Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger [1 ed.] 9783428447497, 9783428047499

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Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger [1 ed.]
 9783428447497, 9783428047499

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 52

Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger

Von

Bernd von Maydell Rupert Scholz

Duncker & Humblot · Berlin

BERND VON MAYDELL, RUPERT SCHOLZ

Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 52

Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger

Von

Prof. Dr. Bernd von Maydell Freie Universität Berlin und

Prof. Dr. Rupert Scholz Universität München

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 8 428 04749 4

Vorwort Sozialversicherungs- und Sozialverfassungsrecht gestalten das System der gesetzlichen Krankenversicherung nach den Prinzipien einer funk­ tionsmäßig gegliederten, arbeitsteiligen sowie kooperativen Verantwor­ tung von Staat und Gesellschaft. Öffentliche und private Aufgaben­ träger sehen sich diesem System in gleicher Weise verpflichtet - zum Ziele und Nutzen einer ebenso funktionstüchtigen wie sozial- und frei­ heitsgerechten Krankenversorgung insgesamt. Wichtige und gesicherte Funktionen privater Eigenverantwortung liegen - system- wie ver­ fassungsgerecht - in den wirtschaftlichen Bereichen der Herstellung und des Vertriebs von Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Die Wirksam­ keiten dieser privatwirtschaftlichen Versorgungsleistungen sehen sich indessen immer häufiger durch Formen konkurrierender Eigenwirt­ schaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger bedroht. Die vorlie­ gende Studie untersucht die sozialversicherungs- und verfassungsrecht­ lichen Grenzen einer solchen eigenwirtschaftlichen Betätigung gesetz­ licher Krankenversicherungsträger anhand des besonders aktuellen Beispiels der Selbstabgabe von Sehhilfen durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen. Der Studie liegt ein Rechtsgutachten zugrunde, das die Verfasser in gemeinsamer wissenschaftlicher Verantwortung dem Zentralverband der Augenoptiker erstattet haben. Berlin / München, im Sommer 1980 Bernd von Maydell Rupert Scholz

Inhaltsverzeichnis

Teil A 11

Problemstellung

Teil B Sozialversicherungsrechtliche Grenzen der Selbstabgabe von Heil- und Hilfsmitteln durch Allgemeine Ortskrankenkassen

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I. Entwicklung und Streitstand zur kassenmäßigen Selbstabgabe von Brillen ................... ......................................... 13 II. Der rechtliche Handlungsspielraum der Ortskrankenkassen .. . ..... 15 1. Die Regelung des § 30 SGB IV .. . ... . . ...... . ... . . . . . ......... 15 a) Die Unterscheidung zwischen Geschäft und Aufgabe in § 30 Abs.1 SGB IV .............................................. 15 b) § 30 Abs. 1 SGB IV als Nachfolgevorschrift zu § 25 RVO ...... 16 c) Der spezielle Gesetzesvorbehalt für die Geschäfte i.S. des § 30 Abs.1 SGB IV ..................................... ; ........ 17 d) Bestätigung der engen Interpretation des § 30 Abs. 1 SGB IV .. 19 2. Die Bedeutung des § 17 SGB I

.......... . .......... . .......... 20

3. Gang der weiteren Untersuchung . ... . .... . . . . . ........ . . . ..... 21 III. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Abgabe von Kassenbrillen ............................... . ........................ 21 1. Die Abgrenzung von Aufgabe und Geschäft gern. § 30 SGB IV .. 21 2. Keine Ermächtigung für die Schaffung von Selbstabgabestellen im Sozialversicherungsrecht ........................................ 22 a) Die Aufgabenstellung in § 182 RVO . .... . . . . . . . . . . . . . . .. . .... 22 b) § 375 RVO: Keine Ermächtigungsnorm für Brillen ............ 26 c) Gewohnheitsrechtliche Ermächtigung?

............. . ........ 27

Inhaltsverzeichnis

8

3. Selbstabgabe durch Krankenkassen als notwendiges Erfüllungsgeschäft? ...................................................... 47 a) Ausgangspunkt für weitere Prüfung .............. . ......... 47 b) Der vom Gesetzgeber für die Versorgung mit Brillen vorgesehene Wege .................................................. 48 c) Zulässigkeit einer Selbstabgabe neben und trotz des Vertragssystems? .................................................... 51 lV. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Abgabe von Feinbrillen ............................................................ 55 1. Ausgangspunkt ................................................ 55 2. Versorgung mit Feinbrillen - keine Aufgabe der Krankenversicherung ...................................................... 56 3. Die Abgabe von Feinbrillen als Verstoß gegen weitere sozialver­ sicherungsrechtliche Grundsätze ................................ 59 a) Sachleistungsprinzip ........................................ 59 b) Versicherungsprinzip und Prinzip des sozialen Ausgleichs .... 59 c) Aushöhlung des Vertragssystems ............................ 61 V. Durchsetzungsmöglichkeiten

................... . ... . .............. 63

1. Ausgangspunkt ................................................ 63 2. Aufsichtsmaßnahmen .......................................... 64 3. Unterlassungsansprüche gegen die Allgemeinen Ortskrankenkassen ........................................................ 65 Teil C Verfassungsrechtliche Grenzen der Selbstabgabe von Heil- und Hilfsmitteln durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen

68

I. Verfassungsrechtliche Grundfragestellung zur Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen .............................................. 68 1. Allgemeines

................................................. . 68

2. Selbstabgabe als sozialversicherungsrechtliche Aufgabenerfüllung? 76 3. Selbstabgabe als erwerbswirtschaftliche oder sozialwirtschaftliche Tätigkeit? .................................................·...... 77 4. Gleichheit und Ungleichheit im Wettbewerb - Wettbewerbliche Auswirkungen der Selbstabgabe ................................ 82 5. Gesetzesvorbehalt, Wirtschaftsverfassung und konkrete Grundrechtskontrolle . . . . . . .. . . . . . . . . . • ... . ... . .................... .. 86

Inhaltsverzeichnis

9

II. Das Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung aus verfassungsrechtlicher Sicht .............................................................. 89

1. Der Gesetzesvorbehalt im SGB und seine verfassungsrechtliche Grundorientierung ............................................ 89 2. Sozialrechtlicher Gesetzesvorbehalt als umfassender Funktionsmaßstab ...................................................... 91 3. Sozialrechtlicher Gesetzesvorbehalt und wirtschaftliche Konkur­ renzbetätigung ................. ............................... 100 4. Zusammenfassung .............................................. 103 III. Selbstabgabe und grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung

104

1. Die wirtschaftsverfassungsrechtliche Ordnung des GG

104

2. Staatliche Eigenwirtschaft im System der offenen Wirtschaftsverfassung .................................................... 106 3. Folgerungen

112

IV. Selbstabgabe und Grundrechte .................................... 119

1. Grundpositionen

119

2. Das Grundrecht der gleichen Wettbewerbsfreiheit .............. 120 3. Die Garantie der Berufs- und Gewerbefreiheit aus Art. 12 GG 122 4. Die Eigentumsgarantie des Art.14 GG .......................... 127 5. Zusammenfassung V. Bezüge zum Wettbewerbsrecht und Bilanz

135 ........................ 136

1. Doppelnatur staatlicher Wettbewerbsteilnahme und Erfordernis rechtlicher Doppelkontrolle .................................... 136 2. Zusammenfassung

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TEIL A

Problemstellung Das gegebene System der gesetzlichen Krankenversicherung baut auf einem in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht differenzierten Gefüge kooperativer Verantwortung von Staat und Gesellschaft auf. Dieses System basiert sowohl auf der sozialstaatlichen Verantwortung für die Krankenversorgung als auch auf der privaten Eigenverantwortung und der - mit dieser Verantwortung zusammenhängenden - privatwirt­ schaftlichen Versorgung mit ärztlichen Leistungen, Krankenhauslei­ stungen sowie Arzneien und Heil- sowie Hilfsmitteln. Die privatwirt­ schaftliche Struktur der letzteren Bereiche wurzelt im freien Beruf des Arztes und Apothekers, im nicht nur staatlichen, sondern auch gesell­ schaftlichen Krankenhauswesen sowie in der prinzipiell privaten Or­ ganisation der Herstellung und des Vertriebs von Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Auf diesen privatwirtschaftlichen Grundvoraussetzungen baut die staatliche Krankenversorgung auf. Ihr strukturelles Grund­ prinzip liegt demgemäß in der Krankenversicherung und nicht in der unmittelbar-eigenen Versorgungsleistung. Soweit etwa staatliche Kran­ kenhäuser staatsunmittelbare Versorgungsleistungen erbringen, bedeu­ tet dies noch keinen Widerspruch; denn jene staatlichen Krankenhäuser fügen sich in das vorgenannte System ein, ohne einen allgemeineren Staatsanspruch auf eigene Versorgungsleistung oder gar ein staatliches Sozialleistungsmonopol zu reklamieren. Hat sich dieses System grundsätzlich bewährt, so mehren sich in der jüngsten Vergangenheit Tendenzen, die jenes Maß arbeitsteiliger Ge­ samtverantwortung in der Krankenversorgung zugunsten eines stärke­ ren Funktionsanspruchs öffentlich-rechtlicher Aufgabenträger in Frage stellen. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung neigen zu­ nehmend mehr dazu, über die von ihnen gesetzlich zu erbringenden Versicherungsleistungen hinaus auch in unmittelbarer Krankenversor­ gung Sachleistungen zu erbringen bzw. auch die Verantwortung für solche Leistungen in eigene Zuständigkeiten zu überführen. Die hieraus resultierenden Konflikte sowohl sozialrechtlicher als auch verfassungs­ rechtlicher Art sind evident. Denn sie markieren nicht nur punktuelle Funktionsstreitigkeiten; sie markieren vielmehr die Gefahr eines prin­ zipiellen Systembruchs, der das gesamte gegebene System gegliederter und kooperativer Verantwortung von Staat und Gesellschaft zu spren­ gen droht und damit auch an die Grundlagen der gegebenen Sozial­ verfassung greift. Das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip anerkennt

