanden werden, da die Rede von ihr selbst die vorgängige, auf gemeinsames Standnehmen auf der Bühne produzierender Vernunft gegründete Kommunikation voraussetzen würde. Im folgenden wird es darum gehen, die spezifische Kommunikabilität philosophischer Sätze über solche „Gegenstände" wie die W e l t zu begreifen. Dabei wird erkennbar werden, daß nicht das bei der Konstruktion maßgebende „Schema", sondern Handlung im Sinne eines symbolischen Entwurfes grundlegend für die Kommunikation im Bereich philosophischen Denkens und Sprechens ist. Im Zusammenhang mit der Bemerkung, daß Kommunikation philosophischen Denkens und Sprechens nicht auf Grund schematischer Gegenstandskonstruktion, sondern eines Sich-Versetzens in einen erweiterten Horizont geschieht, kann gesagt werden: Diese Kommunikation beruht im Bereiche der einzelwissenschaftlichen Arbeit auf „schematischer" Handlung, während sie im Bereiche philosophischen Denkens und Sprechens durch symbolische Handlung geschieht. Das mag an dem Beispiel der Aussage des Parmenides erörtert werden, das Sein habe die Form einer Kugel. Sagt ζ. B. der Geometer Sätze über die Kugel aus, so gründen ihre objektive Bedeutung und Kommunikabilität auf der durch diese Sätze beim Sprechpartner in Gang gesetzten Handlung des schematischen Konstruierens. Behauptet einer aber die Kugelförmigkeit 25 der Welt, so beruht die dem Satze eigentümliche Bedeutung und ihre Mitteilbarkeit nicht auf gemeinsamer schematischer Darstellungshandlung (Konstruktion), sondern darauf, daß hier das Bild der Kugel die Funktion eines S y m b o l s übernimmt: die Aussage hat nicht die Intention, über Eigenschaften der Kugel Mitteilungen zu machen, sondern dem Denken über die Welt durch Analogisierung mit der Kugelgestalt eine Anleitung zu geben. In diesem Falle gibt sich der Sprechende die Rolle des Repräsentanten der kugel25

Kritik der Urteilskraft § 59. Vgl. auch meine „Philosophische Grundlegung zu einer wissenschaftlichen Symbolik", Meisenheim 1954; ebenso: Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des Kantischen Denkens, aus: Kant, zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln (Hg. von Gerold Prauss), Köln 1973.

Einzelwissenschaftliche und philosophische Kommunikation: Schema und Symbol

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förmig gebauten Welt, die sich durch sein Sprechen selbst Ausdruck gibt, denn er muß beim Sprechen über „ W e l t " immer die Voraus-setzung machen, daß er dieser selbst angehört und „ ü b e r " sie daher nicht von einem außer ihr befindlichen point de vue aus zu reden vermag. Kritik macht es sich zur Aufgabe, schematisch-bildhaftes Sprechen bei seiner Anwendung auf den philosophischen (transzendentalen) Gegenstand einer r i c h t i g e n Hermeneutik zu überantworten, es auf den angemessenen Standpunkt des Sprechens und Denkens zu relativieren u n d es in dieser Form zu r e c h t f e r t i g e n . So kann der Satz, daß Gott der Urheber bzw. Schöpfer und somit die „Ursache" der Welt sei, kritisch nur dann verantwortet werden, wenn er nicht „schematisch", sondern „ s y m b o l i s c h " verstanden wird, d. h. wenn man ihn unter eine hermeneutische Regel stellt, nach welcher er nicht eine reale Aussage über Gott bedeutet, sondern der Aufforderung gleichkommt, jedes erkennbare Objekt so zu d e n k e n , als o b es zu einer Welt gehören würde, als deren erste Ursache Gott g e d a c h t wird. Auf diese kritisch einschränkende Hermeneutik gebracht, kann diese Aussage eine Rechtfertigung erfahren. Sie ist unter dieser Voraussetzung ebenso gerechtfertigt wie andere metaphysische Aussagen, etwa die, daß die Seele eine Substanz sei, daß die „ W e l t " erkennbar sei usf. „Wenn ich sage: Wir sind genötigt, die Welt so anzusehen, a l s o b sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei, so sage ich wirklich nichts mehr als: wie sich verhält eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber, so die Sinnenwelt (oder alles das, was die Grundlage dieses Inbegriffs von Erscheinungen ausmacht) zu dem Unbekannten, das ich also hierdurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Teil bin, erkenne." 2 6 Der Satz ist auch deshalb aufschlußreich, weil er die für das philosophische Denken und Sprechen bestehende Verpflichtung, „symbolisch" statt „schematisch" zu reden, mit einer veränderten Stellung des

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Prolegomena, Von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft § 57, IV, S. 357. Der symbolische Gebrauch der darstellenden Vernunft bedient sich der A n a l o g i e , welche Kant als Strukturidentität zweier Dinge bestimmt, die ihrem Wesen nach gesehen ganz „unähnlich" sind. D e r Satz, daß Gott der Urheber der Welt sei, kann real-inhaltlich überhaupt nicht verglichen werden mit irgendeinem Kausalsatz im Bereich der Erscheinungserkenntnis. Aber das Denken kann sich der Strukturidentität, die zwischen dem Kausalverhältnis etwa der Verursachung des Donners durch den Blitz und dem „Verhältnis" zwischen Gott und Welt besteht, bedienen, um jedenfalls s y m b o l i s c h , im Sinne des „ A l s - o b " , Gott als Ursache der Welt d e n k e n zu können.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Denkens und Sprechens dem „Gegenstande" gegenüber in Zusammenhang bringt. Während einzelwissenschaftliches Denken und Sprechen den Gegenstand vor sich hat und vor-stellt — es versetzt ihn der transzendentalen Konstellation gemäß in den Zusammenhang des Zeit-Raum-Kontinuums — verfährt philosophisches Denken und Sprechen so, daß es sich in den Zusammenhang selbst v e r - s e t z t , von dem die Rede ist. „Wenn ich sage: wir sind genötigt, die Welt so anzusehen a l s ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei . . .", so fordere ich das Denken des angesprochenen Partners auf, sich selbst in diese genannte Welt zu versetzen, über die ich nicht mit dem Anspruch objektiver Erkenntnis reden kann. Kant drückt das so aus: ich rede von einem „Unbekannten, das ich . . . zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Teil bin, erkenne." 2 7 Wenn wir Gott als den Schöpfer der Welt ansprechen, dann sind wir durch Kritik verbunden, den Satz nicht im Sinne eines „dogmatischen Anthropomorphismus" auszulegen. Wir dürfen unsere Aussage nur im Hinblick auf das strukturelle Verhältnis Gottes zur Welt verstehen „und erlauben uns einen s y m b o l i s c h e n Anthropomorphism, der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht." 28 Das ist auch an der Sprache der Metaphysik des Rechts zu ersehen, in welcher die rechtliche Struktur der bürgerlichen Gesellschaft in der Weise symbolisiert wird, daß der jedem Bürger durch das Recht garantierte Freiheitsraum durch den Bewegungsspielraum der in einem abgeschlossenen physikalischen System aufeinander einwirkenden Körper dargestellt wird. Das sieht so aus, als ob der Begriff des Rechts schematisch „konstruiert" würde, während in Wahrheit der Vergleich zwischen Rechtsverhältnissen und mechanischem Verhältnis nur symbolisch gerechtfertigt werden kann. Denn ein Sprechen über Recht und Rechtsverhältnisse gründet sich auf ein sich in die R e c h t s w e l t versetzendes Denken, dem es nicht möglich und erlaubt ist, den Begriff seines „Gegenstandes" in schematischer Vor-stellung anschaulich darzustellen. Spricht Kant hier dennoch von Konstruktion, so nur im uneigentlichen Sinne eines „gleichsam": „Das Gesetz eines jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die K o n s t r u k t i o n jenes Begriffes, d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori nach der Analogie 27 28

Prolegomena, § 57. Prolegomena, § 57.

Einzelwissenschaftliche und philosophische Kommunikation: Schema und Symbol

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der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der G l e i c h h e i t der W i r k u n g und Gegenwirkung."29 Die H a n d l u n g gemeinsamer Darstellung, auf welcher die Kommunikabilität der Sprache beruht, geht in der Philosophie nicht den Weg der schematischen, wohl aber der symbolischen Darstellung. Keine Erscheinung kann der Idee des Rechts, der Freiheit, der Welt usw. angemessen sein. Beim philosophischen Denken und Sprechen geht es um einen s y m b o l i s c h e n Gebrauch des Bildes, wobei Denk- und Sprechhandlung den Charakter des Standnehmens auf dem Boden des „Un-bedingten", Unendlichen, Welthaften und mich, den Sprechenden und Denkenden, selbst Aufnehmenden hat. Symbolisches Denken und Sprechen ist auf Grund des gemeinsamen Standnehmens auf dem Boden dieses Allgemeinen, Un-endlichen kommunikabel. Das symbolische Bild ζ. B. von Körpern die im Verhältnis von actio und reactio stehen, ist daher die Veranschaulichung des Handlungscharakters, der sich bei diesem Standnehmen ereignet. Wenn ζ. B. Hegel das philosophische Denken als „Kreis aus Kreisen" bezeichnet, dann will er damit nicht eine Aussage gleich der über Planetenbewegungen machen, sondern er beschreibt damit die Figur, in der er sich s e l b s t als Denkender und Sprechender bewegt. Er zieht die Linien desjenigen Charakters nach, der sein eigenes gedankliches und sprachliches Handeln des Standnehmens auf dem Boden des Vernunftsystems bestimmt. 3 0 Metaphysik der Sitten § Ε, VI, S. 232. Hierzu kommentierend die Anmerkung zum § 58 der Prolegomena: „So ist eine Analogie zwischen dem rechtlichen Verhältnisse menschlicher Handlungen und dem mechanischen Verhältnisse der bewegenden Kräfte: ich kann gegen einen andern niemals etwas tun, ohne ihm ein Recht zu geben, unter den nämlichen Bedingungen eben dasselbe gegen mich zu tun; ebenso wie kein Körper auf einen andern mit seiner bewegenden Kraft wirken kann, ohne dadurch zu verursachen, daß der andere ihm ebensoviel entgegenwirke. Hier sind Recht und bewegende Kraft ganz unähnliche Dinge, aber in ihrem Verhältnisse ist doch völlige Ähnlichkeit. Vermittelst einer solchen Analogie kann ich daher einen Verhältnisbegriff von Dingen, die mir absolut unbekannt sind, geben . . . " (IV, S. 357f.). 3 0 N a c h Kants Aussage bedient sich das philosophische Sprechen s y m b o l i s c h e r Möglichkeiten, sofern es nicht Inhalte auszusprechen vermag, die das Wesen von Welt, Gott u s w . erkennen lassen. Anders gesagt: Philosophisches Denken und Sprechen hält sich lediglich an die a n a l o g i s c h e Struktur, welche ζ. B. das Verhältnis Gottes zur Welt und dasjenige des Blitzes zum Donner identisch zu setzen erlaubt und ohne Eingehen auf die aufeinander bezogenen I n h a l t e lediglich über die strukturelle S t e l l u n g des „Gegenstandes" zu andern Gegenständen etwas aussagt. Mit diesem Rückzug vom Inhalt zur Aussage über die S t r u k t u r setzt philosophisches Denken und Sprechen die Linie fort, die schon seit Galilei durch die Devise des Verzichtes auf Wesenserkenntnis und des Rückzugs auf relationale Bestimmungen, die gegenüber den in Beziehung gesetzten Inhalten indifferent sind, bezeichnet wird. Keine Erkenntnis des „Wesens", sondern nur die Feststellung der struk29

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Im folgenden mag der Einheits- und Ganzheitscharakter der Produktion bzw. Konstruktion als Ausdruck des transzendentalen „Ich denke" betrachtet werden.

5. „Ich denke",

Ganzheit des Produktes und

Kommunikation

Wenn Kant sagt, daß zu der Synthesis auch die im „Ich denke" entspringende „Einheit" dazukommen müsse, so gibt er einer Auffassung Ausdruck, der man auch folgende Form geben kann: Das gegenständliche Bild einer objektiven Gestalt oder Ereignisfigur muß als das von mir in einer G e s c h i c h t e der Produktion Hergestellte begriffen werden können, so daß es den Charakter der dieser Geschichte von mir gegebenen Einheit gegenständlich erkennen läßt. Der Maler ζ. B. teilt seinem Produkt dadurch Einheit mit, daß er sein Produzieren als in sich einige, zusammenhängende Geschichte begreift, deren Einheit am Produkt ablesbar ist. Die Geschichte der Bildproduktion wurde als „transzendentale Bewegung" bezeichnet: in dieser wird nicht nur der Gegenstand durch schrittweise Synthese hergestellt, sondern das in dieser Bewegung begriffene Subjekt erkennt sich als sich selbst in einer Geschichte des Produzierens darstellend : so wie sich der Maler im Vollzuge seiner Bildproduktion zugleich als sich selbst und seine Einheit darstellend bewußt ist. In das Bild geht das „Schema" ein, welches den Charakter der Geschichte bestimmt, die sich im Produzieren ereignet. Die auf „Ich denke" gründende und in ihm entspringende „Einheit", die nach Kant zu der Synthesis hinzukommen (B 131) muß, ist erstens subjektiver Art und zweitens vom Charakter der B e w e g u n g : sie vollendet sich in einer Geschichte der Produktion selbst als Einheit, sofern sie den Gegenstand einigt. In den Briefen an Beck betont Kant, daß die Handlung des „Zusammensetzens" (Synthesis) Grundlage für Kommunikabilität sei. Das Wort: „Zusammensetzung" bedeutet eine Herausforderung, weil es eine Handlung in den Mittelpunkt der Überlegungen über Handeln und Kommunikation stellt, die maschinell bewerkstelligt werden kann, sofern es dabei turellen Beziehungen bestimmt hier die Methode: insofern liegen schematisches Darstellen und symbolisches Ansprechen der Gegenstände in ein und derselben Richtung. Der Unterschied zwischen Symbol und Schema ist aber darin zu sehen, daß ersteres den Gegenstand nicht nur konstruierend als Figur des Aussehens und Verhaltens beschreibt, sondern über ihn als ein objektiv nicht Bestimmbares, Unbedingtes so zu sprechen erlaubt, daß man es in Analogie zu Verhältnissen innerhalb des Bedingten setzt und ihm unter Verwendung analogischer Strukturen eine Stelle andern „Gegenständen" gegenüber gibt.

,Ich denke", Ganzheit des Produktes und Kommunikation

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um schrittweise Ausführungen nach einer Regel der Anfügung jeweils eines Elementes an schon gegebene Elemente geht. „Zusammensetzung" ist nach Hegel die „schlechteste" Form der Reflexion. 31 Auch Kant sieht, daß bloße Synthesis ohne sie er-gänzende Durchdringung durch Einheit des „Ich denke" den „Gegenstand" und seinen Begriff nicht zustande bringen kann, von dem in den Erörterungen zur transzendentalen Logik in der Vernunftkritik die Rede ist. Zusammensetzung wäre selbst nicht möglich, wenn nicht das Konzept des G a n z e n , Unteilbaren, welches Vorbild des zusammensetzenden Handelns ist, vorherginge. Die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß das Mannigfaltige, welches der synthesierenden Handlung als „Material" vorgegeben ist, „zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen." Diese „Handlung nenne ich Synthesis" (Β 102). Im darauffolgenden Satz wird betont, daß nicht die Synthesis genügt, in der es darauf ankommt, „verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun", sondern daß die Handlung des Einigens erst dann vollendet werde, wenn die Mannigfaltigkeit dieser Vorstellungen „in e i n e r (gesp. v. Verf.) Erkenntnis" begriffen wird (B 103). Die zur Er-gänzung des Zusammensetzens zur Herstellung eines G a n z e n geforderte „Einheit" bedeutet Einheit einer Geschichte, als deren Akteur sich „Ich denke" versteht. Diese besteht in der transzendentalen Bewegung der Produktion des G a n z e n , wobei die verschiedenen Augenblicke verschiedene Aspekte ein und desselben sich in der synthesierenden Einigung herstellenden Gegenstandes darstellen. Kant spricht von der „Rekognition" des Gegenstandes als ein und desselben, dessen Selbigkeit das erkennende und sprechende Subjekt darauf gründet, daß es sich selbst im Verlauf dieser Geschichte als Identität erweist, die sich in der gegenständlichen Ganzheit spiegelt. „Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Aktus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann." (A 103). Der Gegenstand ist nicht nur ein durch „Synthese" Zusammengesetztes, 31

Hegels W e r k e (Glockner), V , S. 55: „Die ungebildete Reflexion verfällt zunächst auf die Zusammensetzung als die ganz ä u ß e r l i c h e Beziehung, die schlechteste Form, in der die Dinge betrachtet werden können; auch die niedrigsten Naturen müssen eine i n n e r e Einheit sein."

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

sondern zugleich identische Einheit, deren Ganzheitscharakter auf der Kontinuität der Bewegung des Einigens beruht, die eine Geschichte einer in sich einigen Handlung ist. Synthese der Teile zum Zusammengesetzten entwickelt sich deshalb, weil sie als Geschichte der durch das identische „Ich denke" vollzogenen transzendentalen Bewegung aufzufassen ist, zugleich zur Fusion im gegenständlichen Ganzen. Kants Terminus für dieses „zugleich" lautet: „Synthetische Einheit" (B 104). Wir sagen, wir „erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben." (A 105). Diese sei unmöglich, wenn die Anschauung nicht durch eine „solche Funktion der Synthesis nach einer Regel hat hervorgebracht werden können, welche die Reproduktion des Mannigfaltigen a priori notwendig, und einen Begriff, in welchem dieses sich vereinigt, möglich macht. So denken wir uns einen Triangel als Gegenstand, indem wir uns der Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel bewußt sind, nach welcher eine solche Anschauung jederzeit dargestellt werden kann." (A 105). Zusammensetzung (Synthesis) ist, wenn sie im Kontext der einigenden Handlung verstanden wird, nicht nur als statisches Ergebnis, sondern als Bewegung zu verstehen. Verbindung, Synthesis ist Handlung konstruktiven Zusammensetzen des Gegenstandes nach einer Regel. Prinzip, das den Gegenstand zur Einheit und zur Ganzheit macht, ist die Bewegung des das Verbundene mit Identität durchdringenden „Ich denke", welches in jedem Augenblick seines Handelns seine Identität festhält. Die Handlung des Selbst-identisierens erlaubt es, den in der Erzeugung befindlichen Gegenstand als diesen Selbigen, zu dem die synthetisch zu verbindenden Bestimmungen bzw. Prädikate hinzugetragen werden, zu begreifen. Wenn ich mich in der Geschichte meines Handelns als Identität festhalte, bin ich auch berechtigt, den von mir synthetisch erzeugten Gegenstand als identische Einheit zu fassen. Das handelnde „Ich denke" begreift sich als Urheber einer Geschichte des Konstruierens und Produzierens, an der es Anfang, Verlauf und Vollendung unterscheiden kann. Jeder Augenblick dieser Geschichte ist ein Gesichtspunkt (point de vue), welchem gemäß der Produzierende seine eigene Identität und zugleich die Identität des in der Erzeugung begriffenen Gegenstandes begreift. Diese Identität ist als einiger Zusammenhang der Bewegung des Erzeugens (Ich denke) und Erzeugtwerdens (Gegenstand) durch die verschiedenen Augenblicke der Produktionsgeschichte hindurch zu verstehen. Da „Zusammensetzen" als vom „Ich denke" vollzogene Bewegung zu begreifen ist, steht ein Produ-

,Ich denke", Ganzheit des Produktes und Kommunikation

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zent dahinter, der aus dem Produkt ein Ganzes macht, weil dessen Identität die einer Geschichte des Identisierens („Rekognition" im Begriffe) ist. N u r das als Ganzes Zusammengehaltene kann zugleich als Identisches angesprochen werden und umgekehrt. Konstruieren und An-sprechen des Gegenstandes als dieses identischen, wodurch auch Vereinigung der Prädikate des Satzes zur Einheit des substantiellen Subjektes geschieht, sind eines. Die „Funktion" als die von der subjektiven Einheit des „Ich denke" in Gang gesetzte Handlungsgeschichte ist zugleich Bewegung der „Verbindung" des Mannigfaltigen zur objektiven Einheit der Substanz. „Subjektive" Einheit des „Ich denke" durchdringt Verbindung zur objektiven Einheit. „Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis desselben noch den der Einheit desselben bei sich. Verbindung ist Vorstellung der s y n t h e t i s c h e n Einheit des Mannigfaltigen." (B 130) Die hier genannte Einheit hat die Bedeutung des „Ganzen", welches nicht durch „Verbindung" entsteht, sondern als Bedingung der Möglichkeit des Verbindens fungiert. Diese Einheit, die „a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht", fällt auch nicht mit der zur Quantität gehörigen Einheitskategorie zusammen: sie ist überhaupt keine einzelne Kategorie, ,,. . . denn alle Kategorien gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen, in diesen aber ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht. Die Kategorie setzt also schon Verbindung voraus". Diese wieder basiert auf Bewirkung des Ganzheitsprinzips, welches seinen Ursprung in der in sich a priori einigen H a n d l u n g des „Ich verbinde" hat. Unter allen Vorstellungen ist die Verbindung als transzendentale Bewegung die einzige, die „nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekt selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist." (B 130) In der transzendentalen Bewegung der synthetisierenden Gegenstandserzeugung vollzieht sich eine Geschichte. Das in Bewegung befindliche Subjekt zeitigt dabei seine eigene Identität und diejenige des Gegenstandes, über den es Aussagen macht. „Schematisierung" einer Kategorie wie etwa derjenigen der Kausalität bedeutet, daß sie auf die Sprache der transzendentalen Bewegung gebracht wird. 3 2 Das Schema betrifft die „Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt nach Bedingungen seiner Form (der Zeit), in Ansehung aller Vorstellungen . . ., sofem diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten." (B 181) 32

Vgl. mein Buch: „ D e r philosophische Begriff der Bewegung", Köln/Graz 1965, S. 133.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Transzendentale Bewegung geschieht nicht im Räume, sondern ist ein Vorgang im „Inneren" 3 3 ; daher ist hier der innere Sinn zuständig. Sofern „ I c h denke" eine innere Geschichte des Verbindens, Konstruierens, des Uber-gangs von einer Vorstellung zu einer andern und des Vereinigens beider in Gang setzt, rückt es sich zugleich auch in die dem Selbstbewußtsein angemessene innere Perspektive der Zeit. Nicht nur in dem Falle, in welchem transzendentale Bewegung die Leistung des Konstruierens übernimmt, nimmt die sich herstellende Einheit eine geschichtliche, zeitliche Bedeutung an, sondern auch dann, wenn ein Begriff mit einem andern Begriff, also etwa Subjekt mit Prädikat im Urteil verbunden wird. Im synthetischen Urteil ζ. B. muß das Denken über den Begriff des Subjekts „hinausgehen", um zu demjenigen des Prädikats zu gelangen und um Einheit zwischen beiden herzustellen. Die Bewegung dieses „Hinausgehens" ist eine Geschichte, in welcher sich die Einheit sowohl des denkenden Ich wie auch der Satzbedeutung herstellt. D a diese Einheit Geschichte des Sich-Einigens ist, ist die Zeit im Spiele: Kant fragt nach dem „Mittleren", dem Verbindenden zwischen Subjekt und Prädikat, welches die Kontinuierung und einigende Bewegung erbringen kann. Er findet es in einem „Inbegriff", welcher die Zeit sei. (B 194) Hier wird die Zeit geradezu als zur Handlung des Verbindens gehörig angesprochen, sofern dieses Verbinden die Geschichte einer Bewegung ist. D a s dabei sich vollziehende „Geschehen" ist auch so zu beschreiben: Der Urteilende er-streckt sich in die geschichtliche Zeit der Satzbildung in seiner Bewegung des Uber-gangs vom Subjekt zum Prädikat und des einigenden Zusammenfassens beider zum Ganzen der identischen Satzbedeutung. Ein Gegenstand: Kreis ist nicht nur „Einheit" im Sinne einer gegenständlichen „ G r ö ß e " , sondern in demjenigen eines Ganzen, in welchem sich einigende Handlung des subjektiven „Ich denke" vergegenwärtigt. Diese Handlung heißt: „Funktion". Sie ist eine in sich zusammenhängende, einige Bewegung des synthetischen Einigens. Synthesis als Zusammensetzung allein ergibt noch nicht den Gegenstand, von dem man als von einem Identischen, welches als Satzsubjekt zugrunde liegt, prädizieren könnte: es muß die durch transzendentale Bewegung geschehende Einigung von Seiten des „Ich denke" bzw. „Ich identisiere mich als die den Gegenstand einigende Einheit" in der Synthesis gegenwärtig sein, 33

Innen-Außen ist hier in dem Sinne zu verstehen, daß jenes die dem „ S e l b s t " des „Ich d e n k e " angehörigen Vorgänge betrifft, während dieses auf das vom Ich Verschiedene, auf die „ D i n g e " b z w . „ O b j e k t e " hinweist.

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damit der Gegenstand als „synthetische Einheit" ansprechbar und erkennbar wird. Der Gegenstand selbst ist nichts anderes als das Thema der sich selbst als identische Handlung erkennenden Erzeugung eines in jedem Augenblick der Darstellungsgeschichte Wiedererkennbaren. Ohne „ B e wußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Aktus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann. Vergesse ich im Zählen, daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis." (A 103) Denke ich ζ. B. den Gegenstand: Dreieck, so kann ich ihn insofern zum Subjekt von Sätzen machen, die „ ü b e r " das Dreieck gelten, als ich ihn zugleich zum identischen Thema von Konstruktionshandlungen mache, durch die ich ihm Eigenschaften gebe, die ich von ihm prädiziere. Das Satz-subjekt: Dreieck kann als Inbegriff dieser Handlungen aufgefaßt werden, durch welches die ausgesagten Prädikate als zu ihrem Subjekt gehörig vereinigt werden. Transzendentale Bewegung, subjektive und objektive Identität, Geschichte des Einigens und Er-gänzens sind Prinzipien, die für das Programm der transzendentalen Deduktion maßgebend sind. Sie übertragen dem Subjekt das Gesetz des Handelns im Vollzuge der Erkenntnis und machen es vom Zufall der Gegebenheit, von der Willkür der eigenen subjektiven Empfindung und der Beliebigkeit des vom Vernunftallgemeinen isolierten Vorstellungsstromes unabhängig. Es handelt sich um ein Programm der Sicherung der Freiheit des „Ich denke". Hierzu gehört ζ. B. die Erklärung, daß der Gegen-stand als „etwas überhaupt = X " gedacht werden müsse, weil wir „außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenübersetzen k ö n n t e n . " W i r finden, „daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von N o t w e n d i g k e i t (gesp. v. Verf.) bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, daß unsere Erkennmisse nicht aufs Geratewohl oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sind: weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendigerweise in Be-

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

ziehung auf diesen untereinander übereinstimmen, d. i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht." (A 104) In der Geschichte einigender Handlungen erzeuge ich den gegenständlichen Charakter des Gegenstandes; ich halte in ihr mich selbst als Identität, als „Ich denke" ebenso zusammen, wie ich mich in der Handlung der Produktion der Gegenständlichkeit des Gegenstandes und dessen Ganzheit aus-dehne. Dadurch, daß ich das „Mannigfaltige" meiner gegenständlichen Vorstellungen in der Einheit je m e i n e s Bewußtseins begreifen kann, nenne ich „dieselben insgesamt m e i n e Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfarbiges, verschiedenes Selbst haben als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin." (B 134) Verbindung liegt nicht in den Gegenständen und kann von ihnen nicht durch Wahrnehmung entlehnt und in „den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist als das Vermögen, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist." (B 134) Für die Freiheit des „Ich denke" in der Erkenntnissituation bürgt die von diesem sichergestellte Verfügung über den Gegenstand, auf Grund welcher den über ihn gültigen Urteilen der Charakter „notwendiger Einheit" verliehen wird. „Damit ich zwar nicht sagen will, diese Vorstellungen gehören in der empirischen Anschauung n o t w e n d i g z u e i n a n d e r , sondern sie gehören v e r m ö g e d e r n o t w e n d i g e n E i n h e i t der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander . . . Dadurch allein wird aus diesem Verhältnisse ein U r t e i l , d . i . ein Verhältnis, das o b j e k t i v g ü l t i g ist und sich von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, ζ. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet. Nach den letzteren würde ich nur sagen können: wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere, aber nicht: er, der Körper, ist schwer, welches soviel sagen will als: diese beiden Vorstellungen sind im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen." (B 142) Dieses transzendentale Programm der Freiheit des „Ich denke" im Sinne der Unabhängigkeit von Beliebigkeit, Willkür, Zufall ist mit der in den Kantischen Briefen an Beck gemachten Aussage zu verbinden, daß Kommunikation der Urteile nur auf Grund gemeinsamer synthetischer Handlung möglich sei. Diese kann in dem paradox scheinenden Satze

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gefunden werden: J e reiner die Freiheit des „Ich denke" verbürgt wird, um so sicherer wird dieses die Form des „Wir denken" annehmen können. In dem Maße nämlich, in welchem sich „Ich denke" von der Befangenheit gegenüber dem Zufall befreit, steht ihm der Weg zum Gemeinsamen, Allgemeinen offen. Der Prozeß dieser Befreiung bedeutet zugleich die Hinwendung des „Ich denke" zu den gemeinsamen Maßstäben der Gegenstandserzeugung. Gehe ich einen notwendigen, unbeliebigen Weg der synthetischen Einigung und folge dabei einem allgemeinen Gesetz, so vollziehe ich eine Bewegung, die gemeinsam sein kann und soll. Jeder vermag sie mitzuvollziehen, der sich dazu entschließt, sich auf den Boden der Vernunft zu stellen und nicht nur sich als „Ich denke" identisch zusammenzuschließen, sondern zugleich auch die Identität des „Wir denken" zu realisieren. Die Identität des Gegenstandes beruht dann auf einer von uns und für uns in Gang gesetzten gemeinsamen Geschichte des Einigens der Vielheit von Bestimmungen zur einigen Identität des Gegenstandes für uns. So vertraut Kant selbst auf die Kommunikabilität seiner eigenen Aussagen, indem er den Leser der Kritik der reinen Vernunft auffordert, die transzendentale Bewegung mitzuvollziehen und einen gemeinsamen A k t der Aufmerksamkeit auf diese zu leisten. Bewegung als „Handlung des Subjekts (nicht als Bestimmung eines Objekts)", folglich die „Synthesis des Mannigfaltigen im Räume" vollziehen wir in Gemeinsamkeit. Gemeinsam können wir vom Räume und seiner Mannigfaltigkeit abstrahieren und bloß auf die „Handlung achthaben, dadurch wir den i n n e r e n S i n n seiner Form gemäß bestimmen . . . " . (B 155) Welche Form aber, so muß man fragen, nimmt die transzendentale Bewegung im Bereich derjenigen synthetischen Urteile a priori an, die nicht durch Konstruktion von Objektbildern realisiert werden können? Gemeint sind vor allem die „synthetischen Grundsätze", durch welche nicht eine Konstruktion von Objektbegriffen beschrieben, sondern die allgemeine Verfassung der Gegenständlichkeit der Gegenstände überhaupt kodifiziert wird. Die in diesen Urteilen vollzogenen Synthesen sind fundamentaler Art, sofern sie die Grundlage für diejenigen Synthesen abgeben, in denen die Konstruktion von Begriffen geleistet wird, wie es in den mathematischen und physikalischen Aussagen der Fall ist. So kann man ζ. B . den synthetischen Grundsatz, der von der Kausalität handelt, als fundamentale Synthesis insofern bezeichnen, als er nicht eine Verbindung von einzelnen in der Raumanschauung gegebenen Elementen des Gegenstandes herstellt, sondern anschaulich g e b b a r e Inhalte ü b e r h a u p t miteinander zu einem Musterbild von Gegenständlichkeit über-

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

haupt verbindet. Daß ein Gegenstand überhaupt Züge der Kausalität aufweisen muß, um den Charakter von Gegenständlichkeit zu erfüllen, ist das Thema eines synthetischen Grund-satzes, welches nicht durch gegenständliche Darstellung an einzelnen Objekten mit objektiver Bedeutung erfüllt wird: vielmehr beschreibt es die gegenständliche Struktur der Kausalität möglicher Erfahrungsobjekte überhaupt. Die in solchen synthetischen Grundsätzen geleistete transzendentale Bewegung nimmt daher nicht, wie es in den mathematischen und physikalischen Synthesen der Fall ist, die äußere Raumanschauung unmittelbar in Anspruch, sondern vollzieht sich als synthetische Handlung des Verknüpf ens von B e g r i f f e n , die ihrerseits konstruktive Bedeutung haben können. Die Synthesis der Begriffe vollzieht sich auf der fundamentalen Ebene, in welcher die synthetischen Grundsätze ausgesprochen werden. Die in ihnen vollzogene transzendentale Bewegung nimmt nur die Z e i t in Anspruch, die freilich mittelbar als innere Anschauung auch die „äußere" des Raumes mit umschließt. In dem Abschnitt „ V o n dem obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile" sagt Kant auch im Hinblick auf das spezifisch philosophische Denken und Sprechen, daß ich in synthetischen Urteilen „ a u s dem gegebenen Begriff hinausgehen (soll), um etwas ganz anderes, als in ihm gedacht war, mit demselben in Verhältnis zu betrachten, welches daher niemals weder ein Verhältnis der Identität, noch des Widerspruchs ist . . . Also zugegeben, daß man aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen müsse, um ihn mit einem andern synthetisch zu vergleichen : so ist ein Drittes nötig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann. . . . Es ist nur ein Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, nämlich der innere Sinn und die Form desselben a priori, die Zeit." (B 194) Die Synthesis der objektiven Vorstellungen beruht auf der die Bilder produzierenden Einbildungskraft, die von den fundamentalen synthetischen Grundsätzen aber hergestellte apriorische Einheit vollzieht eine einigende Bewegung, in welcher sich das „Ich denke" bzw. „Ich urteile" in der Handlung des Verbindens von Subjektbegriff und Prädikatbegriff im Satze als Geschichte des Einigens erweist. Durch die „Kategorie" stellt „Ich denke" die Einheit des Gegenstandes und seines Begriffes dar. Alle Kategorien zusammen bilden das System der Handlungsfiguren, in denen die Geschichte der einigenden „ F u n k t i o n e n " besteht. In jeder Perspektive, die durch eine der Kategorien gegeben ist, nimmt die Geschichte der gegenständlichen Einigung ein besonderes Gesicht an. Als markanter Fall mag kurz die Kausalität betrachtet werden.

,Ich denke", Ganzheit des Produktes und Kommunikation

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Es liegt vom Standpunkt des lebensweltlichen Handelns aus nahe, immer dann, wenn Anlaß besteht, von Ursache und Wirkung zu sprechen, an das Vorbild des handelnden Verursachens zu denken: wird die Schwerkraft als Ursache für das Fallen des Steines angesprochen, so wird sie demgemäß als handelndes Sub-jekt verstanden, analog wie ich mich selbst als handelnde Ursache anspreche, wenn ich den Stein in eine Richtung werfe und so Ursache für seine Bewegung bin. In dieser Auffassung wird die Ursache, der man ein Handeln zuschreibt, nicht nur als zeitlich, sondern auch sachlich Erstes angesprochen, als die Grund-lage, auf der sich die Wirkung ergibt. Demgemäß ist das als Ursache Angesprochene dazu prädestiniert, im Kausalsatz die Subjektrolle zu spielen: in dem Satze, daß die Schwerkraft den Stein bewege, wird dem Subjekt die grund-legende Rolle zugewiesen, weil es eine Substanz bedeutet, die dasjenige bewirkt, was im Prädikat ausgesprochen wird. Dabei wird sichtbar, daß nicht nur der Begriff des Handelns ein besonderes Gesicht annimmt, wenn er die Bedeutung des Verursachens bzw. Bewirkens erhält, sondern daß auch auf die Kategorie der Kausalität ein besonderes Licht fällt, wenn sie vom Prinzip: Handlung her interpretiert wird. In den bisherigen Erörterungen war der Anlaß gegeben, zwischen einer Subjektlogik und einer Prädikatlogik zu unterscheiden: in ersterer spielt das Subjekt des Satzes die grundlegende und die Vielheit möglicher Prädikate vereinigende Rolle. Eine auf der Basis des Handlungsmodells beruhende Kausalaussage muß demgemäß der Subjektlogik zugewiesen werden, weil die in ihr die Subjektstelle vertretende Ur-sache als die Wirkung, die Prädikatcharakter hat, hervor-bringend, sie tragend und sie begründend aufgefaßt wird. In der aristotelischen Auffassung wird die Zugehörigkeit der Kausalität zur Subjektlogik deutlich: denn die die Rolle des Satzsubjekts übernehmende Ursache ist Substanz, welche die Wirkungen trägt, so wie eine Sache ihre Eigenschaften. Analysiert man den Satz: die Schwerkraft ist die Ursache für das Fallen des Steines, von transzendentallogischen Voraussetzungen her, so ergibt sich ein subjektlogisches Konzept. Die Schwerkraft spielt hier als Substan2 von vornherein die Rolle des Satzsubjektes, weil sie der Fall-wirkung analog zugrunde liegt, wie das Subjekt dem Prädikat. Aber Transzendentalphilosophie läßt Substanz nicht, wie es bei Aristoteles der Fall ist, als Ding an sich gelten, sondern führt ihr Grund-sein auf einen noch ur-sprünglicheren Grund zurück: das „Ich denke" ist es, welches in einer in sich einigen Handlung des Einigens eine objektive substantielle Identität erst erzeugt. In transzendentaler Bewegung beschreibt „Ich denke" eine

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Transzendentale Bewegung als Basis für K o m m u n i k a t i o n : Sprache und Handlung

Geschichte möglicher Veränderungen und nennt deren bleibenden „Grund", auf den es diese einigend zentriert, die Substanz. Da sich die transzendentale Bewegung als Geschichte des „Ich denke" erwiesen hat, welche sich am Leitfaden einer notwendigen Regel ereignet, wurde sie zugleich als gemeinsam, als „Wir bewegen uns" erwiesen. Die auf dem Boden der Transzendentalphilosophie sich ergebende subjektlogische Auffassung der Kausalität impliziert Kommunikation: „Wir" sprechen der Schwerkraft ζ. B. Ursachcharakter zu, weil wir sie als objektive Substanz erklären, welche wir verantwortlich für gegenständliche Wirkungen wie etwa das Fallen des Steines machen. Nach Kantischer Voraussetzung wäre das Humesche Kausalkonzept nicht imstande, Kommunikabilität der Kausalaussagen zu begründen, weil Hume Kausalität nicht auf objektive Verhältnisse und auf eine gegenständliche Substanzvorstellung gründet, sondern auf psychische Assoziationsmechanismen, über deren Kommunikabilität wir selbst keine Verfügung haben. 34 Wenn man von diesen Erörterungen zu der Frage nach der Kommunikabilität philosophischer Aussagen zurückkehrt, so ist zu wiederholen: sie geben keine „schematische", sondern eine „symbolische" Darstellung, wie etwa an einem Satze wie diesem ersichtlich ist: Die geschichtliche Welt ist im Fortschritt begriffen. Das Wort: Fort-schritt hat hier keinen physikalischen, sondern symbolischen Sinn. Die dabei in Frage kommende kommunikationsbegründende gemeinsame Handlung des Denkens und Darstellens ist einer andern Dimension zuzuweisen, als sie von der konstruktiven Beschreibung und Erzeugung des einzelwissenschaftlichen Gegenstandes in Anspruch genommen wird. In der Philosophie geht es um ein Sich-hineinversetzen und Stand-nehmen auf dem Boden der Welt. Die mit diesen Worten bezeichnete Denkhandlung ist deshalb gemeinsam, weil sie nicht subjektiver Willkür unterworfen ist, sondern auf Grund einer 34

Abstrahiert man von der Grundlage des denkenden Ich und faßt „ F u n k t i o n " nicht transzendentailogisch, sondern im Sinne der modernen formalen Logik und der ihr entsprechenden Wissenschaftstheorie auf, wie es in der Gegenwart im Anschluß an Frege der Fall ist, dann ergibt sich ein anderes Bild: jetzt unterscheidet man Kausalität auch sprachlich von „ U r s a c h e " , die man als T h e m a entweder ungenauen alltäglichen Sprechens oder veralteter Metaphysik abtut. Dabei aber geht der Bezug zum Handeln verloren, was am bekannten „covering-law-model" von Hempel und Oppenheim sichtbar wird. D e r hier maßgebende Kausalitätsbegriff entspricht eindeutig der prädikatlogischen Auffassung, sofern Kausalität als Relationssystem gilt, welches im Prädikat ausgesagt wird. Das Subjekt des Kausalsatzes ist hier nicht als Grundlage für Prädikate, sondern als Leerstelle für das System der im Prädikat ausgesagten Kausalrelationen zu verstehen. (Vgl. Carl G . Hempel, Erklärung in Naturwissenschaft und Geschichte, aus: Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaft (hg. von L . Krüger), Köln/Berlin 1970, S. 2 1 5 f . ) .

Konstruktion und philosophische Weltbeschreibung

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spezifischen philosophischen Rationalität gerechtfertigt werden will. Standnehmen auf dem Boden der vernünftigen Welt muß im Sinne spezifischer Rationalität motiviert und begründet werden. Diese Handlung ist nur kommunikabel, weil sie subjektive Beliebigkeit, Willkür und Zufälligkeit unmotivierbaren Behauptens hinter sich läßt. Eine Denk-handlung dieser Art wäre nicht kommunikabel und daher nicht wissenschaftlich, wenn man von ihr sagen müßte, daß sie als „weltanschauliche", unmittelbare Entscheidung zu respektieren wäre, die als Faktum ohne Diskussion anzuerkennen ist. D e r Zusammenhang zwischen Kommunikation im philosophischen Denken und Sprechen, Handlung des Sich-Versetzens in eine Welt und symbolischer Rede kann so charakterisiert werden: unsere Vernunft hat das Bedürfnis, Unbedingtes in be-dingten Gegenständen und Dingen der Erfahrung zugrunde zu legen, es „anzunehmen" und „voraus-zu-setzen". Damit ist zugleich verbunden, daß sie sich in den vorausgesetzten, vor alle einzelnen möglichen Weltinhalte gesetzten Weltzusammenhang ver-setzt. Was es heißt: Die philosophische Beschreibung dieser Welt vollzieht sich „symbolisch", soll Thema des folgenden Abschnittes sein.

6. Konstruktion und philosophische

Weltbeschreibung

Während die Handlung des Beschreibens eines Kreises in geometrischer Absicht als „direkte" Darstellung des Begriffes vom Kreis erklärt wird, sofern die Bedeutung dieses Begriffes in der Konstruktion des Kreisbildes liegt, ist es im Falle der Symbolisierung eines philosophischen Begriffes der Fall, daß der Verlauf und Aufbau der symbolischen Gestalt nicht den objektiven Gehalt des betreffenden Begriffes realisiert, sondern nur das Denken und Reflektieren ü b e r ihn leitet. Wird ζ. B. der Begriff der Gerechtigkeit durch eine mythische Frauengestalt mit einer Waage in der Hand symbolisiert, so fungiert der Bildgedanke des Gleichgewichtes als Anweisung, über die unbildliche Idee der Gerechtigkeit als eines ausgleichenden Prinzips nachzudenken. Das symbolische Bild hat hier nur einen indirekten Darstellungsbezug zum Begriff, der durch die R e f l e x i o n hergestellt wird. Sage ich, daß die Welt kugelförmig ist, so verlangt kritische Hermeneutik eine Deutung des Satzes, dergemäß er nicht als objektive Erkenntnisaussage über die Welt gewertet wird. Vielmehr wird durch die Bildbedeutung der Kugel das Denken und Reflektieren über die Welt dazu angeleitet, sie als etwas Geschlossenes zu denken, „außerhalb"

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

dessen nichts mehr infrage kommt. „Analog" den Verhältnissen auf der Oberfläche einer Kugel, an denen sich zeigt, daß jeder Punkt Anfang und zugleich auch Ende eines Weges um das Ganze dieser Gestalt herum bedeutet, muß der Weg sein, den das Denken und reflektierende Urteilen über die Welt nimmt. Während die „schematisch" arbeitenden Begriffe und Aussagen eine „demonstrative" Darstellung leisten 35 , da sie im produzierten Bilde die Gegenwart der anschaulichen Bedeutung des Begriffes zeigen, vergegenwärtigen die „Symbole" eine Orientierung des Denkenden an welt-haften Strukturen. Wie wirkt im Falle der symbolischen Darstellung die Urteilskraft, deren Aufgabe es ist, Einzelnes unter Allgemeines, Bildhaftes unter Begriffliches, Gegenständliches unter die Regel der Darstellung, die das „Ich denke" geltend macht, zu subsumieren und unter ihr zu vereinigen? Im Falle des Schemas ist es die Produktion des Bildes, das dem Begriff Sinn und Bedeutung verschafft und für die „bestimmende" Urteilskraft als das Besondere auftritt, das sie unter den Begriff zu bringen hat. Liegt aber Symbolisierung vor, so tritt r e f l e k t i e r e n d e Urteilskraft auf den Plan, die dem D e n k e n durch anschaulich gemachte Strukturen einen Leitfaden für die Beurteilung der W e l t gibt, in der ich Stand nehme. Die Urteilskraft verrichtet bei der Arbeit des Symbolisierens ein „doppeltes Geschäft", nämlich „erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung" anzuwenden und zweitens die „bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung" dem Denken selbst zu bezeichnen, sofern es einen unanschaulichen Gegenstand durch das anschauliche Bild symbolisiert. 36 Ein Symbol ζ. B. für einen monarchischen Staat, der „nach inneren Volksgesetzen" regiert wird, ist ein „beseelter Körper", wobei Kant offenbar die Seele mit dem inneren Volkswillen, den Körper mit der Bürokratie in Analogie setzt. Eine „Maschine" aber etwa von der Art einer „Handmühle" sei das passende Symbol für eine Diktatur. „Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren." Die Kausalstruktur einer Handmühle, die durch eine am Drehhebel angreifende Kraft in Gang gesetzt wird, kann als Leitfaden für die Art und Weise dienen, auch über die Vorgänge in der Diktatur zu reflektieren: auch das diktatorisch beherrschte politische Gebilde wird „von außen" her angetrieben. 35 36

Kritik der Urteilskraft § 59. V , S. 3 5 2 .

Konstruktion und philosophische Weltbeschreibung

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Das „Bild" der Mühle hat hier nur symbolische Funktion: es ist Leitfaden für unser reflektierendes D e n k e n , aber keine Darstellung des Wesens der Diktatur. In diesem symbolischen Bilde stellt sich nur die Bewegung des Denkens selbst dar. Kant gibt Beispiele von solchen Wörtern, die durch transzendentale Erweiterung zu philosophischer Bedeutung kraft ihres symbolischen Gehaltes gekommen sind. Die philosophische Sprache „ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter G r u n d (Stütze, Basis), A b h ä n g e n (von oben gehalten werden), woraus F l i e ß e n (statt Folgen), S u b s t a n z (wie L o c k e sich ausdrückt: der Träger der Akzidenzen) und unzählige andere, nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen und Ausdrücke für Begriffe nicht vermitteltst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d. i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann." In diesem Sinne könne das Schöne als Symbol des sittlich Guten angesehen werden. 37 Bildproduktion im philosophischen Denken und Sprechen ist der Kommunikation in nicht geringerem Grade fähig als diejenige in Mathematik, Geometrie, Physik usw., nur zeigt sie eine andere Art von Rationalität. Spreche ich ζ. B. vom „Stand" des „Ich denke" bzw. „Wir denken", so ist dieser selbst nicht „Gegenstand" des Konstruierens und schematischen Darstellens. Und doch sprechen wir „über" ihn. Die Rede vom „Stand" hat wie diejenige von der „Orientierung" im Denken symbolischen Charakter. Das heißt, daß die Bedeutung der Wörter „Stand", „Stand-nehmen", „Orientierung" usf. mehr Devisen für das Urteilen über den „Gegenstand" sind, als daß sie diesen selbst erkenntlich machen würden. Das Bild vom Standnehmen und vom Gebrauch einer diesem Stande entsprechenden Perspektive kann daher als Leitfaden für die Reflexion und die Beurteilung unseres eigenen philosophischen Denk-verhaltens dienen, dessen Bewegung darin besteht, daß wir uns in den Mittelpunkt einer Welt versetzen, von dem aus wir die einzelnen ihr angehörigen Gegenstände vorstellen, sie miteinander in Verbindung bringen und sie behandeln. Zusammenfassend möge zu der Funktion des Bildes in der philosophischen Sprache gesagt werden: Bei der symbolischen Darstellung („Hy37

V , S. 352f.

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Transzendentale Bewegung als Basis für K o m m u n i k a t i o n : Sprache und Handlung

potypose") wird einer Vernunftidee, der keine sinnliche Anschauung angemessen ist, ein Bild „untergelegt". Die Funktion dieser Verbildlichung kann in diesem Falle nicht darin bestehen, ζ. B. der Idee der Gerechtigkeit Sinn und Bedeutung bzw. „objektive Realität" durch Veranschaulichung zu verschaffen, etwa dadurch, daß man eine Waage zeichnet, um der Idee der Gerechtigkeit Bedeutung zu geben: denn Gerechtigkeit ist ein Sollen, kein natürlicher „Gegenstand"; sie hat ihre Bedeutung in sich selbst, ohne der Veranschaulichung zu bedürfen. Das Bild der Waage ist nicht „objektive Realisierung" der Idee der Gerechtigkeit. Seine Funktion symbolischer Darstellung gründet sich nur auf die „Form der Reflexion", nicht auf den objektiven „Inhalt". In dem als Symbol gebrauchten Bilde der Waage hat sich die reflektierende Urteilskraft mittels der produktiven Phantasie einen figürlichen Ausdruck geschaffen, welcher das Denken dazu anleitet, die Ansprüche der Gerechtigkeitsidee so zu beurteilen, wie das Bild des Ausgleichens der Waagschalen die W ä g e - h a n d l u n g normiert. Ein anderes Beispiel: Während das Bild des Dreiecks oder des Kreises in s c h e m a t i s c h e r Funktion dasjenige darstellt, was der Begriff Dreieck oder Kreis objektiv bedeutet, erfüllt der Kreis als Symbol 3 8 der Idee der Unendlichkeit eine normative Funktion. Das Symbol gibt dem metaphysischen Denken eine Anleitung zur Auslegung der Unendlichkeitsidee: diese wird durch das Symbol, durch eine „Konstruktion" höherer Stufe dargestellt. Das Kreissymbol bietet sich dem Denken als Anleitung dazu an, die Unendlichkeit als Bewegung zu verstehen, die in jedem Augenblick und auf jedem Punkte ihres Weges ein rundes und geschlossenes „Ganzes" repräsentiert. 3 9 D a ß in der symbolischen Darstellung Aufforderung und

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Vgl. mein B u c h : Philosophische Grundlegung zu einer wissenschaftlichen Symbolik, Meisenheim/Glan 1954, S. 170f. In diesem von der Voraussetzung einer intellektuellen Anschauung unabhängigen Sinne ist der Vorschlag Schellings diskutierbar, auch für das philosophische Denken Konstruktionshandlungen in Anspruch zu nehmen. ( „ Ü b e r die Konstruktion in der Philosophie", W e r k e (Schröter), B d . I I I , S. 5 4 5 ) . Schelling bezeichnet eine Begründung der „Methode der K o n s t r u k t i o n in ihrer größten Strenge" als den Hauptpunkt, „auf den die wissenschaftliche Vollendung der Philosophie a n k o m m t " . Kant habe den „allgemeinsten Begriff der K o n s t r u k t i o n " als vielleicht erster tief und echt philosophisch aufgefaßt. (S. 548). Den richtigen Gedanken philosophischer Konstruktion spricht Schelling in dem Satze aus, daß man im D e n k e n überhaupt nicht eher als bei dem Punkte aufhören k ö n n e , wo „das K o n struierende und das Konstruierte — das Denkende und Gedachte — schlechthin in eins zusammenfällt." D i e s e r Punkt wird als „ P r i n z i p der K o n s t r u k t i o n " benannt. (S. 545). Im weiteren Verlauf der Überlegungen wird dieses Prinzip im Zusammenhang mit dem konstruktiven Weltentwurf diskutiert werden.

Konstruktion und philosophische Weltbeschreibung

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zugleich Anleitung für eine Urteilshandlung liegt, verrät sich im Kantischen Text an der Stelle, an welcher er von der „Maxime der Urteilskraft" spricht. 40 Die Maxime, eine Idee wie die der Gerechtigkeit oder der Unendlichkeit am Leitfaden entsprechender Symbole zu „konstruieren" und sich dabei der Form der Reflexion bzw. der Analogie der Strukturen zu bedienen, begründet Kommunikation auch der philosophischen Sprache. Diese Kommunikation des philosophischen Denkens und Sprechens beruht auf denselben gemeinschaftsbildenden Handlungen der symbolischen Konstruktion, wie sie sich auch im Bereich der ästhetischen Urteilskraft zeigen. Im „Schönen" zeigt sich das Symbol des „SittlichGuten", und somit einer intelligiblen W e l t , die ich nach derselben Harmonie von Vernunft und Anschauung, Freiheit und Natur konstruierend entwerfe, wie sie sich in analoger Weise im Kunstwerk zeigt. 41 Im Hinblick auf den Unterschied zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Darstellungshandlung und Kommunikation mögen folgende Ergebnisse resümiert werden: 1. Die Handlung, in welcher der Begriff des Kreises konstruiert wird, schlägt sich in dem „objektiven" Bild eines Kreises nieder, welches das Mittel für die Anwendung des Kreisbegriffs auf die empirische „Wirklichkeit" hergibt. Der Anspruch dieser Anwendung fordert die „bestimmende" Urteilskraft dazu heraus, die gemeinsame Produktionshandlung eines Kreisbildes zu vollziehen und so die allgemeingültige Möglichkeit der Anwendung des Kreisbegriffes auf Wirklichkeit, d. i. auf einzelne Fälle im Zuge gemeinsamer Urteils- und Konstruktionsarbeit zu begründen. Auch das S y m b o l ist eine Bildfigur, in welcher sich nicht ein „Begriff", aber eine Idee, nicht der Verstand, sondern die Vernunft „darstellt". Hier geht es nicht um die Anwendung auf Wirklichkeit, und ebensowenig kommt die Möglichkeit in Frage, diese Idee „objektiv" zu „realisieren". Aber gleichwohl dient auch das Symbol der Mitteilung und Kommunikation über den Inhalt der Idee. Sofern ζ. B. der Kreis in symbolischer Funktion gebraucht wird, stellt die Reflexion an ihm gestalthafte Züge wie gleichmäßigen und symmetrischen Verlauf der Peripherie und den Rücklauf dieser Linie in sich 40 41

V , S. 3 5 3 . V , S. 3 5 3 : „Nun sage ich: Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumutet), gefällt es mit einem Ansprüche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüt zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist und anderer Wert auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urteilskraft schätzt."

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Transzendentale Bewegung als Basis für K o m m u n i k a t i o n : Sprache und Handlung

selbst in jedem Punkte fest. Demgemäß soll in gemeinsamer kommunikativer Denkarbeit auch der Inhalt der Unendlichkeitsidee beurteilt werden. Gleichmäßigkeit, Symmetrie, Vollkommenheit, Verlauf in sich selbst fungieren als Maximen des Urteilens über die Unendlichkeit. Die Produktion des symbolischen Bildes geschieht nicht nach der Methode einer „ R e g e l " des Konstruierens, sondern nach einer „Maxime" der Urteilshandlung. Diese Maxime drückt sich im Symbol gleichsam in der F o r m eines Schriftzeichens aus, dessen gestalthafte Züge die Prinzipien sichtbar machen, nach denen in analoger Weise die Idee gedacht und beurteilt werden muß. 2 . Das Bild des Kreises kann in zwei verschiedenen Funktionen Gebrauch finden: es kann Ergebnis einer schematischen Konstruktion im geometrischen Interesse sein, deren Eigentümlichkeit es ist, an Hand einer Regel quasi maschinell Punkt für Punkt der Figur zu gewinnen und auf diese Weise den Kreis zu beschreiben. Der Begriff dieser „mechanischen" Konstruktion weiß nur etwas von einer Feststellung der Punkte, durch welche hindurch die Umgrenzungslinie einer Figur wie die Peripherie des Kreises ver-läuft, aber nichts von einer Bewegung dieses Verlaufens selbst. 4 2 Anders ist es, wenn etwa der Philosoph oder Künstler den Kreis in „symbolischer" Absicht beschreibt, um damit eine Darstellung der Welt- oder der Unendlichkeitsidee zu geben. Dabei ist die B e w e g u n g des Beschreibens und Zeichnens leitend, für welche charakteristisch ist, daß sie an einem Punkte anfängt und schon im Anfangsaugenblick auf den Endpunkt teleologisch gerichtet ist, der in der Geschichte des Beschreibungsvollzuges erreicht werden muß, damit die Figur ein „Ganzes" wird. Die Eigentümlichkeit und Bedeutsamkeit dieser teleologischen Beschreibung tritt in Überlegungen zur Ästhetik, nicht in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen vor den Blick Kants. So kommt es ζ. B. zu der merkwürdigen Situation, daß er das Bild eines Hundes als Ergebnis einer geometrischen Konstruktion, einer „schematischen" Darstellung auffaßt. Daher bringt er es in seiner Theorie vom wissenschaftlichen Bilde nicht fertig, dem Begriff des figürlichen Charakters gerecht zu werden, wie er durch Prädikate von der A r t : ebenmäßig, symmetrisch, gedrungen, schlank, grazil usw. angesprochen wird. 4 3 So kann Kant in seiner Schematis-

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Vgl. meine „Philosophie der Beschreibung", K ö l n / G r a z 1968. In der Gleichsetzung von „ K o n s t r u k t i o n " und maschineller Gewinnung figürlicher Punkte zeigt sich noch ein Rest der mathesis-universalis-Idee bei Kant, die auch bei Leibniz in

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mus-Theorie dem nicht gerecht werden, was man als „Gestalt" bezeichnet. Die Unangemessenheit von maschineller Konstruktion gegenüber einer der Bildungskraft der Natur angemessenen Handlung darstellenden Beschreibens führt zur Komik folgenden Satzes: „ D e r Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in c o n c r e t o darstellen kann, eingeschränkt zu sein." Daß Kant aber sich selbst und seiner Beschränkung des Konstruktionsbegriffs auf maschinelle Tätigkeit überlegen ist, zeigt der folgende Satz: „Dieser Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden." (B 181). Ebenso weist über den Konstruktionsbegriff im engeren Sinne die auf den Bewegungscharakter der figürlichen Beschreibung weisende Stelle hin: „ D i e Schemata sind daher nichts als Z e i t b e s t i m m u n g e n a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien auf die Z e i t r e i h e , den Z e i t i n h a l t , die Z e i t o r d n u n g , endlich den Z e i t i n b e g r i f f in Ansehung aller möglichen Gegenstände." (B 185). 3. Kant hat den Unterschied zwischen schematischer und symbolischer Darstellung vorwiegend auf denjenigen Zusammenhang beschränkt, in welchem er glaubte, dem Symbol den ihm geeigneten Platz anweisen zu dürfen: in der Ästhetik. Er spricht vom Schönen als dem Symbol der Sittlichkeit und sieht es als Aufgabe des Künstlers an, Symbole für Ideen zu entwerfen. Dabei ist die kommunikationsbildende Fähigkeit des spezifisch philosophischen Denkens und Sprechens seiner Aufmerksamkeit entgangen, obwohl er für deren Untersuchung genügend Voraussetzungen in seiner Symboltheorie geschaffen hat. 4 4 U m die

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dem Programm einer mathematischen Charakterisierung der Linien menschlicher Profile zur Sprache gekommen ist. Vgl. die schon zitierte Stelle V, S. 353. Ebenso die bemerkenswerten einleitenden Sätze zur Abhandlung: „ W a s heißt: Sich im Denken orientieren?". Es heißt da, daß auch unsere abstraktesten philosophischen Begriffe im Grunde eine Art von Destillation aus der bildhaft verfahrenden Lebensweltsprache sind. Dabei deutet Kant eine Methode an, von der er selbst in seiner Metaphysik Gebrauch gemacht hat: das Denken geht von der bildhaften, in die lebensweltlichen Handlungen versenkten Sprache aus, befreit aber seine Begriffe von den hier noch gegebenen anschaulichen Bildbedingungen und hat am Schlüsse einen „reinen Verstandesbegriff übrig, dessen U m f a n g nun erweitert ist und eine Regel des Den-

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

kommunikativen Möglichkeiten der symbolischen Sprache der Philosophie ganz übersehen zu können, muß jetzt der Versuch gemacht werden, die bei Kant sich findenden Fragmente zur philosophischen Kommunikation durch den Gebrauch von Symbolen zu einer Theorie zu ergänzen. Dabei wird der Weltbegriff eine maßgebende Rolle spielen. Es wurde von der Handlung des orientierenden Weltentwurfes und der Möglichkeit gemeinsamer Handlung des Standnehmens auf dem Boden der Welt gesprochen. Der symbolische Name: „Orientierung" kann als Beispiel für die Sprache angesehen werden, in der ich über diese Welt spreche. Sofern ich „über" sie rede, bringe ich mich selbst, der ich mich in sie versetzt habe, zur Sprache. Ich reflektiere über meine Welt und meine Stellung in ihr, indem ich sie beschreibe und sie als O r i e n t i e r u n g s h o r i z o n t für mich und mein Tun deklariere. Dabei übertrage ich die Rede von der Orientierung im geographischen oder mathematischen Raum symbolisch auf die Verhältnisse meiner intelligiblen Welt und meine Stellung in ihr. Mit einem Worte: es geht hier nicht darum, ein Objekt zu verbildlichen, sondern es geschieht Selbstdarstellung. Welt ist nicht ein im schematischen Verfahren beschreibbarer realer „Gegenstand". Ich kann sie nur in dem Denkvollzug symbolisch beschreiben, der Standnehmen auf ihrem Boden bedeutet. Gemeinsames Standnehmen im Bereich eines entworfenen Weltzusammenhanges ist für philosophische Kommunikation und gegenseitiges „Verstehen" im philosophischen Dialog Voraussetzung. Gemeinsamkeit der Denkhandlung, welche als Standnehmen auf dem Boden je meiner Welt bezeichnet wurde, ergibt die Möglichkeit für Kommunikation beim philosophischen Denken und Sprechen. Wir nehmen in einem gemeinsamen Denkvollzug Stand auf dem Boden „unserer" Welt und beschreiben sie in einer gemeinsamen symbolischen Produktion. Auf philosophisches Denken und seine symbolische Sprache sind Bemerkungen zu übertragen, die Kant im Bereiche der Ästhetik macht, wenn er das Schöne als Symbol des sittlich Guten bezeichnet. kens überhaupt enthält." Auf diese Weise sei selbst die allgemeine Logik zustande gekommen . . . (VIII, S. 133) Die Bildhaftigkeit wird auch in den abstraktesten Begriffen nicht ganz abgestreift: im eigenen Interesse dieser Begriffe, bei deren Gebrauch es die Vernunft sich angelegen sein läßt, sie auch auf Erfahrung anzuwenden. „Wir mögen unsere Begriffe noch so hoch anlegen und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer b i l d l i c h e Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum E r f a h r u n g s g e b r a u c h e tauglich zu machen. Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgendeine Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel auf irgendeiner möglichen Erfahrung sein muß) untergelegt würde?"

Konstruktion und philosophische Weltbeschreibung

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Dabei vervollständigt er das Bild vom Ensemble der für philosophische Kommunikation nötigen Bedingungen durch den Gedanken der Selbstgesetzgebung des Denkens. Erhebt ein Kunstwerk Anspruch auf „jedermanns" Beifall, so sieht sich die ästhetische Urteilskraft dabei nicht einer „Heteronomie der Erfahrungsgesetze" unterworfen. „. . . sie gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens tut; und sieht sich sowohl wegen dieser innern Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äußeren Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur auf etwas im Subjekte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Ubersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden w i r d . " 4 5 Wenn von einer Beschreibung der Welt die Rede war, in deren Perspektive wir unsere Aufgaben in Theorie und Praxis erfüllen, so sollte damit angezeigt werden, daß das philosophische Denken der Idee dieser Welt nicht nur eine formale, regulative Stellung gibt: vielmehr beschreibt es sie inhaltlich und stattet sie mit Zügen aus, welche die Vernunft verlangt. Wissenschaft von der Welt und ihren orientierenden und sinngebenden Eigenschaften ist Metaphysik. Metaphysik der Natur ζ. B. legt entwerfend eine natürliche Welt zugrunde, die als räumlich-zeitlicher Zusammenhang zu begreifen ist, innerhalb dessen Kräftewirkungen geschehen. Unter den maßgebenden „Welt"-gesetzen kommt das von der Gleichheit von actio und reactio vor. Es wird ein mechanisches Modell „konstruiert", demgemäß der Freiheitsspielraum für die Bewegung eines Körpers durch denjenigen der anderen Körper eingeschränkt wird. Dieses Modell gibt zugleich das Symbol für die Verhältnisse der Rechtswelt a b . 4 6 45

V , S. 3 5 3 .

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D a symbolisierende Handlung des philosophischen Denkens und Sprechens im Zusammenhang mit der Idee des handelnden, philosophierenden und philosophierend sprechenden „ W i r " zur Debatte steht, ist es angemessen, den hier einschlägigen Passus im Kantischen Text genauer zu beachten. Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit sei „gleichsam die K o n s t r u k t i o n jenes Begriffs, d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der K ö r p e r unter dem Gesetze der G l e i c h h e i t d e r W i r k u n g und G e g e n w i r k u n g . " A b e r es ist keine Konstruktion in Reinkultur: denn das i n t e l l i g i b l e V e r h ä l t n i s des Rechts läßt sich, da es eine Idee ist, nicht konstruieren. N u r eine mechanische Seite am R e c h t , nämlich der „wechselseitige und gleiche Z w a n g " , der mit ihm verbunden ist, gibt für den Rechtsbegriff die Möglichkeit ab, ihn nach mechanischer „Analogie" darzustellen

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

In der Erläuterung dazu wird auf die symbolische Funktion solcher Gestaltcharaktere wie gerade, krumm usw. im Bereich der rechtlichen und rechtsmetaphysischen Sprache hingewiesen. „Das Rechte (rectum) wird als das G e r a d e teils dem K r u m m e n , teils dem S c h i e f e n entgegengesetzt. Das erste ist die i n n e r e B e s c h a f f e n h e i t einer Linie von der Art, daß es zwischen zwei gegebenen P u n k t e n nur eine e i n z i g e , das zweite aber die L a g e zweier einander durchschneidenden oder zusammenstoßenden L i n i e n , von deren Art es auch nur eine e i n z i g e (die senkrechte) geben kann, die sich nicht mehr nach einer Seite als der andern hinneigt, und die den Raum von beiden Seiten gleich abteilt, nach welcher Analogie auch die Rechtslehre das s e i n e einem jeden (mit mathematischer Genauigkeit) bestimmt wissen will, . . , " 4 7 Die im metaphysischen Denken und Sprechen geschehende Beschreibung der Natur-weit einerseits und der intelligiblen Welt des Rechts und der Moral andererseits ist als gemeinsame symbolische Handlung zu verstehen. Nicht objektiv reale Bilder von Dingen werden hier „konstruiert": vielmehr denken und „beschreiben" wir zugleich uns selbst und unsere Situation, wenn wir „über" unsere Welt, in die wir uns ver-setzen, sprechen. Damit ist auch ein sprachlicher Unterschied verbunden. Die auf „schematischer" Darstellung beruhende Sprache der Einzelwissenschaft hat deskriptiven Charakter: sie macht über seiende Tatsachen und Verhältnisse Aussagen. Entwirft aber Vernunft eine „ W e l t " und gibt sie ihr in symbolischer Beschreibung Eigenschaften, an denen sie „interessiert" ist, so sind die entsprechenden metaphysischen Sätze, in denen eine Beschreibung in scheinbar feststellender, „ i s t " sagender Form geschieht, in Wahrheit von normativem Charakter: denn was hier beschrieben und festgestellt wird, ist ein vorbildhafter und orientierender Zusammenhang. Die Metaphysik der natürlichen Welt gibt die apriorischen Strukturen an, welche für jedes physikalische und naturwissenschaftliche Vorgehen maßgebend sind. In noch höherem Maße wird dieser paradigmatische, normative Zug an der im Entwurf mit „vernünftigen" Zügen ausgestatteten Welt im Bereich der praktischen Vernunft deutlich. Wie im Zusammenhang des „praktischen" Handlungsbegriffes

47

und ihn „gleichsam" zu konstruieren. Daß es sich hierbei um eine Zwischenform handelt, die in der Mitte zwischen naturwissenschaftlicher Objektkonstruktion und metaphysischer Symbolik der eigenen Weltsituation liegt, so daß Kant hier einen erweiterten, auch für das philosophische Denken und Sprechen gültigen Konstruktionsbegriff im Blick hat, zeigt das W o r t „Analogie" an, welches nicht in den Zusammenhang schematischer, sondern symbolischer Darstellung gehört. VI, S. 2 3 3 .

Handlungswelt und Wissenschaft

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später deutlich werden wird, entwirft Vernunft ζ. B. im Bereich der Geschichtsphilosophie die Züge einer geschichtlich-natürlichen Welt, deren Eigenschaften zu dem Zwecke normiert werden, daß wir uns an ihr orientieren und ausrichten sollen. Abschließend ist zu diesem Thema zu sagen: es ging darum, den Zusammenhang von bildproduzierender Handlung und Kommunikation kennenzulernen. Dabei wurde die schematische Darstellungs- und Bildpraxis der Einzelwissenschaft vom symbolischen Denken und Sprechen der Philosophie und damit eine „engere" von einer „weiteren" Konstruktion unterschieden. Im Falle der symbolischen Sprache der Philosophie wurde auf die Handlung eines konstruktiven Entwurfes einer der Orientierung dienenden Welt verwiesen. Gemeinsames Standnehmen auf dem Boden dieser symbolisch beschriebenen und dem Vernunftinteresse Ausdruck verleihenden Welt begründet Kommunikation. „ I c h " erweitert sich zum „ W i r " durch den Vollzug kommunikabler Handlungen des Standnehmens und symbolischen Sprechens. Im folgenden mag die Ausbildung des Weltprinzips als Leistung einer erweiterten Konstruktion deutlicher gemacht werden.

7. Handlungswelt als Funktion der Wissenschaft und erweiterter Konstruktionsbegriff In der Entwicklung des Gedankens der Konstruktion in der Nachfolge Kants bis zur Gegenwart ist, besonders bei Schelling und beim frühen Hegel, ein Typus zur Geltung gekommen, den man als „erweitertes Konstruktionsprinzip" ansprechen kann. Für dieses ist nicht die schematische Regel der figürlichen Produktion maßgebend, sondern der figürliche Charakter einer beschreibenden Bewegung, deren Produkt ein „Ganzes", „Einfaches" ist. Dabei kommen Gestaltcharaktere ins Spiel, die aus der Erfahrung der lebensweltlichen Praxis und Kenntnis der Dinge bekannt sind, wie Symmetrie, Gleichmäßigkeit, Rundheit oder Geradheit. Kant hat solche anschaulichen, für die vor-theoretische Praxis maßgebenden Charaktere auch in der F o r m von Richtungsbestimmungen im Raum, wie oben, unten, links, rechts usf. zu Grunde gelegt, um die Möglichkeit von Mathematik und Naturwissenschaft auf dieses Fundament zu gründen. V o m Standpunkt des „erweiterten" Konstruktionsprinzips aus ist es von Interesse, daß in einem gegenwärtigen „konstruktivistischen" Ansatz die Begründung von Wissenschaft auf proto-theoretische Erfahrungen zurück-

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

geführt wird. 4 8 Um ζ. B. Geometrie zu begründen, sucht man Anschluß an lebensweltliche Form- und Gestalterfahrungen und die dort begegnenden handwerklichen Praktiken der Herstellung von Rädern, Ebenen, Brettern oder Gläsern, konvexen oder konkaven Linsen usw. Das Motiv für den Rückgang auf lebensweltliche Erfahrungen ist wohl darin zu sehen, daß man einerseits dem Dinglerschen Dezisionismus und Konventionalismus nicht zu folgen gedenkt, andererseits aber die sogenannte Münchhausen-Situation in der Wissenschaftsbegründung vermeiden will. Der engere, auf das Schema gegründete Konstruktionsbegriff stellt eine Abstraktion gegenüber der „erweiterten" Konstruktion lebensweltlicher Gestaltrealisierung dar, denn er lebt von der schematischen Regel, dergemäß Punkte bestimmt werden, deren Verbindung eine Figur ergibt. Die im Horizont lebensweltlicher Auffassung der Gestalten vollzogene Konstruktion aber produziert Figuren, in denen die Geschichte der sie darstellenden Bewegung als ein kontinuierlicher Vollzug gegenwärtig ist. Am Produkt wird der Wille ablesbar, eine g a n z e Figur vom ersten Anfangspunkt bis zu ihrer Voll-endung zu produzieren, so daß hierbei die maschinelle Regel der Konstruktion in den Hintergrund rückt. Ein Beispiel für solch ein Handeln wäre die von Dingler beschriebene Herstellung einer realen „Ebene" durch gegenseitiges Abschleifen von drei Körpern. Die „Welt" des Handelns, die als Fundament für Wissenschaft in Frage kommt, ist selbst „Gegenstand" einer Metaphysik des vorwissenschaftlichen Lebensbereiches. Sie muß als notwendige Voraus-setzung beschrieben und normiert werden, um auf dieser Basis für die spezifisch theoretischen Handlungen Orientierung zu finden. Mit der These, daß das Fundament für wissenschaftliche Begriffsbildung und dazugehörige Aussagen in der Praxis der Lebens-welt gesucht werden müsse, wird zugleich die Frage herausgefordert, was man sich bei dem Worte: „Welt" zu denken habe und w i e das Denken beschaffen sei, welches hierbei gefragt ist. Dabei ist an die schon gegebene Erklärung zu erinnern, daß dieses spezifische Denken als Standnehmen zu beschreiben sei. Als „Boden" dieses Standnehmens wurde die Welt bezeichnet. Sie ist nicht „gegeben", sondern Produkt einer von der Vernunft geleisteten Handlung des Entwerfens. So entwirft ζ. B. pragmatische Vernunft einen lebens-weltlichen Zusammenhang, der für mich und mein Handeln o r i e n t i e r e n d e Bedeutung hat, sofern ich meine Aufgaben und Möglichkeiten aus dessen Perspektive beurteile. Die Aussage, es gehe hierbei um 48

ζ. Β. P. Lorenzen, Methodisches Denken, Frankfurt 1968, S. 120f.

Handlungswelt und Wissenschaft

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ein stand-nehmendes Denken, will der kritischen Warnung Genüge leisten, die Welt nicht als „Gegenstand" vor-stellenden und objektivierenden Erkennens aufzufassen. Die Folgerung daraus ist, daß ich „ ü b e r " diese Welt nur von einer Situation her sprechen kann, in der ich mich diesem „ G e g e n s t a n d " nicht wie das Subjekt dem Objekt gegenüberstelle, sondern dasjenige quasi objektiv ausspreche und formuliere, was „ i m G r u n d e " der Charakter meines eigenen Standnehmens ist. Angenommen, ich habe ein Versprechen gegeben, und es fragt sich jetzt, welche Voraus-setzung und Annahme ich nötig habe, um dieses Versprechen und seine Erfüllung als sinnvoll ansehen und die prinzipielle Aussicht auf Einlösung motivieren zu können. Die Antwort lautet, daß ich mich dazu in eine Welt hineinzuversetzen habe, die ich als relativ beständig und identifizierbar über die Zeit hinweg voraus-setze, die vom Versprechen bis zur Erfüllung des Versprechens vergangen ist. Zum Handeln b r a u c h e ich die Möglichkeit, mich an einer von der pragmatischen bzw. praktischen Vernunft entworfenen Welt motivieren und orientieren zu können. Diese Welt, die Kant bei der Fundierung von Naturphilosophie sowie Moral- und Geschichtsphilosophie auch als „ N a t u r " bezeichnet, trägt die Züge der sie entwerfenden Vernunft: da sie mir nicht gegenständlich vor Augen steht wie ein einzelnes Objekt i n n e r h a l b der Welt, so kann ich mich denkend nur mit ihr in der Weise befassen, daß ich mich in sie hinein v e r s e t z e , wofür auch die Wendung gebraucht werden möge: Ich nehme Stand auf dem Boden der von der Vernunft entworfenen Welt. Diese Handlung des Standnehmens begründet zugleich die Möglichkeit der Kommunikation des Redens über diese Welt, die als gemeinsame Voraussetzung den Grund für gegenseitige rationale Rechtfertigung der jeweiligen Motivation der Subjekte ergibt. Lebenswelt ist als „ W e l t " nicht gegeben, sondern Ergebnis eines Entwurfes, dessen ich b e d a r f , um in der „richtigen" Verfassung handeln zu können. Geht es um Handeln im Sinn des Aufbaus von Wissenschaft, so muß die voraus-gesetzte und vorweg-entworfene Welt, die als Totalzusammenhang meines Denkens und Handelns das Fundament für Wissen abgibt, solche Züge aufweisen, die in filtrierter Form jeweils in die Sprache der jeweiligen Wissenschaft und ihrer Kategorienwelt eingehen. Es ist die Aufgabe der metaphysischen Begründung einer Wissenschaft, die in ihre Begriffe investierte Vor-welt zum Gegenstand systematischer Analyse und Beschreibung zu machen. Wenn die „ W e l t " Ergebnis eines bloßen Entwurfes sein soll und nicht gegenständlich vor mir dasteht, sondern als im „Rücken" oder „unter den

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

Füßen" des Bewußtseins liegend anzunehmen ist, so scheint es, daß sie das Prädikat: „real" nicht verdient und in den Bereich bloßer Vorstellung zu verweisen ist. Dem, der solchen Idealismus des Weltprinzips behauptet, ist von Kant her insofern Recht zu geben, als Welt, in t h e o r e t i s c h e r Perspektive betrachtet, nur Idee, also Vorstellung ist. Weltidee verwandelt sich erst in dem Augenblick in Realität, in welchem sie die Rolle einer notwendigen Voraussetzungen für Handeln spielt und infolgedessen als Moment in die H a n d l u n g s w i r k l i c h k e i t eingeht. Wird die vorausgesetzte Weltidee in einem praktischen Motivationszusammenhang aufgenommen, so nimmt sie an der Wirklichkeit einer Geschichte des Handelns teil: nicht als gegenständlicher Inhalt, sondern als Orientierungsrahmen für den Handelnden gewinnt sie schon in dem Augenblick W i r k l i c h k e i t , in welchem die Gemeinschaft der handelnden Subjekte ihr S e i n durch diese Welt bestimmt sein lassen. In den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" konstruiert Kant die Welt-struktur, die das naturwissenschaftlich forschende Subjekt voraus-setzen und in die es sich selbst ver-setzen muß, um auf dieser Basis seine wissenschaftlichen Zielsetzungen realisieren zu können. An den Kategorien dieser Welt sind die Bezüge lebensweltlichen Handelns erkennbar. Der Name „Welt" findet in den Aussagen, in denen Kant in der „Vorrede" zu dieser Schrift die Aufgabe der Metaphysik der Naturwissenschaft, insbesondere der Wissenschaft von den Körpern expliziert, kaum Gebrauch. Aber die Weltidee steht im Hintergrund des metaphysischen Konzepts der Begründung von Wissenschaft, sofern Kant seine Aufgabe darin sieht, eine „metaphysische" Konstruktion der Naturbegriffe zu leisten. Sie besteht in der Beschreibung der Welt, die der Naturforscher jeweils voraus-setzen muß, um auf ihrem Fundament die „mathematische" Konstruktion der physikalischen Strukturen leisten zu können. Als Meister der „mathematischen Konstruktion physikalischer Begriffe" steht Newton im Hintergrund der Erörterung. Metaphysische Konstruktion leistet den Aufbau der „Welt", auf deren Boden der Physiker mit seiner mathematischen Konstruktion operiert und welche „die Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst in einem System darzustellen" erlaubt. 49 Daß „metaphysische Konstruktion" zum Ergebnis die Beschreibung einer Lebenswelt hat, deren Gegenstände und Ereignisse im Sinne des „erwei-

49

IV, S. 473.

Handlungswelt und Wissenschaft

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terten" Konstruktionsbegriffes darzustellen sind, mag an Hand einiger Erörterungen Kants sichtbar gemacht werden. Wenn Kant in einer ersten Erklärung zur Phoronomie die „Materie" als das „Bewegliche im Räume" deklariert und von relativen Räumen spricht, die zuletzt im „absoluten R a u m " enthalten seien, so beschreibt er damit einen Welthorizont: Philosoph und Physiker müssen sich, um diesem absoluten Raum die ihm eigentümliche Bedeutung zu sichern, selbst in ihn hineinversetzen und ihn demgemäß als Weltraum behandeln. Der absolute Raum darf nicht zum „wirklichen D i n g e " gemacht werden, sondern muß kritisch als „ I d e e " festgehalten werden. „Ihn zum wirklichen Dinge zu machen, heißt die l o g i s c h e A l l g e m e i n h e i t irgendeines Raums, mit dem ich jeden empirischen als darin eingeschlossen vergleichen kann, in eine p h y s i s c h e A l l g e m e i n h e i t des wirklichen Umfanges verwechseln und die Vernunft in ihrer Idee mißverstehen." 5 0 Die Erklärungen und Beschreibungen in den „Metaphysischen Anfangsgründen" sind als von einem Standpunkt aus gesprochen und gemeint zu interpretieren, der sich als Position innerhalb einer räumlichen und von Körpern, die bewegbar sind, erfüllten Welt begreift. Die hier vorkommenden Gestalten und Bewegungsfiguren werden im Sinne erweiterter Konstruktion in einer lebensweltlichen Sprache beschrieben, die auch dem in der Raum und Bewegung aufweisenden Welt Handelnden angemessen ist. 5 1 Daher findet man hier Beschreibungen, die für den handelnden Umgang mit den Körpern wichtig sind und die von pragmatisch-relevanten Gestaltcharakteren Gebrauch machen. Pragmatische Relevanz haben diese Gestaltbeschreibungen, sofern durch sie Orientierung im Welt-raum zum Zwecke effektiven Eingreifens in die Körperwelt mit der Absicht auf Zweckverwirklichung möglich ist. Als Zwecke besonderer Art können diejenigen angesehen werden, die sich der Physiker im Umgang mit der Natur setzt: er „ w i l l " ζ. B . experimentieren. Die Beschreibung der die Naturwissenschaft fundierenden Welt, in der ich mich als Handelnder orientiere, enthält daher alle möglichen Gestalt- und Bewegungscharakterisierungen, mit denen ich als Handelnder rechnen muß: „ D i e Bewegungen können d r e h e n d (ohne Veränderung des Orts) oder fortschreitend, diese aber entweder den Raum erweiternd, oder auf einen gegebenen Raum eingeschränkte Bewegungen sein. Von der e r s t e r e n Art sind die geradli-

50 51

IV, S. 482. Näher ausgeführt in meiner Arbeit: Metaphysik der Natur, Weltidee und das Prinzip der Handlung bei Kant, Zs. f. Philos. Forschung, Bd. 30 (1976), H. 3, S. 329ff.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

nichte oder auch krummlinichte in sich n i c h t z u r ü c k k e h r e n d e Bewegungen . Die von d e r z w e i t e n sind die in sich z u r ü c k k e h r e n d e . Die letztern sind wiederum entweder z i r k u l i e r e n d e oder o s c i l l i e r e n d e , d . i . Kreis- oder schwankende Bewegungen. Die erstem legen eben denselben Raum immer in derselben Richtung, die zweiten immer wechselweise in entgegengesetzter Richtung zurück, wie schwankende Penduln. Zu beiden gehört auch B e b u n g (motus tremulus), welche nicht eine fortschreitende Bewegung eines Körpers, dennoch aber eine reziprozierende Bewegung einer Materie ist, die dabei ihre Stelle im Ganzen nicht verändert, wie die Zitterungen einer geschlagenen Glocke oder die Bebungen einer durch den Schall in Bewegung gesetzten Luft." 5 2 Während der Raum in der Transzendentalphilosophie als Form der Anschauung in Frage kommt, spielt er im räumlichen Welt-bild der Metaphysik der Naturwissenschaft die Rolle einer „ E i g e n s c h a f t der Dinge, die wir in Betrachtung ziehen, nämlich k ö r p e r l i c h e r W e s e n . . ," 5 3 Ein nur durch Anschauung zu erfassender Unterschied der Richtungen einer Bewegung oder des gestalthaften Aufbaus einer Naturerscheinung gehört in diesen Zusammenhang einer Beschreibung pragmatischer Lebenswelt: „. . . Worauf beruht der innere Unterschied der Schnecken, die sonst ähnlich und sogar gleich, aber davon eine Spezies rechts, die andere links gewunden ist; oder des Windens der Schwertbohnen und des Hopfens, deren die erstere wie ein Pfropfenzieher, oder, wie die Seeleute es ausdrücken würden, w i d e r d i e Sonne, der andere mit d e r Sonne um ihre Stange läuft?" 5 4 Auch die in die „Dynamik" gehörende Rede von der Materie, die durch bewegende Kraft einen Raum erfüllt, gehört zu der Beschreibung der pragmatischen Welt: Materie kann auch als Inbegriff von Bewegungen und Aktionen angesprochen werden, die wir durch handelnde Krafteinwirkung auf sie hervorrufen und die wir umgekehrt von ihrer Seite her erfahren. Anziehungskraft, Zurückstoßungskraft, Ausdehnungs- bzw. Expansionskraft usw. sind Namen, durch welche die Geschichte bestimmter Bewegungen konstruiert wird. In diesem Zusammenhang ist auch von einer Bewegung der „Durchdringung" die Rede, welche stattfindet, wenn man zwei Flüssigkeiten miteinander mischt. Ein materieller Körper erfüllt seinen Raum in der Weise relativer Undurchdringlichkeit. 55 Die Realität 52

53 54 55

IV, S. 483. Geiger gebrauchen ζ. B. das Wort: „tremolo" für den durch Beben des Fingers auf der Saite hervorgebrachten Ton. IV, S. 484. IV, S. 483/84. IV, S. 502.

Handlungswelt und Wissenschaft

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der Gegenstände der äußeren Sinne muß als „bewegende Kraft" begriffen werden, die man als Widerstand erfährt, wenn man an einen Körper anstößt. Die Realität der Dinge beruht auf ihrer Zugehörigkeit zur W e l t des Handelns. Auch die im Abschnitt „Mechanik" gemachte Bemerkung zur Gravitation, die zum Bilde der Handlungs-welt gehört, zeigt, daß diese Welt in der Perspektive des in ihr handelnden und sich in sie versetzenden Subjekts begriffen werden muß. Trägheit der Materie bedeute nichts anderes als „ L e b l o s i g k e i t als Materie an sich selbst." Der Sprache einer pragmatischen Welt gehört ein Satz wie dieser an: „ L e b e n heißt das Vermögen einer S u b s t a n z , sich aus einem i n n e r e n P r i n z i p zum Handeln, einer e n d l i c h e n S u b s t a n z , sich zur Veränderung, und einer m a t e r i e l l e n S u b s t a n z , sich zur Bewegung oder Ruhe als Veränderung ihres Zustandes zu bestimmen". 5 6 Wir kennen, so geht der Gedankengang weiter, kein inneres Prinzip einer Substanz, welches eine Zustandsveränderung bewirkt, als das „ B e g e h r e n und überhaupt keine andere innere Tätigkeit als D e n k e n mit dem, was davon abhängt, G e f ü h l der Lust oder Unlust und B e g i e r d e oder Willen." 57 Da das alles nicht zum Bereich des äußeren Sinnes gehört und daher nicht zu den Bestimmungen der Materie als solcher, ist Materie als leblos zu betrachten. Wenn das der Metaphysiker der Naturwissenschaft sagt, so setzt er sich selbst als lebendiges, handelndes Wesen in ein Verhältnis zur leblosen Materie, an der er Wirkungen nach eigener Zwecksetzung eintreten lassen kann. Die als Fundament von Naturwissenschaft voraus-zusetzende Welt ist Idee, aber diese hat an der Realität des Handelns teil, sofern sie für die Erfüllung unserer pragmatischen Aufgaben, besonders auch der wissenschaftlichen Handlungen, n o t w e n d i g e Voraussetzung ist. Sie darf uns nicht zu der Absicht verleiten, das „absolute Ganze aller Bedingungen" erfassen zu wollen. Denn im Hinblick auf den Anspruch, dieses Ganze objektiv zu erkennen, bleibt unserer Vernunft nichts anderes übrig, als „von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren, um anstatt der letzten Grenze der Dinge die letzte Grenze ihres eigenen, sich selbst überlassenen Vermögens zu erforschen und zu bestimmen." 5 8 Metaphysisches Denken der die Wissenschaft fundierenden W e l t als eines Daseins- und Handlungszusammenhanges kann nicht den Anspruch eines Begreifens gegenständlicher Inhalte erheben. Vielmehr besteht es in 56 57 58

IV, S. 544. IV, S. 544. IV, S. 565.

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Transzendentale Bewegung als Basis für Kommunikation: Sprache und Handlung

einem Sich-Versetzen und Sich-Hineindenken in einen Zusammenhang, den Vernunft als „ihren" Systemhorizont entwirft und beschreibt. 59 An diesem Zusammenhang orientiert sich auch der Einzelwissenschaftler, sofern er in seinem Rahmen Erkenntnisaufgaben stellt und sie erfüllt. Kant zitiert, um die Orientierungsfunktion der Welt, deren Idee deskriptiv und normativ zugleich ist 60 , zu charakterisieren, Lichtenbergs Sätze: „Wir schauen alle Gegenstände (nach Spinoza) in Gott an: Ebenso können wir sagen, sie müssen ihrer Realität nach in der Welt angetroffen werden". 6 1 In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept von Kants empirischem Realismus, für welchen das Lehrstück von der Realität der Außenwelt und der Widerlegung des Idealismus charakteristisch ist, in die Handlungstheorie einzubeziehen. Die These Kants lautet, daß das „bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins" das „Dasein der Gegenstände im Räume außer mir" beweise (B 275). 6 2 Da es sich in dieser Frage um den Nachweis von Existenz, derjenigen meiner selbst wie der Gegenstände im Räume „außer" mir, handelt, muß in die Uberlegungen „Empfindung" einkalkuliert werden. Daß Empfindung nicht nur passives Verhalten, bloßes Affiziert-werden von außen her, sondern im Zusammenhang eines Handlungsvollzugs zu sehen ist, auf den sich schließlich auch der Beweis von der Realität der Außenwelt berufen muß, mag im folgenden kurz verdeutlicht werden. Kant beruft sich auf das empirische Selbstbewußtsein, welches durch innere Erfahrung, also auch Wahrnehmung und Empfindung der in mir auftretenden Vorstellungen und ihrer Folgen, bestimmt ist. Erfahren im Sinn innerer „Erfahrung" wird die Geschichte der Abfolge dieser Vorstellungen. Kant klammert ausdrücklich die „intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts" (B 258) aus. So lautet der erste Satz seines „Beweises" der Realität der Außenwelt: „Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt

59

X X I , S. 2 3 : Das denkende Subjekt „schafft" sich eine Welt als Gegenstand möglicher Erfahrung in R a u m und Zeit. „Dieser Gegenstand ist nur Eine Welt. — In dieser werden bewegende Kräfte z . B . der Anziehung und Abstoßung ohne welche keine Wahrnehmungen sein w ü r d e n , gelegt." Die Stellung des „ C o s m o t h e o r o s " Mensch seiner „ W e l t " gegenüber kommt in X X I , S. 31 zum Ausdruck: „Cosmotheoros der die Elemente der Welterkenntnis a priori selbst schafft aus welchen er die Weltbeschauung als zugleich Weltbewohner zimmert in der I d e e " .

60

XXI, XXI, Vgl. mir',

61 62

S. 4 3 . S. 4 3 . meine Untersuchung: Kants Beweis des ,Daseins der Gegenstände im Raum außer Kant-Studien Bd. 50 (1958/59), H . 3, S. 323ff.

Handlungswelt und Wissenschaft

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bewußt". Das bedeutet, daß ich das zeitliche Kommen und Gehen von Empfindungen oder Gedanken in meiner Seele wahrnehme und feststelle. Es handelt sich dabei um erfahrene innere Bewegungen. Um aber Bewegung, mag sie innere oder äußere sein, als solche überhaupt zu erkennen, ist es nötig, daß das Bewegte am Unbewegten, das Veränderliche am Unveränderlichen, Konstanten gemessen wird. „Alle Zeitbestimmung setzt etwas B e h a r r l i c h e s in der Wahrnehmung voraus" (B 275). Die verschiedenen Eindrücke von seiten der phänomenalen Welt, die in mir in einer Abfolge abwechseln, können nur dann als wirkliche zeitliche Zustände meines eigenen empirischen Selbst und als Baustein meines empirischen Selbstbewußtseins angesprochen werden, wenn ich sie auf etwas Konstantes, Beharrliches im O b j e k t , auf welches sie hinweisen, beziehen kann: das ist die in den erfahrenen Objekten vorausgedachte Substanz. Diese ist durch mein eigenes synthetisches H a n d e l n vorentworfen : insofern geht die Geschichte meiner Empfindungen der Dinge der Außenwelt und damit mein empirisches Selbstbewußtsein auf meine eigene Entwurfshandlung zurück. Dasein der Außenwelt ist mit meinem eigenen empirischen Selbstbewußtsein unmittelbar verbunden, weil dieses die Geschichte der das Dasein der Außendinge bestimmenden und die wahrgenommenen inneren Bewegungen auf Substantialität der Objekte zentrierenden Konstruktionshandlung ist. So gewiß die Empfindungen meiner Selbst mein Dasein machen, so begründen sie als Bausteine objektivierender Handlungen auch die Gewißheit des Daseins der „Außenwelt"-dinge. Sofern das Dasein der Außen-welt selbst in Frage steht, ist die transzendentale Handlung des Vor-zeichnens der Substantialität der als daseiend empfundenen Sachen in den totalen Zusammenhang einer in der Idee entworfenen Welt eingebaut. In der „Beharrlichkeit" der Substanz spiegelt sich die deren Geschichte begründende und durch ihre Veränderungen sich durchhaltende Be-ständigkeit des „Ich denke" bzw. „Ich beschreibe". Kant zeigt sich bei der Beantwortung der Frage nach dem Dasein der Außen-welt denjenigen überlegen, die ihre Argumentation auf die Widerstandswahrnehmung 63 allein stützen, weil er der Welt-dimension der Frage gerecht wird und sich nicht allein auf die Unmittelbarkeit der individuellen Empfindung der Härte der sich im Raum stoßenden Sachen beruft.