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A. Problemstellung

staatliche Alleinansprüche weder im Bereich der Sozialleistungen allge­ mein noch in dem der Krankenversorgung im besonderen. Das grund­ gesetzliche Sozialstaatsprinzip baut vielmehr auf einer ebenso gemein­ samen wie arbeitsteiligen Sozialverantwortung von Staat und Gesell­ schaft auf. Die staatliche Sozialverantwortung steht zwar in keinem definitiven Subsidiaritätsverhältnis gegenüber der gesellschaftlichen Eigenverantwortung; andererseits ermächtigt das Sozialstaatsprinzip keinen Träger öffentlicher Sozialleistungen zur Verstaatlichung oder faktischen Verdrängungskonkurrenz gegenüber intakten Formen ge­ sellschaftlicher Sozialverantwortung. Gefahren der letzteren Art drohen in der Krankenversorgung indessen dort, wo öffentlich-rechtliche Auf­ gabenträger versuchen, privatwirtschaftliche oder sonstig gesellschaft­ liche Verantwortlichkeiten zu verdrängen oder faktisch zu verstaat­ lichen - hieße dies nun Verstaatlichung freier Berufe wie des Arztes und des Apothekers, Verstaatlichung freier Krankenhäuser oder Ver­ staatlichung privatwirtschaftlich geleisteter Versorgung mit Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Formen solcher Verstaatlichung brauchen sich nicht der Kategorien etwa sozialisierender Maßnahmen zu bedienen; sie können auch auf faktischem (,,kaltem") Wege stattfinden - etwa mit­ tels Einsatzes wettbewerblicher Mittel (staatliche Verdrängungskon­ kurrenz gegenüber privatwirtschaftlichen Konkurrenten). Obwohl der­ art grundsätzliche Gefahren vorerst noch nicht allzu akut sind, mehren sich doch punktuelle Konflikte, die die grundsätzliche Problematik nicht nur verdeutlichen, sondern auch alarmieren sollten. Ein zentrales Beispiel für solche Konflikte liegt in der Selbstabgabe von Sehhilfen durch Allgemeine Ortskrankenkassen. Denn mit einer solchen Selbst­ abgabetätigkeit übernehmen die Träger der gesetzlichen Krankenver­ sicherung bereits die krankenversorgende Sachleistung in eigene Regie; sie errichten Konkurrenzbetriebe zum privaten Optikergewerbe und treten diesen so mit Funktionsansprüchen gegenüber, die das vorste­ hend skizzierte System prinzipiell gegliederter und kooperativer Ver­ antwortung zerstören. Die Träger der gesetzlichen Krankenversiche­ rung begnügen sich nicht mehr damit, dem Versicherten den Erwerb der benötigten Brille finanziell zu ermöglichen; sie beanspruchen die Belieferung des Versicherten mit Sehhilfen als unmittelbar eigene, wirtschaftliche Zuständigkeit. Die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Selbstabgabetätigkeit für den Beruf des Augenoptikers und sein pri­ vates Gewerbe liegen auf der Hand. Die nachfolgende Untersuchung setzt sich mit den sozial- und verfas­ sungsrechtlichen Problemen solcher eigenwirtschaftlichen Betätigungen gesetzlicher Krankenversicherungsträger anhand des konkreten Kon­ flikts der Selbstabgabe von Sehhilfen durch Allgemeine Ortskranken­ kassen auseinander.

TEIL B

Sozial versicherungsrechtliche Grenzen der Selbstabgabe von Heil- und Hilfsmitteln durch Allgemeine Ortskrankenkassen I. Entwicklung und Streitstand zur kassenmäßigen Selbstabgabe von Brillen Den Ortskrankenkassen - ebenso wie den anderen gesetzlichen Krankenkassen - obliegt gemäß § 179 Abs. 1 Ziff. 2 RVO unter anderem die Krankenhilfe. Zur Krankenhilfe gehört gemäß § 182 Abs. 1 Ziff. 1 lit. b RVO die Versorgung mit Brillen. Im Normalfall wird die Versor­ gung mit Brillen so vorgenommen, daß freiberufliche Optiker die Bril­ len an die Kassenmitglieder liefern, und die zuständige Kasse lediglich die Bezahlung übernimmt. Rechtsgrundlagen für diese Praxis sind Rahmenverträge zwischen Kassen bzw. Kassenverbänden und den In­ nungen der Augenoptiker (vgl. auch § 407 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Diese Verträge sehen vor, daß der einzelne Augenoptiker, der bestimmte per­ sönliche und fachliche Voraussetzungen erfüllt, zur Lieferung an die Versicherten auf Kosten der Krankenkasse berechtigt werden kann. Die Verträge enthalten weiter Einzelheiten über die Art und Weise, wie die Optiker ihre Leistungen zu erbringen haben, sowie über die Abrech­ nung, die gegenüber der Kasse erfolgt. Die Kasse erhält in den Verträ­ gen weitgehende Kontrollrechte eingeräumt; sie verpflichtet sich ihrer­ seits jedoch, die freie Wahl des Versicherten zwischen den berechtigten Optikern nicht zu beeinflussen. Bei der Lieferung von Brillen durch die Optiker an die Versicherten wird zwischen Kassenbrillen, die dem Versicherten als Kassenleistung ohne besonderes Entgelt gewährt werden, und sog. Feinbrillen unter­ schieden. Bei diesen Feinbrillen handelt es sich um Sehhilfen, deren Ausstattung über die Standardausführung bei den Kassenbrillen hin­ ausgeht. Gestell und/oder Gläser sind bei Feinbrillen an gehobenen Ansprüchen orientiert. Die Kassen zahlen dem liefernden Augenoptiker bei dieser Art von Brillen einen Betrag, der dem Wert einer zur Kor­ rektur der jeweiligen Fehlsichtigkeit erforderlichen Kassenbrille ent­ spricht. Den darüber hinausgehenden Geldbetrag entrichtet der Ver­ sicherte selbst an den Optiker.

14

B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

In den meisten Rahmenverträgen ist vorgesehen, daß Optiker solche Kassenbrillen in bestimmtem Umfange vorrätig haben und den Ver­ sicherten anbieten müssen. Im Gegensatz zu der aufgezeigten Praxis bedienen sich einzelne Orts­ krankenkassen auch eigener Einrichtungen zur unmittelbaren Beliefe­ rung der Versicherten mit Brillen. Nach einer Statistik gab es Ende 1970 bei den Ortskrankenkassen im Bundesgebiet und in Berlin (West) eine Selbstabgabestelle und drei optische Werkstätten (vgl. DOK 1971, S. 801). Über die Zulässigkeit dieser Selbstabgabestellen, die z. T. schon in der Zeit vor 1933 bestanden haben, ist es zwischen den Augen­ optikern und den Ortskrankenkassen häufig zu Auseinanqersetzungen gekommen. So ist die Augenoptikerinnung für den Bezirk Düsseldorf gegen die Selbstabgabestellen der AOK Düsseldorf immer wieder vor­ gegangen. In verschiedenen Eingaben an staatliche Stellen und auf dem Klagewege sind Standes- und Berufsvertretungen der Optiker mit ihrem Begehren, im Aufsichtswege eine Einstellung der Selbstabgabe zu erzwingen, nicht durchgedrungen. Zum Beispiel endete ein sozial­ gerichtliches Verfahren durch Urteil des Bundessozialgerichts vom 28. 4. 19671 • Hiermit wurde die Klage gegen die Aufsichtsbehörde u. a. mit dem Hinweis als unzulässig abgewiesen, es müsse den Klägern der Augenoptikerinnung für den Bezirk Düsseldorf und mehreren selb­ ständigen Augenoptikern - überlassen bleiben, die von ihnen ange­ nommene Beeinträchtigung ihrer Rechte durch die Selbstabgabestellen der AOK Düsseldorf gegen diese selbst - etwa im Wege der Unter­ lassungsklage - geltend zu machen. Im Jahre 1978 hat die AOK Düsseldorf zusätzlich zu ihrer seit langem bestehenden Selbstabgabestelle eine neue im Ortsteil Rath eingerich­ tet. Außerdem ist im Oktober 1978 von der Ortskrankenkasse des Krei­ ses Leer eine eigene Selbstabgabestelle geschaffen worden. Die Selbst­ abgabestellen werden von den Ortskrankenkassen als eigene Betriebe geführt; dies geschieht teilweise in Räumen der Krankenkasse. Die Selbstabgabestellen liefern sowohl Kassenbrillen als auch Feinbrillen. Die Lieferung erfolgt nur an die Mitglieder der jeweiligen Kasse. Die Selbstabgabestellen haben eine Auswahl an verschiedenen Bril­ lengestellen vorrätig und sind auch in der Lage, an ihre Versicher­ ten Gläser von einfachem Einstärkenglas bis zu den Mehrstärkenglä­ sern, Kunststoffgläsern, entspiegelten und superentspiegelten Gläsern, getönten und farbvariablen Gläsern zu liefern. Die Abgabe von Fein­ brillen erfolgt zu Preisen, die erheblich unter denen der selbständigen Augenoptiker liegen. In den Selbstabgabestellen können die Mitglieder der AOK sowie ihre mitversicherten Familienangehörigen ihre Seh­ schärfe durch dort vorhandene Geräte regelmäßig überprüfen lassen. 1 BSGE 26, 237.

II. Der rechtliche Handlungsspielraum der Ortskrankenkassen

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Die Ortskrankenkassen weisen auf ihre Einrichtungen in Informa­ tionsblättern sowie in Merkblättern, die für die Versicherten bestimmt sind, und in Anzeigen hin. Diese Hinweise werden immer wieder mit dem Appell verbunden, durch die Inanspruchnahme der Selbstabgabe­ stellen zur Kostendämpfung beizutragen (so z. B. ein Merkblatt der AOK Düsseldorf). Die Augenoptiker wehren sich gegen die Einrichtungen dieser Selbst­ abgabestellen. Sie haben zu diesem Zwecke Klage vor dem Landgericht Düsseldorf und dem Landgericht Aurich erhoben. Mit dieser Klage be­ gehren sie von den jeweiligen Ortskrankenkassen die Unterlassung der Abgabe von Kassen- und Feinbrillen, wobei hilfsweise dieses Begehren auf die Feinbrillen beschränkt wird. Die Klagen sind in erster Instanz mit Urteilen vom 16. 8. 1 978 (LG Düsseldorf, AZ 12 0 168/78) und vom 28. 6. 1978 (LG Aurich, AZ 2 0 350/78) abgewiesen worden. In zweiter Instanz hat das OLG Oldenburg (1 U 197/78) mit Urteil vom 3. Januar 1980 unter Abänderung der Entscheidung des LG Aurich die Allgemeine Ortskrankenkasse für den Kreis Leer-Ostfriesland ver­ urteilt, die Abgabe von Feinbrillen zu unterlassen. Soweit es die Kas­ senbrillen anbelangt, blieb es dagegen bei der Klageabweisung. Demgegenüber hat das OLG Düsseldorf die Entscheidung des Land­ gerichts Düsseldorf mit Urteil vom 22. 5. 1980 (AZ 2 U 137/78) in vollem Umfang bestätigt.

II. Der rechtliche Handlungsspielraum der Ortskrankenkassen 1 . Die Regelung des § 30 SGB IV

Die Ortskrankenkassen haben, wie alle Versicherungsträger, keine Allkompetenz, wie sie z. B. den Gemeinden zukommt1a . Vielmehr sind die Ortskrankenkassen auf die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben beschränkt. Dieser allgemein anerkannte Grundsatz, der früher durch § 25 RVO a. F. normiert wurde, ist nunmehr im § 30 SGB IV nieder­ gelegt. Gern. § 30 Abs. 1 SGB IV dürfen die Versicherungsträger „nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zuge­ lassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten verwenden". a) Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen Geschäft und Aufgabe. Nach der gesetzlichen Formulierung könnte man folgern, daß der in 1 a Zur Allkompetenz der Gemeinden vgl. etwa : Maunz, in : Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Stand Juli 1978, Art. 28 Rdnr. 60; Krause, in : Gemeinschaftskommentar zum SGB IV, 1978 (GK-SGB IV) § 30 Rz. 5.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

dieser Vorschrift ausgesprochene Gesetzesvorbehalt nur für die Auf­ gaben gilt, nicht aber für die Geschäfte, d. h. die Realisierung der Auf­ gaben. Das würde bedeuten, daß alle die Geschäfte zulässig sind, die der gesetzlichen Aufgabe der Sozialversicherungsträger dienen2 • Dem­ gegenüber wird jedoch eingewandt, daß § 30 Abs. 1 SGB IV eine so weitgehende Freistellung der Sozialversicherungsträger hinsichtlich der von ihnen zu tätigenden Geschäften nicht statuieren könne. Viel­ mehr müßten Geschäft und Aufgabe in einem engen Zusammenhang dergestalt gesehen werden, daß auch für die Geschäfte jeweils eine ge­ setzliche Ermächtigung vorliegen müsse. In diesem Sinne setzt z. B. Friede3 Aufgaben und Geschäfte gleich. Damit übereinstimmend spre­ chen Hauck / Haines4 allgemein von „Aktivitäten" der Sozialversiche­ rungsträger, die in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Dieser Ansicht hat sich auch das OLG Oldenburg angeschlossen, wenn es ausführt, ein Handeln der Versicherungsträger bedürfe stets der Rechtfertigung aus dem Gesetz5 • Ebenso sieht Zacher6 in § 30 I SBG IV eine „generelle Schranke für das Verwaltungshandeln der Sozialver­ sicherungsträger". b) Bei der Interpretation des § 30 Abs. 1 SGB IV ist die Entstehungs­ geschichte zu berücksichtigen. Durch diese Vorschrift sollte § 25 Abs. 1 und 3 RVO ersetzt werden. In § 25 Abs. 3 RVO a. F. hieß es aber aus­ drücklich, daß die Versicherungsträger nur Geschäfte übernehmen dürfen, die ihnen das Gesetz überträgt. § 25 RVO a. F. geht zurück auf § 62 Abs. 2 und 3 des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. 7. 1 899 (RGBI. S. 393) und vergleichbare Bestimmungen im Krankenversiche­ rungsgesetz und Unfallversicherungsgesetz7 • Durch die Neuformulie­ rung in § 30 Abs. 1 SGB IV wurde lediglich die Führung von Geschäf­ ten und die Verwendung der Mittel zusammengefaßt und diese be­ schränkt auf die gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Auf­ gaben. Daß damit keine inhaltlichen Änderungen gegenüber der bis2 So etwa das LG Düsseldorf in seinem Urteil vom 16. 8. 1978 Az. 12 0 168/ 78, S. 24 : Die Vorschrift enthalte die Berechtigung der Krankenkassen, die vom Gesetzeszweck gedeckten Geschäfte wahrzunehmen. Ähnlich auch bei Peters, Sozialgesetzbuch, Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversiche­ rung, 1977, § 30 Anm. 3 (S. 319 f. ). 3 Friede, Verfassung der Träger der Sozialversicherung, BlStSozArbR 1977, 96. 4 Hauck / Haines, Sozialgesetzbuch, SGB IV/1, Kommentar, Stand 1977, K § 30 Rz. 3. 5 Urteil v. 3. 1. 1980, Az. 1 U 197/78, S. 15. Davon weicht das Gericht aber ab, wenn es ausführt, aus der Sonderregelung der RVO könne nicht herge­ leitet werden, daß die Selbstabgabe von Brillen nur bei ausdrücklicher Rege­ lung zulässig wäre (S. 15). 8 Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst, 1980, S. 27, vgl. auch S. 24. 7 Krause, in : GK-SGB IV, § 30 Rz. 2.

II. Der rechtliche Handlungsspielraum der Ortskrankenkassen

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herigen Regelung bezweckt waren, ergibt sich schon aus der Begrün­ dung des Regierungsentwurfs, wonach „Abs. 1 die bisherige Regelung des § 25 Abs. 1 und 3 RVO im Grunde übernimmt" 8 • Demgemäß ist auch in der Literatur9 allgemein anerkannt, daß die Neuregelung sachlich mit dem bisherigen Recht übereinstimmt. Die gegenteilige Auffassung des Landgerichts Düsseldorf 10 ist weder mit dem Gesetzeswortlaut noch mit den Materialien vereinbar. Eine grundlegende Unterscheidung zwischen Aufgaben und Geschäf­ ten ist mit dieser Kontinuität der gesetzlichen Regelung unvereinbar. Dasselbe Ergebnis ergibt sich im übrigen auch daraus, daß eine exakte Trennung zwischen Geschäft und Aufgabe kaum möglich ist. Jedes Geschäft, das durch einen Sozialversicherungsträger geführt wird, ist ein Stück Realisierung der gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelasse­ nen Aufgabe. So ist das System kassenärztlicher Versorgung und die Mitwirkung der Krankenkassen daran (§§ 368 ff. RVO) sicherlich eine Aufgabe i. S. des § 30 SGB IV, gleichzeitig aber auch ein Geschäft, wenn man die Krankenversorgung (§§ 179, 182 RVO) als maßgebende Aufgabe ansieht. Es liegt also eine Stufenfolge verschiedener Geschäfte und Aufgaben vor, bei denen diese Begriffe durchaus austauschbar sind. Daraus folgt, daß auch für die Geschäfte der Krankenkassen der Vorbehalt des Gesetzes, wie er in § 30 Abs. 1 SGB IV speziell für die Sozialversicherungsträger ausgesprochen wird, gelten muß. c) Wenn der Gesetzeswortlaut neben den Aufgaben auch die Ge­ schäfte nennt, einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt aber nur für die Aufgaben vorsieht, so kann der Sinn einer solchen Formulierung nur darin bestehen, daß nicht stets für jedes einzelne Geschäft eine beson­ dere ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung gegeben sein muß. Viel­ mehr ist es denkbar, daß der Gesetzgeber nur die Aufgabe bezeichnet. Dadurch wird, ohne daß dies ausdrücklich ausgesprochen werden muß, der Sozialversicherungsträger zu den Geschäften ermächtigt, die zur Erfüllung dieser Aufgabe notwendig sind. Daß eine Notwendigkeit vorliegen muß und nicht bereits eine Geeignetheit ausreicht, ergibt sich aus dem engen Zusammenhang, den der Gesetzgeber in § 30 Abs. 1 SGB IV zwischen Geschäft und Aufgabe geknüpft hat. Er hat dies da­ durch zum Ausdruck gebracht, daß er von „Geschäften zur Erfüllung" spricht. Jede andere Interpretation würde dem Erfordernis des GeBT-Drucks. 7/4122, S. 35. Vgl. nur : Krause, in: GK-SGB IV, § 30 Rz. 1; Hauck / Haines, SGB IV/1 K § 30 Rz. 2 ; Menard bei Jahn, Sozialgesetzbuch für die Praxis, 1976, § 30 SGB IV Rdnr. 1 ; Krauskopf / Baier, in : Soziale Krankenversicherung, Kom­ mentar, Stand August 1978, § 30 SGB IV Anm. 1 ; Friede, Verfassung der Träger der Sozialversicherung, BlStSozArbR 1977, S. 96; Gurgel, in: SGB­ SozVers-GesKomm., Stand Oktober 1977, IV § 30 SGB Anm. 1 . 1 0 Urteil des Landgerichts Düsseldorf v. 1 6 . 8. 1978 Az. 12 O 168/78, S . 2 2 f. 8