63

ζ . B. W . Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht, W . Dilthey, Gesammelte Schriften, Leipzig/ Berlin 1924, V, Bd., S. 90ff.

III. Kapitel

Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft 1. „Gegenstand"

und Weltkonstruktion:

geschichtsphilosophische

Aspekte

Mit Hilfe des Begriffes der erweiterten Konstruktion läßt sich die Frage beantworten, was man unter „Gegenstand" zu verstehen habe. Was ist ζ. B. der vor mir stehende Schreibtisch? Ist die Antwort „richtig", er sei ein Gebrauchsmöbel, oder müßte sie lauten, er sei ein Körper, den man als Komplex von Elementarteilchen wie jede physikalisch betrachtete Materie anzusprechen habe ? Es ist damit die Frage nach dem „Verhältnis" zwischen dem lebensweltlichen und dem theoretischen „Gegenstand" gestellt. Für den pragmatischen Standpunkt der Lebenswelt ist der Schreibtisch kein physikalischer Körper, auch nicht zur „Ware" entfremdet, sondern „Gegenstand" des Gebrauchs. Die „Gegenständlichkeit", die sich in der Perspektive von Handlungen des Schreibens auf ihm, Verwahrens von Papieren in ihm usw. ergibt, beruht auf typischen Figuren und Charakteren des Handelns, die im Umgang mit diesem „Werkzeug" aktuell sind. Damit ist gesagt, daß der „Gegenstand" Schreibtisch eine Geschichte von Handlungen mit einer bestimmten Charakteristik ist: er ist als diese Geschichte von Handlungen wie etwa des „sich-an-ihn-Setzens", „aufihm-Schreibens", „in-seinen-Schubladen-Aufbewahrens" usw. „konstruierbar". Wenn man diese Überlegungen über den Gegenstand Schreibtisch verallgemeinert, so ist zu sagen, daß der Gegenstand überhaupt als eine Geschichte von mit ihm befaßten „charakteristischen" Handlungen aufzufassen u n d zu konstruieren ist. Welt ist Inbegriff und Totalität dieser Handlungsgeschichten und möglicher Charaktere des Handelns. Wir versetzen uns in diesen totalen Zusammenhang, den unsere Vernunft entwirft u n d mit Zügen ausstattet, welche die Realisierung dieser Handlungsfiguren möglich machen. Was die am Leitfaden von Handlungsschemata und Gebrauchsfiguren geschehende Konstruktion ζ. B. des Schreibens angeht, so müssen wir voraussetzen und fordern, daß er in einer Welt vorkommt, in der es feste, dem Druck der Hand standhaltende

„Gegenstand" und Weltkonstruktion: geschichtsphilosophische Aspekte

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Oberflächen gibt, die als materielle Ebenen konstruierbar sind, in der weiterhin ein Ding als Gegenstand eines bisherigen Gebrauchs wiedererkennbar ist und im Normalfall, ohne interferierende, mein Handeln auch durchkreuzende Geschichten sein Aussehen behält usw. 1 Auch wissenschaftliche Methoden sind als solche Handlungscharaktere anzusehen, die auf Denk- und Verhaltensmuster der Lebenswelt gründen. In physikalischer Perspektive ist der Schreibtisch freilich nicht als Inbegriff charakteristischer Handlungen des an ihm Schreibens usw. anzusehen. Die dabei aktualisierten Denk- und Handlungscharaktere sind vielmehr durch die geltenden und eingeübten Methoden der derzeitigen Wissenschaft normiert, die ihrerseits in den Figuren des Gebrauchs der beispielsweise physikalischen Apparatur in die Erscheinung treten. Den Rahmen und das Fundament dieses theoretischen Handelns gibt die umfassende gemeinsame Welt mit ihren Denk- und Verhaltensmustern ab. Die Philosophie beschreibt und normiert methodisch die vom pragmatischen Denken entworfene Welt: sie tritt als kontrollierendes Selbstbewußtsein der im pragmatischen Weltbewußtsein gegenwärtigen Metaphysik auf. Konstruiert man den Gegenstand als Geschichte von Handlungscharakteren, so läßt sich die durch die in der modernen Physik wegen der Nichtidentisierbarkeit der Elementarteilchen aufgeworfenen Frage der Gegenstandsidentität leicht beantworten. Es ist bekannt, daß die rein kognitive Auffassung der „Gegenständlichkeit" eines materiellen Körpers mit der kontinuierlichen Beobachtbarkeit von dessen Bewegungsverläufen rechnet. So entspricht es dem im Denken des klassischen Physikers implizierten erkenntnistheoretischen Konzept. Dieses muß in Verlegenheit geraten, wenn ihm von der modernen Physik zugemutet wird, ein „Etwas" als Gegenstand zu denken, dessen Bewegungsbahn sich nicht als kontinuierlich verfolgbare Kurve denken läßt und dessen Aufenthaltsort nicht jederzeit durch Festlegung auf einen Punkt im Zeit-Raumkontinuum bestimmt werden kann. Will man den Bedingungen, welche die moderne Physik an das Prinzip „Gegenständlichkeit" stellt, gerecht werden, so sieht man sich zu einer Antwort auf die Frage nach dem Prinzip „Gegenständlichkeit" genötigt, die mit der übereinstimmt, die sich aus der transzendentalphilosophischen Intention ergibt, den Begriff des Gegenstandes auf das Prinzip einer Konstruktion im erweiterten Sinn zu gründen. Diese Antwort lautet, daß man es mit einem Gegenstand zu tun hat, wenn ein Etwas als Grund-lage 1

Vgl. meine „Einführung in die Metaphysik", Darmstadt 1972, S. 156ff.

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W e l t e n t w u r f und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

(Subjekt) charakterisierbarer Handlungsfiguren des Denkens, Sprechens, manuellen Eingreifens und Operierens zu beschreiben ist. D e r Gegenstand „ E l e k t r o n " ist, so verstanden, ein System charakterisierbarer und konstruierbarer Figuren des physikalischen Handelns und Denkens, denen Aussagen entsprechen, deren „Subjekt" das Elektron ist. Erweiterte Konstruktion, die Kant als „metaphysisch" bezeichnet, befaßt sich unter dieser Voraussetzung nicht mit der Beschreibung von Objekt-figuren, vielmehr stellt sie H a n d l u n g s m u s t e r des Physikers dar. Metaphysische Konstruktion einer „ W e l t " , auf deren Boden wir uns in der Idee ver-setzen, um von diesem Fundament aus wissenschafdiche Ziele zu realisieren, wird auch in der G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e aktuell. Als Fundament und orientierender Grundzusammenhang für das Begreifen und zur-Sprache-bringen geschichtlicher Ereignisse dient die Idee einer Welt, in deren Horizont und auf deren Boden die menschlichen Subjekte „ihre" Geschichte begreifen und beschreiben können. Die geschichtliche Welt, die Kant „ N a t u r " nennt, gibt einen „Leitfaden" für das Unternehmen ab, die geschichtlichen Ereignisse als Entwicklungszusammenhang zu beschreiben, der auf ein Ziel ausgerichtet ist. Um die verworrenen empirischen Fakten auf die systematische Sprache eines an einer idealen Vernunftwelt orientierten Geschichtsdenkens zu bringen, muß ein apriorischer Entwurf geleistet werden, der dem Historiographen als Leitfaden der Beschreibung der Tatsachen dient. Als Wissenschaftsparadigma schwebt Kant die Naturwissenschaft Newtons vor. E r geht von den in der Vernunftkritik geltenden Voraussetzungen aus und spricht Geschichte als Bereich von „Erscheinungen" an, die in Raum und Zeit gegeben sind. 2 Es liege nahe, die in die Erscheinung tretenden menschlichen Handlungen „ebensowohl als jede andere Naturgegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen" als bestimmt, d. h. als konstruierbar, zu betrachten. Aber dabei begegnet die Schwierigkeit, daß in der Geschichte ein wesentlicher Zug der transzendentalen Verfassung, wie er in der Naturwissenschaft gegeben ist, nicht angenommen werden kann: die N o t wendigkeit. Denn die Subjekte der geschichtlichen Ereigniswelt sind frei handelnde Wesen, nicht körperliche Substanzen, die vollkommen im zeitlich-räumlichen Zusammenhang notwendiger Bestimmtheit aufgehen. Für die Wissenschaft der Geschichte, die einen „regelmäßigen Gang" der Erscheinungen entdecken will, sei es schwer, mit der Freiheit, Unbe-

2

Vgl. die K o r r e k t u r des Erscheinungsbegriffes, die durch den Anspruch der „geschichtlichen E r s c h e i n u n g " gefordert ist, auf S. 3 1 6 f f .

„Gegenstand" und Weltkonstruktion: geschichtsphilosophische Aspekte

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stimmtheit und Regellosigkeit fertig zu werden, die sich im Bereich menschlicher Handlungen findet. Aber nicht die „Freiheit" des handelnden Menschen kann Gegenstand der Geschichte als Wissenschaft werden, sondern nur ihr objektiv faßbarer Schatten, der sich als „Zufall" und Ausnahme aus dem geregelten Zusammenhang ansprechen läßt, der Natur heißt, und für den der menschliche Verstand eine transzendentale Verfassung in Form „allgemeiner Gesetze" vorgeschrieben hat. Kant versucht, den Zufall möglichst durch Einholung in den Horizont allgemeiner Gesetze der Natur zu rationalisieren. Er sieht sich vor eine analoge wissenschaftstheoretische Aufgabe gestellt, wie sie sich den modernen Physikern ergeben hat, die den indeterministischen Zufall dadurch paralysieren mußten, daß sie ihn auf die Formel von Wahrscheinlichkeitsgesetzen brachten. Das führt, genau betrachtet, zu einer Erweiterung des in der Vernunftkritik aufgeführten Systems der synthetischen Grundsätze, in denen die transzendentale Verfassung der Natur kodifiziert wird. Die gegebene Aufgabe hätte Kant in einer umfassenderen transzendentalphilosophischen Legitimation der Geschichte zu lösen gehabt, wenn er die hier geforderte Grundlagentheorie in die Kritik der reinen Vernunft eingebaut hätte. Der geschichtliche Gegenstand wird nicht durch Kausalität, sondern durch Wahrscheinlichkeit konstituiert. Was an einzelnen Objekten „verwickelt und regellos" in die Augen fällt, könne doch als „regelmäßiger Gang" gedeutet werden, wenn man nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit und Statistik verfährt und nicht Individuen, sondern den Prozeß der ganzen Gattung betrachtet. Vielleicht läßt sich hier eine „stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen" entdecken, wenn man nicht die Entwicklung für heute und morgen, sondern in großen Dimensionen betrachtet. Kant hat selbst gelegentlich die Sterberegister der Stadt Königsberg studiert, um einen Wahrscheinlichkeitsquotienten für seine eigene Lebenserwartung und damit Unterlagen für seine Lebensplanung zu gewinnen. Um den geschichtlichen Erscheinungen eine Art Gesetzlichkeit abzugewinnen und die Geschichte auf diese Weise in den Status einer Wissenschaft mit dem Charakter der Konstruierbarkeit ihrer Begriffe und damit der Kommunikabilität zu erheben, schlägt er vor, nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Verfahren den Blick auf den Verlauf im großen und ganzen zu lenken. Die einzelnen Individuen werden dann als dieses allgemeinen Rahmens, innerhalb dessen sie handeln, vielleicht unkundige Akteure zu betrachten sein, die keine Ahnung davon haben, daß sie bei der Verfolgung ihrer individuellen

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Interessen unbeabsichtigt an einer Entwicklung mitwirken, die Regelmäßigkeit, Ordnung und Sinnhaftigkeit im Großen aufweist. Sie sind der List der „ N a t u r " verfallen. Analog der Hegeischen Rede von der List der Vernunft beschreibt Kant, wie die welt-hafte „Natur" eine Technik der Uberlistung des Menschen handhabt, um den Handlungen dieses vernunftresistenten Wesens das Aussehen von vernünftiger Stetigkeit, Verläßlichkeit und Zweckstrebigkeit zu geben. „Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt würde, ihnen doch wenig gelegen sein würde." 3 Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß die Aussagen über die Natur, die Kant in den neun „Sätzen" seines Aufsatzes über die „Idee einer allgemeinen Geschichte . . . " formuliert, nicht eine W i r k l i c h k e i t zum Gegenstand haben. Metaphysische Vernunft e n t w i r f t vielmehr die Natur als daseiend g e d a c h t e n Bereich unter Gesetzen. Dieser Entwurf dient dazu, die theoretischen und praktischen Aufgaben erkennen und realisieren zu können, welche sich für Geschichtsschreibung und geschichtliches Handeln stellen. Der Philosoph, der die Natur und ihre vernünftige List durchschaut, hat eine Perspektive der Vernunft und der Gemeinsamkeit gewonnen, die dem theoretischen und praktischen Denken der in ihrem egoistischen Horizont befangenen Subjekte überlegen ist. So ist er der Anwalt und Wortführer der gemeinsamen geschichtlichen „Welt", die er in seinem Entwurf auch dann als gegenwärtig und wirksam beschreibt, wenn die im egoistischen Interessenhorizont befangenen Subjekte der Geschichte sie ignorieren. Die Heldin der in der Abhandlung beschriebenen Geschichte, die zwecktätig verfahrende Natur, ist als „Idee", nicht als wisssenschaftlicher Begriff zu verstehen. Aber wird sie wirklich als Idee voraussetzungsweise behauptet und dem mit der Geschichte befaßten theoretischen Denken und Tun zugrunde gelegt, so wirkt sie sich als W i r k l i c h k e i t des sich an ihr orientierenden praktischen Bewußtseins aus. Auch die Natur-weit, die zum Zwecke der Fundierung der Geschichtswissenschaft entworfen und beschrieben wird, trägt die Züge lebensweltlichen Handelns und Denkens, Anschauens und Sprechens an sich. Das 3

VIII S . 1 7 .

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wird einsichtig, wenn man darauf achtet, daß Kant mit der Beschreibung der Züge der welthaften, geschichtlichen Natur das Bild eines überlegenen Pädagogen zeichnet, der die Anlagen der Zöglinge zur optimalen Entwicklung zu bringen, sie gegen ihre widerstrebenden Neigungen zu einem vernünftigen Ziele hinzuleiten sucht, Schwächen der Schüler ausnützt, um sie in Kräfte zu verwandeln, welche zu einer „vernünftigen" Entwicklung beitragen usw. Zudem erweist sich das so gezeichnete Bild als Vor-bild, welchem der in der Geschichte stehende Mensch die N o r m e n seines Verhaltens zu entnehmen vermag. 4 Bevor der nächste Schritt einer Philosophie der philosophischen Denkhandlungen getan werden soll, mögen die zuletzt durchlaufenen Gedankengänge noch einmal überblickt werden. Da ist daran zu erinnern, daß von der doppelten Handlung des Entwurfes und der Beschreibung einer Welt sowie des Standnehmens auf dem Boden dieser Welt die Rede ist: es handelt sich dabei um eine philosophische Reproduktion und Normierung des uns schon immer bei unserem Handeln gegenwärtigen und praktizierten Weltbewußtseins. Sowohl die Fundierung von Naturwissenschaft wie auch der Geschichtswissenschaft beruht auf diesem Entwurf einer Welt und ihrer Beschreibung. Insofern begründet metaphysische Vernunft mit ihrem Handeln die Geschichte der weiteren Vernunfthandlungen im Bereich der einzelnen Wissenschaften. Dabei kommt es Kant darauf an, zu betonen, daß sich der gedankliche Ausbau der fundierenden Welt nicht auf Anschauen oder Fühlen, sondern auf Denken eigentümlicher Art: auf rationalen Entwurf und Standnehmen gründet. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erklärt er, freilich dort primär im Zusammenhang der praktischen Vernunft, daß nicht ein Sich-hinein-Schauen in die vorausgesetzte Welt, sondern nur ein „Sich-hinein-Denken" infrage kommen könne. Während vom objektiven Denken der Einzelwissenschaft zu sagen ist, es gehe „über" Objekte, muß das mit der Welt befaßte Denken durch Wendungen 4

Wenn man von dem Gedanken ausgeht, daß sich bei Kant Ansätze finden, denen zufolge die Fundierung und Begründung der Wissenschaft in der W e l t des Handelns und des dazugehörigen Denkens und Sprechens erfolgen, so ergibt sich bei der Durchführung des dazugehörigen Begründungsprogramms ein anderes Bild vom Aufbau des Seins und des Bewußtseins, als man es von der Kritik der reinen Vernunft her gewöhnt ist. Jetzt nämlich rangiert als Fundamentebene „ganz unten" die Welt und das zu ihr gehörige Denken und Sprechen. Im Aufbau der t h e o r e t i s c h e n Begriffe dagegen wird diese Welt auf die höchste Ebene verwiesen: sie ist Gegenstand der Metaphysik, die als Wissenschaft der Ideen dann zur Sprache kommt, wenn das kritische Geschäft beendet ist. Vom p r a g m a t i s c h e n Programm aus gesehen würde die Handlungswelt als Grundlage anzusehen sein, auf der die Ebene der transzendentalen Gegenständlichkeitskonstitution aufruht: auf dieser wieder müßte die Ebene der Einzelwissenschaften zu liegen kommen.

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beschrieben werden wie: E s geschehe ein „Stand-nehmen" auf dem Boden der entworfenen Welt, ein Sich-Versetzen in ihren Zusammenhang, ein Sich-Hineindenken in ihre Bezüge usw. Zur Beschreibung dieser Art von Denkhandlungen gehört auch die Rede von der O r i e n t i e r u n g im Denken, die den gedanklichen Vollzug bezeichnen will, durch welchen der Denkende seinen eigenen Stand auf der Weltkarte bestimmt und sich Richtung und Ziel des weiteren gedanklichen Vorgehens verdeutlicht. Weltdenken, so wurde weiterhin erkennbar, nimmt jeweils eine andere Dimension der Vernunft in Anspruch, als es diejenige ist, in der sich das Subjekt auf Objekte bezieht und „ ü b e r " sie denkt und aussagt. Derjenige, der von dem in einer Handlung des Behauptens eingenommenen Weltstand aus denkt und spricht, macht von einer Weltperspektive Gebrauch, in der sich die Objekte zeigen. Bedingung und Möglichkeit für das In-denBlick-bekommen der Objekte ist die Denkhandlung, in der ich mich jeweils in der Welt einrichte und orientiere, zu der diese Objekte gehören. Die Gewißheit der Welt spricht Kant als „subjektive" Gewißheit an, während objektive Gewißheit den Aussagen über erkennbare Dinge in der Welt: über Erscheinungen eignet. In diesem Zusammenhang ist an eine schon an einer früheren Stelle begegnete Erklärung Kants zu erinnern, an welcher er die wissenschaftliche Gewißheit über objektive Zusammenhänge vom Gewißheitsmodus philosophischen Denkens und Sprechens unterscheidet. Während objektiver Überzeugung und Gewißheit ein Satz von dem T y p u s : „ E s ist gewiß, daß . . . X die und jene Eigenschaft habe . . . " gemäß ist, muß der philosophischen Weltgewißheit ein Satz von der Form entsprechen: „ I c h bin gewiß, daß die Welt vernünftig ist . . . " In einem Satz von dieser Art kommt die subjektive Gewißheit des vernünftigen „ G l a u b e n s " an die Welt zum Ausdruck, der sich vom Wissen unterscheidet, durch das die objektive Gewißheit über Gegenstände i n n e r h a l b der Welt zur Überzeugung kommt. (B 857). Obwohl dieser Selbsteinsatz des denkenden und sprechenden Subjekts von Kant nur für den „moralischen" Glauben in Anspruch genommen wird, gehört er in Wahrheit auch zum „doktrinalen" Glauben, der in der philosophischen Theorie aktuell ist. Mit diesem Unterschied zwischen einzelwissenschaftlichem Objektdenken und solchen Denkhandlungen, in denen der gedankliche Ausbau eines Weltzusammenhanges und Standnehmens auf dem Boden dieser Welt vollzogen wird, gehen zwei verschiedene Formen von Kommunikation parallel: während die der Objektsprache eigentümliche Kommunikation auf „schematischen" Darstellungshandlungen beruht, in denen gemeinsam

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die erscheinenden Gegenstände aufgebaut werden, wird Kommunikation im Bereich philosophischer Vernunft in symbolischer Sprache hergestellt. Das Stichwort: philosophische Kommunikation lenkt den Blick auf die „transzendentale Dialektik", in welcher es darum geht, Streitsituationen der Vernunft zu überwinden und Einheit in ihrem Staate herzustellen. Dabei tritt die juridische Physiognomie der Vernunft in den Blick, sofern diese auf Grund einer von ihr selbst gegebenen Gesetzgebung diese Streitfälle als Richterin entscheidet. Kritische Philosophie macht es sich zur Aufgabe, für den Aufbau einer gemeinsamen Rechtssprache, welche die für die Entscheidung des Streites nötige Kommunikation begründet, gesetzgeberische Maßnahmen zu treffen. Das ist so zu verstehen: Infolge einer natürlichen „dialektischen" Täuschungssituation der Vernunft entsteht eine Krise in der philosophischen Kommunikation, deren Uberwindung vermittelnde Handlungen herausfordert. Um diese leisten zu können, bedarf es einer gemeinsamen, für alle gültigen Gesetzgebung, auf deren Niveau die interessengebundene und der allgemeinen Kommunikation fremde Sprache der streitenden Parteien gehoben werden muß. Vernunft übernimmt in dieser Situation nicht nur die Funktion richterlicher Rechtsanwendung, sondern auch die des Gesetzgebers. Das philosophische Denken hat sich selbst Gesetze seines eigenen Vorgehens zu geben (Autonomie) und dadurch den Streit in seinem eigenen Hause, der auf Grund dieser Gesetzgebung entschieden werden soll, auf eine kommunikable Sprache zu bringen. Vernunft, die als Gesetzgeberin und Richterin zugleich auftritt, macht, um die Parteien zur Kommunikation in der Bewältigung ihres Streites anzuleiten, die Ursprünge und Voraussetzungen des Streites bewußt: sie e r k l ä r t die Genese des Streits. Diese Erklärung ergibt, daß für die Genese des Streites nicht verschiedene gedankliche „Erfahrungen" der Philosophen, natürlich erst recht nicht zufällige Veranlagungen oder gar Denkfehler verantwortlich gemacht werden; vielmehr sucht Kant den Grund der Streitsituation in einer unkritischen, dogmatischen Verfassung des philosophischen Denkens in der Epoche v o r dem Auftreten der kritischen Philosophie. Das dogmatische Denken ist für Streit deshalb anfällig, weil es der Aufgabe nicht gewachsen ist, mit der Täuschungsoptik, die in der Vernunft von Natur aus angelegt ist, fertig zu werden. Sie erliegt in ihrer unkritischen Befangenheit der „natürlichen" Dialektik der Vernunft und kann es nicht verhindern, daß sie ihre Ideen mißversteht und mißdeutet. So behandelt sie ζ. B. die Idee: Freiheit als beweisbaren Gegenstand, über den man

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Erkenntnisse gewinnen kann wie über jede beliebige Erscheinung. So, wie das in der natürlichen Optik unseres irdischen Daseins befangene, rückständige, weil vorcopemicanische Bewußtsein sagt: Wir stehen auf festem unbeweglichen Grund, und die Gestirne bewegen sich um uns herum, so behauptet der unkritische Philosoph, daß solche „Gegenstände" wie Welt, Freiheit, Gott, Seele, unserem wissenschaftlichen Erkenntniswillen verfügbar sind. Aus dieser Erklärung der Genese des Streites der Weltperspektiven ergibt sich eine transzendentalphilosophische Methode für die Uberwindung des Streites: es geht darum, der auf Entscheidung und Einigung der Vernunftpositionen ausgehenden Richterfunktion der Vernunft eine Gesetzgebung zu geben, derzufolge durch richtige, kritische Deutung der Ideen der Vernunft eine Entscheidung herbeigeführt werden kann. Diese Gesetzgebung bietet der Richterin Vernunft ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Auf Grund dieser Selbstgesetzgebung des Denkens kommt ein Prozeßverfahren in der Vernunft in Gang, in welchem sie jeweils die verschiedenen Rollen der Parteien, des Gesetzgebers und des Richters übernimmt.

2. Dialogisch-dialektische Begründung des philosophischen Wissens: der Rechtsprozeß der Vernunft Kant, dessen Wissenschaftsbegriff5 dialogisch ist, sieht den Fortschritt der Wissenschaft in der Gewinnung rational begründeter Entscheidung von Streitsituationen. Die Lage der metaphysischen Vernunft vor Kant, deren Widerstreitsituation Kant in der transzendentalen Dialektik in stilisierter Form darstellt, ist als unhaltbar anzusehen: das F e h l e n e i n e s E n t s c h e i d u n g s k r i t e r i u m s für den Streit der Parteien kann als Symptom dafür gelten, daß Metaphysik den Status der Wissenschaft noch nicht erreicht hat. Vernunft ist nicht von Natur aus imstande, das Richteramt auszu5

Vgl. auch meine Hinweise im Hinblick auf die frühe Phase Kantischen Denkens in: „ I m m a n u e l K a n t " (Sammlung Göschen), Berlin 1969, S. 18 ff. Hier wird gezeigt, daß der Vernunftbegriff Kants von Anfang an dialogisch-dialektische Züge zeigt, was in der späteren W e n d u n g v o m „Richterstuhl der V e r n u n f t " den Sinn annimmt, daß sich Vernunft in den Stand zu setzen vermag, beim Streit der Meinungen eine gesetzlich fundierte E n t scheidungsinstanz zu sein. Wesentliche Züge der transzendentalen, dialogischen Dialektik finden sich schon in den ersten Schriften Kants angelegt, in denen auch die methodische Frage erörtert wird, wie philosophisches D e n k e n zu unparteiischen Entscheidungen k o m men k a n n .

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üben, sondern wird erst durch kritisch-dialektische S e l b s t g e s e t z g e b u n g dazu fähig. Erst durch selbstgegebene Denkverfassung wird es der Vernunft möglich, von ihrer G e s c h i c h t e zu sprechen und die kontinuierliche Arbeit über die Generationen hinweg an einer geschichtlichen Tradition fortzusetzen, in welcher der Besitz des Wissens rechtlich gesichert und ständig vergrößert wird. Die Herstellung eines wissenschaftlichen, d. h. in dialogischen Streitsituationen zur Entscheidung fähigen Status der Vernunft ist nicht nur für die Theorie allein bedeutsam: sie ermöglicht Be-hauptung, Rechtssicherung von wesentlichen „Besitztümern" unserer Vernunft wie des Besitzes der Freiheitsidee, die gegen Skepsis und Indifferentismus in Theorie und Praxis verteidigt werden kann, wenn eine Gesetzgebung des metaphysischen Denkens für die Behandlung von Widerstreitsituationen der Metaphysik durch gemeinsame Anerkennung gültig wird. Kant schlägt diese Gesetzgebung (Nomothetik) in der Vernunftkritik vor. (B 452). Er sieht seine Leistung und Mission darin, die verfahrene Situation der „von Natur" aus „dialektischen" Vernunft dadurch zu überwinden, daß er durch Gesetzgebung die K o m m u n i k a b i l i t ä t metaphysischer Aussagen durch Herstellung der E n t s c h e i d b a r k e i t ihrer Widerstreitsituationen begründet. Dieser Erfolg ergibt sich nicht von „Natur" aus, sondern verlangt kritisch-dialektische Methode. Der Weg, der jetzt zu gehen ist, soll zu dem Ergebnis führen, daß nach Kantischer Voraussetzung die Kommunikabilität philosophischer Sätze über Totales und Unbedingtes etwa wie „Welt" durch eine methodisch funktionierende Selbstgesetzgebung des metaphysischen Denkens zu begründen ist. Sie soll den Widerstreit zwischen solchen Behauptungen, in denen entgegengesetzte Weltperspektiven vertreten werden, rational e n t s c h e i d b a r machen. In fünf Schritten mag auf dieses Ziel zugegangen werden. 1. Der erste Schritt soll zur Kantischen These führen, daß es ein „natürliches" Bedürfnis der Vernunft gibt, die Vielheit des Einzelnen im Rahmen einer Totalität zu denken. Metaphysik gibt es als „Naturanlage" der Vernunft. Sucht Vernunft naturwüchsig ihr Bedürfnis nach Totalität zu befriedigen, so führt das zu einer Deutung ζ. B. der Weltidee, in welcher diese als auf einer geraden Linie, die von den einzelnen Erscheinungen zu immer Allgemeinerem hinführt, erreichbares Ziel aufgefaßt wird. Der „Gegenstand" Welt wird dann in einem Atem mit den Dingen i n n e r h a l b der Welt genannt: es wird demgemäß auch angenommen, daß sie dieselbe Rolle eines erkennbaren Objekts spielt wie diese Dinge. Damit macht sich metaphysisches Denken einer Mißdeutung der Weltidee

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schuldig. Das führt zu dem Anspruch, beweisbare Behauptungen von der Art aufstellen zu können: „Welt ist endlich", oder: „Welt ist unendlich", „Alles ist nach Maßgabe des Kausalgesetzes determiniert", oder: „ E s gibt in der Welt auch Ereignisse, die nicht auf diese Weise determiniert sind, sondern als „frei" zu bezeichnen sind". Symptomatisch für die Verfassung dieses Denkens ist es, daß jede der einander entgegenstehenden Positionen für die Behauptung ihrer Weltperspektive einen wissenschaftlichen Beweis vorzubringen beansprucht. Die Weltaussagen werden hier als lern- und lehrbare, ebenso beweisbare Sätze behandelt: in Verblendung über die eigene, wahre Lage, die eine dialogische Kommunikation verbietet, da kein gemeinsames Entscheidungskriterium für die Beendigung des Streites verfügbar ist. 2. D e r nächste Schritt folgt unmittelbar aus dem ersten, sofern er die Einsicht bringt, daß auf dem Boden unkritischen, undisziplinierten Weltdenkens nicht nur W i d e r - s p r ü c h e , sondern W i d e r s t r e i t s i t u a t i o n e n von Parteien aufkommen, deren gegenseitige Auseinandersetzung etwas vom Charakter des Krieges hat, der auch für den politischen Aspekt des Naturzustandes symptomatisch ist. D a z u paßt die Beschreibung, die Kant von der zu seiner Zeit bestehenden Lage der Metaphysik als einem „ K a m p f p l a t z " gibt, „der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgendein Fechter sich auch den kleinsten Platz erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können." (Β XV). Wie können zwei Personen nicht nur einen kriegsähnlichen, sondern einen dialogfähigen und auf vernünftiger Kommunikation beruhenden Streit über eine Sache führen, „deren Realität keiner von beiden in einer wirklichen, oder auch nur möglichen Erfahrung darstellen kann, über deren Idee er allein brütet, um aus ihr etwas m e h r als Idee, nämlich die Wirklichkeit des Gegenstandes selbst herauszubringen?"^ 778). W o der naturwüchsigen Vernunft Kriterien fehlen, auf Grund deren sie den Streit der Metaphysiker zu einer Entscheidung bringen könnte, treten gelegentlich dialogfremde Mächte ins Spiel, die aus Gründen politischer Herrschaft nicht an freier Zustimmung, sondern an konformistischer Sprachgeste, die sie zu erzwingen versuchen, interessiert sind. Insofern kann man auf dieser Stufe metaphysischen Denkens, in der die Macht bei der Durchsetzung von Ideologien herrschend wird, von einem Kriegszustand sprechen. Dessen Struktur charakterisiert Kant in folgender Weise: „Diese vernünftelnden Behauptungen eröffnen also einen dialektischen Kampfplatz, wo jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis

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hat, den Angriff zu tun, und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren genötigt ist. Daher auch rüstige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme Sache verbürgen, sicher sind, den Siegeskranz davonzutragen, wenn sie nur dafür sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten. Man kann sich leicht vorstellen, daß dieser Tummelplatz von jeher oft genug betreten worden, daß viele Siege von beiden Seiten erfochten, für den letzten aber, der die Sache e n t s c h i e d , (gesp. v. Verf.), jederzeit so gesorgt worden sei, daß der Verfechter der guten Sache den Platz allein behielt, dadurch daß seinem Gegner verboten wurde, fernerhin die Waffen in die Hände zu nehmen. Als unparteiische Kampfrichter müssen wir ganz beiseite setzen, ob es die gute oder die schlimme Sache sei, um welche die Streitenden fechten, und sie ihre Sache erst unter sich ausmachen lassen. Vielleicht, daß, nachdem sie einander mehr ermüdet als geschadet haben, sie die Nichtigkeit ihres Streithandels von selbst einsehen und als gute Freunde auseinandergehen." (B 450/451). Der Charakter dieser Situation metaphysischen Denkens besteht darin, daß jeder der Streitenden seine Position durch Machtspruch durchzusetzen und zur Anerkennung zu bringen sucht, da es nicht möglich ist, sie auf Grund eines gemeinsam anerkannten Argumentations- und Entscheidungsverfahrens allen überzeugend zu machen. Es herrscht ein Zustand von der Art des Krieges, weil Entscheidung nicht durch rationale Motivation und durch ein auf Rechtsgesetzgebung beruhendes Gerichtsverfahren herbeigeführt werden kann. 3. Beim dritten Schritt wird die Einsicht gewonnen, daß der entscheidungslose Zustand des Streites zugleich als derjenige der Kommunikationslosigkeit angesehen werden muß. Denn jede Partei spricht eine auf ihrer Interessenbasis gegründete parteiliche Sprache. Ihr muß ein Uberschritt auf das Niveau der Gemeinsamkeit zugemutet werden. Zu diesem Uberschritt gehört eine M e t h o d e , die es am Ende erlaubt, in neutraler Weise einen Vergleich zwischen den streitenden Parteien herbeizuführen. Diese Neutralität schließt die Forderung ein, nicht der M a c h t nachzugeben, die vielleicht auf der Seite einer der Parteien deshalb sein mag, weil sie die von der Gesellschaft allgemein anerkannte „gute" Sache vertritt. Vielmehr verlangt das Interesse der Vernunft an Gerechtigkeit, den Streit gemäß einer gesetzlichen Verfassung ohne Rücksicht auf die „gute" oder „schlechte" Sache zu entscheiden. Die Überwindung des Naturzustandes ist mit der Anerkennung eines Entscheidungskriteriums für das richter-

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liehe Urteil im Streit der Parteien verbunden. Kant sieht es als Mission seiner eigenen Vernunftkritik an, die diesem Kriterium entsprechende kritisch-dialektische Methode in das metaphysische Denken einzuführen und aus dem nomadischen Naturzustand der Philosophie ein gesetzlich geregeltes Gemeinwesen werden zu lassen. Nicht durch Krieg, sondern durch Rechtsprozesse sollen jetzt die Streitfälle entschieden werden. Auf Grund der kritisch-dialektischen Methode vermag Vernunft den Richterstuhl zu besetzen und die Rolle der entscheidenden Distanz zu spielen. Wenn man nach der Bedeutung des Wortes „Antinomie" fragt, welches Kant vorwiegend im Singular gebraucht, so wäre die richtige Antwort, daß dadurch der kriegerische, eines Entscheidungskriteriums entbehrende und kommunikationslose Naturzustand metaphysischen Denkens bezeichnet werden will. Die „Antinomie", die für die Denkverfassung der dogmatischen Metaphysiker charakteristisch ist, bedeutet rationale Unentscheidbarkeit der Streitsituationen. Durch die von der kritischdialektischen Philosophie eingeführte Nomothetik soll dieser Zustand überwunden werden. Durch sie wird zwar der Widerstreit nicht aus der Welt geschafft, ebensowenig wie durch eine bürgerliche Gesetzgebung die Interessenkonflikte verschwinden. Aber sie werden durch ein rationales Entscheidungsverfahren, bei dem die „Richterin" Vernunft am Werke ist, miteinander vermittelt. Vernunft hat ein Interesse an Einheit mit sich selbst und demgemäß auch an rationaler Entscheidung der Streitsituationen. Es geht nicht nur darum, e i n z e l n e Streitfälle wie den der Deterministen und der Vertreter der Freiheit zu entscheiden. Vielmehr soll eine verfassungsgebende Legislative der Vernunft, durch welche der Friede in ihrem Hause gesichert und eine allgemeine Methode angegeben wird, metaphysische Aussagen prinzipiell argumentationsfähig und kommunikabel machen. 6 Die Selbstgesetzgebung der Vernunft, durch welche die Möglichkeit eines philosophischen Dialogs überhaupt erst begründet werden soll, soll die Wissenschaftlichkeit von Metaphysik fundieren. Vernunft übernimmt hierzu legislative und judikative Funktion zugleich. Sie ist Gesetzgeberin und zugleich Richterin. Sie schafft die Situation der Entscheidbarkeit in Fällen metaphysischen Streites und gibt zugleich in Streitsituationen das ent-scheidende Urteil ab.

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Vgl. „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie", VIII, S. 41 Iff.

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4. In einem weiteren Schritt mag Funktion und Art der „Nomothetik" der Vernunft und der zu ihr gehörigen Methode des Entscheidens skizziert werden. Eine Rechtfertigung der Metaphysik ergibt sich zuletzt daraus, daß sie „Besitztümer" der Vernunft vor skeptischer und nihilistischer Zersetzung bewahrt, indem sie für diese ein rationales Begründungsverfahren erarbeitet, wobei der für Rationalität in Anspruch genommene Charakter von dem des naturwissenschaftlichen Verstandes verschieden ist. Metaphysik hat die Aufgabe, eine „Welt" in rational begründeter und überzeugender Weise zugrunde zu legen, auf Grund deren wir unsere praktischen und theoretischen Aufgaben zu erfüllen vermögen. Kritische Metaphysik sichert den „Besitz" solcher Ideen wie Freiheit, Gott usf. gegenüber den sie streitig machenden Skeptikern: an diesen Ideen hängt das Interesse der Vernunft. Die Zustimmung zu einem gemeinsam behaupteten, für die Vernunft „interessanten" Satze kann nicht, wie etwa in der Mathematik, auf dem Wege des Beweises erfolgen, sondern muß einen d i a l o g i s c h e n Weg gehen, zu dem auch gemeinsames Standnehmen auf dem Boden einer vernünftig verfaßten Welt gehört. Gemeinsames Beschreiten dieses Weges muß durch Selbstgesetzgebung der Vernunft möglich gemacht werden. Eine Vorstufe des Status dialogischer Gerechtigkeit und gesetzlich geregelter Entscheidbarkeit der Streitfälle stellt „skeptische Methode" dar. Im Sinne „skeptischer Methode" benimmt sich Vernunft als Beobachterin, die dem Streite zweier Parteien zu-sieht, von denen sie sich distanziert. 7 Dabei hält sie an eigener Neutralität fest und vermag, ohne von einem Interesse für Gut und Böse eingenommen zu sein, die rationalen Gründe gegeneinander vorurteilslos abzuwägen. Skeptische Methode vollzieht einen Schritt über die Ebene hinaus, auf der die streitenden Parteien einander gegenübertreten. Auch sie hat keinen weiteren Effekt für Handlung als höchstens den der begrifflichen Reinigung und Klärung sowie der Neutralisierung beteiligter Interessen. Darüber geht der Metaphysiker, welcher sich der kritisch-dialektischen Methode bedient, insofern hinaus, als er selbst an Gegenständen des Vernunftinteresses, wie Freiheit, Fortschritt usw., engagiert ist: aber im Unterschied zum dogmatischen Meta-

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Kant hat dabei den wörtlichen Sinn des „skeptein" im Auge, sofern er der Vernunft bei der Befolgung „skeptischer Methode" die Rolle distanzierten, unparteiischen und überlegenen Zu-sehens überträgt. In diesen Zusammenhang gehört die in den „Träumen eines Geistersehers" gebrauchte Metapher der Vernunftwaage. (Vgl. meine Monographie „Immanuel Kant", Berlin 1969, S. 82).

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physiker schaut er sich selbst in den Rücken und gibt sich mit Hilfe seiner skeptisch „erfahrenen" Vernunft und einer Nomothetik die Methode, die ihn vor einem Selbstmißverständnis seines Interesses der Vernunft und deren Ideen bewahrt. Solange dieses Mißverständnis währt, bestehen unentscheidbare Streitsituationen. „ M a n kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen." (B 779). Es gibt ein Naturrecht der theoretischen Vernunft, als dessen Statthalterin Vernunftkritik auftritt, die dieses Recht erst kodifiziert. Ohne die für mögliche Argumentation und Kommunikation grundlegende Selbstgesetzgebung ist Vernunft „gleichsam im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen oder sichern, als durch „ K r i e g " (B 779). Kritik dagegen fällt alle „Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung". Sie verschafft uns die „Ruhe eines gesetzlichen Zustandes". In ihm besteht zwar der Streit zwischen metaphysischen Weltperspektiven weiter, aber er kann auf der Grundlage eines gemeinsamen Rechts durch Prozeß entschieden werden. „Was die Händel in dem ersten Zustand endigt, ist ein S i e g , dessen sich beide Teile rühmen, auf den mehrenteils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt; im zweiten aber die S e n t e n z , die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß. Auch nötigen die endlosen Streitigkeiten einer bloß dogmatischen Vernunft, endlich in irgendeiner Kritik dieser Vernunft selbst und in einer Gesetzgebung, auf die sie gründet, Ruhe zu suchen . . . " (B 779/80). Auf dem Boden der Gesetzgebung vermag sich metaphysisches Denken der Interessen der Vernunft in methodisch gekonnter Weise anzunehmen. Bei deren Erfüllung geht sie einen Weg, der die Richtung dogmatischer Rationalität ebenso meidet wie diejenige des Irrationalismus. Dieser Weg wird durch dialogisch-dialektisches Weltdenken bezeichnet. 5. Der letzte Schritt soll das Funktionieren der Gesetzgebung und der zu ihr gehörenden Methode für die Begründung der Kommunikabilität metaphysischer Sätze und der Rationalität des Welt-denkens erkennbar machen. Die Methode möglicher philosophischer Auseinandersetzung im rationalen Dialog kann man folgendermaßen kennzeichnen: sie beruht auf dem Bewußtsein, daß Welt keine gegenständlich inhaltliche Bedeutung, sondern nur perspektivischen Charakter für uns hat. Sie besteht in der

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methodisch bewußten Handhabung von Weltperspektiven, deren Wahl je nach dem Zwecke motiviert ist, den sich der Handelnde gesetzt hat. So wird ζ. B . der Streit zwischen den „Parteien": Freiheit und Notwendigkeit dieser Methode gemäß so entschieden: geht es z . B . darum, Theorie und Praxis im Bereich der politischen Aufgabe zu begründen, die Reaktionen des Gegners in möglichen Situationen quasi naturgesetzlich zu erkennen, so ist die Perspektive der Notwendigkeit angemessen und die Motivation dafür gegeben, daß ich mich in eine Welt ausnahmsloser Gültigkeit kausaler oder statistischer Gesetze versetze. Stellt sich aber z. B. ein Historiker die Aufgabe, die Handlungen eines geschichtlichen Individuums zu motivieren, so begründet er sein wissenschaftliches Tun auf das Fundament einer Welt, deren Akteure freihandelnde Wesen sind. Die von der Selbstgesetzgebung metaphysischen Denkens vorgeschriebene Methode entscheidet den Streit, indem sie es erlaubt, sowohl dem Prinzip Notwendigkeit wie auch dem der Freiheit Recht zu geben, sofern das eine Mal der Standpunkt objektiver Naturbeschreibung maßgebend ist, während das andere Mal der „Standpunkt" der Vernunft bestimmt, in dessen Perspektive sich uns Freiheit zeigt. Es gibt nach dieser Methode kein Recht absoluten Anspruchs auf Alleinherrschaft einer der beiden Positionen. Jede Partei muß die Gültigkeit ihrer Aussagen auf den Erkenntniszweck relativieren, der aktuell ist. Sie wird daher auf den Gebrauch einer dem Erkenntniszweck entsprechenden P e r s p e k t i v e angewiesen. Es hat sich ergeben: Metaphysik erreicht den Status der Wissenschaftlichkeit dann, wenn es gelingt, ein Entscheidungskriterium für eine Urteilsbildung im Streitfalle zu geben. Dazu ist eine Selbstgesetzgebung des Denkens nötig, welche Kommunikabilität der metaphysischen Sätze verbürgt. Sie schließt gemeinsame Einigung auf eine Methode des Gebrauchs von Perspektiven ein. In diesem Zusammenhang ist auf den Abschnitt über die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" (B 316 ff.) hinzuweisen, der schon deshalb den an der Dialogtheorie Interessierten aufhorchen läßt, weil in ihm die Polarität von „Ubereinstimmung" und „Widerstreit" vorkommt. Außer dieser Polarität steht die Bedeutungsamphibolie von Gleichheit und Verschiedenheit, von Innerem und Äußerem sowie von Materie und Form zur Debatte. In der Reflexion über die Reflexionsbegriffe zeigen sich diese als Formeln für die Aufgabe, das „Verhältnis" verschiedener Begriffe zueinander zu bestimmen. Dabei ist die Frage zu entscheiden, ob sie identisch sind oder verschieden, ob sie sich miteinander vertragen oder einander ausschließen, einander enthalten oder fremd zueinander sind, ob sie zueinander im

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Verhältnis des bestimmenden zum bestimmten Begriffe stehen. Als amphibolisch sind diese Reflexionsbegriffe deshalb anzusehen, weil sie einerseits dem empirischen, andererseits dem transzendentalen Gebrauche zur Verfügung stehen. Die Reflexion über das Verhältnis von Begriffen wird als „transzendental" bezeichnet, weil es dabei um die Frage geht, ob es Erscheinungen oder Dinge an sich sind, deren Begriffe hierbei verglichen werden. Dabei spielt der Gebrauch der Perspektive insofern eine Rolle, als diejenige des Dinges an sich im Punkte der Vergleichung nach „Einerleiheit und Verschiedenheit", „Einstimmung und Widerstreit" usw. der Begriffe und ihrer Gegenstände andere Ergebnisse bringt, als die Perspektive der Erscheinungen. So ergibt ζ. B. die Ding-an-sich-Perspektive, daß ein Gegenstand mit identisch festgehaltenen qualitativen und quantitativen Bestimmungen, der in verschiedenen gedanklichen Situationen immer wieder begegnet, als ein und dasselbe Ding zu begreifen ist. Wird er aber in die Perspektive der Erscheinungen hereingeholt, so muß der Umstand, daß er zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten begegnet, als Grund für numerische Verschiedenheit angenommen werden. 8 Bei zwei Tropfen Wassers kann man von „aller inneren Verschiedenheit (der Qualität) völlig abstrahieren": es sei genug, „daß sie in verschiedenen ö r t e r n zugleich angeschaut werden, um sie für numerisch verschieden zu halten." (B 320). Auch im Punkte der Ubereinstimmung und des Widerstreits, der bejahenden und der verneinenden Behauptung ergibt ein unterschiedlicher Perspektivengebrauch verschiedene Ergebnisse. Wenn Realität nur durch den reinen Verstand vorgestellt wird, so läßt sich zwischen den Realitäten kein „ W i d e r s t r e i t " denken. Widerstreit ist nicht gleichbedeutend mit logischer Verneinung bzw. logischem Widerspruch. Es ist an die „reale O p p u g n a n z " zu denken, die Kant schon in seiner Frühzeit in der Weise vom l o g i s c h e n Widerspruch abgehoben hat, daß er sie als Verhältnis zweier Kräfte bestimmt hat, von denen die eine die durch die andere bewirkten Folgen aufzuheben sucht. Reale Oppugnanz ist im rein logischen Bereich und in der Perspektive des bloßen Verstandes und seiner Dinge an sich nicht anzutreffen. Dagegen kann das Reale in der E r s c h e i n u n g (realitas phaenomenon) „untereinander allerdings im Widerstreit sein, und vereint in demselben Subjekt eines d i e F o l g e d e s a n d e r n ganz oder 8

Während dieser U m s t a n d der räumlichen Verschiedenheit zweier Dinge für Leibniz ein S y m p t o m dafür war, daß sie auch innerlich verschieden sind, muß für Kant das Vorhandensein sonst ununterscheidbarer Dinge an verschiedenen Orten selbst schon als inneres, sachliches Unterscheidungsmerkmal gelten können.

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zum Teil vernichten, wie zwei bewegende Kräfte in derselben geraden Linie, sofern sie einen Punkt in entgegengesetzter Richtung entweder ziehen oder drücken, oder auch ein Vergnügen, was den Schmerzen die Wage hält" (B 321). Man kann die Eigentümlichkeit der dialogischen Streitsituation darin sehen, daß in ihr logischer Widerspruch und realer Widerstreit zusammenfallen, sofern die widersprechenden Partner nicht nur Begriffe sind, die einander negieren, sondern in Erscheinung tretende Repräsentationen von Gedanken, die von den gegnerischen Subjekten b e h a u p t e t werden. Die Kommunikabilität und Wissenschaftlichkeit metaphysischer Aussagen hängt an der Methode des angemessenen Perspektivengebrauchs und an der sie begründenden Selbstgesetzgebung des Denkens. Wird metaphysisches Denken als dialogischer Prozeß verstanden, so zeigt die Reflexion über die Amphibolie von Übereinstimmung und Widerstreit, daß in dem Falle die Perspektive des „reinen Verstandes" maßgebend ist, in welchem nur logische Gültigkeiten miteinander verglichen werden. Versucht aber das dialogische Denken ein Selbstverständnis zu gewinnen, in das die Frage der Begründung dialogischer Kommunikation und Entscheidungsmöglichkeit eingeht, so ist der Gebrauch der phänomenalen Perspektive angemessen, in der entgegengesetztes Behaupten der Partner erkennbar wird, die miteinander in einen „Widerstreit" treten. Was das Verhältnis zwischen „Innerem" und „Äußerem" betrifft, so gilt, daß an einem vom Verstände g e d a c h t e n Gegenstand, einem Ding an sich, nur dasjenige als „innerlich" gelten kann, welches dem Dasein nach keine Beziehung auf etwas von ihm Verschiedenes, d. h. „Äußeres", hat. Rückt man aber den Gegenstand in die Perspektive der Erscheinungswelt, dann sind die Bestimmungen, die man als „innere" bezeichnet, „Inbegriff von lauter Relationen", also mit den „äußeren" Prädikaten vermittelt. Auch das Reflexionsverhältnis von Materie und Form hängt davon ab, ob man beide in der Perspektive der Dinge an sich oder in derjenigen der Erscheinungen betrachtet. Im erstem Falle geht die Materie der Form voraus (B 323), während es im anderen Falle umgekehrt ist: zum Beispiel gehen Raum und Zeit als Formen der Anschauung vor allen „Erscheinungen und allen Datis der Erfahrung vorher" und machen diese allererst möglich. Die Methode des zweckmäßigen Gebrauchs von Perspektiven soll nicht nur „Widersprüche" in der Metaphysik überwinden, sondern W i derstreitsituationen rational entscheidbar machen, deren realer Repugnanzcharakter im Kapitel über die Reflexionsbegriffe angesprochen wird. Diese Methode ist einer dialogisch-dialektischen Auffassung des Wissen-

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Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

schaftscharakters der Metaphysik angemessen, sofern sie im Dienst der Bedürfnisse der Vernunft steht, in einem Konflikt metaphysischer Behauptungen eine Entscheidung zu treffen, wobei auf gemeinschaftlich begangenem Wege kritisch behauptbare Thesen aus dem Streit gewonnen werden: so kann jetzt die Möglichkeit der Freiheit als mit derjenigen der Notwendigkeit vereinbar behauptet werden. In diesem Sinne kann von einer dialektischen Bewegung gesprochen werden, in der sich der Ubergang von einer Weltperspektive zu einer ihr überlegenen und allgemeineren vollzieht. Daß ζ. B. Copernicus den Entschluß faßt, seinen Stand der Weltbeschreibung außerhalb der Erde zu wählen, geschieht in derjenigen Dimension des Denkens, in der es nicht auf logisches Vergleichen, Ableiten oder auf Konstruieren von Objekten ankommt, sondern in der eine Verfassung des Denkens zu bilden und die Wahl von Perspektiven zu treffen ist. Die „Revolution der Denkart", in der sich der Denkende durch Selbstgesetzgebung den Stand und die Rolle des Gesetzgebers für die Objekte anweist, vollzieht sich als Bewegung des Denkens, die dialektischer Natur ist. Der Dialogpartner fordert sein Gegenüber dazu heraus, auf dem Boden gemeinsamer Vernunft Stand zu nehmen und die gemeinsame vernünftige Selbstgesetzgebung des Denkens zu vollziehen. In der Dimension des dialektischen Denkens kann man von einem Imperativ sprechen, der auf folgende Formel gebracht werden könnte: Mache deine Aussagen auch in der Metaphysik dadurch wissenschaftsfähig, daß die Gültigkeit jeder deiner Sätze als in einer zu ihr gehörigen Weltperspektive stehend begreifbar und auf diese relativierbar aufzufassen ist. Daher geschieht im Dialog nicht nur ein regelgeleiteter Ubergang von einer objektiven Vorstellung zur andern: vielmehr stellt er die Geschichte eines Weges dar, dessen Stationen durch motivierte Wahl von Weltperspektiven bestimmt werden. Die gedankliche Handlung, die als Standnehmen auf dem Boden vernünftiger Welt bzw. als Sich-Versetzen in sie beschrieben wurde, führt zu einer „Gewißheit" der sie zur Sprache bringenden Behauptungen, die von der „objektiven" Gewißheit der Einzelwissenschaften verschieden ist. Kant spricht daher auch von der „subjektiven" Gewißheit, die in der Uberzeugtheit von der Gültigkeit der vorausgesetzten Vernunftwelt wirksam ist: er redet vom „vernünftigen" Glauben. Das Adjektiv „vernünftig" deutet darauf hin, daß Denken und Sprache dieses Glaubens rationaler Argumentation zugänglich sind. Die Gewißheit des Glaubensinhaltes wird durch das Bedürfnis und Interesse einer Vernunft begründet, welche ihn n ö t i g hat, um theoretische und praktische Zwecksetzungen zu realisieren.

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Wer sich rühmt, Aussagen über „Unbedingtes" zu „widerlegen" und „wegzudemonstrieren" (B 781), darf nicht erwarten, daß sich der kritische Philosoph mit ihm auf derselben Ebene, auf der solches Gegen-beweisen versucht wird, in einen Streit einläßt. Dies deshalb nicht, weil zu den Voraussetzungen vernünftig entscheidbaren, den Frieden und die rechtliche und gesetzliche Verfassung der Vernunft verbürgenden Dialogs die auf Kritik gegründete Gesetzgebung gehört, auf Grund derer Vernunft ihr Richteramt auszuüben vermag. „Wenn ich höre, daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des menschlichen Willens, die Hoffnung eines künftigen Lebens und das Dasein Gottes wegdemonstriert haben sollte, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, denn ich erwarte von seinem Talent, daß er meine Einsichten weiterbringen werde. Das weiß ich schon zum voraus völlig gewiß, daß er nichts von allem diesem wird geleistet haben, nicht darum, weil ich etwa schon im Besitze unbezwinglicher Beweise dieser wichtigen Sätze zu sein glaubte, sondern weil mich die transzendentale Kritik, die mir den ganzen Vorrat unserer reinen Vernunft aufdeckte, völlig überzeugt hat, daß, so wie sie zu bejahenden Behauptungen in diesem Felde ganz unzulänglich ist, so wenig und noch weniger werde sie wissen, u m über diese Frage etwas verneinend behaupten zu können" (B 781). Kant will nicht alle Möglichkeiten bejahender oder verneinender Behauptungen auf diesem Felde leugnen: denn er selbst will ja durch seine Kritik die Möglichkeit sichern, unter das Vorzeichen kritischer Hermeneutik gestellte Welt-inhalte in motivierter Weise zu bejahen u n d im Dialog zu behaupten. Von seiner Zurückweisung sind nur bejahende Behauptungen mit objektivem Beweisanspruch getroffen. Selbstgesetzgebung des metaphysischen Denkens und Normierung seines Dialogverlaufes führen dazu, daß Metaphysik den Status der Wissenschaftlichkeit zu erreichen vermag. Ist diese Fundierung von metaphysischer Wissenschaft selbst schon als gedankliches Handeln zu erkennen, so wird im folgenden deutlich werden, daß sich für Kant die Rechtfertigung der Metaphysik zuletzt durch ihren Bezug auf „praktisches" Handeln ergibt. Der philosophische Dialog will zu einer gemeinsamen Zustimmung zu vernünftigen Weltinhalten führen, deren Annahme und Voraussetzung Basis für sinnvolles Handeln ist. Wenn die Uberzeugung von der Gültigkeit einer vernünftigen Welt den Charakter subjektiver Gewißheit hat, so erhebt sich jetzt die Frage, ob die Behauptung einer Welt mit „vernünftigen", der Orientierung des Handelnden dienenden Zügen selbst rational gerechtfertigt werden kann, oder ob sie Sache eines irrationalen

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„Sprunges" ist, der zwar aller Rechtfertigung vielleicht vorauszugehen hat, selbst aber nicht motivierbar ist.

3. Experiment der Vernunft und Weltentwurf Um diese Frage zu beantworten, wird es sich als nützlich erweisen, Kants Charakterisierung seines eigenen Denk-schrittes als philosophischer Entsprechung zur copernicanischen Wendung zu erinnern. Um die Aufgabe möglichst durchsichtiger Beschreibung des Kosmos erfüllen zu können, hat es Copernicus als motiviert angesehen, in freier Wahl einen Standpunkt außerhalb der Erde zu nehmen. 9 Die Ergebnisse der copernicanischen Astronomie sind Konsequenz der freien Wahl des Standes und der von ihm aus sich ergebenden W e l t p e r s p e k t i v e . Nicht naiv der uns durch irdische Existenz nahegelegten Perspektive überläßt sich Copernicus, sondern er stellt sich auf den Boden der Freiheit der Wahl des „besten" Weltstandpunktes. Er wählt damit den Stand möglicher Standpunktwahlen. Kant spricht von einer revolutionären „Umänderung der Denkart" (Β XVI), die er auch in der gedanklichen Verfassung der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit Galilei entdeckt. Die Verselbständigung der Stellung des Subjekts, die Wahl des Standes möglicher Standpunkte sieht er als Grund für die Entstehung der Wissenschaft an, sofern zu dieser wesentlich gehört, sich nicht von zufällig begegnenden Dingen belehren zu lassen, sondern die Erkenntnisse am systematischen Leitfaden eines dem frei gewählten Stande und seiner Perspektive angemessenen Planes zu gewinnen. Um auch Metaphysik in den Rang einer Wissenschaft zu erheben, schlägt er vor, auch ihrem Denken die revolutionäre Wendung zu geben. 10 9

W e n n K a n t in seiner Vorrede zur 2 . Aufl. der Vemunftkritik den N a m e n Copernicus an zwei verschiedenen Stellen nennt, s o geschieht das nicht beiläufig, sondern an Punkten des K o n t e x t e s , die für die Explikation des Lehrbegriffs des transzendentalen Idealismus von zentraler Bedeutung sind.

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Eindrucksvoll unterscheidet Hegel das „unkritische Dahindenken, so wie es eben jedem gegeben i s t " , welches auch denen eigentümlich sei, die sich nach Kant über ihn hinausgegangen zu sein wähnten, von der durch Skepsis hindurchgegangenen Kritik Kants. W e n n er aber weiter sagt, daß die Untersuchung der Formen des Denkens bei Kant verdienstvoll sei, sich aber auch bald das „Mißverständnis" einschleiche, „vor dem Erkennen schon erkennen, oder nicht eher ins Wasser gehen zu wollen, bevor man Schwimmen gelernt h a t " , s o kann der berechtigte scheele Blick dieser Bemerkung auf keinen Fall Kant treffen. D e n n K a n t will nicht „ v o r dem Erkennen schon erkennen", sondern er will wenigstens in der M e t a p h y s i k vor dem Erkennen eine Situation des Erkennens h e r s t e l l e n , eine U m -

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Bisher habe man, so lautet die berühmte Beschreibung Kants von der „Wendung", angenommen, daß alle unsere Erkenntnis sich nach den Gegenständen richten müsse. Aber „alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte." Man solle es daher einmal „ v e r s u c h e n " , ob wir nicht „in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll." (B XVI) N u n kommt er auf Copernicus zu sprechen, der als Vorbild dienen könne. Nachdem dieser bemerkt habe, daß er seine astronomische Erklärungsaufgabe unter der Voraussetzung, das „ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer" nicht befriedigend erfüllen konnte, habe er „ v e r s u c h t " , ob es „nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe." In jedem Satze dieser Beschreibung wird betont, daß es sich hierbei um einen „Versuch" handelt, und daß er, Kant selbst, sein eigenes copernicanisches Standnehmen und die dazugehörige Wahl der Weltperspektive nicht anders denn als E x p e r i m e n t versteht. In der Metaphysik, so sagt er, könne man es, was „die A n s c h a u u n g der Gegenstände betrifft, auf ähnliche Weise versuchen." (Β XVIII) Die Wahl des Wortes „Anschauung" könnte in diesem Zusammenhang auch mit der Absicht verbunden sein, auf das Prinzip der Perspektive, das in der copernicanischen Wendung eine prinzipielle Rolle spielt, zu verweisen. Durch den copernicanischen Stand, so wäre dann der Sinn der Stelle, wird eine Perspektive eröffnet, in welcher die Anschauung zeitlich-räumlicher Verhältnisse aktuell wird, in welche das Subjekt die Dinge hineinstellt. Wörter wie „Versuch", „Experiment" lassen in diesem Zusammenhang aufhorchen: denn einerseits wird die gewählte und behauptete Weltperspektive damit nicht als absolute Wahrheit, sondern als hypothetischer Vorschlag beurteilt. Andererseits aber wird durch die in diesen Wörtern

änderung der Denkart herbeiführen. Das Paradigma f ü r diese Wendung sah er in schon bestehenden Wissenschaften verwirklicht: in der Metaphysik wollte Kant den dort erreichten Stand nachholen. (Enzyklopädie, Vorbegriff zum Logik-Abschnitt §41). Im übrigen weiß gerade Hegel am besten, daß ein Denken methodisch-kritischer Grundlegung, wie das Kantische, den „Nullpunkt", von dem es ausgeht, durch eine Geschichte der Erkenntnis der Unzulänglichkeit bisheriger Versuche gewonnen hat, so daß es nicht den Anspruch erheben kann, „ v o r d e m Erkennen zu erkennen".

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gemachte Anspielung auf ein bewährtes wissenschaftliches Verfahren der Anspruch der rationalen Rechtfertigung und Begründung des behaupteten Weltstandes und seiner Perspektive gegeben. Der Vorschlag, der durch das Experiment geprüft werden soll, ist nicht Ergebnis eines bloßen Einfalls, sondern muß „vernünftig" sein: er darf keine Unmöglichkeiten enthalten. Weiter: das Experiment ist die Geschichte der Prüfung eines Vorschlages, der auf seine Konsequenzen hin verfolgt wird und sich dann als annehmbar erweist, wenn diese dem leitenden Interesse der ganzen Untersuchung entsprechen. Copernicanische Wendung in ihrer philosophischen Version als „Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus" wird im Experiment der Vernunft mit sich selbst vorgeschlagen und auf Wahrheit geprüft. In diesem Experiment wird ein versuchsweises Standnehmen und eine hypothetisch gewählte Weltperspektive getestet: es kann als gelungen gelten, wenn es ein von vornherein leitendes Interesse der Vernunft zu erfüllen vermag, analog dem Erfolg eines Experiments der Naturwissenschaft, der dann gegeben ist, wenn sich in einem „Versuch" Vorhersagen bestätigen lassen, welche von einer zu prüfenden Theorie gemacht wurden. „Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was s i c h d u r c h e i n E x p e r i m e n t b e s t ä t i g e n o d e r w i d e r l e g e n l ä ß t . " Zur Prüfung steht der Vorschlag, den Copernicanischen Stand einzunehmen und sich die Rolle eines Subjekts zu geben, welches die „ O b j e k t e " in den Zusammenhang von Raum und Zeit versetzt und sie kategorial bestimmt. Mit andern Worten: der Vorschlag enthält die Gültigkeit der transzendentalen Konstellation. Die Annehmbarkeit dieses dem Subjekt gegebenen Vorschlags, seine eigene Stellung den Objekten gegenüber nach dem Modell der transzendentalen Konstellation zu denken, wird nun im Experiment der Vernunft mit sich selbst geprüft und gerechtfertigt. Diese Rechtfertigung ist gelungen und die Annehmbarkeit erwiesen, wenn sich aus diesem Standnehmen und seiner Weltperspektive die Möglichkeit ergibt, die Vernunft mit sich selbst zur E i n h e i t zu bringen und ihr Interesse an einer rechtlichen, verfassungsmäßig geregelten Entscheidung ihrer inneren Streitfragen zu erfüllen. Wenn unter der Voraussetzung transzendentaler Konstellation der „Versuch" gelingt, die Ansprüche einander widersprechender und heterogener Vernunftmotive wie der Freiheit und der Notwendigkeit in einer von den Kontrahenten frei annehmbaren Sentenz (Urteil) miteinander in Einklang zu bringen, wie es die Methode der Perspektivenwahl tatsächlich leistet, dann hat der Vorschlag der Transzendentalphilosophie seine Prüfung be-

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standen und darf als „ w a h r " angenommen werden. Die „Versuche", solche Prinzipien wie Freiheit und totale Notwendigkeit in einem gesetzlich geregelten Verfahren miteinander zu vermitteln und zu versöhnen, werden „einen herrlichen Probierstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen" (Β XVIII). Lehrreich ist der Unterschied, den Kant zwischen den Experimenten der Naturwissenschaft, die mit „ O b j e k t e n " umgeht, und dem Experiment der Vernunft mit sich selbst macht, wie es dem philosophischen Denken angemessen ist. In der Philosophie werden Versuche mit „ B e g r i f f e n u n d G r u n d s ä t z e n " gemacht, deren Annehmbarkeit in der geschilderten Weise geprüft wird. Der Vorschlag der Transzendentalphilosophie geht dahin, diese so „einzurichten", daß „dieselben Gegenstände e i n e r s e i t s als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, a n d e r e r s e i t s aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über die Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können. Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung" (Β X I X Anm.). Betrachtet man die Welt in der Perspektive (dem „Gesichtspunkte") des Bestimmtseins der Erscheinungen, so ergibt sich das Bild der Notwendigkeit: sieht man sie in der Perspektive des Bestimmens und der Autonomie an, s o ist von Freiheit zu reden gerechtfertigt. Freiheit und Notwendigkeit sind auf Grund einer methodisch gelenkten und gekonnten Wahl der Perspektiven miteinander vereinbar, während die Befangenheit in nur einer Perspektive, entweder derjenigen der Freiheit oder der Notwendigkeit zu einem Widerstreit der Vernunft mit sich führen würde. Wenn Kant von der Kritik der reinen Vernunft als einem „Traktat von der Methode" spricht, so kann diese Methode als die Anweisung eines zum „ E r f o l g " führenden Gebrauches von Perspektiven gesehen werden. Fragt man, was dem experimentellen Verfahren zugrunde liegt, so stößt man auf etwas den Perspektiven und ihrem Gebrauch Vorhergehendes: auf den transzendentalen „ S t a n d " , der Gesetz und Regel für die richtige Perspektivenwahl gibt. Die Entscheidung, sich selbst im Sinne der transzendentalen Konstellation zu verstehen, ist die grundsätzliche Voraussetzung für die Möglichkeit, in freier Wahl Gebrauch von solchen Per-

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spektiven zu machen, die zu einem das Interesse der Vernunft erfüllenden Effekt führen. Man kann demgemäß von einer Perspektive derjenigen Perspektiven sprechen, deren Gebrauch durch die in der Kritik der reinen Vernunft charakterisierte Methode geregelt wird. So handelt es sich im Falle des Experiments der Vernunft mit sich selbst nicht nur, wie es bei Kant heißt, um Versuche mit „Begriffen und Grundsätzen". Es ist vielmehr — gegen seinen Wortlaut — seine eigene Intention, daß in diesem Experiment das standnehmende Denken und seine transzendentale Perspektive selbst erst den Grund für die Möglichkeit des Vorschlags von Begriffen und Grundsätzen legt, die im Prüfungsverfahren getestet werden. U m den Gebrauch „sekundärer" Perspektiven zu verstehen, muß eine allgemeine transzendentale Perspektive angenommen werden, in der die dialektische Bedeutung der Perspektivenwahl überhaupt erkennbar wird. So kann man auch von der gedanklichen Situation des Copernicus sagen, daß seiner besonderen Wahl des Standes der Weltbeschreibung nahe der Sonne und der daraus sich ergebenden Perspektive des sichtbaren Kosmos ein noch grundlegenderes Standnehmen und d e s s e n Perspektive „vorhergeht": hätte Copernicus als Stand seines Weltbeschreibens einen andern Punkt im Kosmos als den der Sonnennähe gewählt, so würde man darin nur eine Variation i n n e r h a l b einer grundsätzlichen und prinzipiellen allgemeinen Entscheidung sehen müssen, in deren Perspektive ganz grundsätzlich die freie Wahl von geeigneten und vernünftig ausgesuchten Perspektiven ü b e r h a u p t als Aufgabe erkannt wurde: ganz gleichgültig, welche von den Perspektivenmöglichkeiten nun wirklich gewählt wurde. Der „Traktat von der Methode" eröffnet selbst die Perspektive methodisch gelenkter und gekonnter Perspektivenwahl: „denn das hat die reine spekulative Vernunft Eigentümliches an sich, daß sie ihr eigen Vermögen nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objekte zum Denken wählt, ausmessen und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben vorzulegen, vollständig vorzählen und so den ganzen Vorriß zu einem System der Metaphysik verzeichnen kann und soll . . . " (Β XXIII) Damit ist die Frage, um deretwillen diese Überlegungen zu den Prinzipien des Standnehmens, der Perspektive, des Experimentes der Vernunft mit sich selbst angestellt wurden, beantwortet. Es hat sich gezeigt, daß die Wahl der Weltperspektive nicht Sache eines willkürlichen Einfalls, einer subjektiven Laune ist, sondern daß sie sich in einem experimentellen Verfahren motiviert und rechtfertigt. Die Behauptung einer Weltperspektive muß sich als Vorschlag verstehen, der sich an dem „Probierstein" messen und testen läßt, o b er eine Methode des Gebrauchs von Perspek-

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tiven hergibt, durch die sich ζ. B. solch heterogene Ideen wie Freiheit und Notwendigkeit miteinander vermitteln lassen. Vernunft experimentiert mit sich selbst, indem sie als metaphysisches Denken die Annahme und Voraussetzung einer Welt probeweise vorschlägt, mit der sich das Subjekt identisiert, indem es sich in sie handelnd „versetzt". 1 1 Nicht theoretische Hypothesen werden durch Hantierung mit O b j e k t e n geprüft; vielmehr stellt sich „Ich denke" selbst zur Prüfung, indem es einen Versuch mit Weltaussagen und Perspektiven macht. Hierbei besteht die Gefahr des Abkommens vom Wege rationaler Prüfung meines Selbst sowie des Abgleitens in eine Strategie, die nicht gemäß dialektischer Selbstgesetzgebung vorgeht, sondern den Charakter eines Kampfes und einer Selbstdurchsetzung des Behauptungen aussagenden Subjekts annimmt. Derart sind „weltanschauliche" Auseinandersetzungen, bei denen es nicht um gemeinsamen Gewinn von Uberzeugungen durch dialogisch durchgeführtes Experimentieren, sondern darum geht, den andern zum Schweigen zu bringen. Kant hat die für den „vernünftigen Glauben" zuständige „subjektive" Gewißheit von der „objektiven" Gewißheit des wissenschaftlich begründeten „Wissens" unterschieden. Der Unterschied werde sprachlich in demjenigen der zwei Wendungen: „Eine Sache ist für mich gewiß" und „Ich bin meiner Welt gewiß" faßbar. Wenn die Aussage: „Ich bin gewiß" nicht Ausdruck einer rationalen Experimentalgesinnung, sondern eines rechthaberischen Anspruchs und Eigensinns ist, wie es in „weltanschaulichen" Kämpfen der Fall ist, dann wird daraus ein: „Ich w i l l die Gültigkeit des von mir Behaupteten und zugleich sein Anerkanntsein durch die andern." Ist dieser Fall gegeben, so tritt an die Stelle der Kommunikation und des freien rationalen Dialogs der Anspruch auf Zwang zur Geste der Zustimmung. Kant legt in seiner Metaphysik der Natur und derjenigen der Sitten jeweils eine Welt zugrunde, die ein in entsprechender Absicht Handelnder b r a u c h t , um seine Aufgaben in ihr erkennen und sich durch den Blick auf diese Welt von der Möglichkeit, der Sinnhaftigkeit und dem Erfolg seines Tuns überzeugen zu können. Diese Welt wird zunächst versuchsweise angenommen. Die Rechtfertigung dieser „Annahme" und „Voraussetzung" geschieht durch eine Prüfung, welche die Vernunft mit sich selbst anstellt: in dieser stellt sich heraus, ob es der die Welt „konstruierenden" Vernunft gelungen ist, dem Handelnden ein „ b r a u c h b a r e s " 11

X V I I , S. 377/78: Verstand . . . „richtet sich selbst seine Stellung ein".

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Fundament für sein Handeln zu geben. Es muß sich im Experiment zeigen, ob sich diese Welt dem Handelnden insofern als brauchbar erweist, als sie ihm einen Leitfaden für die „Orientierung" seines auf theoretisches und praktisches Handeln ausgehenden Bewußtseins bietet. Der Metaphysiker der Natur sieht ein, daß er dem physikalisch Handelnden eine in dieser Weise „brauchbare" Welt im Gedankenexperiment zur Verfügung stellen muß, der auf ihrem Fundament sich für seinen pragmatischen Umgang mit den physikalischen Objekten i n n e r h a l b dieser Welt einzurichten vermag. Beispielsweise fundiert der in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" geleistete Weltentwurf physikalisches Handeln in der Weise, daß er es dem handelnden Bewußtsein möglich macht, sich in ein Weltmilieu zu versetzen, in welchem es im Räume Körpern begegnet, mit Bewegung zu tun hat, Kräfte wahrnimmt, die es zu berechnen hat, usw. Die Rechtmäßigkeit der metaphysischen Behauptung der mit solchen Zügen ausgestatteten Welt kann nicht selbst wieder physikalisch bewiesen werden, weil die Weltidee selbst physikalische Leistungen des Berechnens, Beweisens und Experimentierens mit Objekten zu fundieren hat. Also kann sie nur in einem Experiment eigentümlicher Art gesichert werden: die Vernunft hat es hierbei nicht mit Objekten, sondern mit sich selbst und ihren eigenen „Begriffen" und „Grundsätzen" (Β XVIII) zu tun.

4. Orientierung und philosophische Sprache: das bürgerliche Arbeitsethos des Philosophen Eine der Aufgaben, welche einem Weltentwurf bei seiner experimentellen Prüfung auf seine Rechtmäßigkeit hin vorgelegt werden, besteht darin, dem handelnden Bewußtsein einen umgreifenden Horizont zu bieten, innerhalb dessen es sich zu „orientieren" vermag. Im folgenden mag die Aufmerksamkeit auf die Antwort gelegt werden, die Kant der Frage gibt: „Was heißt, sich im Denken orientieren?" 12 Wie sich der Wanderer durch Orientierung in seiner räumlichen „Welt" zurechtfindet, indem er seinen Platz und die Richtung bestimmt, die er von seiner Stelle aus einzuschlagen hat, so muß sich auch der denkend-Handelnde einer „Weltkarte" bedienen, mit Hilfe deren er seine Aufgaben zu begreifen, seinen Stand bei deren Erfüllung zu bestimmen, die 12

VIII, S. 131 ff.

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Richtung zu erkennen vermag, in der es weitergeht. Diese wird durch die „Zwecke" bestimmt, die er sich setzt. Zur Weltorientierung des Denkens gehört noch, daß der Weltentwurf eine Uberzeugung vom Sinn der ganzen Anstrengungen des Handelns in der Weise zu vermitteln vermag, daß er der Welt Züge verleiht, die Erfolg erwarten lassen. Das bei diesem Entwurf geleistete Denken kann sich keiner objektiven Methoden seiner Rechtfertigung bedienen, da es ihm darum geht, sich selbst eine Ausrichtung zu geben, die ihrerseits erst das Fundament für objektive wissenschaftliche Erkenntnis darstellt. Die Vernunft des Handelnden erfüllt selbst ihr eigenes „Bedürfnis" nach einer orientierenden Welt. Die Rechtmäßigkeit des hierzu geleisteten Entwurfes kann nur experimentell erwiesen werden, indem seine Brauchbarkeit gezeigt wird. Halten wir uns an die von uns in Gedanken aufgebaute Welt, so wenden wir sie in gewisser Hinsicht bei unserem handelnden Umgang mit den uns in der Erfahrung begegnenden Sachen i n n e r h a l b der Welt an. Der Weltentwurf wird in ein „Verhältnis" zu Praxis und Erfahrung gebracht, „wodurch wir ihn noch gar nicht versinnlichen, aber doch etwas Ubersinnliches wenigstens tauglich zum Erfahrungsgebrauche unserer Vernunft denken; denn ohne diese Vorsicht würden wir von einem solchen Begriffe gar keinen Gebrauch machen können, sondern schwärmen, anstatt zu denken." 13 Die Gewißheit und Uberzeugungskraft eines Weltentwurfes stellt sich auf Grund seiner Brauchbarkeit für unser Bewußtsein her: dieses erwartet sich von der Welt eine Möglichkeit der Orientierung, also einen Gewinn nicht im Hinblick objektiver Erkenntnis, sondern subjektiver Ausrichtung auf Handeln. Selbstorientierung der Vernunft heißt daher nach Kant: „Sich bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen." 14 Hat sich im Experiment ein Weltentwurf bewährt, so halte ich ihn für wahr. Trotz des subjektiven Charakters der sich so einstellenden Gewißheit wird hier nicht Tür und Tor für Schwärmerei, Beliebigkeit und gedankliche Verantwortungslosigkeit geöffnet: vielmehr befinden wir uns auf einem Boden des Experiments der Vernunft mit sich selbst, der von einer Rationalität eigentümlicher Art beherrscht wird. Zwar gebraucht Kant für das in der Orientierung gewonnene Selbstbewußtsein, in welchem ich meiner eigenen Stellung und Aufgabe in dieser Welt bewußt werde, den Namen „Gefühl". Aber bei näherer Betrachtung stellt sich ein 13 14

VIII, S. 136. VIII, S. 136.

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sehr rationaler Zug dieses Gefühls heraus, sofern es verlangt, daß die zum Maßstab und zum Grund der Orientierung gewählte Welt die Erwartungen erfüllt, welche die Vernunft an sie stellt. 15 Gerechtfertigt ist nur die „Voraussetzung und Annahme" solcher Inhalte, die Orientierung des theoretischen und praktischen Handelns leisten. Uberflüssige Erdichtungen, bloße Produkte willkürlicher metaphysischer Phantasie finden keine Rechtfertigung: etwa die Annahme „reiner geistiger Naturwesen", die man statt der soliden von der Naturwissenschaft erkennbaren Ursachen behaupten wollte. Es wäre kein „Bedürfnis", vielmehr „bloßer Vorwitz, der auf nichts als Träumerei ausläuft, darnach zu forschen oder mit Hirngespinsten der Art zu spielen." 16 Ganz anders ist es mit dem Begriff von einem ersten „Urwesen" als oberster Intelligenz und zugleich als dem höchsten Gute bewandt, sofern es sich dabei lediglich um eine notwendige „Annahme" handelt. Dieser gemäß wird der Denkende dazu b e r e c h t i g t , in der Natur nach Zweckmäßigkeiten und erklärbaren Zusammenhängen zu forschen. Ein „genügsamer subjektiver Grund der A n n e h m u n g " der Idee dieses Wesens ist durch das Bed ü r f n i s der Vernunft gegeben: „Etwas, was ihr verständlich ist, vorauszusetzen, um diese gegebene Erscheinung daraus zu erklären, da alles, womit sie sonst nur einen Begriff verbinden kann, diesem Bedürfnisse nicht abhilft." Der „vernünftige" Glaube, der sich im Selbstexperiment der Vernunft zu prüfen hat, ist bereit, sich im Dialog rational zu rechtfertigen. Metaphysisches Denken und Sprechen im Horizont dieses Glaubens ist in seiner spezifischen Weise von der Vernunft angewiesen, nach allgemeinen Regeln des Denkens zu verfahren und eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Das bedeutet eine Absage an jeden Intuitionismus. Wenn der Vernunft in Sachen, welche „übersinnliche Gegenstände betreffen", das „ihr zustehende Recht, zuerst zu sprechen, bestritten wird: so ist aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte geöffnet." Zugleich mit der Absage an die „freien Schwünge des Genies" in der Philosophie behauptet Kant die Selbstgesetzgebung der Vernunft, die zugleich Kommunikation im philosophischen Sprechen ermöglicht. Das will nicht besagen, daß die Intuition ganz verleugnet wird: es geht hier nur darum, ihr nicht das erste und letzte Wort zu lassen. 15 16

VIII, S. 137. VIII, S. 137. Ein Nachklang der in den „Träumen eines Geistersehers" (1766) intonierten Melodie ist hier unüberhörbar.

Orientierung und philosophische Sprache

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Zur Selbstgesetzgebung gehört die Durchführung des Vernunftexperimentes mit den dialogisch-dialektischen Implikaten rationaler Argumentation und der kritische Gebrauch der Weltidee. „Freiheit im Denken" bedeutet „Unterwerfung der Vernunft unter keine andere Gesetze als: d i e sie s i c h s e l b s t g i b t ; und ihr Gegenteil ist die Maxime eines g e s e t z l o s e n G e b r a u c h s der Vernunft (um dadurch, wie das Genie wähnt, weiter zu sehen, als unter der Einschränkung durch Gesetze)." 17 Intuitionismus bedeutet A n a r c h i e des Denkens. Anarchisches Denken, welches seinen Weltstand ohne die Bereitschaft rationaler Rechtfertigung behauptet, ist nicht methodisch gelenkt und daher nicht allgemein kontrollierbar. Seine S p r a c h e ist nicht kommunikabel, weil ihre Bedeutungen nicht auf gemeinsamer Weltkonstruktion begründet sind. Unter den Anarchisten des Denkens und Handelns muß bald eine „Sprachverwirrung" entstehen, indem, da Vernunft „allein für jedermann gültig gebieten kann, jetzt jeder seiner Eingebung folgt: so müssen zuletzt aus inneren Eingebungen durch äußere Zeugnisse bewährte Fakta, aus Traditionen, die anfänglich selbst gewählt waren, mit der Zeit a u f g e d r u n g e n e Urkunden, mit einem Worte die gänzliche Unterwerfung der Vernunft unter Fakta, d. i. der A b e r g l a u b e , entspringen, weil dieser sich doch wenigstens in eine g e s e t z l i c h e F o r m und dadurch in einen Ruhestand bringen läßt." 1 8 Schließlich werden dort, wo Selbstgesetzgebung des Denkens und philosophische Methode nicht verbindlich sind, die allgemeinen und gemeinsamen Motive theoretischer Entscheidung fehlen und unvernünftiger Macht dienende Dezisionen wirksam werden. Wenn Vernunft dem Gesetz nicht unterworfen sein will, das „sie sich selbst gibt", so muß sie sich unter das Joch der Gesetze beugen, die ihr ein anderer gibt. Denn „ohne irgendein Gesetz kann gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn sein Spiel lange treiben. Also ist die unvermeidliche Folge der e r k l ä r t e n Gesetzlosigkeit im Denken (einer Befreiung von den Einschränkungen durch die Vernunft) diese: daß Freiheit zu denken zuletzt dadurch eingebüßt, weil nicht etwa Unglück, sondern wahrer Ubermut daran Schuld ist, im eigentlichen Sinne des Wortes v e r s c h e r z t wird." 1 9 Die im philosophischen Denken maßgebende Selbstgesetzgebung des Denkens, auf Grund deren der Streit auf vernünftige Weise entschieden 17 18 19

VIII, S. 145. VIII, S. 145. VIII, S. 145.

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Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

werden kann und Vernunft ihr Weltexperiment erfolgreich zu bestehen vermag, ermöglicht und fordert auch eine S p r a c h e , die jeder zu verstehen und zu vollziehen vermag, der sich auf den Boden dieser Gesetzgebung stellt. Anarchisches Denken, durch welches Philosophen durch Intuition unmittelbar und mit einem Sprunge ohne methodische Rechtfertigung zur „Erkenntnis" des Absoluten zu gelangen suchen, wird die Sprache der Adepten sprechen: die esoterische Sprache derer, die kein Kommunikationsprinzip in Form einer verbindlichen Kontrolle anerkennen und sich daher nur, wenn überhaupt, im Falle eines zufälligen Zusammentreffens „gleichgestimmter Naturen" mitteilen und verständigen können. Das Problem der philosophischen Sprache lag Kant deshalb am Herzen, weil er Sprechen und Denken auf eine gemeinsame Wurzel, die der Selbstgesetzgebung des Denkens, zurückführt. Wo daher die Redefreiheit beschränkt wird, da wird auch die Denkfreiheit in Gefahr gebracht. Wieviel und mit welcher Richtigkeit „würden wir wohl d e n k e n , wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken m i t t e i l e n , dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich m i t z u t e i l e n , den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu d e n k e n nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann." 2 0 Selbstgesetzgebung des Denkens ist für das bürgerlich-philosophische Bewußtsein charakteristisch: Kants Kritik der reinen Vernunft will eine Beschreibung dieses Bewußtseins und zugleich normativ sein. Autonome und aufgeklärte Vernunft, die von der Sprache methodische Mitteilbarkeit verlangt, versetzt den Sprechenden auf den Boden gemeinsamen vernünftigen Denkens, dialogischen Redens und Rechtfertigens und gemeinsamer Handlungsprinzipien. Damit gibt sie dem bürgerlichen Bewußtsein seine Verfassung und Weltperspektive. Von dieser Verfassung unterscheidet sich diejenige des „vornehmen" Bewußtseins, welches auf die angeborenen Vorrechte eines Sprachgebrauchs pocht, in den nur diejenigen eingeweiht sind, die sich besonderer Gunst der Natur, der sie ihre Eingebungen zuschreiben, glauben rühmen zu können. Sie überheben sich der Verpflichtung der auf Gesetzgebung beruhenden Forderung allgemeiner Mitteilbarkeit: sie sehen in der Sprache nicht ein Produkt und Mittel gemeinsamer Denkarbeit, sondern nehmen sprachliche Privilegien in Anspruch, stellen 20

V I I I , S. 144.

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also auf dem Gebiete der Sprache Verhältnisse her, deren politisches Pendant in die vorrevolutionäre Zeit gehört. Wie Kant hierzu steht, drückt er in der Sprache sokratischer Ironie in einem Brief an Hamann aus. „. . . s o bitte mir Ihre Meinung in einigen Zeilen aus: aber womöglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der A n s c h a u e n d e n V e r n u n f t garnicht organisiert. Was man mir aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel vorbuchstabieren kann, das erreiche ich noch wohl." 2 1 Für die Notwendigkeit rationalen Argumentierens in der Philosophie und des Gebrauchs einer mitteilbare und gemeinsame Denkschritte vollziehenden Sprache plädiert er vom Standpunkt philosophischer Vernunft aus in Sätzen gegen den „vornehmen Ton" in der Philosophie, den er in seiner Gegenwart im Zuge des Aufkommens romantischen Denkens und Sprechens beobachten konnte. Es gebe, so sagt er, einen Sprachgebrauch des Namens Philosophie, demzufolge philosophisches Denken und Sprechen als Sache abgeschlossener Zirkel von Adepten eines Geheimnisses und ähnlicher sich von der Gemeinsamkeit bürgerlichen Denkens und Handelns isolierender Personen gilt. Auch die „neuesten Besitzer" des Geheimnisses haben dies zwar „in s i c h " , können es unglücklicherweise aber nicht aussagen und „durch Sprache allgemein mitteilen". Er meint die Propagandisten der intellektuellen Anschauung. Wer sich auf diese glaubt berufen zu können, wird auf den mit Verachtung herabsehen, der den mühsamen Weg der begrifflichen Anstrengung geht. Denn der diskursive Verstand muß „viele A r b e i t (gesp. v. Verf.) zu der Auflösung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Prinzipien verwenden und viele Stufen mühsam besteigen, um im Erkenntnis Fortschritte zu tun", während die Erkenntnisse dem anderen mühelos zufallen. Dieser denkt und spricht auf Grund einer Eingebung, die es ihm erlaubt, den „Gegenstand unmittelbar und auf einmal zu fassen". 22 Man muß annehmen, durch ein ausgezeichnetes Erkenntnis-„organ" begnadet worden zu sein, wenn man philosophisches Denken und Sprechen auf Eingebungen begründet: dieses Organ läßt Dinge „schauen", über die man nur mit Personen gleicher natürlicher Anlagen sprechen kann, und die der Allgemeinheit unerreichbar sind. Derjenige, der die wichtigsten Erkenntnisse ohne begriffliche Arbeit gewinnt, dünkt sich v o r n e h m . „Alle dünken sich vornehm nach dem Maße, als sie glauben, nicht arbeiten zu 21 22

Brief an Hamann v o m 6. April 1774, X, S. 156. VIII, S. 389.

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dürfen; und nach diesem Grundsatz ist es neuerdings so weit gekommen, daß sich eine vorgebliche Philosophie, bei der man nicht a r b e i t e n , sondern nur das Orakel in sich selbst anhören und genießen darf, um die ganze Weisheit, auf die es mit der Philosophie angesehen ist, von Grunde aus in seinen Besitz zu bringen, unverhohlen und öffentlich ankündigt "23 W e r mit der Geste vornehmen Denkens und Sprechens auftritt, braucht sich nicht zu rechtfertigen: er kann und will nicht in rationaler Argumentation Rede und Antwort stehen, weil er „da aus eigenem Ansehen spricht", d. h. weil er Zustimmung auf Grund der Tatsache erwartet, daß e r gesprochen hat. Philosophie ist, wie jede Wissenschaft, Arbeit, sofern sie „sich auf methodische Entwicklung und systematische Zusammenstellung der Begriffe" einläßt; das kann ein Bild der Attitüde pedantischen Stolzes ergeben: dem Philosophen der Anschauung aber kann es einfallen, die Rolle des Vornehmen zu spielen, sofern er seine Aussagen nicht „durch die herkulische Arbeit des Selbsterkenntnisses . . . von unten hinauf, sondern, sie überfliegend, durch eine ihn nichts kostende Apotheose von oben herab demonstriert." 2 4 Durch diese Sätze wird dem Ensemble der Begriffe: Kommunikation, Handlung des Konstruierens, Zusammensetzens, Gesetzgebung des Denkens, Methode des Produzierens von Theorie auch der Begriff: „Arbeit" hinzugefügt. In diesem Zusammenhang werden vornehme Sprache, die sich der Gesetzgebung des Denkens nicht unterwirft, und methodisch gelenkte Arbeit des Denkens und Sprechens, die dem allgemeinen und gemeinsamen Mitteilen verpflichtet ist, kontrastiert. Die durch den Willen zu gemeinsamer, im Dialog rational zu verantwortender gedanklicher Arbeit bestimmte Gesinnung, für die ein selbstgegebenes Gesetz gilt, zeigt auf der Ebene philosophischer Denkverfassung den Typus von Bewußtsein, den man als „bürgerlich" bezeichnen kann. Philosophisches Denken, welches sich von der Attitüde der Vornehmheit distanziert, den Erkenntnisbesitz durch methodisch gelenktes und allgemein kontrollierbares Arbeiten gewinnt, ist durch dialogische Gesinnung des sich Rechtfertigens bestimmt und repräsentiert die Bewußtseinsverfassung bürgerlicher Gesellschaft. Piaton, der sich auf intellektuelle Anschauung berufe, gehöre zu den „ V o r n e h m e n " , ebenso Pythagoras, der in jeder Hinsicht esoterische Züge zeigte. „ D i e Philosophie des A r i s t o t e l e s ist dagegen A r b e i t . " 2 5

23 24

V I I I , S. 390. V I I I , S. 390.

25

V I I I , S. 393.

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Daß Kant den Charakter kritischer Philosophie mit demjenigen bürgerlichen Bewußtseins überhaupt vergleicht, wird in weiteren Aussagen des Aufsatzes vom „vornehmen Ton" unüberhörbar. Wenn vornehme Personen philosophieren, dann, so heißt es, lassen sie sich auf ein Geschäft ein, das an sie die Forderung stellt, sich „auf den Fuß der bürgerlichen Gleichheit" herabzulassen. 26 Sie unterwerfen sich derselben kritischen Selbstgesetzgebung der Vernunft, wie diejenigen Bürgerlichen, mit denen sie in einen Dialog treten. Die Rede von der „bürgerlichen" Freiheit und Gleichheit kann soziologisch ebenso wie erkenntnistheoretisch verstanden werden. Auch im Falle der Rede vom „Vornehmen" des Denkens und Sprechens ist maßgebend, daß Vornehmheit eine Verfassung des Bewußtseins darstellt, die sich durch Berufung auf intellektuelle Anschauung, Abweisung von Gesetzgebung und Methode, Gebrauch esoterischer, nicht allgemein mitteilbarer Sprache zu erkennen gibt. Es ist vor allem auch die Berufung auf den Eingebungscharakter der eigenen metaphysischen Erkenntnis und die Selbstdispensierung von gedanklicher „Arbeit", wodurch sich der „vornehme" Denker vom „bürgerlichen" unterscheidet. Dieser motiviert sich und sein Stellungnehmen durch Orientierung an gemeinsamer Vernunft und gründet darauf den Anspruch der Geltung seiner Aussagen, während jener Zustimmung zu seinen Behauptungen einfach deshalb beansprucht, weil er es ist, der sie vertritt. Dem entspricht auch die Unterscheidung zwischen „schulmäßigem" und „geniemäßigem" Denken und Sprechen. 27 Man solle unterscheiden zwischen ernstem „Philosophieren" und der Attitüde, in welcher einer nur die Rolle des Philosophen spielt, „den Philosophen macht" 28 . Das letztere geschehe im „vornehmen Ton, wenn der Despotism über die Vernunft des Volks (ja wohl gar über seine eigene) durch Fesselung an einen blinden Glauben für Philosophie ausgegeben wird." Eine Aussage, die man nicht in allgemeingültiger, gemeinsamer Sprache rechtfertigen will, kann man nur durch Suggestion, Überredung usw. zur Anerkennung bringen. Wenn Philosophen die Attitüde der Vornehmheit annehmen und den „Genialen" spielen, so zeigen sie ein Verhalten, das zur gedanklichen Despotie führen kann, denn sie distanzieren sich von der gesetzlichen Verbindlichkeit, dergemäß ihre Mitbürger und Zunftgenossen denken und VIII, S. 394. " V I I I , S. 390. 2 8 VIII, S. 394. 26

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Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

sprechen; sie verletzen „deren unveräußerliches Recht der Freiheit und Gleichheit in Sachen der bloßen Vernunft". 2 9 Auch philosophische Vernunft muß den Weg der Begriffe und der Gesetzgebung des Denkens gehen. Kritik hat ergeben, daß philosophisches Denken nicht hoffen darf, in der Richtung „nach vorwärts", auf objektiven Erkenntnisgewinn erfolgreich zu sein. Es muß seine Rationalität in der Richtung nach „rückwärts", auf eine geglaubte, vorausgesetzte und angenommene Weltidee hin ausrichten. Wer die Rolle des „vornehm" Denkenden spielt, durchbricht die selbstgesetzten Grenzen der kritischen Vernunft an zwei Stellen: er bricht erstens mit der Gesetzgebung der Vernunft und mißachtet, sich auf einen „gewissen mystischen Takt" berufend, 30 die Vermittlungen der Methode. Er vollzieht einen „Ubersprung (salto mortale)" von sachlich gerechtfertigten Begriffen zum Undenkbaren. Statt eines Erkennens des Gegenstandes und eines Sprechens, das der vernünftigen Methode verpflichtet wäre, verheißt er „ein Surrogat" und beruft sich auf „übernatürliche Mitteilung (mystische Erleuchtung)". Zum zweiten durchbricht er die Grenzen der Kritik, sofern er es sich zutraut, das Unbedingte in der Blickrichtung „nach vorwärts", wie ein Objekt, mit Hilfe seines mystischen Organs zu erkennen, statt den metaphysischen Blick gemäß der kritischen Devise nach „rückwärts" zu richten, um voraussetzungsweise Stand auf dem Boden einer Welt zu nehmen, von der aus er seine theoretischen und praktischen Aufgaben zu erkennen und zu realisieren vermag. 31 Der Philosoph des Geheimnisses ist „in großem Vorteil über alle die, welche sich allererst rechtfertigen müssen, um sich der Wahrheit ihrer Behauptungen berühmen zu dürfen. Ich kann daher in dem Tone eines Gebieters sprechen, der der Beschwerde überhoben ist, den Titel seines Besitzes zu beweisen (beati possidentes)." 32 Die rechtsphilosophische Wendung des Satzes will besagen, daß die entscheidende metaphysische Erkenntnis nach der Voraussetzung des „vornehmen Tones" nicht durch Arbeit erworben wird, sondern auf Grund eines intellektuellen Begnadetseins, gleichsam von Gottes Gnaden geschenkt werden muß: so kann er 29 30 31

32

V I I I , S. 394. V I I I , S. 398. Zur Verwendung des Wortpaares „vorwärts" und „rückwärts" sei die aufschlußreiche Stelle angegeben: „Plato der A k a d e m i k e r . . . gebrauchte seine intellektuellen Anschauungen nur rückwärts, zum E r k l ä r e n der Möglichkeit eines synthetischen Erkenntnisses a priori, nicht vorwärts, um es durch jene im göttlichen Verstände lesbare Ideen zu e r w e i t e r n . . . " ( V I I I , S. 398). V I I I , S. 395.

Mittelbarkeit der Geschmacksurteile

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sich berechtigt wähnen, die Anerkennung „seiner" Wahrheit zu dekretieren. Kants Opposition gegen diesen Standpunkt geschieht unter der Devise des Handlungsprinzips. Dementsprechend darf sich die Theorie der synthetischen Urteile a priori nicht auf „eingeborene Ideen" berufen, sondern muß Handeln von der Art des Verbindens, Machens, Konstruierens, Produzierens zugrunde legen. Die Polemik gegen den Irrationalismus der „intellektuellen Anschauung" geht, wie hieran sichtbar wird, auf dieselbe Wurzel zurück, wie die gegen den Theorationalismus, d. i. diejenige Interpretation von Vernunfterkenntnis, derzufolge wir göttlicherseits von Natur aus mit fertiggegebenen Erkenntnissen ausgestattet sind. 3 3 Metaphysik verlangt vom Denkenden, daß er sich in die Disziplin der Vernunft begebe und in allgemein mitteilbarer Sprache seinen Welt-stand argumentativ rechtfertige. D a ß die Mitteilbarkeit der Sprache auf Grund gemeinsamer Vernunfthandlung auch im „subjektiven" Bereich der ästhetischen Urteile nachzuweisen ist, mag in einem folgenden Abschnitt, der sich mit dem „sensus communis" befaßt, erkennbar werden.

5. Vemunfthandlung und Mitteilbarkeit der Geschmacksurteile: der kritische Philosoph als ehrlicher Makler Wie steht es mit der Allgemeingültigkeit und Kommunikabilität der ästhetischen Aussagen, die nicht begrifflich gerechtfertigt werden können, aber doch den Anspruch erheben, an einem allgemeinen Maßstab gemessen zu werden? Dieser die Gemeinsamkeit der Sprache der ästhetischen Urteilskraft begründende Maßstab ist eine vernünftig-sinnliche Verfassung des Subjekts. Hier gilt, daß der in der Urteilskraft Erfahrene und Gebildete die Dinge richtig beurteilt. Er repräsentiert in sich einen Maßstab, der in einer harmonischen Mischung von Sinnlichkeit und Vernunft besteht. Auf die Form des Verhältnisses der beiden Seiten kommt es an, damit Allgemeingültigkeit und Gemeinsamkeit der Sprache der ästhetischen Urteilskraft möglich wird. Wie im Bereiche der Theorie vom „Stand"nehmen auf dem Boden der Vernunft als der die Kommunikation begründenden Handlung gesprochen wurde, so kann man hier von einem „Stand" der Urteilskraft sprechen, der sich durch Übung in der Beurteilung exemplarischer Kunstwerke hergestellt hat. Kant selbst spricht von einem „ V o r s t e l 33

Vgl. den Briefentwurf an J . W . Kossmann vom September 1789, X I , S. 81 f.

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Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

l u n g s z u s t a n d " , dem das Vermögen eigentümlich sei, in „seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht" zu nehmen, um „ g l e i c h s a m an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben w ü r d e . " 3 4 Das Vermögen dieses am gemeinsamen Beurteilen und Sprechen orientierten Zustandes nennt er „sensus communis". Man müsse darunter die Idee eines „ g e m e i n s c h a f t l i c h e n Sinnes" verstehen. Die Methode des ästhetischen Urteilens unter der Devise der Mitteilbarkeit und Allgemeingültigkeit besteht darin, daß man sein „Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert." 3 5 Die Rede vom „Sich-Versetzen" in die Stelle eines möglichen andern deutet auf dieselbe D e n k h a n d l u n g hin, wie sie durch die Wendung „Standnehmen" bezeichnet wird. Daher wird eine Bewegung des Sich-Versetzens in die Stelle „ j e d e s andern" gefordert, wobei nicht dessen zufällige Individualität, sondern seine vernünftig-anschauliche Verfassung maßgebend ist. Betont wird die Allgemeinheit und Öffentlichkeit des durch diese Denkhandlung besetzten Bodens durch die Bemerkung, daß der dabei gebrauchte Maßstab des eigenen Urteils nicht das w i r k l i c h e , sondern das „bloß mögliche" Urteil der andern ist. Man orientiert sich daran, wie diese urteilen können, wenn sie über den angemessenen sensus communis verfügen. D i e Entprivatisierung des eigenen Urteils, die zugleich ein Abstreifen subjektiver Zufälligkeit bedeutet, bedeutet die Eliminierung der „Empfindung" und Orientierung an den lediglich „formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes". Diesen Zusammenhang weitet Kant durch einen bemerkenswerten Exkurs aus, in welchem er auf dem Boden der Kritik der Geschmacksurteile allgemeine Züge des „gemeinen Menschenverstandes" sichtbar macht. Die in diesem Kontext genannten „Maximen des gemeinen Menschenverstandes" können als Bestätigung des Zusammenhanges von dialogisch-dialektischer Bewegung, Denkhandlung des Standnehmens und Kommunikation angesehen werden. Die Maximen des gemeinen Men34 35

V, S. 293. V, S. 294.

Mittelbarkeit der Geschmacksurteile

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schenverstandes seien folgende: „Erstens Selbstdenken; zweitens an der Stelle j e d e s andern denken; drittens jederzeit mit sich selbst einstimmig denken." Wenn Kant die erste Maxime als die der Vorurteilsfreiheit bezeichnet, so wird erkennbar, daß er mit der Devise „Selbstdenken" nicht nur das Programm der Ablehnung autoritativer Gewißheit, sondern auch das der Befreiung von eigener subjektiver Befangenheit versteht. Es handelt sich dabei um die Maxime einer „niemals p a s s i v e n Vernunft". Die Maxime des Selbstdenkens ist zugleich die des Selbst h a n d e l n s der Vernunft, die sich nicht durch natürliche oder geschichtliche Fakten, also durch Vorurteile, bestimmen läßt. In diesem Zusammenhang begegnet wieder der Selbstgesetzgebungscharakter der Vernunft. Das größte unter allen Vorurteilen sei, sich die Natur als unabhängig von der gesetzgeberischen Handlung des Verstandes vorzustellen. Darin sieht Kant das Wesen des Aberglaubens. Diejenige Handlung des theoretischen und zugleich praktischen Denkens, durch welche das Subjekt seine freie und zugleich gesetzgeberische Stellung gegenüber der Natur selbst bestimmt — die allgemeine, der Natur vorgeschriebene Gesetzgebung — ist z u g l e i c h Selbstgesetzgebung des transzendentalen Subjekts in dem Sinne einer Selbstbestimmung zur Funktion des Gesetzgebers, sie macht das Subjekt von der Befangenheit gegenüber der Natur frei; sie überwindet die „Heteronomie der Vernunft", welche Kant als Prinzip der Vorurteile bezeichnet. Der erste Schritt zum Ansatz des „Lehrbegriffs des transzendentalen Idealismus" und zur Realisierung des Modells der transzendentalen Konstellation ist ein Schritt der Befreiung und zugleich der Aufklärung. „Befreiung vom Aberglauben heißt A u f k l ä r u n g : weil, obschon diese Benennung auch der Befreiung von Vorurteilen überhaupt zukommt, jener doch vorzugsweise (in sensu eminenti) ein Vorurteil genannt zu werden verdient, indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfnis von andern geleitet zu werden, mithin der Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht." Weil Aufklärung als Selbstgesetzgebung der Vernunft zu begreifen ist, durch welche eine allgemeine Methode des Denkens und gemeinsame Sprache begründet wird, gehört zu ihrer Devise des „Selbstdenkens" zugleich auch die Forderung des Gebrauchs gemeinsamer, durchsichtiger und klarer Sprache. Kant versteht sein eigenes kritisches und transzendental-philosophisches Denken im eminenten Sinne auch als Aufklärungshandlung, sofern er die „Befreiung vom Aberglauben" und von Vorurteilen im transzendentalen Standnehmen auf dem Boden gesetzgeberischer

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Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

Vernunft verbürgt sieht. Auf der Stufe der Metaphysik hat diese Gesetzgebung die Aufgabe zu erfüllen, die in der transzendentalen Dialektik zum Thema gemacht wird: eine solche Selbstgesetzgebung zu schaffen, in der die apriorische Vernunft in ihren verschiedenen Ansprüchen und Interessen mit sich zur architektonischen Einheit gebracht wird. Die damit verbundene Aufgabe der Kritik gehört zur Befreiung von den Vorurteilen. Kant macht die Bemerkung, daß dieser eigentliche und wichtigste Teil der Aufklärung eine „schwere und langsam auszuführende Sache" sei. Denn wenn Metaphysik nicht dazwischenkommt, so ist es etwas Leichtes für den Menschen, mit seiner „Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein." 36 Wenn die Aufklärungsaufgabe die Form einer Kritik der reinen Vernunft annimmt, so „muß das bloß Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart (zumal der öffentlichen) zu erhalten oder herzustellen sehr schwer sein." Die Bewegung des Ober-sich-Hinausgehens und der Orientierung am Allgemeinen durch Standnehmen auf dem Boden der Vernunft ist auch für die zweite „Maxime" maßgebend: „An der Stelle jedes andern denken". Dieser Vorgang bewirkt eine Veränderung der „Denkungsart" im Sinne von „ E r w e i t e r u n g " . 3 7 Derjenige richtet sein Deriken und Handeln an allgemeinen und gemeinsamen vernünftigen Maßstäben aus und erweitert seine Denkungsart, der „sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem a l l g e m e i n e n S t a n d p u n k t e (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert." Auch hier würde der Gedanke mißverstanden, wenn man die Erweiterung der Denkart lediglich in einer Art Einfühlung in den Standpunkt des andern glaubte sehen zu können, wozu freilich der Kantische Ausdruck Anlaß gibt. Aber daß es nicht darum geht, die Dinge aus der Sicht des andern statt aus der meinigen zu sehen, sondern daß der Standpunkt, aus dessen Perspektive ich zu denken und zu handeln habe, derjenige der allgemeinen und gemeinsamen Vernunft ist, geht aus Kants Gesamttext hervor. Die These ist, daß dieser „allgemeine Standpunkt" dadurch gewonnen wird, daß ich mich versuchsweise ebenso des andern bediene, wie meiner eigenen, um am Ende meine und des andern Privationsschranken zu überwinden und das Niveau u n s e r e r allgemeinen Welt zu gewinnen. 36 37

V, S. 294. V, S. 295. Vgl. den Begriff der transzendentalen Erweiterung in der vorliegenden Untersuchung S. 48 ff.

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Die dritte Maxime, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, kann durch die philosophische Aufgabe illustriert werden, die Kant der transzendentalen Dialektik in der Vernunftkritik überträgt: sie soll die gedanklichen Bedingungen herstellen, auf Grund derer der Streit der Vernunft mit sich selbst, also ihre „Inkonsequenz", überwunden und Einheit hergestellt wird. Kant spielt in dieser Dialektik die Geschichte des Streites durch, indem er nach bestem Können die Sache jeder Partei führt und schließlich den Gedankengang zu dem Punkte hin entwickelt, an welchem sichtbar wird, daß beide unter einer falschen Gesetzgebung des Denkens argumentieren. D e r sensus communis der gereiften ästhetischen Urteilskraft gründet seine mit dem Anspruch allgemeiner Mitteilbarkeit und Begründbarkeit ausgesagten Sätze nicht auf Begriffe und auf die Gesetzgebung des Denkens, sondern auf den subjektiven Zustand eines Abgestimmtseins zwischen Begriff und Sinnlichkeit. Hier wird die Mitteilbarkeit nicht durch gemeinsame Konstruktion der Begriffe erreicht, wie in der Wissenschaft, wo der Begriff das Gesetz angibt, unter das sich auch die Anschauungen zu stellen haben, und wo Mitteilung auf Grund einer gemeinsam befolgten Regel des Handelns vollzogen wird. Ebenso kommt auf diesem Gebiet die Kommunikation des Denkens und Sprechens nicht, wie im Bereich philosophischer Vernunft, durch einen begrifflich-konstruktiven Entwurf einer Welt und durch Standnehmen auf deren Boden zustande. Auf dem Gebiet des Geschmacksurteils „teilt sich die Vorstellung nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefühl eines zweckmäßigen Zustandes des Gemüts mit."38 Ist dann Gemeinsamkeit und Mitteilbarkeit im Bereich der ästhetischen Urteilskraft nicht, wie in Wissenschaft und Philosophie, auf gemeinsamer, an der Selbstgesetzgebung des Denkens orientierter K o n struktionshandlung begründet ? Oder ist sie, da Kant den „zweckmäßigen" Zustand der richtig urteilenden Urteilskraft als „ G e f ü h l " , als sensus communis bezeichnet, nur in der gegenseitigen Verständigung derer erreichbar, die zufällig in gleicher Weise fühlen? Wenn Kant so denken würde, dann hätte er den sehr prinzipiellen und allgemeinen Abschnitt über die drei Maximen des Vernunftgebrauches nicht eingeschaltet. Auch wenn Kommunikation hier nicht auf Grund gemeinsamer und allgemeiner Gesetzgebung des Denkens, sondern eines freien Spiels der Einbildungskraft zu Stande kommt, welches für ästhe38

V, S. 296.

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Weltentwurf und Handlung: dialogisch-dialektische Vernunft

tische Urteilskraft das Maß gibt, muß ich den „richtiger" ästhetischer Urteile fähigen „Zustand" in mir durch Orientierung an exemplarischen ästhetischen Produkten herstellen, bei der ich die Grenzen ungebildeter Geschmacksverfassung überschreite und ein allgemeines Niveau gewinne. Transzendentales Handeln wurde in den letzten beiden Kapiteln in verschiedenen Dimensionen verfolgt. Im vorigen Kapitel ging es vorwiegend um die unter ein gemeinsames Gesetz des Denkens und Sprechens sich stellende Konstruktionshandlung, durch welche der Gegenstand der Erkenntnis auf die Sprache typischer Gestalten der Figur und der Bewegung gebracht wurde. War dabei der Blick „nach vorne", zu den Objekten hin gerichtet, so zeigte sich in diesem Kapitel die Notwendigkeit, das Einzelne vom Standpunkt der Welt, das Bedingte von dem des Unbedingten aus zu denken. Die theoretischen Aufgaben der Erkenntnis können nur unter der Voraussetzung einer gleichsam im Rücken des Erkennens gedachten Welt erfüllt werden. Das Standnehmen auf dem Boden dieser Welt hat sich als vernünftige Denkbewegung eigentümlicher Art erwiesen, die der in der transzendentalen Dialektik erkannten Selbstgesetzgebung der Vernunft folgt und daher eine gemeinsame und allgemeingültige philosophische Sprache möglich macht. Hat sich in diesem Kapitel der Weltentwurf als tragfähiger Boden für die Stellung und Erfüllung theoretischer Aufgaben erwiesen, so wird im folgenden zu zeigen sein, daß auch die praktische Vernunft des Experimentes eines Weltentwurfes bedarf.

IV. Kapitel

„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt 1. Theorie auf dem Standpunkt der Praxis Im Bereich theoretischer Vernunft hat sich das Prinzip Handlung in verschiedenen Gestalten gezeigt, die im Umkreis des „transzendentalen" Handlungsbegriffs begegnet sind. Im folgenden mag gezeigt werden, daß von jedem dieser Aspekte aus ein Weg zu einem entsprechenden Handlungsaspekt im Bereich der p r a k t i s c h e n Vernunft führt. 1. Es wurde „schon" als Handlung vermerkt, wenn das denkende und sprechende Subjekt sich selbst die S t e l l u n g der die Gegenstände bestimmenden und für sie gesetzgebenden Instanz gibt und dadurch die transzendentale Konstellation herstellt. Wenn sich das menschliche Subjekt theoretisch verhält, muß es das Dasein seiner Gegenstände voraussetzen: sein theoretisches Handeln besteht darin, die Gegenstände in die von ihm entworfene Konstellation einzubauen und sie zu Gegenständen überhaupt zu machen. Die Konstellation, die das Subjekt herstellt, ist auch auf die Sprache der praktischen Vernunft zu übersetzen. Hier gibt sich das handelnde Subjekt selbst die Stellung der Instanz, die in motivierter Weise und nach praktischen Ideen und Grundsätzen nicht nur ein gegenständliches „Verhältnis" zu den Dingen herstellt, sondern sie zum D a s e i n bringt, auf sie einwirkt, sie verändert usw. Während das Subjekt in der transzendentalen Handlung die Konstellation v e r w i r k l i c h t , in die es zu den Gegenständen eintritt, realisiert es als Repräsentant p r a k t i s c h e r Vernunft nicht nur seine Stellung zu den Objekten und zu anderen Subjekten, sondern wirkt auf Dasein und Eigenschaften dieser Objekte selbst ein. 1 1

Zur Charakteristik der transzendentalen Konstellation ist an dieser Stelle der Passus aus dem Opus Postumum zu erwähnen: „Ich bin: ist der logische Akt der vor aller Vorstellung des Objekts vorhergeht ist ein Verbum wodurch ich mich selbst setze. Ich existiere im Räume und der Zeit und bestimme mein Dasein im Räume und der Zeit durchgängig . . . als Erscheinung nach den formalen Bedingungen der Verknüpfung des Mannigfaltigen der Anschauung . . ( X X I I , S. 85).

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.Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Praktische Vernunft charakterisiert Kant als dasjenige Denken, welches „ u n m i t t e l b a r " Ursache von Wirkungen werden könne. Theoretische Vernunft kann nur m i t t e l b a r , d. i. in der Form der „Anwendung" wissenschaftlicher Ergebnisse auf das D a s e i n der Objekte einwirken. Durch praktische Vernunft aber werden Gedanken, die Begründungsfunktion haben, zugleich auch Ursache für Veränderung der Wirklichkeit, sofern sie praktisches Handeln motivieren und zur Willensentscheidung führen. 2. Ein zweiter Aspekt theoretischen Handelns hat sich in der Leistung des Subjekts ergeben, innerhalb der von ihm handelnd hergestellten Konstellation Einigung und Fundierung des Gegenstandes und seines Erkennens zu leisten. „Ich denke" einigt viele einzelne Eigenschaften zur Einheit eines Gegenstandes und begründet dadurch dessen gegenständliche Position. D e m entspricht in der praktischen Vernunft, daß das sich zur Handlung entschließende Subjekt durch Grundsatz und „ M a x i m e " sein Einwirken auf die Welt motiviert und dadurch viele einzelne Wirkungsschritte in die Gesamtgeschichte einer einzigen, identischen Handlung vereinigt. Es be-gründet seinen Entschluß und verschafft seinen praktischen Ideen zugleich die Rolle der U r s a c h e n , sofern er als ihr Repräsentant auftritt, indem er auf die Welt handelnd einwirkt. 3. „ I c h denke" vollzieht diejenige Handlung der theoretischen Vernunft, in welcher durch das Urteil viele Eigenschaften eines Gegenstandes, dem die Rolle des Satzsubjektes angewiesen wird, zur gegenständlichen Einheit verbunden werden: es ist daran zu erinnern, daß in diesem Falle von der „Funktion" des Urteilens die Rede ist. Dem entspricht auch ein p r a k t i s c h e r Sachverhalt, sofern der Imperativische Satz, dem ich Folge leiste, viele einzelne Momente des Verhaltens unter einen einzigen Handlungsbegriff bringt: die ζ. B. von dem Satz: „ D u sollst deinen Mitmenschen achten", angesprochene Achtung gibt das allgemeine Konzept her, unter das viele einzelne mögliche Gesten der Achtung subsumiert werden können. 4. Die für theoretische Vernunft zu buchende Handlung der Konstruktion und Gestaltenproduktion findet auch in der praktischen Vernunft ihre Entsprechung. Es ist daran zu erinnern, daß der Begriff „ K r e i s " nach dem Konstruktionskonzept Kants dadurch „sachliche" Bedeutung gewinnt, daß er konstruktiv in reiner Anschauung „dargestellt" wird. Das bedeutet, daß der Kreis als Regel für die Herstellung möglicher B i l d e r interpretiert wird. Das heißt nicht, daß jeweils ein „wirkliches", kreisartiges Ding im Sinne kausalen Bewirkens hergestellt würde, denn damit würde der Übergang zur praktischen, wenigstens pragmatischen Vernunft geschehen

Theorie auf dem Standpunkt der Praxis

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sein. Während durch die zur theoretischen Vernunft gehörende Handlung der Konstruktion Figur und Gestalt des Gegenstandes und seines Verhaltens innerhalb der transzendentalen Konstellation vorgezeichnet werden, ist es v o m Standpunkt der praktischen Vernunft aus darum zu tun, eine Geschichte des handelnden Einwirkens in die Wirklichkeit als erscheinende Ereignisgestalt hervorzubringen. Das in der Maxime des Handelns zugrunde liegende praktische Konzept stellt eine Idee der praktischen Vernunft dar, der einerseits die Funktion der Motivierung und Begründung zukommt, die andererseits aber zugleich auch als Ursache fungiert, sofern sie sich der in die Wirklichkeit einwirkende Handelnde zu eigen macht. 5. Zuletzt soll der praktische Bezug derjenigen theoretischen Handlung berücksichtigt werden, die als Standnehmen im Zusammenhang der Welt und als Wahl der Weltperspektive beschrieben wurde. In diesem Zusammenhang kommt theoretisches Handeln bis nahe an die Grenze der praktischen Vernunft heran, sofern es dazu führt, daß das von dem Fundament eines Weltkonzeptes aus handelnde Subjekt mit seiner realen, leibhaftigen Person diese Welt repräsentiert. Sie stellt an sich die W i r k l i c h k e i t eines wissenschaftlichen Subjektes her, welches in einer Dialoggeschichte steht und in einer Gemeinschaft mit andern im Vollzug dieser Geschichte Wissenschaft v e r w i r k l i c h t . Aber der eigentlich praktische Bezug des Standnehmens auf dem Boden einer von der Vernunft entworfenen Welt wird erst in dem Augenblick aktuell, in welchem Orientierung für das Handeln im Sinne des Eingreifens in die Wirklichkeit gefordert wird. „Eigentliche" Praxis besteht nicht nur in der Verwirklichung von Sprache und Wissen, sondern darin, Wirkungen nach Maßgabe praktischer Ideen und Grundsätze zu verursachen. Die fünf Ubergänge lassen auch erkennen, wie sich der Handlungsbegriff verändert, wenn er aus dem Umkreis theoretischer Vernunft auf praktischen Boden verpflanzt wird. Die philosophischen Aufgaben, die sich bei der Untersuchung dieses Handlungsbegriffes ergeben, mögen unter dem N a m e n „praktischer Begriff der Handlung" zusammengefaßt werden. Der Pleonasmus in dieser Wortverbindung mag in Kauf genommen werden: er ergibt sich als Folge des Umstandes, daß alle Vernunft im Grunde genommen Handeln ist und der Name „praktisch" eine von der theoretischen Handlung verschiedene Variante bezeichnet, deren Besonderheit jetzt sichtbar zu machen ist. Es wird erkennbar, daß Theorie und Praxis auf eine gemeinsame Wurzel des Prinzips: Vernunft zurückzuführen sind und jeweils verschiedene Aspekte des ihm eigentümlichen Handlungscharakters darstellen.

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Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Um die für pratkische Vernunft zutreffenden Aussagen über Handeln zu gewinnen, bedarf es eines Wechsels des Standpunktes: das philosophische Denken muß Stand und Perspektive der Praxis selbst behaupten, um von hieraus „praktisches Handeln" angemessen begreifen und zur Sprache bringen zu können. Dieser Wechsel führt aber nicht nur zu anderen Möglichkeiten, das Prinzip Handeln zu begreifen und darüber zu sprechen, sondern schafft auch die philosophische Voraussetzung für einen der p r a k t i s c h e n Sphäre eigentümlichen Begriff der T h e o r i e . Diese Theorie in praktischer Perspektive mag im folgenden kurz als „praktische Theorie" bezeichnet werden. Kant weigert sich, jedes „Hantieren" als Praxis anzusprechen. Diesen Namen dürfe nur ein Handeln tragen, welches von einem Subjekt vollzogen wird, das sich fragt: „Was soll ich tun?" und sich an praktischen Grundsätzen, am Vorbild einer moralischen Welt, an Prinzipien des Handelns orientiert. Diese Prinzipien dürfen nicht durch Verallgemeinerung von Beobachtungen gewonnen sein, die an wirklichen Ereignissen in der Menschenwelt gemacht wurden. Sie sind Prinzipien des Sollens, nicht des Seins. Praxis kann nur als solche Bewirkung eines Zweckes anerkannt werden, die als „Befolgung gewisser im Allgemeinen vorgestellter Prinzipien des Verfahrens" zu begreifen ist. 2 In diesem Zusammenhang charakterisiert Kant auch einen vom Standpunkt der Praxis aus gültigen Begriff von Theorie. Praktische Theorie müsse als Moment am „praktischen" Handeln selbst angesehen werden, sofern der Handelnde seine Entscheidung rational begründet, durch Berufung auf allgemeine Grundsätze motiviert, sie am Maßstab eines sittlichen Weltideals beurteilt und rechtfertigt. Der Handelnde muß praktische Urteilskraft aufbringen, mit Hilfe deren er seinen besonderen Fall durch Subsumtion unter allgemeine Gesetze und durch Einordnung in das Bild einer idealen von der Vernunft entworfenen Welt zu diagnostizieren vermag.3 Praktische Theorie wird von Kant als „Inbegriff . . . von praktischen Regeln" bezeichnet, die in „Allgemeinheit gedacht werden", wobei von „einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluß haben." 4 Die Würde der Theorie beruht auf ihrer Apriorität: darauf, daß sie auf Grund ihres reinen Vernunftursprungs unbedingte und allgemeingültige Regeln und Imperative auszusprechen 2

3 4

„Über den Gemeinspruch: Das mag wohl in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (VIII, S. 275). VIII, S. 276. VIII, S. 275.

Theorie auf dem Standpunkt der Praxis

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vermag. Ihrem Ursprung aus reiner Vernunft ist es zu verdanken, wenn ihr die Unerfahrenen Lebensferne und Erfahrungsfremdheit und daher mangelnde Kompetenz für Praxis vorwerfen. Der Satz, daß das, was in der Theorie „wahr" sei, oft in der Praxis keine Geltung beanspruchen dürfe, wird von dem Standpunkt aus zurückzuweisen sein, der erkannt hat, daß Handeln die Realisierung echter und kritisch geleiteter, praxisbegründender Theorie sei. „Theorie" wird hier prinzipiell von den empirischen Bedingungen des Handelns abgezogen, die zwar bedacht werden müssen, aber die nicht zu „Bedingungen des Gesetzes selbst" gemacht werden dürfen. Kant spricht von drei „Standpunkten", von denen aus ein Denken die Rolle der Theorie verkennt und dem Gemeinspruch zustimmt. Es handelt sich um den Standpunkt des Geschäftsmannes, des Politikers und schließlich des Weltmannes oder des Bürgers. Jeder muß der Spannung zwischen den Ansprüchen moralischer Vernunft und pragmatischer Tunlichkeit und situationsbedingter Strategie gerecht werden. In der Auseinandersetzung mit diesen Standpunkten rechtfertigt Kant jeweils die uneingeschränkte Gültigkeit der praktischen Theorie. Der „Geschäftsmann" hat es auf das Wohl jedes Menschen, der Politiker auf das Wohl jeweils des Staates abgesehen, den er vertritt und der Weltmann auf das Wohl der Menschheit im Ganzen als Gattung. Jeder der Standpunkte wird von Philosophen behauptet und repräsentiert, die Kant sich zu Dialogpartnern wählt: Garve stellt er sich in der Frage des Verhältnisses von Geschäft und Moral gegenüber, Hobbes im Punkte politischer Herrschaft der Vernunft und Rousseau schließlich in Hinsicht auf die Relation zwischen Ethik und Völkerwohl. Die drei Perspektiven konvergieren in der gemeinsamen Frage, in welche Beziehung Vernunft und Wirklichkeit, Pflicht und Glück zu setzen seien. Kant will zeigen, daß es einer auf dem Standpunkt reiner praktischer Vernunft stehenden T h e o r i e bedarf, um diese Frage zu beantworten und damit der Praxis der privaten Lebenswelt, der Gesellschaftspolitik und des Staatenlebens ein Fundament zu geben. Philosophische Theorie fundiert insofern Praxis, als sie den Anspruch auf Glück (Glückseligkeit) des Einzelnen und der Gesellschaft dadurch rechtfertigt, daß sie ihn in die „richtige" Stellung zu Gesinnung, Pflicht, Sollen und „gutem" Willen bringt. O b der „Geschäftsmann" das Wohl des Menschen, der „Staatsmann" das Wohl der Gesellschaft und des Staates anstrebt oder der „Weltmann" es auf das Wohl und Glück der Menschengattung im Ganzen abgesehen hat: im Bereich jedes dieser auf das Glück abzielenden Konzepte muß die entsprechende Praxis von der

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

praktischen Theorie lernen, wie die Gewichte jedesmal zwischen moralischer Anstrengung und Glücksanspruch zu verteilen sind. Der Hauptgedanke Kants in der Auseinandersetzung mit den drei „Standpunkten" und ihren Perspektiven kann so formuliert werden: Es ist nicht gerechtfertigt, Handeln durch Streben nach Glück und Glückseligkeit zu motivieren. Als „Beweggrund" des Handelns kann nur die Pflicht als Pflicht, als Dekret der praktischen Vernunft anerkannt werden. Der moralische Wert der Handlung hängt nur von der Pflichtgesinnung ab, nicht von Erfolg und Mißerfolg: auch nicht davon, ob aus ihr das Glück resultiert, auf welches die Neigung der Handelnden gerichtet ist. Als endliche und relativ ohnmächtige Wesen können wir den Erfolg unseres Handelns auch dann nicht garantieren, wenn wir es als I n h a l t unserer Pflicht erkannt haben sollten, unser eigenes Glück oder das anderer zu befördern, zur Wohlfahrt der Gesellschaft oder der Menschheit beizutragen. Zwischen natürlicher Wirklichkeit und praktischer Idee ist für uns ein notwendiger Zusammenhang weder e r k e n n b a r noch kann er von uns hergestellt werden. Der Gedanke der eventuellen Aussichtslosigkeit und des möglichen Umsonst unserer Anstrengungen müßte sich lähmend auf den Willen auswirken, wenn es unserer Vernunft nicht möglich wäre, zu einer Art therapeutischer Maßnahme zu greifen: sie besteht in der Voraus-setzung und Annahme eines übergreifenden Bezuges zwischen gutem Willen und Naturwirklichkeit, Freiheit und Notwendigkeit: diese n o t w e n d i g e Annahme als Fundament für unser Handeln hat eine W e l t zum Thema, die als vernünftig gebaut und als Produkt eines allmächtigen und allweisen Urhebers g e d a c h t wird. Um nicht vom Gedanken des Umsonst niedergedrückt zu werden, bedürfen wir einer Selbstbestätigung unserer praktischen Vernunft durch Entwurf einer W e l t , in der uns die Möglichkeit garantiert ist, zur Beförderung des Endzweckes der Glückseligkeit durch Mitarbeit beizutragen. Das „Bedürfnis" eines durch reine Vernunft aufgegebenen und das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzweckes ist „. . . ein Bedürfnis des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) e r w e i t e r n d e n uneigennützigen Willens." 5 Die Technologie der Hervorbringung der Zwecke ist hier unter die Perspektive einer Welt gestellt, in der wir als moralische Wesen und im Zustande „guten" Willens dazu beitragen k ö n n e n , den Endzweck zu befördern. Der Mensch denkt sich 5

VIII, S. 280.

Theorie auf dem Standpunkt der Praxis

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dann „nach der Analogie mit der Gottheit". Und die Gottheit denkt er in Analogie mit dem Menschen, sofern er sie als moralisches Wesen auffaßt, welches Natur und Freiheit miteinander verbindet. Die Pflicht gibt uns unser S o l l e n zu erkennen: aber die Gewißheit darüber, daß wir das Gesollte auch k ö n n e n , wird uns nur dadurch verbürgt, daß sich unsere praktische Vernunft selbst Mut zuspricht und sich durch einen vernünftigen Weltentwurf in die Verfassung der Z u v e r s i c h t und H o f f n u n g gibt. Die Philosophen der Glückseligkeit haben zwischen Pflichtgesinnung und Glück die Gewichte falsch verteilt. 6 Sie haben das zu realisierende Glück zum inhaltlichen Bestimmungsgrund und Motiv unseres Handelns gemacht. Dadurch sind sie der Grenze zwischen dem, was uns endlichen Wesen allein verfügbar ist und dem von uns Unverfügbaren nicht gerecht geworden. Worüber wir wirklich verfügen können und was infolgedessen den W e r t unseres Handelns bestimmt, ist nicht im Bereiche der äußeren Wirklichkeit zu suchen, sondern lediglich „in" uns selbst. Die Herstellung des guten Willens, der Gesinnung, der richtigen moralischen Verfassung, der Glücks-würdigkeit und der Achtung vor dem Sittengesetz kann allein den Rang eines Bestimmungsgrundes und Motivs für unser Handeln beanspruchen. Was sich als Folge einstellt, das können wir nur nach bestem Können erstreben; es gibt keine Garantie für Erfolg und gegen Scheitern. Praktische Vernunft hat ein Vorbeugungsmittel dagegen bereit, daß diese 6

Aus dem Katalog der Argumente, welche für Kant gegen die eudämonistische Ethik wichtig sind, seien überschlagsweise folgende genannt: 1. W i r können unser Glück nicht zum Motiv unseres Handelns machen, weil dieses bedeuten würde, daß w i r ein Prinzip zum Inhalt des S o l l e n s deklarieren würden, dessen Beförderung uns ohnedies durch unsere Naturanlage aufgetragen wird. 2. Eudämonistische Ethik macht den Wert des Handelns vom Zufall abhängig, da wir den Erfolg unserer Glücksbemühungen nicht in der Hand haben. 3. Diese Ethik überträgt die Aufgabe der Erkenntnis unseres „Sollens" nicht dem praktischen Denken und seiner Urteilskraft, sondern der pragmatischen Klugheit. Der Wille „ s c h w a n k e " zwischen zwei Triebfedern, „. . . was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen." (VIII, S. 287) 4. Die Auffassungen über den Inhalt des Glücks sind sehr verschieden: es gibt keine Möglichkeit, vom eudämonistischen Standpunkt aus eine eindeutige Entscheidung zu treffen. 5. Der Imperativ, Glück zu befördern, muß selbst wieder gerechtfertigt werden: das verlangt eine hinter das Glücksprinzip zurückweisende Argumentation und eine Überlegung darüber, was Glück ist. 6. Eudämonistische Begründung der Ethik vermag nur die Grundlage für hypothetische Imperative zu geben, reicht aber nicht als Basis für die Erklärung u n b e d i n g t e r und allgemeingültiger, also kategorischer Sollenssätze aus.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Überlegung nicht zu Hoffnungslosigkeit und Lethargie führt: es besteht im Entwurf und in der Beschreibung einer vorbildlichen, idealen Vernunftwelt, deren geschichtliche Entwicklung in einer Ubereinstimmung von moralischer Anstrengung und Erfolg endet. Wenn wir in der Perspektive dieser Welt unser Handeln beurteilen, so bleibt diese nicht nur Inhalt der Idee, sondern bestimmt die Wirklichkeit der Geschichte unseres Handelns: indem wir diese Idee repräsentieren, v e r w i r k l i c h e n wir sie zugleich, was Kant im Hinblick auf Freiheit durch folgenden Satz ausspricht: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als u n t e r d e r I d e e d e r F r e i h e i t handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, . . . eben so, als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde." 7 Es ist zu betonen, daß Kant praktisches Handeln in einen Horizont stellt, der nicht nur von der „Innerlichkeit" des guten Willens bestimmt wird, sondern in welchem das Bedürfnis der praktischen Vernunft nach Aussicht auf Erfolg und Sinnhaftigkeit unseres Handelns überhaupt einkalkuliert wird. Dem handlungstheoretischen Ansatz Kants ist es eigentümlich, daß er den Bezug zum Erfolg nicht, wie man ihm oft vorwirft, ausklammert. Vielmehr stellt er ihn auf dem notwendigen Umweg über den Welthorizont her, den wir für unsere Entscheidung zum Handeln b r a u c h e n . Er verbietet es, das Bedürfnis nach Aussicht auf Erfolg empirisch rechtfertigen zu wollen. Auf diese Weise hat er sich gegenüber den am Erfolgsprinzip orientierten Handlungstheorien den Vorteil verschafft, daß er eine Antwort auf die Frage nach der Zufälligkeit des Erfolgs und der Unverfügbarkeit über den Ausgang unserer Handlung gefunden hat, die sonst als unbeantwortbar liegengelassen wird. Kant hat Wohlfahrt, Glückseligkeit des Einzelnen wie der Gesellschaft als Inhalt moralischer und politischer Aufgaben anerkannt. Er hat in seiner praktischen Theorie von einer in der Idee entworfenen Welt Gebrauch gemacht, um sowohl Rechtfertigung des Glückseligkeitsideals wie auch dessen E r f ü l l b a r k e i t begreifen zu können. Um dem praktischen Bewußtsein den Impuls zum Handeln zu geben, dessen es bedarf, hat er sich auf den Entwurf einer vernünftigen Welt berufen, in die sich der Handelnde zu versetzen hat, um Sinn in seinem Handeln finden zu können. Eine Welt, die „zuletzt" der Vernunft recht gibt und uns erfolgreiches Arbeiten für deren Zwecke verheißt, sieht er als Forderung der moralischen Vernunft an. Der Weltent-

7

IV, S. 448.

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Begriff des reinen Handelns

wurf gibt dem Handelnden zur Hoffnung Anlaß, mit Erfolg an der Verwirklichung des höchsten Gutes mitarbeiten zu können. Der Ort des Weltentwurfes im Aufbau des praktischen Bewußtseins wird in der praktischen Philosophie Kants von dem unterschieden, auf welchen die motivierenden einzelnen Bestimmungsgründe des Handelns zu verweisen sind. Die richtige Willensverfassung wird von der Pflicht als solcher motiviert; sie schreibt dem Handelnden hier und jetzt vor, was er zu tun und zu lassen hat. Um aber die Hoffnung auf Erfolg seines Tuns nicht aufgeben zu müssen, bedarf der Handelnde des Entwurfs einer zu seiner Pflicht gehörenden und sie ergänzenden W e l t , i n n e r h a l b derer er seine Aufgaben begreift und seine Pflichterfüllung in der Hoffnung auf endgültigen Erfolg zu leisten vermag. Damit ist zunächst gesagt, daß ich mich in einen Zusammenhang vernünftiger Welt zu versetzen habe, um überhaupt meine Stellung und meine Pflichten in ihr erkennen und mich in den Stand setzen zu können, die erkannte Pflicht wirklich zu erfüllen.

2. Praktischer Weltentwurf und Erkenntnis der der Begriff des reinen Handelns

Pflicht:

Handeln in diesem Zusammenhang bedeutet die Er-wirkung einer Wirklichkeit durch ein vernünftiges Subjekt, dessen Ideen „unmittelbar" Ursache für das Einwirken dieses Subjekts in die Wirklichkeit sind. Mit dem Wort: „unmittelbar" will gesagt sein, daß eine normative Vorstellung der praktischen Vernunft selbst als „Ursache" eines Handlungsvollzuges angesehen werden kann, statt vernunftfremden Naturkräften das Gesetz des Handelns zu überlassen. Vernunft in jedem vernünftigen Wesen hat ein Interesse daran, durch Handlung verwirklicht zu werden, Grund und zugleich Ursache für den Handlungsvollzug abzugeben und die Wirklichkeit, soweit es möglich ist, zu durchdringen. Dieses Interesse läßt das handelnde Bewußtsein ein Programm vertreten, welches die Moralphilosophie aufklärt und normiert. Das handelnde Bewußtsein macht sich dieses Programm durch den unmittelbaren Entwurf einer Welt gegenwärtig, um sich an dieser handelnd orientieren zu können. Durch den Blick ζ. B . auf die Geschichtsphilosophie Kants wird erkennbar, daß Vernunft eine geschichtliche Welt („Natur") entwirft, von der sie verschiedene Eigenschaften wie die des zweckmäßigen Vorgehens, des Hinsteuerns zu einem Zustand weltbürgerlicher Rechtsgesellschaft usw. prädiziert.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Wenn Kant von der Gesetz-gebung der praktischen Vernunft spricht, so versteht er darunter zunächst den Entwurf einer mit vor-bildlichen Zügen ausgestatteten Welt, an der sich der Handelnde zu orientieren vermag, um die seiner individuellen Situation gemäßen „Maximen" zu gewinnen. Die Gesetze gelten für das Gebiet des Miteinanderhandelns der Personen: dieses Gebiet und seine Ordnung ist beschreibbar in der Weise wie ein Naturbereich. An der Hand des Entwurfes einer vorbildlichen, idealen Welt deuten wir unsere Stellung im wirklichen, empirischen Handlungszusammenhang und gewinnen auf diese Weise Erkenntnis unserer Pflichten. Diese Erkenntnis nimmt den sprachlichen Ausdruck von Imperativen an. Maßgebend beim Entwurf der vorbildlichen Welt sind Prinzipien einer Rechtsgesellschaft, wie dasjenige, daß eine Handlung, die den N a m e n „ g u t " soll verdienen können, voraussetzt, daß die „Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann." 8 Wenn im kategorischen Imperativ von einer „allgemeinen Gesetzgebung" die Rede ist, an welche der Handelnde, der im individuellen Fall nach der für ihn zuständigen Maxime fragt, verwiesen wird, so ist damit die Verfassung einer moralischen und zugleich juridischen Welt der Handelnden, einer „intelligiblen N a t u r " gemeint. Diese Welt entwirft die praktische Vernunft im Handelnden als Orientierungsrahmen, von dem sein moralisches Bewußtsein Gebrauch macht, um seine Pflicht, den Inhalt seines „Sollens" bzw. die für ihn in seiner individuellen Lage gültige Maxime zu finden. D a Handeln ganz auf den Boden der reinen praktischen Vernunft gestellt werden soll, so kann man es als Absicht Kants bezeichnen, in der praktischen Philosophie den Begriff „reinen" Handelns auszubauen. Darunter soll ein Handeln verstanden werden, welches ausschließlich gemäß der Orientierung an einer von der praktischen Vernunft a priori entworfenen, vorbildlichen Welt geschieht. Das bedeutet, daß es ein Handeln aus F r e i h e i t ist, da es durch keine anderen Gründe oder Ursachen bestimmt ist, als durch die, welche sich aus der reinen praktischen Vernunft ergeben. Der Begriff des reinen Handelns weist daher auf eine durch kein Leiden, nichts „Pathologisches" infizierte Stellung des praktischen Subjekts hin und entspricht dem unverkürzten Anspruch des Selbst-handelns, der im „Ich will" bzw. „Ich handle" als dem Pendant zum theoretischen „Ich denke" ausgesprochen ist.

8

Einleitung in die Rechtslehre, Allgemeines Prinzip des Rechts § C .

Begriff des reinen Handelns

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Wenn der Handelnde fragt: „Was soll ich tun?", so führt ihn seine praktische Vernunft auf einem Wege zur Erkenntnis der für ihn gültigen „Maxime", den die ethische Theorie des „kategorischen Imperativs" aufklärt und normiert. Der Handelnde, so ist im Sinne Kantischer Terminologie zu sagen, geht nach einer von ihm immer schon praktizierten „Theorie" des Weltentwurfs und der Orientierung an der vorbildlichen Welt vor, deren Systematisierung und Rechtfertigung sich die ethische Theorie zur Aufgabe macht. Diese bewirkt ein systematisiertes Selbstbewußtsein der in die Praxis selbst versenkten „Theorie". Wenn sie den in der Kantischen Moralphilosophie angezielten Begriff des Handelns als den der „reinen" Handlung bezeichnet, so will sie damit das Motiv der praktischen und praktizierten „Theorie" benennen, in welches sich keine außervernünftigen, dem Vernünftigen selbst nicht angehörenden „Bestimmungsgründe" einmischen. In dieser Mentalität reinen Handelns wird die Frage: „Was soll ich tun?" gestellt, da sie schon als Frage voraussetzt, daß ich gewillt bin, mich nicht passiv dem Sog von „außen" her bestimmender Kräfte zu überlassen. Schon in der F r a g e ist der erste Schritt der reinen Handlung getan: sofern sie sich nicht damit begnügt, was allerwärts getan w i r d (cosi fan tutte), sondern wissen will, was die praktische Vernunft von mir f o r d e r t : sie fragt nach dem Inhalt des S o l l e n s . In diesem ersten Schritt reinen Handelns, der noch weit vor aller Einwirkung in die Wirklichkeit geschieht, ist die Erwartung maßgebend, daß mir die Antwort von meiner Selbst-vernunft gegeben wird. Das heißt, daß ich mit dieser Frage zugleich für mich eine Gesetzgeberrolle in Anspruch nehme. Das wieder schließt ein, daß die Frage nicht irgendwelche zufällige Antworten erwartet, sondern nach Grundsätzen, Gesetzen, Maximen, allgemeinen Regeln fragt. Die Antwort der praktischen Vernunft auf die Frage, was ich tun soll, kann nur grand-sätzlich und daher im Sinne reinen Handelns sein, weil nur unter dieser Bedingung das handelnde Subjekt seiner Selbst-bestimmung gewiß sein kann. N u r eine grundsätzliche Verhaltensregel für alle gleichartigen Situationen kann auf Grund ihrer Notwendigkeit mit Sicherheit Selbstbestimmung garantieren und Fremdbestimmung mit ihrer Zufälligkeit vom Konzept des reinen Handelns abhalten. Dieses Konzept bedeutet natürlich auch Heautonomie und Autonomie des praktischen Subjekts. Es beansprucht für sich die Rolle des Gesetzgebers, verhält sich also „heautonom". Dieses Wort bedeutet, daß ich mich als Selbst zu einem Selbsthandelnden bestimme: dieses ist als reines Handeln durch keine andere Instanz motiviert und begründet als durch

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.Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

meine eigene praktische Vernunft: in ihr und ihrer Gesetzgebung als solcher liegt der „Bestimmungsgrund" für mein Handeln. Die so beschriebene Verfassung des Handelnden wird mit dem Namen: Freiheit bezeichnet. Das im Banne der Natur handelnde Wesen „bestimmt" sich nicht selbst zu seinem Handeln, dieses ist nur die Äußerung und Konsequenz seiner natürlichen Anlagen. Als natürliche Wesen streben wir unmittelbar nach Sinnenglück, Lust, Gewinn, Macht. Unser naturbefangenes Bewußtsein macht sich vielleicht eine moralische „Theorie" zurecht, in der es sich diese Güter zum Zweck setzt. Aber bleibt es in dieser Abhängigkeit befangen, so kommt es nicht dazu, nach der Rechtfertigung dieser Zwecke zu fragen. Das vernünftige Wesen dagegen gibt sich seine Stellung des Gesetzgebers in der Welt des Handelns selbst (Heautonomie) und folgt demgemäß auch selbstgegebenen Gesetzen (Autonomie). Nicht Natur, sondern Vernunft bestimmt die Maßstäbe des Handelns, die Rechtfertigung der Entschlüsse durch „grundsätzliche" Argumentation. Reines, durch keinen passiven Einschlag infiziertes Handeln bedeutet Freiheit, in welcher der Anspruch liegt, keine unmittelbar gegebene Verbindlichkeit anzuerkennen, sondern selbständig das Handeln zu begründen und zu rechtfertigen. So ist auch die terminologische Gegenüberstellung von „praktischem" und „pathologischem" Verhalten zu verstehen, die bei Kant ζ. B. in einem Kontext begegnet, in welchem er das Gebot der Bergpredigt, seinen Nächsten, sogar seinen Feind zu lieben, analysiert. Wenn Liebe ein natürliches Gefühl, eine Neigung ist, so kann sie nicht geboten werden: sie kann nicht Inhalt eines Sollens sein, da sie nicht Heautonomie bedeutet und kein reines Handeln ist oder begründet. Ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein können wir nicht bewirken. Unser Verhältnis ihr gegenüber ist pathologisch. Wollen wir uns im Sinne reiner Handlung, also „praktisch" verhalten, so müssen wir den im Liebesprinzip enthaltenen Anspruch heteronomen Verhaltens entkräften und ihn in einen heautonom und autonom begründeten Imperativ verwandeln. Dann müssen wir dieses „Gebot" als Selbstaufforderung interpretieren, dem andern „aus Pflicht" wohlzutun. U m selb-ständig zu sein und es in jeder Situation des Handelns zu w e r d e n , übernehmen wir die Rolle des Gesetzgebers unserer eigenen Handlungen und erkennen zugleich auch nur diese selbstgegebenen Gesetze als verbindlich an. In ihnen bereiten wir uns die Maßstäbe, nach denen wir unsere Zwecke auf ihren moralischen Wert hin messen. Zugleich bilden wir in uns die V e r f a s s u n g aus, in der allein Berechtigung für uns besteht, Güter wie Glück, Lust, Erfolg usw. anzustreben. Es darf

Begriff des reinen Handelns

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nicht damit sein Bewenden haben, daß wir von Natur aus schon Strebungen nach solchen Gütern empfinden. Bildet ζ. B. das Bewußtsein im Zustande der Naturbefangenheit eine „Theorie" wie etwa den Eudämonismus aus, in welchem die Lusterfüllung als Sinn und Zweck des Lebens erklärt wird, so befindet sich diese Theorie in der unhaltbaren Situation, daß sie etwas als Sollen erklärt, was ohnedies schon immer von Natur aus von uns angestrebt wird. Sie geht von einer unerlaubten Identisierung von Sollen und Sein aus. Desgleichen müßte sie, um konsequent zu sein, zugleich auch den raffinierten, über Kenntnis aller Mittel und Möglichkeiten verfügenden Verstand mitliefern, der die Realisierung dieser Zwecke ermöglicht: die eudämonistische Theorie setzt den Menschen in Abhängigkeit vom kaum zu durchschauenden Lauf der Welt. „. . . d a die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die sie zum Teil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu welchem Zweck ein eingepflanzter Naturinstinkt viel gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluß auf den W i l l e n haben soll, dennoch zugeteilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als M i t t e l , sondern an s i c h s e l b s t g u t e n W i l l e n hervorzubringen . . ," 9 Die praktische V e r f a s s u n g des Subjekts begegnet in diesem Text unter dem Namen des „guten Willens". Diesen in mir herzustellen, ist Aufgabe reinen Handelns: bei deren Erfüllung bin ich auf keine Instanzen angewiesen, die außerhalb meiner praktischen Vernunft anzuerkennen wären: nicht auf Natur, auf geschichtliche Wirklichkeit, auf den Weltlauf. Unabhängigkeit von „äußeren" Bedingungen und somit Absolutheit kann der gute Wille für sich in Anspruch nehmen, dessen Charakter darin besteht, Gesetzgeber zu sein und die selbstgegebenen Gesetze als solche zu befolgen. Dieser Wille ist nicht deshalb gut, weil er sich solche Inhalte zu Zwecken setzt, die als moralisch „Gutes" oder auch als „Güter" anerkannt werden, sondern weil er diejenige Verfassung des Handelnden darstellt, welche die von ihm gewählten Zwecke zu guten Zwecken m a c h t . Das Konzept der reinen Handlung verbietet nicht Streben nach Glück, Lust, Wohlfahrt usw.: aber es forden, daß solche Zwecke selbst erst durch den guten Willen, der sie wählt, gerechtfertigt und auf ihn relativiert werden. In der individuellen wie auch sozialen Moral, die für Politik maßgebend ist, gilt für Kant vom Standpunkt des Prinzips der reinen 9IV,

S. 396.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Handlung aus, daß nicht Glückseligkeit und Wohlfahrt als höchste Zwecke und bestimmende Motive für Handlung gelten dürfen. Es gilt, solche Zwecke auf das „ P r i n z i p " zu relativieren, unter welchem sie zu rechtfertigen und anzustreben sind. Will ein Zweck als „gut" anerkannt werden, so muß er mit dem Programm der reinen Handlung konform sein und darf uns nicht in Abhängigkeit vom zufälligen Lauf der Welt bringen. 10 Wenn das Handeln von Politikern nur am Wohlfahrtsprinzip ausgerichtet ist, ohne dieses in den Horizont der Gerechtigkeit, Freiheit usw. zu stellen, dann wird das P r i n z i p der Moralität und Legalität verfehlt, von dessen Boden aus erst überhaupt ein Streben nach Glück und Wohlfahrt gerechtfertigt und diesen Gütern ein moralischer Wert verliehen werden kann. 1 1 Der gute Wille darf nicht mit dem bloßen Wunsch verwechselt werden, etwas Gutes zu tun. Vielmehr muß in ihm die „Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind", ernsthaft betrieben werden. Die Rangordnung zwischen den absolut guten und den relativ guten Zwecken kann auch in der Wendung zum Ausdruck gebracht werden, daß die Wahl eines Zweckes immer von der „ G e s i n n u n g " abhängt, in welcher wir uns dazu entschließen: sie macht den Charakter unseres Wollens aus, welches die Zwecke, für die es sich einsetzt, erst zu guten oder bösen macht, statt daß sein moralischer Rang umgekehrt von der Qualität der Zweckinhalte abhängig wäre, die er zu den seinen macht. 12 Aus dem Konzept reinen Handelns ist auch die Unterscheidung zwischen einem Handeln „aus Pflicht" und einem solchen, das als „pflichtgemäß" anzusprechen ist, zu motivieren. Der Unterschied hängt an der Verfassung, in der ich handle, und deren Charakter ergibt sich durch den „Bestimmungsgrund", der für mich maßgebend ist. Von einem Handeln „aus Pflicht" ist dann zu sprechen, wenn ich mich als Selbst-Gesetzgeber verhalte (heautonom) und dem Gesetz als dem selbstgegebenen 10

11 12

X I X , S. 203 (Refl. 6908): „Die W e l t ist von keinem Wert, w o nicht vernünftige Wesen sind, v o n denen sie gebraucht wird (nicht bloß angeschaut wird); der bloß beliebige Gebrauch der W e l t gehet auf das Vergnügen des Lebens. A l s o war dieses als aller vernünftiger Geschöpfe natürlicher Zweck auf die einzige Absicht, wozu eine Welt gut ist, nicht bloß zum G e n u ß , sondern auch zum Gebrauch. Allein die oberste Bedingung dieser Absicht ist der gute Gebrauch, den sie von sich selbst und den Dingen der Welt machen." VIII, S. 298/99. Nicht weil Kant die P f l i c h t i n h a l t e im Interesse eines angeblichen rigorosen Formalismus vernachlässigt, ist seine Position mit derjenigen der Wertethik nicht vereinbar: der eigentliche Gegensatz zu dieser besteht in Kants Auffassung, daß „Werte" nicht „an sich" gut oder böse sind, sondern ihre moralische Qualität erst in Relation auf den Willen und seine Verfassung gewinnen.

Begriff des reinen Handelns

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Folge leiste (autonom). Der aus Pflicht Handelnde vollzieht sein Handeln in der Gesinnung, die ihm allein deshalb Verbindlichkeit gegenüber dem Gesetz auferlegt, w e i l es ein selbstgegebenes Gesetz ist. Nicht der Inhalt des Gesetzes, sondern lediglich seine Würde-stellung als selbstgegebenes Gesetz kommt hier als Bestimmungsgrund für mein Handeln infrage. 1 3 „Pflichtmäßiges" Handeln aber stellt sich als solches dar, welches die von der Pflicht beschriebene und normierte Handlungsfigur verwirklicht. Pflichtmäßiges Handeln kann wie auch bloß „legales", in einer moralisch nicht qualifizierten Gesinnung geschehen. Wenn der Kaufmann seine Kunden um seines Ansehens als eines ehrlichen Mannes allein willen nicht betrügt, so handelt er „pflichtmäßig". Moralische Gesinnung aber zeigt er dann, wenn er „aus Pflicht" ehrlich ist, indem er sich durch die Maxime: D u sollst ehrlich sein, a l s einer aus einem selbstgegebenen Gesetz folgenden Regel des Handelns bestimmen läßt. Er würde dann auch noch ehrlich handeln, wenn die Qualität „Ehrlichkeit" kein Ansehen mehr einbringen würde. Im Uberblick mag resümiert werden, daß die Geschichte einer Handlung mit einem System von Aktionen des praktischen Denkens beginnt, zu welchem die Selbst-einsetzung des Subjekts zum Gesetzgeber, die Verpflichtung dem selbstgegebenen Gesetz gegenüber gehören. „Innere" Handlungen des praktischen Subjekts führen zur E r k e n n t n i s der je für mich maßgebenden, in meiner Situation gültigen Maxime: auf diesem Wege geschieht eine O r i e n t i e r u n g am Zusammenhang einer von je meiner Vernunft entworfenen W e l t , in die ich mich „hineindenke". Anders gesagt: ich nehme Stand auf dem Boden bzw. dem „ G e b i e t " dieser W e l t , in die ich mich „hineindenke" und die vorbildlichen Charakter hat, um mich an deren Strukturen für mein Handeln zu orientieren. Im folgenden ist zum System dieser Handlungen des praktischen Denkens noch diejenige hinzuzunehmen, in welcher der Handelnde nicht nur seine Pflicht e r k e n n t , sondern sich für ihre Realisierung auch e n t s c h e i d e t . Er tritt dann in eine Konstellation des Handelns ein, in welcher er als „ I c h will" auftritt. In diesen Schritten der handlungsphilosophischen Analyse wird sichtbar, daß Kant die Praxis schon mitten im Bereich des praktischen Denkens 13

E s ist ein Kurzschluß, im Hinblick auf den Motivationscharakter des Gesetzes als solchem von einem „ F o r m a l i s m u s " Kants zu sprechen. Auch wird die Kantische Position unzureichend gekennzeichnet, wenn man von ihr sagt, sie vertrete ein Befolgen der Pflicht „ u m ihrer selbst willen". Auch in diesem Falle könnte der Inhalt des Pflichtgebotes bestimmend sein, was Kant ja ausschließen will.

158

„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

und der zu ihm gehörigen „Theorie" beginnen läßt. Es gibt für ihn keinen radikalen Übergang zwischen praktischen inneren Ideen und „äußerer" Handlungswirklichkeit: beide Seiten gehen kontinuierlich ineinander über. Auch schon die inneren Handlungen sind „Wirklichkeit".

3. Sprachanalyse

vom Standpunkt

der Moralität

aus

Als Moralität ist der Charakter des Handelnden zu bezeichnen, den er annimmt, wenn er sich von dem Sittengesetz als Gesetz und nicht von seinem Inhalt (Material) bestimmen läßt. In diesem Falle realisiert der Handelnde in sich selbst einen Maßstab, an welchem er auch die B e d e u t u n gen der moralischen Sprache normiert. Die der Moralität angemessene Deutung der in der praktischen Sprache gebrauchten Namen und Sätze kann nur vom Standpunkt einer moralischen Verfassung des Handelnden aus geschehen, in der die im Prinzip der „reinen" Handlung geforderte Abhängigkeit der Materie der Pflicht von ihrer Form bei der Bestimmung des Willens zu beobachten ist. Eine Verkehrung der Rangordnung zwischen Form und Materie des praktischen Gesetzes bei der Bestimmung des Willens würde einer Sprachregelung entsprechen, in der etwa das Wort „ g u t " in verkehrter Weise gedeutet würde, sofern ihm die Bedeutung des „Angenehmen" oder „Nützlichen" beigelegt würde. Wird vom Standpunkt des guten Willens aus dasjenige als „ g u t " bezeichnet, was im Einklang mit der moralischen Verfassung des Bestimmtseins durchs Gesetz allein steht, so spricht dagegen derjenige, der das Spiel der moralischen Sprache vom Standpunkt der Empfindung und des Gefühls aus regelt, das Angenehme als das Gute an. Die Sprache der Empfindung ist nicht mitteilbar: sie muß das von ihr gemeinte „Gute" auf das Subjekt relativieren, bei dem es die angenehmen Empfindungen bewirkt. Das Niveau allgemeiner Mitteilbarkeit und der Möglichkeit gegenseitiger Rechtfertigung in rationaler Argumentation erreicht die praktische Sprache nur, wenn die Bedeutungen ihrer Wörter und Sätze vom Standpunkt der Freiheit, d. i. des Bestimmtseins durchs Gesetz aus, geregelt werden. Eine allgemein mitteilbare und der Argumentation zugängliche Sprache über Gutes und Böses gibt es nur für eine handelnde Gemeinschaft, die auf dem Boden der praktischen Vernunft steht und von hier aus die Bedeutungen ihrer Wörter und Sätze normiert. Kant vollzieht unter diesem Aspekt eine Kritik der moralischen Sprache nicht in der Manier der gegenwärtigen Sprachkritik der analytischen Philosophie, deren Programm

Sprachanalyse vom Standpunkt der Moralität aus

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auf eine Analyse der im empirischen Sprachgebrauch sich findenden Bedeutungen der Wörter und Sätze abzielt. Er übt Sprachkritik unter transzendentalen Voraussetzungen, indem er sich auf einen vom praktischen Denken gewonnenen Stand als Maßstab dieser Kritik beruft, welcher der moralischen Verfassung des Handelnden entspricht. Kant stellt fest, daß sich vom Standpunkt der praktischen Vernunft und der von ihr entworfenen Welt aus ein anderes System der Bedeutungen der moralischen Wörter und Sätze ergibt, als von einer Mentalität aus, die sich von hedonistischen oder utilitaristischen Maßstäben bestimmen läßt. Zweideutigkeit der Sprache ist dann auf den Unterschied verschiedener Standpunkte und ihrer Perspektiven zurückzuführen. So erklärt Kant ζ. B. die Bedeutungsambivalenz des alten Satzes: „Nihil appetimus, nisi sub ratione boni; nihil aversamur, nisi sub ratione mali". Die hier vorkommenden Wörter „bonum" und „malum" enthalten eine Zweideutigkeit, welche durch die S p r a c h e verschuldet ist. 14 Aus den Überlegungen Kants geht freilich genauer hervor, daß für diese Zweideutigkeit das praktische D e n k e n verantwortlich zu machen ist, welches die Bedeutungen s e i n e s Sprechens einmal vom Stand der Autonomie, das andere Mal von demjenigen der Heteronomie aus bestimmt. Er findet einen Vorzug der deutschen Sprache darin, daß sie über die Möglichkeit verfügt, zwischen dem „Guten" und dem „ W o h l " einerseits und dem „Bösen" und dem „Übel" andererseits zu unterscheiden. Dadurch vermag sie die verschiedenen Bedeutungen schon durch ihre Bezeichnungen auseinanderzuhalten. Der durch die unterschiedlichen Wörter von der Sprache berücksichtigte Unterschied der Bedeutungen ist philosophisch festzuhalten und zu normieren. Kant vermag die Bedeutung des Wortes „gut" vom Standpunkt seiner philosophischen Voraussetzungen dahingehend zu präzisieren, daß es als das vom guten Willen Gutgeheißene zu verstehen ist, ebenso wie das Böse als das vom guten Willen Verneinte. Das „Gute" bzw. „Böse" im Sinne moralischer Charaktere bedeutet eine „. . . Beziehung auf den W i l l e n , sofern dieser durchs V e r n u n f t g e s e t z bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen; wie er denn durch das Objekt und dessen Vorstellung niemals unmittelbar bestimmt wird, sondern ein Vermögen ist, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Objekt wirklich werden kann) zu machen." 1 5 Wird eine Person für eine Gesetzesübertretung bestraft, dann ist die Strafe für sie ein „Übel", wenn sie diese vom Standpunkt ihrer individu14

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

eilen Interessen aus betrachtet. Aber Strafe ist in anderer Perspektive auch ein G u t : für die Gesellschaft einschließlich der bestraften Person, die dieser angehört. In dieser Perspektive werden nicht einzelne Interessen als maßgebend betrachtet, vielmehr bestimmt in ihr das Interesse des Allgemeinen. Dieser Standpunkt gibt im moralischen wie im rechtlichen Bereich den Maßstab für die Bildung der Bedeutungen der Sätze und Wörter ab. Ihm gemäß kommen nicht relative Interessen und Zwecke, sondern diesen über-geordnete, „höhere" Zwecke zur Geltung. Es kommt auf deren Rangordnung an: zu den Aufgaben des Menschen gehört es auch, die Interessen seiner Sinnlichkeit wahrzunehmen. Aber diese müssen ihrem moralischen Gewicht nach unter die Bestimmung „höherer" Zwecke gebracht werden. Diese Rangordnung gibt den Maßstab ab, von dem aus auch die Bedeutung der moralischen Wörter und Sätze zu normieren ist. Vernunft darf nicht als bloßes Werk zur Befriedigung der Bedürfnisse gebraucht werden, sondern sie hat einen „höheren Zweck". Sie ist nicht nur biologisches Organ, sondern Geschichte der Selbstverwirklichung des Menschen und seiner Freiheit. Sie gibt den Maßstab dafür an, was „ . . . a n sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessierte Vernunft nur allein urteilen kann . . , " 1 6 Vom sprachkritischen Standpunkt Kants aus wird die Ambivalenz der Bedeutungen durch Berufung auf verschiedene Standpunkte und ihre Perspektiven begründet: wie in der transzendentalen Dialektik wird es dadurch möglich, jeder der miteinander im Streit liegenden Bedeutungen ihr Recht relativ zu der Perspektive zu geben, in der sie Geltung gewinnt. Die verschiedenen Perspektiven und ihre Bedeutungsmaßstäbe bilden ihrerseits ein System, ein Ganzes, das durch ein „absolut G u t e s " bestimmt wird. D a s ist der gute Wille, in dessen Perspektive jeweils ein relativ guter Zweck realisiert und die dazu dienenden Mittel eingesetzt werden. Auch der beste Zweck heiligt die Mittel nicht: Heiligung der Mittel u n d des Zweckes kann nur durch den „guten Willen", in dessen Perspektive gehandelt wird, erfolgen. Der gute Wille gibt die Perspektive ab, in der mögliche Zweckinhalte erst als „ g u t " gerechtfertigt werden können. Er ist selbst das absolut Gute, welches alles relativ Gute erst als solches rechtfertigt und ihm auch die sprachliche Bedeutung des als gut Anerkanntseins verschafft. „ D a s Gesetz bestimmt alsdann u n m i t t e l b a r den Willen, die ihm gemäße Handlung ist a n s i c h s e l b s t g u t , ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze 16

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Sprachanalyse v o m Standpunkt der Moralität aus

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gemäß ist, ist s c h l e c h t e r d i n g s , in a l l e r A b s i c h t , gut und die o b e r s t e B e d i n g u n g a l l e s G u t e n : öderes geht ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens vor der Maxime des Willens vorher, der ein Objekt der Lust und Unlust voraussetzt, mithin etwas, das v e r g n ü g t oder s c h m e r z t , und die Maxime der Vernunft, jene zu befördern, diese zu vermeiden, bestimmt die Handlungen . . ," 1 7 Der im Nachsatz: „oder es geht . . ." beschriebene Fall zeigt eine Umkehrung der im Prinzip des „guten Willens" angelegten Rangordnung. Hierbei geht nicht das Gesetz, sondern ein auf den Gewinn von Lust und die Vermeidung von Unlust ausgerichteter „Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens" vor der Maxime des reinen Willens vorher: jetzt tritt der Fall ein, in welchem die Sprache nicht von einem „Guten", sondern von einem „Wohl" zu reden hätte, welches hier die Motivation des Handelns abgibt. Denn nicht ein „Begriff der Vernunft", sondern ein „empirischer Begriff von einem Gegenstand der Empfindung" ist jetzt für praktisches Erkennen und Wollen maßgebend. Während in der traditionellen praktischen Philosophie derjenige Wille als „gut" bezeichnet wird, der das „Gute" dem „Bösen" vorzieht, kehrt Kant die Rangordnung zwischen der Qualität des Willens und derjenigen des von ihm intendierten „Gegenstandes" um: der „gute" Gegenstand des praktischen Erkennens und Handelns verdient sein Prädikat nur deshalb, weil er als Gegenstand eines „an sich selbst guten" Willens auftritt. Der gute Wille zieht einen Inhalt nicht einem andern vor, weil er ihn besser findet, sondern dieser ist besser, weil er vom guten Willen vorgezogen wird. Diese Umkehrung des Fundierungsverhältnisses zwischen Wille und Gegenstand des Willens nennt Kant ein ,,. . . Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft . . ." 1 8 Der Begriff desGuten geht nach dieser Methode nicht vor dem moralischen Gesetz vorher, sondern muß n a c h ihm und d u r c h das Gesetz bestimmt werden. Der Wille ist demgemäß auch die Quelle für die Normierung der Bedeutungen der praktischen Wörter und Sätze. Denn er ist ent-scheidendes praktisches Denken, welches die Maßstäbe für gut und böse setzt. Daher geht die Denkhandlung des Willens auch der Sprachbildung vorher. Es ist nicht so, daß zuerst gedanken- und sprachlos gehandelt und dann erst darüber gesprochen würde; vielmehr ist die Geschichte des Handelns von Anfang an gedanklich und sprachlich durchdrungen. Der Gebrauch praktischer 17 18

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Wörter wie „gut" hängt von dem Stand und dem praktischen Sein ab, das den Charakter des Handelnden ausmacht. Je nachdem, ob das Gesetz der Vernunft oder die Natur herrschend ist, ergeben sich verschiedene Bedeutungssysteme der praktischen Sprache. Die Bedeutung von „gut" und „böse" hängt davon ab, ob von diesen Wörtern in der Perspektive des Bestimmtseins durch Vernunft oder in derjenigen der Herrschaft vernunftfremder Antriebe Gebrauch gemacht wird. Im letzteren Falle zeigt sich der Wille als vom „Gegenstand" abhängig: in ihm ist für die Bedeutung der Wörter die Übereinstimmung des Gegenstandes mit „unserem Gefühl der Lust oder Unlust" maßgebend. Was uns Lust oder Unlust bereitet und von der naturbestimmten Perspektive aus mit dem Namen gut oder böse bzw. auch schlecht genannt wird, kann nur durch Erfahrung ausgemacht werden. Will praktisches Denken a priori ein für allemal, allgemein und notwendig aussagen, was gut und was nicht gut heißen soll, dann muß eine andere Stellung des praktischen Subjekts dem Gesetz und seinem Gegenstand gegenüber Platz greifen. Es geht also um die „Methode" praktischen Denkens. Wird dem Gesetz die Rolle des Bestimmungsgrundes eingeräumt, dann wird es zum Ausgangspunkt der praktischen Methode, die den Weg vom „Grund" des Gesetzes zum „Begründeten", dem Zweck der Handlung geht. Die Verirrungen der Philosophen in „Ansehung des obersten Prinzips der Moral" bestehen nach Kant darin, daß sie dem „Gegenstand" die Rolle des „Grundes eines Gesetzes" übertrugen, welches „alsdann nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes der Bestimmungsgrund des Willens" sein soll. Stattdessen aber sollte dem Gesetz selbst die Rolle des Grundes übertragen werden, der „a priori und unmittelbar den Willen und diesem gemäß allererst erst den Gegenstand bestimmte." 19

4. Willensentscheidung, Standnehmen im Weltzusammenhang und praktische Apperzeption Zu den Denkhandlungen, welche der Aus-führung des Handelns vorangehen, gehört ein Stand-nehmen auf dem Boden einer im Entwurf der praktischen Vernunft konstruierten Welt. Bisher wurde die Funktion dieses Weltentwurfes in der Orientierung für Handeln gesehen: er wurde 19

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Standnehmen im Weltzusammenhang

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als für die Phase des B e r a t e n s und der Gewinnung von E r k e n n t n i s in praktischer Absicht bedeutsam erwiesen. Er gehört zu den Voraussetzungen für ein rationales Argumentieren. Daß der Entwurf einer Welt aber zugleich auch bei der Bildung einer rational begründeten E n t s c h e i d u n g und für den Willen maßgebend ist, mag im folgenden verdeutlicht werden. Es ist bekannt, daß Kant vor der Ausbildung seines praktischen „Rationalismus" Anhänger der von englischen Philosophen vertretenen Gefühlsethik gewesen ist. Ein starkes Motiv für die Zustimmung zu dieser Ethik mag durch die Aufgabe gegeben worden sein, nicht nur die Möglichkeit der E r k e n n t n i s der Pflicht, sondern auch der E n t s c h e i d u n g für ihre Realisierung zu begreifen. Es ist lehrreich, zu diesem Zwecke einen Blick auf Überlegungen von Hume zu werfen, der die Beratung und praktische Überlegung über das, was ich tun soll, von der Entscheidung des Willens unterschieden hat. Während er im ersten Falle den praktischen Verstand als zuständig erklärt, ist es nach seiner These das Gefühl (feeling, sentiment), welches die Kraft liefert, die für die Entscheidung benötigt wird. Das Denken des Verstandes kann nur, so ist die Überlegung Humes, eine Erörterung bloßer Möglichkeiten in der praktischen Beratung leisten, führt aber nicht zum Engagement: es kann nicht den Ernst wirklichen Einsatzes bewirken. Es fehlt ihm, um es mit Shakespeare zu sagen, die „frische Farbe der Entschließung". Daher muß das Gefühl auf den Plan gerufen werden. Kant hat bekanntlich in seiner Frühzeit dieser Konzession an das „Gefühl" zugestimmt. Die spätere Wendung zum praktischen „Rationalismus", wie er selbst sein Konzept benennt, und das Plädoyer für einen spezifisch praktischen Vernunftbegriff ist mehrfach motiviert. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Gedanke, daß nicht nur die Orientierung und Beratung, sondern auch die Willensentscheidung auf Grund des denkenden Stand-nehmens auf dem Boden einer gesetzlichen Welt zu geschehen habe, der nicht das Gefühl, sondern nur eine gesetzgebende Vernunft gewachsen ist. Die Frage der T r i e b - f e d e r ist zu derjenigen nach moralischer E r k e n n t n i s komplementär. Nach seiner Wendung zum praktischen Rationalismus stellte sie sich für Kant in folgender Weise: wie kann es begriffen werden, daß die ohnmächtige Vernunft, die dem praktischen Bewußtsein das ihm nötige Fundament von Allgemeinheit und Gesetzlichkeit gibt, aber nur eine beratende und sonst triebfreie Instanz ist, die Gestalt einer Entscheidungskraft, einer Triebfeder, eines über das Subjekt

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

h e r r s c h e n d e n Prinzips annehmen kann? Die Antwort auf diese Frage wird erst in dem später zu behandelnden Lehrstück von der „Achtung" vollständig gegeben werden können. Vorwegnehmend sei gesagt, daß in diesem Lehrstück der Versuch gemacht wird, die Triebfeder des Gefühls und die Fähigkeit der Vernunft, ein apriorisches, allgemeines und gesetzliches Orientierungsniveau zu verbürgen, zur Synthese gebracht werden. An hiesiger Stelle mag nur das Prinzip sichtbar gemacht werden, von dem aus der Ausbau des späteren Lehrstückes von der Achtung zu geschehen hat. Es besteht in der schon genannten inneren Handlung des praktischen Denkens, durch die das Subjekt Stand auf dem Boden der von der praktischen Vernunft entworfenen gesetzlichen W e l t nimmt. Standnehmen bedeutet eine Entscheidung, durch die ich mich der Gesetzgebung der praktischen Welt unterwerfe und mich an ihrer allgemeinen Gesetzlichkeit orientiere. Ich stelle mich unter die Herrschaft des vernünftigen Prinzips, von welchem ich auch die Entscheidungskraft meines Willens übernehme. Dadurch, daß es auf den Boden der gemeinsamen, gesetzlich verfaßten Welt gestellt wird, wird dieses Leben auf Miteinanderhandeln von Personen ausgerichtet, in denen Empfindungen und Triebkräfte mit der allgemeinen Gesetzlichkeit übereinstimmen. Übereinstimmung der handelnden Personen untereinander und der von Natur aus zur Anarchie angelegten Triebe mit der Vernunft erweisen sich als die beiden Formen der Einheit, welche sich dadurch ergeben, daß ich mich in die vernünftig verfaßte Welt versetze und mich von ihr bestimmen lasse. Zum Thema: Standnehmen auf dem Boden der von der Vernunft entworfenen Weltgesetzgebung gehört auch die Rede vom „Gesichtspunkt der Allgemeinheit", unter den wir unsere Gedanken, Gefühle 20 , Handlungen stellen. Die dabei wirksame Perspektive ergibt eine „Form des Konsensus", 2 1 in die auch die Gefühle einbezogen sind. Ist die Perspektive der Allgemeinheit bestimmend, dann hat sich auch eine Umorientierung der Gefühlswelt ergeben: die vom Gefühl getragenen Interessen sind jetzt nicht mehr auf das natürliche Ego hin ausgerichtet, sondern gehen auf die Beförderung des „allgemeinen Lebens" aus. In diesem Zusammenhang Von dem Gefühl, welches als von der Vernunft unabhängig und als deren freier Rivale angenommen wird, gilt, sofern es auch als „moralisches Gefühl" angesprochen wird: „Der Mangel des m o r a l i s c h e n G e f ü h l s . . . beruht darauf, daß man an der F o r m n i c h t sov i e l A n t e i l nimmt als an der M a t e r i e und einen Gegenstand nicht aus dem G e s i c h t s p u n k t e d e r A l l g e m e i n h e i t (gesp. v. Verf.) betrachtet oder auf sein Gefühl appliziert. Dieses ist kein besonderes Gefühl, sondern eine Art überhaupt, etwas aus dem allgemeinen Gesichtspunkte zu betrachten." ( X I X , S. 184 (Refl. 6864)). 2 1 X I X , S. 183 (Refl. 6862).

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Standnehmen im Weltzusammenhang

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wird von Kant die F r e i h e i t auch als freie Zusammenstimmung zwischen Vernunft und Leben, allgemeiner Gesetzlichkeit und Gefühl bzw. Empfindung begriffen. 22 Das philosophische Interesse Kants, die Vernunft in den Stand der Herrschaft und der Macht über das Subjekt zu setzen, stellt ihn vor das Problem, wie es zu begreifen ist, daß das System der Triebe, der Gefühle und Empfindungen mit Vernunft durchdrungen werden kann. Es setzt sich bei ihm der Gedanke durch, daß diese Möglichkeit nur dadurch garantiert ist, daß das praktische Subjekt Stand auf dem Boden der vernunftgesetzlich verfaßten Welt nimmt und auf diese Weise das System seiner Gefühle an dieser Gesetzlichkeit ausrichtet. Wir verbleiben nicht im „natürlichen Zustand der unmittelbaren Befangenheit durch das Gefühl", sondern stellen dieses auf den Fuß der Freiheit. Dabei machen wir uns die Kräfte nutzbar, mit denen uns die Natur in der Form der Gefühle, Empfindungen und Triebe ausgestattet hat. Diese gedankliche Wendung stellt ein im Bereich der praktischen Vernunft begegnendes Pendant zur copemicanischen Wendung dar. Während hier die Dinge „zuerst" in der Perspektive subjektiver Interessen beurteilt und gewertet werden, vollzieht das auf den Boden der praktischen Vernunft übergegangene Denken eine Umwendung, die sich auch auf seine Gefühls- und Bedürfnischaraktere auswirkt. Während diese vor der Wendung am Maßstab der egoistischen Subjektivität orientiert sind, treten die Bedürfnisziele nach der Wendung in die Perspektive der allgemeinen Vernunft, die jetzt maß-gebend wird. Wenn in der copemicanischen Wendung das praktische Denken Stand auf dem Boden der Freiheit und der allgemeinen und gemeinsamen Vernunftwelt genommen hat, dann „fühlen" und „empfinden" wir anders als vorher: wir finden jetzt einen „Gefallen" am Guten. 23 22

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Freiheit sei das „ursprüngliche Leben und in ihrem Zusammenhang die Bedingung der Ubereinstimmung alles Lebens; daher das . . . Gefühl von der Beförderung des allgemeinen Lebens eine Lust verursacht. Fühlen wir uns aber wohl im allgemeinen Leben? Die A l l gemeinheit macht, daß alle unsere Gefühle zusammenstimmen, obzwar vor diese Allgemeinheit keine besondere A n von Empfindung ist. Es ist die F o r m (gesp. v. Verf.) des Konsensus." (XIX, S. 183 (Refl. 6862). Wird das Gefühl unter die Vorherrschaft der Vernunft gestellt, so zeigen sich f ü r Kant auch die Möglichkeiten einer Synthese von Ethik und Ästhetik. Dann ist gerechtfertigt der Gedanke eines „Wohlgefallens an der Form der Handlungen, wodurch wir mit uns selbst im Gebrauche unserer Willkür zusammenstimmen." ( X I X , S. 184 (Refl. 6864)). Vgl. meine Untersuchung „Die copernicanische Wende als philosophisches Prinzip. Nachgewiesen bei Kant und Nietzsche, i n : Nicolaus Copernicus zum 500. Geburtstag, hg. von F. Kaulbach, U . W . Bargenda u. J . Blühdorn, Köln/Wien 1973, S. 2 6 f f . V o m „moralischen Wohlgefallen" ist durchgehend in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft die Rede.

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Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Auf die Umstimmung des Gefühls aus dem Zustand seiner „natürlichen" Unmittelbarkeit in den des Durchdrungenseins mit Vernunft spielt folgender Passus an: „Was das Gefühl betrifft. . so fühlen wir zwar nur durch die Sinne; aber den Standpunkt, worin wir uns gegen den Gegenstand setzen, können wir nehmen wie wir wollen. Hier (in den Fragen der Leitung und der Begründung unseres Handelns, der Verf.) nehmen wir ihn in der Vernunft und empfinden im allgemeinen Standpunkte." 24 Vernunft gewinnt dadurch die Kraft, die für die Entscheidung nötig ist, daß sie diese Um-stimmung im System der Gefühle bewirkt. Auf solche Weise bildet sich das von Kant als „moralisch" bezeichnete Gefühl, welches man nicht in seiner natürlichen Form gelten lassen kann, sondern der Schule der Vernunft übergeben muß: das „moralische" Gefühl ist kein unmittelbares, „ursprüngliches Gefühl", 2 5 denn es „beruhet auf einem notwendigen inneren Gesetze, sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten und zu empfinden. Gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft: da man sich im Allgemeinen fühlt und sein Individuum als zufällig Subjekt wie ein Akzidenz des Allgemeinen ansieht." 26 In Opposition gegen die englische Sympathie-Ethik, etwa von Adam Smith, Bentham usw., behauptet Kant, daß es kein „ursprüngliches" moralisches Gefühl gibt und daß der für das moralische Bewußtsein charakteristische Einschlag an Allgemeinheit nicht dem Gefühl, sondern der Vernunft zu verdanken sei. Kants praktischer „Rationalismus" wendet sich dagegen, daß dem „Fühlenden" von Natur aus zugebilligt werden darf, sich in das Gemeinsame und Allgemeine aufzugeben. Kant insistiert darauf, daß die Orientierung und Aus-richtung am Gemeinsamen und Allgemeinen der praktischen Vernunft und ihrem Denken vorbehalten sei. Dieses geht bei der Orientierung und Ausrichtung so vor, daß es zugleich auch die Kraft der Willensentscheidung aktualisiert: das geschieht durch die spezifische Bewegung des Stand-nehmens auf dem Boden einer von der praktischen Vernunft entworfenen W e l t , an deren gesetzlichen Strukturen sich auch das Gefühlsleben ausrichtet. Auf diese Weise realisiert sich Vernunft in der Gestalt von Subjekten, die in ihrem Namen, unter ihrer Leitung und nach ihren Maßstäben Willensentscheidungen treffen: diese repräsentieren die 24 25

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XIX, S. 184 (Refl. 6864). Der von Kant gebrauchte Terminus: „ursprünglich" wird hier synonym mit „unmittelbar" bzw. „natürlich" verstanden. Der Sinn ist, daß das Gefühl erst in der Schule der Vernunft gebildet werden mußte, um moralisches Gefühl zu werden; es ist nicht unmittelbar Naturbegabung. XIX, S. 103 (Refl. 6598).

Standnehmen im Weltzusammenhang

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Vernunft, so daß es Kant gerechtfertigt scheint, von einer „Persönlichkeit der Vernunft" zu sprechen. Praktisches Denken schafft nicht nur durch ein Sich-hinein-denken in eine vernünftige Welt Orientierung und Ausrichtung, es gebraucht Vernunft nicht nur als „Richtschnur", sondern verschafft dem Willen auch die ihm zur Entscheidung nötige K r a f t durch eine Umpolung der natürlichen Triebe und Bedürfnisse auf die vernunftgegebenen Normen hin. „Die T r i e b f e d e r des moralischen V e r h a l t e n s . . . beruht auf der Entschlossenheit, einem einmal genommenen Vorsatz (einer allgemeinen M a x i m e ) gemäß zu handeln. Also auf der Macht der Vernunft in Ansehung der Freiheit." 2 7 Macht ist der Vernunft nicht von Anfang an gegeben. Sie kann nur dadurch mächtig werden, daß sie die Triebe durch Ausrichtung auf die Gesetzmäßigkeit der von der praktischen Vernunft entworfenen Welt rationalisiert. Die in der Schule der Vernunft gereiften Triebe bewirken ein „Wohlgefallen" an den moralischen Zwecken und machen die Entscheidung leicht. 2 8 Indem das praktische „Ich denke" bzw. „Ich will" die Triebe in seine Schule nimmt, durchdringt es diese und stellt somit die Identität des Handelnden wie auch der Handlung selbst her. In diesem Zusammenhang kann Kant vom Ich-will als der „Apperzeption" meines Selbst sprechen, die er geradezu mit der Freiheit gleichsetzt. Dadurch wird eine bedeutsame Parallele zur theoretischen Philosophie und dem Lehrstück von der transzendentalen Apperzeption gezogen. Im Vollzuge der Um-stimmung lasse ich die Einheit meines praktischen Selbstbewußtseins auf die Triebsphäre übergreifen. Durch das selbstgegebene Gesetz der Vernunft wird diese Identität des „Ich will" bzw. „Ich handle" im Praktischen ebenso wie im Theoretischen hergestellt: sie kommt auf Grund einer Durchdrin-

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X I X , S. 185 (Refl. 6865). Die durch das Problem der Vermittlung von Vernunft und Gefühl bestimmte Linie der gedanklichen Entwicklung Kants kulminiert, wie an späterer Stelle sichtbar werden wird, im Lehrstück von der Achtung. Auf dieser Linie liegen Konzeptionen, die auch ästhetisch beeinflußt sind und eine Nähe zu Shaftesbury und Hutcheson zeigt: wobei der Einfluß von Adam Smith nicht zu vergessen ist. „In Smiths System: warum nimmt der unparteiische Richter (der nicht einer von den Partizipanten ist) sich dessen, was allgemein gut ist, an ? Und warum hat er daran irgendein Wohlgefallen?" ( X I X , S. 185 (Refl. 6864)). Aus dieser wahrscheinlich in die 70er Jahre zu verlegenden Reflexion wird sichtbar, daß Kant hier eine Art von ästhetischem Gefallen als die Gestalt angesehen hat, in welcher die vom Gefühl ausgehende Kraft der Entscheidung auftreten kann. Denn unmittelbar nach diesem zitierten Satz wird die prinzipielle Frage gestellt: „Wie kann Vernunft eine Triebfeder abgeben, da sie sonst jederzeit nur eine Richtschnur ist und die Neigung treibt, der Verstand nur die Mittel vorschreibt? Zusammenstimmung mit sich selbst. Selbstbilligung und Zutrauen."

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Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

gung der meinem eigentlichen Selbst zunächst fremden Naturtriebe mit der praktischen Ich-vernunft zustande. Ist diese Durchdringung erreicht, so wird unser Handeln nur durch „unser Selbst und keine fremde Anlage, keine Kette der Erscheinungen . . . " bestimmt. D i e „Apperzeption seiner selbst als eines intellektuellen Wesens, was tätig ist, ist Freiheit" 2 9 Auch die Kraft der Entscheidung, welche in diese Identität einfließt, obwohl sie von den zunächst vernunftfremden Gefühlen geliefert wird, wird jetzt in die Identität des Ich und seines Handelns eingebracht. Der Handelnde, der sich auf diese Weise zur Identität zusammenhält, vermag es, auch seine Handlung als kontinuierlichen, einigen Vollzug auszuführen und sie zu der „seinigen" zu machen. Die Rede davon, daß im Vollzug der Um-stimmung der Trieb weit Selbstübereinstimmung des Handelnden mit sich selbst zustande kommt, ist demnach so aufzufassen: das praktische Subjekt nimmt die Triebsphäre in die Schule seiner Vernunft und macht sich dadurch von der Natur frei, indem es auch sein Triebsystem nach der Maßgabe von Vernunft und Freiheit produziert. Es stellt dadurch in Freiheit die freie Identität des „Ich will" her, es wird Selbstschöpfer. 3 0 Diese praktische Identität ist Übereinstimmung des Selbst mit sich, sofern seine freie Vernünftigkeit auch die der Vernunft zunächst fremde Natur durchdringt. 3 1 Übereinstimmung mit mir selbst kommt dadurch zustande, daß ich durch Standnehmen auf dem Boden der Vernunft und die dadurch gewonnene Perspektive für die Behandlung einzelner Objekte und Personen innerhalb des Vernunfthorizontes meine Unabhängigkeit und Freiheit von zufälligen, heteronomen Motivationen gewonnen habe. Sofern ich durch die Geschichte meines Handelns Ich selbst werde, sofern auch meine „ N a t u r " durch die beschriebene Um-stimmung meiner Triebsphäre mit Vernunft durchdrungen ist, vermag ich mich für F r e i h e i t zu beanspruchen. Selbstidentisierung in der Geschichte des Handelns, Ubereinstimmung mit mir selbst auf Grund der Behauptung des Vernunftstandes und Freiheit sind verschiedene Aspekte ein und desselben Resultates. Es 29

XIX, S. 183 (Ree. 6860).