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2 von Maydell / Scholz

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

setzesvorbehalts nicht gerecht werden und unberücksichtigt lassen, daß j edes Geschäft zugleich ein Stück Realisierung der Aufgabe ist, was im früheren § 25 Abs. 3 RVO a. F. eindeutig zum Ausdruck kam. Der So­ zialversicherungsträger kann die Ermächtigung zu einem Geschäft auch dadurch erlangen, daß das Geschäft zur Erfüllung der Aufgabe erforderlich ist. Ein solcher Verzicht auf eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für „Geschäfte zur Erfüllung" ist j edoch nur dann möglich, wenn der Gesetzgeber nicht die Art und Weise der Erfüllung festgelegt hat; in diesem Falle ist für andere als die gesetzlich vorge­ sehenen Erfüllungsgeschäfte kein Raum 11 . § 30 Abs. 1 SGB IV würde verkannt, wenn man in dieser Vorschrift selbst eine Ermächtigungsgrundlage sehen wollte1 2 . Vielmehr be­ schränkt sich der Regelungsgehalt dieser Norm auf die Aussage, daß Geschäftsführung und Mittelverwendung nur zur Erfüllung der ge­ setzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben erfolgen dürfen. Die Norm spricht damit die Notwendigkeit einer Ermächtigung aus, sie formuliert also den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. Dies bedeutet, daß ein Geschäft nicht bereits deshalb zulässig sein kann, weil es zur Erfüllung einer vorgeschriebenen Aufgabe geführt wird. So ist z . B . eine Selbstabgabe als Geschäft i n Bezug auf die Abgabe „Versorgung mit Brillen" vorstellbar; allerdings ist damit noch nichts darüber ge­ sagt, ob für dieses Geschäft eine Ermächtigung vorliegt und ob es auch rechtmäßig ist. Die Rechtmäßigkeit des Geschäfts beurteilt sich nach Bestimmungen außerhalb des § 30 SGB IV. Demgemäß muß die Prüfung der Recht11 I n dieser Auslegung sieht Rohwer-Kahlmann (Die Sozialleistung der „Versorgung mit Brillen" (§§ 179 Abs. 1, 182 Nr. 1 lit. b, 182 Abs. 2 RVO) als gesetzliche Hoheitsaufgabe der Krankenkassen (§ 225 RVO) und die Zulässig­ keit ihrer Erfüllung durch kasseneigene Abgabenstellen, ZSR 1 980, 197 ff., 231) u. a. einen Widerspruch zur inhaltlichen Kontinuität von § 25 RVO und § 30 SGB IV. Er läßt indes unberücksichtigt, daß beide Bestimmungen immer­ hin unterschiedliche Formulierungen aufweisen ; die vorgenommene Ausle­ gung versucht, den Vorbehalt des Gesetzes mit der Vielzahl möglicher Geschäfte bei dem präziser gefaßten § 30 SGB IV in Einklang zu bringen. Anders freilich Rohwer-Kahlmann (ZSR 1980, 204, 217, 226, 235, 259 ff.), der als Folge der Sachleistungsverpflichtung eine „umfassende Selbstverwal­ tungskompetenz" annimmt und damit im Ergebnis überhaupt keine Schran­ ken mehr für die Art der Versorgung mit Brillen kennt. Diese Interpretation ist wegen ihrer Unbestimmtheit mit dem Vorbehalt des Gesetzes nicht vereinbar. 12 Diesem Trugschluß unterliegt das OLG Düsseldorf (Urteil v. 22. 5. 1980 2 U 137/78 - S. 17 ff. der Gründe), wenn es aus § 30 SGB IV die Zulässigkeit der Selbstabgabe folgern will, da der Gesetzgeber mit Erlaß dieser Vorschrift die bisherige Praxis der Selbstabgabe anerkannt habe. Tatsächlich spricht § 30 SGB IV nur den Vorbehalt des Gesetzes aus. Demgemäß ist das mate­ rielle Sozialversicherungsrecht daraufhin zu überprüfen, ob es eine Ermäch­ tigung zur Selbstabgabe vorsieht. Diese Prüfung unterläßt das OLG Düssel­ dorf ganz. Wie hier dagegen Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesund­ heitsdienst, 1 980, S. 27.

II. Der rechtliche Handlungsspielraum der Ortskrankenkassen

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mäßigkeit zur Führung eines Geschäfts unter dem Gesichtspunkt des § 30 Abs. 1 SGB IV in drei Stationen erfolgen: (1) Welche Aufgabe soll erfüllt werden? (2) Ist das Geschäft nach sonstigem Recht rechtsmäßig? (3) Ist das Geschäft ein solches zur Erfüllung der gesetzlich bestimmten Aufgaben? Der von § 30 Abs. 1 SGB IV bestätigte Grundsatz des Gesetzesvorbe­ halts wird auch nicht dadurch gelockert, daß der Gesetzgeber von gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben spricht. Unter gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben versteht man die den Versiche­ rungsträgern als Pflichtaufgaben auferlegten Leistungen, z. B. die Re­ gelleistungen der Krankenkassen13 • Zu den zugelassenen Aufgaben gehören insbesondere die durch die Satzung bestimmten Mehrleistun­ gen sowie alle Ermessensleistungen 14 • Demgegenüber will das Land­ gericht Düsseldorf 15 das Kriterium der zugelassenen Aufgaben dahin­ gehend interpretieren, daß damit auch die zur Wahrnehmung zwar nicht ausdrücklich übertragenen aber vom Gesetzeszweck gedeckten Aufgaben erfaßt würden. Dazu gehörten alle notwendigen Geschäfte. Damit wird der Begriff der gesetzlich zugelassenen Aufgaben j edoch verfälscht. Es handelt sich dabei, wie bei den satzungsmäßigen Mehr­ leistungen und den Ermessensleistungen, um solche Leistungen, bei denen das staatliche Recht die Erfüllung durch die Versicherungsträger freistellt, die Pflicht zur Erfüllung aber aus der Übernahme einer Aufgabe durch die Satzung folgen kann 1 6 • Die Zulassung einer Aufgabe erfordert damit jedenfalls ihre Erwähnung im Gesetz, nicht allein ein Übereinstimmen mit dem Gesetzeszweck. d) Die Richtigkeit dieser Interpretation des § 30 Abs. 1 SGB IV, die auch für Geschäfte grundsätzlich eine Ermächtigung fordert, wobei j e­ doch die Ermächtigung im konkreten Falle durch die Erfüllungsfunk­ tion begründet werden kann, wird dadurch bestätigt, daß der Gesetz­ geber im SGB keineswegs, wie fälschlich das Landgericht Düsseldorf1 7 meint, die Sozialversicherungsträger freier als früher stellen wollte. Ganz im Gegenteil hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des § 3 1 SGB-AT zum Ausdruck gebracht, daß die Sozialversicherungsträger streng an den Vorbehalt des Gesetzes gebunden sein sollen. Der Gesetz­ geber hat sich damit der Meinung angeschlossen, die für alle MaßSo Gurgel, in : SGB-SozVers-GesKomm., IV § 30 SGB Anm. 2. Krause, in : GK-SGB IV § 30 Rz. 8; Hauck / Haines, SGB IV/1 K § 30 Rz. 4; Gurgel, in : SGB-SozVers-GesKomm., IV § 30 SGB Anm. 3. 15 Urteil des Landgerichts Düsseldorf v. 16. 8. 1978 Az. 12 0 168/78, S. 23. 18 Hauck / Haines, SGB IV/1 K § 30 Rz. 4. 17 Urteil des Landgerichts Düsseldorf v. 16. 8. 1978 Az. 12 0 168/78, S. 23 f. 13

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nahmen der Verwaltung eine gesetzliche Rechtsgrundlage fordert18 • Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß in Abweichung dieser allge­ mein für das Verhältnis von Sozialleistungsträgern zu Sozialleistungs­ empfängern in § 31 SGB-AT getroffenen Regelung in § 30 SGB IV für Sozialversicherungsträger eine abweichende Bestimmung geschaffen werden sollte. Diese Interpretation des § 30 SGB IV steht im übrigen allein in Über­ einstimmung mit der modernen, am Grundgesetz orientierten Auf­ fassung von der Stellung öffentlich-rechtlicher Körperschaften in un­ serer Rechts- und Wirtschaftsordnung. Dies wird im einzelnen im Teil C des Gutachtens dargelegt, so daß an dieser Stelle weitere Ausführungen dazu sich erübrigen. 2 . Die Bedeutung des § 1 7 SGB I

Rohwer-Kahlmann mißt u. a. § 1 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB I für die Beurtei­ lung der Zulässigkeit der Selbstabgabe entscheidende Bedeutung bei: Der Sachleistungsverpflichtung der Kasse entspreche seit j eher auch eine weite Selbstverwaltungskompetenz, im Rahmen der Gesetze alles zu tun, alles zur Bedarfsbefriedigung und zur Ausführung der Sozial­ leistungen notwendige durchzuführen; ihnen sei es von daher frei­ gestellt, darüber zu entscheiden, wie die Sachleistungsverpflichtung erfüllt werden solle und zwar auch durch Eigeneinrichtungen19 • Hiergegen ist jedoch anzuführen, daß auch § 1 7 SGB I die Regelung des § 30 SGB IV nicht außer Kraft setzt20 ; losgelöst von § 17 SGB I bestimmt sich nach § 30 I SGB IV in Verbindung mit Spezialvorschrif­ ten (z. B. der RVO), welche von mehreren möglichen Aktivitäten zur Durchsetzung des Sozialleistungsrechts erlaubt sind. Aus § 17 I SGB I ergibt sich lediglich der Grundsatz, daß mit dem Anspruch des Sozial­ leistungsberechtigten auch eine entsprechende Pflicht des Leistungs­ trägers zur Leistung korrespondiert21 • Zusammenfassend ist festzustellen, daß auch für die Geschäfte der Ortskrankenkassen der Gesetzesvorbehalt, wie er in § 30 Abs. 1 SGB IV ausgesprochen ist, gilt. Dies bedeutet, daß im Sozialversicherungsrecht eine Ermächtigung der Krankenkassen für die Errichtung von Selbst­ abgabestellen vorhanden sein muß. Fehlt es an einer ausdrücklichen Ermächtigung, so ist eine Selbstabgabe nur dann zulässig, 18 Peters, Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil, 1976 (Stand März 1979) § 3 1 Anm.4. 1 9 Rohwer-Kahlmann (s. Fn. 1 1), ZSR 1980, 197 ff., 207 und passim. 20 Vgl. Zacher, Krankenkasse oder nationaler Gesundheitsdienst, 1980, S. 21. 21 Vgl. Schellhorn, in : Burdenski / v.Maydell / Schellhorn, SGB-AT § 17 SGB I Rdnr. 5 - 7, 12.

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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(1) wenn der Gesetzgeber keine anderen Wege für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben genannt hat, (2) die Selbstabgabe zwingend erforderlich ist, um die gesetzliche Auf­ gabe zu erfüllen, und (3) der Selbstabgabe keine gesetzlichen Hindernisse entgegenstehen. 3. Gang der weiteren Untersuchung

Aus dem gekennzeichneten Ansatz, wie er aus § 30 SGB IV gewonnen worden ist, ergibt sich das weitere Vorgehen im Rahmen dieses Gut­ achtens. Zuerst ist zu untersuchen, inwieweit im Sozialversicherungs­ recht eine Ermächtigung zur Schaffung von Selbstabgabestellen ent­ halten ist. Erst danach stellt sich, soweit sich eine Ermächtigung nicht nachweisen läßt, die Frage, ob Selbstabgabestellen dadurch gerecht­ fertigt werden können, daß nur durch sie die gesetzlich fixierte Auf­ gabe der Versorgung mit Sehhilfen gewährleistet würde. Dazu bedarf es einer Prüfung, welchen Weg das Sozialversicherungsrecht regelmäßig für die Versorgung mit Sehhilfen vorsieht. Schließlich wird zu erwägen sein, ob die Selbstabgabestellen, soweit sie nicht als regelmäßige Form der Versorgung mit Sehhilfen anzusehen sind, neben einer solchen regelmäßigen Form doch notwendig sind, um den Versorgungsauftrag der Kassen zu erfüllen. Da die Argumentationslage für die Kassen- und die Feinbrillen eine unterschiedliche ist, wird die nachfolgende Untersuchung getrennt für Kassenbrillen einerseits und Feinbrillen andererseits erfolgen.

III. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Abgabe von Kassenbrillen 1 . Die Ab grenzung von Aufgab e und Geschäft gem. § 30 SGB IV

§ 30 Abs. 1 SGB IV unterscheidet, wie gezeigt worden ist, zwischen Aufgabe und Geschäft. Da die Bindung an den Gesetzesvorbehalt für die Aufgaben der Sozialversicherungsträger eine engere ist, stellt sich die Frage, ob die Einrichtung von Selbstabgabestellen als Aufgabe oder als Geschäft der Kassen anzusehen ist. Es ist dargelegt worden, daß eine Stufenfolge verschiedener Aufgaben denkbar ist, bei der die jeweilig niederrangige Aufgabe als Geschäft zur Realisierung der hö­ herrangigen Aufgabe bezeichnet werden könnte. So gesehen ließe sich auch die Einrichtung von Selbstabgabestellen als potentielle Aufgabe bezeichnen, die dann schon als solche Aufgabe gern. § 30 SGB IV einer entsprechenden Ermächtigung bedürfte. Bezogen auf die primäre Auf-

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gabe der Krankenversorgung stellt sich jedoch die Selbstabgabe als Geschäft zur Realisierung dieser primären Aufgabe dar. Davon soll nachfolgend ausgegangen werden. Dabei ist es für die Zwecke der sozialversicherungsrechtlichen Erörterung nicht entscheidend, ob das Tätigwerden der Ortskrankenkassen, die Selbstabgabestellen einrich­ ten, dem Fiskalbereich oder dem Verwaltungsprivatrecht zuzuordnen ist. Diese Frage, die für die verfassungsrechtliche Wertung bedeutsam ist, wird in Teil C des Gutachtens untersucht werden. 2. Keine Ermächtigung für die Schaffung von Selbstabgab estellen im Sozialv ersicherungsrecht22 a) Eine Ermächtigung zur Schaffung von Selbstabgabestellen für Sehhilfen könnte sich aus § 182 Abs. 1 RVO ergeben23 • Eine Auslegung dieser Vorschrift nach dem Wortlaut unter dem Gesichtspunkt, ob diese Bestimmung die Selbstabgabe zuläßt, kann allenfalls ansetzen bei der Formulierung „Versorgung mit . . . Brillen" in § 182 Abs. 1 Nr. 1 lit. b RVO. Die entsprechende Bestimmung des § 6 des Kranken­ versicherungsgesetze s (v. 15. 6. 1 883, RGBl. S. 73) hatte demgegenüber von „gewähren" gesprochen. Der Begriff „j emanden versorgen" hat die Bedeutung, ,,j emandem etwas Fehlendes, notwendig Gebrauchtes in aus­ reichender Menge zu überlassen" 24, ,,mit etwas versehen" 25 • Im Unter­ schied zum Wortsinn von „gewähren" ( = ,,bewilligen, zuteil werden lassen", ,,großzügig geben") 26 ist das Versorgen damit wohl etwas enger und mehr auf die Sache selbst bezogen, die eine andere Person erhalten soll. Somit kann der Wortlaut zwar ein Indiz für das Sachleistungs­ prinzip sein, er sagt j edoch weiteres über die Art und Weise, wie der Versicherte die Brille erhalten soll, nicht aus. Die grammatikalische Auslegung ist daher für die Frage nach der Zulässigkeit von Selbst­ abgabestellen für Brillen unergiebig. Zu fragen ist weiter, ob sich aus dem gesetzessystematischen Zusammenhang etwas anderes ergibt. Diese Prüfung unterläßt das OLG Düsseldorf (siehe Fn. 12) ganz. In diesem Sinne : Landgericht Düsseldorf, Urteil v. 16. 8. 1978 Az. 12 0 168/78, S. 24 f. ; Landgericht Aurich, Urteil v. 28. 6. 1978 Az. 2 0 350/78, S. 9 - 1 1 ; ebenso OLG Oldenburg, Urteil v. 3. 1 . 1980 Az. 1 U 197/78 (S. 1 5 der Urteils­ gründe) ; wohl auch Rohwer-Kahlmann (s. Fn. 1 1), ZSR 1 980, 197 ff., S. 234 und passim ; ders., Oberlandesgericht untersagt Kasse schlichthoheitliche Tätigkeit, ZSR 1980, 92, 103 ; ders., Hoheitliche Aufgaben der Krankenkassen und unlauterer Wettbewerb, SGb. 1980, 89, 90 f. Rohwer-Kahlmann spricht von einer „umfassenden Selbstverwaltungskompetenz" als Folge der Sach­ leistungsverpflichtung (ZSR 1 980, 197 ff., 226 und passim ; ZSR 1 980, 103 f.); Damit entwertet er den Vorbehalt des Gesetzes völlig, vgl. bereits oben Fn. 1 1). 24 Der große Duden, Band 10, Bedeutungswörterbuch, 1970. 25 Paul / Betz, Deutsches Wörterbuch, 6. Aufl., 1966. 26 Vgl. die in Fußnoten 24 und 25 genannten Quellen. 22

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III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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Da sich eine ausdrückliche Regelung über die Selbstabgabestellen in der RVO nicht findet, läßt sich jegliche systematische Auslegung der Vorschriften über die Heilmittelversorgung auf zwei Grundpositionen zurückführen: a) die Selbstabgabe von Brillen ist nicht ausdrücklich verboten, also rechtmäßig, oder b) die Selbstabgabe ist nicht ausdrück­ lich vorgesehen, also rechtswidrig. Ginge man allein von diesen groben Thesen aus, spräche wegen des Erfordernisses einer formellgesetzlichen Grundlage nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes alles für die zweite Argumentation. Demgegenüber wird aber von den Vertretern der ersten Ansicht als Ermächtigungsgrundlage vielfach § 182 RVO mit folgender Begründung herangezogen: § 182 RVO schreibe nicht vor, wie die Leistungen zu ge­ währen seien, so daß keine Bindung der Kassen bestehe, ,,von einer praktizierten Kostenerstattung auf Naturalleistung überzugehen" 2 7 (ge­ meint ist offenbar das Übergehen der Kasse vom Beschaffungsgeschäft bei einem Optiker gegen Bezahlung hin zur kasseneigenen Brillen­ abgabe); nach § 182 RVO (,,insbesondere") seien die Kassen nicht an ein besonderes Leistungsschema gebunden28 • Im Umkehrschluß zu §§ 182 Abs. 2, 368 ff. RVO, die als Modifizierungen des „Grundsatzes", daß die Kassen einen Spielraum in der Art der Leistungsgewährung haben, gewertet werden, komme man für die Selbstabgabe von Brillen zur Zulässigkeit, da ja eine Beschränkung insoweit nicht bestehe29 • Diese Argumentation ist jedoch nicht zwingend und beruht auf einem unrichtigen Verständnis von der systematischen Gliederung der ein­ schlägigen Vorschriften in der RVO. § 182 befindet sich im zweiten Ab­ schnitt „Gegenstand der Versicherung", unter dem die Leistungen der Krankenversicherung im allgemeinen (§§ 179, 180) und im besonderen aufgeführt werden (§§ 181 bis 224). Unter dem vierten Abschnitt über die Verfassung der Krankenkassen finden sich dann die Vorschriften zum Verhältnis der Kassen zu Ärzten, Apotheken, etc. Schließlich sind im siebenten Abschnitt im Rahmen der Vorschriften über die Kassen­ verbände auch die Beziehungen zu anderen Lieferanten von Kranken­ pflegebedarf erwähnt. In § 182 RVO ist also die Leistung „Kranken­ pflege" beschrieben, die dem Versicherten zur Abdeckung des Risikos Krankheit gewährt wird. Der Inhalt dieser Vorschrift als Regelung So Landgericht Aurich, Urteil v. 28. 6. 1978 Az. 2 0 350/78, S. 9. So Landgericht Düsseldorf, Urteil v. 16. 8. 1978 Az. 12 0 1 68/78, S. 24. 29 Landgericht Düsseldorf, Urteil v. 16. 8. 1978 Az. 1 2 0 168/78, S. 24 ; Land­ gericht Aurich, Urteil v. 28. 6. 1978 Az. 2 0 350/78, S. 10; vgl. auch die ähn­ lichen Begründungen aus der älteren Literatur : Kleeis, Die Selbstabgabe von Heilmitteln durch die Krankenkassen, Arbeiterversorgung 1917, S. 731 ; Stier­ Somlo, Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, 1. Band, 1 9 1 5, § 182 Anm. 8 (S. 379) ; Helmut Lehmann, Verwaltung der Krankenversicherung, Band 1, 1928, S. 348. 27