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X I X , S. 185 (Reil. 6865). X I X , S. 178 (Reil. 6 8 5 0 ) : „ D i e Unabhängigkeit der Freiheit von der Sinnlichkeit setzt eine Abhängigkeit derselben von der allgemeinen Bedingung, mit sich selbst zu stimmen, v o r a u s . " Vgl. auch S. 184 (Reil. 6864): „ D a s P r i n c i p i u m des m o r a l i s c h e n U r t e i l s ist das Principium der Vernunftmäßigkeit der Freiheit überhaupt, d. i. der Gesetzmäßigkeit nach allgemeinen Bedingungen der Einstimmung: die Regel der Unterordnung der Freiheit unter das Principium der allgemeinen Einstimmung derselben mit sich selbst (sowohl in Ansehung seiner als anderer Personen)."

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Standnehmen im Weltzusammenhang

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ist wesentlich, daß das praktische Subjekt im Selbstverständnis des freien Selbst-standes handelt: das Bewußtsein seiner Selbst als praktische Apperzeption ist zugleich Selbst-„Schätzung" und schließt den Anspruch der Würde ein. 3 2 Wie in der Lehre von der Apperzeption im Bereich der theoretischen Vernunft, so wird die Selbstidentifizierung als Anspruch des „Ich will" auf Freiheit mit der praktischen Kommunikation zwischen den Personen in Zusammenhang gebracht. Die Um-stimmung der Triebwelt bedeutet zugleich ein Heraustreten der Personen aus privaten, egoistischen Interessen. Mit der die Freiheit herstellenden Selbst-identisierung ist zugleich der Schritt zur Kommunikation im Bereich des praktischen Denkens getan. Kant spricht von einer „allgemeinen Einstimmung". Sie wird durch Befreiung von den nichtkommunikablen privaten Interessenhorizonten gewonnen. Einstimmung mit sich selbst auf Grund eines Standnehmens auf dem Boden einer gesetzlich verfaßten Welt ist zugleich Einstimmung mit andern Personen. Im Vollzuge der Um-stimmung und der Umorientierung des individuellen Denkens und Fühlens auf die allgemeinen Maßstäbe hin ergeben sich auch die P e r s p e k t i v e n , durch deren Gebrauch der Handelnde seine Pflicht zu erkennen und für sie zu entscheiden vermag. Nicht die vernünftige Welt, auf der er Stand nimmt, und die ihr angemessene Perspektive des praktischen Denkens und Handelns treten als Gegenstände vor sein handelndes Bewußtsein, sondern Situationen, die es zu verändern gilt, Personen, gegen die man sich verhält, sowie Sachen, die man im Sinne der Pflicht be-handelt. Diese „Gegenstände" werden von dem Nichtgegenständlichen, der Vernunft, beleuchtet und in der dadurch erhellten Perspektive erkennbar. Der Handelnde erkennt die Welt im „Lichte" der Vernunft und Freiheit. 3 3 Auch das Miteinander-sein bestimmt die Perspektive, in welcher „Ich will" seine Pflicht erkennt und realisiert. Der allgemeine und gemeinsame Horizont praktischer Vernunft, den ich behaupte, wenn ich mir einzelne Zwecke setze und sie verwirkliche, spielt die Rolle einer welthaften Umgebung von der Art des Lichts, dessen ich 32

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Vgl. eine etwa in die 70er Jahre gehörige Reflexion: „Die treibende Kraft kommt auf das Gefühl des Wohlgefallens an, sofern es auf sich selbst und die Selbstschätzung angewandt wird, und zwar nach seinem allgemeingültigen Preis, d. i. dem inneren Wert. Erhebung der Menschheit." (XIX, S. 185 (Refl. 6866)). X I X , S. 163 (Refl. 6793): „ D a s Empfindungs- und Anschauungsvermögen des Sehens. Jenes auf Licht und Farben überhaupt, dieses auf das Verhältnis lichter Gegenstände im Raum, d. i. Gestalt. Ebenso Urteil und Gefühl im Guten."

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.Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

mir beim Anschauen von Gestalten nicht bewußt bin, welches aber gleichwohl stets gegenwärtige Gestalten erkennbar macht. Die Umstimmung der individuellen Triebsphäre und deren Durchdringung mit Vernunft bedeutet eine Veränderung des praktischen Bewußtseins und ist selbst schon Verwirklichung: verwirklicht wird hier die Selbstidentität des handelnden Subjekts, die auch auf die weitere Phase der Ausführung der Handlung übergreift und diese Handlung jeweils zu der einigen Handlungsgestalt je meiner Handlung macht. Dadurch ergibt sich, daß derjenige, der in sich diese Verfassung hergestellt hat, in seiner Person Vernunft auf konkrete Weise repräsentiert. Er übernimmt die Rolle des „allgemeinen Teilnehmers oder Stellvertreters" der Vernunft. 34 Daß die durch das innere Handeln des Standnehmens und der Ein-stimmung der Gefühle auf Vernunft hergestellte Verfassung des Handelnden selbst schon eine Wirklichkeit der Vernunft ist, bevor es zur Ausführung der Pflicht kommt, wird in folgendem Satze ausgesprochen: „Es kann daher nichts anders als die V o r s t e l l u n g des G e s e t z e s an sich selbst, die f r e i l i c h n u r im v e r n ü n f t i g e n W e s e n s t a t t f i n d e t , sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon g e g e n w ä r t i g (gesp. v. Verf.) ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf." Das heißt: die „reine" Handlung ist als Autonomie schon bei der Herstellung der inneren Verfassung in Gang gekommen. Sie stellt eine Phase im Gesamtverlauf der Handlung dar, nach welcher erst die eigentliche Aus-führung, die Einwirkung in die „Wirklichkeit", das Verändern und Hervorbringen von Sachen erfolgt. Rückblickend mag gesagt werden: die Überlegungen dieses Abschnittes gehören zur Beantwortung der Frage, wie die aus der Quelle des „Gefühls" fließende Kraft, die der Wille für seine Entscheidung nötig hat, in das Konzept des „reinen Handelns" so einbezogen werden kann, daß nicht Heteronomie, Abhängigkeit von der Natur, Unfreiheit die Folge ist? Der diese Frage von den Voraussetzungen Kants aus Beantwortende muß

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X I X , S. 163 (Reil. 6796): „Die Sittlichkeit beruht auf der Regel der Handlungen aus dem Gesichtspunkte (Station) des allgemeinen Teilnehmers oder Stellvertreters: 1. des Teilnehmers der Natur in Ansehung seiner Selbst, 2. des Teilnehmers der Freiheit in Ansehung anderer. Im letzteren Falle entweder des Stellvertreters der Willkür anderer oder der Wohlfahrt derselben. . . . Moralisches Gefühl ist das, wodurch die (allgemeinen objektiven) Principia der Beurteilung zu subjektiven der Entschließung werden, also die absolute Regel zu Maximen."

Der kategorische Imperativ

171

an das bisherige Ergebnis anknüpfen, daß eine orientierende Beratung des praktischen Denkens durch Standnehmen auf dem Boden einer vom Vernunftgesetz bestimmten Welt geschieht. Diese spezifische Handlung des praktischen Denkens zeigt sich dann von der Seite einer Umstimmung der Triebsphäre und deren Ausrichtung auf vernünftige Zwecke. Dadurch wird erreicht, daß die in der Triebsphäre angelegte Kraft der Willensentscheidung zugute kommt, welche für die Ausführung der bei der Orientierung erkannten Pflicht fällt. Von diesem Augenblick an zeigt „Ich will" den Charakter einer praktischen Apperzeption, sofern es durch die Umstimmung seiner Triebwelt auf das Programm der Vernunft hin identische Einheit zwischen seinem vernünftigen Selbst und der Natur hergestellt hat und dadurch die Handlung zu der s e i n i g e n machen kann. Auf dieser Basis zeigt sich die Herstellung einer praktischen Kommunikation zwischen den Personen, die sich in einer gemeinsamen Handlung auf ein identisches Weltprogramm der Vernunftgesetzlichkeit ein-gestellt haben. Im folgenden mögen diese der „inneren" Phase der Geschichte des Handelns angehörigen Züge: beratende Orientierung, praktischer Weltentwurf, Gebrauch der praktischen Weltperspektive und Einstellung des praktischen Denkens und Fühlens auf vernünftige Willensentscheidung als Charaktere des kategorischen Imperativs und der ihm zugedachten Funktionen nachgewiesen werden.

5. Der kategorische Imperativ, Methode des „ inneren" und der experimentelle Weltentwurf

Handelns

Der kategorische Imperativ gibt nicht ein Handlungsziel an, dessen Verwirklichung er aufträgt, sondern er verpflichtet den Handelnden dazu, durch ein „inneres" Handeln eine praktische Verfassung in sich herzustellen und gibt zugleich die Methode an, wie der Pflichtinhalt zu finden sei, der zu dieser Verfassung paßt. Das kommt in allen Formulierungen in dem Wörtchen: „so" zum Ausdruck: Handle so, daß . . . Im Hinblick auf das gewonnene Ergebnis könnte diese Einleitung in die Formel des Imperativs auch lauten: „Handle als solcher, der . . ." Der kategorische Imperativ fordert den Handelnden auf, in sich auf dem Wege praktischen Denkens eine Verfassung seines Bewußtseins herzustellen, in der es ihm möglich ist, die ihm angemessene Pflicht (Maxime) zu e r k e n n e n und sich zugleich zu ihrer Verwirklichung zu e n t s c h e i d e n . Er stellt nicht nur die Forderung an ein „inneres" Handeln

172

Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

des praktischen Denkens, sondern gibt auch die Methode an, der dieses Denken zu folgen hat. Beim Gebrauch des Imperativs wird also nicht die Voraussetzung gemacht, daß die eigentliche Handlung erst in dem Moment beginnt, in welchem die Beratung des praktischen Denkens zu einem Ergebnis gekommen und die Entscheidung für dessen Verwirklichung gefallen ist. Vielmehr versteht sich das im Sinne des Imperativs verfahrende praktische Denken selbst schon als Handeln, als konkrete Vergegenwärtigung des Konzepts der reinen Handlung durch die Person des Handelnden selbst. Die Geschichte der Handlung beginnt schon bei den ersten Denkschritten, die der kategorische Imperativ vorschreibt und die er auf eine Methode bringt. 3 5 Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die These, daß die Geschichte der Handlung schon v o r der Erkenntnis jeweils meiner „Maxime" beginnt, welche mir sagt, was ich in meiner Situation zu tun habe. Diese Geschichte beginnt in der Herstellung der Verfassung, die vorausgesetzt werden muß, damit ich überhaupt die mir angemessene Maxime zu erkennen vermag. D a s : „Handle so . . . " ist in dieser Hinsicht folgendermaßen explizierbar: Stelle in dir eine Verfassung des praktischen Bewußtseins nach der im kategorischen Imperativ enthaltenen Methode her, von der aus du die dir angemessene Maxime zu erkennen und dich für sie zu entscheiden vermagst. Erkenntnis deiner Pflicht sowie die Entscheidung für deren Verwirklichung und die darin sich anschließende Aus-führung haben, diese Forderung ist im Imperativ enthalten, unter der Voraussetzung vorhergegangener Denkhandlungen eines bestimmten Charakters zu geschehen. Die in der „Kritik der praktischen Vernunft" gewählte Formulierung des kategorischen Imperativs als des praktischen synthetischen Grundsatzes lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten k ö n n e . " 3 6 Die Bewegungen der praktischen Vernunft, welche durch diesen Satz gefordert und methodisch geführt werden sollen, entsprechen den bisher angegebenen Schritten, in denen das praktische Denken die Geschichte einer Handlung noch im „Inneren" des Bewußtseins einleitet. Das Geschehen, welches dieser Grundsatz in Gang bringen soll, mag in folgenden Abschnitten charakterisiert werden. 35

36

Behandelt man die Lehre vom kategorischen Imperativ nur unter sprachanalytischem Aspekt, etwa unter dem einer deontischen Logik, so verdeckt man sich den Blick auf diese erste im Bereich des praktischen Denkens selbst sich vollziehende Phase der Geschichte der Handlung. V, S. 30.

Der kategorische Imperativ

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Wie in der theoretischen Philosophie die synthetischen Grundsätze die allgemeine Verfassung der G e g e n s t ä n d l i c h k e i t ü b e r h a u p t kodifizieren, in deren Rahmen die „besonderen" Naturgesetze einzufügen sind, so spielt der kategorische Imperativ die Rolle eines synthetischen „Grundsatzes" auf praktischem Felde, welcher den besonderen praktischen Vorschriften, den Maximen, den Rahmen gibt und für sie zugleich Maßstab, Rechtfertigung und Prüfstein ist: schließlich ist dieser praktische Grundsatz die Quelle der Verbindlichkeit, von der auch auf die „Maxime" der Imperativische Charakter übergeht. Maxime ist eine allgemeine Vorschrift, die mir inhaltlich angibt, was ich in meiner besonderen Situation zu tun habe und was ich immer und jedesmal tun soll, wenn ich mich in dieser befinde. Der „Grundsatz" dagegen schreibt mir nicht die Entscheidung für Pflichtinhalte und deren Verwirklichung vor, sondern stellt die Forderung, mich für die Auffindung und das Erkennen meiner Pflicht an einem bestimmten Maßstab zu orientieren. Er ist nicht Quelle von Maximen, aber ihr Prüfstein. Das bedeutet, daß du jeweils „deine" Maxime als die für dich gültige Handlungsvorschrift nur dadurch gewinnen kannst, daß du möglicherweise eine Reihe von versuchsweise angenommenen Inhalten, die sich um die Anerkennung bewerben, einer Prüfung an dem Maßstab der „allgemeiner Gesetzgebung unterziehst, um am Ende die „richtige" zu gewinnen. Maximen kommen aus einer Quelle, die von derjenigen der praktischen Vernunft selbst und ihrer allgemeinen Gesetzgebung v e r s c h i e den ist — denn im andern Falle wäre ja ein Prüfungsverfahren gar nicht nötig —, sie kann aus dem allgemeinen Grundsatz und dem von ihm genannten Gesetz nicht deduziert werden. Sie ist nicht aus reiner praktischer Vernunft gewonnen: diese erteilt der „richtigen" Maxime nur den ihr am Ende bescheinigten moralischen Charakter der Verbindlichkeit. Daraus folgt: die Quelle der Inhalte, die sich bei dem Prüfungsverfahren darum bewerben, als moralische Maximen anerkannt zu werden, ist nicht reine praktische Vernunft, sondern menschliche Natur: diese Inhalte ergeben sich nicht durch einen apriorischen Entwurf, sondern durch Erfahrung. Sie bringen die I n t e r e s s e n zum Ausdruck, die von den Neigungen, Trieben, Bedürfnissen der menschlichen Natur vertreten werden. Kant gebraucht bei der Beschreibung der sich dabei ereignenden „Vorgänge" die Rechtssprache: die als richtig erkannte Maxime ist ein Urteil, welches die praktische Vernunft in mir im Konflikt der von den Parteien, d. h. den natürlichen Neigungen, Trieben usw. vertretenen Interessen gefällt hat. Dieses Ergebnis ist nicht rein apriorischer Natur: die Maxime ist das

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.Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Resultat einer auf apriorischen Maßstäben beruhenden Rechtfertigung empirischer Gehalte. Diese Verbindung von reiner Vernunft und Empirie ist im Auge zu behalten, wenn man der Rede Kants die richtige Bedeutung geben will, daß sich der Handelnde für diejenige Maxime zu entscheiden hat, die zugleich als „Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung" gelten kann. Nach den bisherigen Überlegungen wird dadurch das praktische Denken des Handelnden aufgefordert, ein Experiment der praktischen Vernunft durchzuführen. Es besteht darin, den Entwurf der apriorischen Prinzipien, unter welche die praktische Vernunft eine allgemeine Gesetzgebung menschlicher Handlungswelt stellt, mit der Konstruktion einer Welt zu konfrontieren, die im Versuch so aufgebaut ist, daß zu ihrer Gesetzgebung auch die zu prüfende Maxime gehört. Stimmt das Prinzip, welches diese experimentell durchgespielte Welt bestimmt, mit dem einer allgemeinen Weltgesetzlichkeit überhaupt überein, so hat die Maxime die Prüfung bestanden: das Gerichtsurteil hat ihr Verbindlichkeit übertragen. Dann ist erwiesen, daß der als Maxime infrage kommende empirische Inhalt eine vernunftgemäße Form besitzt. Daraus wird sichtbar, daß die Prüfung der Maxime nicht dadurch geschieht, daß sie unmittelbar mit einer apriorischen Vernunftnorm verglichen wird. Vielmehr wird sie im Gedankenexperiment universalisiert: sie wird auf das Niveau einer versuchsweise konzipierten W e l t gebracht, deren gesetzliche Verfassung diese Maxime enthalten soll. Diese Welt wird als die nach einer Vernunftgesetzgebung verfaßte e m p i r i s c h e Welt gedacht. Wir haben in dieser einen Weltlauf anzunehmen, wie wir ihn durch Erfahrung der Welt kennen, in der wir uns befinden und in der wir in der besonderen Situation fragen: „Was soll ich tun?". Es fragt sich, welches „Prinzip" durch die Aufnahme der zu prüfenden Maxime in die Gesetzgebung dieser empirischen Welt als verwirklicht zu denken ist. Stimmt dieses der experimentalen und zugleich als empirisch gedachten Welt mit dem von der praktischen Vernunft für eine allgemeine Gesetzgebung passenden Prinzip überein? So lautet die Prüfungsfrage an die Maxime: Die Prüfung besteht im Grunde genommen in der Beurteilung der experimentell angenommenen, empirischen Welt vom Standpunkt des Prinzips einer apriorischen Weltgesetzgebung aus. Der empirische Charakter dieser Welt kommt dadurch zustande, daß der ganze Reichtum der von uns im Handeln erfahrenen Weltbezüge einzuholen ist, so daß ein Gerichtsverfahren in Gang kommen kann, bei dem die zu prüfende Maxime ihr aus der Empirie stammendes „Interesse" dadurch zur Geltung

Der kategorische Imperativ

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bringen kann, daß sie versuchsweise zum Gesetz dieser Welt erhoben wird. Diese experimentelle Welt, die mit dem Prinzip der reinen Vernunft und deren Gesetzgebung konfrontiert wird, wird als mit allen Zügen unserer durch Erfahrung bekannten Handlungswelt ausgestattet gedacht: außerdem gehört es zu den Bedingungen des Weltexperimentes, daß in dieser Welt die zu prüfende Maxime zum Gesetz erhoben wird. Um das „Prinzip" der durch die Aufnahme dieses Gesetzes in die allgemeine Gesetzgebung dieser empirisch gedachten Welt zu erkennen, werden im Gedankenexperiment die Konsequenzen durchgespielt: es wird gefragt, was sich nach unserer Erfahrungserkenntnis des Weltlaufs in solch einer Welt zutragen m u ß , wenn man von der Voraussetzung solch einer Gesetzgebung ausgeht, welche die zu prüfende Maxime in sich enthält. Das Experiment nimmt also den Verlauf, daß in einer Art spieltheoretischen Überlegung die aus den gegebenen Voraussetzungen zu erwartenden Reaktionen der in dieser Welt lebenden und handelnden Menschen erwogen und beschrieben werden. Bei diesem Gedankenspiel entscheidet es sich, ob sich die der unter der angenommenen Gesetzgebung stehenden Welt zugehörigen Handelnden voraussichtlich, d. h. nach unserer empirischen Erkenntnis des Weltlaufs und des Menschen vermutlich so verhalten werden, daß die als Normierung ihres Handelns gedachte Gesetzgebung weiterhin anwendbar ist. Oder reagieren sie auf die angenommene Gesetzgebung so, daß sie eine Realität herstellen, die gar keinen „Fall" für das Gesetz mehr hergibt, so daß dieses überflüssig und nichtssagend geworden ist? Trifft das letztere zu, so ist folgendes eingetreten: die probeweise als Gesetz in das Weltexperiment erhobene Maxime wird wahrscheinlich selbst die in dieser Welt handelnden Menschen dazu veranlassen, eine Wirklichkeit herzustellen, in welcher ihm, dem Gesetz überhaupt der Boden entzogen worden ist. Das Gesetz wird sich durch die Folgen, die es in der Realität gemäß den Gesetzen des allgemeinen Weltlaufs bewirken muß, selbst nichtig werden lassen. Der Gesetzgeber, der es in eine Weltgesetzgebung aufnehmen würde, würde mit ihm zugleich ein Prinzip zur Geltung bringen wollen, nach welchem sich gegebene Gesetze durch die Folgen, die sie in der menschlichen Handlungswelt bewirken, selbst dadurch ver-nichten, daß sie die handelnden Menschen dazu motivieren, nicht ihnen gemäß oder gegen sie zu handeln, sondern sie kaltzustellen. Ein Gesetz, welches im spieltheoretischen Gedankenexperiment als in dieser Weise seine eigene Vernichtung herbeiführend zu erkennen wäre, befände sich im Prinzip in der Lage eines Legislators, der etwa das Gesetz erlassen würde, daß alle die Bürger, die im Bereich seines Territoriums zu bleiben

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

gedenken, auf jede Lebensqualität prinzipiell zu verzichten hätten. Es wird erreichen, daß alle auswandern und damit die Voraussetzungen seiner eigenen Gesetzgebung vernichten. Ist im Fall der Aufnahme einer Maxime in die Gesetzgebung des Weltexperimentes der Fall eingetreten, daß eine Selbstvernichtung des Gesetzes in der angegebenen Weise die kausale Folge sein muß, dann ist das von dieser Maxime realisierte Prinzip im W i d e r s p r u c h zu demjenigen, welches die reine Vernunft mit einer Gesetzgebung bezweckt. Dieses Prinzip kann man auf die Formel bringen: ein Gesetz, welches einer allgemeinen Weltgesetzgebung als angehörend zugelassen werden will, darf sich nicht durch die Folgen, die es in der Welt der Handelnden bewirkt, selbst vernichten. Diejenige Maxime, welche einen W i d e r s p r u c h zu diesem Prinzip bedeutet, weil sie im Sinne einer Selbstvernichtung mit sich w i d e r s t r e i t e t , kann als moralische Maxime nicht zugelassen werden: sie hat das Prüfungsverfahren nicht bestanden. Diese letzte Aussage macht deutlich, daß die Annahme einer Maxime und die Entscheidung für sie dann durch das Prüfungsverfahren gerechtfertigt ist, wenn einerseits „Widerspruch", andererseits „Widerstreit" vermieden werden konnte. In Widerspruch gerät eine Maxime, welche die Prüfung nicht besteht, sofern ihr gesetzliches „Prinzip" mit demjenigen begrifflich unvereinbar ist, welches die reine praktische Vernunft mit ihrer Gesetzgebung bezweckt. In realer Oppugnanz gegen sich selbst aber befindet sich diese Maxime, sofern sie Wirkungen verursacht, welche ihrerseits die Voraussetzungen ihrer Verwirklichung vernichten. Beide, der Widerspruchscharakter und derjenige der Realoppugnanz müssen streng voneinander geschieden und jeder auf seine spezifische Funktion, die er im Prüfungsvorgang übernimmt, präzisiert werden. Kant selbst erschwert diese Präzisierung durch nicht ganz konsequenten Gebrauch der N a m e n : „Widerspruch" und „Widerstreit". Es hat sich ergeben: Der Handelnde gewinnt die Antwort auf die Frage: „ W a s soll ich tun?" durch den Vergleich des Prinzips der von der praktischen Vernunft geforderten Weltgesetzgebung mit einer im Experiment entworfenen als wirklich gedachten Welt, für welche die zu prüfende Maxime als gültiges Gesetz angenommen wird. In dem Falle, in welchem das in dieser empirischen Welt verwirklichte „Prinzip" mit demjenigen der praktischen Vernunft übereinstimmt, ist die Prüfung positiv für die Maxime ausgefallen. In diesem Falle ist sie nicht nur als moralische Vorschrift zugelassen, sondern tritt in imperativischer Form auf und verlangt vom Handelnden, er solle sich für sie entscheiden. Damit ist im

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Bereich der Überlegungen zum kategorischen Imperativ das Problem der Entscheidung in den Blick getreten, und es ist zu fragen, inwiefern die mit diesem Prinzip verbundene Umstimmung und Umwendung der praktischen Denkart an der Formulierung des kategorischen Imperativs erkennbar wird. Der Ansatzpunkt in der Formulierung des kategorischen Imperativs ist an der Stelle zu suchen, wo von der „allgemeinen Gesetzgebung" die Rede ist, die sich auf einen totalen Bereich, die W e l t bezieht. Als deren „Prinzip" ist die Einstimmigkeit der Vernunft mit sich selbst anzusehen. Der kategorische Imperativ macht von der ersten Devise Gebrauch, die Vernunft an sich selbst richtet: Stelle bei dem Verfahren, die Wirklichkeit mit Vernunft zu durchdringen, Einheit und Identität mit dir selbst her. Damit begegnet die Identität im Bereich des kategorischen Imperativs, die im vorhergehenden als diejenige der praktischen Apperzeption erkannt wurde. Diese Apperzeption wird auch bei der durch den kategorischen Imperativ eingeleiteten und angeleiteten Entscheidungsbildung aktuell: denn die in ihm geschehene Berufung auf die allgemeine Gesetzgebung und die von dieser bestimmten Welt fordert das praktische Denken dazu heraus, Stand auf deren Boden zu nehmen, von hieraus die aus der empirischen Interessenwelt herkommenden Maximen zu beurteilen und sich für die richtige, d. i. für diejenige zu entscheiden, welche dem Prinzip der Identität der Vernunft mit sich selbst genügt. Die Welt, die als durch die im kategorischen Imperativ genannten „allgemeinen Gesetze" und deren P r i n z i p bestimmt zugrunde gelegt wird, soll zur Deckung und Identität mit derjenigen gebracht werden, welche im Gedankenexperiment als die wirkliche, empirische Welt angenommen wird, zu deren Verhaltensfiguren auch die zu prüfende Maxime gehört. Tritt die Maxime in der Gestalt dieses Weltgesetzes auf, so nimmt sie keinen Imperativischen, sondern einen beschreibenden (deskriptiven) Charakter an, etwa von der Form: Wer in dieser als unter dem allgemeinen Gesetz der Vernunft stehend entworfenen Welt in der und jener Situation steht, ist gesetzlich dazu bestimmt, sich in dieser bestimmten Weise zu verhalten. Diese Welt wird also als System n o r m a l e r Verhaltensfiguren beschrieben, wie es auch im R e c h t der Fall ist. Der Gegenstand dieser Beschreibung ist freilich nicht wertfrei: vielmehr wird diese Welt als vor-bildlich, als exemplarisch für Handeln verstanden und beschrieben. Als beschreibbarer Zusammenhang kann diese Welt der Orientierung für die Gewinnung der Maxime dienen. Diese ist nicht Gegenstand der Beschreibung, sondern hat präskriptiven Charakter: auf

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sie geht der Imperativische Impuls des moralischen Grundsatzes über. Der kategorische Imperativ beruft sich auf eine beschreibbare, vorbildliche Welt: der Gebrauch des Imperativs läßt erkennen, daß diese Welt die Struktur einer idealen bürgerlichen Gesellschaft hat, die durch vernünftige Gesetzgebung bestimmt ist. Der unter dieser Gesetzgebung stehende Bereich ist, allgemein gesprochen, als Dasein unter Gesetzen zu begreifen und fällt daher unter den Begriff von „Natur": dem entspricht, daß in vorkommenden Formulierungen die allgemeine Gesetzgebung auch als diejenige einer „intelligiblen Natur" deklariert wird. Es handelt sich dabei freilich nicht um eine wertfreie Natur, sondern um einen vernunftbestimmten Bereich. „Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigendich N a t u r im allgemeinsten Verstände (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum a l l g e m e i n e n N a t u r g e s e t z e werden sollte." 3 7 Diese Natur trägt die Züge der „moralischen Welt", auf die Kant in anderen Zusammenhängen zu sprechen kommt (ζ. Β. Β 836). Sie zeigt Harmonie und Ubereinstimmung zwischen Gesinnung und Natur. Der Idee dieser Welt muß objektive Realität zugesprochen werden, „. . . nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligiblen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, sofern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat." (B 836). Wenn die Ubereinstimmung, in welcher sich der einzelne beim gesetzlichen Gebrauch seiner Freiheit mit andern befindet, als für die Struktur der moralischen Welt kennzeichnend angesprochen wird, so ist daran zu erinnern, daß dadurch auch das rechtliche Verhalten charakterisiert ist. Daher ist die moralische Welt auch nach dem Modell der Rechtswelt in der Weise auszulegen, daß sie unter einem obersten Richter, der zugleich Gesetzgeber ist, stehend gedacht werden muß. 3 8 37 38

IV, S. 421. Vgl. Opus postumum X X I I , S. 125: „Aber die moralisch-praktische Vernunft enthält doch Zwangsgesetze d. i. Gebote der reinen Vernunft in sich (obligationes strictae) die der kategorische Imperativ bei sich führt (gleichsam den der reinen Vernunft (vetita ac praecepta)) vor dem inneren Richterstuhl (in foro conscientiae) und abgesehen von einem wirk-

Vier Beispiele

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Ein Wort noch über die Modalität der Notwendigkeit, die Kant dem kategorischen Imperativ beilegt. Dem „Gesetz der Freiheit" ist Notwendigkeit eigentümlich. Hat der Handelnde seine Pflicht erkannt und sich dadurch für ihre Verwirklichung entschieden, daß er seinen Willen und seine Triebfeder auf diese Pflicht eingestellt und eingestimmt hat, so handelt er nach einer Notwendigkeit im Sinne der Selbstbestimmung, die in der Freiheit selbst ihre Quelle hat.

6. Vier

Beispiele39

Beim ersten Beispiel spielt das Vernunftpostulat der Einheit der Vernunft mit sich selbst in folgender Weise die Rolle des „entscheidenden" Maßstabs und „Probiersteins". Ein hart Bedrängter, der das Leben nicht mehr glaubt ertragen zu können, fragt sich, ob es moralisch vertretbar ist, mit sich selbst ein Ende zu machen. Diese Frage könnte nur dann bejaht werden, wenn auf dem Wege der vom kategorischen Imperativ vorgezeichneten Methode des praktischen Denkens ein G r u n d s a t z gefunden werden könnte, der diese Handlung nicht nur e r l a u b e n würde, sondern zur Pflicht machte. Handeln im „reinen" Sinne muß p r i n z i p i e l l e s Handeln sein, der Handelnde muß zu rationaler Rechtfertigung seines Grund-satzes bereit sein. In dem betreffenden Falle fragt er sich, ob seine von ihm zur Prüfung vorgeschlagene Maxime: „Beende dein Leben, wenn es dir nicht mehr lebenswert erscheint" die experimentelle Prüfung besteht. Das ist dann der Fall, wenn derjenige Welt-entwurf, dessen allgemeine gesetzliche Verfassung auch ein Gesetz mit dem Wortlaut dieser vorgeschlagenen Maxime enthalten würde, der Forderung der Vernunfteinheit mit sich selbst genügen würde. Bei näherem Zusehen aber ergibt sich in diesem Falle das Gegenteil: eine durch Aufnahme dieses Gesetzes konstruierte „Natur" würde dem Prinzip einer mit sich einigen Vernunft nicht genügen, sie würde mit sich selbst „widerstreiten": einerseits setzt nämlich diese im Gedankenexperiment als Gesetz einer Natur, zu der gehörend wir uns annehmen müssen, angenommene Maxime eine Anhänglichkeit der Menschen an das Leben als Naturanlage voraus, andererseits bewirkt sie, daß in Fällen, die dem geschilderten entsprechen,

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liehen von Gott ergangenen Ausspruch ist das Erkenntnis aller Menschenpflichten a l s göttllicher Gebote . . . von gleicher Kraft als ob ein wirklicher Weltrichter angenommen wäre. Freiheit unter dem reinen Vernunftgesetze . . ." Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, S. 421 f.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

diese selbe Anlage sich als lebenszerstörend auswirkt. Die Maxime: „ T ö t e dich selbst, wenn . . . " besteht also, in der Perspektive allgemeiner Gesetzlichkeit eines entworfenen Weltmodells gesehen, ihre Prüfung nicht. 4 0 D a s zweite Beispiel sieht die Situation vor, daß jemand in einer Notlage vor der Frage steht, ob er sich Geld leihen darf, obgleich er weiß, daß sein Versprechen, es wiederzugeben, unerfüllt bleiben wird. Zur Frage steht eine Maxime, die lautet: Wenn du in einer Notlage bist, borge dir Geld, obgleich du weißt, daß du es nicht zurückbezahlen kannst. Die geschilderte Methode der Prüfung dieser Maxime verlangt die Konstruktion einer Welt, in deren Gesetzgebung diese Maxime als eines der Gesetze im Gedankenexperiment eingebaut wird: sie fordert dann zu der Frage heraus, ob diese dem Prinzip der Einheit der Vernunft mit sich gemäß ist. Die Frage muß verneint werden: wenn sich nämlich diesem Gesetz gemäß jeder in dieser Lage Geld leihen müßte, obwohl er weiß, daß er es nicht zurückbezahlen kann, so würde zu erwarten sein, daß keiner mehr dem andern etwas leihen würde: das Gesetz würde seine eigenen Voraussetzungen vernichten. Aus dem Widerstreit, der durch dieses probeweise angenommene „ P r i n z i p " in das versuchsweise angenommene Weltmodell hineinkommt, ergibt sich die Unannehmbarkeit der entsprechenden Maxime. Folgende Reflexion mag nützlich sein: in das Weltmodell, welches um der Prüfung der fraglichen Maxime willen entworfen wird, gehen auch empirische Inhalte ein, die auf die Sprache eines Gesetzes dieser Welt gebracht werden. In der zum Gesetz erhobenen Maxime ist von Geldborgen, falschem Versprechen, Nichtwiederzurückgeben die Rede: es werden ökonomische Tatsachen, die auch nur unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen möglich sind, in die Gesetzlichkeit aufgenommen. Auch die V o r g ä n g e in diesem idealen Weltmodell werden, soweit es das Experiment verlangt, durchgespielt: Wahrscheinliche menschliche Verhaltensweisen werden in den Gedankengang eingebracht und der dabei zu erwartende Effekt als Beleg für die Einigkeit oder Uneinigkeit der zur Prüfung gestellten Welt mit sich gebracht. Ein Prinzip, welches im Verlauf solch einer spieltheoretischen Überlegung nicht nur durch die logischen, sondern auch durch die im Gedankenspiel vorgestellten r e a l e n Folgen seine eigenen Voraussetzungen vernichtet, führt einen Widerstreit der

40

E s ist darauf aufmerksam zu machen, daß sich das Selbstmord-verdikt nur unter Voraussetzungen ergibt, wie sie ζ. B. im diskutierten Falle vorliegen; ein allgemeines Verbot folgt daraus nicht.

Vier Beispiele

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Vernunft mit sich selbst herbei. Das Prinzip der Vernunft wird dadurch verneint: die Maxime hat die Prüfung nicht bestanden. Es gibt Fälle, in denen ich die gesetzliche Form einer Maxime, die zur Prüfung steht, wohl ohne Denk-widerspruch in den Kodex eines Weltsystems aufnehmen könnte, gleichwohl aber der W i l l e protestieren würde. Ein Fall dieser Art wird im dritten Beispiel vorgestellt. Es geht um die Lage eines Menschen, der von der Natur mit Talenten ausgestattet ist, aber aus Faulheit geneigt ist, sie nicht zu kultivieren. Er macht sich immerhin die Mühe, zu fragen, was hierzu die Stimme der Pflicht zu sagen hat. Er fragt sich, ob „außer der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturanlagen mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme." Ist, so wird er für die Beantwortung dieser Frage in Gedanken vorgehen müssen, eine Natur d e n k m ö g l i c h , in welche ein Gesetz aufgenommen würde, demgemäß sich jeder, der es sich leisten kann, seine Talente brachliegen zu lassen, der Anstrengung ihrer K u l t u r muß entziehen können? Er wird finden, daß solch eine Natur immer denkmöglich ist aus einem Grunde, den Nestroy im „Talisman" seinen „Titus" so aussprechen läßt, daß das beste Zeugnis für die Möglichkeit die Wirklichkeit sei. Was die „Wirklichkeit" angeht, so beruft sich Kant auf die Südseeinsulaner, durch deren Beispiel es, wenn die wirkliche Natur Vorbild sein dürfte, gerechtfertigt wäre, „sein Talent rosten" zu lassen, und darauf bedacht zu sein, „ . . . sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß, zu verwenden . . .". 4 1 Aber ais „vernünftiges Wesen" kann er nicht zulassen, daß die wirkliche Welt statt des Idealtypus einer vorbildlich-vernünftigen Natur als Leitfaden und Orientierungszusammenhang für Handeln gilt. Er kann nicht „ w o l l e n " , daß eine entsprechende Maxime allgemeines Gesetz wird, da ihm seine Vernunft eine Natur in der Idee als exemplarisch vor Augen hält, die durchaus zweckmäßig verfaßt und in deren Absicht es gelegen ist, daß die ihren Geschöpfen mitgegebenen Talente zur vollständigen Entfaltung kommen. Auch hier würde, falls die entsprechende Maxime probeweise als Gesetz angenommen würde, ein Widerstreit in der idealen Natur zwischen ihren Absichten auf Kultur der Talente und der Maxime des Brachliegenlassens entstehen. Es ist deshalb wertvoll, dieses Beispiel durchzuspielen, weil ein kultur- und geschichtsphilosophischer Aspekt ins Spiel kommt. Man erinnere sich, daß Kant im ersten „Satz" seines geschichtsphilosophischen 41

I V , S. 423.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Aufsatzes: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" einen Charakterzug der „Natur" von folgender Art beschreibt: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln." 42 Daß ich als Vernunftwesen nicht eine Maxime bzw. ihre Erhebung zum Naturgesetz wollen kann, die mit dem Entwurf eines welthaften Naturzusammenhanges in Widerstreit gerät, erweist sich als Symptom dafür, daß der Wille als Ausdruck der praktischen Vernunft fungiert, welche mir das praktische Vorbild in Form einer natürlichen Welt darstellt, der sie die Aufgabe der Orientierung und des Leitfadens für mein Handeln überträgt. Hierbei treffen sich moralische und geschichtsphilosophische Überlegungen. Am letzten Beispiel wird eine gedankliche Situation der experimentellen Prüfung sichtbar, die in den andern beiden Fällen verborgen geblieben war: es wird erkennbar, daß eigentlich immer zwei „Welten" bzw.„Naturen" im Spiele sind. Die eine ist von der Art der vorbildlichen Natur wie sie in Moralund Geschichtsphilosophie begegnet. Sie dient dem praktischen Denken und Handeln als Maßstab und Orientierung für die Bestimmung der Pflicht und die Entscheidung. An ihr wird der andere Entwurf einer Welt gemessen und geprüft, der probeweise aus dem Material der in Frage stehenden Maxime konstruiert wird. Stimmt das dem experimentellen Verfahren ausgesetzte Welt- bzw. Naturmodell mit der ersten, zur Norm dienenden Natur überein, so darf die in dieses Modell als Gesetz eingebrachte Maxime als annehmbar gelten: im Falle des „Widerstreites" aber hat sie sich als verwerflich erwiesen. Zwischen dem zuletzt genannten und den ersten Beispielen ist auch folgender Unterschied zu bemerken: in der Frage des Selbstmordes und des Geldleihens tritt die „normative" Natur nur in formaler Hinsicht, als mit sich selbst einiger Zusammenhang ins Spiel. Die Prozedur der Prüfung ist darauf angelegt, daß sich eine Entscheidung dadurch ergibt, daß Widerstreit oder Ubereinstimmung der Vernunft mit sich herbeigeführt wird. Beim letzten in die „Kultur"-philosophie hinüberspielenden Beispiel hält sich das Denken an eine nicht nur formal, sondern auch inhaltlich beschriebene Natur, deren vollständige Charakteristik in der Geschichtsphilosophie gegeben wird. Hier bringt die praktische Vernunft zum Ausdruck, was sie inhaltlich „will", sie bekennt sich zu Zwecken. Diejenigen Handlungen wird sie verwerfen, die der von ihr entworfenen vorbildlichen Natur und ihren Zwecken nicht entsprechen. 42

VIII, S. 18.

Praktische Konstellation

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In dieselbe Richtung geht ein viertes von Kant gewähltes Beispiel. Es geht um die Frage der Hilfe für den andern, und es zeigt sich, daß die Maxime: „Hilf dem andern in seiner N o t " den Verbindlichkeitstest besteht. Denn eine fingierte Natur, die das Gesetz, daß man gegenüber der Lage des andern gleichgültig sein solle, enthalten würde, wäre im Widerstreit mit einem Weltvorbild, in welchem praktische Vernunft vorgesehen hat, daß die von der Natur geschaffenen Wesen in gesellschaftlicher gegenseitiger Abhängigkeit sind. Mit dem Entwurf einer moralischen Welt, die uns als Vorbild und Orientierung dient, tritt das Prinzip des „Zweckes" in den Blick. Denn der Bereich einer vorbildlichen Natur wird als zweck-mäßig, dem selbstgewählten Zweck gemäß angenommen. Auch das „Prinzip" der praktischen Vernunft, bei der Aufarbeitung und Durchdringung der Wirklichkeit immer identisch mit sich selbst zu bleiben, kann man auf die Formel bringen, daß die Vernunft sich selbst Zweck sein muß und dieser Rolle nicht zuwider handeln darf. Das Prinzip des Zweckes im Zusammenhang mit dem Begriff der praktischen Konstellation ist jetzt zu erörtern.

7. Praktische Konstellation und moralisches Argumentieren: Gemeinschaft des Denkens und Handelns Kant sagt, daß der kategorische Imperativ in der Fassung: „Ich muß wollen können, daß meine Maxime ein allgemeines Gesetz wäre", die reine Form in den Vordergrund stelle: der dazugehörige materiale Aspekt komme in Sicht, wenn man die Orientierung an Zwecken ins Auge fasse. „Die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen als W i r k u n g e n seiner Handlung nach Belieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind insgesamt nur relativ . . ," 4 3 Die Zwecke, die wir uns setzen, sind alle bezogen auf den Charakter des Willens, der sich für sie entscheidet. Sie sind relative Zwecke — der gute Wille ist ein absoluter Zweck: als solcher kann er sich nicht abhängig machen von Zwecken, die verschieden von ihm sind: also ist er Selbstzweck. Verstehen wir uns und die Andern bei unserem Handeln als Selbstzweck, so geben wir uns eine S t e l l u n g gegenüber den einzelnen, relativen Zwecken, die wir vom Stande des Selbstzweckseins aus gewählt haben. Entscheidend ist nicht der einzelne, objektive Zweck, sondern immer das 43

I V , S. 427.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

P r i n z i p , die Verfassung des Willens, der Charakter des selbstzweckartigen Standes, von dem aus die objektiven Zwecke gewählt und realisiert werden. Der Wert aller durch unsere Handlung zu „ e r w e r b e n d e n Gegenstände" ist jederzeit bedingt. 44 Dagegen ist unbedingt der reine Wille, von dem aus diese Erwerbung betrieben oder geregelt wird. Das ergibt den Ausgangspunkt für die berühmte Unterscheidung zwischen Person und Sache. Person gibt sich selbst die Rolle des Selbstzweckes und weist der Sache die Stelle eines Mittels zu Zwecken an. Das ergibt eine Konstellation, die ich als „praktische" bezeichne. Im Rahmen der „praktischen Konstellation" ist die S e l b s t g e s e t z g e b u n g zu verstehen, in welcher sich das Subjekt die Stellung des Selbstzwecks gibt und den Sachen ihre Stellung als Mittel anweist. Selbstzweck sein heißt: sich z u m S e l b s t z w e c k machen. An dieser Stelle mag man sich der transzendentalen Konstellation erinnern und sie mit der praktischen vergleichen. In jener hat sich gezeigt, daß sich das erkennende Subjekt als Regisseur und Schauspieler zugleich erweist: es gibt sich selbst den Stand, von dem aus es den Gegenständen ihren Platz im raum-zeitlichen Zusammenhang anweist. Gleichzeitig versetzt es sich in ein „Verhältnis" mit den andern Subjekten, mit denen es gemeinsam handelnd die Konstruktion der Gegenstände unternimmt. Indem der Regisseur im Subjekt dem Spieler in eigener Person seine Rolle überträgt, gibt er ihm das Gesetz seines Handelns auf: das Subjekt vollzieht Selbstgesetzgebung. In dieser ist eingeschlossen, daß es sich als Gesetzgeber f ü r die Gegenstände, die es vor sich hinstellt, zu erweisen hat. In der praktischen Konstellation ist es der Fall, daß sich der Handelnde den Stand des Selbstgesetzgebers und zugleich des Selbstzwecks anweist, von dem aus er als „Person" den „Sachen" ihren Platz im Bereich des „Mittel-Seins" zudiktiert. Wie es im Bereich der Theorie gemäß den Überlegungen der transzendentalen Dialektik aus nicht erlaubt ist, dem Subjekt selbst die Stelle eines objektiven Seelendinges anzuweisen, so erfordert im praktischen Bereich die Unterscheidung zwischen Person und Sache, daß die Person niemals nur als Mittel betrachtet und behandelt wird, sondern immer zugleich auch in ihrer S t e l l u n g als Selbstzweck anerkannt wird. Selbstgesetzgebung ist nicht nur der Vorgang, durch den ich mir eine Regel für das Handeln vorschreibe: sie ist primär Herstellung der prak44

IV, S. 4 2 8 .

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tischen Konstellation, in der mir meine Stellung zu den Mitpersonen und den Sachen in der Welt angewiesen wird. Das praktische Subjekt gibt im Rahmen der Konstellation auch den „Sachen" das für sie gültige „Gesetz": d. h., daß der Handelnde den Sachen die Rolle des Mittelseins zudiktiert. Ihr Sachcharakter beruht auf der Brauchbarkeit als Mittel. In der Rechtsphilosophie nimmt diese praktische Konstellation die Form an, daß das Rechtssubjekt sich selbst eine Stellung gegenüber den „brauchbaren" und in Besitz nehmbaren Sachen anweist. Sie wird allgemein durch das Rechtsprinzip bestimmt, demzufolge je meine Freiheit der Sachverfügung durch die Freiheit des andern, von Sachen Gebrauch zu machen, nach Gesetzen beschränkt ist. Innerhalb des Rahmens der Selbstgesetzgebung gibt es das Subjekt/Objekt„verhältnis" des Besitzes: wobei der „Gegenstand" des Besitzes durch die in der Rechtsgesetzgebung ausgesprochenen Gebrauchsregeln bestimmt wird. Bei dem Vergleich zwischen transzendentaler und praktischer Konstellation spielt auch die jeweilige Weltperspektive eine Rolle. Der Erkennende, der sich durch Selbstgesetzgebung die Stelle als Gesetzgeber der Sachen anweist, entwirft zugleich die Welt, innerhalb deren er theoretisch handelt und sich die Gegenstände in der Welt geben läßt. Welt trägt den Charakter der Totalität: Vernunft-„ideen" haben Welt-eigenschaften der Einheit aller besonderen Gesetze, des kontinuierlichen Ubergangs zwischen den Formen der Natur, der Sparsamkeit der Mittel usw. zum Inhalt. Diese Ideen haben im Prozeß der Naturerkenntnis bekanntlich regulative Funktion: d. h. sie sind Bestimmungen der W e l t , an der sich der Wissenschaftler orientiert, wenn er sich mit einzelnen Objekten in der Welt befaßt. Um eine weitere Entsprechung zwischen praktischer und transzendentaler Konstellation in den Blick zu bringen, möge daran erinnert werden, daß zu dieser das „Ver-hältnis" zwischen Subjekt und Objekt ebenso gehört, wie dasjenige zwischen dem einen Subjekt und dem andern. Beide verstehen sich als gemeinsame Repräsentanten der Vernunft, deren Weltgesetzgebung sie sich als angehörend begreifen. In diesem Zusammenhang war im Bereich der transzendentalen Konstellation von „Erweiterung" des Denkens die Rede, worunter im Anschluß an den Kantischen Sprachgebrauch die Ausdehnung des Horizontes des Sprechenden und Denkenden auf die allgemeinen und gemeinsamen, auch dem Horizont der anderen angehörenden Maßstäbe zu verstehen ist. Auch im Bereich der praktischen Konstellation gibt es einen Grund, von „Erweiterung" zu sprechen. Darunter ist die praktische Bewegung zu verstehen, meine und der andern

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Existenz, unser Denken und Handeln aus der Perspektive der Gesetzgebung der allgemeinen Welt des Handelns zu beurteilen. Im Sinne dieser Erweiterung popularisiert Kant seine Auffassung vom kategorischen Imperativ gelegentlich durch die Formulierung: „Lebe so, daß deine Handlungen auch aus dem Gesichtspunkte anderer gut scheinen." 45 Die Berufung auf den „Gesichtspunkt anderer", den für mein eigenes Handeln zu eigen zu machen mir hier empfohlen wird, ist freilich gerade von der Position Kants her gesehen problematisch, wenn sie beanspruchen will, auf die Orientierung meines praktischen Bewußtseins an der strengen Allgemeingültigkeit hinzuweisen. Denn es wäre nichts gewonnen, wenn ich meine eigenen subjektiven Einseitigkeiten durch diejenigen anderer Subjekte ersetzen würde, die ich mir etwa durch Einfühlung in deren Gedankenwelt zu eigen mache. Das wäre im Sinne einer Einfühlungsethik gedacht, wie sie etwa auch bei Adam Smith und in der Gegenwart bei Metaethikern vertreten wird. 46 Kant selbst aber kann seine Rede vom „Gesichtspunkt anderer" nur in dem Sinne verstehen, daß durch eine Erweiterung jeweils meines Horizontes auf den j e d e r andern Person das Niveau der durch Vernunft gestifteten allgemeinen Weltgesetzlichkeit erreicht wird. In diesem Sinne dürfte auch seine Rede von einem „gemeinschaftlichen Schwerpunkt" zu verstehen sein, den die in eine Handlungsgeschichte miteinander verwobenen Personen dadurch gewinnen, daß sie über sich hinausgehen und jede ihr Handeln und Denken an den gemeinsamen Maßstäben allgemeiner Weltgesetzgebung orientiert. 47 Die Rede vom gemeinsamen Schwerpunkt als Charakterisierung des moralischen und zugleich auch des rechtlichen Verhältnisses zwischen den Handelnden erinnert an ein physikalisches Kräftephänomen, welches hier als Analogie gebraucht wird. Wie die Physiker von einem gemeinsamen Schwerpunkt aufeinander wirkender Körper sprechen, so kann auch der gemeinsame Wille als Schwerpunkt des Ereignisses der Handlung angesehen werden. Jede einzelne in den Handlungsvorgang einbezogene Person wählt den Schwerpunkt ihres Handelns auf dem Boden des gemeinsamen Willens, der sich jenseits der Anziehungskraft der egoistischen Motivation befindet. 48 Nicht Ein-fühlung vermag Orientierung am « X I X , S. 241 (Reil. 7069). 4 6 Vgl. mein Buch: Ethik und Metaethik, Darmstadt 1974, S. 1232ff. 4 7 X I X , S. 128 (Refl. 6667). 4 8 X I X , S. 128 (Refl. 6667): „Man kann die Verhältnisse des Rechts mit denen der Körper vergleichen. Ein jeder Körper ist gegen alle andern in Ruhe, außer sofern er durch andere bewegt wird, und ebenso hat jedermann gegen andere Pflichten der Unterlassung,

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Allgemeinen und Gemeinsamen zu verbürgen, da Gefühl und Empfindung überhaupt nicht kommunikabel sind. Kommunikation in praktischer Hinsicht kann nur durch gemeinsames d e n k e n d e s Standnehmen auf dem Boden der allgemeinen Gesetzgebung geschehen. 49 Wenn es überhaupt gelingt, Gefühle mitzuteilen, so kann das nur in der inurbanen Form einer aufdringlichen Übertragung von Gefühlszuständen auf den Hörer geschehen. Stattdessen erfordert es die Freiheit, daß man zur „Teilnahme" am gemeinsamen Willen, zum freien Mitvollzug eines gemeinsamen orientierenden Weltentwurfes auffordert. Abgewiesen wird eine Diktatur des Herzens, die nicht zum freien Mitvollzug beim Hörer auffordert, sondern sich als gewaltsame Aufdringlichkeit eines subjektiven Zustandes durch Suggestion der Stimme, irrationale Eindringlichkeit oder Emphase kundgibt. Kommunikation kann nur durch einen Überschritt über die Sphäre des natürlichen Gefühls hinaus in einen gemeinsamen Denkzusammenhang geschehen: durch Behauptung eines Standpunktes, den man durch einen Schritt über sich selbst hinaus auf dem Boden der allgemeinen Gesetzlichkeit gewonnen hat. Kant spricht gelegentlich von einem „äußerlichen Standpunkt", 5 0 der im Grunde aber derjenige des eigentlichen Selbst ist. Die Aufgabe praktischer Weltorientierung wird durch den praktischen Imperativ formuliert: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." Der dazugehörige Weltentwurf, der hier die Form einer zweckmäßig verfaßten Natur annimmt, ist so zu beschreiben, daß es „in" dieser Welt Personen als Selbstzwecke gibt, die den Sachen ihre Mittel-rolle anweisen sollen. Worin unterscheidet sich diese praktische Zwecknatur von derjenigen, die von der reflektierenden Urteilskraft in theoretischem Zusammenhang als zweckmäßig beurteilt

49

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außer sofern andere entweder mit ihm einen einstimmigen Willen machen oder seinen Zustand wider seinen Willen verändern. Actio est aequalis reactione. Soviel ein großer Körper auf den kleinen wirkt, soviel dieser auf den großen zurück. D e r gemeinschaftliche Schwerpunkt, d. i. der gemeinschaftliche Wille ist v o r und nach der Handlung einerlei." Vgl. auch die Quasi-Konstruktion des Rechtsbegriffes in der Einleitung in die Rechtslehre, Metaphysik der Sitten VI, S. 232/33. X I X , S. 201 (Reil. 6 9 0 1 ) : „Man kann sich in Ansehung der Begriffe k o m m u n i z i e r e n , aber nicht in Ansehung der Empfindungen. W e n n wir eine Ungerechtigkeit einem andern verständlich gemacht haben, so finden wir, daß er sie zwar erkennt und mißbilligt, aber nicht verabscheuet. Dieses letztere suchen wir ihm durch Heftigkeit oder Bitterkeit mitzuteilen. Es hat aber o f t in Unterredungen etwas Unangenehmes, da die Politesse erfordert, daß ich mit meinen Empfindungen eines andern Temperament nicht störe, sondern einen jeden etwas aufnehmen lasse, wie er will." X I X , S. 103 (Refl. 6598).

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„ P r a k t i s c h e s " Handeln und Idee der Handlungswelt

wird? Im letzteren Fall wird Natur als Zwecksystem begriffen, im ersten das praktische Zwecksystem als „Natur". Diese praktische „Natur" hat die Funktion, bei der Auffindung und bei der Erfüllung unserer Pflichten eine Orientierung abzugeben. Wie diese vonstatten geht, zeigt Kant an seinen vier Beispielen. Was die Frage des Selbstmordes in der Motivation durch Lebensüberdruß angeht, so wird sie in der Perspektive einer Welt bzw. eines „Reiches der Zwecke" folgendermaßen beantwortet: würde die Person aus dem vorausgesetzten Grunde ihr Leben selbst beenden, so würde sie sich als bloßes Mittel für die Erhaltung eines lustvollen Zustandes behandeln. Der „Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das b l o ß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden." 51 Auch die Frage, ob ich unter der Voraussetzung Geld leihen darf, daß ich mir von vornherein darüber im klaren bin, es nicht zurückzahlen zu können und daher ein falsches Rückgabeversprechen machen muß, ist nicht nur vom Postulat formaler Einheit der praktischen Vernunft und ihres Gesetzes mit sich selbst, sondern vom Selbstzweckanspruch der Mitperson her zu beantworten. Die Frage, ob ich unter diesen Umständen Geld leihen dürfe, ist hier zu verneinen, weil ich mich des andern Menschen bloß als eines Mittels bedienen würde, ohne dessen Selbstzweckcharakter in der praktischen Konstellation zu beachten. Ich würde gegen das von ihm und von mir gegebene Gesetz verstoßen, daß wir über die Mittel — hier handelt es sich um die geliehenen Geldmittel — nur in gemeinsamer Ubereinkunft verfügen dürfen und wollen. In diesem Beispiel wird diejenige Dimension der praktischen Konstellation aktuell, bei der es nicht nur auf den Bezug von Einzelpersonen und Sachen, sondern auf den zwischen den Personen selbst im Verhältnis zu den Sachen ankommt. Hier wird deutlich, daß die praktische Konstellation nicht nur ein „Ich will", sondern ein „Wir wollen" einschließt. Die Personen stellen sich selbst unter das Gesetz, daß sie einander niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst ansehen und be-handeln wollen. Das „Reich der Zwecke" tritt in den Blick. „Hierdurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur 1

I V , S. 4 2 9 .

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ein Ideal) heißen kann." 5 2 Kant sagt, daß der im Falle des falschen Rückgabeversprechens im zweiten Beispiel verschuldete Widerstreit besonders deutlich in die Augen falle, wenn man Fälle von Angriffen auf die Freiheit und das Eigentum der andern ins Auge fasse. 53 Da leuchte nämlich klar ein, daß der „Übertreter der Rechte des Menschen" sich der Person anderer bloß als Mittel bedient, ohne zu berücksichtigen, daß sie als vernünftige Wesen „ . . . jederzeit zugleich als Zwecke, d.i. nur als solche, die von eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen." 54 Der Andere muß in meinem Handlungskonzept als Selbstzweck auftreten: d.h., daß ich nur einer solchen Willensentscheidung gemäß handeln darf, die sich aus einer g e m e i n s a m e n Selbstgesetzgebung ergibt. Diese m o r a l i s c h e Verbindlichkeit wird in der Rechtsphilosophie, etwa in der Theorie vom Vertrag, auf den „geeinten Willen" begründet, demgemäß sich die Vertragspartner zu verhalten haben. Aber während der Moralität gemäß gefordert wird, daß ich dem gemeinsamen, mich und den andern als Selbstzweck anerkennenden Gesetz a u s Achtung vor der Person des andern Folge leiste, läßt es das legale Verhalten auch zu, daß ich ζ. B. den Vertrag nur gesetzmäßig, auf Grund einer Be-achtung der vom Gesetz vorgeschriebenen Verhaltensnormen einhalte. Aber die Legalität findet selbst ihre Rechtfertigung durch den moralischen Bezug gegenseitiger Achtung und Anerkennung des Selbstzweckcharakters des andern. Gesellschaft gründet sich auf moralische Gemeinschaft, d. i. das „Reich der Zwecke". Nach diesem Exkurs mag die Aufmerksamkeit auf das dritte Beispiel gelenkt werden. In ihm war, wie auch im geschichtsphilosophischen Entwurf, von der Natur die Rede, die uns Menschen mit Möglichkeiten ausstatte. Von dieser ist zu sagen, daß sich Vernunft durch sie objektiv darstellt und dem Handelnden dadurch die nötige Weltorientierung ermöglicht. Diese Natur macht das praktische Gesetz in der Vorstellung einer idealen, vorbildlichen Welt greifbar. Wenn wir Talente haben, so gehören sie „. . . zum Zwecke der Natur in Ansehung der Menschheit in unserem Subjekt. . .". 5 5 Das heißt: Natur verbindet damit, daß sie uns mit Talenten ausstattet, eine nähere Bestimmung unseres Selbstzweckcharakters. Daher ist es unsere Pflicht, sie zu kultivieren.

52 53 54 55

IV, IV, IV, IV,

S. S. S. S.

433. 430. 430. 430.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Im vierten Beispiel geht es um die Pflicht, andern zu helfen. Diese wird so gerechtfertigt und begründet, daß die von der Vernunft vorbildhaft entworfene Natur zu Grunde gelegt wird, deren „Absicht" es sei, daß die Menschen nach ihrer Glückseligkeit streben. Das selbstgegebene Gesetz und der gemeinsame Wille, von dem als einem Willen der moralischen Gemeinschaft die Rede war, macht auch die relativen Zwecke der Glückseligkeit des Einzelnen zu einer gemeinsamen Aufgabe. Selbstgesetzgebung schließt, so hat sich gezeigt, die Selbsteinweisung der Person in einen Stand ein, von dem aus sie den Zweck der Sachen bestimmt. Weiterhin hat sich gezeigt, daß dieses nach einem gemeinsamen, gemeinschaftlichen Willen der Personen geschieht. Das ist der Sinn der Rede Kants von der „Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als a l l g e m e i n g e s e t z g e b e n d e n W i l l e n s " . 5 6 Die Gemeinsamkeit und Allgemeinheit der durch Selbstgesetzgebung (Autonomie) bestimmten Willen ist in der Idee einer uns umfassenden und unsere Existenz begründenden „Natur" als der Welt unseres Handelns vor-zustellen. Diese Welt ist ein „Reich der Zwecke". Sie ist nur unter der Voraussetzung vorstellbar, daß sich das Subjekt in einem spezifischen Denk-akt in sie versetzt und auf ihrem Boden Stand genommen hat. „Ich verstehe aber unter einem R e i c h e die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschafliche Gesetze." Moralität besteht in der „Beziehung aller Handlung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist." 5 7 Die S t e l l u n g der Person in diesem Reich der Zwecke verleiht ihr W ü r d e , während die als „Sachen" in dieser praktischen Welt begegnenden Dinge einen „Marktpreis" haben. Das Reich der Zwecke wird zugleich als „Reich der Natur" angesprochen 5 8 : diese von der praktischen Vernunft als Vorbild unseres Handelns entworfene Natur ist nicht mit der identisch, die wir „bestimmen", beherrschen und der wir in der transzendentalen Konstellation das Netz der Notwendigkeit überwerfen. Vielmehr ist das „Reich der Natur" die Welt, in die wir uns selbst hineinzudenken haben und in der wir die Rolle von Personen übernehmen. Nur diejenigen Maximen können wir auf Grund unserer praktischen Vernunft w o l l e n , die dieser vorbildhaften Natur gemäß sind. Die inhaltliche Beschreibung des Reiches der Zwecke wird nach dem Vorbild einer bürgerlichen Gesellschaft gegeben. „Die Sittlichkeit besteht 56 57 58

IV, S. 432. IV, S. 434. IV, S. 436.

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in dem Verhältnis freier Handlungen mit den Gesetzen (Bedingungen) des allgemeinen Willens, entweder der Menschheit oder der Menschen. Der allgemeine Wille der Menschheit geht auf die Erhaltung dessen, was zu den der menschlichen Natur wesentlichen Zwecken gehört. Der allgemeine Wille der Menschen besteht in dem Gegenstande oder der Form der Handlungen, dadurch er unabhängig von jeder besonderen Neigung wird. Er bedeutet den Willen eines jeden Teils, den Willen, der auf einen jeden gerichtet sein k a n n " . 5 9 Der Zusammenhang, den praktische Vernunft des Handelnden entwirft, um ihn als Maßstab für die Beurteilung und eventuelle Rechtfertigung seiner Maxime zu gebrauchen, hat die Struktur einer juridischen Weltgesellschaft. Die allgemeine praktische Gesetzgebung der „intelligiblen Natur", von der im Lehrstück vom kategorischen Imperativ die Rede ist, zeigt eine juridische Physiognomie. Sie wird als eine institutionalisierte Ordnung des gegenseitigen Verhaltens der Personen gedacht: in ihr vergegenwärtigen die handelnden Subjekte die Konstellation, in der sie zu den Mitpersonen und den praktischen „Objekten" stehen. In dieser Konstellation übernimmt das praktische Subjekt die Rolle des Selbstzwecks, den es auch den andern Subjekten zuerkennt. Damit macht Kant von einer Perspektive Gebrauch, in welcher Handeln nicht einseitig als Ereignis zu sehen ist, das vom individuellen Subjekt verantwortet wird. Vielmehr begreift sich das handelnde Individuum vom Standpunkt eines juridisch-gesellschaftlichen Weltzusammenhanges her und orientiert sich an ihm. Eine Versöhnung des gesellschaftlichen „Systems" 60 mit dem Anspruch des Handelnden auf individuelle Autonomie wird auf dem Wege dieser Vermittlung über den Entwurf einer juridischen Weltgesellschaft möglich: aber nur unter der Voraussetzung, daß dieses System nicht nur als empirische, sondern zugleich als vernunftdurchdrungene Wirklichkeit gedacht wird. Ein späterer Blick auf die Geschichtsphilosophie Kants wird in analoger Weise ergeben, daß die Orientierung an der Idee einer geschichtlichen „Natur" qua verwirklichter gemeinsamer Vernunft die Grundlage für ein Selbstbegreifen des Handelnden als geschichtlichen Wesens abgibt. Wenn davon die Rede war, daß das transzendentale „Subjekt" seinen Sub-jektcharakter dadurch bewährt, daß es sich selbst auf die Stelle 59 60

X I X , S. 212 (Reil. 6950). Dieser Terminus wird im gegenwärtigen Zusammenhang nicht in der Bedeutung gebraucht, die Kant ihm gibt, sondern in derjenigen, die in gegenwärtigen sozialphilosophischen Handlungstheorien (Systemtheorie) aktuell ist.

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verweist, von der aus es den Grund für die Bestimmung der zu erkennenden und zu konstruierenden Objekte legt, so ist das praktische Sub-jekt damit befaßt, sich die Rolle des Selbstzwecks zu übertragen, der die relativen Zwecke bestimmt. Es ist nicht ein „zu bewirkender", sondern „ s e l b s t ä n d i g e r " Zweck, der den Charakter des praktischen Subjekts bestimmt. E r kann „. . . nichts anders als das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses zugleich das Subjekt eines möglichen schlechterdings guten Willens ist . . . " 6 1 Kant spricht das Reich der Zwecke auch als „ W e 11 vernünftiger Wesen" (mundus intelligibilis) an. Sich als Bürger dieser Welt verhalten, heißt, „. . . seine Maxime jederzeit aus dem G e s i c h t s p u n k t e (gesp. v. Verf.) seiner selbst, zugleich aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen)" zu nehmen. 6 2 Nun sind wir Menschen zwar vernünftige, aber keine „rein" vernünftigen Wesen: W i r sind auch unvernünftigen Antrieben ausgesetzt. Im kategorischen Imperativ spiegelt sich diese Heterogeneität in unserer Situation, sofern er verlangt, daß wir u n s e r e Maxime am Vorbild einer allgemeinen Gesetzlichkeit bzw. der gemeinsamen Zwecknatur zu messen haben. Er ist ein synthetischer Satz a priori: er „verbindet" das Intelligible und das Sensible in uns. Wie ist diese Verbindung möglich? Damit ist die Zentralfrage der „Kritik der praktischen Vernunft" gestellt. Wie in der Kritik der reinen theoretischen Vernunft im Bereich der „Dialektik" die Aufgabe gegeben war, solch heterogene Prinzipien wie Freiheit und Notwendigkeit in einem einigen Denkzusammenhang ohne Widerstreit zu denken, so kommt es auch bei der Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs darauf an, die Vernünftigkeit im Menschen mit dem Prinzip seiner Sinnlichkeit zur Einheit zu bringen. Wie dort die Lösung der Aufgabe durch ein Denkverfahren erreicht wurde, das wir als „methodischen Gebrauch von Weltperspektiven" bezeichnet haben, so kommt diese Methode auch bei der Grundfrage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs zur Geltung. 61 62

IV, S. 437. IV, S. 438.

Praktisches Sein und Sollen

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8. Die praktische Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit und der methodische Gebrauch von Weltperspektiven: das praktische Sein und das Sollen Bei der Berufung auf die copernicanische Wendung in der Vernunftkritik war davon die Rede, daß der Denkende einen prinzipiellen Stand der F r e i h e i t einnehme, um von ihm aus solche Perspektiven und Standpunkte in Gebrauch zu nehmen, die für die Entscheidung in dialektischen Widerstreitsituationen erforderlich sind. In der praktischen Philosophie treten als streitende, um die Herrschaft über das handelnde Subjekt kämpfende Prinzipien die Freiheit und der ihr gemäße Entwurf einer intelligiblen Welt einerseits und die Sinnlichkeit mit ihren Triebkräften andererseits auf. Dieser Kampf setzt sich innerhalb des praktischen Denkens selbst an dem Punkte fort, an welchem Freiheit einerseits und Unterwerfung unter das praktische Gesetz bzw. Verpflichtetsein ihm gegenüber andererseits konfrontiert werden. N u r für das auch in der Sinnlichkeit wurzelnde Vernunft-wesen gibt es Sollen, Verpflichtung und Verbindlichkeit. D e r Begriff der Freiheit, positiv verstanden, besagt nicht nur, daß natürliche Ursachen bei der freien Entscheidung als b e s t i m m e n d e Gründe keine Rolle spielen, sondern daß die Weltgesetzgebung, an der sich der Handelnde orientiert, Autonomie bedeutet. Es besteht die Möglichkeit, den kategorischen Imperativ „analytisch" aus dem positiven Begriff der Freiheit abzuleiten. Ebenso kann man umgekehrt die Freiheit aus der Autonomie gewinnen. So wird sichtbar, daß sich das analytische Denken in einem Zirkel verfängt, wenn es den Begriff der positiven Freiheit aus der Autonomie g e w i n n e n will: denn diese ist ihrerseits aus der Freiheit zu bestimmen. Daß der Zustand der Freiheit von „bestimm e n d e n " Ursachen von Seiten der Natur in positiver Betrachtung zugleich die S e l b s t v e r p f l i c h t u n g gegenüber einem dem Naturzusammenhang überlegenen G e s e t z bedeutet, muß durch ein Denken begriffen werden, welches über die Möglichkeit verfügt, die Zirkelhaftigkeit zu überwinden. Für das analytische Denken zeigt sich, „ . . . man muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht herauszukommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben; denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe,

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davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um in l o g i s c h e r (gesp. v. Verf.) Absicht verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande auf einen einzigen Begriff (wie verschiedene Brüche gleichen Inhalts auf die kleinsten Ausdrücke) zu bringen." 6 3 Daß Freiheit als Autonomie und Selbstzweck zugleich Selbstverp f l i c h t u n g gegenüber dem von der Vernunft gegebenen Gesetz und Unterwerfung unter dieses bedeutet, kann nicht durch bloß l o g i s c h e Zergliederung, weder des Begriffs der Freiheit noch des Begriffs des Gesetzes, eingesehen werden. Daß wir uns vom empirischen Interesse trennen, „d. i. uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Wert bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserem Zustand einen Wert verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin w o h e r das m o r a l i s c h e G e s e t z v e r b i n d e , können wir auf solche Art noch nicht einsehen." Um den Menschen als Freiheit und zugleich als Beherrschtsein vom Gesetz begreifen zu können, ist ein Denken gefordert, welches sich einmal auf den Standpunkt der Vernunft und ihres Gesetzes stellt, um von hieraus in die Richtung dessen zu blicken, für den die Gesetzgebung gemünzt ist: das menschliche Subjekt. Das andere Mal hat das philosophische Denken den Standpunkt des m e n s c h l i c h e n Subjekts einzunehmen, welches auch widervernünftigen Antrieben ausgesetzt ist. Diese Perspektive weist in die umgekehrte Richtung, die vom Subjekt zum Gesetz hin zeigt. Jetzt begreift sich das Subjekt als verpflichtet durch das S o l l e n , als unterworfen unter das Gesetz und als zur Herrschaft der praktischen Vernunft gehörig. In der ersten Perspektive wird sich der Mensch als Herr erkennbar, während er in der zweiten die Rolle des Knechts der Vernunft spielt. Analytisches Denken verfügt nicht über die Möglichkeit verschiedener Perspektiven. Es vollzieht sich auf einem ihm vorgegebenen Standpunkt: daher vermag es aus dem erwähnten Zirkel nicht auszubrechen. Um ihn zu überwinden, bleibt uns folgende Auskunft übrig: „nämlich zu suchen: ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen S t a n d p u n k t (gesp. v. Verf.) einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor Augen sehen, uns vorstellen." Dadurch, daß wir uns den Stand der freien Ursache selbst 63

I V , S. 450.

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anweisen, versetzen wir uns in eine W e l t mit eigentümlicher Gesetzgebung, die wir von der Welt der Erscheinungen und deren gesetzlichem Gefüge zu unterscheiden haben. Wir machen d e n k e n d von der Freiheit des Standnehmens Gebrauch, um uns als zu einer „intellektuellen Welt" zugehörig verstehen zu können, deren eigentümlich praktischer Gesetzgebung wir uns verpflichten müssen, wenn wir den Stand der Freiheit behaupten wollen. 6 4 Praktisches Denken, welches Freiheit zusammen mit Selbstverpflichtung begreift, muß selbst freies H a n d e l n sein, in welchem sich das handelnde und philosophierend über sich reflektierende praktische Subjekt einen Selbst-stand als unbedingte Ursache für hervorgebrachte Wirkungen gibt. Das philosophische Denken legt sich die Frage vor, „woher das moralische Gesetz verbinde" und vollzieht zur Beantwortung dieser Frage den freien Denkschritt zur Freiheit und den Entwurf einer intelligiblen Welt und deren Gesetzgebung. Es vollzieht in methodischer Bewußtheit die Handlung des Standnehmens auf dem Boden der intellektuellen Welt, die ihm die Perspektive der Freiheit für die Beurteilung der eigenen Situation, seines Handelns und seiner Begründungs- und Motivierungsmöglichkeiten bietet. Es vollzieht die Bewegung mit methodischem Bewußtsein noch einmal, die das p r a k t i s c h e Denken bei seiner Orientierung an der „allgemeinen" Gesetzgebung immer vollzieht. Unsere Zugehörigkeit zur Sinnenwelt, von der diese Bewegung ausgegangen ist, wird durch sie nicht verneint, sondern in eine neue Perspektive gerückt: in diejenige der intelligiblen Welt bzw. der Freiheit. Als Wesen, die trotz ihres Ubergangs zu dieser Welt immer noch in derjenigen wurzeln, von der sie herkommen und die noch deren Sinnlichkeitskräften ausgesetzt sind, können wir nicht zu reinen Repräsentanten der Gesetzgebung werden, deren Boden wir erreicht haben. Wir bleiben jederzeit den Antrieben der sinnlichen Natur ausgeliefert. Die praktische Gesetzgebung bestimmt unser Sein durchaus nicht allein: daher hat sie für uns „nur" die Geltung des Sollens, der Pflicht, der Verbindlichkeit. Die Bewegung des praktischen Denkens über den Sinnenbereich hinaus auf den Boden der intellektuellen bzw. „intelligiblen" Welt eröffnet uns die Möglichkeit, uns selbst in die Perspektive der Freiheit zu rücken. In dieser Perspektive wird von der Natur-heteronomie abstrahiert: wir sehen uns von der rein vernünftigen Seite. Aber als sinnlich-vernünftige Wesen, die sich selbst unter die Perspektive der Vernunftherrschaft und des Verpflichtetseins 64

IV, S. 451. Das Wort „intellektuell" wird mit „intelligibel" synonym gebraucht.

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rücken, treten wir in Erscheinung, wenn wir uns nach dem Grunde des Sollens, des Pflichtcharakters und der Verbindlichkeit des Gesetzes fragen. Im Unterschied zum „analytischen" Denken muß das den Bezug von Freiheit und Verpflichtung begreifende Denken Handlungen wie Bewegung, Standnehmen, Aufschließen von Perspektiven und deren methodischen Gebrauch berücksichtigen. Dadurch wird es allein möglich, die zirkelhafte Situation zu überwinden, aus der das analytische Denken nicht herausfindet. Auf Grund des Übergangs vom Standpunkt des mundus sensibilis zu demjenigen des mundus intelligibilis hat sich das Denken in Praxis und dann auch in philosophischer Theorie einen Maßstab für die Beurteilung jeweils einer Situation verschafft: es hat die Möglichkeit gewonnen, von zwei verschiedenen Perspektiven Gebrauch zu machen, in die sich das theoretisch-praktische Subjekt selbst zu rücken vermag und hinter denen es seine Einheit denkt. Nur ein diese Bewegung vollziehendes, selbst h a n d e l n d e s Denken ist im Stande, Freiheit und Unterwerfung unter die Herrschaft des praktischen Gesetzes als zusammengehörig dadurch zu e r k e n n e n , daß es sich auf den Boden der intelligiblen Welt und der praktischen Gesetzgebung stellt und die Situation der Herrschaft dieses Gesetzes herstellt. Unter dieser Voraussetzung kann der Verdacht behoben werden, „als wäre ein geheimer Zirkel in unserem Schlüsse" verborgen, sofern wir „. . . vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen, mithin von jenem gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als Erbittung eines Prinzips, das uns gutgesinnte Seelen wohl gerne einräumen werden, welches wir aber niemals als einen erweislichen Satz aufstellen könnten. Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei danken, so v e r s e t z e n (gesp. v. Verf.) wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig." 65 Wir betrachten uns in zwei verschiedenen Perspektiven, wenn wir uns einerseits als frei, andererseits zugleich auch als unter die Herrschaft des Vernunftgesetzes gestellt erkennen und beide Charaktere, den der Freiheit und den des Beherrschtseins durch Vernunft vermöge ihrer Gesetzgebung, als zwei verschiedene Aspekte ein und derselben praktischen Verfassung einsehen. Durch be65

IV, S. 453.

Praktisches Sein und Sollen

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wußten Gebrauch von verschiedenen Weltperspektiven und durch die Behauptung eines Standes m ö g l i c h e r Standpunkte können wir unvereinbar scheinende Aspekte zur Einheit bringen. Der Denkende muß sich durch Ubergang zum Orientierungszusammenhang der „intelligiblen Welt" (Verstandeswelt) in den Besitz der Perspektive möglicher verfügbarer Perspektiven setzen, um entweder „sich selbst als I n t e l l i g e n z (also nicht von Seiten seiner untern Kräfte), nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig", ansehen oder sich in der Perspektive seiner Naturzugehörigkeit verstehen zu können. Das Subjekt hat „zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen erkennen kann, e i n m a l , sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), z w e i t e n s , als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind." 6 6 Hierbei begegnet ein dialektischer Schachzug, von dem Kant immer dort Gebrauch macht, wo es darum geht, solche Motive miteinander in Einklang zu bringen, die im „Widerstreit" miteinander zu liegen und die Einheit der Vernunft mit sich selbst zu zerstören drohen. Hier ist es darum zu tun, den Anspruch auf Freiheit im Sinne der Selbst-ständigkeit mit dem ihm widerstreitenden Anspruch der praktischen Vernunft in Einklang zu bringen, uns unter ihre Herrschaft zu bringen und ihrem praktischen Gesetz zu verpflichten. Beides ist von einem überlegenen Standpunkt und dessen Perspektive aus miteinander vereinbar, sofern man von der von ihm gebotenen Möglichkeit Gebrauch macht, auf uns einerseits die Perspektive der reinen praktischen Vernunftwelt anzuwenden, uns andererseits in diejenige der auf Vernunftbestimmungen ausgerichteten Sinnenwelt zu rücken. Wir erkennen uns dann nicht trotz unseres Unterworfenseins unter das Sittengesetz, sondern auf G r u n d dieses Unterworfenseins als frei. D e r m e t h o d i s c h e G e b r a u c h von W e l t p e r s p e k t i v e n b e g r ü n d e t die M ö g l i c h k e i t des k a t e g o r i s c h e n I m p e r a tivs. Wenn man von hier aus auf die gedankliche Szenerie der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit in der Vernunftkritik blickt, so ergibt sich eine entsprechende Gedankenfigur des methodischen Gebrauchs von Weltperspektiven. Hier ist es so, daß sich das philosophische Denken auf Grund seiner copernicanischen Wendung in den Stand versetzt hat, von dem aus es auf sich selbst die Perspektive der Freiheit und die der Natur66

IV, S. 452.

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„Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

notwendigkeit anzuwenden vermag. Werden Freiheit und Notwendigkeit als verschiedene, notwendige Perspektiven durchschaut, dann vermag dialektische Vernunft den Widerstreit zwischen den Standpunkten der Freiheit und der Notwendigkeit durch einen Richterspruch zu beenden. Die Freiheit des methodischen Gebrauchs der verschiedenen Weltperspektiven gehört mit zur theoretischen Selbstgesetzgebung der Vernunft, die eine Selbstaufforderung zu einem Experiment mit sich enthält: „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten . . ." (Β XVI). Als vernünftiges „. . . mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als u n t e r (gesp. v. Verf.) der Idee der Freiheit denken . . ," 6 7 Dazu gehört eine Aussage, in welcher die Bewegung des praktischen Denkens, durch welche ich mich „unter" diese Idee stelle, zugleich diejenige des Standnehmens auf dem Boden der intelligiblen Welt ist und Verwirklichung der Freiheit durch dieses Standnehmen bedeutet. „Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als u n t e r der Idee d e r F r e i h e i t handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind." 68 Praktisches Denken stellt durch den Übergang auf den Boden der durch praktische Vernunft beherrschten intelligiblen Welt an sich und zugleich für sich eine Verfassung der Freiheit her: es verwirklicht Freiheit an sich selbst durch seine eigene Stellungnahme. Ein anderer Ausdruck dafür ist, daß es die Welt der Vernunft „ r e p r ä s e n t i e r t " . Durch den Begriff der Repräsentation kommt ein Aspekt des handelnden Bewußtseins in den Blick, bei welchem es um die Basis zu tun ist, die im Handelnden als Grundlage für seine Beratungen, Entscheidungen und Realisierungen besteht. Ich spreche im Hinblick darauf vom „praktischen Sein" des Handelnden. Indem ich den Stand der intelligiblen Welt und ihrer vernünftigen Gesetzgebung behaupte, stelle ich in mir ein „ I n t e r e s s e " an der Freiheit und ihren Gesetzen her. Dieses wird durch die Um-stellung meiner natürlichen Antriebe und deren Ein-stellung auf freie gewählte Vernunftzwecke gebildet. Auf das Interesse treffen auch die über das moralische Gefühl gemachten Bemerkungen zu. Moralisches Interesse ist ebenso wie 67

IV, S. 452. S. 448.

68IV,

Praktisches Sein und Sollen

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moralisches Gefühl nicht ein im praktischen Subjekt von seiner Natur mitgegebenes Verlangen nach Moralität, nicht als gutartige Anlage zu betrachten, denn dann würde es nicht „praktisch", sondern „pathologisch" sein. Vielmehr ist von ihm zu sagen, daß ich es handelnd auf Grund meines Standnehmens auf dem Boden der praktischen Vernunftwelt selbst „ n e h m e " . 6 9 Mit „Interesse" und „moralisches Gefühl" sind Charaktere des praktischen Subjekts angesprochen, in denen dieses als Grund-lage für sein praktisches Denken, Handeln und Sprechen in sich eine Verfassung herstellt, die man auch als „zweite" Natur ansprechen kann. Im später zu erörternden Lehrstück von der „Achtung" kulminiert der Gedankengang, der sich mit dem Aufbau der „zweiten", vom Subjekt selbst produzierten Natur befaßt, in der sich Freiheit und Natur verbinden. In die Richtung dieses Prinzips weisen die Überlegungen derjenigen Philosophen, welche die Willensentscheidung nicht jedesmal an einem Nullpunkte beginnen lassen wollen, sondern als Fundament des Entscheidens und Handelns eine Art moralischer „Substanz" zugrunde legen, die das praktische Subjekt im Verlaufe der Geschichte seiner Selbstwerdung gewonnen hat. Der Standpunkt der in jedem Augenblick von einem Nullpunkt aus geschehenden Entscheidung ist primär am S o l l e n orientiert, während diejenige Position, die sich auf die Stabilisierung einer inneren Verfassung des praktischen Bewußtseins beruft, im Sinne eines „praktischen S e i n s " argumentiert. In den vorliegenden Untersuchungen wird es als Aufgabe angesehen, diejenigen von Kant erörterten Begriffe hervorzuheben, aus denen sein Interesse nicht nur am Prinzip des Sollens, sondern auch an dem des praktischen Seins erkennbar wird. Zu den Charakteren der Verfassung des Subjekts, die dem praktischen Sein zugeordnet werden müssen, gehört die Ausrichtung der Triebsphäre auf Vernunftzwecke, das moralische „Interesse", die „Achtung" vor dem Gesetz, die Verwirklichung und Befestigung der Herrschaft der Vernunft über das Subjekt und über die Gesellschaft sowie das Prinzip des Gut-seins im Gegensatz zum Böse-sein, von welchem in der Religionsphilosophie die Rede ist. Wenn man den praktischen Zustand des Menschen mit einer Waage vergleicht, an deren einer Schale sich die Antriebe der Natur, auf der andern die Vernunft-gewichte befinden, so können die letzteren nicht nur in argumentativen Gründen bestehen: sie müssen die Form von Triebkräften, praktischen Impulsen annehmen, wenn sie ein Übergewicht der Vemunftschale bewirken sollen. Nur als Trieb bzw. „Gefühl" und 69

I V , S. 449.

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.Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

Interesse 70 kann Vernunft eine Wirkung auf das Subjekt ausüben und sein praktisches Sein, nicht nur sein Bewußt-sein bestimmen. Praktisches Interessiertsein kann als Verfassung angesehen werden, in welcher uns Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes zu überzeugen vermag. Praktisches Interesse ist eine „ T r i e b f e d e r " für die Befolgung des moralischen Gesetzes. Auf rein analytischem Wege, der nichts von einer Denkhandlung des Stand-nehmens auf dem Grunde der intelligiblen Welt weiß, könnten wir auf die Frage keine Antwort geben: „ . . . warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein m ü s s e (gesp.v.Verf.) . . . " . 7 1 Das Interesse an der Verwirklichung des Freiheitsgesetzes ist für analytisches Denken immer „voraus-gesetzt". Es kann nicht einsehen, daß wir uns vom empirischen Interesse zu trennen haben und uns „als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Wert bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserm Zustande einen Wert verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin w o h e r das m o r a l i s c h e G e s e t z v e r b i n d e . " 7 2 Die Frage nach dem praktischen Sein ist zugleich diejenige nach der K r a f t der Verbindlichkeit des praktischen Gesetzes. Im praktischen Interesse ist solch eine Kraft verkörpert, über welche das praktische Sein des Handelnden verfügt; es kann als praktische, rationale Leidenschaft für Freiheit und ihr Gesetz angesehen werden. Der Vorwurf Schillers, Hegels und in deren Richtung weitergehender Kant-Kritiker bis zum heutigen Tage, Kant habe eine unversöhnliche Kluft zwischen Sein und Sollen aufgerichtet, kann demgemäß nur eingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. Die Kritiker gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß Kant das Sollen als wirklichkeitsjenseitige Forderung praktischer Vernunft und als permanente Aufgabe für das Subjekt auffasse, ohne Handeln auf ein praktisches Sein zu gründen. Demgegenüber ist zu sagen, daß Kant dem Sollen den Charakter der Verbindlichkeit und Notwendigkeit nur in dem Maße zubilligt, in welchem ihm ein praktisches „Sein" Uberzeugungs- und Wirkungskraft verleiht. Daher sieht er den Imperativ nicht bloß als vor-gestellte Aufgabe an, sondern als Forderung, die auf das praktische Subjekt und sein Sein einwirkt. Der Imperativ ist Grund und Ursache für das Praktisch-werden der Vernunft.

70 71 72

Hierzu Volker Gerhardt, Vernunft und Interesse, Diss. Münster 1976. IV, S. 449. IV, S. 450.

Praktisches Sein und Sollen

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Das Subjekt verwirklicht ihn durch sein praktisches Sein an sich selbst. „Bestimmungs-grund" ist praktisches Argument und wirkende Ursache des Handelns zugleich. Ziel ist die Herstellung eines verläßlichen, stabilen Vernunftcharakters des menschlichen Handelns: dem entspricht die Bildung eines zu vernünftigem Handeln fraglos entschlossenen Charakters des Menschen: des „praktischen Seins". Mit diesem Begriff wird ein zum Sollen komplementäres Prinzip zur Geltung gebracht. Verweist man den Handelnden vorwiegend auf das, was er tun s o l l , so versetzt man ihn in die Unruhe und Unbeständigkeit immer neu zu vollziehender Reflexion. Man stellt ihm die Aufgabe, in jedem Augenblick der Geschichte seines Handelns neu zu beraten und zu entscheiden. Demgegenüber besteht a u c h das Bedürfnis, Handeln in einem festen und sicheren Fundament dadurch zu verankern, daß dem Handelnden die Aufgabe gestellt wird, in sich eine verläßliche Verfassung herzustellen, die ihn zum fraglosen Handeln fähig macht. Dem wird der Begriff des praktischen Seins gerecht. In dessen Richtung gehen die Thesen Hegels zur „Sittlichkeit", die er als komplementäres Prinzip zu der von Kant beschriebenen „Moralität" zur Geltung bringen wollte: er hat damit dem Handelnden einen Rückhalt in Sitte, Brauch, Institution zu geben versucht, der ihn von einer auf die Spitze getriebenen Verpflichtung zu moralischer Reflexion und individueller Verantwortlichkeit entlasten sollte. Im Gegensatz zu dem geläufigen falschen Bilde von der angeblichen Einseitigkeit der Kantischen Sollensethik, an dem Hegel nicht unschuldig ist, hat Kant den Handelnden nicht nur an Sollen und Reflexion verwiesen. Er hat auf die Bildung des praktischen Seins und auf „Moralisierung" die Aufmerksamkeit gelenkt. Die Errichtung dauernder Herrschaft der Vernunft über den Menschen, die freilich vollkommen im endlichen Leben nicht möglich ist, und die Bildung eines praktischen Seins im Sinne eines stabilen Handlungscharakters sind maßgebende Themen seiner Moral- und Religionsphilosophie. In diese Überlegungen münden die Erörterungen über die Rolle des „Gefühls" bzw. der moralischen „Empfindung" ein. Wenn durch eine Bewegung des Denkens ein Standnehmen auf dem Boden der intelligiblen Welt vollzogen wurde, dann ist die Voraussetzung für die Herstellung einer dauerhaften Anlage zu vernünftigem Denken und Tun gegeben: der Mensch „empfindet" sich dann „im Allgemeinen". Eine Skala von Modalitäten dieser moralischen „Empfindung" bzw. des praktischen Gefühls entspricht einer Stufenfolge von Graden der Macht, die Vernunft über den Handelnden gewinnt. Zu dieser Skala gehören der „gute Wille", Gewis-

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.Praktisches" Handeln und Idee der Handlungswelt

sen, moralischer Geschmack und moralisches Gefühl 73 , als dessen reifste Gestalt sich die Achtung erweist. Im folgenden mag zunächst auf Gesinnung und Gewissen die Aufmerksamkeit gelenkt und dann eingehend auf die Achtung eingegangen werden. 73

Vgl. den Abschnitt 4 des IV. Kap. (S. 203 f.), in welchem über die Verwandlung der Triebstruktur unter dem Einfluß des guten Willens die Rede ist.