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über die Ansprüche des Versicherten gegen die Krankenkasse wird noch deutlicher durch den Eingangssatz des § 2 1 Abs. 1 Nr. 3 SGB I: „Nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung können in Anspruch genommen werden . . . " (woraufhin auch die Verweisung auf § 182 RVO folgt). Die Konkretisierung dieses Anspruchs des Versicher­ ten erfolgt in § 182 Abs. 2 RVO, wonach die Krankenpflege zwar aus­ reichend und zweckmäßig sein muß, das Maß des Notwendigen jedoch nicht überschreiten darf. Diese Formulierungen finden sich aber sinn­ gemäß auch im vierten Abschnitt über die Verfassung der Kranken­ versicherungsträger wieder, nämlich in § 268 e RVO, worin bestimmt ist, daß die ärztliche Versorgung zweckmäßig und ausreichend sein muß, daß aber nicht notwendige oder unwirtschaftliche Leistungen weder beansprucht, noch bewirkt, noch von der Kasse nachträglich bewilligt werden dürfen. Aus alledem wird klar, daß § 182 Abs. 1 Nr. 1 den von vornherein durch Abs. 2 eingeschränkten, auf das Sach­ leistungsprinzip festgelegten und durch Abs. 1 Nr. 1 Eingangssatz (,,ins­ besondere") ausgeweiteten Anspruch des Versicherten betrifft oder jedenfalls allgemein das Verhältnis der Kasse zum Anspruchsberech­ tigten regelt. Demgegenüber betreffen die §§ 368 ff., 407 RVO die Frage, in welcher Weise dieser Anspruch erfüllt werden muß. Die Pflicht zur Realisierung der Versorgung mit ärztlicher und zahnärzt­ licher Behandlung beispielsweise hat über die kassenärztlichen Ver­ einigungen zu erfolgen30 • Betrifft § 182 Abs. 1 Nr. 1 lit. b aber nur den Anspruch des Versicher­ ten gegen die Krankenkasse, so können hieraus Folgerungen darüber, welche Befugnisse die Kasse hinsichtlich der Erfüllung dieses An­ spruches zustehen, nicht gewonnen werden: § 182 RVO sagt nichts über Art und Weise der Erfüllung des Anspruches auf Versorgung mit Brillen in Bezug darauf, welcher Instrumentarien sich die Kasse be­ dienen darf. Wegen des dargestellten Regelungsbereichs kann diese Vorschrift darüber auch keine Auskunft geben. Es wäre demnach ver­ fehlt, aus der Tatsache, daß § 182 RVO nichts sagt, zu folgern, die Art der Leistungsgewährung stehe im Ermessen der Krankenkassen. Um­ kehrschlüsse aus § 182 Abs. 2 oder aus dem Wort „insbesondere" lassen sich nur ziehen, soweit es um den Anspruch des Versicherten geht, nicht aber hinsichtlich der Befugnisse der Krankenkassen bei der Erfüllung der Ansprüche. Dieser Ansicht folgte im übrigen auch das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung über die Sehschärfenbe­ stimmung durch Augenoptiker; das Gesetz lege - so sagte das BSG 30 Vgl. zum Zusammenspiel von §§ 182 ff. und §§ 368 ff. RVO : Peters, Handbuch der Krankenversicherung II, Band 1, 17. Aufl. 1978, § 182 Anm. 2, S. 17/263 und Anm. 3 a ; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1978, S. 384 i, k; Meydam, Zum Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb. 1977, 92.

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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zwar die Leistungen fest, bestimme j edoch nichts über Art und Weise der Erbringung31 • Weiter ist nun der Frage nachzugehen, ob aus den Sonderregeln der

§§ 368 ff. RVO im Umkehrschluß zu entnehmen ist, daß die Kranken­

kassen hinsichtlich des Modus der Versorgung mit Brillen besonderen sozialversicherungsrechtlichen Schranken nicht unterliegen und daher auch Selbstabgabestellen betreiben dürfen32 • Der Umkehrschluß hilft indes schon in seinem Ausgangspunkt nicht weiter, denn mit dieser Argumentation wird man dem Vorbehalt des Gesetzes nicht gerecht: Die kasseneigenen Abgabestellen für Brillen sind nur rechtmäßig, wenn sie auf eine gesetzliche Grundlage zurückgeführt werden können. Die Vorschrift des § 182 RVO kommt als derartige Ermächtigung nicht in Frage, andere hierfür geeignete Normen aus der RVO sind nicht ersichtlich3 3 • Hinzu kommt, daß in der RVO selbst die Errichtung und das Betreiben bestimmter Eigenbetriebe geregelt worden sind34 • So konnten die Kassenverbände nach der ursprünglichen Fassung des § 407 Nr. 4 RVO, ,,Heilanstalten und Genesungsheime anlegen und betreiben" . Diese Vorschrift ist j edoch durch das Gesetz über Kassen­ arztrecht vom 19. 8. 1955 (BGBL I, S. 5 13) gegenstandslos geworden, das in § 368 d Abs. 1 Satz 3 und 4 RVO eine Neuregelung trifft : ,,Die Inanspruchnahme der Universitäts-Polikliniken und der Eigeneinrich­ tungen der Krankenkassen richtet sich nach den hierüber abgeschlosse­ nen Verträgen. Zahl und Umfang der Eigeneinrichtungen dürfen nur aufgrund vertraglicher Vereinbarungen vermehrt werden." Mit diesen Regelungen wurde die Zahl der Eigeneinrichtungen der Kranken­ kassen, deren Existenz die kassenärztliche Tätigkeit beeinträchtigt, also quasi auf dem Stand von 1955 eingefroren, sie können nur vertraglich vermehrt oder erweitert werden35 • a1 BSGE 36, 146, 148. 32 So wohl auch OLG Düsseldorf v. 22. 5. 1980 (S. 19 ff. der Urteils­ gründe), wenn es darauf hinweist, daß gewisse Eigeneinrichtungen der Kas­ sen gern. § 386 d Abs. 1 RVO trotz des Widerstandes der „stark vertretenen Ärzte" erhalten geblieben sind. Das OLG verkennt dabei, daß die Problema­ tik der Selbstabgabe von Brillen erst sehr viel später aufgetaucht ist. 33 Zu diesem Ergebnis gelangen auch anhand der am Vorbehalt des Gesetzes orientierten gesetzessystematischen Auslegungsmethode gleicher­ maßen Scholz (Teil C II. 2 dieses Gutachtens, S. 91 ff.) und Zacher, Kranken­ kassen oder nationaler Gesundheitsdienst? , 1980, S. 27 ff., in einer umfassen­ den sozialrechtlichen Analyse des Modus' der Erbringung der Krankenver­ sicherungsleistungen nach der RVO. - Gerade die Gesamtschau des Nor­ menkatalogs wird aber unzulässig verkürzt, wenn gesagt wird, aus Sonder­ bestimmungen lasse sich „für allgemeine Regelungen nur in Ausnahmefällen" etwas herleiten (so z. B. OLG Oldenburg, Urteil v. 3. 1. 1 980, S. 16). 34 Vgl. zu dieser Argumentation schon : Marquardt, Eigenbetriebe der Krankenkassen, Arbeiterversorgung 19 14, S. 493 ff., 495. 35 Vgl. Bley, Sozialrecht, 2. Aufl. 1977, S. 164.

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§ 368 d Abs. 1 S. 4 in Verbindung mit § 346 Abs. 1 Nr. 2 RVO stellt also eine detaillierte Ermächtigung für von der Kasse selbst betriebene Einrichtungen dar, die formal (besondere Zustimmungserfordernisse), inhaltlich (bezogen auf das Verhältnis zu Kassenärzten) und auch im Umfang (Erschwerung der Neueinrichtung) begrenzt ist. Besondere Eigeneinrichtungen waren noch in § 27 e Abs. 2 RVO a. F. vorgesehen, aber an die Genehmigung des Reichsversicherungsamtes geknüpft, und sind nach § 762 RVO möglich. Für die optischen Werkstätten und Abgabestellen für Brillen gibt es vergleichbare gesetzliche Grundlagen demgegenüber nicht36 • Vielmehr hat der Gesetzgeber durch § 407 Abs. 1 Nr. 2 RVO zumin­ dest zu erkennen gegeben, daß die Versorgung mit Brillen gerade nicht durch Selbstabgabestellen sondern unter Heranziehung der Augenopti­ ker mit Hilfe des Vertragsmechanismus erfolgen soll. Auf diese Rege­ lung wird nachfolgend noch einzugehen sein. b) In der Vergangenheit ist bisweilen § 375 RVO als eine Norm heran­ gezogen worden, die der Krankenkasse die Einrichtung von Selbst­ abgabestellen gestatten soll37 • Äußerungen in dieser Richtung finden sich schon in der dritten Lesung der RVO im Reichstag, wonach z. B . der Erwerb von Verbandsstoff i n größeren Mengen b e i einem Groß­ händler und die unentgeltliche Abgabe solcher Gegenstände an die Mitglieder der Krankenkasse zulässig sei 38 • Eine solche Interpretation des § 375 RVO ist aber mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht mehr vereinbar. Dort wird nur von der Vereinbarung von Vorzugsbedingun­ gen mit Lieferanten gesprochen, nicht aber von einer Verdrängung der Apotheker oder sonstiger Endabgeber durch eigene Abgabestellen der Kassen. Aus § 375 kann daher für die Zulässigkeit von Selbstabgabe­ stellen allgemein kein Argument gewonnen werden39 • Soweit es die hier allein interessierende Selbstabgabe für Brillen im speziellen anbelangt, kommt hinzu, daß zwischen Arzneimitteln und 36 Da eine besondere Ermächtigungsgrundlage für ein Tätigwerden der Kassen im Bereich der Selbstabgabe vorliegen muß, kann aus dem Schwei­ gen des Gesetzgebers nicht, wie das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung v. 22. 5. 1980 (S. 20) dies tut, die Zulässigkeit der Selbstabgabe gefolgert werden. 37 Vgl. nur Riedel, Selbstabgabe, Ortskrankenkasse 1921, Sp. 707 ; Kühne, Krankenversicherung, Kommentar, 2. Aufl 1939, § 375 Anm. 2 b; Reichsver­ sicherungsordnung mit Anmerkungen, hrsg. von Mitgliedern des Reichsver­ sicherungsamtes, Band II, 2. Aufl. 1929, § 375 Anm. 3 ; Helmut Lehmann, Ver­ waltung der Krankenversicherung, Band 1, 1 928, S. 367. 39 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11, S. 7260 f. 39 So schon Marquardt, Eigenbetriebe der Krankenkassen, Arbeiterversor­ gung 1914, S. 495 und Scherer, Die Eigenbetriebe der Krankenkassen, Phar­ mazeutische Zeitung 1926, 18 ff., 19.

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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Brillen unterschieden werden muß, wie insbesondere § 182 RVO zeigt. Selbst wenn man den Begriff des Arzneimittels weit auslegen wollte, so muß es sich doch stets um Gegenstände handeln, die j edenfalls auch in Apotheken veräußert werden. Das aber ist bei Brillen nie der Fall gewesen, so daß § 375 RVO von Anfang an nicht für Augenoptiker einschlägig gewesen ist. Im übrigen hat es das Landessozialgericht Baden-Württemberg40 im Jahre 1 954 ausdrücklich abgelehnt, Brillen unter dem Begriff „Arznei" zu subsumieren. Selbstabgabestellen für Sehhilfen sind auch insoweit von einer ande­ ren Qualität, als es dabei nicht nur um die Verteilung von Gegenstän­ den geht, es wird vielmehr in den Selbstabgabestellen ein Handwerk, das des Augenoptikers, ausgeübt. Zum Verkauf tritt also die handwerk­ liche Leistung. Die verschiedenen Gesichtspunkte machen deutlich, daß aus § 375 RVO keine Ermächtigung für die Krankenkassen abgeleitet werden kann, Selbstabgabestellen für Brillen einzurichten. c) Gewohnheitsrechtliche Ermächtigung? Die Berechtigung der Ortskrankenkassen, Selbstabgabestellen ein­ zurichten, könnte damit begründet werden, daß solche Einrichtungen seit langer Zeit existieren. Daraus könne der Schluß gezogen werden, es bestehe eine Ermächtigung kraft Gewohnheitsrechts zur Selbst­ abgabe41 . Gewohnheitsrecht entsteht durch langandauernde Übung und das all­ gemeine Bewußtsein, d aß es sich bei dieser Übung um Recht handelt42 . Um zu ermitteln, ob diese Voraussetzungen vorliegen, bedarf es eines historischen Rückblicks darauf, wem in der Vergangenheit die Ver­ sorgung mit Brillen oblegen hat, inwieweit die Krankenkassen die Selbstabgabe praktiziert haben und ob eine eventuell dahingehende Praxis allgemeine Anerkennung gefunden hat. Bei diesem Rückblick können, da die Selbstabgabeproblematik sich für sehr verschiedene Heil- und Hilfsmittel stellt, die Sehhilfen nicht isoliert werden, wenn auch das handwerkliche Element ein spezielles Kriterium der Abgabe von Sehhilfen ist und daher selbst bei einer gewohnheitsrechtlich anDOK 1955, 234, 235 = SGb. 1955, 243 ff. So wohl letztlich auch das OLG Düsseldorf v. 22. 5. 1980 (S. 18 ff. der Urteilsgründe), ohne daß allerdings die Voraussetzungen für die Entstehung des Gewohnheitsrechts geprüft würden. Das OLG überspielt diese Frage durch seine Fehlinterpretation des § 30 SGB IV und sieht daher nicht, daß es auf eine ausdrückliche Ermächtigungsnorm ankommt. 42 Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 4. Aufl. 1977, S. 6 ff. ; Ossenbühl, in : Erichsen / Martens, Allgemeines Verwaltungs­ recht, 3. Aufl. 1978, S. 94 ff. ; Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, s. 125 f. 40

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erkannten Selbstabgabe in einzelnen Bereichen gefragt werden müßte, ob ein solches Gewohnheitsrecht auch für die Selbstabgabe von Brillen gelten kann43 • aa) Die Anfänge der Brillenherstellung werden für den europäischen Raum auf den Anfang des 14. Jahrhunderts angesetzt44 • Die Fertigung erfolgte in den Städten durch das eigenständige Gewerbe der Brillen­ macher. Der Verkauf der Brille wurde anfangs noch von diesen Her­ stellern selbst vorgenommen, was sich j edoch gegen Ende des 16. Jahr­ hunderts änderte. Die Bildung kleinerer Manufakturen (Nürnberg) führte zu einer Massenherstellung und der Einschaltung von Zwischen­ händlern. Diese deckten sich bei den Produzenten ein und zogen als wandernde und hausierende Brillenhändler, die manchmal auch andere kleine Waren feilhielten, durch die Lande. Der fehlsichtige Endabneh­ mer erhielt seine Brille also ohne individuelle Anpassung aus dem Bauchladen, was später durch die Gewerbeordnung (heute § 56 Abs. 1 Nr. 1 lit. d) verboten wurde. Durch das Aufkommen der industriellen Brillenglasherstellung im Jahre 1800 (A. Duncker in Rathenow) wurde eine Wende eingeleitet. Man verzichtete auf Wanderhändler und zog ein Netz von Niederlassungen auf. Optische Fachkenntnisse hatten die nur brillenanpassenden Repräsentanten allerdings nicht. Allmählich bildete sich ein hochspezialisierter Handwerksstand der Augenoptiker heraus. Seit Anfang dieses Jahrhunderts verfügt dieser Berufsstand über eigene hochqualifizierte Ausbildungseinrichtungen. Diese wenigen Hinweise zeigen, daß die „Brillenmachertätigkeit" eine lange Tradition hat, die weit vor die Anfänge der Sozialversiche­ rung zurückreicht45 • Bis zu den Anfängen der Krankenversicherung be­ schaffte sich der Fehlsichtige die Brille wie eine beliebige andere Ware. 43 Der Sinn der folgenden Untersuchung wird aber mißverstanden, wenn unter Berufung hierauf ausgeführt wird, aus der historischen Entwicklung lasse sich die „rechtliche Unzulässigkeit von kasseneigenen Abgabestellen für Sehhilfen nicht begründen" (Rohwer-Kahlmann, ZSR 1980, 197 ff., 235), bzw. sie lasse keine Schlüsse zugunsten der Augenoptiker zu (OLG Olden­ burg, Urteil v. 3. 1. 1980, S. 1 5). Hierin liegt eine Verkennung der Problem­ stellung : Die Frage, ob aus der historischen Entwicklung ein Verbot der Selbstabgabe folgt, stellt sich nicht ; auf der Suche nach einer dem Vorbehalt des Gesetzes entsprechenden Ermächtigungsgrundlage soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, ob bei historischer Betrachtung von der Selbst­ abgabe als Gewohnheitsrecht gesprochen werden muß. 44 Vgl. hierzu und zum folgenden : Kühn / Roos, Sieben Jahrhunderte Bril­ len, Abhandlungen und Berichte des Deutschen Museums, 1968, Heft 3, S. 9 ff. ; v.Rohr, Forschung der Geschichte der Optik (Beilage-Hefte zur Zeitschrift für Instrumentenkunde), 2. Band 1937, S. 1 2 1 ff., abgedruckt in : Zeiss / Marwitz, Beiträge zur Geschichte der Brille, 1958, S. 37 f. 45 Dieser Umstand bedarf der Hervorhebung, um den durch das Gutachten von Rohwer-Kahlmann (ZSR 1980, 197 ff.) vermittelten Eindruck zurecht­ zurücken, die Belieferung der Bevölkerung mit Brillen habe erst mit Schaf­ fung der Sozialversicherung eingesetzt. Bei dieser Betrachtungsweise, die die

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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bb) Mit der Schaffung einer Krankenversicherung stellte sich das Problem, inwieweit die Versicherung auch die Versorgung mit Brillen abdeckte. Die Gesetzgebung zur Abdeckung des Risikos Krankheit geht bis zum Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 zurück, das für bestimmte Personenkreise Fürsorgemaßnahmen vorschrieb. Regelun­ gen über Art und Umfang der Leistungen sowie über die Aufbringung der Mittel waren hierin jedoch nicht enthalten. In der Folgezeit kamen verschiedene Arten von Kranken-, Hilfs- und Unterstützungskassen auf, häufig nach dem Genossenschaftsprinzip organisiert. Auch durch diese Kassen wurden im Rahmen der Krankenhilfe teilweise schon Brillen gewährt. Die erste einheitliche und umfassende Regelung der Pflichtversicherung für den Fall der Krankheit für das ganze Reichs­ gebiet findet sich im Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. 6. 1883 (RGBl. S. 73). Die Mindestleistungen nach diesem Gesetz von 1883 sind in § 6 ge­ regelt : ,,Als Krankenunterstützung ist zu gewähren: 1 . von Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei, sowie Brillen, Bruch­ bänder und ähnliche Heilmittel . . . " . Im Gegensatz zur Regelung i m Hülfskassengesetz vom 7. 4. 1876 (RGBl. S. 125) ging das Krankenversicherungsgesetz von 1883 vom Sachleistungsprinzip aus46 , d. h. die Kasse gewährte die Heilmittel di­ rekt ihrem Versicherten ohne Rücksicht auf die Kosten47 • Darüber, welches Instrumentariums sich die Träger bei der Gewäh­ rung der Krankenunterstützung insbesondere von Brillen bedienen sollten, ist im Krankenversicherungsgesetz von 1 883 nur wenig gesagt; lediglich § 46 Abs. 1 enthält eine Ermächtigung an die Kassenverbände zur „Abschließung gemeinsamer Verträge mit Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern" (Nr. 2) und zur „Anlage und . . . (zum) Betrieb . . . gemeinsamer Anstalten zur Heilung und Verpflegung erkrankter Mit­ glieder". In der Novelle vom 10. 4. 1892 (RGBl. S. 379) wurde in § 46 Abs. 1 Nr. 2 der Vertragsbereich ausgedehnt auf Verträge mit „Liefe­ ranten von Heilmitteln und andere(n) Bedürfnisse(n) der Kranken­ pflege". Eine weitere bedeutsame Neuerung der Novelle 1892 war in §§ 6 a Abs. 1 Nr. 6 bzw. 26 a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, 64, 72, 73 enthalten: Die - unzweifelhafthaft höchst bedeutsame - Sozialversicherung von der Ge­ samtwirtschaftsordnung isoliert und sie überhöht, haben die selbständigen Augenoptiker nur noch die Funktion von Verwaltungshelfern der Kranken­ kassen (so ausdrücklich Rohwer-Kahlmann, ZSR 1980, 197 ff., 205). 46 So auch : Zacher, Der Augenoptiker als Faktor der Brillenversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Gutachten) 1 974, S. 66. 47 Zum Sachleistungsprinzip vgl. insbesondere BSGE 42, 1 17 ff. ; Meydam, Zum Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb. 1977, 92 ff.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