V. Kapitel

Praktisches Sein, Herrschaft der Vernunft und Dialektik der praktischen Vernunft 1. Gesinnung und

Gewissen

Das Bild der Kantischen Moralphilosophie wurde von früh an durch solche Interpreten einseitig bestimmt, welche ihn für eine Auffassung verantwortlich machten, die man als Nullpunkttheorie bezeichnen kann. Man hält Kant vor, er habe die Auffassung forciert, daß die moralische Geschichte eines Menschen in jedem Augenblick von vorne anfängt und als Abfolge vieler einzelner Handlungsaugenblicke zu begreifen sei, in deren jedem immer wieder moralische Reflexion gefordert wird. Dabei werde das Subjekt aufgefordert, seine Pflicht, den Inhalt seines S o l l e n s in einsamer Reflexion zu erkennen. Da Kant einen scharfen Unterschied zwischen Sein und Sollen macht, hat man ihm vorgeworfen, er gründe die Handlungsinitiative auf eine Entscheidung, die in jedem Augenblick durch neu vollzogene Überlegung gerechtfertigt werden muß, als ob der Handelnde immer wieder vom Nullpunkt anfinge. Hegels Bild von der „Moralität", die er als Kantische Position deklariert, ist durch diese Züge bestimmt. Die Kritiker Kants haben mit Recht das Prinzip zur Geltung gebracht, welches ich als dasjenige des „praktischen Seins" bezeichne. Mit diesem Prinzip wollte man auf Züge der Notwendigkeit, Verläßlichkeit und Fraglosigkeit aufmerksam machen, die der Handelnde oder die Gemeinschaft der Handelnden im Zuge ihrer Geschichte des praktischen Denkens und Tuns ausgebildet und in ihren „Charakter" aufgenommen haben. Der Begriff der „zweiten Natur" steht damit im Zusammenhang. Er bedeutet, daß der Handelnde in sich einen Charakter ausgebildet hat, der sein Handeln mit einer Art freier Notwendigkeit so bestimmt, als wäre die von jeder Reflexion unberührte Natur am Werke. Man hat gegen den Primat, den Kant dem „Sollen" angeblich gegenüber dem „Sein" zubilligt, ins Feld geführt, daß die einsame Erkenntnis des Sollens zu ohnmächtig sei, um im Subjekt eine Entscheidung herbei-

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Herrschaft und Dialektik

zuführen. Dabei wurde ignoriert, daß Kant das Problem des Mächtigwerdens der Vernunft über das Subjekt unter dem Titel der „Triebfeder" an eine wesentliche Stelle seiner Moralphilosophie gerückt hat. Die erste Frage, die er gestellt hat, war die nach der Quelle der Pflicht und der Methode ihrer Erkenntnis. Gleich danach kommt als zweite Frage: Welche Bedingungen sind für die Durchsetzung und Verwirklichung des moralischen Gesetzes in Gesinnung und Handlung gegeben?1 Diese zweite Frage hat die Herrschaft der Vernunft über den Menschen zum Thema. Um sie zu beantworten, wird das ethische Denken auf einen Weg geführt, auf welchem ihm das praktische S e i n in solchen Gestalten wie denen der Pflichtgesinnung, des moralischen Geschmacks, des moralischen Interesses und vor allem der Achtung vor dem Sittengesetz und der Person des andern begegnet. „Wenn ich durch den Verstand urteile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe . . . Urteilen kann der Verstand freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß es seine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen." 2 Um im Handelnden eine Triebfeder wirken zu lassen, dazu sind Prinzipien verantwortlich zu machen, welche eine feste und dauerhafte moralische Verfassung im Menschen bewirken. Nach kantischer Voraussetzung wird dem Handelnden nicht nur unbegrenzte moralische Reflexion nicht zugemutet, sondern ihre Überwindung durch die Herstellung eines praktischen Seins wird gefordert, damit es überhaupt zum Handeln kommen kann. Zunächst ist es darum zu tun, zu begreifen, wie die Bildung praktischen Seins geschieht und die Vernunft im handelnden Subjekt zur Herrschaft zu kommen vermag. Damit wird die erste Phase in der Geschichte der Handlung thematisch, in welcher es um die Bildung der moralischen Verfassung geht. Wie durch Handeln Vernunft nach „außen" hin realisiert werden kann, diese Frage verweist auf ein später zu behandelndes Thema. Zum Thema: Praktisches Sein gehören Aussagen, die von Kants Voraussetzung aus über die moralische „Gesinnung" zu machen sind. In der 1

2

VI, S. 2 1 8 : „Zu aller Gesetzgebung . . . gehören zwei Stücke: e r s t l i c h ein G e s e t z , welches die Handlung, die geschehen soll, o b j e k t i v als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht, z w e i t e n s eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung s u b j e k t i v mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft . . . " . P. Menzer, Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, S. 54.

Gesinnung und Gewissen

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Gesinnungsethik steht die Bildung der moralischen Verfassung im Mittelpunkt, in welcher das praktische Subjekt seine Handlungen ausführt. Eine gesinnungsethische Aussage Kants von charakteristischer Art ist der erste Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in welchem er vom guten Willen sagt, daß er als das einzige absolut Gute in der Welt angesehen werden müsse. Der „gute Wille" ist eine Bestimmung des praktischen Seins des Handelnden: er ist gegeben, wenn sich der Handelnde zur reinen Handlung in dem Sinne entschließt, daß er sich durch keinen andern „ G r u n d " zur Handlung „bestimmen" (Bestimmungsgrund) läßt, als den, der in seinem eigenen praktischen Denken a priori gegeben ist. Die Herstellung des guten Willens und der „Gesinnung" im Handelnden geschieht mit Rücksicht auf den Anspruch der praktischen Vernunft, ganz aus sich heraus, a priori bestimmend zu sein und die Entscheidung über den Wert der Handlung nicht vernunftfremden Instanzen zu überlassen. Daher legt Kant Wert auf die Beachtung der „ersten" Phase der Geschichte der Handlung im Ganzen, die sich im „Inneren" des praktischen Bewußtseins vollzieht. Im eigenen Hause der praktischen Vernunft kann die Handlung nicht durch fremde, „äußere" Einflüsse verzerrt und in eine nichtverantwortete Richtung abgezogen werden. So besteht die „anfängliche", p r i n z i p i e l l e Situation des Handelnden darin, daß er sich dem selbstgegebenen Gesetz als s o l c h e m verpflichtet. Praktische Vernunft, der er im Falle seiner Entscheidung für Freiheit gegen bloße Natur-bestimmung das maßgebende Wort einräumt, stellt an ihn die Forderung, durch sein Handeln, nicht was von Natur aus ist, aber was er s o l l , zu realisieren. Dabei aber stellt er in seiner Gesinnung ein praktisches Sein zweiter Ordnung her, welches nicht auf natürlicher Anlage, sondern auf Freiheit beruht. Die s o zustande kommende moralische Gesinnung ist eine Verfassung des Handelnden: sein „intelligibler Charakter". Mit dem Adjektiv „intelligibel" ist gesagt, daß dieser Charakter durch reine Vernunfthandlung zustande gekommen und Ergebnis einer freien Selbstproduktion ist. Dieser Charakter hat sich für die Vernünftigkeit (Rationalität) des Handelns und seiner Begründung entschieden: dadurch, daß er sich am selbstgegebenen Gesetz als solchem orientiert. Er besteht als guter Wille darin, daß er sich für seine Maxime allein aus dem „ G r u n d e " entscheidet, weil sie dem Typus von Gesetzlichkeit gemäß ist, die sich in der von der Vernunft entworfenen Handlungswelt findet. An diesem „ T y p u s " orientiert sich der Handelnde, um die I n h a l t e seiner Pflicht zu erkennen. Die Maxime schreibt diesen und keinen Inhalt für die Handlung vor, w e i l er

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Herrschaft und Dialektik

in die Einheit der gesetzlich verfaßten Vernunftwelt paßt und in sie keinen Widerstreit hineinbringt. Der Grund, aus dem dieser Inhalt vorgeschrieben wird, ist B e s t i m m u n g s g r u n d für den Handelnden und damit „Prinzip" der Handlung. Auf diese Weise kann Vernunft „unmittelbar" praktisch werden, weil kein vermittelnder Umweg über natürliche Interessen, Bedürfnisse, Neigungen usw. zugelassen wird. Daß der rationale Kern der Handlungsmaxime zugleich auch Bestimmungsgrund des Handelns wird, gehört zum Wesen der F r e i h e i t . Denn Freiheit ist, zunächst negativ betrachtet, unabhängig von „ b e s t i m m e n d e n " Gründen der Natur. Sie erfordert es, daß der rationale Grund der Handlungsmaxime zugleich auch Bestimmungsgrund für Handeln ist und daß das vorgeschriebene „Material" der Maxime nicht nur als Pflichtinhalt durch den Aufweis ihrer Stimmigkeit mit der idealen Natur gerechtfertigt wird, sondern daß diese Einstimmung zugleich Bestimmungsgrund für die Entscheidung ist. Ein auf vernünftigen Grundsätzen beruhendes und durch sie „bestimmtes" Handeln ist dem Programm der Selbstbestimmung und der Freiheit allein gemäß: daher zeigt es auch den Charakter des praktischen Seins: das ihm immanente Bewußtsein darf Beständigkeit, Verläßlichkeit versprechen, weil es seiner selbst sicher ist. Ein Handeln von dieser Art zeichnet sich durch Beständigkeit vor einem durch Gefühle bestimmten Verhalten aus, welches „Anwandelungen" ausgesetzt ist. Das Preislied, welches z . B . Hume auf die Gefühle, ihre Lebhaftigkeit, ihren Impuls und ihre entscheidungsfördernde Kraft anstimmt, findet in Kant keinen großen Widerhall. Er plädiert im Gegenteil für die Unterstellung der Gefühle unter das Prinzip der Vernunft, die sich auf Grundsätze beruft und einen festen und dauerhaften Charakter im Handelnden, auf den man sich verlassen und dem man vertrauen kann, herzustellen vermag. Man muß sich auf rationales Begründen einstellen, um einen auf moralischer Gesinnung beruhenden „Charakter" zustande zu bringen. „Alle G e f ü h l e , vornehmlich die, die so ungewohnte Anstrengung bewirken sollen, müssen in dem Augenblicke, da sie in ihrer Heftigkeit sind, und ehe sie verbrausen, ihre Wirkung tun, sonst tun sie nichts: indem das Herz natürlicherweise zu seiner natürlichen, gemäßigten Lebensbewegung zurückkehrt, und sonach in die Mattigkeit verfällt, die ihm vorher eigen war, weil zwar etwas, was es reizte, nichts aber, das es stärkte, an dasselbe gebracht war. G r u n d s ä t z e müssen auf Begriffe errichtet werden, auf alle andere Grundlage können nur Anwandelungen zu Stande kommen, die der Person keinen moralischen Wert, ja nicht einmal eine Zuversicht auf sich

Gesinnung und Gewissen

207

selbst verschaffen können, ohne die das Bewußtsein seiner moralischen Gesinnung und eines solchen Charakters, das höchste Gut im Menschen, gar nicht stattfinden kann." 3 Die Gesinnung als der am vemunftgegebenen Gesetz orientierte Charakter des Handelnden bzw. als der gute Wille ist Ursprung des Handelns, dem moralischer Wert zugebilligt werden kann. In diesem Zusammenhang wird die moralische Gesinnung auch als „Prinzip" der Zweckwahl und des Handelns angesprochen. Es kommt auf das Prinzip an, auf Grund dessen Zweckinhalte wie ζ. B. individuelle oder soziale Wohlfahrt gewählt werden. Ob handelnder Einsatz für sie wertvoll oder wertlos ist, entscheidet sich daran, ob er durch das Prinzip Freiheit bestimmt ist oder nicht. Der moralische Wert der Handlung, in der Wohlfahrt verwirklicht wird, hängt davon ab, ob der ihr zugrunde liegende Charakter durch die Pflicht als solche bestimmt wird oder ob nur das Interesse am Wohlleben maßgebend ist. Handlungen, die im Hinblick auf ihre „äußerlich" beschreibbare Geschehensfigur nicht unterscheidbar sind, können grundverschieden sein, wenn man sie von ihrem „Prinzip", der Gesinnung des sie ausführenden Bewußtseins her betrachtet. Eine Hilfeleistung, die aus Egoismus geschieht, ist eine andere Handlung als die, die aus Pflichtbewußtsein getan wird, selbst wenn die dabei beobachtbaren äußeren Charaktere des Handelns dieselben sein mögen. Prinzip ist die Gesinnung des Handelnden auch deshalb, weil sie als intelligibler Charakter das W e s e n der Handlung und zugleich ihren Wert bestimmt. Sie ist nicht nur eine beliebige Eigenschaft des Handelnden, sondern stellt die Verfassung dar, durch welche eine Handlung ihrem Wesen und ihrem Wert nach bestimmt wird. Der „Geist" der Handlung, den Kant auf den intelligiblen Charakter des Handelnden zurückführt, fließt von diesem auf die Handlung ein, deren „Buchstabe" in der sichtbaren und beschreibbaren Figur ihrer Erscheinung zu sehen ist. Der intelligible Charakter ist „Ursprung" der Handlung und ihr sie zur Handlungsgestalt jeweils meiner Handlung vereinigendes Prinzip. Jede Handlung, „unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht," ist die „unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft." (B 581) Ihr Anfang und Prinzip ist die Verfassung des praktischen Bewußtseins, welche sich als „Geist" des Textes der Handlung erweist. In „allen Zeitumständen", also

3V,

S. 157.

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Herrschaft und Dialektik

durch die ganze Geschichte des Handlungsvollzuges hindurch, ist die Vernunft „gegenwärtig und einerlei." (B 584) Spricht man die Situation des Handelns unter der Kategorie der Kausalität an, so stellt sich der intelligible Charakter des Handelnden als „Ursache" dar, als deren Wirkung der Handlungsvollzug anzusprechen ist. Es handelt sich um eine „freie" Ursache, sofern sie in der vom Subjekt selbstgewirkten Verfassung seines praktischen Bewußtseins besteht. Der intelligible Charakter be-gründet sich selbst durch die Gesetzgebung der von der praktischen Vernunft entworfenen Welt: er kann im Hinblick auf die einzelne Handlung als deren „intelligible Ursache" angesehen werden. So ist es möglich, daß im Bereich des menschlichen Handelns das vernunftgewirkte praktische Sein an die „Stelle einer Naturursache" tritt. 4 Die in die Erscheinung tretende Handlungsfigur wird durch die Entscheidung des Handelnden verursacht: dessen intelligibler Charakter wirkt als das Prinzip, welches die einzelnen Handlungsschritte zum Ganzen einer kontinuierlichen Geschichte einigend verbindet. „In den freien Handlungen fließt die Vernunft nicht bloß als ein begreifendes, sondern wirkendes und treibendes principium ein." 5 Die Betonung der moralischen Gesinnung als eines Prinzips hat Kritiker zu dem falschen Vorwurf verleitet, Kant habe nur das „Innere", die „Moralität" (Hegel) berücksichtigt und sei gegenüber dem „äußeren" Handlungsverlauf uninteressiert gewesen. Es ist aber zu sagen: er hat das handelnde Subjekt nicht von der Verpflichtung entbunden, bei seiner praktischen Reflexion über die Pflicht die äußeren Folgen einzukalkulieren. Seine These ist, daß der Wert der „Folgen" in deren „Prinzip" gesucht werden muß: dieses aber ist das praktische Sein, die Gesinnung bzw. der intelligible Charakter des Handelnden. Dieser gibt dem „empirischen Charakter" einer Handlung, d. h. deren in die Erscheinung tretendem Verlauf Wesens- und Wertbestimmtheit. Bisher wurde diejenige Gestalt des „praktischen Seins", die als moralische Gesinnung anzusprechen ist, charakterisiert. In diesem Zusammenhang wird auch das Gewissen thematisch. Es wird von Kant als innerer „Richter" deklariert, womit gesagt ist, daß sich das Gewissen auf eine innere Rechtsinstitution berufen muß, welche in der Verfassung des praktischen Seins gefunden werden kann. Die Maßstäbe, nach denen dieser Richter urteilt, werden durch die allgemeine Gesetzgebung der 4 5

XVIII, S. 253 (Refl. 5612). XVIII, S. 253 (Refl. 5612).

Gesinnung und Gewissen

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moralischen Welt gegeben, deren Niveau das praktische Denken dadurch gewonnen hat, daß es über den Stand der sinnlichen Befangenheit hinausgegangen ist und in sich eine „andere Ordnung der Dinge" zur Geltung gebracht, sich in eine intelligible Welt versetzt hat, in deren Perspektive es „sich andererseits auch seiner als Dinges an sich selbst bewußt ist." 6 Das Bewußtsein eines „ i n n e r e n G e r i c h t s h o f e s im Menschen (vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen) ist das G e w i s s e n . " 7 Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen „inneren Richter" beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundene Achtung) gehalten, „. . . und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) m a c h t , sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt." 8 Das Funktionieren des Gewissens wird im Falle des schlechten Gewissens so beschrieben: das praktische Bewußtsein des Verbrechers verurteilt die eigene Handlung vom „Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt" aus, während sein „böser Wille" den bestimmenden Einfluß des Sittengesetzes abgewiesen hat. Sofern ich mich als „Glied einer intelligiblen Welt" denke und mich in diese Welt hinein-denke, stimmen Wille und Sollen überein. Versetze ich mich aber in die Sinnenwelt und betrachte meine Situation von der damit gegebenen Perspektive aus, so stehe ich dem Sollen als einem Anspruch gegenüber, der für mich nicht naturnotwendig ist. Aber die Natur eines vernünftigen Sinnenwesens, welches vom Sollen betroffen wird, ist keine „tierische", sondern menschliche Natur. Auch die Sinnlichkeit des Menschen steht in intelligiblen Bezügen. Die Moralphilosophie denkt den Menschen nach einer Methode, in welcher dieser sich in Freiheit selbst in die Perspektive der Sinnenwelt rückt, um sein dadurch in den Blick kommendes Sinnenwesen zugleich auch unter intelligible Maßstäbe zu bringen. „Und so sind kategorische Imperativen möglich dadurch, daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein w ü r d e n , da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein s o l l e n , welches k a t e g o r i s c h e Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch, daß über meinen durch sinnliche Begierden affi6V, 7 8

S. 97. VI, S. 438. VI, S. 438.

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Herrschaft und Dialektik

zierten Willen noch die Idee eben desselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält . . ." 9 Formen wie moralische Gesinnung und Gewissen, in denen das praktische Sein auftreten kann, repräsentieren die W i r k l i c h k e i t der Vernunftherrschaft im Subjekt. Vernunft hat hier die Phase der bloßen Reflexion, des Beratens von Denkmöglichkeiten und deren Vergleichung überwunden und ist Wirklichkeit im handelnden Subjekt geworden. Die Verwirklichung geschieht im Vollzuge von Handlungen wie denen des Sich-hineindenkens in die allgemeine Gesetzesordnung der intelligiblen Welt. Der Wirklichkeitsbezug der Vernunft wird in der theoretischen Philosophie in einer umgekehrten Richtung verfolgt, als es in der praktischen geschieht. In der theoretischen Philosophie fängt der Gedankengang bei der sinnlichen Anschauung an, schreitet zu den Kategorien und den synthetischen Grundsätzen und weiter zu den Ideen fort. Im Bereich des praktischen Denkens aber wird der Anfang bei den praktischen Grundsätzen gemacht, von denen aus der Weg „allererst . . . zu den Sinnen gehen" soll. 10 Vom Fundament der durch allgemeine Gesetzlichkeit verfaßten Welt aus, auf der wir Stand nehmen, kann erst der Versuch gemacht werden, „unsere Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines solchen Willens, ihrer Anwendung auf Gegenstände, zuletzt auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit allererst festzusetzen." Dadurch wird nämlich auch die Triebsphäre des Handelnden auf das vernünftige Gesetz ausgerichtet und der Vernunft die Herrschaft über das handelnde Subjekt und damit auch den Vollzug der Handlung gesichert. Würden wir uns ζ. B. aus natürlicher Sympathie zu einer Handlung bewegen lassen und auf diese Weise einen pathologischen Charakter annehmen, so würde das bedeuten, daß wir den vernunftfremden Kräften das Feld überlassen und ihnen, statt der Vernunft, die Funktion des Bestimmungsgrundes übertragen. Wir würden uns ζ. B. durch natürliche Sympathie oder Antipathie zu einer Handlung bewegen lassen: diese würde „uns ebenso unausbleiblich abgenötigt . . ., als das Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen". 11 Das Prinzip des praktischen Seins, dessen Explikation zum Gedanken der Herrschaft der Vernunft über uns und unser Handeln geführt hat, steht auch der Überlegung nahe, daß das Subjekt mit „Notwendigkeit" so 9IV,

S. 454. V, S. 16. " V, S. 26.

10

Achtung und Vernunftherrschaft

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handeln müsse, wie es handelt und daß es gar nicht anders handeln könne als nach der Notwendigkeit seiner „Natur". Dazu soll bemerkt werden, daß es sich dabei um „Notwendigkeit" in der Freiheit selbst handelt, die den Entscheidungen Festigkeit und Bestimmtheit in der Weise gibt, a l s ob sie naturgesetzlich bewirkt wären. In dieser Notwendigkeit wird die Macht der Vernunft über das Subjekt manifest. In diesen Zusammenhang gehören Aussagen Kants wie die, daß der vernünftig Handelnde „unbestechlich und durch sich selbst gezwungen" die Maxime seines Willens nach dem Maßstab des „reinen Willens" beurteile. Damit ist gesagt, daß das vernünftige, aber zugleich den anarchischen Naturantrieben ausgesetzte Wesen Mensch in seiner „Innenpolitik" das Ziel anzustreben habe, seine wilde Natur unter das selbstgegebene Gesetz zu z w i n g e n . Vernunft im Menschen steht in der Situation, sich gegen „ w i d e r s t r e i t e n d e " Maximen durchsetzen zu müssen und die gute Rangordnung der praktischen Begriffe gegen ihre Verkehrung in „das Böse" zu schützen. Das „Verhältnis" des menschlichen Willens dem Gesetz gegenüber ist das der „Abhängigkeit" in dem Sinne, daß für den Willen Verbindlichkeit gegenüber dem Gesetz besteht. Diese selbst wieder ist „Nötigung" zu einer Handlung durch die bloße Vernunft und ihr Gesetz. Die Pflicht, welche uns „pathologisch affizierte" Wesen zu unserm Handeln nötigt, ist Ausdruck „. . . eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller Zwang genannt werden kann. . ." 1 2 Die Durchsetzung der praktischen Vernunft im menschlichen Handeln gegen Widervernunft geschieht in einer Kampfsituation um die Herrschaft. Geht dabei Vernunft als Siegerin hervor, so ist eine Verfassung des praktischen Seins zustande gekommen, die den Namen „Achtung" trägt.

2. Achtung als Zustand der Vemunftherrschaft: Machtgewinn als Umwertung Achtung ist ein Gefühl, in welchem die Spuren von Heteronomie getilgt sind und durch welches sich Vernunft mit Macht verbunden hat. Kant beschreibt die Stellung der Achtung im Kampf zwischen der Vernunft und den natürlichen Gefühlen so: gegen Neigung und sinnliche Antriebe, in denen sich natürliche Gefühlskräfte zur Geltung bringen, muß die Vernunft ihr Programm durchsetzen und auf diese eine „negative 12

V, S. 32.

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Herrschaft und Dialektik

Wirkung" ausüben. Sie besteht in der „Einschränkung und Eindämmung" der wilden Kräfte der Natur. Diese aber kann selbst wieder nur durch eine Kraft, also ein Gefühl bewerkstelligt werden, nicht durch bloß begriffliche Vorstellungen und Ratschläge. Diese von einem Gefühl ins Werk gesetzte Gegen-kraft aber muß Freiheit und Vernunftgesetz repräsentieren: sie darf nicht den Charakter einer unmittelbaren Naturanlage zeigen, sondern muß selbst mittelbares Ergebnis einer Vernunfthandlung sein, sie muß durch Vernunft „gewirkt" 1 3 sein. Dem Standpunkt der natürlichen Neigungen und Gefühle sowie ihrer Kräfte entspricht die Herrschaft der egoistischen Maßstäbe, der Selbstliebe. Praktische Vernunft aber setzt ihren Willen zur Macht über die natürliche Gefühlssphäre auf die Weise durch, daß sie diese nicht vernichtet, sondern sie uminterpretiert und ihrer Kraftwirkung eine von der Vernunft in Freiheit gewählte Richtung gibt. Sie beeinflußt die Wirkung der unmittelbaren Gefühle dadurch, daß sie deren Absichten und Zweckrichtungen um-deutet. Praktische Vernunft verwandelt den Sinn der egoistischen Selbstliebe durch eine Uminterpretation des „Selbst" in das Selbst des vernünftigen Willens, so daß daraus „vernünftige Selbstliebe" wird. 1 4 Praktische Vernunft bringt im menschlichen Subjekt eine Bewegung des Hinausgehens über seine egoistischen Maßstäbe in Gang und fordert es zu der copernicanischen Wendung heraus, die zum Standnehmen auf dem Boden einer vernunftgesetzlich verfaßten Welt führt. Dabei geschieht eine Um-wendung der Denkart, eine innere Revolution, in der sich die M a c h t v e r h ä l t n i s s e der auf das Subjekt einwirkenden Motive verwandeln. Während vom Stande des „natürlichen" Bewußtseins aus dem unmittelbaren egoistischen Antrieb der höchste Platz in der Rangordnung der „Triebkräfte" zukommt und er dadurch die höchste Machtstellung im Subjekt einnimmt, rückt er in der Skala, welche durch die Umänderung der praktischen Denkart in Geltung gesetzt wird, in die Stellung des Beherrscht-, Beschränkt- und Genötigtwerdens durch Vernunft. Zunächst sind wir Knechte der unmittelbaren Natur. Die „Materie des Begehrungsvermögens", Gegenstand der Neigung, „es sei der Hoffnung oder der Furcht", ist mächtig über uns und „dringt" sich zuerst „ a u f " . 1 5 Nehmen wir aber auf dem Boden der praktischen Vernunft Stand und wählen ihre Maßstäbe, so geschieht eine Umwertung der Werte. Die 13 14 15

V, S. 75. V, S. 73. V, S. 74.

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„Unterdrückung" unseres intelligiblen Selbst durch die Triebkräfte der Natur wird in einer „Revolution der Denkart" beendet. Es stellt eine Verfassung her, in welcher A c h t u n g vor dem Gesetz und V e r a c h t u n g der Naturabhängigkeit herrschen. 16 Während vor der Umwendung das Diktum der natürlichen Gefühle vor dem Anspruch der reinen Vernunft „vorherging", ist jetzt das Abhängigkeits- und damit das Machtverhältnis umgekehrt worden. Vernunft hat in der Achtung die Herrschaft über das Subjekt und sein Handeln dadurch gewonnen, daß sie die Gefühle und ihre Triebkräfte auf den Boden der gesetzlich bestimmten Welt versetzt und in der dadurch neu gewonnenen Gestalt wirksam werden läßt. Jetzt kann sie ihre Herrschaftsstellung gegen die unmittelbaren Antriebe der Natur durch die Aufbietung einer Gegen-kraft zur Geltung bringen, welche die Gestalt des vernunfteigenen Gefühls der Achtung annimmt. Das Bewußtsein einer „ f r e i e n Unterwerfung des Willens unter das Gesetz . . . ist gleichwohl mit einem unvermeidlichen Zwange, der alle Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft, angetan wird, verbunden . . . " Kant beschreibt das zur Herrschaft-kommen der Vernunft und den Wandel der Gefühlsverfassung in folgender Weise: vollzieht das praktische Bewußtsein eine Umwendung, welche die Perspektive praktischer Vernunft und ihrer Gesetzlichkeit zur Geltung bringt, so wird die Eigenliebe, die in der „natürlichen" Einstellung und ihrer Perspektive maßgebend ist, entwertet. Die dabei sich vollziehende Um-wertung bewirkt eine Revolution im Herrschaftsverhältnis zwischen Vernunft und Natur: Vernunft gewinnt Macht über den Egoismus. Dabei ist noch ein Unterschied zwischen „Eigenliebe" und „Eigendünkel" zu beachten. Jene bedeutet ein „über alles gehendes Wohlwollen gegen sich selbst", während dieser ein „Wohlgefallen an sich selbst (arrogantia)" bedeutet. Haben sich durch Umorientierung und Ubergang auf den Stand der praktischen Vernunft die inneren Machtverhältnisse umgekehrt, so entsteht folgende Situation in der Verfassung des praktischen Bewußtseins: „Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß A b b r u c h , indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetz in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdann v e r n ü n f t i g e S e l b s t l i e b e genannt wird. Aber den Eigendünkel s c h l ä g t sie gar nied e r , indem alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Ubereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle 16

Das

bedeutet nicht Verachtung unserer N a t u r , sondern der Abhängigkeit von ihr.

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Herrschaft und Dialektik

Befugnis sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werts der Person i s t . . . und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist." 1 7 Der Fall des Eigendünkels und seiner Entmachtung soll im folgenden als symptomatisch für die Umwendung der praktischen Denkart und die Ermächtigung der Vernunft betrachtet werden. Wenn das Subjekt sich selbst, sein Denken und Handeln nicht in der ihm von der Natur aufgedrängten Interessenperspektive beurteilt, sondern die Maßstäbe einer allgemeinen Gesetzgebung zur Geltung bringt, dann entwertet es den Eigendünkel und entmachtet ihn zugleich. Während Eigenliebe bzw. Selbstliebe im Sinne der Vernunft umorientiert wird, wird der Eigendünkel ganz überwunden. In dem Maße, in welchem die Perspektive der Vernunft eine Umwertung der natürlichen Werte bewirkt und dadurch einen Umsturz der Herrschaftsverhältnisse, eine Revolution im Subjekt herbeiführt, steigt das Ansehen des von ihr gegebenen Gesetzes: es wird „. . . ein Gegenstand der A c h t u n g und, indem es ihn (den Eigendünkel, der Verf.) sogar n i e d e r s c h l ä g t , d. i. demütigt, ein Gegenstand der größten A c h t u n g , mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird." 1 8 In der Achtung bildet sich ein von der Vernunft durchdrungenes Gefühl, das durch einen „intellektuellen Grund gewirkt" wird. Es ist das einzige Gefühl, welches wir „völlig a priori erkennen und dessen Notwendigkeit wir einsehen können". Wenn man die Bildung der Achtung als Geschichte des praktischen Bewußtseins betrachtet, so sind wir in deren erster Phase Knechte unserer natürlichen Willkür, welche dem unmittelbaren Interesse einen Vorzug vor dem Willen des vernünftigen Selbst und damit der Freiheit gibt. Dabei ist zu beachten, daß nicht eigentlich die sinnliche Natur als solche in der Rolle der Gegenspielerin der Vernunft im Machtkampf auftritt, sondern der Eigen-sinn, der egoistisch dieser Natur zur Herrschaft über Vernunft verhelfen will. Dabei wird es deutlich, daß es nicht um Unterdrückung der Sinnlichkeit als solcher zu tun ist, sondern darum, daß der egoistische Wille unter die Herrschaft der Vernunft gebracht und so eingeschränkt wird, daß er in Einstimmung zum sozialen Willen zu bringen ist. Das geschieht in einer Revolution der praktischen Denkart, von der auch in der Religionsphilosophie Kants die Rede ist. Dabei vollzieht sich ein Umsturz im Herrschaftsverhältnis zwischen Vernunft und wilder anarchischer Unvernunft. 17 18

V, S. 73. V, S. 73.

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Die Situation vor der „Revolution" ist so beschaffen, daß sich die Materie des Begehrungsvermögens und damit „Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht", zuerst aufdringen". 19 Das: „zuerst" kann als Bezeichnung einer frühen Phase der Bildung des praktischen Seins und Bewußt-seins verstanden werden. Es kann aber auch den ersten Platz in der Wertschätzung bedeuten, der dem Maßstab dieser Phase entspricht. Auf die zweite Auffassung deutet die Wendung hin, daß unser „pathologisch bestimmbares Selbst" in dieser Phase seine „Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei" und damit den anderen Teil unseres „ganzen Selbst" u n t e r d r ü c k t . Das moralische Gesetz aber, welches nach einer Revolution der praktischen Denkart die Herrschaft übernimmt, tut dem Eigendünkel „unendlichen Abbruch"; es „demütigt" ihn. In der der Achtung vor dem Gesetz gemäßen Perspektive ver-achten wir das pathologische Herrschaftsverhältnis in uns ebenso, wie wir dem moralischen unsere Reverenz erweisen. Von diesem Stande des Bewußtseins aus ergibt sich eine Rang- und Herrschaftsordnung, für die gilt, daß kein Gefühl im Subjekt vor dem vernunftgegebenen Gesetz als einem Bestimmungsgrund „vorher-gehe", es sei denn allein die „Achtung". Demgemäß geht in dieser Rangordnung auch keine „Materie" der Pflicht vor der Form der Gesetzlichkeit vorher. In den weiteren Phasen der Bildung des praktischen Seins und Bewußtseins zeigt sich: Die Achtung hat durch Umorientierung der Gefühlsantriebe deren Kraft in sich aufgesogen und diese Kraft in den Dienst der Vernunftherrschaft gestellt. Sie kann „praktisch gewirkt" heißen, weil sie Ergebnis und zugleich Prinzip des Standnehmens auf dem Boden der Vernunft ist. Dadurch ergeben sich Maßstäbe, durch die der Einfluß der Selbstliebe geschwächt und der Eigendünkel niedergeschlagen wird und durch die „. . . das Hindernis der reinen praktischen Vernunft vermindert und die Vorstellungen des Vorzuges ihres objektiven Gesetzes vor den Antrieben der Sinnlichkeit, mithin das Gewicht des ersteren relativ (in Ansehung eines durch die letztere affizierten Willens) durch die Wegschaffung des Gegengewichts im Urteile der Vernunft hervorgebracht wird." 2 0 Die Revolution der praktischen Denkart, deren Ergebnis die Achtung ist, begründet das gegenseitige Anerkennen der Personen als der Repräsentanten des Freiheitsgesetzes. Achtung ist Anerkennung des vernünftigen Selbst der Person durch dieses Selbst: daher besteht sie niemals 19 20

V , S. 74. V , S. 75/76.

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Sachen gegenüber. Vor einem Manne mit niedriger gesellschaftlicher Stellung, aber großer Charakterstärke „bückt sich mein Geist". Sein Beispiel repräsentiert und vergegenwärtigt das Gesetz, das „ . . . meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche . . , " 2 1 Aber durch meine Behandlung von Sachen kann ich indirekt der Achtung vor Personen zuwider handeln; so verletze ich deren Freiheitssphäre, wenn ich ihr Eigentum nicht respektiere. Achtung ist eine Verfassung des praktischen Bewußtseins, die dieses in einer Geschichte des Übergangs über seine natürliche Interessenbefangenheit zur Welt vernünftiger Gesetzlichkeit gewonnen hat. Von dem neuen Stande der Allgemeinheit und Gemeinsamkeit aus gewinnt Vernunft Macht über den Menschen: die sinnlichen Triebfedern sind jetzt machtlos geworden, weil sie ent-wertet wurden. Ist Vernunft zur Triebfeder geworden, so findet sich auch ein „moralisches Interesse" des praktischen Bewußtseins an der Unterordnung der Sinnlichkeit in der eigenen Person unter das Gesetz der Freiheit ein. Herrschaft der Vernunft im Subjekt bedeutet, daß der Handelnde sich selbst und der eigenen Gesetzgebung gehorcht, einerseits also Herrscher, andererseits zugleich Beherrschter ist. „ D a s Bewußtsein einer f r e i e n Unterwerfung des Willens unter das Gesetz" ist gleichwohl „mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft, angetan wird, verbunden . . . " In diesem Zusammenhang fällt auch das Wort: Nötigung. Die „objektiv praktische" Handlung sei Pflicht, und diese „nötige" das praktische Subjekt. Das sinnlich affizierte Subjekt erfährt dadurch einen „ Z w a n g " , sofern es seine eigene n a t ü r l i c h e Freiheit der Selbstgesetzgebung des vernünftigen Subjekts zu opfern und sich ihr zu u n t e r w e r f e n hat. 22 Die Kehrseite dieses Knechtseins ist, da es sich um Herstellung der Macht der eigenen Vernunft handelt, Herrschaft über die Natur in mir. Diese Herrschaft bedeutet zugleich Disziplinierung und wird durch die Unlust erkauft, die uns die unter Zwang genommene sinnliche Natur spüren läßt. Könnte aber ein vernünftiges Geschöpf jemals dahin kommen, alle moralischen Gesetze zu l i e b e n , also sie „ . . . völlig g e r n e zu tun, so würde das soviel bedeuten als, es fände sich in ihm auch nicht einmal die Möglichkeit einer Begierde, die ihn zur Abweichung von ihnen reizte; denn die Uberwindung einer solchen kostet dem Subjekt immer Aufopferung, bedarf also Selbstzwang, d. i. innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut." 2 3 21

V , S. 77.

22

V, S. 80.

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V, s. 83/84.

A c h t u n g und Vernunftherrschaft

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Die pointierte Darstellung der Situation des praktischen Bewußtseins in dem durch den Willen der Vernunft zur Macht geprägten Spannungsfeld zwischen Freiheit und Natur findet in der Philosophie nach Kant eine eindrucksvolle Fortsetzung. Nietzsche, der in demselben Spannungsfelde wie Kant denkt, aber die „große Vernunft" der Natur und des „Leibes" gegen die kleine, an der „gleichmachenden" Gesetzlichkeit orientierte Vernunft ausspielt, billigt der Natur den Anspruch zu, i h r e n Willen zur Macht gegenüber dem kontrollierenden Bewußtsein der „kleinen" Vernunft durchzusetzen. Obgleich mit vertauschten Rollen, gewinnt bei Nietzsche Natur bzw. Leben nach derselben Strategie die Herrschaft über seinen Rivalen, die Vernunft, nach welcher bei Kant diese zum Herrn über die Natur geworden ist. Auch werden Umwertungen der Werte als Begründung von Machtverschiebungen 24 angesehen, nur daß nicht die das 24

In u n s e r e m Zeitalter des Pathos der Herrschaftsfreiheit ist zu erwarten, daß sich ein W i d e r s t a n d gegen die von mir vorgeschlagene Interpretation ergibt, welche die Rolle des H e r r - K n e c h t - V e r h ä l t n i s s e s in dem Bilde v o m Menschen und seiner Vernunft hervorhebt. E s w e r d e n weitere Passagen aus der praktischen Philosophie Kants begegnen, die eindeutig in diese Richtung gehen und es der Interpretation nicht einmal freilassen, das Bild a b z u s c h w ä c h e n . Sie zeigen, daß Kant im Prinzip d e r Vernunft den Willen z u r Macht gesehen und ihr nur die Wahl zwischen den Alternativen: H a m m e r oder A m b o ß , Beherrschendes o d e r Beherrschtes z u sein, gelassen hat. D a m i t befindet sich Kant in der Tradition des Selbstverständnisses der Vernunft, für die einst Spinoza die Devise von der H e r r s c h a f t über d i e A f f e k t e in einem K a m p f e gegeben hat, bei dem sich Vernunft selber der A f f e k t e bedienen muß, u m M a c h t sein zu können. D i e s e Tradition setzt sich nach K a n t in d e r T h e s e f o r t , die H e g e l in seiner Geschichtsphilosophie vertreten h a t : daß Vernunft s o o h n m ä c h t i g nicht sei, um nicht als Herrin der Geschichte auftreten zu können. Bekanntlich gilt ihm das O p e r i e r e n Kants mit bloßen „ P o s t u l a t e n " als z u subjektivistisch u n d daher als z u s c h w a c h , um die wirkliche Herrschaft der Vernunft in der Geschichte z u erweisen. D i e spätere R e d e Nietzsches v o m Willen zur M a c h t , der f ü r Leben charakteristisch sei, gehört, o b w o h l sie gegen das Prinzip Vernunft gerichtet ist, immer noch z u r T r a d i t i o n der M e t a p h y s i k , der es um N a c h w e i s und Beförderung der Herrschaft der V e r n u n f t in der W e l t geht. Was die Moralphilosophie angeht, s o ist eine Stelle beeind r u c k e n d , in welcher Dilthey die Auseinandersetzung zwischen den Machtansprüchen der in gesellschaftlicher Sitte einerseits und im individuellen Leben andererseits wirkenden V e r n u n f t beschreibt. D i e kantischen Prinzipien der A c h t u n g und Ver-achtung k o m m e n hier in F o r m von A n e r k e n n u n g oder A b l e h n u n g , Z u s t i m m u n g oder Verwerfung z u r W i r k s a m k e i t . S o heißt es in dem A u f s a t z „ U b e r das Studium der Geschichte der Wissenschaften v o m M e n s c h e n , der Gesellschaft und d e m Staat" (Dilthey, Gesammelte Schriften, V , S. 7 0 / 7 1 ) , daß auf das Individuum ein B a n n wirke, der vom Urteil der Gesellschaft ausgeht. D i e Seele d e s Individuums stehe unter diesem Bann „ . . . wie das Raubtier unter d e m B a n n der A u g e n eines mutigen M e n s c h e n , wie der Verbrecher unter dem B a n n d e r hundert A u g e n des G e s e t z e s . " D a s Individuum steht unter der „ W u c h t " des Anpralls von Seiten der öffentlichen sittlichen M e i n u n g und kann ihr nur dann standhalten, w e n n es mit andern z u s a m m e n s t e h t in einer „ . . . anderen A t m o s p h ä r e von öffentlicher M e i n u n g , welche ihn t r ä g t . " D i e s e Macht der öffentlichen Meinung sei so außerordentlich, daß, w ü r d e sie auch nur einen T a g nicht wirken, das meiste, was nicht „ . . . durch den D a m m d e s

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Herrschaft und Dialektik

Vernunftgesetz repräsentierende Person, sondern das Individuum mit dem Charakter starken Lebens als Herr über die andern gerechtfertigt wird. Es wurde gesagt: Achtung sei eine Verfassung des praktischen Seins und Bewußtseins, die Ergebnis einer inneren Geschichte der Bemächtigung des Subjekts durch Vernunft ist. In Kants Sprache: Achtung ist vernunftgewirkt. Weiter wurde gesagt, in dieser Geschichte habe das Bewußtsein einen Prozeß der Umwertung durchgemacht, bei dem es den Stand der Freiheit und dessen Perspektive erreicht habe. Kant spricht von der „Stufe" des Bewußtseins, deren Charakter die Achtung sei. Die „sittliche Stufe", worauf der Mensch stehe, ist Achtung für das Gesetz.25 Auch die Wendung vom „moralischen Zustand" 26 kommt vor, von dem es heißt, daß er nicht als Naturzustand des Menschen gegeben, sondern Ergebnis eines „Kampfes" sei. Ist er gewonnen, so resultiert aus ihm eine gesetzliche „Ordnung der Dinge", die zugleich die „. . . ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke . . . unter sich hat." 27 Intelligible Welt liefert die Perspektive, in der auch die empirische Welt gemäß ihrer praktischen Bedeutung begriffen wird: denn die Geschichte der Handlung setzt sich, nachdem sie durch die Herstellung des moralischen Zustandes ihren Anfang genommen hat, in die Ausführung und kausale Einwirkung auf die Erscheinungswelt fort. In der Geschichte der Revolution der praktischen Denkart erhebt sich der Mensch über sich selbst, indem er sich über-windet.28 Die Geschichte dieser Selbstüberwindung wird von der „Persönlichkeit" verantwortet, welche, negativ gesprochen, Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanis-

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27 28

Gesetzes geschützt würde, von den Fluten der irregulären Affekte weggeschwemmt würde. In einem solchen Fall würde man die außerordentliche Verschiedenheit der Charaktere erblicken, welche heute durch die regulierende Gewalt des sittlichen Gesamtgewissens verdeckt wird." Es mag erwähnt werden, daß die von Schiller zur Geltung gebrachte ästhetische Alternative zum Modell Kants, die bis in die Gegenwart ihre Anwälte findet, metaphysische Voraussetzungen nötig hat, die von denen Kants verschieden sind. Die Devise einer ästhetischen Erziehung beruht auf der Annahme einer „Natur" des Menschen, in der das „Böse" keinen Platz hat. (Vgl. Kap. VI). Auch Kant weiß von dem Zustand einer Versöhnung zwischen Freiheit und Natur: aber dieser tritt erst auf der Ebene der „zweiten" Natur auf. V, S. 84. V, S. 84. Vgl. auch die Beschreibung der Bildung der ethischen Gemeinschaft (des „Volkes Gottes") durch Mächtig-werden der Vernunft über die Unvernunft in der Religionsphilosophie VI, S. 96ff. V, S. 86/87. V, S. 87.

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mus der Natur bedeutet. „Persönlichkeit" ist der Charakter, der nur zur Perspektive der intelligiblen Welt gehört und der handelnd den Naturcharakter in der „Person" „unterwirft". 29 Wenn Kant von der „sittlichen Stufe" spricht, welche in der Achtung vor dem Gesetz erreicht ist, so legt er sie auch als Herrschaftssituation aus, in der sich Vernunft gegenüber Natur befindet. 30 In diesem Zusammenhang ist noch einmal zu fragen, was die Rede besagen will, daß die „Person" nicht nur als Mittel gebraucht werden dürfe, sondern a u c h immer als Selbstzweck behandelt werden müsse. In der Person, der auch ein empirischer Charakter eignet, wohnt zugleich ein intelligibler Charakter, eine „Persönlich-keit". Es ist nicht erlaubt, über sie wie über ein Ding, eine Sache zu verfügen, da sie jeweils als an meinem Welt-stand teilnehmend zu behandeln ist, von dem aus sie in Übereinstimmung m i t mir über Sachen als Mittel verfügt, daher nicht selbst auf die Stelle einer Sache verwiesen werden kann und darf. Eine Person darf eine andere keiner Absicht „unterwerfen", die nicht mit der Macht der Vernunft in Einstimmung steht und daher aus dem „. . . Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte . . ." 3 1 Das Thema: Machtgewinn der „Vernunft" läßt Kant auch auf Epikur blicken: er habe die Aussicht auf einen „fröhlichen Genuß des Lebens" als Lohn und Erfolg vernünftigen Verhaltens erklärt. Dies aber nur, um den „. . . Anlockungen, die das Laster auf der Gegenseite vorzuspiegeln nicht ermangelt, das Gegengewicht zu halten, nicht um hierin die eigentliche bewegende Kraft . . . zu setzen, wenn von Pflicht die Rede ist." 32 Achtung ist nicht ein naturgemäß in uns angelegtes, anthropologisches Bedürfnis wie etwa das der Sympathie, des Mitleids usw., sondern Ergebnis einer inneren Handlung des Umwertens der Werte. Sie ist ein durch Arbeit des Subjekts an seiner eigenen Verfassung herbeigeführter Zustand der Vernunftherrschaft im Subjekt. Da aber in der Logik der Bildung der Achtung die Gewinnung des Maßstabs eine entscheidende Rolle spielt, mit dessen Hilfe zwischen dem zu Verachtenden und dem zu Achtenden zu unterscheiden ist, kommt alles auf den Erweis der Vernünftigkeit dieses Maßstabes an, die zugleich dessen Unzufälligkeit und Unbeliebigkeit bedeutet. 29

V, S. 87: Nach Kants Sprachgebrauch ist „Persönlichkeit" allein zur intelligiblen Welt zu rechnen, während „Person" den Charakter der menschlichen Existenz bedeutet, der in die Perspektive der Naturwelt u n d der intelligiblen Welt gehört. 30 V, S. 84. 31 V , S. 87. 32 V, S. 88.

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Ist der Maßstab aber vernünftiger Natur, so beruht er auf gemeinsamer Überzeugung. Das heißt: Die Bildung der Achtung setzt eine gemeinsame Überzeugung als Gewißheit der praktischen Vernunft voraus. Es ist nicht zu verkennen, daß in diesem Gedankengang ein Zirkel, vielleicht ein notwendiger, bemerkbar wird. Denn wenn Kant sagt, daß Achtung ein Anerkennen der Menschheit in der Person des andern als eines Vernunftwesens sei, so kann man folgern, daß in diesem „Gefühl" zugleich auch dasjenige Prinzip erkennbar wird, welches maßgeblich gesellschaftsbildend ist. Dann aber ist zu sagen, daß die für jede Gesellschaft charakteristische Gemeinsamkeit schon bei der Bildung der Achtung selbst vorauszusetzen ist, die durch einen gemeinsamen Vernunftmaßstab bewirkt wurde. Da Achtung und Herrschaft der Vernunft in einen Zusammenhang gebracht wurden, mag an dieser Stelle die Rede auf eine bedeutsame Alternative kommen. Kants Rede von der Aufgabe, die Natur im Menschen der Vernunft zu „unterwerfen", sie zu „nötigen", ihr „Zwang" anzutun, hat seit Schiller und Hegel bis zum heutigen Tage einen entschiedenen Widerspruch herausgefordert. Man hat demgegenüber Modelle zur Geltung zu bringen versucht, in denen einerseits ein mehr ästhetisches Verhältnis zwischen Vernunft und Natur proklamiert wird, andererseits der Dualismus zwischen Vernünftigkeit und Natürlichkeit in uns geleugnet, die Natur als eine Form der Vernunft und daher nicht als unterdrückungsund zwangsbedürftig erklärt wird. Hierzu ist zu sagen, daß das Kantische Konzept nicht eindeutig auf die Seite zu setzen ist, nach welcher Zwangsausübung von seiten der Vernunft auf die Natur gefordert wird. Nach kantischen Voraussetzungen wäre die Vernunft schon deshalb nicht im Stande, die Natur zu zwingen, weil sie dieser gegenüber ohnmächtig ist. Hegel war es, der später von der absoluten Macht der Vernunft gesprochen hat. Aber Kant, der von der Ohnmacht der Vernunft ausgeht, sieht für deren Willen, zur Herrschaft zu kommen, nur den Weg, Natur mit Vernunft zu durchdringen, wie es am Exempel der Bildung der Achtung sichtbar ist. Achtung ist „Gefühl" und als solches ein wirkender Faktor im Aufbau der menschlichen Trieb-natur. Gleichwohl aber ist sie eine von der Vernunft gebildete, produzierte und geformte, eine „zweite" Natur. Mit anderen Worten: Am Lehrstück Kants von der Achtung und von der Bildung dieses Gefühls zeigt sich, daß man ihm nicht gerecht wird, wenn man ihn etwa in der Art Hegels als dualistischen Philosophen deklariert, der die Vernunft in eine Feindstel-

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lung zur Natur setzt, von der aus sie angeblich nichts anderes kennt als diese zu unterdrücken und zu unterwerfen. Wenn von Herrschaft und Zwang gesprochen wird, den moralische Vernunft auf die Natur ausübt, um ihr Freiheitsgesetz zur Geltung zu bringen, so ist das deshalb überraschend, weil es mit der allgemeinen Vorstellung in Widerspruch steht, daß in der Moral Zwang, Nötigung, Unterwerfung usw. keinen Platz haben: im Gegensatz zum R e c h t , zu dessen Bestimmung die „Befugnis zu zwingen" gehört. In der Tat findet bei Kant das Prinzip des Zwanges und der Macht schon in der M o r a l seinen Platz. Aber der Unterschied zum Recht besteht darin, daß der Zwang der Moral ein Herrschaftsverhältnis i n n e r h a l b des praktischen Subjekts ausdrückt und einem Standnehmen auf dem Boden der intelligiblen Welt entspringt, von dem aus die Werte, die in der Perspektive der natürlichen Welt gelten, Umwertung und zugleich Entmachtung erfahren. Zwang im Bereich der Moral ist daher Selbstzwang, während in der Sphäre des Rechts das zwingende Prinzip vom Subjekt, welches den Zwang erleidet, verschieden ist und etwa in der Gestalt der Polizei auftritt. Aber dieser Unterschied zwischen moralischem und rechtlichem Zwang darf nicht das Wesentliche verbergen, daß der moralische Zwang eine Rechtfertigung des Zwanges im Rechte darstellt. Denn die Gesellschaft ist nur befugt, das Individuum rechtlich zu zwingen, sofern angenommen werden darf, daß dieses vom Stand des gemeinsamen und allgemeinen praktischen Willens aus seiner eigenen Vernunft Zwangsrecht über seine egoistischen Neigungen einräumt. Von hier aus gesehen kann Kant schon der moralischen Vernunft Richterfunktion übertragen: sie habe als praktische Vernunft ihr „eigentümliches Gesetz, auch ihr eigentümliches Gericht . . . " 3 3 Sie ist nicht nur Legislative, sondern auch Exekutive 34 , sofern sie den Ansprüchen der „natürlichen" Antriebe „widersteht". Unsere menschliche Existenz steht im Spannungsfeld zwischen zwei „Freiheiten": der Freiheit der Natur in uns und derjenigen unserer Vernunft. Der Anspruch der Naturfreiheit geht in die Richtung des wilden, ungezähmten Denkens und Tuns, während die Freiheit der Vernunft D i s z i p l i n und Unterwerfung fordert. Wir sollen nicht auf Grund unserer freien Natur handeln, sondern stehen unter einer „. . . D isz i p l i n der Vernunft und müssen in allen unseren Maximen der Unter33 34

V , S. 89. P. Menzer, Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, S. 173: „Diese Disziplin ist die exekutive Gewalt der Vorschrift der Vernunft über die Handlungen, die aus der Sinnlichkeit entspringen."

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würfigkeit unter derselben nicht vergessen . . . " 3 S Die Freiheit der Natur will uns von der Verbindlichkeit der Pflicht entbinden: wir sind, wenn wir sie erfüllen, bloße „Volontäre", die sich mit „stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht" wegsetzen zu dürfen glauben und „als vom Gebote unabhängig, bloß aus eigener Lust das tun zu wollen, wozu für uns kein Gebot nötig wäre." Die Verkennung unserer „niederen Stufe als Geschöpfe und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben dem Geiste nach, wenngleich der Buchstabe desselben erfüllt würde." Vernunft übernimmt die Rolle des H e r r n , dessen Gesetzgebung wir uns zu unterwerfen haben. Es muß als religiös-metaphorischer Ausdruck aufgefaßt werden, wenn man sagt, daß wir aus Liebe zu Gott moralisch handeln sollen. Wenn diese keine pathologische, sondern p r a k t i s c h e Liebe sein soll, dann muß der wahre Sinn dieser der religiösen Sprache angehörenden Wendung der sein, daß wir aus Achtung vor dem Gesetz handeln und durch Bildung einer zweiten moralischen Natur in uns unsere Pflicht m i t , nicht aus Liebe erfüllen. Auch wenn wir der Natur in uns freien Lauf lassen würden, wären wir uns jederzeit der Verbindlichkeit gegenüber dem Vernunftgesetz bewußt. Wir können dem Herrn: Vernunft nicht entlaufen, weil wir ihn selbst in uns haben. Dadurch fällt Licht auf das Phänomen des G e w i s s e n s , dessen Stimme an die Disziplin der Vernunft erinnert. Damit ist auch der innere Maßstab gegeben, der uns spontan den Unterschied zwischen Pflichtgemäßheit und Pflichtwidrigkeit erkennen läßt und wie in der Chemie als Reagenz wirkt, das man einer Lösung zusetzen muß, damit ein Stoff ausgefällt und der andere zurückbehalten wird. Die dauernde Gegenwart des Vernunftmaßstabes in uns, der die Scheidung zwischen unserer Vernunft und Natur jederzeit praktizieren läßt, charakterisiert unsere Situation, in der der echte Stoff in uns durch E x p e r i m e n t „dargestellt" werden kann. Wie bei der Explikation des kategorischen Imperativs, so zeigt sich auch hier ein Experiment der praktischen Vernunft, im Verlauf dessen eine zugemutete Handlung experimentell darauf hin geprüft wird, ob sie in E i n s t i m m u n g mit der praktischen Vernunft und ihrem Freiheitsgesetze steht oder nicht. Die von der Vernunft auf das praktische Subjekt einwirkende K r a f t und Macht bewirkt eine Reaktion im prak-

3S

V, S. 82.

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tischen Subjekt, wenn man eine experimentelle Prüfung mit ihm vornimmt. 3 6 Im Zusammenhang mit dem Thema: Herrschaft und Vernunft mag an den Satz erinnert werden: „der Mensch ist ein T i e r , d a s , wenn es unter andern seiner Gattung lebt, e i n e n H e r r n n ö t i g hat." 3 7 Läßt er nämlich seine Natur frei walten, so treibt sie ihn dazu an, den andern zu unterwerfen und ihn für die eigenen Zwecke zu gebrauchen. Das Tier Mensch bedarf eines Herrn, der selbst nicht wiederum Tier ist, sondern Vernunft. Herrschaft der gemeinsamen Vernunft und Unterwerfung unter sie bedeutet f ü r den Menschen Selbstgesetzgebung und daher Freiheit. Vom Stande dieser Freiheit aus wird er den Mitmenschen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nur insoweit zwingen, als dieser von seiner eigenen Vernunft zum Selbstzwang aufgefordert wird. Herrschaft der Vernunft bedeutet Freiheit, sofern sie nicht Herrschaft des einen Tieres Mensch über das andere, sondern Selbstunterwerfung des Tieres in jedem Subjekt unter seine eigene Vernunft: also Selbstherrschaft ist. Das Tier Mensch bedarf eines „. . . H e r r n , der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen." 3 8 Einschränkung der wilden Freiheit der Natur in uns durch Nötigung und Zwang ist Herrschaft der Vernunft, und diese bedeutet praktische V, S. 92/93: „Es kommt aber dem Philosophen, der hier (wie jederzeit im Vernunfterkenntnisse durch bloße Begriffe, ohne Construction derselben) mit größerer Schwierigkeit zu kämpfen hat, weil er keine Anschauung . . . zum Grunde legen kann, doch auch zustatten: daß er beinahe wie der Chemist zu aller Zeit ein Experiment mit jedes Menschen praktischer Vernunft anstellen kann, um den moralischen (reinen) Bestimmungsgrund vom empirischen zu unterscheiden; wenn er nämlich zu dem empirisch afficirten Willen (ζ. B. desjenigen, der gerne lügen möchte, weil er sich dadurch was erwerben kann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund) zusetzt. Es ist, als ob der Scheidekünstler der Solution der Kalkerde in Salzgeist Alkali zusetzt; der Salzgeist verläßt sofort den Kalk, vereinigt sich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden gestürzt. Eben so haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist (oder sich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehrlichen Mannes versetzt), das moralische Gesetz vor, an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners erkennt, sofort verläßt seine praktische Vernunft (im Urtheil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vortheil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit), und der Vortheil wird nun von jedermann, nachdem er von allem Anhängsel der Vernunft (welche nur gänzlich auf der Seite der Pflicht ist) abgesondert und gewaschen worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten, nur nicht wo er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft niemals verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zuwider sein könnte." 3 7 VIII, S. 23. 3 8 VIII, S. 23.

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Herrschaft und Dialektik

Freiheit. Zwischen der praktischen, vernünftigen Wahrheit und derjenigen der N a t u r in uns besteht ein alternatives Verhältnis. Zum Pflichtbegriff gehört „an sich schon" das Prinzip der Nötigung bzw. des Zwanges „der freien Willkür durchs Gesetz". Diesen Zwang „verkündigt" der moralische Imperativ durch seinen kategorischen Ausspruch, das unbedingte Sollen. Der Imperativ gilt nicht für „vernünftige Wesen überhaupt", sondern für das vernünftige Tier (Naturwesen) Mensch, der dazu „unheilig genug" ist, daß er wohl Lust verspüren kann, das moralische Gesetz zu übertreten, obwohl er seine Geltung und sein Ansehen anerkennt. Er befolgt es ungern und mit Widerstand der Neigungen und zeigt damit, daß er nur gezwungenermaßen folgsam ist. Die Kehrseite der Situation der Unterwerfung natürlicher Freiheit und ihrer Willkür unter das Gesetz besteht in der Gewinnung praktischer Freiheit: „Da aber der Mensch doch ein f r e i e s (moralisches) Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den S e l b s t z w a n g (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) abgesehen ist, denn dadurch allein wird es möglich, jene N ö t i g u n g (selbst wenn sie eine äußere wäre) mit der Freiheit der Willkür zu vereinigen, wobei aber alsdann der Pflichtbegriff ein ethischer sein wird." 3 9 Mächtig widerstrebende Kräfte sind in der menschlichen Natur angelegt: die wilde freie Willkür bietet „Hindemisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen". Gleichwohl gibt praktische Vernunft die Strategie an, wie der Kampf zu führen ist und wie sie auf dem Wege praktischen D e n k e n s das richtige Herrschaftsverhältnis im Subjekt zu verwirklichen vermag. Der Mensch muß von seinem Vermögen überzeugt sein, die Vernunft in ihm nicht erst „künftig, sondern gleich jetzt (zugleich mit dem Gedanken)" zur Herrschaft zu bringen und „das zu k ö n n e n , was das Gesetz unbedingt befiehlt, das er tun s o l l . " Vermögen und überlegter Vorsatz, also auch gekonnte Strategie, die Vernunft über den wilden Naturzustand in uns zur Herrschaft zu bringen, heißt T u g e n d . Tugenden wie Dankbarkeit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit sind als Charaktere des praktischen Seins zu beschreiben, die in ihnen gemäßen Handlungsfiguren zum Ausdruck kommen. Zur Eigentümlichkeit der Tugend gehört Kraft, Stärke und Festigkeit im praktischen Verhalten. Auf diese Eigenart geht die aus der aristotelischen Ethik-Tradition her bekannte Rede vom „Habitus" zurück. Tugend ist die „Stärke der Maxime des Menschen in 39

Einleitung zur Tugendlehre in der „Metaphysik der Sitten", VI, S. 379/80.

Rechtlich-politische Beschreibung des ethischen Herrschaftsbegriffes

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Befolgung seiner Pflicht". 4 0 Je größer die Hindernisse im Menschen, die überwunden und überwältigt werden müssen, um so eindeutiger und deutlicher zeigt sich die Kraft der Tugend. Sie übt „Zwang" bzw. „Nötigung" auf den Menschen aus. Ihre „Regierung" ist die der „Freiheit" : denn der Zwang geht nicht von irgendwelchen Naturneigungen aus, welche andere Neigungen zu überwinden hätten, sondern von der selbständigen Vernunft.

3. Rechtlich-politische

Beschreibung

des ethischen

Herrschaftsbegriffes

Alle Pflichten enthalten das Prinzip der „ N ö t i g u n g " durch das Gesetz. Insofern gibt es eine Analogie zum Recht, zu dessen Definition der Zwang gehört, durch welchen Menschen zu Verhaltensfiguren genötigt werden können. Aber der Unterschied ist, daß die „ethischen" Pflichten nur „innere" Nötigung kennen. Innere Nötigung schließt das Recht aus, äußeren Zwang auf Gesinnung oder auf Gesinnung mimende Gestik auszuüben. Sorgt innere Nötigung dafür, daß Rechtspflichten eingehalten werden, so ist in diesem Fall die „äußere" Gesetzgebung nicht nötig. Aber zu legalem Verhalten ist andererseits die innere Gesetzgebung und die von ihr ausgehende Nötigung nicht notwendig: hierzu ist auch „äußere Gesetzgebung möglich" sowie der in ihr vorgesehene äußere Zwang. So ist sichtbar, daß innerer Zwang und Nötigung mehr wirkt als äußerer: er umfaßt moralisches und legales Verhalten. 41 In beiden Gesetzgebungen, der moralischen sowie der legalen, liegt also der Begriffeines ,,. . . Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Zwang durch einen Andern sein: da dann das moralische Vermögen des ersteren Tugend und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, obgleich das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt. Denn es ist die T u g e n d l e h r e , welche gebietet, das Recht der Menschen heilig zu halten." 42 Es ist aufschlußreich, daß Kant das Wirken der ethischen Urteilskraft durch Analogie mit der juridischen charakterisiert. Der Mensch sei der „geborene Richter über sich selbst". 4 3 Jeder Pflichtbegriff enthalte 40 41

42 43

VI, S. 394, S. 379ff. Vgl. meine Untersuchung: Moral und Recht in der Philosophie Kants, in: „Recht und Ethik", (Hrsg. Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter), Frankfurt/M., 1970, S. 43ff.). VI, S. 394. Vgl. auch VI, S. 438.

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Herrschaft und Dialektik

objektive Nötigung durchs Gesetz und gehöre dem „praktischen Verstände" an, der die Regel gibt. „Die innere Z u r e c h n u n g aber einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles . . . gehört zur U r t e i l s k r a f t . . ., welche als das subjektive Prinzip der Zurechnung der Handlung, ob sie als Tat (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urteilt; worauf denn der Schluß der V e r n u n f t (die Sentenz), d.i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurteilung oder Lossprechung) folgt: welches alles vor Gericht . . ., als einer dem Gesetz Effekt verschaffenden moralischen Person, G e r i c h t s h o f (forum) genannt, geschieht. — Das Bewußtsein eines i n n e r e n G e r i c h t s h o f e s im Menschen (vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen) ist das G e w i s s e n " . 4 4 Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen „ . . . inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) m a c h t , sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt." 45 Durch die im moralischen Sein hergestellte Herrschaftsordnung wird eine innere Verfassung verwirklicht. Ihr Charakter und dessen Bildung wird von Kant in einer Sprache beschrieben, die sich rechtlich-politischer Kategorien bedient. Der Mensch wird als vor die Aufgabe gestellt beschrieben, die Herrschaftsverhältnisse in seinem eigenen Bewußtsein zu revolutionieren, um ein praktisches S e i n zu gewinnen, das ihm ein dementsprechendes vernünftiges Handeln zur Notwendigkeit macht. Jetzt soll seiner Natur Zwang angetan werden: dieser „Selbstzwang" sowie die „Unvermeidlichkeit desselben gibt doch die unbegreifliche Eigenschaft der F r e i h e i t selbst zu erkennen." Das heißt: daß wir Freiheit nicht als erklärbare und erkennbare Erscheinung der Natur ansprechen und behandeln können, wohl aber in praktischer Absicht als Verfassung des Beherrschtseins durch Vernunft. Sich selbst in einen Zustand zu bringen, welcher als „Oberherrschaft" der Vernunft über die praktische Verfassung angesprochen werden kann, 4 6 44 45 46

VI, S. 438. VI, S. 438. Paul Menzer, Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, S. 172: „Von der Oberherrschaft über sich selbst". Hier ist die Passage lehrreich (S. 174): „Kann der Mensch über sich herrschen, wenn er will? Es scheint dieses zwar so zu sein, weil es auf ihm zu beruhen scheint, und man glaubt, daß es schwerer sei, die Herrschaft über andere

Rechtlich-politische Beschreibung des ethischen Herrschaftsbegriffes

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gehört zu den Pflichten gegen sich selbst. Unter diesem Zustand wird eine Situation verstanden, in welcher die Person die „wesentlichen Zwecke der Menschheit" 4 7 zum Maßstab ihres praktischen Denkens und Urteilens wählt. Sie repräsentiert dann als leibhaftige Wirklichkeit diese Vernunftzwecke. Dem entspricht die Devise: „Suche über dich selbst die Herrschaft zu unterhalten, denn unter dieser Bedingung bist du tüchtig, die Pflichten gegen dich selbst auszuüben." Die inneren Herrschaftsverhältnisse im Menschen werden in Analogie zu Verhältnissen in der Gesellschaft gebracht, wie es von Piaton her bekannt ist. Im Menschen gibt es einen gewissen „Pöbel", der unter der Regierung stehen müsse und der ein wachsames Regiment benötige. Hier sei Gewalt am Platze, „. . . diesen Pöbel der Anordnung der Regierung gemäß unter die Regeln zu zwingen". 4 8 Dieser Pöbel ist die Sinnlichkeit, die unter die Gewalt des Gesetzes zu bringen ist. Sie ist dann moralisch gerettet, wenn sie sich in der Lage der Abhängigkeit von Vernunft befindet. Es ist die Rede von der „exekutiven Gewalt der Vorschrift der Vernunft über die Handlungen, die aus der Sinnlichkeit entspringen." Wie an andern Stellen, so kommt auch hier der Unterschied zwischen dem pragmatischen und praktischen Aspekt ins Spiel. Es gibt eine Disziplin der Klugheit, die als pragmatisch zu bezeichnen ist: sie findet statt, wenn man sich aus Gesundheitsgründen des Essens oder Trinkens enthält, obwohl man großes Verlangen danach hätte. Moralische Disziplin aber bedeutet

47 48

zu bekommen als über sich selbst. Allein eben weil es eine Herrschaft über uns selbst ist, so ist sie schwer, denn da ist unsere Gewalt geteilt, da ist die Sinnlichkeit wider den Verstand im Streit, wollen wir aber über andere Herrschaft haben, so sammeln wir unsere ganze Gewalt. Die Herrschaft über uns ist auch daher schwer, weil das moralische Gesetz zwar Vorschriften, aber keine Triebfedern hat; es fehlt ihm die exekutive Gewalt und diese ist das moralische Gefühl. Dieses moralische Gefühl ist keine Unterscheidung des Bösen und Guten, sondern eine Triebfeder, wo unsere Sinnlichkeit mit dem Verstände übereinstimmt. Menschen können zwar eine gute Beurteilungskraft im Moralischen haben, aber kein Gefühl. Sie sehen wohl ein, daß eine Handlung nicht gut, sondern strafwürdig sei; aber sie begehen sie doch. Nun beruht aber die Herrschaft über sich selbst auf der Stärke des moralischen Gefühls. Wir können gut über uns herrschen, wenn wir die widerstehende Gewalt schwächen. Dieses aber tun wir, wenn wir sie teilen; folglich müssen wir uns erst selbst disziplinieren, d. i. in Ansehung seiner selbst durch wiederholte Handlungen den Hang ausrotten, der aus der sinnlichen Triebfeder entspringt." Wie schon an andern Stellen wird hier betont, daß das moralische Gefühl die Funktion der Triebfeder hat, deren Kraft sich die Vernunft zu bedienen hat, um Macht über das Subjekt und sein Handeln zu gewinnen. Das Gefühl ist nicht praktisches Erkenntnisorgan, sondern Machtinstrument für die Vernunft. P. Menzer, Vorlesung Kants über Ethik, S. 177. Menzer, 1. c., S. 172f.

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Herrschaft und Dialektik

Herrschaft und „Zwang" des moralischen Gesetzs über den Menschen. Es gibt Pflichten gegen uns selbst: die Herstellung derjenigen Herrschaftsordnung, die als Disziplin der Vernunft angesprochen werden kann, ist oberste dieser Pflichten. „Folglich können wir sagen: die Oberherrschaft über sich selbst ist die höchste Pflicht gegen sich selbst." Sie besteht darin, daß wir die wilde natürliche Freiheit unserer Willkür der Regel der Vernunft zu unterwerfen vermögen. Praktische Vernunft sei „souverän" und ihre Gesetze „befehlen kategorisch über die Sinnlichkeit . . .*' 49 Setze ich meine Natur unter Zwang und „nötige" sie unter das Gesetz der praktischen Vernunft, so erreichte ich die Herrschaft der Vernunft über meine Natur. „Gefesselte Natur" begegnet auf diese Weise auch in praktischer Bedeutung, sofern ich als Vernunft die Rolle des Herrn über mich selbst und meine Natur übernehme. Vernunft, die für sich machtlos ist, bedient sich der natürlichen Lebenskräfte, damit diese an ihrer eigenen Natürlichkeit selbst Zwang ausüben. 50 Gefesselte Natur im praktischen Sinne erweist sich als der Bereich, dessen Kräfte von der Vernunft dazu gebraucht werden, um sich selbst unter das Gesetz zu nötigen. Kant macht in seiner Rede von Zwang, Nötigung, Unterwerfung und Gehorsam darauf aufmerksam, daß auch in der Moralität, nicht nur im Recht, ein „Zwang" eigentümlicher Art gesehen werden muß. Die Besonderheit des moralischen Zwanges darf nicht verkannt werden: er unterscheidet sich vom rechtlichen Zwang dadurch, daß es in der Moralität die Vernunft selbst ist, die ihn über die Natur im Inneren des Menschen ausübt. Dagegen wird der juridische Zwang von der Gesellschaft gegenüber dem Bürger gebraucht. In beiden Fällen geht es darum, auf je verschiedene Weise die Verwirklichung der praktischen Vernunft zu erreichen und deren Herrschaftsanspruch zu erfüllen. Um Souverän über uns selbst zu sein, müssen wir „der Moralität die höchste Gewalt über uns geben, daß sie über unsere Sinnlichkeit herrsche." Es scheint zunächst, daß es schwerer sei, die Herrschaft über andere zu gewinnen, als über sich selbst. Aber es sei vielleicht besonders schwer, den Sieg über sich selbst und mit ihm die Herrschaft der Vernunft über die eigene Natur zu gewinnen, da unsere „Gewalt" geteilt sei, sofern die Sinnlichkeit, die ja auch zu uns gehört, ihre Kraft aufbietet, um ihrerseits zu herrschen. Wie kann praktische Vernunft Macht über uns gewinnen 49 50

M e n z e r , I . e . , S. 173. Vgl. auch Spinozas Ethik, 4. Teil, Lehrsatz 7 : „Ein Affekt kann nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen Affekt, der entgegengesetzt und der stärker ist als der zu hemmende Affekt."

Rechtlich-politische Beschreibung des ethischen Herrschaftsbegriffes

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und uns nicht nur in der Form des moralischen Gesetzes Vorschriften erlassen, sondern zugleich auch als „Triebfeder" auf uns wirken? Wie kann sie mit einer gewissen N o t w e n d i g k e i t unser Sein bestimmen, statt uns nur ein S o l l e n vorstellig zu machen? Es fehlt dem Gesetz die „exekutive Gewalt", und diese sei das moralische Gefühl. Noch einmal mag ein Blick auf die für das praktische Bewußtsein bedeutsame „innerpolitische" Rolle des Gefühls geworfen werden. Das Gewicht des Plädoyers für das moralische Gefühl liegt nicht darin, daß in ihm ein E r k e n n t n i s o r g a n für gut und böse zu sehen ist; der Gefühlsethiker, der sein Plädoyer auf dieses erkenntnistheoretische Argument stützt, hat wegen der Unmittelbarkeit und Zufälligkeit des Gefühls eine schwache Position. Aber unentbehrlich wird die Berufung auf das Gefühl, wenn die Frage der Kraft bzw. der Macht gestellt wird, mit der sich die moralische Vorschrift verbinden soll. Diese Rolle des Gefühls in der konfliktreichen Struktur des moralischen Bewußtseins des Menschen erkennt Kant voll an: es gibt Menschen, die unter Umständen eine gute Beurteilungskraft im Moralischen haben, aber gefühlsschwach seien. 51 Sie sehen wohl ein, daß eine Handlung schlecht oder strafwürdig sei: aber sie begehen sie doch. Es fehlt ihnen moralische Kraft, welche die Herrschaft der Vernunft im Handelnden verbürgt. Kant spricht von der „Autokratie", von der Herrschaft über sich selbst, die nur dann Wirklichkeit wird, wenn es ein moralisches Gefühl gibt, welche sich mit der Kraft der Leidenschaft der Sache der Vernunft annimmt, die es zur Herrschaft bringt. Vernunft muß selbst durch kluge Strategie das natürliche Gefühl im Menschen gleichsam überreden und es dadurch im moralischen Sinne um-stimmen. Das bedeutet nicht, daß sich Vernunft mit den Affekten auf ein und dieselbe Ebene begeben würde, um auf dieser den Kampf um die Macht auszutragen. Kant betont, daß der Selbstzwang nicht „vermittelst anderer Neigungen, sondern durch reine praktische Vernunft (welche alle diese Vermittelung verschmäht)", geschehe. 52 Vernunft bringt bei ihrer Strategie der Machtgewinnung neue M a ß s t ä b e der Bewertung dadurch zur Geltung, daß sie im Menschen einen U b e r g a n g vom Zustand der Befangenheit in Selbstliebe und Selbstsucht zum Maßstab allgemeiner und gemeinsamer Gesetzgebung vollzieht. Die neue Herrschaftslage der Vernunft wird dadurch hergestellt, daß sie sich auf eine Ebene begibt: sie verläßt die Ebene, auf welcher der „Pöbel" der Affekte sich herumstreitet.

51 52

P. Menzer, Kants Vorlesung über Ethik, Halle 1924, S. 174. V I , S. 396.

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Herrschaft und Dialektik

Daß die Sinnlichkeit dem „Pöbel" in uns gleichzuachten sei, der nicht denkt und der daher unter die Herrschaft der Vernunft53 bzw. des Verstandes gebracht werden müsse, wird auch in der Anthropologie betont. 54 Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin, daß er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn „seiner f r e i e n W i l l k ü r " zu unterwerfen. Dazu werde erfordert, daß der Verstand die Herrschaft habe, ohne aber die Sinnlichkeit zu schwächen: deshalb, weil es ohne sie keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte. Hier hat Kant vor allem die theoretische Stellung der Sinnlichkeit vor Augen. Er verteidigt sie gegen Vorwürfe, von denen in diesem Zusammenhang derjenige von Interesse ist, daß sie das große Wort führe und als „ H e r r s c h e r i n , da sie doch nur die D i e n e r i n des Verstandes sein sollte, halsstarrig und schwer zu bändigen sei . . ." (§ 8) In der Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen diese Anklage (§ 10) versucht Kant dagegen richtig zu stellen, daß sich die Sinne nur dem Verstände anbieten, damit dieser über ihre Verbindung disponieren möge. Es gebe zwar Aussagen, die unmittelbar durch sinnliche Anschauung diktiert zu sein scheinen und bei denen man es daher als unangemessen ansieht, sie vor den Richterstuhl des Verstandes zu bringen. Sinnsprüche oder „orakelmäßige Anwandlungen" gehören hierzu. Aber sie beruhen mehr auf einer Dunkelheit des Verstandes als auf der Anmaßung der Sinne. Die „Sinne machen darauf keinen Anspruch und sind, wie das gemeine Volk, welches, wenn es nicht Pöbel 53

In der Ethik-Vorlesung (Menzer S. 174f.) beschreibt Kant die Herstellung des unser praktisches Sein und die Herrschaft der Vernunft verbürgenden Gefühls mehr pädagogischanthropologisch. Wir gewinnen die Herrschaft über uns, so heißt es in dieser Vorlesung, wenn wir die „widerstehende Gewalt schwächen". Das geschieht dadurch, daß wir sie teile η, d. h. ihr den einen Teil ihrer Energie abziehen, um ihn für die Selbstdisziplin in Anspruch zu nehmen. Durch „wiederholte Handlungen" gilt es, eine Politik auszubilden, um den „Hang auszurotten, der aus der sinnlichen Triebfeder entspringt." Das geschieht durch Achtsamkeit auf sich, durch immer wiederholte Rechenschaft vor dem „innerlichen Richter", wobei durch „lange Übungen dem moralischen Bewegungsgrunde" eine gewisse Macht und Stärke gegeben wird und „durch Kultur eine Gewohnheit erworben wird in Ansehung des moralischen Guten und Bösen Lust oder Unlust zu bezeigen." Dadurch werde das moralische Gefühl kultiviert, der Moralität Stärke und Triebfeder verliehen und in diesem selben Maße die Sinnlichkeit geschwächt und „überwogen". Wo diese Herrschaft über sich selbst nicht erreicht wird, herrscht A n a r c h i e . — Stelle der Mensch in sich nicht Autokratie her, so werde er zum Spielball anderer Kräfte und Eindrücke und hängt am Ende „vom Zufall und vom willkürlichen Lauf der Umstände ab". Hat er sich nicht in der Hand, so wird er „nach den Gesetzen der Assoziation fortgerissen, weil er sich den Sinnen gerne ergibt". 54 Anthropologie in pragmatischer Absicht, Königsberg, 1798, S. 30-33 (§§ 8-10).

Rechtlich-politische Beschreibung des ethischen Herrschaftsbegriffes

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ist (ignorabile vulgus), seinem Obern, dem Verstände, sich zwar gern unterwirft, aber doch gehört werden will." Die Einschätzung der Sinnlichkeit auf praktischem Felde fällt nicht so günstig aus: da hier eine Kampfsituation zwischen den Ansprüchen der Vernunft und denen der Sinnlichkeit zu meistern ist und die Sinnlichkeit der praktischen Vernunft nicht erst Bedeutung und Wirklichkeit zu verschaffen hat, sondern für sie Herausforderung ist. Vernunft wird durch Sinnlichkeit in eine Situation des Kampfes um die Herrschaft gebracht. Sie wird dazu herausgefordert, der in dieser liegenden Kraft eine Richtung zu geben, die dem praktischen Gesetz gemäß ist. Herrschaft der Vernunft ist nicht durch „äußeren" Zwang bewirkt und gesichert, vielmehr ist sie durch Herstellung einer V e r f a s s u n g des Subjekts zustandegebracht und in ihr begründet. Sie betrifft die S t e l l u n g des Subjekts zum Gesetz und seinem Gegenstand gegenüber. „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der U n t e r o r d n u n g meines Willens unter einem Gesetz ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinem Sinn bedeutet." Diese unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz, die eine bestimmte S t e l l u n g des praktischen Denkens dem Gesetz gegenüber bedeutet, vollzieht sich in der anderwärts genau studierten Achtung. Diese müsse als „ W i r k u n g " des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache dieses Gesetzes angesehen werden. Auf Grund des Gesetzes selbst nämlich bildet das Subjekt den Charakter seiner Stellung diesem Gesetz gegenüber. Achtung sei die Vorstellung „von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut". Hierin ist ausgesprochen, daß das Subjekt auf Grund seines Standnehmens auf dem Boden der Vernunft die Perspektive für eine I n t e r p r e t a t i o n wählt, in welcher dem Gesetz der W e r t und damit auch die M a c h t zugesprochen wird, während der Selbstliebe und dem Eigendünkel „Abbruch" getan wird. Weder Neigung noch Furcht beherrschen jetzt das Subjekt, obgleich die Achtung, durch welche die Vernunft Macht über dieses bekommt, mit beiden „zugleich etwas Analogisches" hat. 5 5 Vernunft sieht sich in der Situation des Amboß- oder Hammerseins: entweder herrscht sie und dominiert über die Natur, oder es dominiert die Natur und sie unterliegt. Dieses Modell von Herrschaft und Knechtschaft im Zusammenhang mit dem Willen der Vernunft zur Macht fällt besonders in die Augen, wenn man die Titel der zwei letzten Kapitel in Spinozas 55

IV, S. 401.

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Herrschaft und Dialektik

Ethik betrachtet: hier ist „von der Knechtschaft des Menschen oder der Herrschaft der Leidenschaften" einerseits, und anderseits „von der F r e i heit des Menschen oder der Macht der Vernunft" die Rede. Der Mensch wird seiner selbst mächtig, sofern er sich auf den Bereich konzentriert und beschränkt, den er ganz in seiner Hand hat. Er ist der Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Natur im „Innern" des Subjekts selbst. Da die menschliche Existenz als Geschichte von vernünftigem Denken und Wollen auf dem „Rücken eines Tigers" (Nietzsche) zu verstehen und Vernunft einer kleinen Insel des Bewußtseins inmitten einem Meer von Naturmacht zu vergleichen ist, muß diese ihren Anspruch auf Herrschaft zunächst auf diese Insel des „Inneren" konzentrieren. Hier kann sie ihre Techniken und Methoden ausbilden, um ihre Macht schrittweise auf dem Wege menschlichen Handelns auch auf die „äußere" Wirklichkeit so weit auszudehnen wie es geht. Das ergibt ein philosophisches Konzept, bei dem das praktische Apriori und mit ihm das Spontaneitätsprinzip zunächst in voller Reinheit „dargestellt" 56 werden muß, damit seine „Anwendung" auf Empirie untersucht werden kann. Lessing macht sich im Sinne Kants zum Wortführer der neuzeitlichen Vernunft, wenn er in den „Gedanken über die Herrenhuter" sagt: „Der Mensch ward zum T u n und nicht zum Vernünfteln geschaffen. Törichte Sterbliche, was über Euch ist, ist nicht für Euch! Kehrt den Blick in Euch selbst! In Euch sind die unerforschten Tiefen, worin Ihr Euch mit N u t z e n verlieren könnt! — Hier richtet das Reich auf, wo Ihr Untertan und König seid. Hier begreift und beherrscht das einzige, was Ihr begreifen und beherrschen sollt: Euch selbst!" Kant ist es darum zu tun, Freiheit im praktischen Verstände als Symptom des Anspruchs der Vernunft auf Herrschaft sichtbar zu machen und sie von nichtvernünftigen Faktoren zu reinigen. Daher spürt er den ethischen Positionen bis in die letzten Schlupfwinkel nach, welche trotz Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit immer noch heteronome Einflüsse geduldet haben. Ein Beispiel ist die konsequente Behauptung der in Reinkultur gedachten Freiheit. Spricht ζ. B. der Physiker von „freier" Bewegung, oder ist vom „Automaten" oder von „Selbststeuerung", „Selbstregulierung" die Rede, dann ist von Kant her der Bedeutung dieser Wörter nur ein „ k o m p a r a t i v e r " Sinn von frei und Freiheit zuzubilligen. Sie bedeuten, daß ein Körper auf Grund „eigener", d. i. zu seiner „ N a t u r " gehörender Antriebe agiert, statt von „außen" bewegt zu wer56

D a s W o r t ist im Sinne des Sprachgebrauchs der Chemiker zu verstehen.

Rechtlich-politische Beschreibung des ethischen Herrschaftsbegriffes

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den. Aber er wird durch seine physischen Kräfte bewegt; von einem „Selbst" ist keine Rede. Von dieser Art ist die angebliche Freiheit eines Automaten wie des „Bratenwenders". So kann man den Menschen in die Perspektive mechanischer Kräftewirkungen rücken, was ζ. B. geschieht, wenn man seine Entscheidung nach dem Modell der Resultate deutet, die sich aus dem Zusammenwirken heterogener Antriebe ergeben. 57 Man kann menschliches Handeln in der Perspektive mechanischer Notwendigkeit sehen: in diesen Zusammenhang geht menschliche Freiheit als „Zufall" ein. Kant führt im Hinblick auf die Aufgabe, menschliche Handlung v o r h e r z u s a g e n , die Wahrscheinlichkeitsrechnung ins Feld. Die mit dem Zufall rechnende Statistik erreicht den Begriff der Freiheit nicht, weil es ihr Bestreben ist, die Kausalität unserer Entscheidungsbildung wenigstens im Kollektiv zu fassen und menschliches Verhalten trotz des am individuellen Handeln hervortretenden Zufalls berechenbar zu machen. Kant wirft den Empiristen und Naturalisten vor, daß sie bei d i e s e r Perspektive, die in den Naturwissenschaften brauchbar und angemessen ist, stehenbleiben. Wird das in ihr befangene Denken vor die Aufgabe gestellt, über die Freiheit auszusagen, dann kommt es zu einem „elenden Behelf", sofern eine der Freiheit unangemessene Sprache dazu gebraucht wird, menschliche Handlungen zu beschreiben. „. . . eben so die Handlungen des Menschen, ob sie gleich durch ihre Bestimmungsgründe, die in der Zeit vorhergehen, notwendig sind, dennoch frei nennen, weil es doch innere, durch unsere eigene Kräfte hervorgebrachte Vorstellungen, dadurch nach veranlassenden Umständen erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben bewirkte Handlungen sind, ist ein elender Behelf . . , " 5 8 Auch psychologische Kausalität ist immer noch Naturnotwendigkeit. Dabei werden „Bestimmungsgründe der Kausalität eines Wesens" maßgebend, weil man die menschliche Handlung in die Perspektive der natürlichen Notwendigkeit und des Zeit-Raum-Kontinuums rückt, in der „sein Dasein in der Zeit bestimmbar ist, mithin unter notwendigmachenden Bedingungen der vergangenen Zeit . . . " steht. Kant spricht von einer „inneren Verkettung der Vorstellungen der Seele" und spielt dabei auf die naturalistische Assoziationslehre Humes an. Die empirische Psychologie, auf deren Sprache man in diesem Lager die Freiheit zu bringen sucht, gehört zu den Wissenschaften von der Natur, wobei es sich

57 58

Vgl. meine „Ethik und Metaethik", Darmstadt 1974, S. 186f. V , S. 96.

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Herrschaft und Dialektik

hier um „innere" Natur handelt. In diesem Bereich gibt es keine transzendentale oder praktische Freiheit. Das Subjekt handelt unter „notwendigmachenden Bedingungen", die vergangen und deshalb „ n i c h t m e h r in s e i n e r G e w a l t s i n d . . .". 5 9 Das, was als „reines Handeln" bezeichnet wurde, setzt eine Verfassung des praktischen Bewußtseins als praktisches Sein voraus, bei dem Vernunft die Herrschaft in Händen hat und den Bestimmungsgrund dafür abgibt, was geschieht. Der Satz vom „Praktisch"-werden der Vernunft ist gleichbedeutend mit der Behauptung ihrer Herrschaft über die Wirklichkeit. Die Struktur dieser Herrschaft mag auch in religionsphilosophischer Perspektive betrachtet werden.

4. Die Notwendigkeit in der Freiheit und das „Praktische in der Religionsphilosophie

Sein"

Der Gedanke des „praktischen Seins", in dessen Umkreis die Uberlegungen zu Gewissen, Gesinnung, Achtung usw. aufgetreten sind, wird durch die Einsicht gefordert, daß sich Freiheit nicht nur in der moralischen Reflexion verwirklicht, sondern ein Standnehmen auf dem Boden vernünftig verfaßter Welt fordert. Dadurch wird eine „Substanz" des Handelnden in der Form praktischen Seins gebildet. Die Denker, welche auf das substantielle Sein mit Nachdruck verweisen, wie Spinoza, Lessing, Schelling, Hegel und Nietzsche, sprechen auch von einer spezifischen Notwendigkeit, die sie in der Freiheit selbst entdeckt haben. Sie gibt der Handlung ein Aussehen, als ob sie seiner „Natur" zu verdanken wäre. Auch die im Anschluß an Kantische Voraussetzungen zum Begriff des praktischen Seins beigebrachten Bestimmungen zielen darauf ab, daß Freiheit nicht allein auf die je gegenwärtige Entscheidung, auf Bewußtsein und Sollensverpflichtung gegründet ist, sondern auf einen beständigen und dauerhaften Charakter der handelnden Person selbst. Wenn wir einen Blick auf Schelling und Hegel werfen, so stellen sie ihre Philosophie der Freiheit unter die Devise der Uberwindung des Gegensatzes zwischen Sein und Sollen, Natur und Bewußtsein. Sie stellen sich auf die Seite des Seins der Freiheit und sehen in Kant ihren Gegner, dem sie als Denker der „Moralität" die ausschließliche Berufung auf das Sollen und die gegenwärtige Entscheidung unterstellen. Schelling führt in 59

V , S. 96/97.

Praktisches Sein in der Religionsphilosophie

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seiner Polemik gegen Kant den Mangel, den er an dessen Freiheitsbegriff sieht, darauf zurück, daß dieser bei seiner Gegenüberstellung von Freiheit und Naturnotwendigkeit unzureichende Begriffe der beiden unterschiedenen Prinzipien zugrunde gelegt habe. 6 0 Kant behauptet, so wird ihm vorgehalten, die „gänzliche Vernunftund Gedankenlosigkeit der Natur". Er suche Vernunft und Freiheit ausschließlich auf der Seite subjektiver Reflexion. Unter diesen Voraussetzungen begreife er das „Verhältnis" zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit. Schelling fordert dazu auf, „Notwendigkeit" als Modalität der freien, nicht nur der gefesselten Natur zu begreifen, und er beruft sich dabei auf Spinoza. Unter dieser Voraussetzung wird Freiheit nicht als Verfassung des der Natur gegenüberstehenden Subjekts und Notwendigkeit nicht als diejenige einer mechanisch verfaßten Natur angesehen. Freiheit zeigt dann derjenige, der seiner richtig verstandenen „Natur" gemäß handelt. Der von Schelling behauptete Identitätsgedanke zielt auf Freiheit in der Notwendigkeit und Notwendigkeit in der Freiheit ab. Er sucht den Gedanken der freien vernünftigen Natur des Handelnden zu fassen und dabei den Begriff eines vernünftigen Seins zu gewinnen, welches mit dem Sollen identisch ist. Wenn in „spekulativer" Rede ausgesagt werde, daß Freiheit und Notwendigkeit Eines seien, dann müsse man darin folgenden Sinn sehen: dasjenige, „welches Wesen der sittlichen Welt ist", sei auch „Wesen der Natur". 6 1 Verstehe man „Identität" freilich bloß im abstrakten Sinne, etwa gemäß dem logischen Satz von der Identität, dann verfehle man den hier anvisierten Bezug von Freiheit und Naturnotwendigkeit. Der „reale" und „lebendige" Begriff der Freiheit sei dann erreicht, wenn man sie als „Vermögen des Guten und des Bösen" begreife. 62 Die Entscheidung darüber, ob sich ein Handelnder zum Guten oder zum Bösen wendet, ist schon v o r dem Anfang der empirischen Geschichte einer Handlung gefallen. Freiheit bedeutet nicht beliebige Möglichkeit des empirisch konkreten Menschen zum Guten und Bösen. Der Mensch hat vielmehr von vornherein einen guten oder bösen C h a r a k t e r . Seine 60

61 62

Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), Schellings Werke (Schroeter), 4. Hauptbd., S. 223 ff. Zu den Philosophen, die das Bewußtsein und seinen Willenscharakter in ein umfassendes Sein aufnehmen, in welchem es als „kleine" Vernunft aufgeht, gehört auch Nietzsche. ibidem S. 234. ibidem S. 244.

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Freiheit ist diejenige seines Seins und bedeutet nicht liberum arbitrium. Durch eine ursprüngliche, vor der Geschichte des Handelns liegende Tat hat sich der Mensch dem Guten oder dem Bösen zugewandt und dadurch in Freiheit sein „Sein" hergestellt, welches seinen empirischen Handlungsgeschichten den Charakter gibt. Jede Handlung folgt aus der inneren Notwendigkeit des „Wesens". Frei sei, was nur „ . . . den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist." 6 3 Die Situation des Seins der Freiheit beschreibt Schelling in mythischer Sprache so: der Mensch sei in der „ursprünglichen Schöpfung" unentschieden. Die Entscheidung, die er selbst zu treffen hat, kann nicht in die empirische Zeit fallen. Sie gehört der zeitlosen, anfänglichen „Phase" seiner Existenz und seines Handelns an: denn er ist zeitlos im Anfang der Schöpfung erschaffen worden, wenn er auch als empirisches Wesen in die Zeit hinein geboren wird. Der „Anfang" seiner Handlung gehört selbst nicht der Zeit, sondern der „Ewigkeit" an. Diese geht den Handlungen nicht der Zeit nach voran, sondern erstreckt sich durch das zeitliche Leben hindurch als ein die Lebensgeschichte fundierendes Prinzip. 64 Wie der Mensch hier in diesem empirischen Leben handelt, so hat er „von Ewigkeit und schon im Anfang der Schöpfung gehandelt." Handeln ist, wie das sittliche Wesen: Mensch selbst nicht erst als innergeschichtliches Ereignis faßbar, sondern muß als der „Natur nach ewig" begriffen werden. 6 5 Der Mensch ist durchaus Handlung und Tat, dieses aber im „ursprünglichen", prinzipiellen, d. h. anfänglichen Sinne. Zum Bösen hat sich der Handelnde dann entschieden, wenn er seine Selbständigkeit in der apriorischen Entscheidung auf einen Gebrauch hin angelegt hat, demgemäß er sich gegen das G a n z e eigensinnig wendet, welches sich als Identität von Vernunft und Natur darstellt. Ist der Eigenwille aus dem „Zentrum" als „seiner S t e l l e " gewichen, befindet er sich in Zwietracht mit seinem eigenen Grunde, der Identität zwischen seinem Bewußtsein und seiner Natur: diese Zwietracht ist böse. Das Böse gewinnt von hieraus gesehen den Charakter der Verkehrung (Perversion) gegen sich selbst und seinen „Grund". 6 6 63

64 65 66

ibidem S. 276. D a s v o n Schelling zitierte „ W e s e n " kann mit der Aristotelischen Physis in Zusammenhang gebracht werden, aber unterscheidet sich von dieser durch seinen subjektiven Freiheitscharakter und seine Geschichtlichkeit. ibidem S. 277. ibidem S. 279. ibidem S. 257/58. V g l . auch die von Kant gegebene Bestimmung des Bösen als Perversion.

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Identität von Bewußtsein und Sein, Freiheit und Naturnotwendigkeit kann man auch in Analogie zu dem „Verhältnis" zwischen dem substantiellen „Grund" und den Akzidenzien oder auch dem zwischen Subjekt und Prädikat begreifen. Die „alte tiefsinnige Logik" habe „Subjekt und Prädikat als vorangehendes und folgendes, (Antezedens und Konsequens) unterschieden und damit den „reelen Sinn des Identitätsgesetzes" ausgedrückt. Darin sei impliziert, daß das Subjekt dem Prädikat zugrunde liege und trotzdem dessen Selbständigkeit nicht vernichte. „Selbst in dem tautologischen Satz, wenn er nicht etwa ganz sinnlos sein soll, bleibt dies Verhältnis. Wer da sagt: Der Körper ist Körper, denkt bei dem Subjekt des Satzes zuverlässig etwas anderes als bei dem Prädikat; bei jenem nämlich die Einheit, bei diesem die einzelnen im Begriff des Körpers enthaltenen Eigenschaften, die sich zu demselben wie Antezedens zum Konsequens verhalten." Wenn das Subjekt als Basis der Prädikate deklariert wird, so ist damit zugleich ausgesagt, daß es die Vielheit der durch die Prädikate angesprochenen Eigenschaften zur Einheit verbindet. Daher kommt Schelling auf jene „ältere Erklärung" zu sprechen, derzufolge Subjekt und Prädikat aufeinander wie das „Eingewickelte und Entfaltete (implicitum et explicitum)" bezogen wurden. 67 An anderer Stelle wird das Verhältnis des Subjekts zum Prädikat mit demjenigen des Grundes zur Folge gleichgesetzt. Das vom Grunde Abhängige muß auf Selbständigkeit, sogar auf Freiheit nicht verzichten, ebenso wie das Prädikat seine Eigenbedeutung behält, obwohl es auf das Subjekt bezogen wird und mit anderen Prädikaten zur Einheit eines einzigen Begriffes zusammengefaßt wird. „So werden die Gedanken wohl von der Seele erzeugt; aber der erzeugte Gedanke ist eine unabhängige Macht, für sich fortwirkend, ja, in der menschlichen Seele, so anwachsend, daß er seine eigne Mutter bezwingt und sich unterwirft." 68 Diese urteilslogischen Konsequenzen gehören in den Bereich des Gedankens der Notwendigkeit in der Freiheit, der Substantialität des Handelnden und seines praktischen Seins. So, wie diese Konzeption im Subjekt des Satzes eine Kraft als wirkend annimmt, welche die Vielheit der Prädikate vereinigt, so stiftet sie auch einen Bezug zum praktischen Bereich: hier übernimmt die Substanz bzw. das praktische Sein des Handelnden die Aufgabe des Be-gründens und Zusammenfassens der vielen

67

68

ibidem S. 234. Vgl. die in diesem Buch zu findenden Ausführungen zur SubjektLogik Kants, S. 38 ff. ibidem S. 238/39.

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möglichen Handlungsrücksichten zu einem einzigen in der Entscheidung festgehaltenen Handlungskonzept. Daß auf dem Boden der Kantischen Philosophie des Handelns ein apriorisches Sein auch in religionsphilosophischer Hinsicht behauptet wird, ist Thema der folgenden Ausführungen. Dabei wird aufs neue erkennbar werden, daß Hegels Vorwurf, Kant habe nur dem „Sollen" und der „unendlichen" Reflexion Geltung verschafft, statt dieser Reflexion einen Ruhepunkt und „Halt" in der Substanz des an und für sich seienden Willens bzw. der Sittlichkeit zu geben, zurückzuweisen ist. Die Überlegungen zum praktischen Sein, die bisher im Umkreis der Philosophie des Handelns begegnet sind, ergänzt Kant in seiner Religionsphilosophie dadurch, daß er den „vernünftigen" Sinn dessen zu fassen sucht, was in der Theologie als Erbsünde bezeichnet wird. Es geht hier um die Frage einer apriorischen Entscheidung, die „vor" der Geschichte des empirischen Handelns liegt. Durch solche Entscheidung wird die Verfassung des Handelnden hergestellt, der i n n e r h a l b der empirischen Geschichte des Handelns eine Wahl zwischen den Möglichkeiten trifft. Diese in einer apriorischen, zugleich freien Entscheidung hergestellte Verfassung des Handelnden liegt aller empirischen Entscheidung und Handlung zugrunde: durch sie wird die Freiheit verwirklicht, statt vernichtet zu werden. Auf diese Weise kommt der Gedanke zustande, daß der Handelnde nicht unbefangen und unbelastet in die Geschichte seines Handelns eintritt. Denn durch eine freie, apriorische Entscheidung hat er eine Grundbeschaffenheit in sich hergestellt, welche die Basis für seine empirischen Willensentscheidungen innerhalb der Geschichte seines Lebens abgibt. In dem Augenblick, in welchem der Handelnde in die Situation seines Handelns eintritt, sind die Würfel über die „Natur" seines Charakters schon gefallen. Die apriorische Grundbeschaffenheit, die er schon in die Handlungssituation mitbringt, ist Ergebnis nicht der unmittelbaren natürlichen Genese, sondern einer freien „ursprünglichen" Handlung. So kann ζ. B. Rousseaus Rede vom Gutsein des Menschen „von Natur aus" nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn man die Bedeutung des „Seins" des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, nicht der natürlichen Genese interpretiert. Auch die mythische Aussage von einem Sündenfall der Stammeltern der Menschheit, für den auch noch die fernsten Nachkommen mitverantwortlich zu machen seien, ist vom Standpunkt eines durch ursprüngliches Handeln hergestellten praktischen Seins aus philosophisch zu beurteilen.

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Unternimmt man es, den Charakter des praktischen Seins, welches die Geschichte des Handelns als Grundbeschaffenheit des Handelnden fundiert, zu „beschreiben", so entsteht ein Bild, wie wenn hier die „Natur" des Menschen portraitiert würde. In Wahrheit aber muß das praktische Sein als von Freiheit durchdrungen aufgefaßt werden, so daß es in die Reichweite unserer Verantwortlichkeit fällt. Es muß als Resultat eines noch vor aller innergeschichtlichen Entscheidung liegenden, vor-zeitigen Handelns aufgefaßt werden. Dieses Handeln liegt unserer „Persönlichkeit" in der Weise zugrunde, daß es noch die Voraussetzung für die Bildung unseres praktischen Seins, der Gesinnung, des Gewissens und der Achtung darstellt. In der Reflexion auf die „Wurzeln" der Geschichte unseres Handelns wird erkennbar, ob das grundlegende „Sein" des Menschen von Natur aus gut oder böse genannt werden muß. In diesem Zusammenhang begegnet Kants These, daß der Mensch „von Natur aus" auf das Gute hin angelegt ist, daß er aber zugleich einen sich selbst zugezogenen radikalen, d. i. wurzelhaften „ H a n g " zum Bösen hat. In welcher gedanklichen Situation befindet sich der Philosoph, wenn er über die Grundbeschaffenheit des menschlichen Seins denkt und spricht? Er muß sich klar darüber sein, daß er diese nur post festum in den Blick bekommt: er muß immer schon eine „innere" und „äußere" Geschichte seines Handelns erfahren haben, damit er darüber vom Standpunkt seiner wirklich v o l l z o g e n e n Freiheit aus zu denken und zu reden vermag. Er hat als denkender und handelnder Mensch beim Gebrauch dieser Freiheit „Erfahrungen" gemacht, von deren Perspektive aus er eine zu diesen Erfahrungen passende Welt zu entwerfen vermag, die er „ N a t u r " nennt. Wie auch in der Geschichtsphilosophie erkennbar wird, spielt diese Natur in der philosophischen Reflexion und Sprache die Rolle eines gegenständlich beschreibbaren Zusammenhanges. Man kann von diesem System „objektiver" Zusammenhänge im Entwurf Eigenschaften prädizieren, die es ermöglichen zu sagen, daß die „Natur" im Menschen eine „Anlage" zum Gutsein, aber zugleich einen „Hang" zum Bösen aufweise. Eine Aussage wie die, daß der Mensch „von Natur aus" gut sei, ist im Sinne kritischer Hermeneutik so zu interpretieren, daß in dem Entwurf der zum Gebrauch seiner Freiheit passenden Natur-weit vorgesehen ist, daß dieses Wesen noch einmal eine entscheidende freie Tat vollbringt, um sein Sein und Bewußtsein zu verändern, indem es sich aus der Befangenheit seines Hanges zum Bösen, d. i. zur Verkehrtheit (Perversion), befreit. Das geschieht durch Bildung der Gesinnung, des Gewissens, der Achtung und anderer Gestalten des „praktischen Seins". Die Geschichte der „Morali-

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sierung" beginnt erst in diesem Leben unter der Voraussetzung einer menschlichen Situation, die unter der „Macht" des Bösen steht. Religiöse Vernunft entwirft, analog wie auch geschichtliche, eine „Natur", in der wir Menschen uns im Anfang in moralisch rückständiger Verfassung vorfinden: wir befinden uns im sog. „Naturstande". Andererseits aber hat uns diese Natur dazu angelegt („Anlage zum Guten"), diese anfängliche Rückständigkeit durch eine Revolution der praktischen Denkart zu überwinden. Die „Anlage" zum Guten verwirklichen wir dadurch, daß wir uns über den engen Horizont unserer egoistischen Subjektivität hinaus- und in eine Vernunftwelt hineindenken, um uns an dieser für unser Handeln zu orientieren. Kant spricht von der „Anlage" für die P e r s ö n l i c h k e i t " , die als „Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, a l s e i n e r f ü r sich h i n r e i c h e n d e n T r i e b f e d e r der W i l l k ü r " bestimmt wird. Um philosophisch die Möglichkeit des Gebrauchs unserer Freiheit und die „Aufnahme" des Gesetzes in die Maxime unserer Willkür erklären zu können, müssen wir uns als „Geschöpfe" einer „Natur" denken, von der wir aussagen, daß sie uns nicht nur mit der Anlage der Empfänglichkeit für Achtung ausgestattet hat, sondern daß es zugleich ihre Absicht ist, daß wir in uns den „guten Charakter" und das praktische Sein selbst herstellen und „erwerben". 69 Die kritische Hermeneutik, die sich von der Perspektive unserer vollzogenen Freiheit aus ergibt, wird vor einer falschen Deutung des Wortes „Anlage" insofern bewahren, als sie sich einer Auslegung dieses Wortes entgegenstellt, in der nicht die ursprüngliche Freiheit berücksichtigt wird, die der Anlage zugrunde liegt. Betrachten wir uns nur in der Perspektive der Vernünftigkeit unter Ausklammerung unserer sinnlichen Antriebe und Bedürfnisse, so müssen wir eine Sprache sprechen, in der wir die Idee der Menschheit „ganz intellektuell" betrachten und von einer „Anlage für die Persönlichkeit" nicht reden können, weil diese ja ohnedies in diesem Aspekt fraglos hergestellt ist. Aber betrachten wir uns in der Perspektive unseres Ausgesetztseins gegenüber sinnlichen Antrieben und unseres „Ge69

„Die Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz in uns wäre das moralische Gefühl, welches für sich noch nicht einen Zweck der Naturanlage ausmacht, sondern nur sofern es Triebfeder der Willkür ist. Da dieses nun lediglich dadurch möglich wird, daß die freie Willkür es in ihre Maxime aufnimmt; so ist Beschaffenheit einer solchen W i l l k ü r der gute Charakter, welcher wie überhaupt jeder Charakter der freien Willkür etwas ist, das nur erworben werden kann, zu dessen Möglichkeit aber dennoch eine Anlage in unserer Natur vorhanden sein muß, worauf schlechterdings nichts Böses gepropft w e r d e n kann." (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Frankfurt/Leipzig 1 7 9 3 , S. 14 (VI, S. 27)).

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schöpf-seins", so müssen wir uns als zugehörig zu einer sowohl intelligiblen wie auch sinnlichen Natur denken, als deren Geschöpf wir uns zu betrachten haben. Dann gilt der Satz, daß der subjektive Grund dafür, daß wir die Achtung zur Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen, „den Namen einer Anlage" zur Persönlichkeit, d. i. zur Möglichkeit dieses Aufnehmens verdient. 70 Die Situation, die vorliegt, wenn wir in unsere empirische Handlungsgeschichte eintreten, ist folgendermaßen zu beschreiben: wir haben durch ursprüngliches Handeln einen Handlungscharakter in uns hergestellt, den wir als Naturstand bezeichnen. In ihn haben wir den Hang zum „Bösen" eingearbeitet, der uns dazu antreibt, statt dem Sittengesetz den sinnlichen Antrieben die Rolle des Bestimmungsgrundes für unseren Willen zu übertragen. Demnach sind in unserer „ N a t u r " die Voraussetzungen eines „ K a m p f e s " zwischen Gut und Böse gegeben, den wir in der Geschichte unseres Lebens zu bestehen haben. Was ist unter dem „ H a n g " zum Bösen zu verstehen, von dem Kant spricht? Der Handelnde versteht seine eigene Stellung im Aufbau der praktischen Konstellation in der Weise, daß er sich in eine „Natur" (d. i. Dasein unter Gesetzen) versetzt, innerhalb deren er sich selbst als Wesen versteht, in welchem die „richtige" Rangordnung zwischen Vernunft und Gegenvernunft „ a n g e l e g t " ist. Aber in einer „ursprünglichen", vorgeschichtlichen Handlung hat der Mensch die legitime Rangordnung zwischen bestimmender, herrschender Vernunft und Naturtrieb in die Richtung zum Bösen verkehrt: in der Verfassung seines Naturstandes hat sich diese Verkehrung in der Form eines ständigen Zuges seines Handlungscharakters niedergeschlagen und verfestigt. Jetzt sind wir primär darauf eingestellt, dem Naturtrieb die Herrschaftsrolle zu überlassen. Der „Hang zum Bösen in der menschlichen Natur" ist als vom Menschen selbst in Freiheit verschuldet zu denken. Wir haben seine Wirkung und Funktion in der menschlichen „Natur" so zu beschreiben, daß wir sagen: die Geschichte unseres Handelns beginnen wir in einer „radikal" pervertierten Verfassung, welche zu einer Verkehrung der im Interesse der Freiheit liegenden Herrschaftsordnung zwischen Vernunft und Unvernunft prädisponiert ist. Kant kennzeichnet drei „Stufen" des natürlichen Hanges zum Bösen, von denen die dritte ungeschminkt den Zug der „Bösartigkeit" bzw. der „Verderbtheit" des menschlichen Herzens zeigt, die im „Hang der Willkür zu Maximen" besteht die „. . . Trieb70

ibidem S. 14 (VI S. 27).

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feder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen." 7 1 Sie kann die „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen", weil sie die von der praktischen Vernunft vorgesehene Herrschaftsordnung zwischen Freiheit und Natur umkehrt. Das Böse gründet nicht in der Sinnlichkeit als solcher: diese ist weder gut noch böse zu nennen. Aber die Auflehnung gegen den „ R e c h t s a n s p r u c h " der Vernunft auf Herrschaft und die Übertragung der Macht über uns an die Sinnlichkeit, also der reale Widerstand gegen den von der Vernunft bestimmten Willen ist böse zu nennen. An diesen Wendungen wird sichtbar, daß Kant ebenso wie in der Moralphilosophie auch im Bereich religionsphilosophischen Denkens r e c h t l i c h - p o l i t i s c h e Kategorien anwendet. O b Gutheit oder Bösartigkeit im Menschen dominiert, ist nicht eine Frage seiner sinnlichen Natur als solcher, sondern geht das Herrschaftsverhältnis in ihm bzw. die Art der „Unterordnung", also quasi das moral-politische System im Menschen an. Nicht jede unmoralische Handlung ist böse. Dieses Prädikat ist in den Fällen gültig, in denen den natürlichen, triebhaften Bestimmungsgründen statt der Vernunft g r u n d s ä t z l i c h die Macht über den Willen übertragen wird. Es ist eine Frage der inneren moral-,.politischen" Verfassung: nicht die egoistische Bereicherung ζ. B. auf Kosten der andern ist schon ohne weiteres böse zu nennen. Diese Eigenschaft würde nur dann anzutreffen sein, wenn ein falsches Herrschaftsprinzip maßgebend sein würde. Bösartigkeit ist ein Ergebnis des Aufstandes und Widerstandes gegen das allein legitime Herrschaftsprinzip der Vernunft. Vernunft muß ihren rechtmäßigen Anspruch auf Herrschaft e r k ä m p f e n , was gleichbedeutend damit ist, daß die ursprüngliche Anlage zum Guten in Kraft gesetzt werden muß. Das „zweite Stück" von Kants Religionsschrift trägt die Überschrift: „Von dem Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen." 7 2 Die moralische Aufgabe des Menschen besteht darin, die Kraft der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns unangefochten wieder herzustellen und uns zu einem praktischen Sein auszubilden, in welchem die „richtigen" Herrschaftsverhältnisse verbürgt sind. Die Geschichte der Bildung des guten Seins in uns beginnt nicht mit einem indifferenten Anfang, sondern mit einem Hange unserer Natur, dem radikalen Bösen in uns Raum zu geben. Daher ist das Werden des guten Seins nicht als ungestörte und friedliche 71 72

VI, S. 3 0 . VI, S. 57.

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Entwicklung der guten Anlage in uns zu begreifen, sondern zeigt den Charakter einer „Revolution" der praktischen Denkart. Diese Revolution ist politik-analog zu verstehen: es handelt sich darum, daß wir der Vernunft in ihrem Kampfe um die Erfüllung ihres legitimen Herrschaftsanspruchs zum Siege verhelfen und daß, mythisch gesprochen, die Herrschaft des „Fürsten dieser Welt" beseitigt wird, damit Vernunft durch einen Umsturz in der Weise an die Regierung kommt, daß ihre Machtrolle zugleich als rechtlich legitim anerkannt wird. „Daß aber jemand nicht bloß ein g e s e t z l i c h , sondern ein m o r a l i s c h guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus noumenon) werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmähliche R e f o r m , solange die Grundlage der Maxime unlauter bleibt, sondern muß durch eine R e v o l u t i o n in der Gesinnung im Menschen (einen Ubergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung . . . und Änderung des Herzens werden." 73 Die Erfahrung über unsere menschliche Situation fordert uns zur Annahme einer ursprünglichen Verfassung des radikal Böseseins heraus, die wir uns selbst zugezogen haben. Die Wiederherstellung der richtigen Regierungsform in uns ist nur durch Revolution zu erreichen, die in unserer Lebensgeschichte immer neu zu vollziehen ist. Wir sind damit aufgefordert, einen Kampf zu bestehen, der zur Herstellung der Herrschaft der Vernunft führt. In diesem Zusammenhang wird sichtbar, daß der in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft hergestellte Bezug zur copernicanischen Wendung auch Eingang in die praktische Philosophie und deren religionsphilosophische Erweiterung findet. Von hieraus fällt im Rückblick ein scharfes Licht auf den Vorgang, den Kant in der theoretischen Philosophie als „Revolution der Denkart" bezeichnet. Kants Begriff von Revolution beinhaltet den Gedanken, daß es für die Einsetzung der Metaphysik als Wissenschaft darauf ankomme, die uns von der „Natur" unserer Vernunft nahegelegte Perspektive im Hinblick auf die Gegenstände unseres Erkennens in der Weise copernicanisch zu überschreiten, daß wir uns nicht durch „Gegebenes" bestimmen lassen, sondern den Weg der Autonomie in Theorie und Praxis wählen. Die Geschichte des praktischen Seins vollzieht sich, wenn sie unter diesen Anspruch gestellt wird, in der Her73

VI, S. 47.

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Stellung der legitimen Vernunftverfassung in uns durch eine Revolution der praktischen Denkart. Auch in diesem Zusammenhang begegnet wieder eine Analogie zwischen der Philosophie der persönlichen Moralgeschichte und der Fortschrittsphilosophie der Weltgeschichte. In jener gilt, daß wir unsere Pflichten in Orientierung an eine vernunftbestimmte Welt erkennen, in die wir uns hineinzudenken haben: in dem Entwurf dieser Welt ist zugleich auch Identität von Vernunft und wirklicher Natur eingebaut, die uns zur Hoffnung auf Können und Erfolg berechtigt. Erfüllt will die H o f f n u n g werden, daß wir durch die Arbeit am Fortschritt unseres Seins zu einem von uns selbst herbeigeführten Erfolg der Moralisierung gelangen. Hierfür gilt das notwendige Postulat der Unsterblichkeit, die uns einen „unendlichen Fortschritt" zu diesem Ziele erlaubt. Die Pflicht gebietet uns, ein guter Mensch zu sein: „. . . sie gebietet uns aber nichts, als was uns tunlich i s t . " 7 4 Die Welt, die das moralische Subjekt zugrunde gelegt hat, um durch Orientierung an ihr den Inhalt seiner Pflicht zu finden, zeigt auch Züge, die es ihm als m ö g l i c h erscheinen lassen, nicht nur im Sinne der erkannten Pflicht zu handeln, sondern prinzipieller und grundlegender noch dessen inner-„politische" Verfassung durch eine Revolution in Ordnung zu bringen. Der Mensch kann hoffen, daß er sich auf Grund einer Umänderung seiner Denkungsart auf dem guten Wege eines beständigen „ F o r t s c h r e i t e n s vom Schlechten zum Besseren befinde." Dieses moralphilosophische Postulat betrifft die fortschreitende Moralisierung der inneren Verfassung und der in ihr „institutionalisierten" Herrschaftsverhältnisse. Ihm entspricht das geschichtsphilosophische Postulat einer fortschreitenden Verbeserung der rechtsgesellschaftlichen Institutionen. Ein guter Mensch w e r d e n , heißt, ein a n d e r e r Mensch werden. Die moralische Bildung des Menschen geschieht nicht durch „Besserung der Sitten", sondern durch „Umwandlung der Denkungsart". 75 Diese bedeutet eine Revolution der Herrschaftsverhältnisse in uns. Wir stellen dabei das „richtige" Machtverhältnis und die von der Vernunft geforderte Rangordnung zwischen Freiheit und Natur in uns her. Das Ereignis der Revolution der Denkart muß von uns selbst herbeigeführt werden. Vom Standpunkt der Vernunft aus dürfen wir uns nicht auf fremde, etwa götdiche Hilfe verlassen. Daher richten wir uns an den Maßstäben einer von unserer Vernunft entworfenen Welt aus, die uns Uberzeugung von dem Erfolg 74 75

VI, S. 47. VI, S. 48.

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unserer pflichtbestimmten Handlungen in der empirischen Welt verleiht, durch die wir den „Rechtsanspruch des guten Prinzips auf die Herrschaft über den Menschen" zu verwirklichen suchen. Wir s o l l e n ein moralisches Sein in uns ausbilden, welches der Gesetzgebung der praktischen Vernunft gemäß ist und wir „müssen es daher auch k ö n n e n . " 7 6 In der christlichen Religionslehre entspricht der Hoffnung auf dieses Können der Mythus von Christus, der uns bei unseren Anstrengungen um das moralische Sein Vorbild ist. Zwar ist es gewiß, daß wir die Heiligkeit des vollkommenen moralischen Seins nicht erreichen können: sie kann nur als praktische Idee für uns Bedeutung haben. Der moralische Ausgang des Streits zwischen dem Guten und Bösen in uns ist „. . . auf seiten des Helden dieser Geschichte (bis zum Tode desselben) eigentlich nicht die B e s i e g u n g des bösen Prinzips; denn sein Reich währt noch, und es muß allenfalls noch eine neue Epoche eintreten, in der es zerstört werden soll, — sondern nur Brechung seiner Gewalt, die, welche ihm solange untenan gewesen sind, nicht wider ihren Willen zu halten, indem ihnen eine andere moralische Herrschaft (denn unter irgendeiner muß der Mensch stehen) als Freistatt eröffnet wird, in der sie Schutz für ihre Moralität finden können, wenn sie die alte verlassen wollen." 7 7 Resümierend ist zu sagen: In Zusammenhang mit religionsphilosophischen Aussagen über die inner-„politische" Verfassung des Menschen tritt das praktische Sein des Handelnden aufs neue in den Blick. Dabei zeigt es sich, daß vor aller Handlungsgeschichte, die in unser Leben fällt und in der auch das praktische Sein und unsere moralische Verfassung erst ausgebildet wird, ein unserer „Natur" eigentümlicher Charakter vorhergeht. Dessen Physiognomie ist nicht nur durch eine natürliche Anlage zum Guten, sondern auch durch einen radikalen Hang zum Bösen bestimmt. Die inner-„politische" Verfassung dieses Standes der Natur ist durch eine ursprüngliche Handlung der Auflehnung und Rebellion gegen den rechtmäßigen Anspruch der Vernunft auf Herrschaft zustande gekommen. In diesem Zustande hat das Böse, d. h. der Wille zu einem Grundsatz, demzufolge nicht Vernunft, sondern die Naturtriebe eine willensbestimmende Rolle zu spielen haben, noch eine Machtstellung, die gebrochen werden muß. Das geschieht durch „Revolution der Denkart". Durch diese kommt die Geschichte der Moralisierung unseres praktischen Seins in Gang. In diesem Zusammenhang fällt auch auf den Freiheitsbegriff Kants 76 77

VI, S. 6 2 . VI, S. 82/83.

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ein neues Licht: Freiheit unseres Handelns kann dann als verwirklicht anerkannt werden, wenn wir der im Zuge der Revolution hergestellten „Natur" in uns gemäß handeln. Diese kann als „zweite Natur" verstanden werden. Sie stellt das praktische Sein in uns dar, welches in der innerpolitischen" Verfassung der Selbstherrschaft besteht. Diese Verfassung verleiht unserm Handeln Charaktere wie Sicherheit, Verläßlichkeit, Beständigkeit. Solche Charaktere zeigen auf der Stufe der Freiheit den Zug von Notwendigkeit, der menschliches Handeln so aussehen läßt, als ob es naturbedingt wäre: „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehn . . . "

5. Dialektik der praktischen Vernunft und Methode des Gebrauchs von Perspektiven Wo immer von einer Kampfsituation gesprochen werden muß, wie es auch bei dem Thema über die Bildung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Vernunft und Natur der Fall ist, ist das Stichwort für den Auftritt der Dialektik gefallen. Hier zeigt sie sich im praktischen Gewände. Damit ihre Bedeutung und Funktion im Bereich der praktischen Vernunft eingesehen werden kann, mag es nützlich sein, an ihre Rolle bei der Auflösung theoretischer Widerstreitsituationen zu erinnern. Es ist darauf aufmerksam zu machen, daß dialektische Vernunft im Bereich der theoretischen Philosophie von Kant mit den Zügen einer Rechtsvernunft ausgestattet wird. Hier kommt es darauf an, daß eine Entscheidungsgrundlage in der Form einer Gesetzgebung geschaffen wird, auf Grund deren im Interessenstreit der Parteien ein Urteil gefällt werden kann, in welchem das R e c h t jeder Partei hergestellt wird und durch welches sich rechtsprechende Vernunft als einigendes, friedensstiftendes und in sich selbst einiges Prinzip erweist. So kommt ζ. B. auf dem dogmatischen und daher naturwüchsigen Stande metaphysischen Denkens ein Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit zustande. Im Naturzustande der Vernunft kann der Streit nur durch „Krieg" ausgetragen werden. Um diesen Streit in den Zustand der Einheit zu überführen und den Anspruch der Parteien in gerechter Weise zu erfüllen, kommt es der Vernunft darauf an, in der Form einer Gesetzgebung Entscheidungskriterien bereitzustellen, deren sie sich zugleich auch als Richterin bedienen kann. Die Gesetzgebung der Vernunft, welche zugleich Selbstgesetzgebung (Heautonomie) ist, will Kant in der Kritik der reinen Vernunft kodifizieren. Man kann das Grundgesetz der dialektischen Vernunft

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auf die Formel bringen: der Widerstreit der Vernunft in ihrem eigenen Lande ist durch den methodischen Gebrauch von Perspektiven und die gerechte Abstimmung widerstreitender Perspektiven aufeinander zu überwinden. Der Richterspruch der Vernunft, der die Entscheidung in der „Sentenz" fällt, lautet in dem Falle des Streites zwischen den Prinzipien der Freiheit und der Notwendigkeit, daß beide Positionen als „Perspektiven" zu behandeln sind, von denen jede ihr relatives Recht hat und innerhalb ihres relativen Gültigkeitsbereiches zu rechtfertigen ist. Sofern jetzt Freiheit und Notwendigkeit als verschiedene Aspekte ein und desselben Welt- und Handlungszusammenhanges und als verschiedene Perspektiven einer in sich einigen Vernunft angesehen und behandelt werden, werden solche miteinander widerstreitende philosophische Positionen wie die der Freiheit und der Notwendigkeit als Interessenansprüche in einem „gesellschaftlichen" System aufgefaßt werden können, in welchem die Konflikte der Interessen durch rechtliche Prozesse ausgetragen werden können. In der Moralphilosophie sind es praktische Vernunft einerseits und die ihr gegenübertretende Natur andererseits, welche im Kampf um die Anerkennung ihrer Interessen liegen: diese bestehen in dem Anspruch, „bestimmender" Grund für das Handeln zu sein. Auch im Bereich der Moralphilosophie kommt der Vernunft die dreifache Rolle zu: Gesetzgeberin, Richterin und zugleich Partei zu sein. Als „Partei" bringt praktische Vernunft ihr Interesse zur Geltung, über den Willen des Handelnden zu bestimmen und ihn zu beherrschen. Der radikale Wortführer der Vernunft argumentiert wie etwa der Stoiker: das natürliche Verlangen des Menschen zielt auf „Güter" ab wie Gesundheit, Erfolg, Anerkannt- und Geachtetwerden, Geliebt werden. Der Mensch strebt von Natur aus nach „Glück". Aber es kommt darauf an, daß dieses Streben nicht zur Abhängigkeit von den Zufällen des Lebens führt: wir müssen nach Autarkie trachten, und diese kann nur durch Selbstbestimmung der Vernunft verbürgt werden. Der Wortführer von Vernunft und Freiheit pocht auf die Herstellung der moralischen Gesinnung und behauptet, daß diese die Glückseligkeit schon selbst hervorbringe. Die „Partei", die in diesem Streite die Sache der Natur vertritt, behauptet im Gegenteil, daß Glück bzw. Glückseligkeit in der Erfüllung unserer Wünsche besteht und daß wir bei dieser Erfüllung von der Gunst der Natur abhängig sind. Wir sollen glücklich sein und wir wollen es auch: dieses Glück kann nur in der Freude am G e g e n s t a n d des Handelns, aber nicht in der moralischen Gesinnung, die sich an der Form der Gesetzlich-

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keit orientiert, empfunden werden. Für eine dialektisch verfahrende Moralphilosophie ergibt sich die Aufgabe, nach dem „Schlüssel" zu suchen, der dazu verhilft, um aus dem „Labyrinth" des Streites herauszukommen. 7 8 Es wird sichtbar, daß zwei verschiedene Ansprüche radikal und unversöhnlich gegenüberstehen und miteinander um die absolute Herrschaft kämpfen: Vernunft mit ihrem Programm der inneren Autarkie einerseits und Natur als Bereich der vernunftfremden, „äußeren" Kräfte andererseits. Der Wortführer der Vernunft propagiert den absoluten Wert des guten Willens und zieht sich ganz auf die Domäne zurück, in der die Herrschaft der Vernunft sicher ist, weil Abhängigkeit von Kräften hier nicht infrage kommt, die Vernunft nicht in der Hand hat. Diese Absolutheit der inneren Vernunftherrschaft begeht aber ein Unrecht gegenüber dem Anspruch der Natur: sie bedeutet zugleich auch einen verhängnisvollen Verzicht auf die Ausdehnung der praktischen Vernunft auf „äußere" Wirklichkeit. Zudem wird sie der spezifischen Glückserfahrung nicht gerecht, die sich dann und nur dann einstellt, wenn die Natur uns f r e i w i l l i g , nicht von uns gezwungen, Züge der Vernünftigkeit zeigt. Da für uns endliche Wesen keine notwendige Entsprechung von vernünftiger Absicht und natürlicher bzw. geschichtlicher Wirklichkeit garantiert ist, klammert der radikale Standpunkt der Freiheit die Wirklichkeit der freien Natur aus und konzentriert sich nur auf den „inneren" Bereich des Selbst, den es in der Hand zu haben glaubt. Auf der andern Seite führt der von der Partei der Natur vertretene radikale Naturalismus zu einer Vernichtung der Selbstbestimmung und Freiheit, indem er das Subjekt ganz den seiner Vernunft fremden, äußeren Einflüssen der Naturwirklichkeit aussetzt. Um eine gerechte Entscheidung in diesem Streite herbeizuführen, wird Richterin Vernunft vom dialektischen Kritiker dieser Vernunft dazu angehalten, nach einer Selbstgesetzgebung vorzugehen. Diese besteht auch im Bereich praktischer Vernunft in der Regel, den Streit, der durch den Absolutheitsanspruch der Parteien entstanden ist, dadurch zu entscheiden, daß jeder dieser Ansprüche als P e r s p e k t i v e statt als dogmatische Behauptung anerkannt und behandelt wird. Einheit der Vernunft in ihrem eigenen Lande und Abstimmung der Rechtsansprüche von Freiheit einerseits und Natur andererseits aufeinander werden dadurch erreicht, daß die Plädoyers der Parteien als verschiedene Aspekte eines übergreifenden Ganzen 78

V, S. 107.

Dialektik in der praktischen Vernunft

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verstanden werden, welches Vernunft und Wirklichkeit, Bewußtsein und Sein vereinigt. Die Ansprüche beider Parteien werden in ihrer relativen Bedeutung und Gültigkeit durch Dialektik dadurch gerechtfertigt, daß sie zugleich eingeschränkt werden. Vernunft in ihrer dialektischen Richterrolle entscheidet: der Anspruch des Wortführers von Vernunft und Freiheit ist insofern zu rechtfertigen, als in ihm die Behauptung ausgesprochen ist, daß das vernünftige Gesetz Herrscher über unser praktisches Bewußtsein sein und die Verfassung bestimmen solle, in welcher wir in die „äußere Wirklichkeit" handelnd eingreifen. Aber zurückgewiesen wird von der Richterin Vernunft der weitergehende Anspruch dieser Partei, daß mit der moralischen Gesinnung zugleich auch notwendig die Glückseligkeit als erreicht angesehen werden dürfe, die angeblich auf Autarkie der Vernunft beruht. Während Kant den Stoiker als Wortführer der Freiheit auftreten läßt mit der These: „Sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit", identifiziert er die Gegenpartei als die der Epikureer, deren Plädoyer lautet: „Sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend." Diesem Standpunkt gegenüber macht Richterin Vernunft geltend, daß Glückseligkeit zwar das höchste Gut ist, auf welches Handeln ausgehen kann: sie gibt dem Epikureer recht, wenn er behauptet, daß die Gewinnung der Glückseligkeit nicht allein in der Macht der moralischen Gesinnung und der Tugend liege. Aber der Epikureer muß sich von der Richterin Vernunft insofern einschränken lassen, als diese entscheidet, daß mit der Glückseligkeit, die ja immer auch vom Laufe der Natur und der Geschichte abhängt, nicht die M o t i v a t i o n für die moralische Gesinnung, sondern die F o r d e r u n g benannt ist, welche der Standpunkt der Moralität an den Weltlauf stellt. „Der Stoiker behauptete, Tugend sei das g a n z e h ö c h s t e G u t und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzes derselben als zum Zustand des Subjekts gehörig. Der Epikureer behauptete, Glückseligkeit sei das g a n z e h ö c h s t e G u t und Tugend nur die Form der Maxime, sich um sie zu bewerben, nämlich im vernünftigen Gebrauche der Mittel zu derselben." 79 Das „ G a n z e " des höchsten Gutes ist hier das Problem: jede der Parteien setzt dieses Ganze gemäß einer Rangordnung aus seinen heterogenen Teilen zusammen, die derjenigen entgegengesetzt ist, die von der Gegenpartei behauptet wird. Daher „bleibt die Frage „ W i e ist d a s h ö c h s t e G u t praktisch möglich?" noch immer unerachtet aller bis79

V , S. 112.

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Herrschaft und Dialektik

herigen K o a l i t i o n s v e r s u c h e eine unaufgelöste Aufgabe. Das aber, was sie zu einer schwer zu lösenden Aufgabe macht, ist, „. . . daß Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz v e r s c h i e d e n e E l e m e n t e des höchsten Guts sind, und ihre Verbindung als n i c h t a n a l y t i s c h erkannt werden könne . . sondern eine S y n t h e s i s der Begriffe sei." 8 0 Spricht Richterin Vernunft ihr Urteil dem Prinzip gemäß aus, die Plädoyers der Parteien nicht als absolute Ansprüche anzuerkennen, sondern als einander ergänzende Perspektiven zu deuten und zu behandeln, dann ist es bei kritischer Eingrenzung der Absolutheitsansprüche möglich, jeder der Seiten ihr Recht zu geben. Der Perspektive der Natur, sofern sie als solche in ihre Grenzen gewiesen wurde, wird dann im „Gerichtsurteil" zugestanden, daß zur Glückseligkeit etwas gehört, das wir nicht in der Hand haben und nicht durch moralische Anstrengung allein erreichen können. Der Perspektive der Freiheit aber wird darin Recht gelassen, daß zum höchsten Gut das Primat der G l ü c k s w ü r d i g k e i t in der Gestalt moralischer Gesinnung gehört: daß also der Erfolg von Willensanstrengungen keinen moralischen Wert hat, wenn der dabei agierende Wille nicht ein „guter" Wille war. 8 1 Am Ende der dialektischen Bewegung kommt ein Richterspruch zustande, der so formuliert werden kann: wenn jedes der Plädoyers der Parteien kritisch restringiert ist, so spielt es die Rolle einer Perspektive, deren sich praktische Philosophie zu bedienen vermag, wenn sie das G a n z e dessen, was als Glückseligkeit bzw. als höchstes Gut anzusprechen ist, begreifen will. Einerseits gehört zu diesem Ganzen die Glücks-würdigkeit, die in der Gestalt der moralischen Gesinnung und des praktischen Seins (Achtung) auftritt. Diese moralische Perspektive muß aber durch eine andere „ergänzt" werden, deren Geltung durch den Gedanken gerechtfertigt wird, daß wir die den Erfolg unseres Handelns verbürgende und dem moralischen, praktischen Sein entsprechende Wirklichkeit von Natur und Geschichte nicht in der Hand haben und daß keine sichere und notwendige Verbindung zwischen unserem guten Willen bzw. der Freiheit und der W i r k l i c h k e i t besteht. Zum Ergebnis der dialektischen Bewegung gehört auch, daß der Gebrauch der Plädoyers der Par80 81

V, S. 112/113. Wenn Kant die These Epikurs als „schlechterdings falsch" erklärt, während er die der Stoiker als „nicht schlechterdings, sondern nur sofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird . . . " falsch anspricht, (V, S. 114) so berücksichtigt er damit nicht, daß auch nach seinen eigenen Voraussetzungen die epikuräische These, einer kritischen Restriktion unterworfen, eine wahre Perspektive repräsentiert.

Dialektik in der praktischen Vernunft

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teien als Perspektiven, die sich zu einem Ganzen des Begriffes Glückseligkeit zusammenschließen, zugleich auch den E n t w u r f einer W e l t fordert, für welche die Annahme einer n o t w e n d i g e n Entsprechung zwischen gutem Willen (Freiheit) und Naturlauf p o s t u l i e r t wird. Der Begriff der Glückseligkeit im Ganzen fordert eine Berücksichtigung dessen, „was unmittelbar in unserer Gewalt ist" ebenso, wie des Ausgriffs auf den wirklichen Weltlauf. Das letztere ergibt eine Idee von dem, „. . . was uns Vernunft als Ergänzung unseres Unvermögens zur Möglichkeit des höchsten Guts (nach praktischen Prinzipien notwendig) darbietet und nicht in unserer Gewalt ist . . , " . 8 2 Welche metaphysischen „Annahmen" und „Voraussetzungen" in praktischer Absicht zu machen sind, damit sich unser handelndes Bewußtsein in einer Welt einrichtet, zu der eine notwendige Verbindung zwischen gutem Willen (Freiheit) und Glück gehört, ist Thema des nächsten Kapitels, in welchem es um die Verbindung zwischen den „inneren" und den „äußeren" Aspekten der Handlung geht. Noch einmal mag von der dialektischen Bewegung aus ein Blick auf die Bildung der Achtung zurückgeworfen werden. Sie wurde als Form des praktischen Seins angesprochen, in welcher der Kampf mit der Natur um die Herrschaft eine Entscheidung zugunsten der Vernunft gefunden hat. Jetzt kann präziser begriffen werden, daß Vernunft diesen Kampf nicht dadurch entscheidet, daß sie die Natur unterdrückt oder gar vernichtet: dann würde die Bildung der Achtung nicht geschehen können, bei der die natürlichen Gefühle und die in ihnen liegende Triebkraft für die Vernunft gewonnen werden. Praktische Vernunft geht vielmehr so vor, daß sie den „Kampf" auf die Ebene der Rechtsvernunft verlegt und ihn dort in juridischer Methode als einen Rechtsprozeß austrägt. Bevor sie den Konflikt bearbeitet, interpretiert praktische Vernunft den „Streit" mit der Natur in einen Rechtsstreit um, welcher durch vernünftige Gesetzgebung entschieden wird. Achtung vor dem Gesetz erweist sich zugleich als Anerkennung des gesetzlichen Vernunftmaßstabes, von dem aus auch die Ansprüche der von den natürlichen Trieben und Bedürfnissen angemeldeten Interessen beurteilt, eingeschränkt und gerechtfertigt werden. Im folgenden mag der dialektische Gebrauch der Perspektiven als Methode der Selbsteinigung der Vernunft in weiteren Zusammenhängen der Moralphilosophie erkennbar werden. 82

V , S. 119.

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Herrschaft und Dialektik

6. Dialektischer Gebrauch der Perspektiven und seine Bedeutung für das System: Der Streit zwischen vernünftiger und natürlicher Freiheit Wie der theoretischen, so ermöglicht es die dialektische Methode auch der praktischen Vernunft, sich selbst ein „Gesetz" für die richtige Deutung ihrer eigenen Ideen zu geben. In der praktischen Philosophie geht es vor allem um die Idee des Guten: ihr MißVerständnis soll korrigiert, ihr richtiges Begreifen durch die Methode der Perspektivenwahl gesichert werden. Praktische Dialektik bestimmt dabei eine Rangordnung, in welcher moralische Gesinnung als „erste Bedingung" und „oberstes Gut" bei der handelnden Verwirklichung von Gütern anerkannt wird. Als oberstes Gut ist das praktische Sein anzusehen, dessen Charakter auch in der Achtung besteht: als Resultat inneren Handelns ist es ein „Gut", dem zugleich der Charakter eines absoluten moralischen Wertes, unbedingt „Guten" eignet. Kant macht einen Unterschied zwischen dem „obersten" Gut, welches in der Herrschaft der Vernunft über das handelnde Subjekt besteht, und dem „höchsten" Gut, das die Verwirklichung der Vernunft in der „äußeren" Welt überhaupt bedeutet. In unserer Macht steht die Verwirklichung des obersten Gutes, weil dieses mit unserer freien Entscheidung und der Herstellung des praktischen Seins in uns Wirklichkeit wird. Sofern das oberste Gut als „Teil" des höchsten Gutes anzusehen ist, können wir auch zu dessen Verwirklichung beitragen. Aber über den anderen „Teil", dessen Verwirklichung vom Lauf der Welt abhängt, haben wir keine Verfügungsgewalt, und es bleibt unserer Vernunft nur übrig, sich im Gedankenexperiment in eine Welt zu versetzen, in welcher Identität von Vernunft und Wirklichkeit, Freiheit und Natur gesichert sind. Die Gerechtigkeit erfordert es, daß wir in dem Entwurf dieser Welt eine angemessene Zuordnung zwischen moralischer Qualität und Glück des Handlungserfolges annehmen und voraussetzen. Wie endliche Güter: Wohlfahrt, besseres Leben, Gesundheit usw. nur insofern als wertvoll anerkannt werden können, als das P r i n z i p ihrer Verwirklichung im praktischen Sein und in einer moralischen Verfassung besteht: so stellt auch das Prinzip den „Anfang" in der Geschichte des Handelns dar, welches auf die Verwirklichung der „Glückseligkeit" hinarbeitet. Glückseligkeit „ . . .ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und W i l l e n geht, und

Gebrauch von Perspektiven

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beruht also auf der Ubereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens." 8 3 Praktische Dialektik entlarvt die durch den Egoismus bedingte falsche Optik, als ob Glücksinhalten statt der Form des Gesetzes das Recht zukäme, „Bestimmungsgrund" für unseren Willen zu sein. Kritische Dialektik belehrt uns darüber, daß wir nicht dem uns mit Recht gesetzten Zweck des Glückes, sondern der Pflicht die Rolle der M o t i v a t i o n für unser Handeln übertragen. Die Methode des Gebrauchs der Perspektiven wirkt sich in diesem Falle so aus: Lasse ich die Perspektive der intelligiblen Welt gelten und beurteile meine Situation in ihrem Zusammenhang, so gilt: als Bestimmungsgrund meines Handelns ist das Vernunftgesetz anzuerkennen. Indem ich mich in diese von der Vernunft entworfene Welt versetze, denke ich mich als F r e i h e i t und setze die Vernunft als Herrn über mich ein. Mache ich aber von der Perspektive der sinnlichen Welt Gebrauch, dann werden die Grenzen meiner Möglichkeit erkennbar, der Vernunft in Natur und Geschichte Macht zu verleihen. In dieser Perspektive wird sich der Handelnde seiner Ohnmacht bewußt, die Herrschaft der Vernunft über das „Äußere" herzustellen, das ihm als fremd und feindlich gegenübertritt. Um aber das Interesse der Vernunft an Herrschaft über die Wirklichkeit zu erfüllen und die H o f f n u n g ihrer Herrschaft über den Weltzusammenhang zu begründen, b e d a r f das handelnde Bewußtsein der Voraussetzung und Annahme einer sicher verbürgten Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, Vernunft und Natur bzw. Geschichte. In der kritisch-dialektischen Auflösung der praktischen Antinomie werden die Perspektiven mit dem Ergebnis in Gebrauch genommen, daß in jeder von ihnen das eingeschränkte und vom Ganzen her begründete Recht jeder der „Parteien", der Vernunft und der natürlichen Wirklichkeit erkennbar wird. Praktische Dialektik verbindet „innere" und „äußere" Perspektiven der Handlung durch Berufung auf ein Ganzes, welches beide Seiten: Gesinnung und Erfolg umfaßt. Man kann die moralische Verfassung als das Fundament eines Weltgebäudes betrachten, welches auf ihm aufgebaut ist. Diesen Bau besorgt metaphysische Vernunft, welche die Möglichkeit des Handelns begründet. Wenn die moralische Verfassung eine Vernunftherrschaft über das Subjekt bedeutet, so entwirft die Vernunft der praktischen Metaphysik eine dazugehörige Welt, in der Einigkeit zwischen Bewußtsein und Sein 83

V, S. 124.

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Herrschaft und Dialektik

vorgesehen ist und die Vernunftherrschaft auf Natur und Geschichte e r w e i t e r t wird. Wollen wir uns in eine praktische Situation versetzen, in welcher die Vernunft im „Innern" wie auch im „Äußern" herrschend ist, so müssen wir zum Bewußtsein unserer moralischen Verfassung den ganzen W e l t z u s a m m e n h a n g hinzudenken, der auch die äußere Wirklichkeit und ihre vernünftige Verfassung umfaßt. Um das Bild des G a n z e n , welches Bewußtsein und Sein umfaßt, zu gewinnen, müssen wir den zum Fundament gehörigen Aufbau entwerfen, in welchem wir dem G e g e n s t a n d der Pflicht, der Herstellung des Glückes den ihm gebührenden Platz anweisen. Um den zur Pflicht gehörigen ganzen Weltzusammenhang zu denken, müssen wir ein übergreifendes Prinzip „annehmen" und „voraussetzen", welches sowohl Vernunft wie auch Macht über Natur und Geschichte repräsentiert: das ist die Idee Gottes. Richterin Vernunft überwindet die dialektische Situation dadurch, daß wir diese Idee a l s Voraussetzung und Annahme, die zum Ganzen unserer Pflichten und ihres Weltzusammenhanges gehört, auffassen, statt die von ihr zu besorgende Einheit von Freiheit und Natur, das „höchste Gut" zum B e s t i m m u n g s g r u n d unseres Handelns zu machen. Die Lösung der praktischen „Antinomie" hängt daran, daß die richtige Rangordnung zwischen dem, was die Rolle des Bestimmungsgrundes zu übernehmen hat und dem Weltzusammenhang hergestellt wird, der zusätzlich zur Pflicht als ihr Fundament einzuholen ist. Handeln ist in einen Weltzusammenhang zu stellen, in welchem Vernunft und Macht vereint gedacht werden. 84 Es ist dem Gebrauch der Perspektiven gemäß, daß in der Kantischen Moralphilosophie zwei einander entgegengesetzte Richtungen des Gedankenganges zur Geltung kommen, von denen die eine ihren Ausgangspunkt bei der menschlichen Situation wählt, während die andere bei der Vernunftnatur des Menschen anfängt. Betrachtet man den Menschen in der Perspektive seiner Zugehörigkeit zur Erscheinungswelt, so wird das Gesetz als „Faktum" auftreten, von dem ausgehend man zur Idee der Freiheit gelangt. Wählt man aber die Perspektive der Vernünftigkeit, so wird der

84

Was K a n t unter kritischer Voraussetzung als „Postulat" deklariert hat, das erklärt Hegel in seiner Geschichtsphilosophie als Gegenstand des „Beweisens". In den „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" (Bd. 1 1 , S. 3 4 f . , Einleitung) heißt es gleich zu Beginn, daß der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringe, der einfache Gedanke der Vernunft sei, daß „die V e r n u n f t die Welt beherrscht, daß es so auch in der Weltgeschichte zugegangen ist." Diese Überzeugung und Einsicht sei eine „ V o r a u s s e t z u n g in Ansehung der Geschichte als solcher überhaupt. In der Philosophie selbst ist dies keine Voraussetzung; in ihr w i r d es durch die spekulative Erkenntnis e r w i e s e n . . ."

Gebrauch von Perspektiven

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Mensch als zur intelligiblen Welt zugehörig erkennbar und seine Freiheit wird sichtbar. Entsprechend muß das Denken von den beiden Perspektiven des intelligiblen und des empirischen Charakters Gebrauch machen, um Vernunft und Natur im Menschen zur Einheit zu bringen. 85 Dabei ergibt sich, daß das selbstgegebene Gesetz für das im Spannungsfeld der Ansprüche von Pflicht und Neigung stehende Wesen Mensch verbindlich ist. Moralphilosophie muß der Methode der Perspektivenwahl folgen, um aus dem menschlichen Sein ein Gebilde aus e i n e m Guß werden zu lassen, das unter der Herrschaft der Vernunft steht. Realisierung des Herrschaftsanspruches der Vernunft über das Subjekt sowie über die Gemeinschaft aller Subjekte ist im Zusammenhang mit der Verbindung von reiner Vernunft und Sinnlichkeit im Menschen zu einer Ganzheit zu begreifen. Zum Thema der Dialektik der praktischen Vernunft sind zuletzt noch Bemerkungen über den Widerstreit zu machen, der sich zwischen zwei „Freiheiten" zu ergeben scheint: es ist der Widerstreit zwischen der Freiheit des Vernunftwesens Mensch und den Ansprüchen einer „freien" Natur an ihn. Dieser bricht ζ. B. an der Stelle auf, an welcher das praktische Denken zur Begründung des „höchsten Gutes" eine Natur annehmen muß, die vernünftige Züge von sich aus, also „freiwillig" zeigt. Wenn Natur als freier Bereich gedacht wird, der von sich aus schon Vernunft verwirklicht und in welchem die Herrschaft der Vernunft hergestellt ist, so könnte sie als Konkurrentin des auf seine eigene Selbstbestimmung und Freiheit pochenden Menschen auftreten: besonders wenn man bedenkt, daß der Mensch in diese Natur als eingebettet und als dem Naturwillen unterworfen gedacht werden muß. Damit wäre Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung des Menschen erledigt. Aber in diesem Falle bewährt sich die Methode der angemessenen Perspektivenwahl. Denn die freie Natur wird nicht dogmatisch behauptet, sondern als in Freiheit geschehender Entwurf des Subjekts einer Naturwelt 85

Kant wählt in seiner praktischen Philosophie zwei perspektivische Ausgangspunkte. Der eine beherrscht die Perspektive reiner Vernünftigkeit: in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kommt es darauf an, die Handlungsmöglichkeiten eines reinen Vernunftwesens zu erörtern und die dort gewonnenen Einsichten auf die Situation des Menschen anzuwenden, der in sich auch den bösen Hang hat, sich gegen die Vernunft zu stellen. In der Kritik der praktischen Vernunft dagegen wird von Anfang an die Situation des m e n s c h l i c h e n Subjekts berücksichtigt, das auch nichtvernünftigen Motiven ausgesetzt ist, aber sich durch seine eigene Vernunft die Forderung stellt, über sich selbst hinauszugehen und sich an der Selbstgesetzgebung seiner eigenen Vernunft zu orientieren. Dieses Verfahren bezeichnet den Weg, den der Handlungstheoretiker zu gehen hat, um vom Prinzip des Gesetzes zur Idee der Freiheit zu gelangen.

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Herrschaft und Dialektik

verstanden, deren Annahme und Voraussetzung dieses zum Handeln bedarf. Der kritische Philosoph rettet die Freiheit des Handelnden dadurch, daß er freie Natur als „bloßes" Thema der reflektierenden Urteilskraft, als Idee deklariert. Es ist der Freiheit des denkenden und handelnden Subjekts nicht abträglich, ja entpricht ihr geradezu, die Perspektive einer freien Natur zu wählen, die, „als" solche erkannt und gebraucht, kein ernsthafter Konkurrent für das Denken sein kann, welches sie wählt. Dieses denkt die Idee der freien Natur deshalb, weil es das Interesse der Vernunft an Herrschaft über die Natur zu erfüllen bestrebt ist, indem es diese als der Vernunft angemessen beurteilt und demgemäß h a n d e l t . In diesem Zusammenhang mag schließlich auf die Rolle verwiesen werden, welche die methodische Wahl der Perspektiven in der berühmten Schlußbemerkung zur Kritik der praktischen Vernunft spielt. 86 Es ist an dieser Stelle die Rede davon, daß wir uns einerseits als leibliche Wesen inmitten der Unermeßlichkeit des Kosmos zur äußersten Bedeutungslosigkeit degradiert sehen. Diese Erfahrung, die Kant ausspricht, ist Ergebnis des durch Copernicus vollzogenen Standpunktwechsels. Sie w i d e r s p r i c h t aber einer Aussage, die ich von einer „andern Ordnung der Dinge" aus zu machen habe: derjenigen, die zum Thema meine Selbstbestimmung, Einzigkeit und Überlegenheit über alle kosmische Erhabenheit hat. Dieser Widerspruch zwischen dem Bewußtsein der Bedeutungslosigkeit und dem, höchster Wert zu sein, wird in die Einheit eines systematischen Zusammenhangs gebracht, wenn man die einander widersprechenden Aussagen als zu verschiedenen Weltperspektiven gehörig 86

V, S. 161 f. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: d e r b e s t i r n t e H i m m e l ü b e r m i r u n d d a s m o r a l i s c h e G e s e t z in m i r . Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, außerdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat . . . Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines t i e r i s c h e n G e s c h ö p f , das die Materie, da raus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer I n t e l l i g e n z , unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart . . . "

Gebrauch von Perspektiven

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begreift. Aus der Perspektive des physischen Kosmos ergibt sich die Bedeutungslosigkeit des Menschen. Die andere Perspektive der Selbstbestimmung ermöglicht es mir dagegen, mich als Mittelpunkt einer Welt zu denken, die noch in viel eigentlicherem Sinne unendlich ist als der kosmische Raum. In „theoretischer Absicht" vermag die Vernunft ihr Interesse, zur Herrschaft über Natur zu gelangen, bis zu einer gewissen Grenze zu erfüllen. Sie kann eine allgemeine Gesetzgebung aufstellen und im Verlauf des durch diese ermöglichten Fortschritts von Wissenschaft und Technik die Mächte der Natur in den Dienst frei gewählter Zwecke stellen. Aber wenn Vernunft in der Natur noch anspruchsvollere Züge von Einheit zu finden verlangt, nämlich System, Zweckmäßigkeit und Totalität, so kann sie dies nicht durch Vorschrift, Befehl und Zwang erwirken. Sie kann Natur nicht nach ihrem vernünftigen Bilde konstruieren, sondern muß, freilich nur in der R e f l e x i o n , der Natur selbst und ihrem freien Wirken zumuten, sich als vernünftig zu zeigen. Von diesem Punkte ab kann Vernunft nicht mehr konstruieren: sie kann nicht handelnd Objekte der Natur nach ihrem Bilde formen, sondern muß sich darauf beschränken, sich höchstens selbst ein Gesetz für ihr eigenes Urteilen aufzuerlegen: mit dieser „Heautonomie" beschäftigt sich die Analyse der reflektierenden Urteilskraft. Nicht mehr synthetisches Herstellen einer Naturgesetzgebung ist jetzt die Devise, sondern die Besorgung des eigenen „Haushaltes" der Vernunft, die von dem Punkte an, wo sie vernünftige Ordnung nicht mehr aufzwingen kann, sich selbst die Verpflichtung auferlegt, wenigstens die in ihr angelegte Architektonik zum Leitfaden der B e u r t e i l u n g der Natur zu machen. In dieser wird Natur so vorgestellt, als ob sie dem Systemund Einheitsbedürfnis der Vernunft vollkommen gemäß gebaut wäre und freiwillig Vernunftcharakter zeigen würde. Ist das Urteilsver-hältnis, in welchem sich das Subjekt zu seinem „Gegenstande" befindet, so beschaffen, daß in jenem eine freie Ubereinstimmung zwischen Vernunft bzw. Verstand und Einbildungskraft für die Handlung des Beurteilens maßgebend ist, dann findet es auf dem Boden des ästhetischen Verhaltens statt. Dann wird die freiwillige Angemessenheit der Natur an die Vernunft (Zweckmäßigkeit) nicht begrifflich-logisch, sondern ästhetisch erkannt. Auch im Felde der praktischen Vernunft gibt es da Arbeit für die reflektierende Urteilskraft, wo die Grenze der b e s t i m m e n d e n , auf Gesetzgebung und Imperativ beruhenden Urteilskraft erreicht ist: das ist an dem Punkte der Fall, von welchem ab der Blick des Handelnden nach „außen" gerichtet ist. Von da ab geht es um die Aus-führung dessen,

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Herrschaft und Dialektik

wozu sich der Wille entschieden hat. In dieser Sphäre hat es der Handelnde mit der Wirklichkeit zu tun, die ihm als fremd, undurchschaubar und unberechenbar gegenübersteht. Von dieser Seite her muß er damit rechnen, daß seine vernünftigen Absichten und Pläne jederzeit durchkreuzt werden und daß der Erfolg seines Handelns unsicher ist. Um in dieser Lage das Bewußtsein davon zu überzeugen, daß Handeln überhaupt einen S i n n hat, bedarf der Handelnde des Entwurfs einer Welt, in welcher im Prinzip eine Entsprechung zwischen vernünftigem Willen und dem Naturverlauf angenommen wird. Nur unter der Voraus-setzung dieser Welt vermag er seine Entscheidungsfähigkeit zum Handeln zu bewahren. Es ist im Sinne Kantischer Voraussetzungen, wenn man für diese Leistungen des praktischen Bewußtseins r e f l e k t i e r e n d e Urteilskraft in praktischer Hinsicht in Anspruch nimmt. Ihr gemäß macht es sich das handelnde Bewußtsein selbst zur Regel, die empirische Wirklichkeit und den erfahrenen Weltlauf so unter der apriorischen Idee der Vernünftigkeit zu beurteilen, „als o b " es eine notwendige Entsprechung zwischen Freiheit und Natur, vernünftiger Planung und Wirklichkeit geben würde. Mit diesen Überlegungen ist die Schwelle erreicht, die zum folgenden Kapitel hinüberführt. Der Gedankengang des zu Ende gehenden Kapitels sollte der Aufgabe dienen, die Implikate der Bildung des praktischen Seins und Bewußtseins erkennbar zu machen. Dabei wurde beobachtet, wie sich der Handelnde an einem Weltentwurf orientiert, der ihm als Leitfaden für die Auffindung seiner Maximen dient. Weiterhin wurde die Bildung eines praktischen Seins auf dem Boden dieser Weltidee beschrieben und dabei die „Achtung" als moralische Verfassung in den Blick gebracht. Im folgenden wird das handelnde Bewußtsein darauf hin zu betrachten sein, wie es sich auf die Aus-führung der Handlung in einer vernunftfremden und zufälligen Welt ausrichtet und auf welche Weise es mit der Frage des Sinnes oder der Sinnlosigkeit von Handeln fertig zu werden vermag.

VI. Kapitel

Handlung in der Ausführung 1. Gliederung des Gedankens: „innere" und „äußere" Perspektive Die Bildung des praktischen Seins als moralischer Verfassung des handelnden Bewußtseins wurde bisher im Hinblick auf Erkenntnis der Pflicht und Entschlossenheit sie zu verwirklichen, also auf die erste Phase der Geschichte der Handlung betrachtet. Wenn es nun darum geht, die weiteren Schritte in dieser Geschichte, die auf die Ausführung und die Verwirklichung des Handlungskonzeptes hinzielen, zu bedenken, so muß die Überlegung von zwei verschiedenen Perspektiven Gebrauch machen: die eine ergibt sich vom point de vue des Handelnden selbst aus (Abschnitte: 2—5 u. 8). Bisher wurden nur diejenigen Denkhandlungen des praktischen Subjekts betrachtet, die sich mit der Bildung des praktischen Bewußtseins und Seins im Hinblick auf den moralischen W e r t des Handelns befassen. Maßgebend für das handelnde Bewußtsein war die befriedigende Beantwortung der Fragen: „Was soll ich tun ?" und: „Als wer soll ich handeln ?". Jetzt aber soll das handelnde Bewußtsein mit dem Gedanken an die Ausführung des Handlungskonzeptes befaßt werden. Das handelnde Bewußtsein soll dabei betrachtet werden, in welcher Weise es sein praktisches Sein antizipierend auf den künftigen Verlauf der Ausführung des Handlungskonzeptes einrichtet und ausrichtet. Sein i n n e r e s Verhalten soll in der Situation betrachtet werden, in der es sich die Frage vorlegt: „Was habe ich zu erwarten?" bzw. „Womit habe ich bei der Ausführung meines Handlungskonzeptes zu rechnen?" Die andere Perspektive, die des philosophischen Betrachters, der den Handlungsverlauf auch im Sinne der Einwirkung auf die „äußere" Wirklichkeit zu begreifen sucht, motiviert die Frage für den Philosophen der Handlung, in welcher Weise dieses „Einwirken" zu begreifen ist: bei dieser Gelegenheit wird aufs neue die praktische Konstellation in den Blick kommen, zu der auch Kants Begriff von der Kausalität durch Freiheit gehört (Abschnitte 6 - 7 , 9 - 1 0 ) .

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Handlung in der Ausführung

Im Bereich der vom Standpunkt des handelnden Bewußtseins ausgehenden Überlegungen zur Ausführung ist noch eine weitere Unterscheidung begründet. In einer Hinsicht nämlich stellt sich der Handelnde die Frage, welche Hoffnung er sich über die Chancen machen kann, die ihm die Welt, in der er handelt, im Hinblick auf einen Erfolg seiner Bemühungen gibt, am Ende die Wirklichkeit des Weltlaufs vernünftig zu gestalten und eine Entsprechung von gutem Willen und Erfolg zu bewirken. Nur wenn eine Erwartung des künftigen, durch das eigene Handeln beeinflußten Verlaufs begründet werden kann, stellt sich die Festigkeit, Überzeugtheit und Entschiedenheit im praktischen Sein des handelnden Individuums her, welches frei von Verzweiflung und Resignation ist. (Abschnitte 3—5). Die Einwirkung des Gedankens an künftig beim Handeln zu Erwartendes auf die Gegenwart des praktischen Seins ist auch in einer anderen Ebene zu berücksichtigen: sie wird durch die Frage bezeichnet, was der Handelnde nicht für sich als Individuum, sondern im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung der Menschheit im Ganzen für die Erfüllung seines Sinnbedürfnisses zu erwarten hat: dieser Aspekt gehört geschichtsphilosophischen Überlegungen an, während im ersten Fall in spezifischer Weise Moralphilosophie angesprochen wird. Diese moralphilosophische Überlegung soll jetzt an der Reihe sein.

2. Selbstzufriedenheit

und Hoffnung

Trifft das praktische Denken noch nicht im Hinblick auf den Gedanken der Ausführung, sondern auf den des moralisch richtigen Handelns und an den moralischen Wert der Handlung seine Maßnahmen, so stellt es, wie im vorigen Kapitel erkennbar wurde, eine moralische Verfassung, ein praktisches Sein, her. Das diesem Sein innewohnende Bewußtsein von sich selbst bestärkt dieses in seiner Entschiedenheit und Festigkeit, die Eigenschaften des intelligiblen Charakters sind. Ist durch Bildung der Achtung das Gesetz im handelnden Subjekt habituell und in dauernder Anerkennung als der eigentliche Bestimmungsgrund für Handeln eingesetzt, so ist dieser Zustand mit einer moralischen Glücksempfindung, mit einem „Wohlgefallen an seiner Existenz", welches als ein „Analogon der Glückseligkeit" zu bezeichnen ist, verbunden. „Hat man aber nicht ein Wort, welches nicht einen Genuß, wie das der Glückseligkeit, bezeichnete, aber doch ein Wohlgefallen an seiner Existenz, ein Analogon der Glückseligkeit, welche das Bewußtsein der Tugend notwendig

Selbstzufriedenheit und H o f f n u n g

261

begleiten muß, anzeigte? Ja! Dieses Wort ist S e l b s t z u f r i e d e n h e i t , welches in seiner eigentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz andeutet, in welchem man nichts zu bedürfen sich bewußt ist. Freiheit und das Bewußtsein derselben als eines Vermögens, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist U n a b h ä n g i g k e i t von N e i g u n g e n , wenigstens als bestimmenden (wenngleich nicht als a f f i z i e r e n d e n ) Bewegursachen unseres Begehrens, und, sofern, als ich mich derselben in der Befolgung meiner moralischen Maximen bewußt bin, der einzige Quell einer notwendig damit verbundenen, auf keinem besonderen Gefühle beruhenden, u n v e r ä n d e r l i c h e n (gesp. v. Verf.) Zufriedenheit, und diese kann intellektuell heißen." 1 Diese ist natürlich nicht mit pharisäischer Selbstgerechtigkeit gleichzusetzen: vielmehr ist sie Genügsamkeit an dem, was durch Handeln im Sinne der Herstellung des praktischen Seins im Innern des Subjekts selbst auf Grund reiner Vernunftspontaneität erreicht werden kann. Selbstzufriedenheit wird als Lust an der Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Neigungen charakterisiert. „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nicht bloß den Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr eigenes Interesse ganz allein besorgen." 2 Moralische Verfassung in der Bedeutung der Achtung ist das o b e r s t e Gut in dem Sinne, daß sie Prinzip für die Erwartung der Glückseligkeit darstellt, die ihrerseits nicht durch unsere moralische Anstrengung allein verwirklicht werden kann. Zwar ist das höchste Gut das „ g a n z e (gesp. v. Verf.) Objekt der reinen praktischen Vernunft", welches Glückswürdigkeit und das Geschenk der Glückseligkeit miteinander verbindet, aber die erste Bedingung für den Wert der zu erhoffenden Einheit von Freiheit und Natur ist das oberste Gut: das praktische Sein und Bewußtsein. Das praktische Bewußtsein muß den erkannten Pflichtinhalt durch einen Voraus-blick auf das ergänzen, was im Bereich der A u s f ü h r u n g unseres Handlungskonzepts zu erwarten ist. Damit tritt das Prinzip: H o f f n u n g in den Blick. Dem Bewußtsein kommt es darauf an, sich in einer Welt einzurichten, in der sich eine „. . . natürliche und notwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit, als Folge derselben, . . 1 2

V , S. 117f. V , S. 118.

262

Handlung in der Ausführung

denken läßt. 3 In dieser Hinsicht ist nicht die Frage des moralischen Wertes der Handlungen, sondern die ihres S i n n e s maßgebend. Der Anspruch der Sinngebung erfordert von der praktischen W e l t noch mehr als das Bedürfnis nach Orientierung für richtiges Handeln. In den Entwurf von Welt, welcher dem Sinnbedürfnis genügen soll, muß die ganze empirische Geschichte des Weltlaufs eingeholt werden, der im praktischen Weltkonzept auf die innere moralische Verfassung abgestimmt werden muß. Um in sich nicht nur eine moralisch-praktische Verfassung herzustellen, sondern das eigene Sein zum Handeln auch im Hinblick auf die Ausführung und das, was uns dabei erwartet, tauglich zu machen, dazu bedarf es der Bildung einer Uberzeugtheit vom Sinn unseres Handelns und das heißt: von der letzdichen Herrschaft der Vernunft über die Wirklichkeit auch in dem Bereich, den wir nicht in der Hand haben. Die Vorausnahme dessen, was uns in der Zukunft erwartet, erfordert g e g e n w ä r t i g e Maßnahmen bei der Herstellung eines praktischen Seins in uns, welches sich den vernunftfremden Mächten der Außenwelt gewachsen zeigen soll. In diesem Zusammenhang kommt der moralische „Vernunftglaube" zu seiner Bedeutung. 4 Der im Sinne des Vernunftglaubens Uberzeugte behauptet mit Sicherheit und „Gewißheit" Weltcharaktere, die er für seinen s u b j e k t i v e n Stand in dieser Welt für die Erfüllung seiner theoretischen Aufgaben voraus-setzen muß. Anders gesagt: er p o s t u l i e r t eine vernünftige Welt, die ihm als Grundlage für Theorie und Praxis dient und nicht nur Selbstzufriedenheit, sondern auch Hoffnung motiviert. Vernunft postuliert die Welt, welche sie für die Herstellung eines praktischen Seins b r a u c h t , das im Hinblick auf die benötigte Festigkeit im Handeln dem Gedanken der Unsicherheit und Ungewißheit gewachsen ist, der sich im Hinblick auf die „fremden" Mächte ergibt.

3. Experiment der praktischen

Weltmetaphysik

und die

„Postulate"

Wenn praktische Vernunft zur Erfüllung ihres Sinnbedürfnisses der Annahme und Voraussetzung einer Welt bedarf, in der moralisches Handeln als erfolgreich angesehen werden darf, weil diese als von Ver3 4

V , S. 1 1 9 . Die von Mendelssohn hierfür gebrauchte Wendung „Ausspruch der gesunden Vernunft" wird v o n Kant als unzureichend erklärt, da sie nicht eindeutig genug den Bezug auf „Vernunfteinsicht" zu erkennen gibt, sondern auch die irrationale Möglichkeit offen läßt, als „Vernunfteingebung" verstanden zu werden (VIII, S. 140). Eingebung klingt für Kant

Experiment der praktischen Weltmetaphysik und die „Postulate"

263

nunft beherrscht geglaubt wird, so kann deren Rechtfertigung nur in einem E x p e r i m e n t der Vernunft mit sich selbst geschehen: in ihm vollzieht sich eine experimentelle Prüfung der Brauchbarkeit des Weltentwurfes für Handeln. Dieser hat die Prüfung bestanden und kann als gerechtfertigt gelten, wenn sich der Handelnde in dieser Welt so einzurichten und auf das, was ihn erwartet, auszurichten vermag, daß sich praktische Vernunft mit sich selbst als übereinstimmend erweist. Das ist dann der Fall, wenn der Anspruch der Pflicht mit dem Ausgang des Handelns in Übereinstimmung steht, auf den der Handelnde in einer Welt hoffen darf, welche als durch praktische Vernunft bestimmt voraus-gesetzt wird. Vermag der Handelnde auf Grund der postulierenden Annahme der Welt, in welcher die endgültige Herrschaft der Vernunft vorausgesetzt wird, Vertrauen und Zuversicht in den Erfolg seines Einsatzes für die Verwirklichung der Vernunft zu fassen, so spricht das Experiment für das Weltpostulat: es kann als gerechtfertigt gelten. Das moralische Gesetz und sein Anspruch an das handelnde Bewußtsein motiviert dieses dazu, sich postulierend in eine Welt zu versetzen, in welcher die im Gesetz geforderte Sittlichkeit in Entsprechung zum Erfolg des moralischen Handelns und zur Verwirklichung der Glückseligkeit steht. Damit sich für das handelnde Bewußtsein ein Sinn ergibt, sich handelnd für die Forderungen der praktischen Vernunft einzusetzen, muß sich das praktische Subjekt in eine Welt hineindenken, in welcher das Postulat nicht widerspruchsvoll ist: „Wir s o l l e n das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen." Wenn praktische Vernunft Forderungen an unser Handeln stellt, so sieht das praktische Bewußtsein eine Berechtigung, zum An-spruch der Vernunft eine Welt hinzuzudenken, deren Eigenart zu der Vernunftforderung paßt. „Also wird a u c h (gesp. v. Verf.) das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, p o s t u l i e r t " . 5 Das Postulat der Möglichkeit des „ h ö c h s t e n a b g e l e i t e t e n G u t s (der besten Welt)" bedeutet zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines „ h ö c h s t e n u r s p r ü n g l i c h e n G u t s , nämlich der Existenz Gottes." 6 Wenn es Pflicht für uns ist, das höchste wie Genieschwung und Schwärmerei. Sie entbehrt der gemeinsamen und allgemeingültigen Methode, von der auch der Vernunftglaube Gebrauch zu machen hat, dem es zuzumuten ist, sich rational zu motivieren. 5 V , S. 125.

264

Handlung in der Ausführung

Gut zu befördern und dazu beizutragen, daß die Vernunft zur Herrschaft über die Welt komme, dann muß für uns die Sinnhaftigkeit des Einsatzes für dieses Programm erweisbar sein: unser Sinnbedürfnis muß dadurch nach einer notwendigen Logik der praktischen Vernunft befriedigt werden können, daß wir uns ein Recht nehmen, die „. . . Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen." 7 Erweist sich die metaphysische „Annahme" einer Entsprechung von Vernunft und Wirklichkeit, Freiheit und Natur als geeignet, das Sinnbedürfnis des praktischen Bewußtseins zu befriedigen, so spricht das Experiment für diese Annahme, und es stellt sich die Gewißheit eines G l a u b e n s her, der „. . . reiner V e r n u n f t g l a u b e heißen kann, weil bloß reine Vernunft . . . die Quelle ist, daraus er entspringt." 8 Von der Basis unserer praktischen Aufgaben, die uns „gegeben" sind, — das praktische Gesetz ist als „Faktum" der Vernunft anzusprechen — entwerfen wir eine Welt von der Art, daß sie die Funktion der Orientierung und der Sinngebung für unser Handeln zu übernehmen vermag. In einem Experiment der praktischen Vernunft mit sich selbst nehmen wir auf dem Boden dieser Welt Stand: als gelungen darf das Experiment angesehen werden, wenn dadurch die Funktionen der Orientierung und der Sinngebung für Handeln erfüllt werden. Das durch ein rationales Experiment prüfbare und im Raum der subjektiven Glaubensgewißheit entworfene und „gemachte" Weltfundament wird von Kant als das „allgenugsame Prinzip des höchsten Gutes ü b e r u n s , was, als moralischer Welturheber, unser Unvermögen auch in Ansehung der materiellen Bedingungen dieses Endzweckes einer der Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit in der Welt e r g ä n z e t " , charakterisiert. Die Frage, die sich im Anschluß an den von uns erkannten Anspruch der praktischen Vernunft stellt, ist so zu formulieren: Welche praktische „Ideologie" müssen wir a u f b a u e n , um einen rational begründeten Stand zu gewinnen, der Voraussetzung für die Erfüllung unserer Aufgaben ist? Es gehört zum kritischen Charakter der dabei befolgten Methode, daß wir zu den Aussagen über die Welt nicht auf dem Wege theoretischer Nachforschungen, die sowieso nur ins „Überschwengliche" verlaufen würden, zu gelangen suchen. 7 8

V , S. 125. V , S. 126.

Experiment der praktischen Weltmetaphysik und die „Postulate"

265

Der praktische Glaube, welcher schließlich Glaube der Vernunft an sich selbst ist, muß rational motiviert sein. Es bedarf einer praktischen „Erkenntnis" dessen, daß dieser und kein anderer Weltentwurf nötig und brauchbar ist, um die orientierende und sinngebende Funktion für Handeln zu übernehmen. Wir machen von einer „Annehmung" bzw. „Voraussetzung (Hypothesis)" Gebrauch, die darum n o t w e n d i g ist, weil eine „. . . objektive praktische Regel des Verhaltens als notwendig zum Grunde liegt, bei der wir die Möglichkeit der Ausführung und des daraus hervorgehenden Objekts an sich, zwar nicht theoretisch einsehen, aber doch die einzige Art der Zusammenstimmung derselben zum Endzweck subjektiv erkennen." 9 Zur Vorbereitung für die Aus-führung des Handlungskonzeptes bedarf das handelnde Bewußtsein einer subjektiven Glaubensgewißheit und eines Vertrauens seiner Vernunft auf sich selbst. Die Motivierung der Gewißheit, daß es sich lohnt, sich ohne Vorbehalt und unbedingt für die Verwirklichung der Vernunftaufgaben zur Verfügung zu stellen, soll durch den Entwurf eines g l e i c h s a m objektiven Weltzusammenhanges geleistet werden, der uns von der Sinnhaftigkeit des Handelns überzeugt und vor Skepsis und Verzweiflung bewahrt. Daß es eine rationale Argumentation sein muß, durch welche die „Möglichkeit der A u s f ü h r u n g (gesp. v. Verf.) und des daraus hervorgehenden Objekts . . . " gewiß gemacht wird, spricht Kant immer wieder in teils beschwörenden, teils nüchtern warnenden und höhnischen Polemiken gegen Schwärmerei, Genieschwung und intellektuelles „Vornehm"-getue aus. Charakteristisch ist, daß er die Lage des praktischen Bewußtseins einmal an der pragmatischen Situation des Kaufmanns verdeutlicht. Für diesen ist das Interesse „gegeben", durch einen richtigen Handelsabschluß Gewinne zu erzielen. Das entspricht im Bereich der praktischen Vernunft dem Faktum unserer Pflicht. Für den Kaufmann ist es vorteilhaft, in einem G l a u b e n zu handeln, daß ζ. B . die Ernte schlecht ausfallen werde und er seine Vorräte sparen müsse. Dieser Glaube spielt die Rolle einer für sein handelndes Bewußtsein notwendigen „Ideologie". Wenn der Glaube als Hintergrund eines gegebenen Gebotes auftritt — der Kaufmann hätte es mit der Devise zu tun: Gehe mit deinen Vorräten sparsam um — so darf und kann er aber selbst nicht anbefohlen werden. Er bedeutet eine in der Freiheit des Experimentierens der handelnden Vernunft mit sich selbst gewonnene Gewißheit an eine vernünftig geordnete Welt, zu der die dem 9

X X , S. 2 9 7 .

266

Handlung in der Ausführung

Menschen gegebenen Pflichten passen. Zugleich gehört er zu der Verfassung des praktischen Seins, welches wir in uns herzustellen haben, damit wir der Aus-führung des Handlungskonzepts gewachsen sind. Im Hinblick auf bekannte religiöse Praktiken erklärt Kant, daß es Unsinn sei, wenn man einem andern ansinnt: „Du sollst glauben". Das Credo sei „freies Annehmen", welches jeder im I n t e r e s s e seiner Heautonomie in der geglaubten Welt zu vertreten hat. Die Gewißheit, daß Handeln einen Sinn hat, und daß das Vernunftprogramm ausführbar ist, muß in freier Uberzeugung gewonnen und behauptet werden. Es ist für uns nötig, so zu handeln, als ob wir wüßten, daß diese Gegenstände wirklich wären, welche Vorstellungsart auch nicht in technischpraktischer Absicht als Klugheitslehre (lieber zuviel als zuwenig anzunehmen) für notwendig angesehen werden muß, weil sonst der Glaube nicht aufrichtig sein würde, sondern nur in moralischer Absicht notwendig ist, um dem, wozu wir so schon von selbst verbunden sind, nämlich der Beförderung des höchsten Gutes in der Welt nachzustreben, noch ein Ergänzungsstück zur Theorie der Möglichkeit desselben, allenfalls durch bloße Vernunftideen hinzuzufügen, indem wir uns jene Objekte, Gott, Freiheit in praktischer Qualität und Unsterblichkeit nur der Forderung der moralischen Gesetze an uns zufolge selbst machen und ihnen objektive Realität freiwillig geben, da wir versichert sind, daß in diesen Ideen kein Widerspruch gefunden werden könne . . . " 1 0 Danach muß es als irreführend bezeichnet werden, wenn man von einem „moralischen Beweis" der Existenz Gottes bei Kant spricht. Wenn man unter Beweisen die Ableitung eines zu legitimierenden Satzes aus bereits gewissen Anfangssätzen versteht, so dürfte jetzt klar geworden sein, daß die subjektive Gewißheit des Glaubens nicht auf diese begründet wird. Die Aussagen über die Existenz Gottes verweist Kant an eine Stelle im Aufbau des praktischen Bewußtseins, die jenseits jeder Beweismethode liegt. Die Rechtfertigung der Behauptung der Existenz Gottes gehört in den Bereich des Experimentierens der Vernunft mit sich, des Annehmens eines Weltzusammenhanges, durch dessen Vorstellung das Vertrauen auf praktische Vernunft rational motiviert wird. Durch Sich-Einrichten in der durch das Experiment legitimierten Welt „ b e s t ä r k t " der rational motivierte Glaube die Bereitschaft zum Handeln im Dienste der Vernunft. Er hat eine „Zurückwirkung auf die subjektiven Prinzipien der Moralität". 1 1 Es muß daher selbst als moralische Pflicht anerkannt werden, experimen10

X X , S. 298 f.

11

X X , S. 299.

Experiment der praktischen Weltmetaphysik und die „Postulate"

267

telle Metaphysik der Welt unseres Handelns aufzubauen. Es geht dabei um eine zu unserer Pflicht passende Welt, in der zur Erkenntnis des Sollens die Gewißheit des Könnens hinzugefügt wird. Sofern wir Stand auf dem Boden dieser Welt nehmen, geben wir „den erwähnten Ideen f r e i w i l l i g objektive Realität", wobei freilich in rationaler Argumentation von der kritisch-dialektischen Metaphysik sichergestellt sein muß, daß in ihnen kein Widerspruch auftritt. Metaphysisches Denken vollzieht in einer Dogmatismus ebenso wie Skepsis überwindenden Methode den Uber-schritt bzw. Fortschritt zum „ S t a n d p u n k t der Ideen". Von diesem Stand aus beschreibt das Denken einen „Horizont, der von der Freiheit als übersinnlichem, aber durch den Kanon der Moral erkennbarem Vermögen theoretisch-dogmatisch anhebend, eben dahin auch im praktisch-dogmatischer, d. i. einer auf den Endzweck, das höchste in der Welt zu befördernde Gut, gerichteten Absicht zurückkehrt . . . " 1 2 Das „Selbst-machen" der erforderlichen Ideen gehört zum Experimentcharakter metaphysischen Denkens. Die Ideen sind als gerechtfertigt erwiesen, wenn die aus ihnen resultierende V e r f a s s u n g des handelnden Bewußtseins derart ist, daß es sich in rational begründeter Weise für das Vernunftprogramm einzusetzen vermag. Dann begründen Ideen wie Freiheit, Gott, Unsterblichkeit das von der „Sittlichkeit selbst diktierte V e r t r a u e n zum Gelingen dieser Absicht". So wird dem Begriff des Endzwecks eine objektive, aber praktische Realität verschafft. Das Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht, welche dem Einsatz des Handelnden für die Arbeit an der Realisierung des Endzweckes die Festigkeit der Überzeugung gibt, ist zugleich K r i t e r i u m für das Gelingen des Experiments und für die Legitimation der Weltmetaphysik. Praktische Metaphysik, die nach experimenteller Methode gerechtfertigt wird, erfüllt auch den Anspruch der Vernunft auf „Autarkie". Das handelnde Subjekt findet sich zunächst unmittelbar in eine Welt hineingeworfen, der gegenüber es machtlos ist. Die Endlichkeit unserer Situation bringt es mit sich, daß wir den guten Willen, für sich allein betrachtet, als ohnmächtig ansehen müssen. Wir finden ihn „zu seinem Endzwecke nicht zureichend". 13 Daher müssen wir den Sinn der Befolgung unserer Pflicht dadurch überzeugend machen, daß wir eine Welt zugrunde legen, in 12 13

X X , S. 300 Der gute Wille will nicht nur die Realisierung eines besonderen Zweckes innerhalb der Welt, sondern zugleich auch immer die prinzipielle Verwirklichung einer vernünftigen Welt im G a n z e n ( „ E n d z w e c k " ) . Er ist aber als endlicher Wille seiner eigenen Zweck-setzung nicht gewachsen.

268

Handlung in der Ausführung

welcher der gute Wille mit der Macht der Verwirklichung verbunden wird. Der dazu gebrauchte metaphysische Weltentwurf legitimiert sich dadurch, daß er „ z u r Befolgung dessen, was die praktische Vernunft . . . vorschreibt, die der Theorie noch mangelnde E r g ä n z u n g , durch die Idee einer übersinnlichen Natur" verschafft. Metaphysik kann nur in kritischer Weise legitimierbar sein: als eine in praktischer Absicht verstandene „Ideologie", die für die Verfassung des praktischen Bewußtseins notwendig ist, das ein Bedürfnis nach Sinngebung f ü r sein Handeln hat. Nicht als Theorie einer Welt, die hinter der sichtbaren steht, sondern als rational motivierter Glaube an einen handlungsorientierenden und sinngebenden Totalzusammenhang ist Metaphysik zu rechtfertigen. Die von ihr entworfene, den Aspekt unserer Pflichten ergänzende Welt ist demnach nicht in jenseitiger Ferne, sondern auf dem „ G r u n d e " unserer Erkenntnis, unseres praktischen Seins, Denkens und Handelns zu suchen. Wir e r g ä n z e n nicht nur die uns vor Augen stehende objektive Wirklichkeit und ihre Geschichte, sondern auch unsern praktischen Handlungszusammenhang, in den wir mit den einzelnen Dingen dieser Welt verwoben sind, durch eine totalisierende Weltperspektive. Indem wir uns gegenwärtig in einer orientierenden und sinngebenden Welt einrichten, vollziehen wir zugleich eine Aus-richtung auf die Zukunft: „Die Ideen von Gott und Zukunft bekommen durch moralische Gründe nicht objektiv-theoretische, sondern bloß praktische Realität so zu handeln, als ob eine andere Welt wäre . . ." 1 4 Die „subjektive" Motivation der Gewißheit des Glaubens sollte ein philosophisch bewußtes Sprechen auch im sprachlichen Ausdruck berücksichtigen. Da die Gewißheit in diesem Falle nicht als objektive, theoretisch beweisbare Wahrheit gelten kann, sondern den Inhalt einer Behauptung angeht, deren ich zum Handeln bedarf, so sollte philosophisch bewußtes Sprechen nicht sagen: „Es ist moralisch gewiß, daß ein Gott etc., sondern: I c h b i n moralisch gewiß . . ." (B 871). Kant betont, daß der Entwurf einer vernünftigen Welt — er spricht auch von einer „intelligiblen" Natur — und das Standnehmen auf deren Boden nicht dem Gefühl, der Empfindung oder der Anschauung überantwortet werden kann, sondern als Handlung des D e n k e n s angesehen werden muß. Es kann auch nicht als irrationaler Akt eines privaten „weltanschaulichen" Entscheidens betrachtet werden: vielmehr muß man für 14

XX, S. 341.

Experiment der praktischen Weltmetaphysik und die „Postulate"

269

Standnehmen, Sich-Versetzen, Sich-Hinein-Denken in den Weltzusammenhang eine eigentümliche Rationalität in Anspruch nehmen, die auch Begründung und motivierende Rechtfertigung zuläßt. 15 Orientierung im Denken geschieht im Zusammenhang einer von der Vernunft entworfenen und mit den für unser Handeln passenden Zügen ausgestatteten Welt. Hierbei ist es die Aufgabe des Subjekts, seine eigene Stellung innerhalb dieser Welt gegenüber den anderen Personen und den Gegenständen, welche in die Handlung verstrickt sind, zu bestimmen. Sich im Denken orientieren, heißt: sich selbst bei der „Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft im Für-wahr-halten" nach einem „subjektiven Prinzip derselben bestimmen". 1 6 Vernunft entwirft einen normativen Weltzusammenhang, dessen sie „bedarf", um an der Hand seiner Maßstäbe mögliche Maximen auf ihre Annehmbarkeit oder Verwerflichkeit hin beurteilen zu können. Orientierung aber hat noch die weitere Funktion einer Sinnmotivierung: sie soll den Handelnden von einem Sinn seines Handelns insofern überzeugen, als die zugrunde gelegte Welt bzw. die intelligible Natur auch in ihren empirischen Prozessen Vernünftigkeit zeigt. Wenn Kant die Ausbildung dieser praktischen Weltmetaphysik selbst als Pflicht anspricht, so hat er dabei folgenden Zusammenhang zwischen Denken und Wirklichkeit, Bewußtsein und Sein im Blick: wenn jemand eine praktische Verfassung ausbildet, deren Festigkeit, Entschiedenheit und Unbeirrbarkeit auf dem Glauben an den vernünftigen Sinn seines Handelns beruht, so verwandelt er in der sich selbst produzierenden Existenz seiner Person „Ideen" und Postulate 17 der Vernunft in Wirklichkeit. Er repräsentiert durch seine Ausrichtung auf einen in der Zukunft als vernünftig gedachten Verlauf seines Handelns und die dadurch in seinem Sein verwirklichte Vernunft die Einheit von Freiheit und Natur, Vernunft und Wirklichkeit. Praktisches Denken im Sinne des Weltentwurfs und des Standnehmens im Zusammenhang dieser Welt nimmt an der Wirklichkeit einer Geschichte des Handelns teil: nicht als gegenständlicher Inhalt, sondern als Charakter der Handlung selbst. Der Handelnde 15

IV, S. 4 5 8 : „Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hineind e n k t , überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber wenn sie sich h i n e i n s c h a u e n , h i n e i n e m p f i n d e n wollte." Der Begriff einer Verstandeswelt ist nur ein „ S t a n d p u n k t , den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, u m s i c h s e l b s t als p r a k t i s c h zu d e n k e n . . . "

16

V I I I , S. 136. Postulat heißt ein theoretischer, „als solcher aber nicht erweislicher Satz", sofern er „einen a priori unbedingt geltenden p r a k t i s c h e n Gesetze unzertrennlich a n h ä n g t (gesp. v. Verf.)". (V, S. 122).

17

270

Handlung in der Ausführung

verwandelt die bloße Idee von Welt in einen notwendigen Bestandteil der Handlungswirklichkeit, sofern in seinem Handeln sein vernünftiger Glaube zur Existenz kommt. In der subjektiven Gewißheit seines Glaubens und dem dadurch gebildeten praktischen Sein repräsentiert er die von ihm entworfene vernünftige Welt, weil sie ihn zur Kausalität seines Handelns bestimmt. Das Subjekt verwirklicht sich selbst auf dem Wege des Sich-Einrichtens in einer als vernünftig gedachten Welt. Diese postulierte Welt ist Wegweiser und Kompaß, „. . . wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg sowohl in theoretischer als praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann . . , " 1 8 Auch das Postulat der Unsterblichkeit der Seele ist im Zusammenhang mit der Sinnfrage bedeutsam. Schon dasjenige des Daseins Gottes hatte einen geschichtsphilosophischen Einschlag: denn es gehört zur Bewußtseinsverfassung des Handelnden, der auf die Zukunft seines Handlungserfolges ausgerichtet ist und sich durch den Glauben an die Sinnhaftigkeit seines Handelns gegen die Unsicherheiten dieser Zukunft wappnen will. Ist es hier darum zu tun, an einen Sinn des Vernunftprogramms zu glauben, demzufolge die Wirklichkeit durch Handeln vernünftig durchdrungen werden soll, so geht es im Postulat von der Unsterblichkeit der Seele um Moralisierung des Individuums. Das Postulat soll demjenigen Glauben an die Sinnhaftigkeit seiner Handlung geben, der an der Herstellung seiner eigenen moralischen Verfassung arbeitet. Es soll gegen die Gefahr wappnen, daß das handelnde Bewußtsein in solch einer Geschichte seiner eigenen Moralisierung dann verzweifelt, wenn es die Erfahrung von Rückschlägen macht. Für diese Fälle soll das Postulat der Unsterblichkeit der Seele dem Handelnden die feste Uberzeugung von einem end-gültigen Erfolg seiner eigenen Moralisierungsgeschichte geben. Die Geschichte unserer Moralisierung, die zu verwirklichen uns durch das Sittengesetz aufgetragen ist, bedarf einer Erstreckung über unsern Tod hinaus. Sie kann nur in einem „ins U n e n d l i c h e gehenden P r o g r e s s u s zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach Prinzipien der reinen Vernunft notwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Objekt unseres Willens anzunehmen." Moralisierung besteht in der Errichtung der Herrschaft der Vernunft über unser praktisches Sein. 19 Stellt 18

VIII, S. 142.

19

V, S. 122.

Experiment der praktischen Weltmetaphysik und die „Postulate"

271

das Subjekt in seiner bisherigen moralischen Bildungsgeschichte Fortschritte in Gestalt zunehmender moralischer Verfassung fest, so ist es berechtigt, eine Fortsetzung so weit zu hoffen, „wieweit seine Existenz auch immer reichen mag, selbst über dieses Leben hinaus . . .". Es ist ersichtlich, daß die Welt, deren ich zur Einrichtung meines praktischen Bewußtseins und seiner Ausrichtung des in der Zukunft zu erhoffenden Erfolges der pflichtbestimmten Handlungen bedarf, auch mit einem g e s c h i c h t l i c h e n Zug auszustatten ist. Eine Geschichte muß postuliert werden, die unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele zur vollkommenen Moralisierung des Individuums führt. Wird das Fortschrittspostulat aber im Sinne einer Vervollkommnung der menschlichen Institutionen und der Moralität der menschlichen Gattung verstanden, so führt der Gedankengang in den Bereich der Philosophie der Weltgeschichte. Kant nennt noch ein drittes Postulat: dasjenige der Freiheit. Damit behauptet er, daß wir für die Welt, die uns als Orientierung und Grundlage für die Ausführung unseres Handlungskonzeptes dient, auch den Zug der Freiheit vorzusehen haben: wenn wir uns in diese Welt hineinprojizieren, dann müssen wir uns als unabhängig von der Sinnenwelt und als fähig denken, über ein Vermögen der Bestimmung des „Willens nach dem Gesetze einer intelligiblen Welt, d. i. der Freiheit" zu verfügen. 20 Als Thema eines Weltpostulates wird Freiheit als G e g e n s t a n d der praktischen Vernunft behandelt und nimmt den Charakter r e c h t l i c h e r Freiheit an, die man als Struktur der moralischen bzw. intelligiblen Welt beschreiben kann. Es ist von einem „Corpus mysticum der vernünftigen Wesen" (B 836) die Rede, die im Verhältnis rechtlicher Freiheit zueinander stehen: ihre freie Willkür wird als „unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst als mit jedes andern Freiheit" in durchgängiger systematischer Einheit gedacht. Diese als Charakter der intelligiblen Natur bzw. Welt gegenständlich vorgestellte Freiheit ist als objektiver Widerschein der „eigentlichen" Freiheit aufzufassen. Diese v o l l z i e h t sich in theoretischen und praktischen Handlungen, etwa auch derjenigen des Entwurfes einer Welt, in deren Bild die Vernunft in der Form einer gegenständlich faßbaren Idee auch das Prädikat der Freiheit einzeichnet. In der Geschichtsphilosophie tritt der von der praktischen Vernunft geleistete Entwurf einer Welt in den Blick, die Kant als „Natur" bezeichnet: es handelt sich dabei nicht um „gefesselte" Natur, die Gegenstand der 20

V , S. 132.

272

Handlung in der Ausführung

Naturwissenschaft wäre. Vielmehr geht es hier um die Idee einer Natur, welcher das Prädikat der Freiheit und die Fähigkeit, selbständig Zwecke zu verfolgen, zugedacht wird. Um das im Bedürfnis der Vernunft verlangte und für Handeln notwendige Weltmilieu zu gewinnen, welches Vertrauen der praktischen Vernunft zu sich selbst, Triebfeder, Impuls, Bejahung der Pflicht auf Grund eines einhelligen Zusammenhanges zwischen unserer Freiheit und der Natur begründet, müssen Ideen wie Gott, Unsterblichkeit voraus-gesetzt werden: diese Leistung selbst aber muß in Freiheit geschehen. Freiheit wird sich in diesem Zusammenhang als Leistung und Vollzug, nicht in gegenständlicher Weise bewußt. Kant spricht solche Ideen als „gemachte Begriffe" an. 2 1 Freiheit als Selbstgesetzgebung in Theorie und Praxis und damit als Vollzug geht den Postulaten, welche dem Weltentwurf gegenständliche Prädikate zufügen, noch vorher: auch dem Postulat der Freiheit. Auf ihrem Grunde erkennen wir die Pflicht, deren Anspruch an uns eine Herausforderung für uns enthält, uns in eine Welt zu versetzen, die uns von der Einheit von Sollen und Können überzeugt. Der Fortschritt in der metaphysischen Wissenschaft steht mit dem des geschichtlich-politischen Handelns insofern in unmittelbarem Zusammenhang, als dieses einer Metaphysik b e d a r f , um Glauben und Vertrauen zu sich begründen zu können.

4. Geschichtliche

Welt als „Natur":

Der Vorwurf

des

Naturalismus

Bisher wurde die Orientierung an einer Welt, welche die Züge der Vernunft zeigt, als notwendiges Bedürfnis des handelnden Bewußtseins angesprochen, welches vom „Sinn" seiner Anstrengungen für die Verwirklichung seiner individuellen Pflichten überzeugt werden will. Wenn im folgenden auf geschichtsphilosophischem Boden, auf welchem nicht das Individuum, sondern die Menschengattung bzw. die Gesellschaft in den Blick tritt, vom „geschichtlichen" Handeln die Rede sein soll, so werden darunter die Anstrengungen verstanden, die auf die Verwirklichung von allgemeingesellschaftlichen und die Menschengattung angehenden Zwecken gerichtet sind. Der Geschichtsphilosoph stellt sich dabei die Aufgabe, ein ideales Modell von Natur zu entwerfen, welches den in der Geschichte Handelnden selbst nicht gegenwärtig zu sein braucht. Er 21

XX, S. 295.

Geschichtliche Welt als „Natur": Der Vorwurf des Naturalismus

273

macht über eine in der Idee entworfene, vorbildliche, durch Vernunft beherrschte Natur Aussagen. Diese Natur gebraucht er auch als „Leitfaden", um mit ihrer Hilfe die Geschichte als zusammenhängenden und einheitlichen Prozeß begreifen zu können. Zugleich will der Geschichtsphilosoph dem Handelnden einen Orientierungsmaßstab für sein Handeln an die Hand geben. Er entwirft als Anwalt der gemeinsamen Vernunft einen Idealtypus, den er Natur nennt, an dessen Bild bzw. Vor-bild sich der geschichtlich Handelnde zu orientieren vermag. Wie sich das moralische Bewußtsein an der „intelligiblen Natur" und ihrer Gesetzlichkeit orientiert, so gebraucht der im geschichtlichen Horizont Handelnde das Bild eines Naturideals, durch welches Vernunft dem Handelnden Weg und Ziel sichtbar macht. Die dabei in den Blick tretende Natur mag als „geschichtliche" bezeichnet werden. Kant zeichnet in seiner berühmten Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" in neun Sätzen das Bild dieser Natur. Ihr sagt er „Absichten" nach, die sie mit dem Menschen gegen sein Wissen und Wollen verfolgt. Sie vereinigt in sich Vernunft und zugleich Macht, Gesetzlichkeit und zugleich Da-sein. 2 2 Bevor die Aufmerksamkeit auf Einzelheiten des Bildes dieser geschichtlichen Natur gelenkt werden soll, mag kurz an den Vorwurf des Naturalismus erinnert werden, den man gegen Kant erhoben hat. Er habe, um es in seiner eigenen Terminologie zu sagen, durch Erschleichung Sätze über Seiendes in Sollenssätze verwandelt. Als markanter Wortführer dieser Kritik ist Moore aufgetreten. 23 Kant habe Unrecht daran getan, aus einem metaphysischen „Sein" das Pflichtsollen abzuleiten: er sei dadurch dem „naturalistic fallacy" verfallen. Dazu ist an folgendes zu erinnern: wenn man Kant diesen Fehlschluß im Hinblick darauf vorwirft, weil er die Erkenntnis unserer Pflicht in der Moralphilosophie auf dem Wege der Orientierung an der intelligiblen Natur zustande kommen läßt, so bedenkt man nicht, welche Funktion er dieser Naturidee überträgt. Man bemerkt nicht, daß Kant ihr nicht den Charakter eines „metaphysischen Seins" (Moore) gegeben hat, von dem angeblich Pflichterkenntnisse für den Menschen abzuleiten wären. Vielmehr wird ihr die Rolle eines Vor-bildes übertragen, an welchem der Handelnde seine Maßstäbe für die Beurteilung seiner Maxime gewinnt. Es

22 23

V I I I , S. 15. G . E. Moore, Principia ethica, Cambridge 1960 (1. Aufl. 1903), S. 119, vgl. auch meine „Ethik und Metaethik", Darmstadt 1974, S. 70 ff.

274

Handlung in der Ausführung

muß bedacht werden, daß diese Natur nicht die Rolle eines Reservoirs praktischer Ideen spielt, aus welchem der Handelnde seine Pflichten zu entnehmen vermag, sondern daß sie nur das Vorbild und den Maßstab für praktisches Denken und Entscheiden abgibt: sie stellt den Orientierungshorizont für die Erkenntnis der für mich gültigen Imperative dar. Ihre vernünftig-gesetzliche Natur kann deskriptiv beschrieben werden: da es sich aber um die Beschreibung eines ein Vorbild abgebenden Bereiches handelt, hat die Deskription von vornherein n o r m a t i v e n Charakter. Gewinne ich meine Pflichterkenntnis durch Orientierung an der intelligiblen Natur, so füge ich nicht nachträglich Sollenscharaktere zu Seinsbeschreibungen hinzu, um im Sinne des naturalistic fallacy beide zu vermischen. Vielmehr leistet die Deskription von Verhältnissen der intelligiblen Natur zugleich normative Orientierung für das Handeln. „Gleichwohl sind wir uns durch die Vernunft eines Gesetzes bewußt, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich eine Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maximen unterworfen sind. Also muß dieses die Idee einer nicht empirisch gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in praktischer Beziehung, objektive Realität geben, weil wir sie als Objekt unseres Willens als reiner vernünftiger Wesen ansehen." 24 Die Methode der Prüfung einer in Frage kommenden Maxime verlangt die Denk-leistung des Sich-Versetzens und Stand-nehmens auf dem Boden der von der Vernunft entworfenen Natur. Kant spricht auch von einem Sich-hineindenken in die intelligible Welt, wodurch ich die P e r s p e k t i v e gewinne, die mich meine Maxime erkennen läßt. Nicht A b l e i t u n g , sondern O r i e n t i e r u n g verbindet die Idee der intelligiblen Natur bzw. des mundus intelligibilis mit der Erkenntis meiner Pflicht. Auch im geschichtsphilosophischen Denken wird eine Vorbild-Natur entworfen und vorausgesetzt, welche in Sätzen charakterisiert wird, die zugleich beschreibende und normative Bedeutung haben. Wenn man diese Stellung der geschichtlichen Natur im Aufbau des theoretischen und praktischen Bewußtseins bedenkt, wird man Vorwürfe erwidern können, welche dem angeblichen Naturalismus Kants auch in der Geschichtsphilosophie gelten. Kant verbindet mit seiner Metaphysik der Geschichte mehrere Absichten. Zunächst ist es ihm um ein wissenschaftstheoretisches Anliegen zu tun, der Geschichtsschreibung ein philosophisches Fundament und einen 24

V, S. 44.

Geschichtliche Welt als „Natur": Der Vorwurf des Naturalismus

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Leitfaden zu geben, der es ihr ermöglicht, die Geschichte im Ganzen, als Weltgeschichte zu begreifen. Im jetzigen Zusammenhang aber geht es um die praktische Absicht der Geschichtsmetaphysik, derzufolge sie O r i e n t i e r u n g für den geschichtlich Handelnden in der Weise zu geben beansprucht, daß sie die Idee einer Natur vorstellt, an welcher Weg und Ziel abgelesen werden kann. Diese Natur ist ein Widerspiel der Vernunft, die in der Gestalt der Natur als wirklichkeitsmächtig, als natura naturans vorgestellt wird, die mit ihren „Geschöpfen" Absichten verfolgt. 25 Zweifellos ist es dabei um „freie" Natur zu tun. Sie ist aber nicht wie der Bereich des organischen Lebens der reflektierenden Urteilskraft zuzuordnen, welche die Funktion einer Be-urteilung von Erscheinungen als Zweckmäßigkeiten hat, sondern will ein Vor-bild für Handeln geben: sie gehört zum Bereich praktischer Erkenntnis. Damit der Handelnde seiner Situation in der Geschichte gerecht zu werden vermag, bedarf es des Entwurfes einer vor-bildlichen Natur: Sie ist Gegenstand einer Idee, die der Handelnde b r a u c h t , um seine praktischen Aufgaben erfüllen zu können. Auch zur intelligiblen Natur der rein moralischen Orientierung besteht ein Unterschied: diese Natur und ihre formale Struktur gibt die Grundlage für die Bildung der moralischen Verfassung ab. Die geschichtliche Natur aber ermöglicht Orientierung im Interesse des Handelns für das Ziel der Geschichte und die Realisierung der Institutionen: sie ist nicht nur Vorbild für moralisches Handeln des Individuums, sondern der Gesellschaft. In der „Konstruktion" der geschichtlichen Natur ist vorgesehen, daß wir uns selbst in ihren Bereich einzeichnen, da wir uns als ihre Geschöpfe zu denken haben. 26 Daher wird sie so gedacht, daß sie mit uns Menschen und unserer Geschichte Absichten hegt, die auch über unsere Köpfe hinweg erfüllt werden. Diese Natur wird so beschrieben, als ob in ihr die Vernunft unbeschränkte Macht hätte: was Kant in kritischer Hermeneutik über sie aussagt, hat Hegel später in dogmatischer Rede über die Vernunft in der Geschichte ausgesprochen. Die kritisch als Entwurf gedeutete Natur wird in neun Sätzen charakterisiert, in denen dargestellt wird, auf welches Ziel sie hinarbeitet und durch welches Handeln sie dieses Ziel zu erreichen sucht. Ziel und Strategie des Handelns der Natur sollen als vorbildlich für „unser" 25

26

Vgl. meine Untersuchung: „Welchen Nutzen gibt Kant der Geschichtsphilosophie?", Kant-Studien, 66. Jg. (1975), Η . 1, S. 65ff. Gemeint ist Konstruktion in dem „erweiterten" Sinne, demzufolge eine Welt symbolisch „gestaltet" wird, die mir als Orientierung und Vorbild dient. (Vgl. S. 87ff.).

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Handlung in der Ausführung

geschichtlich-politisches Handeln gelten. Um diese Funktion für die Orientierung zum Handeln deutlich zu machen, wird es gut sein, einen Blick auf die von Kant ausgesagten Sätze zu werfen, weil durch sie ein Naturbereich beschrieben wird, in dem sich der Charakter der praktischen Vernunft selbst spiegelt. In einem ersten Satz wird der dieser Natur angehörende Zug der Entwicklung gezeichnet. Alle Naturanlagen seien dazu bestimmt sich zu entwickeln: das gelte für jedes Wesen, insbesondere für die menschliche Vernunft, die hier als Naturanlage rangiert. Im Hintergrund ist die Devise zu bemerken: Wir sollen diesen Zug klar sehen und bedenken, um daraus für unser Handeln Aufgaben abzulesen; wir sollen den Entwicklungswillen, den Vernunft der Natur beilegt, zu unserem eigenen machen und unsere Naturanlagen ebenso wie andere Keime, die wir in der Natur vorfinden, kultivieren. Sofern es von der geschichtsmetaphysischen Vernunft als Absicht der Natur deklariert wird, alle Anlagen zu entwickeln, wird uns Menschen von dieser Vernunft damit zugleich die Pflicht vorgestellt, es dem Ideal der geschichtlichen Natur gleichzutun. 27 Ein zweiter Satz trägt in das Bild der geschichtlichen Natur den Zug ein, demgemäß sie die Erfüllung ihres Zieles nicht im Individuum, sondern in der Gattung des Menschen sieht. Am Menschen als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden werden sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abzielen, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. Vernunft kenne „keine Grenzen ihrer Entwürfe" und denke immer über das hinaus, was von der „Natur" gegeben ist. Man könnte im Sinne der Kantischen Idee von der geschichtlichen Natur sagen, daß die Vernunft darin ein besonders raffiniertes Mittel der Überwindung der wirklichen, gegebenen Natur gefunden hat, daß sie eine ideale Natur mit vor-bildlicher Funktion entwirft. Der Entwurf einer geschichtlichen Natur ist Symptom für die Grenzenlosigkeit vernünftiger Entwurfshandlungen, die über jede g e g e b e n e Natur hinausgehen. „Fort-schreiten" in der Geschichte bedeutet Uber-holen eines jeweils gegebenen und erreichten Status der geschichtlichen Entwicklung. Von der Natur wird gesagt, daß sie in Gestalt der Vernunft im Menschen ein Prinzip angelegt habe, auf Grund dessen er sich in einer Geschichte von 27

Es mag daran erinnert werden, daß auch unter den Beispielen, die in der Moralphilosophie für den kategorischen Imperativ gegeben werden, eines vorkommt, dessen Thema die Pflicht ist, seine Anlagen zu entwickeln. (IV, S. 422f.).

Geschichtliche Welt als „ N a t u r " : Der Vorwurf des Naturalismus

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Versuch, Übung und Unterricht entwickelt, um sich von einer Stufe der Einsicht zur andern weiterzuarbeiten. Experiment und Risiko sind die Implikate, mit denen Vernunft den Menschen im Zuge ständigen Uberschreitens erreichter Bildungen zur Selbstverwirklichung und Selbstk u l t u r kommen läßt. Dazu ist T r a d i t i o n nötig, in deren Zusammenhang die nachfolgenden Generationen auf den Resultaten der früheren weiterzubauen vermögen. Daher muß der Prozeß der Kultur unserer Anlagen als Geschichte gedacht werden, welche die Entwicklung des ganzen Menschengeschlechtes umfaßt, das seinerseits nur wieder als „Idee" vorgestellt werden kann. Vollendete Entwicklung unserer Anlagen muß das Ziel unserer Bestrebungen sein: „wenigstens in der Idee". Denn sonst würde der metaphysische Entwurf der geschichtlichen Natur selbst zu nichts nütze sein: diese Natur würde dann überführt sein, mit dem Menschen allein ein kindisches Spiel zu treiben. Vernunft hat es selbst in der Hand, solch ein unvernünftiges Bild von der „Natur" nicht aufkommen zu lassen. Von der Natur wird weiter gesagt, daß sie auch die Anlage der V e r n u n f t zur Entwicklung bringe, die ja ihrerseits über alle Grenzen der Natur und des Naturinstinktes hinausweist und damit ihre eigene natürliche Herkunft überwindet und überholt. Vernunft und Autonomie werden hier einerseits als Ergebnisse der von der Natur ins Werk gesetzten Entwicklung betrachtet, andererseits wird ihnen ein U r s p r u n g angewiesen, der jenseits der natürlichen Existenz liegt und von dem aus die Vernunft mit der Überholung der Natur beauftragt wird. Vernunft selbst „wirkt nicht instinktmäßig . . ," 2 8 Im Aufbau der geschichtlichen Natur ist vorgesehen, daß sie den Menschen, der den Entwurf dieser Natur selbst leistet, mit Vernunft ausgestattet und ihn damit der Freiheit überantwortet hat. Es zeige sich darum eine „klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung der Ausstattung des Menschen". Geschichtsmetaphysische Vernunft bringt die Rivalität zwischen der Freiheit dieser Natur und der Freiheit des Menschen, der als ihr vernünftiges Geschöpf gedacht wird, dadurch zur Versöhnung, daß sie die Geschichte als Selbstpreisgabe der Natur zugunsten der Vernunft auslegt. Natur bestimmt den Menschen bis zu dem Augenblick, in welchem er fähig ist, sich selbst zu bestimmen. Sie w i l l , daß sich der Mensch von ihr emanzipiere und sich ζ. B. durch freie Erfindungen, durch Errichtung von Institutionen, Wissenschaft usw. die Bedingungen für sein eigenes 28

VIII, S. 19.

278

Handlung in der Ausführung

Dasein selbst herstellt. Sogar Gutartigkeit seines Willens soll gänzlich sein eigenes Werk sein. Während „zuerst" die Herkunft und der U r s p r u n g der menschlichen Existenz in die freie Natur verlegt wird, wird dieser zugleich die Absicht unterstellt, den Menschen zur Selbstbestimmung und Selbstgestaltung seiner Existenz herauszufordern: er soll seinen Ursprung in seiner eigenen Vernunft und Freiheit finden. Es ist der geschichtlichen Natur zu unterstellen, daß sie sich selbst am Ende verleugnet und allen Ursprung kultureller und moralischer Errungenschaft und charakterlicher Vollkommenheit des Menschen in die Selbstgesetzgebung der Vernunft verlegt, die sich von Natur unabhängig macht. So spiegelt sich die Vernunft in der von ihr entworfenen Natur, von der sie die Absicht prädiziert, daß der Mensch sein Dasein mehr „. . . auf seine vernünftige S e l b s t s c h ä t z u n g , als auf ein Wohlbefinden" gründe. 29 Auf dem Wege über den Entwurf der geschichtlichen Natur belehrt die Vernunft den Menschen, daß er all sein Gutes s e l b s t gewinnen solle. Nicht auf Wohlleben komme es an, sondern darauf, daß individueller und sozialer Wohlstand vom Menschen durch Arbeit an den Dingen und an sich selbst gewonnen werde. Denn „in diesem Gange der menschlichen Angelegenheit ist ein ganzes Heer von Mühseligkeiten, die den Menschen erwarten." Es wurde gesagt, daß das Bild von der geschichtlichen Natur orientierende Funktion für den politisch-geschichtlich handelnden Menschen habe. Er vermag an diesem Bilde abzulesen, an welchem Punkte der Entwicklung er steht, wie das Ziel, auf das er hinzusteuern und hinzuarbeiten hat, inhaltlich zu charakterisieren ist, welche Richtung er einzuschlagen hat und wie lang der Weg ist, den er noch zurücklegen muß. Zugleich wird an der Art, wie die Technik dieser Natur vorgestellt wird, um zum geschichtlichen Ziele zu kommen, erkenntlich, wie der Handelnde vorzugehen hat. Auch hier gehen empirische Beobachtungen über den Menschen in stilisierter Form in den apriorischen Entwurf des Rahmens ein, innerhalb dessen sein Handeln geschieht. So beobachtet der Philosoph den Zug der „ungeselligen Geselligkeit" am Menschen und nimmt ihn dann in die Sprache auf, mit der er den Entwurf der Natur in der Idee beschreibt. Dieser Zug setzt sich aus den widersprüchlichen Neigungen zusammen, sich einerseits zu vergesellschaften, um im sozialen Rahmen die Entwicklung der Naturanlagen zu bewirken, sich andererseits aber auch zu isolieren und zu vereinzeln. Vereinzelung resultiert aus dem egoistischen 29

VIII, S. 20.

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Interesse, „. . . alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen". 3 0 Natur mache sich diesen „Antagonismus" zunutze, um durch dessen Konkurrenz-mechanismus ein optimales Ergebnis der Entwicklung aller Anlagen des Menschen zu bewirken. Im vierten Satz wird zur Sprache gebracht, wie geschichtliche Natur und damit Vernunft, die sich in dieser zu erkennen gibt, Affekte des Menschen wie Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht in ihre Technik einkalkuliert, um durch Verwendung der menschlichen Schwächen zur Herrschaft über den Menschen und seine Entwicklung zu gelangen. Solche Affekte können nur durch kluge Vermittlung mit den Interessen und selbstsüchtigen Antrieben der andern Menschen zu Erfolg kommen. Es gehört zum Raffinement der Natur, daß diese Affekte gezwungen werden, ihr Ziel auf einem ihnen an sich fremden Weg zu erreichen: dem der Überlegung, Mitteilung, der rationalen Argumentation, der Besonnenheit und der Rücksichtnahme auf die andern. So erzwingt die als Natur verkleidete Vernunft durch die Technik des Umschlagenlassens egoistischer Interessen in diejenigen eines gemeinsamen Vernunftwillens die „ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht". Geschichtliche Natur befördert Kultur dadurch, daß sie den Menschen durch antagonistische Antriebe über den Standpunkt des Antagonismus hinaustreibt, um ihn zu zwingen, sich auf das Niveau gesellschaftlichen Lebens zu stellen. Da werden „ . . . alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine p a t h o l o g i s c h abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein m o r a l i s c h e s Ganze verwandeln kann." 3 1 Die Methode des Perspektivengebrauchs, durch welche in anderen Zusammenhängen Natur und Freiheit dialektisch vermittelt werden, bewährt sich auch hier, wo ein Widerstreit zwischen der Freiheit der eigenwilligen Natur und der Freiheit des vernünftigen Menschen aufbricht. Die geschichtsmetaphysische Vernunft bedient sich einerseits der Perspektive der geschichtlichen Natur, die sich als Vormund für den Menschen und seine Entwicklung aufspielt. In dieser Perspektive wfird das Ziel der Geschichte, die am Ende gewonnene gesellschaftliche Oberein30 31

V I I I , S. 21. V I I I , S. 21.

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Handlung in der Ausführung

kunft, der Zustand vernünftiger Argumentation, der Selbstentfaltung des Einzelnen im Rahmen gemeinsamer gesellschaftlicher Kultur und die Herstellung einer Verfassung bürgerlicher Gesellschaft als Ergebnis aufgefaßt werden, welches dem Menschen „pathologisch" abgerungen wurde. Es ist die Perspektive des Zwangs von seiten der als geschichtliche Natur maskierten Vernunft. Diese Natur wird so vorgestellt, daß sie über die Köpfe der Menschen hinweg durch listigen Gebrauch des Mechanismus der Affekte ihre Ziele verwirklicht. Bedient sich das Denken aber der Perspektive der Freiheit, dann wird Geschichte als Prozeß erkennbar, der seinen U r s p r u n g in der menschlichen Freiheit hat. In dieser Perspektive wird auch der U b e r g a n g von einer Auffassung, in welcher der Mensch unter der Vormundschaft der Natur steht, zu einer solchen erkennbar, in der er sich als selbständige, freie Subjektivität begreift. In einer Mentalität arkadischer Genügsamkeit, die sich mit dem Bestehenden zufrieden gibt, würde der Mensch keinen Antrieb spüren, den Status der Natur-bestimmtheit zu verlassen und zur Selbstgesetzgebung überzugehen: er würde seinem Dasein kaum einen höheren Wert verschaffen können, als sein Hausvieh hat, auch wenn er im besten Fall gutartig wie die Schafe wäre. So treibt die Natur den Menschen aus dem Zustand der „Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit" hinaus in „Arbeit und Mühseligkeit", um ihn zu seinen eigenen Möglichkeiten herauszufordern. Immer neue Anspannung der Kräfte und raffiniertere Entwicklung der Naturanlagen werden durch diese Dynamik der Natur bewirkt, die es dem Menschen nicht erlaubt, sich zur Ruhe zu setzen. Im fünften Satz ist endlich das Ziel, auf welches die Natur hinarbeitet, formuliert: sie „zwingt" den Menschen, eine allgemein „das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft" herzustellen. 32 Damit ist das größte, bedeutendste und zugleich schwerste Problem für den Menschen gestellt. Hier ergibt sich wieder die Frage, wie man denn dasjenige ein Problem nennen kann, was die Natur von sich aus und sogar durch Zwang dem Menschen abverlangt. „Zwang" der Natur ist als Wille der Vernunft zu interpretieren, zur Herrschaft zu gelangen. Wieder gilt es hier, die Hermeneutik, welche der Perspektive der Natur angemessen ist, von derjenigen zu trennen, welche zur Perspektive der Freiheit gehört. Von der ersten aus gesehen zwingt die Natur den Menschen zur Lösung der Aufgaben, Krieg und Streit in den Zustand des gesetzlich geführten 32

VIII, S. 22.

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Rechtsprozesses zu überführen und die Interessen der Einzelnen am Maßstab eines gemeinsamen allgemeinen Gesetzes aufeinander abzustimmen. In der Perspektive der Freiheit gesehen aber ist es die Aufgabe des geschichtlich-politisch Handelnden, selbst diese rechtliche Verfassung am Leitfaden der geschichtlichen Natur herzustellen. 33 In der Perspektive der Natur ergibt sich das Bild von Sein und Notwendigkeit. In der demgemäßen Sprache wird ausgesagt, daß sich die Natur der ungeselligen Geselligkeit der Menschen als eines Mechanismus bedient, mit dem sie zu ihrem Ziele hinarbeitet. Die der Perspektive der Freiheit angemessene Sprache aber sagt Sätze des S o l l e n s aus. Der sich an der geschichtlichen Natur Orientierende soll so verfahren wie diese: er soll sich des menschlichen Egoismus bedienen, um auf dessen Rücken rechtliche Institutionen herzustellen. Wenn in der Perspektive der Natur die Herrschaft der Vernunft als Wirklichkeit gedacht wird, ist sie in der Perspektive der Freiheit als Aufgabe zu begreifen. Die Sätze des geschichtsphilosophischen Entwurfes Kants sind in der Sprache der Naturperspektive ausgesagt: zugleich aber ist impliziert, daß jeder Satz auch in die Perspektive der Freiheit übersetzt werden muß und auf die Sprache des Sollens zu bringen ist, sofern er sich als orientierend für geschichtlichpolitisches Handeln erweist. Von der Natur wird weiter gesagt, daß sie mit Hilfe des Antagonismus die Menschen zu Disziplin zwinge: „Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu disziplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln." Praktische Vernunft, die der Perspektive der Freiheit gemäß spricht, wandelt diesen feststellenden Satz in einen Imperativ um: wir s o l l e n mit Hilfe des Antagonismus eine Verfassung der menschlichen

33

A n die Anfangssätze des dritten der Schiller'schen „Briefe über die ästhetische Erziehung des M e n s c h e n " ist zu erinnern: „ D i e Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stillesteht, was die bloße N a t u r aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der N o t in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben." Die Situation im geschichtsphilosophischen Gedankengang bei Kant ist nur insofern komplizierter als in diesen Sätzen Schillers, weil die „geschichtliche N a t u r " die von Schiller beschriebenen Emanzipationsschritte selbst vom Menschen verlangt und demgemäß nicht als „bloße" Natur, sondern als maskierte Vernunft, die zugleich Macht ist, zu beurteilen ist.

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Handlung in der Ausführung

Gesellschaft herbeiführen, in welcher die Konflikte nicht durch Krieg, sondern durch gesetzlich geregelten Interessenausgleich, also mit Mitteln des Friedens entschieden werden. Das Problem, Vernunft zu verwirklichen und in der Politik zur Herrschaft zu bringen, ist deshalb schwer aufzulösen, weil diese durch Menschen repräsentiert werden muß. Es besteht die Gefahr, daß am Ende Menschen über Menschen herrschen, statt daß Vernunft Herrschaft über die Menschen übernimmt. Der Mensch ist ein Tier, das „. . . wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat." 34 Vom Herrn: Vernunft wird gesagt, daß er dem Menschen den „eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen." Uber einen weiteren Zug fort-schrittlichen Handelns wird man im siebten Satz informiert. Er spricht über die Errichtung eines „Völkerbundes", in welchem der Kriegszustand zwischen Völkern durch gesetzliche Verfassung soll überwunden werden. Die Kriege selbst sorgen nach dem Plane der großen Pädagogin „Naur" dafür, daß nach vielen Verwüstungen, „Umkippungen" und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung der Kräfte der Völker das schließlich erzwungen wird, was Vernunft auch ohne „soviel traurige Erfahrungen hätte sagen können": daß es auf die Herstellung einer gesetzlichen Verfassung ankomme, die alle Völker umspannt. Denn kein noch so gut ausgedachter „Friede", der auf einen Krieg folgt, kann prinzipiell verhindern, daß notwendig immer wieder neue Kriege ausbrechen, wenn nicht eine den dauernden Frieden verbürgende Rechtsinstanz eingesetzt wird. 35 Das Ziel der weit-bürgerlichen Verfassung gibt den Maßstab an, an welchem der geschichtliche Fortschritt gemessen werden kann: Fortschritt ist Annäherung an dieses Ziel. Wenn die Naturperspektive in Gebrauch ist, wird dieses als Absicht der Natur festgestellt und beschrieben. In der Perspektive der Freiheit aber ist es als Maxime zu formulieren, in welcher zugleich die Strategie der Verwirklichung des Zieles angegeben wird: sie bedient sich des Ausspielens der heterogenen und entgegengesetzten Interessen und Kräfte der Menschen gegeneinander, die dann durch gesetzliche Regelung zu einer vernünftigen Einheit geführt werden. So 34 35

VIII, S. 23. An die analoge Situation in der theoretischen Philosophie, durch Selbstgesetzgebung des philosophischen Denkens (Nomothetik) den antinomischen Kriegszustand der dogmatischen Metaphysik in einen Zustand friedlicher Entscheidungsmöglichkeit überzuführen, sei hier erinnert.

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schlafen die Kräfte der Menschheit nicht ein, werden aber durch ein Prinzip der G l e i c h h e i t ihrer „wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung" in die gesetzliche Form eines friedlichen Zustandes gebracht, der einen Fortschritt bedeutet, der seinerseits weiteres Fortschreiten ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist an Kant die Frage zu stellen, ob er in den Fortschrittsprozeß der Geschichte nur die legale Verfassung oder auch die Entwicklung der Moralität einbezogen hat. Was dieses angeht, so ist es schwierig, für sie einen Maßstab anzugeben, an dem man den Grad des Fortschritts m e s s e n könnte. Denn Moralität ist nicht an „äußerlich" beschreib- und normierbaren Figuren des Handelns zu messen. Gleichwohl wird von Kant die Erziehung zur moralischen Verfassung, die M o r a l i s i e r u n g in das Fortschrittsprogramm eingeholt. Nur muß sie auf dem Umwege über die „ K u l t i v i e r u n g " von Kunst und Wissenschaft, über die Institutionalisierung von Recht, Erziehung und über „Zivilisierung" realisiert werden. Im Zuge der Moralisierung gewinnt Vernunft die Herrschaft über das „Innere". Moralisierung der Bürger ist ein Erziehungsprozess, der mit der Errichtung der bürgerlichen Weltgesellschaft und der Verwirklichung der Vernunft in den gesellschaftlichen Institutionen beginnt und sich dann „Innen" fortsetzt. Dabei scheint es so, als ob Kant einen Vorgang im Auge hätte, den man heute als „Internalisierung" bezeichnet. Man darf aber nicht vergessen, daß die Pointe der Moralisierung darin besteht, daß Vernunft durch Selbst-bestimmung über das „Innere" Macht gewinnt: sie verwirklicht sich als Moralität nicht durch Ausübung eines von fremder Seite auf das Subjekt ausgeübten Zwanges, wie das im Recht der Fall ist. Auch bedeutet „Moralisierung" nicht die Bildung eines Charakters des Denkens und Handelns durch Gewöhnung an Verhaltensmuster, die unter gesellschaftlichem Druck eingeübt wurden. Die bei der Moralisierung zum Zuge kommende Macht der Vernunft muß sich als „Selbst-zwang" erweisen. Das Lehrstück von der „Achtung" hat die autonome Herstellung der Herrschaft der Vernunft zum Thema. Wenn Kant die Moralisierung nicht von der Erziehung in der Familie, sondern von den Institutionen erwartet, dann ist es die in diese investierte öffentliche, allgemeine und gemeinsame Vernunft, auf die es ihm auch im Hinblick auf Moralität ankommt: nur verlangt die Aufgabe der Moralisierung, daß das Subjekt diese Vernunft, welche ja die seine ist, als solche autonom im eigenen „Inneren" zur Herrschaft bringt. Der achte Satz des geschichtsphilosophischen Entwurfes sagt aus, daß man die Geschichte der Menschengattung im Großen als die „Vollziehung

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Handlung in der Ausführung

eines verborgenen Plans der Natur" ansehen müsse, um „. . . eine innerlich und zu d i e s e m Z w e c k e a u c h ä u ß e r l i c h v o l l k o m m e n e S t a a t s v e r f a s s u n g z u s t a n d e zu b r i n g e n , als den e i n z i g e n Z u s t a n d , in w e l c h e m sie a l l e i h r e A n l a g e n in der M e n s c h h e i t v ö l l i g entw i c k e l n k a n n " . 3 6 „Verborgen" heißt der Plan der Natur, weil er dem in der Geschichte stehenden und in ihr handelnden Menschen nicht bekannt zu sein braucht: Natur, die vom Philosophen bewußt gemacht wird, plant und handelt über die Köpfe der geschichtlichen Subjekte hinweg. Das ist in der Perspektive der Natur und i h r e r Freiheit gesprochen. Aber der Perspektive der m e n s c h l i c h e n Freiheit entspricht eine andere Sprache: in ihr erkennt die Vernunft, daß sie es ist, die den Plan der Natur entwirft, um durch seine Vermittlung Orientierung zu geben. Die metaphysische Geschichtsvernunft entwirft die Idee einer Natur, die sich beim Denken und Handeln als Leitfaden benützen läßt und an der sich der Handelnde zu orientieren vermag. Diese Natur ist als Geschöpf der praktischen Vernunft des Menschen und als Symptom der menschlichen Freiheit zu durchschauen: Spricht der sie entwerfende Geschichtsphilosoph von dem Zwang, den Natur auf den Menschen ausübt, so m e i n t er den Zwang, durch den sich der Mensch zum vernünftigen Herrn seiner selbst macht und durch den er sich als Freiheit erweist. Es mag noch einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß Kant zwischen dem „äußeren" und dem „inneren" Machtbereich der Vernunft unterscheidet. Zum äußeren Aspekt gehört ζ. B. das Recht, welches wesentlich mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten . . . einerlei". 37 Aber der „äußere" Zwang kann sich nur auf die Befolgung juridischer Gesetze erstrecken: würde er, wie es in totalitären Systemen der Fall ist, den Anspruch erheben, auch in die Sphäre der Gesinnung und Moralität vorzudringen, so würde das einen Widerspruch zur Autonomie bedeuten, welche wesentliches Merkmal moralischer Verfassung ist. Ein politisches Rechtswesen kann schon lange bestehen, bevor der Prozeß der Moralisierung der Bürger angefangen hat. Trifft dieser Fall zu, so spricht Kant davon, daß der politische Naturzustand schon überwunden ist, während der „ethische Naturzustand" wechselseitiger „Befehdung der Tugendprinzipien und ein Zustand der inneren Sittenlosigkeit, aus welcher der natürliche Mensch sobald wie möglich herauszukommen sich befleißigen soll", noch besteht. 38 36 38

3 7 V I , S . 232. VIII, S. 27. Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 3. Stück VI, S. 95/96.

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Bürger, die sich im ethischen Naturzustand befinden, müssen sich äußere Einschränkungen von Seiten des bürgerlichen Rechts gefallen lassen und dürfen nichts tun, was „der Pflicht ihrer Glieder als S t a a t s b ü r g e r widerstreite." Aber der Anspruch des Rechts und seines Zwanges darf sich nicht auf Kontrolle oder auf Veränderung der Gesinnung selbst ausdehnen. Es dürfen nur m o r a l i s c h e Triebkräfte in Frage kommen, welche den Fortschritt in der Moralität der Bürger in Gang setzen und ihre Entwicklung aus einem ethischen Naturzustande heraus in den einer sittlichen Gemeinschaft bewirken. Wenn die politische Rechtsgesellschaft ihre Bürger zwingen wollte, in ein „ethisches gemeines Wesen zu treten", so wäre das ein Widerspruch: weil der Begriff der ethischen Gemeinschaft den der Freiheit von äußerem Zwang bei sich führt. „Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen angetroffen werde: denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken. Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen. — Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugnis des letztern betrifft, völlig frei: ob er mit andern Mitbürgern überdem auch in ethische Vereinigung treten oder lieber im Naturzustande dieser Art bleiben wolle." 3 9 Daß moralische Vernunft auch über die Verfassung des Menschen selbst, seine Gesinnung, sein „praktisches Sein", sein Gewissen Macht gewinne, kann nicht durch äußeren Zwang verbürgt werden: hierzu bedarf es eines autonomen „inneren" Herrschaftsverhältnisses. Im Lehrstück von der Achtung war davon die Rede. Zwischen juridischer und ethischer Gesetzgebung wird von Kant ein Trennungsstrich gezogen: aber die Idee von einem „moralischen Weltherrscher" vereinigt beide zuletzt wieder. Dieser nimmt die Stelle eines obersten Gesetzgebers und obersten Richters in moralischen Dingen ein und muß „. . . ein Herzenskündiger sein, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen.

39

VI, S. 95/96.

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Handlung in der Ausführung

Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher." 40 Die der geschichtlichen Natur übertragene Macht ist insofern in Parallele zum rechtlichen Zwang zu setzen, als sie sich nur darauf erstrecken darf, den Menschen in seinem äußeren Verhalten in die Hand zu bekommen und ihn schließlich zur Errichtung einer Rechtsgesellschaft zu zwingen. Was aber den Prozeß der Moralisierung angeht, so muß ihn der Mensch selbst in die Hand nehmen. „Moralisierung" der Menschengattung setzt voraus, daß sich die bürgerliche Rechtsgesellschaft schon verwirklicht hat und daß ihre Institutionen funktionieren. Das ist nicht nur so zu verstehen, daß in einem äußern Kriegszustand keine Möglichkeit der Erziehung und der Ausbildung humanitärer Gefühle besteht. Vielmehr gibt es von Kant aus gesehen die Möglichkeit, den Zusammenhang noch tiefer zu sehen: seine Uberlegungen legen es nahe, daß die Wirklichkeit einer rechtlich verfaßten Gesellschaft und ihrer Institutionen Vernunft in einem äußeren Gewände erkennbar macht. Diese Wirklichkeit ist als Sprache aufzufassen, die von der öffentlichen allgemeinen und gemeinsamen Vernunft gesprochen wird. Der Bürger kann die in dieser Sprache gesprochene Aufforderung verstehen, den in der Rechtsinstitution geübten Zwang in eine innere autonome Wirklichkeit von Herrschaft zu verwandeln. Die Vernunft, die mich von Seiten der Gesellschaft her anspricht, muß ich zugleich als meine Vernunft gebrauchen, der ich Herrschaft über mein eigenes Inneres verschaffe. Das führt zur Moralisierung; diese wird im geschichtsphilosophischen Zusammenhang als gemeinsame Aufgabe der Bürger der Gesellschaft verstanden: anders als in der philosophischen Theorie der individuellen moralischen Entwicklung. Im folgenden wird auch der Bezug zwischen Fortschritt und Hoffnung, der in der Moralphilosophie in der Lehre von den Postulaten begegnet ist, in geschichtsphilosophischem Gewände auftreten.

5. Fortschnttsidee als geschichtsphilosophisches Experiment zur Überwindung des Nihilismus und geschichtliche Hoffnung Der geschichtsphilosophische Handlungsbegriff legt einen vereinigten Willen der Menschheit zugrunde. Dieser wird noch nicht als geschichtliche Wirklichkeit angenommen werden können: aber er wird in dem Entwurf 40

VI, S. 99.

Fortschrittsidee als Experiment

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der geschichtlichen Natur als eine zu realisierende Willensverfassung der in einem fortgeschrittenen Stadium der Geschichte lebenden Menschen antizipiert. Der Maßstab des Fortschritts ist zugleich das in der geschichtlichen Natur angelegte Ziel der Geschichte: die Herstellung einer bürgerlichen Rechtsverfassung. Orientiert sich das Bewußtsein des politischgeschichtlich Handelnden an der Idee dieser Natur, so nimmt sein Handeln die Richtung auf Verwirklichung der Solidarität der Menschen und ihres vereinigten Willens an. Da geschichtliche Natur den Fortschritt einplant und damit einen Weltrahmen aufweist, an dessen Ende der E r f o l g aller Bemühungen der geschichtlichen Arbeit steht, ist er zugleich Erfüllung der H o f f n u n g und Uberwindung der Furcht, alles könne umsonst sein. Dieser Hoffnung muß Nahrung gegeben werden, wenn der zum Handeln nötige Impuls nicht durch den Gedanken an ein mögliches „ U m s o n s t " gelähmt werden soll. So gibt es auch in der Geschichtsphilosophie eine S i n n f r a g e , welche geschichtsmetaphysische Vernunft durch das apriorische Postulat des Fortschritts in der Geschichte zu beantworten sucht. Es geht darum, den Nihilismus zu überwinden und im geschichtlich Handelnden den Glauben daran zu rechtfertigen, daß er in Gemeinschaft der Mitmenschen bei der Arbeit an der Verwirklichung des geschichtlichen Vernunftprogramms Erfolg haben wird, und daß er es wagen darf, sich für das Experiment der Vernunft einzusetzen. Der Fortschrittsgedanke kommt bei Kant in einem zweifachen Aspekt vor: zunächst begegnet er als apriorisches Postulat der Geschichtsphilosophie. Fortschritt wird als Charakter einer geschichtlichen Welt vorausgesetzt, in welcher die Sinnfrage: „Was darf ich hoffen?" auf der Ebene geschichtlich-politischen Handelns beantwortet werden kann. Die Frage nach der Bedingung der Erfüllung der Hoffnung kann auch so formuliert werden: „Welche Annahme bzw. Voraussetzung für den Aufbau der geschichtlichen Natur b r a u c h e ich, um mich für die von der geschichtlich-politisch-rechtlichen Vernunft gegebenen Aufgaben und ihre Erfüllung einsetzen zu können?" Auch hier wird ein experimentelles Verfahren der geschichtsphilosophischen Vernunft zur Auffindung des „richtigen", d. h. meine Hoffnung befriedigenden Entwurfes führen. In diesem Experiment wird eine weise und mächtige Natur zugrunde gelegt, welche Bürgschaft für den Erfolg des geschichtlichen Handelns zu geben vermag. Der Welthorizont dieser geschichtlichen Natur zeigt auch eine geschichtliche Entwicklung zu einem Endziel hin. Die Annahme vom Fortschritt in der Geschichte ist ein apriorisches Postulat, welches dem politisch handelnden Menschen Uberzeugung vom Sinn seines Handelns vermittelt. Das im

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Handlung in der Ausführung

geschichtlichen Sinne praktische Bewußtsein braucht die Idee einer im Fortschritt befindlichen Geschichte: die apriorische Idee gehört primär zur Orientierung und Sinngebung des praktischen Bewußtseins. Zugleich aber übernimmt sie auch regulative Funktion für den Geschichtsschreiber: sie vermag ihm als heuristisches Prinzip für die Entdeckung von Fortschrittsfiguren bei der empirischen Beschreibung geschichtlicher Prozesse zu dienen. Im Postulat des Fortschritts ist für den Historiographen zugleich auch die Devise gegeben: Lege den wirklichen geschichtlichen Gang, den du beschreiben willst, am Leitfaden der Kontinuität und des Fortschritts aus. Ohne das apriorische Postulat des Fortschritts ergibt die empirische Erzählung geschichtlicher Vorgänge keine Möglichkeit, die Hoffnung auf Erfolg unserer Arbeit für die Vernunft zu begründen. Erzählte Vorgänge ergeben keine Basis für eine U b e r z e u g u n g von der Verbindlichkeit und Sinnhaftigkeit des Handelns. Das hängt auch mit der logischen Situation zusammen, daß das bloß empirisch erzählende Verfahren keine generellen Sätze, die für alle Menschen und geschichtlichen Epochen gültig sind, ergeben: diese müßten die Geschichte im Ganzen zum Thema machen. Solche generellen Sätze zu begründen, ist Sache des metaphysischen Entwurfes der geschichtlichen Welt bzw. der geschichtlichen „Natur". Im übrigen muß dem Versuch, auf dem Boden der Erfahrung geschichtlichen Fortschritt zu erweisen, auch deshalb der apriorische Entwurf einer geschichtlichen Welt vorhergehen, weil ohne diesen die Rede vom Fortschritt keinen Sinn hätte, in der ein von vornherein konzipiertes (a priori) Ziel der Geschichte vorausgesetzt wird, an welchem als Maßstab jeder geschichtliche Schritt nach seinem Wert für das Ganze gemessen werden kann. Kant selbst macht den Versuch, die heuristischen Möglichkeiten des apriorischen Fortschrittspostulats durch eine empirische Aussage über das Fortschreiten der „wirklichen" Geschichte auszuschöpfen. Im Hinblick auf seine eigene Gegenwart glaubt er, „Geschichtszeichen" entdecken zu können, die es rechtfertigen, von einem wirklichen Fortschritt zu sprechen. In einem bekannten Abschnitt im „Streit der Fakultäten" erklärt er, daß durch Erfahrung unmittelbar die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen sei.41 Denn die Perspektive, die sich vom Standpunkt des erfahrenden Bewußtseins aus anbietet, ermöglicht es nicht, sich von der verwirrenden Nähe der geschichtlichen Vorgänge zu distanzieren, um das Ganze überschauen und an ihm eine Richtung des Geschehens feststellen 41

VII, S. 83.

Fortschrittsidee als Experiment

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zu können. Dazu ist der apriorische Entwurf einer geschichtlichen Natur mit dem Fortschrittspostulat nötig. „Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang fort." 4 2 Daß dieser apriorische Wink aber dazu benutzt werden kann, uns auf ein „Geschichtszeichen" aufmerksam zu machen, erweist sich nach Kant dann, wenn man auf eine Begebenheit hinblickt, die sich in seiner Gegenwart in Zusammenhang mit der Französischen Revolution gezeigt hat. Daß hierbei Menschen eine Solidarität im Engagement für einen weltgeschichtlichen Schritt zur Freiheit hin auch in dem Falle zum Ausdruck gebracht haben, in welchem dies für sie nachteilig war, scheint Kant zu der Annahme zu berechtigen, daß damit ein empirisches Anzeichen für ein Fortschreiten gegeben sei. Dieses Fortschreiten bezieht Kant nicht nur auf den institutionellen Aspekt der Herstellung einer besseren Rechtsverfassung, sondern auch auf die moralische Verfassung der Menschen, deren Qualität sich im Engagement für diesen objektiven Fortschritt gezeigt hat. 43 Im geschichtsphilosophischen Aufsatz wird im Hinblick auf die empirische Bewährung des apriorischen Fortschrittspostulates gesagt, daß es darauf ankomme, daß „die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke. Ich sage: e t w a s W e n i g e s ; denn dieser Kreislauf scheint so lange Zeit zu erfordern, bis er sich schließt, daß man aus dem kleinen Teil, den die Menschheit in dieser Absicht zurückgelegt hat, nur ebenso unsicher die Gestalt ihrer Bahn und das Verhältnis der Teile zum Ganzen bestimmen kann, als aus allen bisherigen Himmelsbeobachtungen den Lauf, den unsere Sonne . . . nimmt. . ." 44 Im apriorischen Entwurf eiVII, S. 83. VII, S. 8 6 : Der institutionelle Fortschritt „. . . und die Teilnehmung am Guten mit A f f e k t , der E n t h u s i a s m , o b er zwar, weil aller A f f e k t als ein solcher Tadel verdient, nicht ganz zu billigen ist, gibt doch vermittelst dieser Geschichte zu der für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs I d e a l i s c h e und z w a r rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann." 4 4 V I I I , S. 27: Hier tritt wieder die an den astronomischen Bewegungen der Gestirne orientierte Auffassung von der Entwicklungsfigur der Geschichte ins Blickfeld, die für den frühen Kant in der „allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" maßgebend war. Damals hat er konsequentermaßen die Geschichte als ewige Wiederkehr des Gleichen begriffen. In dem hier zur Debatte stehenden Zusammenhang aber würde diese Figur nicht m e h r vertretbar sein, da in ihr der Fortschrittsgedanke nicht unterzubringen wäre. 42

43

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Handlung in der Ausführung

ner geschichtlichen Natur wird die Technik angedeutet, mit der Natur die Fort-schritte e r z w i n g t : sie bedient sich des Konkurrenzprinzips, das die Menschen zu immer höheren Leistungen, zu vermehrter Disziplin und Befolgung der gesellschaftlichen Spielregeln führt. Kant sieht die Auswirkung dieses Prinzips im Wettrennen der einzelnen Staaten um Macht und Einfluß und in der freien wirtschaftlichen Konkurrenz. Im Hinblick darauf spricht er von „bürgerlicher Freiheit", die ohne Schaden für Handel und Wirtschaft nicht eingeschränkt werden dürfe. Im Konkurrenzprinzip sieht er dabei nicht einen Selbstwert, sondern nur ein technisches Mittel, dessen sich Natur für die Herbeiführung des Fortschritts bedient. Zeigt sich, daß man am Leitfaden des apriorischen Entwurfs die empirische Feststellung machen kann, daß sich „gleichsam schon ein Gefühl in allen Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist", feststellen läßt, dann stimmt der Entwurf mit der empirischen Lebenswelt überein. Das gebe ein Recht auf die Hoffnung, daß nach „manchen Revolutionen der Umbildung" endlich der allgemeine weltbürgerliche Zustand als der Schoß verwirklicht werde, in dem alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden. Dann ist auch eine „ R e c h t f e r t i g u n g der Natur — oder besser der V o r s e h u n g " gegeben. 45 Mit der rationalen Begründung des geschichtsphilosophischen Entwurfs befaßt sich der neunte Satz, der auch erklärt, daß die Rechtfertigung des geschichtsmetaphysischen Experimentes durch den Nachweis geschieht, daß der Glaube an den Fortschritt in der Geschichte eine Entschiedenheit und Festigkeit des praktischen Seins des geschichtlich Handelnden bewirkt. Ist das der Fall, so kann das Experiment als gelungen angesehen werden: das Motiv, den vorgeschlagenen „ G e s i c h t s p u n k t d e r W e l t b e t r a c h t u n g " zu wählen, ist überzeugend geworden. Geschichtsphilosophie beantwortet die Frage, was ich hoffen darf, nicht mit dem Hinweis auf eine jenseitige Welt: vielmehr richtet sich der Blick auf den innergeschichtlichen Fortschritt. Sie ermöglicht dem handelnden Menschen eine Erkenntnis der Pflicht und überzeugt ihn zugleich von dem Sinn des Einsatzes für das Konzept der geschichtlichen Vernunft. Die Beschreibung einer vor-bildlichen Welt, einer „natura archetypa" dient der Verdeutlichung der Pflicht, die dem geschichtlich Handelnden obliegt, sowie zugleich der Herstellung einer praktischen Verfassung in ihm, die durch Vertrauen auf die Vernunft bestimmt ist. 45

VIII, S. 30.

Fortschrittsidee als Experiment

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Der apriorische Leitfaden ermöglicht es uns, an die Vernünftigkeit der Geschichte zu glauben und von der Sinnhaftigkeit des Handelns für die Verwirklichung der Vernunftzwecke überzeugt zu sein. Das Postulat des Fortschritts spielt dabei eine entscheidende Rolle. Auch der Fortschritt der Metaphysik selbst wird in diesem Zusammenhang in das geschichtsphilosophische Denken einbezogen. In der posthum erschienenen Preisschrift über die „Fortschritte der Metaphysik" interpretiert Kant die Geschichte der Metaphysik als Abfolge von „ V e r s u c h e n " der Vernunft. Er zählt es auch zum Fortschritt des metaphysischen Denkens, wenn dieses seinen eigenen Experimentalcharakter erkennt und das gedankliche Experiment methodisch normiert. 46 Kant nimmt für sich selbst in Anspruch, einen Erkenntnisfortschritt in der Metaphysik in der Weise geleistet zu haben, daß er eine dialektische Entscheidungsmethode gefunden hat, auf Grund deren innere Konflikte in der Vernunft in einem „Gerichtsverfahren" entscheidbar sind. Er hat den durch ihn geleisteten Fortschritt darin gesehen, daß er die philosophische Vernunft zu einer kritisch-dialektisch begründeten Selbstgesetzgebung gebracht hat, durch welche der Naturzustand der Vernunft, d. i. derjenige des Krieges, in einen Friedenszustand übergeführt wird. Bekanntlich nennt Kant drei Stadien der Metaphysikgeschichte, von denen das erste durch ein ungebrochenes „Vertrauen" der Vernunft auf sich selbst und durch den Glauben an einen gesicherten wissenschaftlichen Fortschritt charakterisiert wird. Da diese erste Phase aber diejenige einer naturwüchsigen Metaphysik darstellt, mußte die Vernunft in ihr in innere Widersprüche geraten. Daher ergab sich als zweite Phase die Skepsis, die „Zweifellehre", die Krise und zugleich Herausforderung zu einem Fortschritt bedeutet: in dieser Phase bildete sich Kritik- und Experimentbewußtsein aus. Zuletzt folgt das Stadium der „Weisheitslehre" als Uberund Fortschritt zum Endzweck der Metaphysik. Die letztere enthält eine „pragmatisch-dogmatische" Disziplin. 47 Metaphysische Vernunft entwirft in dieser dritten Phase auf dem Boden kritischer Dialektik eine „Welt", an der wir uns als Handelnde orientieren und an der wir die Sinngebung unseres Handelns erkennen. Zusammenfassend ist zu sagen: Das handelnde Bewußtsein erfüllt im Horizont einer Zwecksetzung, welche in der Moralgeschichte das Individuum, in der Weltgeschichte die Menschengattung betrifft, das Bedürfnis 46 47

X X , S. 263. X X , S. 273.

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Handlung in der Ausführung

nach Antwort auf die Sinnfrage. Die Antwort hat eine Rechtfertigung des Glaubens an die Fähigkeit der Vernunft zu leisten, über die Wirklichkeit Herrschaft durch Aktivität des handelnden Menschen zu gewinnen. Diese Sinn-frage wurde in zweifacher Richtung, der moral- und der geschichtsphilosophischen, beantwortet. Damit der Handelnde die Hoffnung darauf befestigen kann, durch seine Aktivität dazu beizutragen, die empirischgeschichtliche Wirklichkeit mit Vernunft zu durchdringen, muß er sich in eine Welt versetzen, die er schon als vernunftdurchdrungen voraus-setzt. Diese Konsequenz in der Vorwegnahme des zu Erwartenden ergibt sich für praktisches Denken im Hinblick auf die ihm bevorstehende Aufgabe des Schrittes zur Ausführung des Handlungskonzeptes. Der Standpunkt des praktischen Denkens soll jetzt gewechselt werden: im folgenden soll dieser Schritt von der Perspektive nicht des handelnden Bewußtseins, sondern des philosophischen Beobachters aus begriffen werden.

6. Übergang zum Standpunkt des philosophischen praktische Konstellation

Beobachters:

Zunächst ist der Handelnde im Kontext der praktischen Konstellation zu betrachten. Es ist daran zu erinnern, daß sich auch in der Philosophie des „theoretischen" Handelns ein Begriff von „Konstellation" ergeben hat. Sie wird vom theoretisch-handelnden Subjekt selbst durch freie Übernahme der Gesetzgeberrolle hergestellt. Das Subjekt weist seinen „Gegenständen" einen Platz im zeitlich-räumlichen Erscheinungszusammenhang an und wirft das Netz der Notwendigkeit über sie: das besagt der Lehrbegriff des „transzendentalen Idealismus". In der p r a k t i s c h e n Konstellation nehmen die handelnden Personen selbst Zweckcharakter und praktische Freiheit für sich in Anspruch. Sie weisen den natürlichen, in die Notwendigkeit des zeitlich-räumlichen Zusammenhangs von Seiten des transzendentalen Subjekts verwiesenen Sachen die Rolle des Mittel- bzw. Brauchbarseins an. Von der Brauchbarkeit der Sachen ist ζ. B. in der Rechtsphilosophie die Rede. Hier heißt es im privatrechtlichen Zusammenhang, daß die „subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt" der Besitz sei. Eine vom Standpunkt praktischer Konstellation aus als „Gegenstand" deklarierte Sache meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe. 48 Im Rechtsverhältnis kehrt die in der

Praktische Konstellation

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theoretischen Philosophie betrachtete Beziehung von Subjekt und Objekt wieder. 4 9 Aber auch der Zweckinhalt wird von Kant als „Gegenstand" angesprochen. Er macht den Zweck zum Gegenstand desjenigen praktischen Denkens, welches sich für ein Handlungskonzept entschieden hat. „Nun ist das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Z w e c k , und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten." 5 0 Die praktische Konstellation sieht vor, daß der Handelnde selbst als absoluter Zweck bzw. als Selbstzweck nicht in die Stelle eines „Gegenstandes" der Handlung eingewiesen wird: jeder relative Zweck aber ist zusammen mit den Mitteln seiner Verwirklichung gegenständlichen Charakters. Wenn Kant nicht nur die brauchbare Sache, sondern auch den Zweck als Gegenstand deklariert, so hat er dabei zwei Aspekte ein und desselben praktischen Gesamtgegenstandes im Auge. Habe ich mir ζ. B. zum Zweck gesetzt, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Orte zu sein, und ich gebrauche ein Transportmittel, so kommt eine Handlung zustande, an der dasjenige „Gegenstand" des Willens ist, was „Materie" des Handlungskonzeptes ist und als solche in die „Erscheinung" tritt. Als ungegenständliches Prinzip aber ist bei dem Handlungsvollzug die F o r m gegenwärtig, in die das gegenständliche „Material": sowohl die Mittel wie auch der Zweck gebracht wird und welche diesem seinen moralischen Wert verleiht: dieser kann bei dem Beispiel darin bestehen, daß meine Anwesenheit an dem Ziel-ort im Interesse einer Pflichterfüllung notwendig ist. 48 49

50

V I , S. 245/46 (Rechtslehre § 1). Mit der Übernahme der in der theoretischen Konstellation zur „Erscheinung" deklarierten Sache in die praktische Konstellation geschieht mit dieser Sache eine Verwandlung: sie kommt jetzt nicht nur als in Raum und Zeit zurechtgelegter theoretischer, sondern als praktischer Gegenstand in Betracht. Als solchem wird ihm vom praktischen freien Subjekt die Funktion der Brauchbarkeit zugewiesen und damit auch die des möglichen Eigentumseins. In dieser Konstellation kommt der aus dem theoretischen Verhältnis übernommene erscheinende Gegenstand aber nicht als Erscheinung, sondern als das vom Rechtsgesetz bestimmte Brauchbare für mich in Betracht. Auch sogar im Rechtsverhältnis des e m p i r i s c h e n Besitzes, der „Inhabung", der ein Besitz bloß in der „Erscheinung" (possesso phaenomenon) ist, muß der „Gegenstand", den ich besitze „hier nicht so, wie es in der transzendentalen Analytik geschieht, selbst als Erscheinung, sondern als Sache an sich selbst" betrachtet werden. Denn „ . . . dort war es der Vernunft um das theoretische Erkenntnis der Natur der Dinge und, wieweit sie reichen könne, hier aber ist es ihr um praktische Bestimmung der Willkür nach Gesetzen der F r e i h e i t zu tun, der Gegenstand mag nun durch Sinne, oder auch bloß den reinen Verstand erkennbar sein, und das R e c h t ist ein solcher reiner praktischer V e r n u n f t b e g r i f f der Willkür unter Freiheitsgesetzen." (VI, S. 249). IV, S. 427.

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Handlung in der Ausführung

Der moralische Wert des „Gegenstandes" hängt von dem „Verhältnis" des Subjekts zur Sache ab: je nachdem ob der „Bestimmungsgrund" der Willkür in der Vorstellung eines „Objekts" oder in der eines praktischen Gesetzes liegt, liegt ein „empirisches Verhältnis des Subjekts zur Sache" oder ein „intelligibles" vor. 5 1 Praktische Konstellation fordert, daß der „Gegenstand" bzw. das „Objekt" des Willens im Sinne der Materie des Willens nicht ausgeklammert, sondern in die gesetzliche Form als ihrem Prinzip, welches zugleich der herrschende Bestimmungsgrund über das Handeln sein soll, gebracht werde. „Wenn die Begierde nach diesem Gegenstande nun vor der praktischen Regel v o r h e r g e h t (gesp. v. Verf.) und die Bedingung ist, sie sich zum Prinzip zu machen," dann ist das Prinzip „jederzeit empirisch." 5 2 Ein „Verhältnis", welches nicht als praktisch, sondern als pathologisch zu bezeichnen wäre, besteht in der „Lust an der Wirklichkeit des Gegenstandes". 53 Das gegenständliche „Material" des Willens ist zugleich das Telos, dessen Verwirklichung angestrebt wird. Wenn mir ζ. B. die Pflicht gebietet, meine Talente zum allgemeinen Nutzen auszubilden, so ist dieser Pflichtinhalt zugleich Zweck für mein Tun, sofern ich mich willentlich dafür entschieden habe. Dem Subjekt ist dann eine moralische Verfassung eigentümlich, wenn es das richtige Verhältnis zum „Gegenstand", der Materie seines Wollens einerseits und der Pflicht andererseits, die als solche Bestimmungsgrund zu sein beansprucht, gewonnen hat. Es kommt dabei auf die richtige Ordnung des „Vorhergehens" und „Nachfolgens" in der Logik der Willensbestimmung zwischen Form und materiellem Gegenstand an. Die Materie soll „Gegenstand" eines Willens sein, welcher sich „vorher" auf den Stand der Gesetzlichkeit als solcher gestellt hat. Anders gesagt: es kommt auf das „Prinzip" an, unter welchem die gegenständlichen Materien angestrebt werden. 54 S1V, 53

54

S. 21. " V , S. 21. Mit dem Unterschied zwischen einem reinen, intelligiblen Verhältnis des Subjekts zu seinem Gegenstande, der als „Materie" des Sollens und Wollens zu verstehen ist, und einem empirischen Verhältnis, in welchem das Subjekt eine Lust am Gegenstande hat, ist derjenige zu vergleichen, der sich in der Rechtsphilosophie zwischen dem „intelligiblen" und dem „empirischen" Besitzverhältnis ergibt. Die Gemeinsamkeit zwischen dem Begriff des empirischen Besitzes und demjenigen des empirischen „Verhältnisses" in der Moral dürfte darin gesehen werden, daß in beiden Fällen eine in der Sprache von Naturkategorien zu beschreibende Verbindung zwischen Subjekt und Objekt vorliegt. Die Gleichsetzung von „Materie" und „Gegenstand" ist ζ. B. greifbar in dem Satze: „Nun ist freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse . . ." (V, S. 34).

Praktische Konstellation

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Praktische Konstellation, in der sich das Subjekt dem „Gegenstand" gegenüber so ver-hält, daß es ihm die Bedeutung der Brauchbarkeit oder auch des Handlungszieles gibt, wird durch die Tat als praktisch-wirkliches Verhältnis hergestellt. Auf Grund dieses verwirklichten, a priori konzipierten Verhältnisses gewinnt auch der praktische „Gegenstand" Wirklichkeit, sofern ihm als der in der Erfahrung begegnenden Sache in praktischtranszendentaler Handlung der Charakter der Brauchbarkeit oder des Zielseins übertragen wird. In dieser Perspektive wird er als Gegenstand des Handelns e r k e n n b a r und möglicher Gegenstand des Wollens. „Ein Gegenstand der praktischen Erkenntnis als einer solchen zu sein, bedeutet also nur die Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er oder sein Gegenteil wirklich gemacht würde, und die Beurteilung, ob etwas ein Gegenstand der r e i n e n praktischen Vernunft sei oder nicht, ist nur die Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diejenige Handlung zu w o l l e n , wodurch wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urteilen muß), ein gewisses Objekt wirklich werden würde." 5 5 Gegenstand ist, von hieraus gesehen, der vom Willen als einem Denkverhalten der praktischen Vernunft legitimierbare Zweck. „Unter dem Begriffe eines Gegenstandes der praktischen Vernunft verstehe ich die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit." Maßgebend ist hier das P r i n z i p und somit die Perspektive des praktischen, handelnden Bewußtseins: sie wird dadurch in Geltung gesetzt, daß das Gesetz allein „Bestimmungsgrund" des handelnden und zugleich praktisch erkennbaren Bewußtseins ist, von dessen Stand aus der „Gegenstand" als solcher moralische Bedeutung gewinnt, seine Stelle in der verwirklichten praktischen Konstellation behauptet und als Zweck des Willens gerechtfertigt wird. Eine Art von praktischer Bedeutung des Wortes „Erkenntnis" findet sich auch in der Rechtssprache, in der von „dem" Erkenntnis des Richters gesprochen wird: man versteht darunter das Ergebnis seiner Beratung, welches zugleich seine Entscheidung im Rechtsstreit darstellt. Dieses Erkenntnis unterscheidet sich im Prinzip von der „theoretischen" Erkenntnis darin, daß es von der Vernunft des Willens getragen wird. Das ihr eigentümliche Moment der Ent-scheidung zielt auf die Handlung ab, während sich die theoretische „Entscheidung" im Behauptungscharakter eines Urteils der theoretischen Sprache ausdrückt. In der Moralphilosophie ist, analog wie in der Rechtsphilosophie, zu sagen: Praktische 55

V , S. 57.

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Handlung in der Ausführung

Erkenntnis beinhaltet die Einsicht in das, was ich tun soll und wozu ich mich entscheiden kann. Praktische Konstellation, so wurde gesagt, wird vom Subjekt in einer Denk-handlung hergestellt, in welcher ich mir die Rolle des praktischen, von der Vernunft bestimmten Seins gebe, in der ich auch die Sprachregelung über Gut und Böse festsetze und Zwecken und Mitteln den ihnen gebührenden moralischen Wert erteile. Auf der Basis dieser Kategorien ist Denken und Sprechen über die Gegenstände des Handelns möglich. Dieser Konstellation eignet der Charakter der Freiheit, sofern sie von dem sich selbst bestimmenden praktischen Subjekt hergestellt wird. Auf ihrem Fundament spricht der Handelnde seine Gegenstände mit Hilfe von „Kategorien" an, die Kant als „Kategorien der Freiheit" deklariert. Es handelt sich dabei um die aus der Vernunftkritik her bekannten Formen und Arten der Urteils-funktion. In dem Augenblick aber, in welchem diese prädikativen Formen, die dem Urteil Einheit verschaffen, in den Kontext der praktischen Vernunft aufgenommen werden, vollzieht sich nicht nur bedeutungsmäßig, sondern auch im Hinblick auf ihre Rangordnung ein Wandel. Zunächst ist zwar nicht aus den expliziten Aussagen Kants, aber aus seinem Gedankengang selbst zu entnehmen, daß der Bedarf des Denkens an „Kategorien" im Rahmen der praktischen Konstellation einen andern Charakter aufweist, als es im Bereich der theoretischen Vernunft der Fall ist. Auf dem Felde der Praxis übernimmt auch die Zweck-Mittel-Relation die Rolle einer Kategorie. So wird dem „Gegenstand" des praktischen Denkens und Willens die Stelle des von mir Brauchbaren angewiesen: es wird als zweck-dienliches Mittel prädiziert. Im Unterschied zur Lage in der „Theorie" werden Mittel und Zweck als Grundbegriffe in praktischer Absicht gebraucht, mit deren Hilfe der Handelnde die grund-legende Konstellation zu seinen Gegenständen herstellt. Durch den Gebrauch dieser „Kategorien" wird zugleich auch die W i r k l i c h k e i t einer Situation des Handelns hergestellt, in welcher die Entscheidung für Zwecke gefallen ist und Mittel für deren Realisierung bereitgestellt werden. Auf der Basis dieser wirklichen Situation des Handelns sind die Sachen, mit denen der Handelnde zu tun hat, kategorial faßbar. Was die Kausalität anlangt, so wird ihr von Kant im Kontext des praktischen Denkens und Handelns schon insofern eine Vorrangstellung vor den andern Kategorien eingeräumt, als Handeln zunächst im Sinn kausalen Veränderns der „Wirklichkeit" verstanden wird. Allgemeiner gesagt spielt die „Relation" eine grundlegende Rolle: denn die praktische Konstellation, welche das Fundament für den Gebrauch der Kategorien

Praktische Konstellation

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überhaupt darstellt, beschreibt Kant als „Relation" zwischen dem moralischen Stand der Person und dem Gegenstand ihres Handelns. Was soll über den spezifischen Charakter der Kategorien im praktischen Zusammenhang ausgesagt werden, wenn sie als „Kategorien der Freiheit" angesprochen werden? Ein Blick auf die Kausalität kann eine Andeutung auf die Antwort ergeben, die dieser Frage gebührt. Hierbei zeigt sich, daß der Gebrauch der Kausalität in diesem Zusammenhang nicht in der Weise geschieht, wie es in der „Theorie" der Fall ist: hier zeigt Kausalität ihren Charakter als Kategorie der N o t w e n d i g k e i t insofern, als sie es möglich macht, erscheinende Inhalte in einen notwendigen Beziehungszusammenhang zu bringen. Im Horizont der praktischen Vernunft aber wird Handeln nicht von „außen" her als bloß e r s c h e i n e n der Prozeß beschrieben und durch kausale Vernotwendigung berechenbar gemacht. Vielmehr ist es hier so, daß der Handelnde seine eigene S t e l l u n g in der praktischen Konstellation dadurch bestimmt und zugleich r e a l i s i e r t , daß er sich selbst die Rolle der Ur-sache bzw. des Ur-hebers überträgt, während er den Erfolg seines Handelns als „Wirkung" prädiziert. Damit ist ausgesprochen, daß der Einsatz der Kausalkategorie im Bewußtsein des Handelnden zur Geschichte der Handlung selbst dazugehört. Denn mit Hilfe der „praktischen" Kausalität spricht der Handelnde nicht nur „über" seine Handlung etwa in physikalisch-beschreibender Absicht, sondern er g i b t dieser in der realen praktischen Konstellation dadurch kausalen Charakter, daß er den Bestimmungs-„grund" zugleich zur Ur-sache macht: handelt er vom Standpunkt einer moralischen Verfassung aus, so läßt er sich zum Handeln unmittelbar vom Gesetz bestimmen, welches er dadurch zugleich auch „praktisch" werden läßt. Das heißt: er verleiht durch sein Handeln schon im „Anfang", bei der Herstellung der praktischen Konstellation, dem Gesetz als dem im praktischen Denken vorgestellten G r u n d des Handelns zugleich auch den Charakter der Ursächlichkeit. Nicht erst der Ubergang zur Ausführung der Handlung, sondern schon der anfängliche „Gebrauch" der Kausalperspektive im „Denken" läßt eine handelnde Verwirklichung der Kausalität geschehen. Kausalität erweist sich als Kategorie der Freiheit insofern, als ihr praktischer Gebrauch die freie Stellung des Handelnden verwirklicht. Das gilt in entsprechender Weise Gebrauch der Kategorie in praktischer lung, sondern gehört zum Beginn der die praktische Kategorie begreift und

auch für andere Kategorien: der Absicht bleibt nicht nur VorstelGeschichte der Handlung. Durch verwirklicht der Handelnde seine

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Handlung in der Ausführung

Stellung als Handelnder gegenüber den Gegenständen und den anderen Personen. Er erweist sich als Sub-jekt, das zugleich praktischen Substanzcharakter in der Handlung übernimmt, sofern er sich als handelndwirkende Kraft bewährt, welche den Handlungsvollzug in Gang setzt. Wenn man auch im Zusammenhang der praktischen Vernunft darauf ausgeht, nach der aus der Theorie her bekannten einigenden Funktion der Kategorie zu suchen, so kann man sagen: indem sich der Handelnde als freie Substanz in der praktischen Konstellation prädiziert und sich dadurch die Wirklichkeit einer Ursache für Handeln gibt, läßt er die dabei einfließende Kategorie der Substanz zugleich auch als ein einigendes Prinzip wirken, durch welches die Vielheit der Augenblicke und Momente, aus denen die Geschichte der Handlung besteht, zur Einheit eines einzigen Vollzuges jeweils „meiner" Handlung zusammengefaßt wird. Kausalität wird durch Handeln zum realen Begriff. Die Funktion dieser denkenden und zugleich verwirklichenden Einigung beim Gebrauch der praktischen Kategorien läßt sich auch bei der „Quantität" zeigen: bei der Wahl einer Maxime ist eine Vielheit von Interessen im Spiele, die ausgeglichen und unter den Maßstab des moralischen Gesetzes gebracht werden müssen. Die Entscheidung, die der moralisch Handelnde trifft, wird insofern einer unter der Kategorie Quantität stehenden Einigung dieser Vielheit gerecht, sofern er sie alle in eine einheitliche Entscheidung einbezieht. Der Gebrauch der Substanzkategorie im Vollzug des Handelns und seines Denkens bedeutet eine Ergänzung zur Kausalität: indem sich das handelnde Subjekt als „Substanz" deklariert und verhält, gibt es sich die Rolle des G r u n d e s und zugleich der Ursache für den kausalen Prozeß, der die Handlung darstellt. Der Handelnde wendet Substanz, wenn er sie im Sinne der „Kategorie der Freiheit" gebraucht, nicht in dem Sinne auf sich selbst an, daß er sich als Erscheinung, die im Wechsel beharrt, beschreibt: vielmehr gebraucht er diese Kategorie dazu, um sich selbst als Grund und zugleich wirkliche Ursache zu deklarieren und zu verwirklichen. Er stellt sich in der Perspektive dieser Kategorie als Grund-stand dar, der sich der Perspektive der Freiheit bedient, um die Sachen als brauchbare Mittel zu behandeln und anzusprechen. Er übernimmt handelnd die Rolle einer absoluten Sub-stanz, in der er den Sachen einen relativen Substanzcharakter zuerkennen kann. Er beschreibt diese als Wesen, die im Handlungsprozeß Eigenschaften als Mittel bei der Verwirklichung von Zwecken zeigen. Die Kategorie der „Wechselwirkung" zeigt ihre praktische Bedeutung darin, daß sie die Konstellation in der Richtung des Bezuges auf die

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andern Personen ausweitet. Dieser Art von Relation liegt ein gemeinsames Standnehmen der in die Handlung einbezogenen Personen auf dem Boden des allgemeinen Gesetzes der Freiheit zugrunde. Repräsentativ hierfür ist die rechtsphilosophische Deutung des Vertrags: jeder der sich am Vertrag beteiligenden Partner behauptet im Vertragsverhältnis seine Personalität, sofern es hier um die Regelung des Verhältnisses zwischen Leistungspflichten und korrespondierenden Rechten vom Standpunkt eines „geeinten Willens" aus geht. 56 Den Kategorien der Freiheit räumt Kant den Vorzug ein, daß die „Gegebenheit", auf die sie sich beziehen müssen, um objektive Realität zu gewinnen, nicht in der sinnlichen Anschauung zu erwarten ist, wie es beim theoretischen Gebrauch der Kategorien der Fall ist. Das Gegebene, welches den praktischen Kategorien zugrunde liegt, findet sich im D e n k e n ; es besteht in der „Form eines reinen Willens", der als „etwas" begriffen wird, was in der Vernunft selbst „gegeben" wird. 57 Das heißt: eine moralische Verfassung, ein praktisches Sein muß als Faktum, als Ergebnis einer inneren Handlung schon vorhanden sein, damit Kategorien wie die der Substantialität, der Kausalität usw. Bedeutung bekommen: etwa in der Weise, daß sich das in moralischer Verfassung befindende Subjekt als f r e i e Ur-sache von Einwirkungen auf die äußere Welt verstehen kann. Da das Kriterium von Gut und Böse und das Prinzip Freiheit an die innere Bestimmung des Willens, nicht aber an das, was sich in der Ausführung ergibt, gebunden ist, werden die „praktischen Begriffe a priori in Beziehung auf das oberste Prinzip der Freiheit" ohne Bezug auf sinnliche Anschauung „Erkenntnisse", wie etwa in dem Falle, daß ich mich als freie Ursache einer Handlung erkenne und als solche anspreche. Diese Aussage ist auf das Faktum meiner moralischen Verfassung und der praktischen Konstellation begründet und bedarf, um objektiven Gehalt zu gewinnen, keinen Bezug auf sinnliche Anschauung „. . . und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie (die praktischen Ideen, der Verf.) die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist." 58 Darin ist ausgesprochen, daß derjenige Denkschritt, in welchem wir 56

V, S. 66. Auf eine interessante Analogie zum Mechanik-Abschnitt der „Metaphysischen Anfangsgründe . . ." sei hier hingewiesen, wo die Mitteilbarkeit von Bewegung zwischen Körpern auf deren Wechselwirkung begründet wird, die deren gemeinsame Zugehörigkeit zum Raum bewegender Kräfte impliziert: IV, S. 544/45. 57 V, S. 66. 58 V, S. 66.

300

Handlung in der Ausführung

Stand auf dem Boden der gesetzlich verfaßten Welt nehmen, nicht nur Ereignis im Bereich der praktischen V o r s t e l l u n g e n darstellt, sondern zugleich in uns die W i r k l i c h k e i t eines praktischen Seins herstellt, auf Grund deren wir auch die praktische Konstellation des Handelns verwirklichen. Kategorien der Freiheit stellen, wenn der Handelnde selbst von ihnen mit dem Blick auf seine eigene Stellung in der Konstellation des Handelns Gebrauch macht, ein bedeutungsgeladenes Wirkungsfeld her. Denke ich mich in diesem Feld als Ursache, so mache ich mich dazu. Auf diese Weise wird denkend die Wirklichkeit einer Situation hergestellt, die sich in der wirklichen Geschichte der Aus-führung des Handlungskonzeptes fortzusetzen hat. Die begriffliche Konstruktion dieser Fortsetzung ist Thema einer Aufgabe, die jetzt in Angriff zu nehmen ist. Zunächst ist die Frage zu stellen, wie die Ausführung der Handlung zu begreifen ist, wenn sich der Handelnde selbst in seiner Perspektive als freie Ursache versteht und diese dementsprechend auch vom philosophischen Beobachter im Sinne einer „Kausalität durch Freiheit" begriffen wird.

7. Kausalität durch Freiheit und Begriff des produktiven

Handelns

In dem Zusammenhang, in welchem die Rede von der praktischen Orientierung, dem denkenden Standnehmen auf dem Boden der gesetzlich verfaßten Welt und von der Einheit von Denken und Verwirklichung war, dominierte die „innere" Perspektive: die Kategorien wurden als Grundbegriffe verstanden und behandelt, von denen das handelnde Bewußtsein selbst Gebrauch macht, um sich in der praktischen Konstellation in ein Verhältnis zu den Mitpersonen und den Sachen zu setzen. Auch die Kausalität durch Freiheit wird zunächst unter dem Aspekt betrachtet, daß sich mit ihrer Hilfe der Handelnde selbst als Ursache und Urheber für Wirkungen versteht, die er in der „Außenwelt" hervorruft. Sofern sich der Handelnde als freie Ursache versteht, macht er sich zu einem wirklichen, leibhaftigen Repräsentanten der praktischen Vernunft. Daher kann der oft beklagte Dualismus, der sich bei Kant durch seine konsequente Unterscheidung zwischen dem intelligiblen und dem empirischen Charakter im Menschen zu ergeben scheint, durch den praktischen Begriff der in der Kausalität durch Freiheit geprägten Situation des Handelnden überwunden werden. Hier zeigt sich Identität von Denken und Sein: sofern sich der Handelnde an der Vernunftwelt orientiert und auf

Kausalität durch Freiheit und Begriff des produktiven Handelns

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ihrem Boden Stand nimmt, stellt er eine auch physisch wirkliche „bewegende" Kraft dar, die so zu beschreiben ist, daß sie die als Wirklichkeit bzw. als wirkend auftretende Gestalt ist, in der die Vernunft in die praktische Wirklichkeit eingetreten ist, noch bevor es zu Wirkungen in der „Außenwelt" kommt. Die Macht des praktischen Denkens, sich im Denkvollzuge selbst schon eine W i r k l i c h k e i t zu verschaffen, wurde bei der Bildung der Achtung und des praktischen Seins thematisch. 59 Jetzt wird diese Selbstverwirklichung der praktischen Vernunft in die Dimension der Ausführung der Handlung hineinverfolgt. Dabei ist zu bedenken, daß sich der Handelnde selbst schon durch praktisches Denken zu einem wirklichen Repräsentanten der Vernunft gemacht hat und als dieser in die Wirklichkeit eingreift. Daß derjenige, der sich „unter die Idee der Freiheit" gestellt hat, zugleich ein wirklicher Repräsentant der Freiheit ist und als solcher die Freiheit auch bei seinem Handeln in der äußeren Welt „praktisch" macht, bringt Kant in folgenden Sätzen zur Sprache: „Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als u n t e r der Idee d e r F r e i h e i t handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde." 6 0 Die Aussage, daß ein Wesen „unter der Idee der Freiheit handelt", interpretiert Kant zunächst von der „inneren" Perspektive des praktischen Subjekts her. Er gibt dieser Wendung die Bedeutung, daß sich das Wesen selbst einen S t a n d auf dem Boden einer durch Gesetze der Freiheit, d. i. autonom bestimmten Welt nimmt und sich auf diese Weise die Wirklichkeit eines Handlungscharakters gibt. Dieser tritt in die Konstellation des Handelns als Repräsentant der Freiheit ein und verleiht ihr reale Wirkung in der Erscheinungswelt. Will die Person dem Konzept der reinen Handlung gerecht werden, so muß sie sich selbst ,,. . . als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden." 6 1 S9

Vgl. S. 2 1 1 f. S. 4 4 8 .

60IV,

61IV,

S. 4 4 8 .

302

Handlung in der Ausführung

Der Umschlag von praktischer Vorstellung in Wirklichkeit vollzieht sich in der „inneren" Perspektive des Handelnden selbst und wird in dieser auch primär auf den Begriff gebracht. Dadurch wird eine Wirklichkeit hergestellt, die auch in die Perspektive des „Betrachters" gerückt werden muß: dieser wird sich die Frage vorzulegen haben, wie er den besonderen Charakter der Erscheinungen zu behandeln habe, die durch freie Kausalität hervorgebracht werden. Kausalität durch Freiheit ist schon im Bereich der Vernunftkritik als Thema begegnet. Hier geht es darum, die Antinomie zwischen den Standpunkten der Freiheit und der Notwendigkeit zu überwinden und die Idee einer freien Kausalität als m ö g l i c h e n Gedanken zu erweisen. Daß es ein „Sich-Stellen unter die Idee der Freiheit" gibt, ist ein Gedanke, der nicht in den Horizont der theoretischen Philosophie fällt. Daher kann theoretische Vernunft auch nicht begreifen, daß Freiheit W i r k l i c h k e i t werden kann. N u r in praktischer Perspektive wird die spezifische Handlung der Vernunft begreifbar, welche als Standnehmen auf dem Boden der vernünftigen Welt und zugleich als Verwirklichung der Freiheit in dem Sinne anzusprechen ist, daß das standnehmende Subjekt in eigener Person diese Welt repräsentiert. In der theoretischen Philosophie wird Kausalität durch Freiheit als mögliche Idee diskutiert, an der die Vernunft ein Interesse hat. Hier ergibt die dialektische Überlegung, daß Freiheit in die Perspektive unbedingten Denkens gerückt werden muß, wenn sie als möglich erwiesen werden soll. Das bedeutet, daß sie aus dem Bereich der erkennbaren Gegenstände, also der erscheinenden Naturobjekte herauszunehmen ist. Es geht nicht an, ihr die Stelle eines „Gegenstandes" des Erkennens anzuweisen: vielmehr muß sie zu den P r i n z i p i e n gerechnet werden. In t h e o r e t i s c h e r Hinsicht macht philosophisches Denken Anspruch auf zwei verschiedene und voneinander getrennte Welten, die der Verstand auf dem Boden der Theorie nicht zu vereinigen vermag. Von den Voraussetzungen theoretischer Philosophie aus muß die freie Ursache als ein rein Intelligibles, Un-bedingtes begriffen werden, dessen Einwirkung in die empirische Kette der Erscheinungen nicht begreifbar ist. Wenn man der freien Kausalität „Unbedingtheit" zubilligt, so bringt man dadurch zum Ausdruck, daß sie nicht selbst wieder verursacht ist, sondern als absolut erstes Glied in der Kette der Ursachen und Wirkungen zu begreifen ist. Es geht in der transzendentalen Dialektik im Bereich der Vernunftkritik darum, die M ö g l i c h k e i t dieses Begriffes der „transzendentalen Freiheit" zu erweisen: der Schritt zur „praktischen" Freiheit, der zur Einsicht in deren

Kausalität durch Freiheit und Begriff des produktiven Handelns

303

V e r w i r k l i c h u n g führt, kann von der Theorie nicht vollzogen werden: er ist der praktischen Vernunft vorbehalten. Der praktische Aspekt hat sichtbar werden lassen, daß sich der Handelnde in „innerer" Perspektive selbst „unter die Idee der Freiheit" stellt und in dieser Handlung seines praktischen Denkens dadurch in der Gestalt seiner eigenen persönlichen Existenz die W i r k l i c h k e i t einer praktischen Konstellation der Freiheit herstellt. Hier b e d a r f es keines Beweises der Wirklichkeit der Freiheit, weil diese sogar durch ein unter diesem Prinzip stehendes Denken hergestellt wird. So kommt es, daß auf dem Boden der praktischen Vernunft Identität von Freiheit und Erscheinung des Handlungsvollzugs hergestellt wird, die auch dem „äußeren" Beobachter als Erscheinung der Freiheit erkennbar wird. Von der Perspektive des Beobachters aus gesehen wird die Handlung als eine „Geschichte", nicht wie eine naturwissenschaftliche Folge von Ereignissen zu behandeln sein: vielmehr wird sie als kontinuierlicher Vollzug aufgefaßt werden müssen, in dessen ganzer Erstreckung sich der Handelnde vergegenwärtigt. Der in der Naturerkenntnis maßgebenden Kausalität gemäß ist von einer bedingten, endlichen und in die Erscheinungswelt gehörigen Ursache die Rede, welche Wirkungen von demselben Charakter der Bedingtheit und Endlichkeit hervorbringt. Dieser Ursache wird die Stelle eines relativ ersten Gliedes in einer kausalen Kette angewiesen, auf welches die nächsten Glieder folgen. Anders verhält es sich im Bereich der Kausalität durch Freiheit. Hier übernimmt das handelnde Subjekt die Rolle der freien Ursache, als die es das Konzept der Welt repräsentiert, auf deren Boden es Stand nimmt. So bleibt es der g a n z e n Geschichte seiner Handlung gegenwärtig. Es faßt den Kausalprozeß, den es auslöst, zu einem einzigen kontinuierlichen Verlauf zusammen, den es „seine" Handlung nennt. An dieser Stelle zeigt sich, daß es von Nachteil ist, wenn der praktische Begriff des Handelns in der Weise an der Kausalität durch Freiheit orientiert wird, daß man dabei nur an ein Handeln durch kausales Bewirken denkt, das sich von der Naturkausalität nur durch den Einschlag an Freiheit unterscheiden soll. Denn der jetzt in den Blick getretene Begriff von Handlung läßt das bloße Verhältnis des Verursachens und Bewirkens zurücktreten und stellt das Prinzip Freiheit in den Mittelpunkt. Jetzt wird die wahre Bedeutung der Wendung: „Kausalität durch Freiheit" insofern einsichtig, als zu begreifen ist, daß es sich hierbei nicht um eine Kausalität mit freiem Einschlag handelt, sondern um Freiheit, die auch einen kausalen Zug annimmt. Wird Handeln als Kausalität durch Freiheit interpretiert, so wird damit gesagt, daß es eine Kausalität verkörpert, die

Handlung in der Ausführung

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auf den Boden der Freiheit verpflanzt wurde. Dem entspricht aber, daß die Handlung als das „Hervor-gebrachte" einen im ganzen, von Anfang bis zum Ende zu überblickenden Vollzug darstellt, in welchem sich die Freiheit des Handelns vergegenwärtigt. Handeln ist, von hieraus gesehen, ein in Erscheinungtreten des freien Charakters des Handelnden. Der Handelnde produziert sich selbst in seiner Handlung und erweist sich damit als „Ur-sache" bzw. „Ur-heber", der in Identität mit demjenigen zu sehen ist, was er hervorgebracht hat. Die Handlung als je „meine" Handlung drückt damit die einmalige, unersetzbare individuelle Physiognomie jeweils meiner Tat aus. Sie gewinnt von daher den Zug der Absolutheit und mag daher als Handlung im pro-duktiven Sinne angesprochen werden.

8. „Meine" Handlung als Geschichte, die Gegenwart des Handelns und die Verantwortung Sofern ich handelnd eine Folge von Ereignissen bewirke und damit eine „Geschichte" in Gang setze, verantworte ich diese Geschichte und spreche sie als „meine" Handlung an. Ich verstehe mich als „Kausalität durch Freiheit" im Hinblick auf diese Geschichte heißt: ich lege sie als von „mir" bewirkt aus, weil ich sie autonom, vom Boden der Freiheit, d. i. der Unabhängigkeit von „bestimmenden" Gründen der Natur aus geplant und ausgeführt habe. N u n „rechne" ich mir eine Reihe von Folgen, die sich auf mein Eingreifen in die Wirklichkeit hin ergeben, nicht bis zu einem beliebig weit fortgeschrittenen Zeitpunkt zu: denn vom ersten Augenblick der Ausführung meiner Handlung an intervenieren auch die „fremden" Mächte, die als unberechenbar, vernunftlos einzuschätzen sind und die „keines Menschen Kunst vertraulich macht". 62 So werde ich als Geschichte „meines" Handelns die Vollzüge bis zu dem Augenblick anerkennen, bis zu dem die von mir intendierte Richtung des Verlaufes nicht allzu weit abgelenkt worden ist. In der Frage „meiner" Handlung kann es freilich geschehen, daß mir der Betrachter mit seiner „äußeren" Perspektive einen vielleicht engeren oder auch weiteren Spielraum des Geschehens zurechnet und mich dafür verantwortlich macht. Ich selbst werde als „meine" Handlung diejenige Phase im Gesamtgeschehen ansprechen und anerken62

Schiller, Wallensteins Tod.

Meine" Handlung

305

nen, die ich selbst in Freiheit und Selbständigkeit verantworte und in der ich mich als vergegenwärtigt betrachte. In diesem Falle spreche ich meine Handlung als diejenige Geschichte an, die sich bis zu dem Punkte hin ereignet hat, von dem ab Einwirkungen erkennbar werden, die ich nicht als die von mir bewirkten, von meiner Freiheit verantworteten ansehen kann. Die Geschichte meiner Handlung stellt demgemäß das Ganze eines Verlaufes dar, den ich von Anfang bis zu einem gewissen „Ende" als kontinuierliche Geschichte durch meine freie Kausalität zusammenhalte. Wenn gesagt wurde, daß ich in jedem Augenblick dieser Geschichte gegenwärtig bin, so stimmt das mit dem Charakter der Einfachheit und Kontinuität der Geschichte dieser meiner Handlung überein, die nicht aus Ursache-Wirkungsbeziehungen zusammengesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang begegnet wieder die praktische A p p e r z e p t i o n . Sie zeigt sich in dem gegenwärtigen Zusammenhang, in welchem es um die „Ausführung" der Handlung geht, in einem neuen Lichte. Während ein früherer Blick auf die praktische Apperzeption ergeben hat, daß „Ich will" die Vielheit der bei einem Handlungskonzept hereinspielenden Vorstellungen zur einigen Ganzheit eines Planes vereinigt, zu dem ich mich entschieden habe, kommt es jetzt darauf an, die einigende Kraft der praktischen Apperzeption im Hinblick auf die Kontinuierung der Geschichte jeweils meiner Handlung zu einem Ganzen zu begreifen: dabei werden nicht nur Vorstellungen, sondern Teilmomente eines wirklichen Geschehens zur Ganzheit je meiner Handlungsgeschichte vereinigt. So könnte man in Analogie zu entsprechenden Verhältnissen bei der transzendentalen Apperzeption des „Ich denke" sagen: im praktischen Felde gilt, daß „Ich will" jeden Augenblick der Geschichte jeweils meiner Handlung muß durchdringen können. Dem entspricht die bisher gebrauchte Wendung von der „Vergegenwärtigung" bzw. „Gegenwart" des handelnden „Ich will" in jedem Augenblick der Ausführung. Unter diesem Aspekt sind Aussagen von Kant selbst zu betrachten. Zunächst erweist sich der Begriff des „intelligiblen Charakters" als bedeutsam. Er stellt die Verfassung der freien Kausalität dar und ist ein praktisches Sein, das sich durch das selbstgegebene Gesetz bestimmen läßt. Die ausgeführte Handlung stellt ein „äußeres" Bild dar, welches eine „Anzeige" auf den intelligiblen Charakter abgibt (B 577) und dessen innere Gestalt in der Weise einer erscheinenden Handlungsfigur sichtbar macht. Der intelligible Charakter faßt die ganze Kette der Augenblicke der Handlung zu einer einzigen Handlungsgeschichte zusammen. Er kann als

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Handlung in der Ausführung

„Seele" dieser Geschichte angesprochen werden. Das praktische Subjekt ist als freie Kausalität nicht einzelnes Glied in der Kette kausalbestimmter Handlungsgeschichte, welches selbst dem Erscheinungsbereich angehört und n u r Ursache, aber nicht zugleich auch Grund wäre. Vernunft ist in allen Handlungen des Menschen „in allen Zeitumständen g e g e n w ä r t i g und e i n e r l e i " , selbst aber ist sie nicht „in der Zeit . . . sie ist B e s t i m m e n , aber nicht b e s t i m m b a r " in dem Sinne wie etwa eine in die Zeit fallende Erscheinung es wäre. Vernunft hat „einfließende Gewalt" auf die Handlung. 63 Diese gewinnt Vernunft nur durch den Entschluß des Willens des handelnden Subjekts, deren Sache zu übernehmen, sich an der vernünftigen Welt zu orientieren, sie zu repräsentieren und ihr dadurch Herrschaft über die Wirklichkeit der Handlung zu geben. Praktisches Sein zeigt eine Verfassung der Freiheit, welche auch den äußeren durch Handlung in Gang gesetzten Verlauf der Ausführung durchdringt. Die in die Erscheinungswelt sich erstreckende Geschichte der Handlung setzen wir nicht nur begreifend, sondern verwirklichend in die Perspektive eines „Standes", den wir auf dem Boden einer durch Freiheitsgesetze bestimmten Welt wählen. Durch dieses Standnehmen bilden wir den intelligiblen Charakter aus, welcher auch den in die Erscheinung tretenden Handlungsverlauf als „Äußerung" der Freiheit erkennbar macht. „In den freien Handlungen fließt die Vernunft nicht bloß als ein begreifendes, sondern wirkendes und treibendes prinzipium ein." 64 Dem Blick der theoretischen Vernunft ist diese Identität von Freiheit und Erscheinung, intelligiblem und empirischem Charakter nicht erkennbar: für ihn sind die Perspektiven reinlich getrennt. Theoretisches Denken ist nicht in der Lage, eine freie Handlung als gleichwohl „bestimmt" durch einen intelligiblen „Bestimmungs-grund" einzusehen. Für die Maßstäbe der theoretischen Vernunft ist die freie Handlung immer nur „zufällig". Wie Vernunft nicht,,. . . bloß vernünftle und urteile, sondern die Stelle einer Naturursache vertrete," sehen wir auf theoretische Weise nicht ein, „. . . viel weniger, wie sie durch Antriebe selbst zum Handeln oder Unterlassen bestimmt werde." 65 Richtet sich der Handelnde durch Standnehmen auf dem Boden einer „vernünftigen" Welt an deren Normen aus, so bildet er in sich einen beständigen und im Wechsel der Erscheinungen beharrenden Charakter aus. Der nach Grundsätzen der Vernunft Handelnde bewährt 63 64 65

XVIII, S. 253 (Refl. 5612). XVIII, S. 253 (Refl. 5612). ibidem.

Meine" Handlung

307

sich als fester und zuverlässiger Charakter, der nichts von dem Wankelmut dessen an sich hat, der sich vom Gefühl bestimmen läßt. Im Gegensatz zu ihm wird der am Vernunftgesetz Orientierte „nicht affiziert, dagegen aber kann die Vernunft ihrerseits die Sinnlichkeit affizieren." 66 Ein Resümee des Gedankenganges in diesen Abschnitt ergibt: die äußerlich erscheinende Geschichte der Handlung ist als Ganzes „Ausdruck" des Handlungscharakters, der dem praktischen Subjekt eignet. Handlung ist zugleich „Äußerung" des handelnden Willens. Die Willensentscheidung und der ihr eigentümliche „intelligible Charakter" begleiten und durchdringen die in Erscheinung tretende Geschichte des Handelns. Dieser Charakter „verbraucht" sich im Vollzug der Handlung nicht, wie Kant einmal mit Worten sagt, die ähnlich denen des Aristoteles klingen, wenn dieser den unbewegten Beweger beschreibt. Die Vernunft des handelnden „Ich will" erstreckt sich in die Geschichte der Handlung hinein und bestätigt sich als beständiges und beharrendes Prinzip in den wechselnden Zuständen des Handlungsablaufes. Damit aber der Handelnde seiner intelligiblen Rolle im Vollzug der in die Erscheinung tretenden Ausführung gerecht zu werden vermag, muß er in sich die Verfassung der Freiheit hergestellt haben, die er in dem Prozeß vergegenwärtigt. Dann kann der den Verlauf der Handlung Betrachtende und ihre Erscheinungsgestalt Beschreibende die „. . . Vernunftgründe und die Handlungen derselben nach ihrer Art und ihren Graden abnehmen". (B 577) Man denkt an die in einem ganz andern Zusammenhang begegnende Rede Kants vom „Geschichtszeichen", welches als geschichtliche Erscheinung begegnet, die Ausdruck der Wirklichkeit „innerer" Bewegungen der geschichtlich handelnden Menschen ist. 67 Ich spreche eine erscheinende, durch mein Eingreifen in die Wirklichkeit in Gang gesetzte Geschichte als 66

XVIII, S. 256. In XVIII, S. 24, heißt es: „Weil der Verstand nun eigentlich nicht affiziert wird, aber die Sinnlichkeit affizieren kann: so ist seine Handlung nicht vorherbestimmt, sondern spontaneo bestimmend . . ." Zum Begriff des Charakters vgl. H . Heimsoeth: Freiheit und Charakter (nach den Kant-Reflexionen Nr. 5611-5620), aus: Tradition und Kritik, Fs. für R. Zocher zum 80. Geb., Stuttgart/Bad Cannstatt 1967, S. 123ff. Angedeutet werden kann in diesem Rahmen nur die Aufgabe, Verbindungslinien zu den Prinzipien der Arbeit und auch des künstlerischen Bildens zu ziehen. Die Kantische Unterscheidung zwischen moralisch-praktischem und technisch-praktischem Verhalten scheint es nahezulegen, den Begriff des Handelns für die moralisch-praktische Sphäre vorzubehalten und ζ. B. auch von demjenigen der Arbeit im Sinne der Herstellung von Sachen für die Bedürfnisbefriedigung zu unterscheiden. Das gilt vor allem für den Begriff, der im Zusammenhang dieser Untersuchung als derjenige des „reinen" Handelns angesprochen wurde, sofern für diesen Autonomie in Anspruch genommen wird. 67 VIII, S. 84.

308

Handlung in der Ausführung

„ m e i n e " Handlung an, sofern ich mich als in ihr mich v e r g e g e n w ä r t i g e n d wiederfinde. Mit diesem Ausdruck wird der zeitliche Aspekt im intelligiblen Charakter des Handelnden angedeutet, der sich in die geschichtliche Gestalt eines wirklichen Handlungsvollzuges hinein er-streckt. Damit durchdringt er handelnd die in die Erscheinung tretende kausale Folge der Ereignisse, aus denen die Handlung besteht, mit dem Charakter seiner Willensentscheidung, die durch Freiheit bestimmt ist. „Ich will" behauptet sich als gegenwärtige Erscheinung, die im Handlungsvollzug ihren Ausdruck findet. V o n dieser wurde gesagt, daß sie sich auf Grund des Standnehmens auf dem Boden einer vernünftig verfaßten Welt vollzieht. D a der Wille diese Welt repräsentiert, vergegenwärtigt er sie auch in der erscheinenden Gestalt seiner Handlung. Das Handlungsgeschehen zeigt demgemäß selbst erscheinenden „Charakter", der den vom Denken der praktischen Welt geprägten Charakter des Handelnden widerspiegelt. Wie das von der geschichtsphilosophischen Vernunft entworfene Weltmilieu zeigt auch die „Welt", von der in der praktischen Philosophie die Rede ist, geschichtlichen Charakter. Der Handelnde versteht seine Handlung als Geschichte innerhalb der a priori von ihm entworfenen Welt, bei deren Entwurf er die Erfahrungen, welche die Menschen im Hinblick auf den „Weltlauf" gemacht haben, am Leitfaden apriorischer Vernunft rekonstruiert. In dieser Welt gibt sich der Handelnde selbst eine räumliche und zeitliche Stelle: einen Ort und eine Gegenwart. Von dieser aus entwirft er den in der Zukunft zu erwartenden Verlauf seiner Handlung. Ich behaupte jetzt in meiner Gegenwart diesen sich auch in die Zukunft hinein erstreckenden Weltstand. Daher ist es möglich, daß ich während des von mir in Gang gesetzten Handlungsverlaufes gegenwärtig bin. Ich vermag die äußere von mir hervorgebrachte Handlungsgestalt als „meine" Handlung bis zu einer gewissen Grenze zu bezeichnen, weil ich sie mit den Strukturen der von mir entworfenen Welt, die ich als handelnder Charakter repräsentiere, durchdringe. Beim gedanklichen Ausbau dieser Welt des Handelns wird meine praktische Vernunft dazu herausgefordert, auch die „ f r e m d e n " Mächte einzukalkulieren, deren Wirken die Richtung der von mir in „meiner" Handlung in Gang gebrachten Entwicklung von dem Ziele ablenkt, das von mir gewollt war. So werde ich vor die Entscheidung gestellt, bis zu welchem Punkte der Handlungsgeschichte ich die Gegenwart meines Handelns anerkennen kann. Es ist die Frage, wie weit ich die V e r a n t w o r t u n g für die Folgen übernehme, die sich aus meinem Eingreifen in die Wirklichkeit ergeben.

Meine" Handlung

309

Man pflegt die „gesinnungsethische" Position Kants derjenigen entgegenzustellen, die Max Weber als „verantwortungsethisch" bezeichnet hat. Der letzteren gemäß ist das Handeln so anzulegen, daß der Handelnde die sich ergebenden Folgen zu rechtfertigen und sich zu ihnen zu bekennen vermag. Das Kantische Handlungskonzept billigt allerdings der Handlung nur dann moralischen Wert zu, wenn der Wille nicht durch den zu erwartenden oder zu erhoffenden Erfolg, sondern durch die Pflicht bestimmt ist. Denn nur unter dieser Bedingung wird der Handelnde dem Anspruch der Freiheit gerecht: eine Motivation durch den Erfolg würde die Uberantwortung des Willens an heteronome, „fremde" Mächte bedeuten. Bezeichnet man den Kantischen Standpunkt daher als den einer „Gesinnungsethik", so besteht freilich ein Grund, zwischen diesem und dem „verantwortungsethischen" Konzept zu unterscheiden. Daraus ergibt sich aber keine Berechtigung für den gelegentlich gegen Kant vorgebrachten Vorwurf, er bringe in den ethischen Kalkül nur den Wert der Gesinnung ein, schenke aber der Überlegung, daß der Handelnde für gewisse Folgen verantwortlich zu zeichnen habe, keine Beachtung. Gegen diesen Vorwurf ist zu antworten, daß auch bei Kant der Anspruch der Verantwortungsethik insofern erfüllt wird, als er seinen kategorischen Imperativ als Methode ausbaut, jeweils die richtigen Zwecke des Handelns festzulegen: im Begriff dieser Zwecke ist die Vorstellung von den Folgen enthalten, die sich aus meinem Handeln ergeben sollen. Der Kantische Ansatz verlangt nicht w e n i g e r , sondern mehr an Verantwortlichkeit, als es in der sogenannten Verantwortungsethik vorgesehen ist. In ihm wird nämlich darüber hinaus, daß ich die Verantwortung für gewisse Folgen übernehme, noch gefordert, daß diese Folgen nicht für sich, ohne die ganze Entwicklung, deren Ergebnis sie sind, betrachtet werden. Vielmehr wird im gesinnungsethischen Ansatz Kants der Anspruch erhoben, daß die sogenannten „Folgen" als Ergebnisse der Geschichte einer Handlung im G a n z e n begriffen und gewertet werden, in der sich der moralische Charakter des Handelnden zu vergegenwärtigen hat. Im Anschluß an die Andeutungen zu einer Theorie der Verantwortung im Zusammenhang mit dem Begriff je „meiner" Handlung mag der Charakter des „reinen" Handelns angedeutet werden, den man als Produktivität bezeichnen kann. Produktivität des Handelns wird im folgenden Sinne verstanden: der Handelnde vergegenwärtigt sich als freie Kausalität in der Zeitgestalt seines Handelns und teilt dieser dadurch den Charakter eines noch nicht Dagewesenen, Einmaligen und Neuen mit. Das praktische Sein des Handelnden verdankt seine Unvertretbarkeit dem Umstand,

310

Handlung in der Ausführung

daß dieser als „Ich will" einen vernünftigen Weltzusammenhang behauptet und auch repräsentiert. Das Alte, sich immer Wiederholende gibt es nur i n n e r h a l b einer Welt. In dem Augenblick aber, in welchem die Ursache eines Geschehens von der Art des Handlungsvollzuges selbst Weltcharakter zeigt, gibt es keine Wiederholung. Die Geschichte jeder Handlung ist insofern ein einmaliges Ganzes, eine Welt für sich. Daß die Handlung etwas Neues einbringt, weil sie auf einer individuellen Repräsentation der Welt beruht, rechtfertigt es zu sagen, sie weise einen produktiven, d. h. „schöpferischen" Zug auf. Kausalität durch Freiheit in Zusammenhang mit praktischer Apperzeption gibt das Stichwort für das Auftreten eines produktiven, d. h. dem handelnden Subjekt selbst entspringenden Ereignisses. Produktiven Charakter nimmt die auf der Basis der Freiheit geschehende Handlung deshalb an, weil sie nicht die Physiognomie einer physischen Erscheinung zeigt, sondern eine Geschichte der sich handelnd in die Zeit erstreckenden Bewegung des „Ich will" darstellt. „Ich will" teilt der Ereigniswelt der Handlung den Charakter eines auf die Welt im Ganzen bezogenen Geschehens mit. Es ist nützlich, in diesem Zusammenhang auf Kants Begriff der Schöpfung bzw. des Schaffens einen Blick zu werfen, den er aus theologischen Zusammenhängen aufnimmt. Schaffen bzw. schöpferisches Tun ist demnach nicht als Erschaffen von Erscheinungen in Raum und Zeit, sondern als Hervorbringen von Dingen an sich zu denken. Schaffen heißt, Dingen eine selbständige Existenz als „Dingen an sich selbst" zu verleihen. Es kann nur auf der Basis der Freiheit geschehen, nicht der Notwendigkeit: daher gehört „. . . der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Kausalität", sondern kann nur „auf Noumenen bezogen werden . . ," 6 8 Hätte Gott uns als Erscheinungen geschaffen, dann müßte er zugleich als „Urheber des ganzes Maschinenwesens" angesehen werden, das sich uns in physikalischer Perspektive beim Blick auf die Natur zeigt. Dann würde es für uns auch keine Freiheit geben, ebensowenig wie für die erscheinenden Gegenstände unseres Naturerkennens. Damit ist auch gesagt, daß das auf Freiheit beruhende produktive Handeln nicht einzelne erscheinende Dinge hervorbringt, weil diese auf Grund einer Naturnotwendigkeit bewirkt werden und als Erscheinungen kein Gegenstand für freies Handeln sind. Daß der Zeiger einer Uhr auf der Zahl 9 steht, nachdem er eine Stunde zuvor auf 8 gestanden hat, ist kein 68

V, S. 102. Vgl. auch Β 578.

Verwirklichung der Freiheit und das Prinzip der Leiblichkeit

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Ergebnis freier Kausalität und produktiven Handelns. Aber die Herstellung der Uhr ist produktiv, weil sie im Rahmen unserer Zweckwelt geschieht, die in jeder einzelnen Produktion gegenwärtig ist. Wenn Kant in seiner Sprache erklärt, daß die Schöpfung nur „Dinge an sich selbst", aber nicht Erscheinungen hervorbringe, so hat das darin seinen Grund, daß man in den Produkten eine Vergegenwärtigung der „Welt" zu sehen hat, die der sie Hervorbringende repräsentiert. Im Produkt wird eine Totalität realisiert, die ein besonderer Aspekt der Freiheit ist. Zum Handeln im Sinne produktiven Tuns gehört demnach, daß es als Selbst-darstellung der vernünftigen Weltverfassung des Handelnden begreifbar ist. Will man ζ. B. dem Politiker, der einen Handelsvertrag unterzeichnet, produktives Handeln bescheinigen, so darf sein Tun nicht nur vom ökonomisch-politischen Effekt her betrachtet werden. Vielmehr muß es als Geschichte der Verwirklichung seiner selbst und der Personen, die sich diesen Vertrag zum Zweck gesetzt haben, begreifbar sein. Effektivität und Produktivität sind demnach zu unterscheiden.

9. Verwirklichung der Freiheit und das Prinzip der Leiblichkeit Noch einmal ist auf den Zusammenhang zurückzukommen, in welchem davon gesprochen wurde, daß sich in der erscheinenden Handlungsgestalt die Freiheit des Handelnden vergegenwärtige. Diese Aussage fordert die Frage heraus, ob die damit ausgesagte Durchdringung der Erscheinung durch Freiheit nicht auch im Hinblick auf das handelnde Subjekt selbst zu erweisen ist: ob nicht zwischen dem intelligiblen und dem empirischen Charakter, der Freiheit und der Leiblichkeit des Subjekts Einheit auszusagen ist, die als Verwirklichung der Freiheit in der Gestalt des Handelnden zu begreifen ist. Das Gute sei, so sagt Kant, „in der Person selbst schon g e g e n w ä r t i g " , die danach handle und brauche nicht erst in der Ausführung der Handlung, also in der Wirkung erwartet werden.69 Im Handelnden wird Vernunft „praktisch", d. i. die in ihr entsprungenen „Gründe" werden dadurch zugleich freie „Ursachen" für Handeln, daß das praktische Subjekt sie sich zu eigen macht, sich mit ihnen identisch setzt, indem es auf dem Boden der vernunftbeherrschten Welt Stand nimmt. Es ist auch an solche Aussagen Kants wie die zu erinnern, daß praktisches Denken 69

I V , S. 401.

312

Handlung in der Ausführung

zugleich V e r w i r k l i c h e n ist, sofern ich dadurch praktisches Sein in mir herstelle und eine Willensentscheidung treffe, die als wirklicher, kausaler Faktor in die Geschichte des Handelns eintritt. In meinem Handeln bin ich die Geschichte der sich verwirklichenden Freiheit, ich bin ihr InErscheinung-treten in jeder Gegenwart dieser Geschichte. Das setzt voraus, daß ich selbst in meiner leiblich erscheinenden Person eine Darstellung dieser Freiheit bin und damit die freie Kraft darstelle, welche die Geschichte der Handlung in Gang setzt. Das heißt: wenn Kant sich darauf beruft, daß ich in dem Augenblick, in welchem ich mich „unter die Idee der Freiheit" stelle, diese Freiheit zugleich in meiner Person als Wirklichkeit repräsentiere, so muß der sich auf die Erscheinung beziehende Aspekt dieser Verwirklichung durch meinen Leib zur Geltung gebracht werden. Wenn das auf dem Boden der von Vernunft beherrschten Welt standnehmende Denken zugleich als V e r w i r k l i c h e n der Freiheit erklärt wird: dann folgt, daß ich diese Freiheit in meiner leiblichen Existenz darstelle und sie sprechend und handelnd repräsentiere. Leiblichkeit als die in die Erscheinung tretende Selbstdarstellung des „Ich denke" bzw. „Ich will" tritt im späten Denken Kants im Zusammenhang mit dem Programm in den Blick, im Zuge einer konsequenten Realisierung des Systemprinzips den Dualismus zwischen Intelligibilität und Sensibilität, Freiheit und Natur, transzendentaler und empirischer Sphäre zu überwinden. Von den Voraussetzungen der praktischen Philosophie aus ergeben sich Motive dafür, das praktische Sein des handelnden Subjekts zugleich auch als leibliches Sein zu interpretieren. Von diesem wurde gesagt, daß es sich als Kraft der Entschiedenheit des „Ich will" zeigt, das sich in einer vernunftbeherrschten Welt einrichtet und auf die Ausführung des Handelns aus-richtet. Auch Überlegungen des vorigen Abschnitts, in denen von der Gegenwart des „Ich will" in der erscheinenden Handlungsgestalt und von einem Sich-erstrecken des Handelnden in die Geschichte der Handlung die Rede war, führen zu einem Konzept der Rolle der Leiblichkeit im Handlungszusammenhang. Denn die sich in die Geschichte der Handlung erstreckende Gegenwart des „Ich will" kann nur als zeitlicher Aspekt eines zugleich leiblich-räumlichen „Ich bin hier" aufgefaßt werden. Dieses Hiersein ist zugleich als in Erscheinung tretende Ursache für die Wirkungen aufzufassen, welche zur Einheit der Handlung gehören. So gewiß die Handlung nicht nur als Zeitgestalt, sondern auch als Raumgestalt aufgefaßt werden muß, entspricht ihr auf der Subjektseite ein räumliches „Ich dehne mich aus" bzw. „Ich behaupte meine Anwesenheit hier".

Verwirklichung der Freiheit und das Prinzip der Leiblichkeit

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Jetzt zeigt sich die Möglichkeit, den Leib als von Freiheit durchdrungene, erscheinende Gestalt zu begreifen, statt ihn, wie es dem theoretischen Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft angemessen wäre, von der Intelligibilität abzutrennen und als „Erscheinung" in den Bereich körperlich-physischer Phänomene zu verweisen. Vom Standpunkt der Praxis aus ist es jetzt möglich, den Leib als „geschichtliche" Erscheinung aufzufassen, den empirischen Charakter als durchdrungen mit Intelligibilität, als zur Erscheinung gebrachte handelnde Selbstdarstellung des auf dem Boden der Vernunftwelt Stand nehmenden Subjekts zu begreifen. So gesehen ist der Leib erscheinender Charakter des Handelns: der leibliche Aspekt des Handelnden gehört mit zur Geschichte seiner Handlung. Der Leib kann in dieser Hinsicht mit der Sprache verglichen werden, in der sich der Gedanke erscheinend verwirklicht. Im Bereich der Praxis ist dieser Gedanke eine Willensentscheidung; sie nimmt als Ursache der in je meinem Handeln auftretenden Wirkungen im Bereich der Erscheinungswirklichkeit die Gestalt eines leiblichen Handlungscharakters an. In der leiblichen Existenz hat Vernunft einen Bund mit der Kraft geschlossen, die nötig ist, um in die Wirklichkeit einwirken zu können. Dieser Kraft ist der Charakter freier Entscheidung eigentümlich. Der Leib des Handelnden kann daher als „geschichtliche" Erscheinung betrachtet werden, weil er sich als Freiheit seine Stelle im Wirkungszusammenhang selbst anweist. Er stellt das „Selbst" des „Ich will" dar und repräsentiert damit dessen Weltkonzeption. Bedeutsam für diesen Zusammenhang sind Bemerkungen im Umkreis der Leibproblematik im Opus Postumum, in denen Kant ζ. B. von „selbstbewußt bewegenden Kräften des Subjekts" spricht. Die Aussagen Kants in diesem Kontext sind zwar primär für die Grundlegung einer physikalischen Erfahrungstheorie gedacht. Aber in den einschlägigen Überlegungen kommt das Handlungsprinzip und die in dessen Rahmen relevante Leibproblematik in den Blick. Es ist dabei die Rede von „Kräften", welche als mit vernünftigem Bewußtsein durchdrungen gedacht werden: in solchen Annahmen ist die Schwelle von der rein theoretischen zur praktischen Philosophie schon überschritten. Um die Vermittlung bzw. den Ubergang von der transzendentalphilosophischen Ebene zur empirisch-physikalischen leisten zu können, der das Programm der im Opus Postumum angedeuteten Überlegungen darstellt, bedarf es zuletzt einer Transposition des erkenntnistheoretischen Ansatzes auf die Ebene einer Handlungstheorie. Wenn es ζ. B. heißt, daß Wahrnehmungen nichts anderes als mit Bewußtsein verbundene bewegende Kräfte des Subjekts

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Handlung in der Ausführung

seien, so ist damit gesagt, daß wahrnehmendes Verhalten nicht als Reaktion auf Einwirkungen von „außen", sondern als leiblich sich darstellende Vernunft aufzufassen ist. 7 0 Der Leib wird als System deklariert; dieses ist so zu charakterisieren, daß es sich als handelndes Selbstbewußtsein des Subjekts zum Ganzen einer als Freiheit erscheinenden Gestalt zusammenfaßt. Es ist eine Synthesis am Werke, die den erscheinenden Leib zu einem Ganzen werden läßt, von dem ich sage, er sei „mein" Leib. Solch ein Synthesisbegriff ist bereits in der Kritik der reinen Vernunft angelegt worden, sofern durch die transzendentale Bewegung und das in ihr handelnde „Ich denke" die erscheinende Mannigfaltigkeit zu einem gegenständlichen Ganzen vereinigt wird. Wenn ich in erkennend-beschreibender Absicht den Gegenstand als Gestalt darstelle, so gehört dazu, daß ich mich selbst als Leib, d. h. als zur Erscheinung kommende Freiheit erweise. Einer konsequenten Auffassung der Leiblichkeit in diesem Sinne steht im Bereich der Kritik der reinen Vernunft die dualistische Unterscheidung zwischen dem noumenalen und dem phänomenal-empirischen Aspekt der menschlichen Existenz im Wege. Erst im opus postumum erzwingt es die dort gestellte Aufgabe, den Leib als sich erscheinend darstellendes „Ich denke" bzw. „Ich handle" zu begreifen. In dieses Konzept wäre von den bisher im Hinblick auf das praktische Ich gewonnenen Einsichten her in die Problematik der Leiblichkeit dieses einzuholen, daß sich „Ich handle" eine Stellung als Leib, der die Vernunftwelt repräsentiert, in der praktischen Konstellation anweist. In den Gedankengängen des opus postumum ist eine Theorie des Leibes angelegt, derzufolge sich intelligibler und empirischer Charakter durchdringen. Für die praktische Konstellation bringt diese Theorie den Gedanken ein, daß sich der Handelnde in der Welt des Handelns auch als Leib seine Stelle den andern Personen und den Gegenständen gegenüber anweist. Ein bemerkenswerter Bezug ergibt sich zu der rechtsphilosophischen Theorie Kants. Hier ist festzustellen, daß Kant die physische, dem Bereich der Erscheinungen angehörende Verbindung, die der Leib des Besitzenden mit dem Gegenstand der „detentio" hat, zugleich auch Ausdruck eines r e c h t l i c h e n Verhältnisses ist. Der „bloße physische Besitz (die Inhabung) des Bodens ist schon ein Recht in einer Sache, obzwar freilich noch

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X I I , S. 392. Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz: „Leibbewußtsein und Welterfahrung beim frühen und späten Kant", Kant-Studien, Bd. 54 (1963), H. 4, S. 464ff. Ebenso meine „Philosophie der Beschreibung", Köln/Graz 1968, S. 257ff.

Verwirklichung der Freiheit und das Prinzip der Leiblichkeit

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nicht hinreichend, ihn als das Meine anzusehen". 71 Zugrunde liegt der Gedanke, daß mein leibliches Anwesend- und Gegenwärtigsein sowie meine Manipulationen mit brauchbaren Sachen jeweils eine Vergegenwärtigung je meiner Stellung darstellt, die ich als Freiheit im gesellschaftlichen Gefüge behaupte. So ist ζ. B. der Boden, auf dem ich im Augenblick stehe, zwar deshalb nicht mein Eigentum, aber er ist durch meine Anwesenheit und Gegenwart besetzt. Diese Besetzung ist eine Handlung, in der sich mein Wille verwirklicht, der unter rechtlichen Maßstäben, d. h. unter Gesetzen der F r e i h e i t steht. Mit meiner Existenz als Leibwesen ist auch das Recht auf Anwesend- und Gegenwärtigsein sowie auf einen Gebrauch der Sachen unter den Bedingungen des Rechtsgesetzes gegeben. Daher besteht auch ein Recht der Person, als Leib irgendwo anwesend zu sein. Vom Prinzip der Leiblichkeit her ist auch der Rede von „ m e i n e r Handlung" als der durch mich hervorgerufenen, erscheinenden Zeitgestalt eine pointierte Bedeutung zu geben. Sie ergibt sich aus dem Gedanken, daß die Geschichte meiner Handlung in einem erweiterten Sinne als „Leib" angesehen werden kann, den sich mein handelnder Wille gibt. „Meine" Handlung ist die Geschichte, die ich dadurch bewirke, daß ich der Vernunft durch meinen Leib die Kraft verliehen habe, Kausalität auszuüben. Auch der Begriff der praktischen Konstellation ist in diesem Zusammenhang noch genauer zu bestimmen, sofern die sich in ihr die Rolle des Handelns gebenden praktischen Subjekte als leibliche Wesen auftreten, welche die Anwesenheit und Gegenwart des „Ich will" als Erscheinungsgestalten repräsentieren. Das praktische Subjekt tritt als leibliche Person in die Konstellation ein: es vergegenwärtigt die von ihm entworfene vernunftgesetzlich bestimmte Welt, an der es sich orientiert und die es als Perspektive für sein Handeln gebraucht. Im Blickfeld dieser Perspektive bestimmt es seine eigene Stellung gegenüber den andern leiblichen Personen einerseits und den Sachen andererseits. Der Begriff der Handlung schließt den Gedanken ein, daß sich das in die Konstellation eintretende Ich-will als leibliche Gestalt behauptet, sich in dieser vergegenwärtigt und anwesend ist und in die Erscheinungswelt einwirkt. Im Vollzuge der gedanklichen Explikation der „Kausalität durch Freiheit" und des Leibproblems ist ein Erscheinungsbegriff begegnet, der

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VI, S. 251.

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Handlung in der Ausführung

im folgenden durch Gegenüberstellung zum theoretischen Begriff der Erscheinung genauer zu kennzeichnen ist.

10. Erscheinungsbegriff vom Standpunkt der Praxis aus und praktischer Schematismus Im Bereich der theoretischen Philosophie bildet Kant eine transzendentale Dialektik aus, in welcher er dem philosophischen Denken eine Methode bereitstellt, mit Hilfe deren es zwei heterogenen Aspekten an der menschlichen Existenz: Intelligibilität und Sensibilität bzw. Empirizität, Freiheit und Naturnotwendigkeit gerecht zu werden vermag, ohne in einen begrifflichen Widerspruch zu geraten. Diese Methode besteht, so mag reminiszierend gesagt werden, darin, jeden der Aspekte zum Thema einer „Perspektive" zu machen, die mit methodischer Bewußtheit auf ein und dasselbe Wesen: Mensch angewandt wird. Auf diese Weise kommen sich die Perspektiven gegenseitig nicht in ein logisches Widerspruchsgehege, sondern halten sich voneinander getrennt: ihr Gebrauch bewirkt, daß die I d e n t i t ä t des Wesens Mensch, das in die verschiedenen Perspektiven gerückt werden kann, als denkmöglich gesichert ist. Solange die Perspektiven voneinander reinlich getrennt sind, ohne vermittelt zu werden, vermag das Denken nicht weiter zu kommen, als die bloße Möglichkeit der Vereinigung von intelligiblen und empirischem Charakter im identischen Wesen Mensch zu begründen. Denn der Erscheinungsbegriff, der hierbei zugrunde gelegt wird, ist in demselben Maße auf den Bereich der zu erkennenden Naturdinge beschränkt, wie die im theoretischen Ansatz gedachte Freiheit unvermittelt der Naturnotwendigkeit als gegenüberstehend vorausgesetzt wird. Wir können uns daher keinen theoretischen Begriff davon machen, wie der intelligible Charakter in den empirischen einwirkt und umgekehrt. Der theoretische Standpunkt und seine kritische Weigerung, Freiheit und gesetzlich bestimmte Naturerscheinung selbst in einen naturgesetzlichen Zusammenhang zu bringen, ist für die Erkenntnis der erscheinenden Naturdinge zuständig und vermag die Gegenwart der Freiheit höchstens als Möglichkeit zu erweisen. „Alles, was geschieht, ist zureichend bestimmt, aber nicht aus Erscheinungen, sondern nach Gesetzen der Erscheinung. Denn es ist bei frei handelnden Wesen ein beständiger Einfluß intellektueller Gründe, da das Gegenteil als Erscheinung möglich ist. Aber die Handlung oder ihr Gegenteil wird so unter den Erscheinungen gegründet sein, daß nur das Moment der Bestimmung intel-

Praktischer Schematismus

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lektuell ist. Dieses aber kann in der empirischen Erklärung nicht gebraucht werden, weil es nicht wahrgenommen wird. Denn von dem Intellektuellen bis zur bestimmten Handlung ist eine unendliche Zwischenreihe von Triebfedern, deren Zusammenhang mit dem gegebenen Zustande nur nach allgemeinen Gesetzen der Möglichkeit kann erkannt werden." 7 2 Vom Standpunkt der P r a x i s und der Freiheit aber spricht Kant, wenn er sagt: „In den freien Handlungen fließt die Vernunft nicht bloß als ein begreifendes, sondern wirkendes und treibendes principium ein. Wie sie nicht bloß vernünftle und urteile, sondern die Stelle einer Naturursache vertrete, sehen wir (vom theoretischen Standpunkt aus, der Verf.) nicht ein, viel weniger, wie sie durch Antriebe selbst zum Handeln oder Unterlassen bestimmt werde . . . Die wahre Tätigkeit der Vernunft und ihr Effekt gehört zum mundo intelligibili." 73 Handeln erweist sich, in der Perspektive der Praxis betrachtet, als Spontaneität von der Art, daß die Vernunft „nicht bloß als begreifendes, sondern wirkendes und treibendes Prinzipium" in das wirkliche Geschehen „einfließt". 7 4 Damit ist eine w i r k l i c h e Identität von Freiheit und erscheinender Wirklichkeit ausgesprochen, die nur vom Standpunkt der Praxis aus begreifbar ist. Denn in der Perspektive der Praxis wird erkennbar, daß das Handeln der Vernunft nicht nur im Vorstellen von M ö g l i c h k e i t e n besteht, sondern selbst eine Verwirklichung bedeutet. Es ist an die Stelle zu erinnern, an der Kant betont, daß dasjenige praktische Subjekt, welches sich „unter die Idee der Freiheit" stellt, durch diesen Akt seines praktischen Denkens die Freiheit an sich schon verwirklicht. Ebenso ist an die Aussage zu erinnern, daß die praktischen Kategorien nicht erst, wie es im Bereich der theoretischen Philosophie der Fall ist, auf Anschauungen warten müssen, um ,,. . . Bedeutung zu bekommen, und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen . . ." 7 S Indem es vom praktischen Standpunkt aus möglich ist, die Wirklichkeit der Identität von Freiheit und Erscheinung zu denken, wird erkennbar, daß durch Handeln Erscheinungen hervorgebracht werden, in denen Freiheit sich als verwirklicht zeigt. Die Erscheinungen sind, in der Perspektive des Handelns betrachtet, nicht nur, wie es im Bereich der

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XVIII, S. 255 (Reil. 5616). XVIII, S. 253 (Refl. 5612). XVIII, S. 253 (Refl. 5612). V, S. 66.

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Handlung in der Ausführung

Naturerkenntnis der Fall ist, von Verstandesgesetzen bestimmte Vorstellungsinhalte: vielmehr zeigen sie sich als selbständige in Raum und Zeit sich ausdehnende Gestalten, die von sich aus den Zug von Vernunft und Freiheit aufweisen. Die sich als erscheinende Geschichte vollziehende Handlung ist demnach nicht nur ein kausal beschreibbarer Prozeß, sondern „Äußerung" einer freien inneren Bewegung des handelnden Willens. Ihr erscheinender Verlauf wird von dieser Bewegung durchdrungen. Daher zeigt ihr Erscheinungscharakter nicht die Züge der Natur, sondern der Geschichte. In dieser Geschichte ist die Welt gegenwärtig, auf deren Boden der Handelnde sich stellt, um Vernunft in der Wirklichkeit zur Herrschaft zu bringen. „Nun aber der Begriff einer empirisch unbedingten Causalität theoretisch zwar leer (ohne darauf sich schickende Anschauung), aber immer doch möglich ist und sich auf ein unbestimmtes Objekt bezieht, statt dieses aber ihm doch an dem moralischen Gesetze, folglich in p r a k t i s c h e r (gesp. v. Verf.) Beziehung, Bedeutung gegeben wird, so habe ich zwar keine Anschauung, die ihm seine objektive theoretische Realität bestimmte, aber er hat nichts desto weniger wirkliche Anwendung, die sich in concreto in Gesinnungen oder Maximen darstellen läßt, d. i. praktische Realität, die angegeben werden kann; welches denn zu seiner Berechtigung selbst in Absicht auf Noumenen hinreichend ist." 7 6 Somit wird in praktischer Perspektive ein Typus von Erscheinung erkennbar, die geschichtlicher Natur ist. In der zur Erscheinung kommenden Geschichte einer Handlung ist das zu-grunde liegende Etwas, was hier zur Erscheinung kommt, die durch die Willensverfassung („Gesinnung") des Handelnden repräsentierte Freiheit. Das den Erscheinungen zugrunde Liegende nennt Kant „Ding an sich selbst". Es ist dasjenige „Ding", welches Selbständigkeit aufweist und daher nicht Inbegriff der Bestimmungen ist, die der Verstand an ihm sehen will, wie es bei den Naturerscheinungen der Fall ist. Sobald der Unterschied zwischen Dingen an sich selbst und Erscheinungen etwa durch die Bemerkung gemacht worden ist, daß wir zwischen solchen Vorstellungen, die uns „anderswoher gegeben werden, und dabei wir leidend sind" und denen zu unterscheiden haben, „die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Tätigkeit beweisen", so folgt von selbst: „. . . daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, 76

V , S. 56.

Praktischer Schematismus

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daß, da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns affizieren, wir ihnen nicht näher treten und, was sie an sich sind, niemals wissen können." 77 Diese Bemerkung gehört auch in den Zusammenhang der Kritik der reinen Vernunft und wiederholt indirekt, daß es des Gebrauchs zweier verschiedener Perspektiven, derjenigen der Sinnenwelt und derjenigen der „Verstandeswelt" bedarf, um die M ö g l i c h k e i t des Gedankens zu bewahren, daß in unserer menschlichen Existenz Freiheit und natürliche Notwendigkeit miteinander bestehen können. In diesem t h e o r e t i s c h e n Zusammenhang bedeutet der Begriff des Dinges an sich selbst eine notwendige V o r a u s s e t z u n g , die wir machen müssen, um die Möglichkeit der Erscheinungen begreifbar zu machen. Kant bleibt auch im Zusammenhang der praktischen Philosophie vorsichtig auf diesem Standpunkt stehen, auf dem die zwei verschiedenen Weltperspektiven unterschieden werden. Er zögert, um die Möglichkeiten des praktischen Standpunktes konsequent auszuschöpfen, auf eine dritte Perspektive überzugehen, in deren Blickwinkel sich die Erscheinung als vernünftig und die Vernunft als erscheinend zeigt. In dieser Perspektive ist das Ding an sich selbst nicht als bloße „Idee", sondern als W i r k l i c h k e i t des handelnden „Charakters" zu begreifen. An dieser die Freiheit und die Natur zusammenfassenden Identität können freilich der natürliche und der freiheitliche Aspekt unterschieden werden. Es ist durchaus möglich, die Entwicklung der geschichtlichen Handlungsgestalten unter einem naturwissenschaftlichen Gesetzesaspekt zu beschreiben, wie es Kant in seiner Schrift über die „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte . . ." im Auge hat. Hier sieht er die Situation, daß die geschichtlichen Erscheinungen sich deshalb, weil sie von handelnden Menschen, also freien Ursachen bewirkt werden, dem die naturgesetzliche Notwendigkeit diktierenden Zugriff des Verstandes nicht restlos fügen. Vom theoretischen Verstände, der auf Gesetzeswissenschaft ausgeht, gesehen, stellt sich die Freiheit der handelnden Personen als „Zufall" dar, mit dem ein in der nomologischen Perspektive befangener Historiograph rechnen muß. Daher bleibt ihm nur die Ausflucht zur Statistik übrig. In der Moralphilosophie dagegen handelt es sich nicht nur um Beschreibung geschichtlicher Verhaltensfiguren und Handlungen, sondern um deren Normierung. Allgemeine praktische Ideen und die vom Gesetz „bestimmte" Gesinnung sollen ihren Ausdruck in Handlungsfiguren fin" I V , S. 451.

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Handlung in der Ausführung

den. In diesem Zusammenhang ist auch noch auf die praktische Bedeutung des Begriffes vom Schema einzugehen. Das Gesetz bzw. die Maxime als allgemeiner Handlungsbegriff soll mittelbar auf sinnlich wahrnehmbare und beschreibbare Verhaltensfiguren angewandt werden. Die dabei ins Spiel kommende praktische Urteilskraft muß sich eines Schemas bedienen, durch welches die allgemeine Regel mit der vorgeschriebenen Figur des Handelns vermittelt wird. Aber zwischen dem Gesetz und der von der Pflicht geforderten Figur des Handelns liegt der Wille und seine Verfassung. Die „Ufer", zwischen denen in erster Linie das Schema in praktischer Hinsicht eine Brücke zu bauen hat, sind das Gesetz einerseits, die Willensgesinnung andererseits. Erst in zweiter Linie ist noch eine weitere Distanz zu überwinden: diejenige zwischen dem Willen und der Handlungsfigur, zu der er sich entschieden hat. Kant erklärt, daß das praktische Schema nicht einen bildlich beschreibbaren Fall nach einer Regel produziere, wie es dem in der theoretischen Vernunft heimischen Schema obliegt. Denn durch die im Imperativ enthaltene Regel werden nicht die Handlungsfiguren normiert, sondern die G e s i n n u n g . Nicht ein empirischer, sondern ein intelligibler Charakter wird durch den Imperativ „konstruiert". Im praktischen Vernunftgebrauch geht es um das „Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes selbst", weil nämlich die „ W i l l e n s b e s t i m m u n g (nicht die Handlung in Beziehung auf ihren Erfolg) durchs Gesetz allein, ohne einen anderen Bestimmungsgrund, den Begriff der Causalität an ganz andere Bedingungen bindet, als diejenige sind, welche die Naturverknüpfung ausmachen." 78 Die Bedeutung, die das Schema dem praktischen Begriff des Imperativs verleiht, wird primär nicht durch die Produktion einer Handlungsgestalt, sondern eines Willenscharakters hergestellt, wenn der Anspruch der m o r a l i s c h e n Autonomie erfüllt werden soll. Eine andere Frage ist es, welche Rolle das Schema im Bereich des r e c h t l i c h e n Handelns spielt: hier soll es ja nicht eine A n w e n d u n g des Gesetzes auf die Willensverfassung des handelnden Individuums leisten, sondern der Intention des Rechtsgesetzes dienen, Verhaltensfiguren zu normieren. Das j u r i d i s c h e Schema ordnet ein besonderes Verhaltensbild dem allgemeinen Typus von Rechtsgesetzlichkeit unter. Für das Schema im moralphilosophischen Zusammenhang ist primär die Aufgabe gestellt, nicht die Verhaltensfigur, sondern den Willenscharakter eines handelnden Individuums aus dem allgemeinen Gesetzes78

V, S. 68/69.

Praktischer Schematismus

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charakter der idealtypischen Handlungswelt zu gewinnen. Ist dieser Charakter durch das Schema hergestellt, so ergibt sich für ihn die ihm angemessene Verhaltensfigur. Auch dieses selbst wieder wird durch ein Schema produziert, dessen sich der Willenscharakter bedient, der sich zu der ihm angemessenen Handlungsgestalt entscheidet. Wenn man bedenkt, daß ein Schema gebraucht wird, durch dessen Vermittlung das allgemeine Moralgesetz einen besonderen Willenscharakter hervorbringt, der sich seinerseits als etwas „Allgemeines" erweist, das sich in einzelnen Handlungsfiguren mit Hilfe eines untergeordneten „Schemas" realisiert, so wird man das allgemeine Gesetz als Schema eines Schemas bezeichnen dürfen. „Dem Gebrauche der moralischen Begriffe ist bloß der R a t i o n a l i s m der Urteilskraft angemessen, der von der sinnlichen Natur nichts weiter nimmt als was auch reine Vernunft für sich denken kann, d. i. die Gesetzmäßigkeit, und in die übersinnliche nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durch Handlungen in der Sinnenwelt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich darstellen läßt." 7 9 Der Empirismus der praktischen Vernunft verfehlt die Freiheit der Selbstgesetzgebung und den vorbildlichen Idealtypus der gesetzlich verfaßten Natur, weil er das handelnde Subjekt an die w i r k l i c h e Natur und ihren Antrieb ausliefert. Der Mystizismus andererseits verschmäht den Weg rationaler Argumentation und der Begründung des Handelns, wodurch er auch den B e s t i m m u n g s g r u n d verfehlt, der allein der Freiheit angemessen ist. 80 Der Rationalismus der praktischen Urteilskraft sieht vor, daß an der Handlung nur die Form der Gesetzlichkeit als ent-scheidend gilt, die der Handelnde an der idealtypischen Welt erkennt. Das schließt aber ein, daß mit der 79 80

V, S. 71. Die „Methode", welche der Mystizismus der praktischen Vernunft für das Erkennen der Pflicht vorschlägt, bedient sich intellektueller Anschauung: Die Argumente Kants gelten für die Auseinandersetzung mit einer ethischen Tradition von Plato bis zu neueren und neuesten Formen des „Intuitionismus", wie er bei G. E. Moore oder Scheler und Nicolai Hartmann gegeben ist. Mystisches Denken beruft sich auf intellektuelle Anschauung „guter" Werte. In theologischer Orientierung behauptet er ein durch anschauende Erkenntnis faßbares System hierarchisch geordneter Werte, die in Gott ihre vollkommene Spitze haben. — D a sich mystisches Denken der Anschauung glaubt bedienen zu müssen, wird es dem Unterschied zwischen Symbolik und Schematismus nicht gerecht. Es macht zum „Schema", was nur „Symbol" heißen darf. D . h.: es deutet fälschlich die einzelne, nach dem Gesetz geschehene Handlung als deren konstruktive Darstellung im besonderen Handlungsbilde, statt als „Symbol". Symbolisch ist sie insofern zu fassen, als sie Strukturanalogie zur gesetzlich verfaßten intelligiblen Natur aufweist. Die Anwendung des allgemeinen Gesetzes auf die besondere Handlung ist in Wirklichkeit eine Vergegenwärtigung des an sich schon gültigen und bedeutsamen Gesetzes, aber keine konstruktive Realisierung, wie es beim Schema der Fall ist.

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Handlung in der Ausführung

Form zugleich der Inhalt des Gesetzes ins Spiel kommt. Die Inhalte werden in die Perspektive des welt-haften Gesetzeszusammenhanges und seines gesetzlichen Typus gerückt. 81 Wenn man die Hauptgedanken dieses Abschnittes zusammenfaßt, so ist zu sagen: Während vom theoretischen Standpunkt aus gesehen nur die Möglichkeit besteht, Einheit zwischen Freiheit und Natur zu denken, erlaubt es die Kritik, vom Boden des praktischen Denkens aus die Wirklichkeit dieser Identität, welche auch diejenige des Dinges an sich und der Erscheinung ist, zu behaupten. Dadurch verliert auch die Grenze zwischen Ding an sich selbst und Erscheinung ihre Geltung und die Erscheinung stellt ein „Selbst" dar, indem sie den Willen und seine Freiheit vergegenwärtigt. Handlung, die auf Freiheit beruht, tritt nicht als berechenbarer Naturvorgang, sondern als geschichtliches Er-eignis in Erscheinung. Sie wird von mir und vom Beobachter als je „meine" Handlung verstanden, die ich mir als freier Wille zum Eigen-tum mache, indem ich sie verantworte. Demgemäß erweist sich Handeln nicht nur als ein Hervorbringen von Wirkungen, sondern als Produzieren von Er-eignissen. Beim Hervorbringen der Geschichte einer Handlung tritt auch das praktische Schema in zweifacher Funktion in den Blick, wobei die eine sich als der andern übergeordnet und sie umgreifend erweist. Auf zwei verschiedenen, sich überlagernden Ebenen begegnet das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, für welches die Urteilskraft zuständig ist. Einerseits ist auf „höherer" Stufe der Bezug des allgemeinen Gesetzes zu der besonderen Willens Verfassung und ihrer Entscheidung zu bedenken. Die Funktion des praktischen Schemas besteht in diesem Falle darin, durch Orientierung an der „allgemeinen Gesetzgebung" einer vernünftig verfaßten Welt einen guten Willen herzustellen. Dieser seinerseits bezieht sich wiederum auf einer darunterliegenden Stufe als Allgemeines auf sein Besonderes: auf die ihm eigen-tümliche in Erscheinung tretende Handlungsfigur, zu der sich der gute Wille bekennt. Zum Abschluß möge noch einmal eine aus der praktischen Identität von Freiheit und Erscheinung sich ergebende Konsequenz in Erinnerung gerufen werden: der Kantische Begriff der praktischen Handlung darf nicht nur als Verursachen von Wirkungen begriffen werden, wie es die Rede von der Kausalität durch Freiheit nahezulegen scheint. Vielmehr erweist sich Handeln zugleich auch als Hervorbringen (pro-duzieren) von 81

V , S. 70/71.

Aristoteles und Hegel

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„Geschichten", d. h. von Ereignisgestalten, in denen sich der handelnde Wille und sein Charakter selbst vergegenwärtigen. Mit diesem als „produktiv" bezeichneten Handlungsbegriff nähert sich die Kantische Philosophie der Handlung einer Tradition an, die vom Aristotelischen Praxisbegriff maßgebend bestimmt wurde, auf deren Linie auch die Hegeische Auffassung vom Begriff der Handlung liegt. Auf diesen Bezug mag abschließend die Aufmerksamkeit gelenkt werden.

11. Kausaler Handlungsbegriff und Begriff der Praxis: Bezüge zu Aristoteles und Hegel Wenn man die Ergebnisse überschlägt, die im Anschluß an den Begriff der Kausalität durch Freiheit gewonnen wurden, so zeigt sich, daß der kantische Handlungsbegriff nicht nur durch den Gedanken des Veränderns der sogenannten Wirklichkeit, des Bewirkens von Ereignissen und Verwirklichens von Zwecken bestimmt ist. Schon der Komplex von Uberlegungen, die mit der ersten Phase der Geschichte einer Handlung, der Bildung der inneren Verfassung zum Handeln zu tun haben, würde diesen kausalen Begriff der Handlung sprengen. Selbst da, wo es um die Ausführung des Entschlusses geht, und wo der Gedanke des Bewirkens maßgebend wird, überschreitet der Kantische Handlungsbegriff bei weitem den Horizont der bloßen Effektivität, sofern hier der Charakter der Produktivität maßgebend ist. Man kann den Handlungsbegriff, bei welchem es vor allem um Veränderung der objektiven Welt geht, als typisch neuzeitlich bezeichnen, weil hierbei Effektivität, optimaler Erfolg, Zweckrationalität maßgebend sind. Typisch für diese Situation ist auch die scharfe Trennung zwischen „innerer" und „äußerer" Handlung. Aber nun hat sich gezeigt, daß sich bei Kant wesentliche Ansätze für die Uberwindung der Grenze zwischen Innen und Außen, Moralität und „Sittlichkeit" (im Sinne Hegels) finden: der Begriff der produktiven Handlung gibt solch einen Ansatzpunkt ab. Er sieht vor, daß Handeln nicht nur Bearbeitung des „inneren" Menschen und ebensowenig nur Bewirken äußerer Veränderungen ist, sondern daß es dadurch, daß sich ein Inneres veräußert, den Charakter der Selbstrealisierung und Selbstentfaltung gewinnt. Damit werden in den Kantischen Handlungsbegriff Momente des Aristotelischen Begriffs der P r a x i s eingeholt. Der Weg, den das Denken bei der Erörterung des Handlungsbegriffes geht, führt zum Begriff der Natur. Handlung, Natur in ihren verschie-

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Handlung in der Ausführung

denen Modifikationen, Geschichte und menschliche Gemeinschaft bilden einen Zusammenhang, der nicht nur für die Kantische Philosophie bestimmend ist. Vielmehr liegt dieser Zusammenhang in der Natur der Sache: er kann daher in allen Gedankengängen, deren Thema das Prinzip Handlung ist, verfolgt werden. So springt ζ. B. der Bezug zwischen Praxis und Physis bei Aristoteles in die Augen. Wenn man den Aristotelischen Praxisbegriff zum Zwecke der Vergleichung in den Blick bringt, so ist zunächst zu fragen, an welchem „Prinzip" er Handeln normiert. Aristoteles spricht ζ. B. von dem „naturgemäßen Rechten", das er von den positiven Satzungen unterscheidet, die von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort, je nach Situation verschieden sind. Die Bemerkung mag nützlich sein, daß das von „Natur aus Rechte" nicht ohne weiteres mit der Norm im Sinne der naturrechtlichen Tradition gleichgesetzt werden darf. Denn das Denken dieser Tradition sieht in den naturrechtlichen Inhalten allgemeine, für alle Völker und Zeiten gültige Maßstäbe, die im Sinne von „eingeborenen Ideen" in praktischer Absicht aufzufassen sind. Von dieser Platonischen Deutung des Naturrechts unterscheidet sich Aristoteles, in dem er sein „Rechtes" im Sinne einer verwirklichten und sich immer wieder verwirklichenden Lebensform der politischen Gemeinschaft begreift. Er begreift es als Wirklichkeit und zugleich formende Macht im Leben der Polis, die sich auf den Einzelnen und seine Bildung auswirkt. In Sitte, Brauch und den Institutionen des politischen Lebens einer bestimmten Gemeinschaft ist das für sie von Natur aus Rechte greifbar und in seiner formenden Aktivität zu erkennen. Es darf nicht nur als Inhalt praktischen Denkens und als Gegenstand moralischer Reflexion betrachtet, sondern muß als formend-wirkende Macht in der politischen Gemeinschaft gesehen werden. Es liegt nahe, ihm die Rolle der „Energeia" zu übertragen, welche ihr Material formt und auf diese Weise das „Wesen" einer Sache bildet, welches von Aristoteles auch als deren „Natur" angesprochen wird. Für den, der in die Polis hineinwächst, sind die in ihr verwirklichten Formen des Denkens und der Praxis zunächst vor-bildlich und in diesem Sinne normativ. Sie nehmen nicht die Stellung abstrakter Normen ein, sondern spielen im Sinne von Energeia die Rolle formender K r ä f t e , deren gestaltende Wirkung sich in das „Material", in den Lernenden hineinbildet, so daß aus ihm ein tüchtiger, das natürlich Rechte in seinem Sein und seinen Handlungen darstellender Bürger wird. Daher wirkt sich das von Natur aus Rechte in den konkreten politischen Gemeinschaften aus: es bleibt nicht als idealer Sollensinhalt in der

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Abstraktion stehen. Die sittlichen Vorzüge in uns entstehen durch die Entfaltung unserer e i g e n e n Physis, welche sich an die Natur der Polis und ihre natürlich-rechten Lebensformen durch „Gewöhnung" angleicht. Sittliche Vorzüge gewinnen wir durch Formung unserer „Fähigkeiten" im gestaltenden Wirkungsbereich der politischen Sitte, der Bräuche und Institutionen. „Denn was man erst lernen muß, bevor man es ausführen kann, das lernt man, indem man es ausführt: Baumeister wird man, indem man baut und Kitharakünstler, indem man das Instrument spielt. So werden wir auch gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen, indem wir besonnen, und tapfer, indem wir tapfer handeln." 82 Die Natur des Individuums und diejenige der Polis sind voneinander nicht trennbar. Der Bürger als freier Einzelner wird nicht als das abstrakte, für sich gesetzte Individuum begriffen; er lebt nicht wie „ein Stein im Brettspiel" vereinzelt und aus allen Zusammenhängen gelöst das „Leben des Einzelgängers", sondern „mit Eltern und Kindern, mit seinem Weibe und überhaupt mit Freunden, Nachbarn und Mitbürgern". 8 3 Aristoteles stellt nicht auf die eine Seite das Sollen als Inhalt praktischer Erkenntnis und auf die andere den handelnden Menschen, der dieses Sollen in seinem eigenen Sein wie auch in seiner Welt zu realisieren hat. Vielmehr tritt die Norm als das von Natur Rechte in das Leben des Menschen von vornherein in der Rolle des praktischen Übens, Lernens, des Sich-Disziplinierens ein. „Denn durch das Verhalten in den Alltagsbeziehungen zu den Mitmenschen werden die einen gerecht, die andern ungerecht. Und durch unser Verhalten in gefährlicher Lage, Gewöhnung an Angst und Zuversicht, werden wir entweder tapfer oder feige. Dasselbe trifft zu bei den Regungen der Begierde und des Zorns: die einen werden besonnen und gelassen, die andern hemmungslos und jähzornig, je nachdem sie sich so oder so in der entsprechenden Lage benehmen. Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung." 8 4 In der gefestigten Haltung (Hexis) ist ein Zustand erreicht, in welchem die Vernunft Herrschaft über das Individuum gewonnen hat: man denkt hier an Überlegungen Kants zur „Achtung" und zum praktischen Sein. In dem durch die Begriffe Physis und Polis abgesteckten Horizont ist auch der Begriff von Praxis zu begreifen. Während Poiesis als Tätigkeit 82 83

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Nikomachische Ethik Buch II, 1103 a, 4 3 - 1 1 0 3 b, 3. (Übersetzung Dirlmeier). Aristoteles Politik 1 1253 a 7. Auch Nikomachische Ethik Buch 1,1097 b, 14 f., vgl.: J.Ritter, „ N a t u r r e c h t " bei Aristoteles, aus: Metaphysik und Politik (Studien zu Aristoteles und Hegel), Frankfurt 1969, S. 159. Nikomachische Ethik Buch II, 1103 b 18-27.

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bestimmt wird, bei der es um Herstellung von Produkten zu tun ist, muß Praxis als Entfaltung und Darstellung der Natur eines Wesens angesprochen werden. Auch den Pflanzen und den Gestirnen wird die Möglichkeit der Praxis zugesprochen: in dieser Beziehung legt sich der Gebrauch der Wendung „freie Natur" nahe, sofern freie Bewegungsmöglichkeiten eines Wesens als Voraussetzung seiner Praxisfähigkeit gelten. Von dieser „physischen" Freiheit her wird auch die Freiheit des Menschen, die sich in der politischen Praxis erfüllt, verstanden. 85 Praxis ist Entfaltung der Physis in einem Wesen, die sich als Geschichte vollzieht; 86 Aristoteles spricht sie auch als „Bewegung" an. 87 Derjenige, der seine der Natur fremden Zwecke, die etwa durch den Anspruch der Bedürfnisse gegeben sind, durch „Technik" realisiert, entfaltet nicht „Natur", sondern stellt poietisch her. Das Hervorbringen (Poiesis) hat ein Endziel außerhalb seiner Selbst: ist nicht Natur und vollzieht nicht Bewegung innerhalb der Physis. Dagegen: „. . . wertvolles Handeln ist selbst Endziel." 8 8 Der Physis eines Perikles, die in dessen sittlicher Einsicht und in dessen Blick dafür besteht, was für ihn selbst und für die Menschen wertvoll ist, entfaltet sich in dessen Praxis. Dessen Physis ist so beschaffen, daß sie als Praxis immer das „Vernünftige" bewirkt: dasjenige, was sich für die Natur des Handelnden selbst und der politischen Gemeinschaft, in der er lebt, als förderlich erweist. Auf Grund des Begriffs von Praxis ergeben sich Ansprüche für die Regierungsform: politische Gemeinschaft kann sich nur unter Freien entwickeln, unter solchen, welche die Praxismöglichkeiten ihrer freien Natur nicht gegenseitig durch Unterdrückung vernichten. 89

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„Das Leben ist Praxis, nicht Poiesis" vgl. Politik 1254 a 5. Zu der den Gestirnen und übrigen Lebenswesen prädizierten Praxis: De caelo 292 b 1. De caelo 288b 33. „Der aüßerste Zeitpunkt ist die Begrenzung jedes Praxisvollzuges." Eudemische Ethik Buch II, 1220 b, 27f. Hier geht es darum, den Weg der Handlung auf der Mitte zwischen den Extremen zu wählen, denn „Praxis ist Bewegung". Nikomachische Ethik Buch VI, 1140 b, 11 f. Wenn Praxis als Bewegung angesprochen wird und andererseits gute Praxis als Endziel, so könnte man daraus abnehmen, daß die Bewegung dieser Praxis als kreisartig (teleologisch) darzustellen wäre. An das astronomische Analogon der kreisförmigen, vollkommenen Bewegung, die der vollkommenen Natur eignet, wäre in diesem Zusammenhang zu erinnern. Politik 1295 b : Wenn die Gleichheit der Praxismöglichkeit nicht garantiert ist, so „verstehen die einen es nicht, zu regieren, sondern nur, sich wie Sklaven regieren zu lassen, und die andern sind nicht fähig, sich auf irgendeine Weise regieren zu lassen, sondern nur, despotisch zu regieren. Daraus ergibt sich ein Staat aus Sklaven und Herren, aber nicht aus

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Hegel hat in seinem Versuch, zwischen Moralität und Sittlichkeit, Sollen und Sein, individueller Freiheit und Staat, moralischer Reflexion und sittlicher Substanz zu vermitteln, Aristotelische Thesen mit der Absicht wieder aufgenommen, eine Gegenposition gegen die praktische Philosophie Kants aufzubauen. Er sieht die Ambivalenz des Schrittes, den Kant dadurch vollzogen hat, daß er der naturrechtlichen, auf Aristoteles zurückgehenden Tradition das Programm der Autonomie und der „Moralität" gegenübergestellt hat. Kant hat das praktische Subjekt aus Sitte und Brauch und gewachsenen Institutionen herausgelöst, um es für autonome Handlungsmöglichkeiten in Freiheit zu setzen und sich der überkommenen Sittlichkeit gegenüber zustimmend oder ablehnend verhalten zu können. Hegel wirft Kant vor, daß er mit dieser Emanzipation der moralischen Reflexion und dem von ihr zum Thema gemachten Sollen eine dominierende Stellung gegeben habe, statt das handelnde Individuum in die sittliche W i r k l i c h k e i t von Staat und Gesellschaft einzubauen bzw. zurück-zu-nehmen. Die Einseitigkeit der Moralität bestehe darin, die „äußere" Welt als das dem subjektiven Willen F r e m d e zu behandeln. Institutionen, in der Geschichte bewährte und angesehene Einrichtungen sowie moralische Lebensformen werden vom Standpunkt der Moralität aus als bloße Konventionen mit heteronomem Anspruch deklariert. Daraus resultiere, daß sich der Handelnde, der die Welt vom Standpunkt der Moralität aus beurteilt, Staat und Gesellschaft als fremde Mächte erfahren muß, die ihn konventionell beengen und unfrei machen. Hegel ist es bei seiner Absicht der Aufhebung der Moralität in die Sittlichkeit darum zu tun, dem Aristotelischen Gedanken der Physis und Praxis dadurch Rechnung zu tragen, daß er dem Handelnden Sicherheit und Festigkeit auf dem Fundament einer „geistigen" Substanz gibt. Die Sittlichkeit als gewordene Sitte in Staat und Gesellschaft spielt die Rolle einer „zweiten" Natur. Sie ist geschichtlich gewordene Physis, die dem Handelnden nicht nur Maßstäbe gibt, sondern ihm auch die Kraft verleiht, seine Pflichten zu erfüllen. Was sich ζ. B. in der Sitte des Miteinanderlebens und Miteinanderhandelns als Praxisstil herausgearbeitet hat, ist Maßstab und Fundament zugleich, auf dem der Handelnde das „Rechte" finden kann. Wer diesem Maßstab gemäß handelt, tut das Rechte, im Falle seiner Zuwider-

Freien; die einen von ihnen sind von Neid und die andern von Hochmut erfüllt, was beides sehr weit entfernt ist von freundschaftlicher Zuneigung und (wirklicher) staatlicher Gemeinschaft. Denn die Gemeinschaft ist eine Sache der freundschaftlichen Zuneigung; mit Feinden will man ja nicht einmal den gleichen Weg gehen."

328

Handlung in der Ausführung

handlung geschieht Unrecht. 9 0 Maßgebend ist, was in dem „an und für sich seienden, allgemeinen Willen" als Recht normiert ist. Wenn das Subjekt mit sich moralisch berät und reflektiert, so hat es sich eine „Bestimmung" geben zu lassen, deren Inhalt im „an sich seienden Willen" entspringt. „ W a s der Mensch tun müsse, w e l c h e s die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, — es ist nichts Anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist. Die Rechtschaffenheit ist das Allgemeine, was an ihn teils rechtlich, teils sittlich gefordert werden kann. Sie erscheint aber für den moralischen Standpunkt leicht als etwas Untergeordnetes, über das man an sich und andere noch mehr fordern müsse; denn die Sucht, etwas B e s o n d e r e s zu sein, genügt sich nicht mit dem, was das an und für sich Seiende und Allgemeine ist; sie findet erst in einer A u s n a h m e das Bewußtsein der Eigentümlichkeit." 91 Bei Hegel ist wie bei Aristoteles der Gedanke wichtig, daß der Handelnde sich selbst unter dem Einfluß einer formenden Kraft darstellt und entfaltet, die von der Natur (Physis) des Gemeinwesens auf ihn ausgeübt wird. Hegel beschreibt die Geschichte der Handlung als aus drei Phasen bestehend. Für die erste sieht er als maßgebend an, daß sich das praktische Denken einen „Gegenstand", den es „Zweck" nennt, vorhält und sich zur Realisierung dieses Zweckes entscheidet. Das Bewußtsein der Kluft zwischen praktischer Vorstellung des Zweckes und „vorhandener Wirklichkeit" ist dem zum Entschluß führenden praktischen Denken geläufig. Die zweite Phase, die Hegel als das „andere Moment" der dialektischen Bewegung des Handelns anspricht, ist die „ B e w e g u n g des als ruhend vorgestellten Zwecks, die Verwirklichung, als die Beziehung des Zwecks auf die ganz formelle Wirklichkeit, hiermit die Vorstellung des U b e r g a n g e s selbst, oder das M i t t e l . " 9 2 Als das dritte Moment des Aufbaus einer Handlungsgeschichte bezeichnet er den Zustand der Verwirklichung des Zweckes: jetzt erfährt sich der Handelnde in einer Situation, in welcher ihm das, was ihm zunächst als von ihm gedachter Zweck allein angehörte, in der Gestalt eines von ihm verschiedenen Wirklichen gegenübertritt. 90

91 92

In der Moralität herrscht die „reine Unruhe und Tätigkeit" des dauernden Reflektierens, so daß das praktische Bewußtsein von diesem Standpunkt aus vergeblich versucht, zwei Brücken zu überschreiten: die eine zum „Substantiellen des Begriffs" und die andere zum „äußerlich Daseienden". (Hegels Werke (Glockner) VII, S. 167). Grundlinien der Philosophie des Rechts (hg. von Hoffmeister 1956) § 150, S. 231. Phänomenologie des Geistes, Hegels Werke, Berlin 1832, 2. Aufl., S. 297.

Aristoteles und Hegel

329

Es geht hier darum, die Geschichte einer Handlung als dialektische Bewegung zu begreifen und dabei die Grenzen, die durch reflexionsphilosophische Ansätze angeblich Kantischer Provenienz gezogen wurden, zu überwinden. Die „verschiedenen Seiten" sollen in dieser dialektischen Entwicklung so „festgehalten" werden, daß sie nicht auseinanderfallen und „kein Unterschied hereinkommt": vermittelt sollen das Innere der „Individualität" und das Äußere des „Seins überhaupt", ebenso der Inhalt meines Willens (Zweck) mit dem schon verwirklichten Sein meiner Individualität werden, in der sich meine „ursprüngliche Natur" darstellt; desgleichen ist der Zweck mit der „vorhandenen Wirklichkeit" zu vermitteln, die nicht nur die Rolle des dem praktischen Denken fremd gegenüberstehenden Gegenstandes oder der unmittelbaren Natur spielen darf, sondern als schon vernunftdurchdrungen in Rechnung gestellt werden muß. Das Modell von Handeln, welches Hegel in diesem Zusammenhang vorschwebt, ist das der Hervorbringung eines „Werkes". Dieses legt einen Begriff von Handlung nahe, der als „produktiver" Handlungsbegriff angesprochen wurde. Die dialektische Entwicklung der Geschichte dieses Handelns mag in wesentlichen Punkten kurz angedeutet werden. Handeln ist „Werden des Geistes als B e w u ß t s e i n " : das Bewußtsein muß handeln, um im Vollzug seines Handelns Selbstbewußtsein zu werden. Nur aus seinem Wirken, seiner „Wirklichkeit" vermag es zu erfahren, was es „an sich ist". Das Individuum „kann daher nicht wissen, was es i s t , ehe es sich durch das Tun zur Wirklichkeit gebracht hat." 9 3 Die „ursprüngliche Natur" im handelnden Individuum wird von Hegel als Entelechie behandelt: ihr Tun „ist nämlich nur reines Übersetzen aus der Form des noch nicht Dargestellten in die des dargestellten Seins . . . " Die Entelechie der „ursprünglichen" individuellen Natur des handelnden Individuums zeigt denselben Charakter von Vernunft, den Kant seiner geschichtlichen Natur zugesprochen hat, der er freilich den Stellenwert einer „Idee" gegeben hat. Das handelnde Bewußtsein verhält sich daher im Sinne freier Notwendigkeit seiner eigenen individuellen Natur gemäß: es hat sich ,,. . . aus dem Herumtreiben in leeren Gedanken und Zwecken auf den ursprünglichen Inhalt seines Wesens zusammenzuhalten." 94 Das Interesse setzt den Inhalt, der in der ursprünglichen Natur der Individualität angelegt ist, als Zweck des Handelns ein. Interesse, Zweck des Handelns und Verwirklichung sind Momente eines einzigen Vollzuges, 93 94

Hegels Werke 1. c. II, S. 298. 1 . c. S. 298.

330

Handlung in der Ausführung

der Handlung heißt und der die Verwirklichung der handelnden Individualität ist. Dadurch wird sichtbar, daß Hegel hier den Begriff des produktiven Handelns im Auge hat: der Handelnde verwirklicht nach diesem Begriff in der Geschichte des Produzierens sich selbst. „Was es sei, das es tut, und ihm widerfährt, dies hat es getan, und ist es selbst; es kann nur das Bewußtsein des reinen Ubersetzens seiner selbst aus der Nacht der Möglichkeit in den Tag der Gegenwart, des a b s t r a k t e n A n s i c h in die Bedeutung des w i r k l i c h e n Seins, und die Gewißheit haben, daß, was in diesem ihm vorkommt, nichts anderes ist, als was in jener schlief."95 Das Individuum weiß, daß es sich selbst im Vollzuge des Produzierens verwirklicht und daß es „. . . also immer seinen Zweck erreicht": so kann es im Handeln von dieser Art nur Freude an sich erleben.96 Hegel hat die Sitution, die Kant in seiner Kritik an der naturrechtlichen Tradition geschaffen hat, scharf erkannt. Kant hat bei der Durchführung seines Autonomieprogramms das Subjekt angewiesen, sich dem autoritären Anspruch von Religion, Recht, Wissenschaft gegenüber zu verselbständigen und deren institutionell verbürgten Lehrinhalt vor den kritischen Richterstuhl der Vernunft zu bringen. Als Grunddevise der Kritik kann man den Satz formulieren: daß nichts anerkannt werden darf als dasjenige, was im Rahmen einer Selbstgesetzgebung der theoretischen und praktischen Venunft gerechtfertigt werden kann. Wir leben, so erklärt Kant, in einem Zeitalter der Kritik, dem sich alles zu unterwerfen hat: auch Religion ist bei all ihrem Heiligkeitsanspruch nicht immun und ebensowenig die Rechtsinstitutionen, die die Macht für sich haben. „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Duchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Anspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto ohne Zurückhaltung muß äußern können." (B 766/67) In der durch kritische Philosophie hergestellten Situation ist ein grundlegender, unvermeidlicher Dualismus angelegt, sofern durch sie das Sub95 96

1. c. S. 301. 1. c. S. 302.

Aristoteles und Hegel

331

jekt auf sich selbst gestellt wird. Es verfremdet sich den vom Richter „Vernunft" kritisch zu beurteilenden Inhalten. Es wird dadurch Dualismen ausgesetzt, die zur Geschichte unseres Denkens und Handelns gehören, aber auch zu überwinden sind. Kant hat diese Aufgabe, wie gegen das Urteil Hegels zu betonen ist, scharf gesehen. Zugleich hat er von kritischer Voraussetzung aus Wege zu ihrer Erfüllung zu gehen versucht, die in der vorliegenden Untersuchung markiert werden, soweit sie in den Bereich der Handlungstheorie gehören. Sicher konnte Hegel nur deshalb auf die Geltung der „Sittlichkeit" Staat, Gesellschaft und Institution vertrauen, weil Kant vor ihm als Anwalt wesentlicher Rechtsansprüche der bürgerlichen Gesellschaft auf Sinn-besitz durch kritische Rechtfertigung gegenüber Skepsis, Indifferentismus und Nihilismus gefestigt hatte. Aber die Erfahrungen des Bewußtseins im 20. Jahrhundert haben ergeben, daß das Zeitalter der Kritik nicht beendet ist. Kant hat gesehen, daß die sich auf ihre Autonomie berufende Vernunft die tradierten Institutionen in Religion, Recht und Wissenschaft als überholt und daher als unwirklich erklärt. Er sieht die Aufgabe der Vernunft, ihre eigene Gesetzgebung wirklich zu machen und zur H e r r s c h a f t über die Wirklichkeit zu kommen. Lehnt man es mit der Kritik ab, die Hegeische Behauptung der Identität von Vernunft und Macht anzuerkennen, so wird man fragen, wie unter kritischer Voraussetzung die Möglichkeiten für Vernunft gedacht werden müssen, um die Herrschaft über die Wirklichkeit zu gewinnen: es sei denn, daß eine Alternative zum Programm der Vernunft denkbar wäre.

Schriftenverzeichnis Einschlägige sonstige Veröffentlichungen zur Kant-Interpretation von Friedrich Kaulbach

Bücher Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant. Köln 1960 D e r philosophische Begriff der Bewegung. Studien zu Aristoteles, Leibniz und Kant. K ö l n / G r a z 1965 Philosophie der Beschreibung, (mit einem größeren Kant-Kapitel) K ö l n / G r a z 1968 Immanuel Kant. (Sammlung Göschen). Berlin 1969 Einführung in die Metaphysik (mit einem Kant-Kapitel) Darmstadt 1972 Ethik und Metaethik. (unter Berücksichtigung der praktischen Philosophie Kants) Darmstadt 1974

Aufsätze in Sammelwerken und Zeitschriften Erkenntnistheorie und Metaphysik Kants Beweis des „ D a s e i n s der Gegenstände im Raum außer m i r " . Kant-Studien Bd. 50 (1958/59), S. 323ff. D e r Begriff des Standpunktes im Zusammenhang des Kantischen Denkens. Archiv für Philosophie, Bd. 12 (1963), S. 14ff. Leibbewußtsein und Welterfahrung beim frühen und späten Kant. Kant-Studien Bd. 54 (1963), S. 464ff. D i e Kantische Lehre von Ding und Sein in der Interpretation Heideggers. Kant-Studien B d . 55 (1964), S. 194ff. Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant, in: Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth z u m 80. Geburtstag. Berlin 1966, S. 60ff. Kants Theorie der Dialektik. Kant-Studien 59. J g . (1968), S. 240ff. D i e Entwicklung des Synthesis-Gedankens bei Kant, aus: „Studien zu Kants philosophischer Entwicklung". Hildesheim 1968, S. 56ff. Kant und das Problem der Geisteswissenschaften. II Pensiero Vol. X I V (1969), S. 5 f f .

Schriftenverzeichnis

333

Theorie und Praxis in der Philosophie Kants. Philosophische Perspektiven Bd. 2 (1970), S. 168 ff. Kants transzendentale Theorie der Beschreibung, aus: „Der Methoden- und Theorienpluralismus in den Wissenschaften" (hg. von A. Diemer in Zusammenarbeit mit L. Geldsetzer und F. Rotter). Meisenheim/Glan 1971, S. 27ff. Dialektik und Theorie der philosophischen Methode bei Kant. Kant-Studien 64. Jg. (1973), S. 396 ff. Die copernicanische Denkfigur bei Kant. Kant-Studien 64. Jg. (1973), S. 30ff. Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des kantischen Denkens, aus: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln (hg. von G. Prauss). Köln 1973, S. 105 ff. Kants Theorie des Handelns. Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses. Mainz 1974, Teil III, S. 67ff. Die Copernicanische Wende als philosophisches Prinzip. Nachgewiesen bei Kant und Nietzsche, in: Nicolaus Copernicus zum 500. Geburtstag (hg. von F. Kaulbach, U . W . Bargenda u. J . Blühdorn), Köln 1973, S. 26ff. Die Legitimation der Metaphysik auf der Grundlage des Kantischen Denkens, aus: Metaphysik (Erträge der Forschung), Darmstadt 1977, S. 442 ff.

Naturphilosophie Das Raumproblem bei Kant und in der modernen Physik. Philosophia naturalis Bd. 6 (1961), S. 349ff. Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bei Kant. KantStudien 56. Jg. (1966), S. 430ff. M e t a p h y s i k der Natur, Weltidee und Prinzip der Handlung bei Kant. Zs. f. philos. Forsch. Bd. 30 (1976), S. 329ff. Die Dialektik von Vernunft und Natur bei Kant, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie (hg. von E. Heintel), Bd. X, 1977

Rechtsphilosophie und Geschichtsphilosophie Moral und Recht in der Philosophie Kants, aus: Recht und Ethik. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert (hg. von J . Blühdorn und J . Ritter) Frankfurt/M. 1969 Naturrecht und Erfahrungsbegriff im Zeichen der Anwendung der kantischen Rechtsphilosophie; dargestellt an den Thesen von P . J . A. Feuerbach, aus: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 1. Bd. (hg. von M. Riedel) Freiburg 1972, S. 297ff. Der Begriff der Freiheit in Kants Rechtsphilosophie, aus: Philosophische Perspektiven Bd. 5 (1973), S. 78 ff. Welchen Nutzen gibt Kant der Geschichtsphilosophie? Kant-Studien 66. Jg. (1975), S. 65ff.

334

Schriftenverzeichnis

Der Herrschaftsanspruch der Vernunft in Recht und Moral bei Kant. Kant-Studien 67 Jg. (1976), S. 390 ff. Analytische und transzendentale Begründung der Geschichtsschreibung, in: Perspektiven der Philosophie 1978 Das transzendental-juridische Grundverhältnis im Vernunftbegriff Kants und der Bezug zwischen Recht und Gesellschaft, aus: Recht und Gesellschaft. Fs. für H. Schelsky (Hg. von F. Kaulbach und W. Krawietz), Berlin 1978

Register (Das Hauptthema des Buches, das Prinzip Handlung, ist wegen seines häufigen Vorkommens nicht erwähnt. Schlüsselbegriffe der Kantischen Philosophie sind nur insoweit aufgenommen, als sie eine pointierte Beleuchtung erfahren.) Achtung 189, 199, 211 ff-, 240f., 283, 285, 325 Affiziertwerden 100 Analogie 69, 92 Analytische Philosophie 1 f., 46, 158 Anschauung 7, 34, 40ff., 57f., 61, 67, 119, 123, 299 Antinomie 114, 193ff., 253 Anwendung im transzendentalen Sinn 62 Apperzeption, praktische 162ff., 305 —, theoretische 51, 53, 78 Arbeitsethos, bürgerliches des Philosophen 128ff. Arbeitsprinzip, neuzeidiches 36f., 40 Ausführung, Handlung in der 259 ff. Autonomie, Selbstgesetzgebung der Vern u n f t 27, 109ff., 132, 184, 190f., 243, 277, 320, 330 f. Bedürfnis 148, 173 Bergpredigt 154 Beschreibung, transzendentale 51, 91 Bestimmungsgrund 154, 156, 162, 170, 206, 241, 254, 295, 306, 321 Bewegung, bei Aristoteles 326 - , bei Hegel 328 f. - , transzendentale 12f., 45, 48ff., 72, 76f., 88 Bild (s. auch Schema) 62, 85, 144 Böse, das radikale 235 ff. Charakter, intelligibler 205, 235f., 305, 308 Darstellung, schematisch-symbolisch 82 Dialektik, als Methode der Entscheidung 113 ff. - , praktische 203ff., 246ff., 252ff. - , transzendentale 3 2 f f „ 109,140,142,160, 302

bei Hegel 329 —, bei Schleiermacher 59 —, bei Stoikern und Epikureern 249 Dialog (s. auch Dialektik) 10, 102ff„ 119ff. Ding an sich selbst 310f„ 318 Disziplin der Vernunft 321 f. Dynamik 98 Empfindung, moralische 201 f. Entscheidung, Entscheidbarkeit 110 ff. - , praktische 162ff., 171 ff. Erfolg 150 f. Erkenntnis, praktische 295 Erklärung, erklären 109 f. Erscheinung 43, 118 —, in der praktischen Philosophie 293, 316ff., 303 Erweiterung, transzendentale 49ff., 140ff. Experiment der Vernunft 34, 122ff., 262 Faktum des moralischen Gesetzes 254 f. Fortschritt, Fortschreiten 244, 257, 271, 276, 283 —, als geschichtsphilosophisches Experiment 286 ff. Freiheit 150, 165, 193f., 253 - , Kausalität durch 208, 259, 300ff., 3 0 9 f „ 315 - , ihre Verwirklichung 198, 31 I f f . —, ihr innerer Widerstreit 254ff. Fundament 4, 6, 8, 10, 14, 19f., 28, 3 5 f „ 253 Funktion des Urteils 38ff., 60 Ganze, das 8f., 72ff., 254 Gefühl, Rolle des Gefühls in der praktischen Philosophie 129, 164ff., 201 f., 206, 227 Gegenstand, Gegenständlichkeit 41, 44, 48, 52, 54f., 66, 90, 102ff., 173, 169, 254

336

Register

Gegenwart (Präsenz) 305, 330 Gemeinschaft, des Denkens und Handelns 190 ff. —, der Handelnden 158 Gemeinsinn (sensus communis) 138 ff. Gesinnung, moralische 156f., 203ff., 249 Gerichtshof, innerer 209, 226 Geschichtsphilosophie 104ff., 271 Geschichtszeichen 307 Geschmacksurteil 137 ff. Gesellschaftsbildung 279 Gesetz, Gesetzgeber 26 ff. —, juridisch-ethisch 285 —, der praktischen Vernunft 152 ff. Gesinnung 156, 205 Gewalt 227, 230, 234 Gewissen 203ff., 226ff. Gewißheit 108 Glaube, vernünftiger 120 Glück, Glückseligkeit 147ff. —, Glückswürdigkeit 250f., 261 Grammatik, transzendentale 12 f. Grundsätze, praktische 206 G u t , Güter 155 G u t und Böse 160ff., 235ff. G u t , höchstes 130, 248f., 255, 263 G o t t 69f., 222, 254

—, praktische (s. Freiheit, Kausalität durch) Kommunikation 46ff., 52, 108ff. Konstellation, praktische 183ff., 292ff., 315 - , transzendentale 26ff., 38, 42, 49, 143f. Konstitution, transzendentale 41 ff. Konstruktion 41 ff., 74f., 93, 103 Konstruktivismus 93 f. Kraft, als philosophischer Begriff 5 ff., 13 ff., 222, 298 —, als physikalischer Begriff 99 Kultur, Kultivierung 181 f., 277, 279, 281, 283 Kunst 281 Leben, Lebenswelt 64, 81, 89, 94ff., 102 Legitimation, der Wehmetaphysik in praktischer Absicht 267 Leib, Leiblichkeit 30, 46, 50, 217, 256, 311 ff. List der Vernunft 106 Logik (Subjektlogik u. Prädikatlogik) 36ff., 81 Lust 162

„ I c h denke" 20, 25f., 35, 38f., 43f., 46, 53f., 63 , 72ff., 144, 167, 305 Idealismus, Lehrbegriff des transzendentalen 28, 42, 114, 139, 292 —, Widerlegung des 10, 25 Imperativ, kategorischer 152f., 171 ff., 309 Innen/Außen 5, 10, 13, 22, 117ff., 208, 239, 258, 323 Interesse 173, 198ff., 246, 257 Intuitionismus, ethischer 130

Machen, im Sinne von einigender Gegenstandskonstitution (s. auch Zusammensetzen, Synthesis) 55, 57, 137 Macht der Vernunft 167, 211, 227, 230 ff. Materie, des Begehrungsvermögens 212 - , der Natur 98 ff. - , des Sollens und Wollens 158, 294 Maxime 172 ff. Mechanik 99 Menschengeschlecht 277 Metaphysik, der Natur 96 ff, 127 —, als orientierendes und sinngebendes Wissen 91, 268 Methode, Paradoxon der praktischen 161 —, skeptische 115 —, Traktat von der 125 f. Möglichkeit 330 Moral, Philosophie der 225, 242, 247f., 251, 260, 320 —, als Herrschaftsverhältnis innerhalb des praktischen Subjekts 221 Moralität und Legalität 156, 186, 203 Moralisierung 201, 270, 283, 286 Mundus sensibilis und intelligibilis 196

Kausalität 1 f., 15, 17, 19f., 42, 46, 69, 79, 82, 84, 233, 297

N a t u r , freie und gefesselte 228, 271, 275, 326

Heautonom, Heautonomie 153ff., 257 Hermeneutik, kritische 69, 121, 239, H e r r und Knecht 217, 220ff. Herrschaft der Vernunft 195f., 203, 212ff., 231, 331 Heteronomie der Vernunft 139, 197, Hexis, gefestigte Haltung 325 H o f f n u n g 149, 2 4 4 f „ 253, 260, 286ff. Hypothese, der praktischen Vernunft

275 210, 211

265

Register —, geschichtliche 272 ff. —, intelligible 272 —, menschliche 240 ff. Natura archetypa 290 Naturzustand, des philosophischen Denkens 114 ff. - , und Krieg 116 Naturrecht 324 ff. Naturalismus 248, 272ff. Nihilismus 286, 331 Nomothetik 111, 114 f. Nötigung 225 ff. Notwendigkeit, in der Freiheit 117, 211, 229, 234, 237 Ontologie 3, 7, 10, 17, 2 0 f „ 23, 26 Orientierung 85, 90ff., 108, 128ff. praktische 157, 162, 187, 269, 274f. Perspektive 24, 30, 96, 117, 125f., 168f., 197, 248f., 252ff., 259, 279 Persönlichkeit, Person 218ff., 239f. Pflicht, Pflichtgesinnung 148ff., 156f. Phoronomie 97 Physis 236, 324 ff. Poiesis 325 f. Polis 324 Postulate der moralischen Welt 262 ff. Praxis 143ff., 317 —, bei Aristoteles und Hegel 323 ff. Produzieren, Produktion 35, 45ff., 72 , 300 Raum 7, 9ff., 22ff., 37, 42, 46, 50ff., 90ff., 103, 119, 143, 318 Realität der Außenwelt 100 ff. Recht(s), des Menschen 189 —, Metaphysik des 70 Philosophie des 185, 189, 292, 295 —, Anspruch der Vernunft auf Herrschaft 242 - , Prozeß der Vernunft 110 ff. - , Welt des 70 Reflexion 73 , 83 , 87, 211, 257 Reflexionsbegriffe, Amphibolie der 117 Religionsphilosophie 199, 201, 218, 234ff., 295 Revolution der praktischen Denkart 212ff., 242 ff. Richterfunktion der Vernunft 246 ff. Schema, praktisches 316 ff. - , Schematisierung 43ff., 63ff.

337

Schöpfung 310 Sein, praktisches 193, 201, 203ff., 234ff. Selbst, Selbstbestimmung und Freiheit 248, 322 —, Selbstsetzung 29 - , Selbstzweck 184f., 192 Selbstliebe, vernünftige 213 f. Selbstzufriedenheit 260 Sinn, äußerer/innerer 62, 79 des Handelns 288 Sittlichkeit, Hegels Begriff der 201, 323, 331 Spieltheorie 175 Sprachanalyse 12, 158 Stand des Denkens, Standpunkt 12, 26, 31, 34, 53f., 68, 82, 90, 108, 125, 137, 140 143ff., 162ff., 187, 194, 267, 306, 319 Strafe 159 f. Subjekt, drei Subjektbegriffe 21 ff. Substanz 3ff., 12, 99 —, in der praktischen Philosophie 298 Subsumtion, logische und transzendentale 61 f. —, durch Urteilskraft 43 Symbol, symbolisch 63ff., 68, 84ff., 321 Sympathieethik 166 Synthesis (s. auch Zusammensetzung) 11, 49ff., 54 System 191 Täuschung, Täuschungssituation der Vernunft 32, 109 Tradition 131, 277 Transzendentalphilosophie 3, 27, 34, 41 f., 44, 81 f., 98, 124 Trieb 173 Triebfeder 163f„ 167, 200, 204, 243 Tugendlehre 225 Übergang 56, 229 Unsterblichkeit der Seele 266, 270 Urteil, Urteilslogik 3, 38ff., 44, 64, 237 Urteilskraft 40 —, bestimmende und reflektierende 84, 87, 257f. Verbindung (s. Synthesis) 78 Verantwortung 304, 309 Verfassung, praktische V. des Subjekts 154, 200f., 253f. Vergegenwärtigung des Handelnden in der Handlung 308 ff.

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Register

Vornehm, der vornehme Ton in der Philosophie 132 ff. Vorsehung 290 Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeitsgesetze 105, 233 Welt, Außenwelt 10, 31 ff., 101 - , Beschreibung der 83ff., 107 - , Entwurf der 122f., 128, 142, 151, 171 - , Idee der 30ff., 96ff. —, als juridische Weltgesellschaft 152, 191 —, moralische 177 f. - , Perspektive der 110, 122, 197ff. - , Weltlauf 308 - , Weltraum 9, 16ff., 24, 67, 69 Wert, des Handelns 149 Widerspruch, in praktischer Absicht 176 ff. - , Widerstreit 112, 118

Wille, der geeinte 299 der gute 155ff., 201, 251 zur Macht 212, 217 Wissenschaftstheorie 41 Wohlfahrt (s. auch Glück) 147, 150, 155ff., 207, 252 Würde 190 Zeit als „Inbegriff" (s. auch Raum) 76, 80 Zurechnung 226 Zusammensetzung in transzendentaler Hinsicht (s. auch Synthesis) 48ff., 55, 62, 73 Zwang, moralischer und rechtlicher 216, 221, 224ff., 280 Zweck 183ff., 293 - , Reich der Zwecke 188 f. Zweckmittelrelation 161, 296