Kassen waren ermächtigt, ärztliche Behandlung, Lieferung von Arznei, Kur und Verpflegung „nur durch bestimmte Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser zu gewähren" und konnten die Bezahlung der durch Inanspruchnahme anderer Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser ent­ standenen Kosten (außer in Notfällen) ablehnen. § 56 a gab allerdings der Aufsichtsbehörde eine Ermächtigung zum Einschreiten, sofern die Krankenkassen Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser nicht zu hin­ reichendem Maße zur Verfügung stellten (i. V. m. §§ 65, 72, 73, 74 für andere als Ortskrankenkassen). Diese letzteren Bestimmungen waren im Gesetzgebungsverfahren sehr umstritten. Die Diskussionen wurden unter dem Stichwort „freie Arztwahl" geführt, vorrangig aus Kosten­ gründen entschied man sich für das Kassenarztsystem, dessen Einfüh­ rung allerdings von einem Gemeindebeschluß bzw. entsprechenden Satzungsbestimmungen abhängig war. cc) Über die Zulässigkeit einer Selbstabgabe von Heilmitteln findet sich in den Materialien zu den Gesetzen von 1 883 und 1892 kein Hin­ weis. Dennoch wurde bereits unter dem Krankenversicherungsgesetz die Selbstabgabe praktiziert48 • Bezüglich der Anstellung eigener Kas­ senärzte und eigener Apotheken unter dem Gesetz von 1 883 führt v. Woedtke49 aus: ,,Nach der richtigen Auffassung stand bisher (d. h. unter dem KVG 1883 - die Verf.) sowohl der Gemeinde-Kranken­ versicherung als der organisirten Krankenkasse die Befugniß zur An­ stellung besonderer Kassenärzte als selbstverständliches Recht ohne weiteres zu. Denn sie hatten zwar die gesetzliche Pflicht, die Leistungen zu gewähren, waren aber in der A r t dieser Gewährung nicht beschränkt." Bereits diesen Ausführungen läßt sich entnehmen, daß besondere Kassenärzte und sonstige Einrichtungen der Kassen von Anfang an umstritten waren, wobei die Auseinandersetzung zunächst nicht um die Selbstabgabestellen für Brillen ging. Die Problematik der Selbstabgabe beschäftigte auch die Gerichte. In mehreren Entscheidungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende wurde die Frage der Zulässigkeit der kasseneigenen Abgabe von apothekenpflichtigen Arzneien und frei verkäuflichen Heilmitteln aus strafrechtlicher und gewerberechtlicher Sicht behandelt50 • Entschieden wurde u. a. die Frage, ob die Versicher­ ten gezwungen werden konnten, die Heilmittel ausschließlich aus der 48 So H. Meyer, Die Selbstabgabe von Arznei- und Heilmitteln durch die Krankenkassen, Apotheker-Zeitung 1930, 1 177 ff. (1177 f.) ; Riedel, Selbst­ abgabe, Ortskrankenkasse 192 1 , Sp. 707. 49 v. Woedtke, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 1893, § 6 a Anm. 21 (bezüglich der Apotheken siehe am Ende). 50 Siehe die Zusammenstellung von Entscheidungen bei F. Hoffmann, Kran­ kenversicherungsgesetz, Kommentar, 1908, § 6 Anm. 5.

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Selbstabgabestelle der Kasse zu beziehen. Zu dieser letzten Frage gingen die Meinungen auseinander und sogar ministerielle Anordnun­ gen fielen gegensätzlich aus51 • Einerseits wurde die Selbstabgabe als vom Krankenversicherungsgesetz stillschweigend geduldet bezeichnet; andererseits wurde argumentiert, die Selbstabgabe sei nicht im Gesetz vorgesehen und daher unzulässig. Mit diesen gegensätzlichen Stand­ punkten hat sich das Preußische Oberverwaltungsgericht in einer Ent­ scheidung aus dem Jahre 1908 befaßt52 • Es ging dabei um die Zulässig­ keit der Bezugsstelle einer Ortskrankenkasse für die den Apotheken nicht vorbehaltenen Drogen, Verbandsstoffe, Brillen, Bruchbänder etc. Das Preußische Oberverwaltungsgericht schloß sich der ersten Meinung an. Allein mit Hilfe der Auslegung des Gesetzes nach dem systemati­ schen Zusammenhang gelangte es zu dem Ergebnis, daß die Selbst­ abgabe von zum Handel freigegebenen Drogen, Verbandsstoffen, Bril­ len, Bruchbändern usw. sowohl unter dem Gesetz von 1883 als auch unter der Novelle von 1892 rechtmäßig sei. Selbst gegen die Pflicht zum Bezug der Mittel aus der Selbstabgabestelle bestünden keine Bedenken. Ausgangspunkt der Argumentation war die ebenfalls von v. Woedtke53 vertretene These, § 6 des KVG 1883 (i. V. m. der für die anderen Träger geltenden Vorschriften) gestatte den Krankenkassen zu wählen, wie sie ihre Unterstützungspflicht regeln wollen54 ; in diesem Rahmen könnten sie auch bestimmen, daß nur bestimmte Ärzte und bestimmte Bezugsstellen von ihren Mitgliedern in Anspruch genommen werden dürfen. Diese Argumentation war j edoch schon nach der damaligen Rechts­ lage nicht zwingend; denn genauso läßt sich vertreten, daß - weil das Krankenversicherungsgesetz nicht einmal andeutungsweise etwas zur Selbstabgabe enthält, wohl aber eine Bestimmung über Verträge mit Apothekern und nach 1892 mit Lieferanten für andere Bedürfnisse der Krankenpflege (§ 46) - hierdurch die Entscheidung für ein Vertrags­ system impliziert ist (argumentum e contrario). Hierfür spricht ferner, daß es sich bei den Apothekern, Drogisten, Augenoptikern etc. um Heil- und Hilfsmittellieferanten mit langer Tradition handelte, und daß kein Grund bestand, von der Belieferung der Kranken durch diese abzurücken. Ferner ist aber eben gerade im Gesetzgebungsverfahren von der vorher nicht existierenden Institution der Selbstabgabestelle an keinem Orte die Rede gewesen. Ein Gegenargument ließe sich zudem noch aus § 46 ableiten, der scharf zwischen ,Verträgen' (Nr. 2) und ,An51 52 53 ;4

Vgl. die Nachweise über die Erlasse in PreußOVGE 53, 376, 378. PreußOVGE 53, 376 ff. v. Woedtke, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, § 6 a Anm. 2 1 . PreußOVGE 53, 376, 379.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

lage und Betrieb von gemeinsamen (d. h. kasseneigenen) Anstalten' (Nr. 3) trennt. Mit den Anstalten sind aber nur Krankenhäuser und nach der No­ velle auch besondere Rekonvaleszentenanstalten gemeint55 • Die Befugnis zur Anstellung bestimmter Ärzte schließlich, die nach den Vorstellungen des Gesetzgebers von 1892 den Kassen schon unter dem KVG 1883 zukommen sollte56 , sagt nichts darüber, ob die Kassen auch befugt sein sollten, Heilmittel etc. selbst abzugeben. Diesbezüg­ liche Zweifel hegten selbst einige Krankenkassen, die sich seit 1886 in Eingaben mit dem Ziel der Zulassung von Selbstabgabestellen an Be­ hörden und Parlamente wandten57 • Insgesamt wird man sagen müssen, daß die Entscheidung des Pr. OVG bereits auf der Grundlage des damaligen Rechts wenig überzeu­ gend war; das gilt insbesondere für die Argumentation aus den Mate­ rialien zum Krankenversicherungsgesetz 1883 und zur Novelle 1892, ohne daß dies hier weiter vertieft werden könnte. Für die globale Ar­ gumentation des Preußischen Oberverwaltungsgerichts findet sich in den Materialien zu den Gesetzen von 1883 und 1892 kein Anhalt. Seine Schlüsse aus § 6 KVG 1883, durch dessen gesetzessystematische Auslegung es sein Ergebnis der Zulässigkeit der Selbstabgabe (auch von Brillen) gewinnt58 , sind angreifbar, jedenfalls aber in keiner Weise zwingend; das gegenteilige Ergebnis ließe sich mit mindestens gleicher Überzeugungskraft vertreten. Stellungnahmen in der Literatur zur Frage der Zulässigkeit der Selbstabgabe beziehen sich zumeist nur auf apothekenpflichtige Arz­ neien i. S. der Kaiserlichen Verordnung vom 22. 10. 1901 (RGBl. S. 380). Die Abgabe dieser Mittel wird für unzulässig, die der freiverkäuflichen Mittel teilweise für zulässig gehalten59 • Begründet wird dieser Stand­ punkt von Hoffmann60 damit, daß Ziffer 6 des § 6 a auf die Lieferung freiverkäuflicher Heilmittel keine Anwendung finde und daher sogar v. Woedtke, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, § 46 Anm. 12. Amtliche Begründung der Novelle, RT-Drucks. Nr. 151, S. 901, 8. Legis­ laturperiode, I. Session 1 890/91 . 5 7 Vgl. bei H. Meyer, Die Selbstabgabe von Arznei- und Heilmitteln durch die Krankenkassen, Apotheker-Zeitung 1 930, 1 177 ff., 1 178 oben links sowie die Petition mehrerer Krankenkassen an den Reichstag mit dem Ziel, die ,,Einrichtung eigener Apotheken zu gestatten", in : RT-Drucks. Nr. 185, S. 1394, 8. Legislaturperiode, I. Session 1 890/91 . 5 8 PreußOVGE 5 3 , 376, 3 7 9 ff. 59 So F. Hoffmann, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, § 6 Anm. 5 und § 6 a Anm. 2 6 ; vgl. auch Julius Hahn, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 1905, § 6 Anm. 2 d. 0° F. Hoffmann, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, § 6 a Anm. 26. 55

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III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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die ausschließliche Lieferung durch die Krankenkasse selbst vorge­ schrieben werden könne. Demgegenüber führt Hahn61 gerade unter Berufung auf § 6 a Ziff. 6 aus, daß nicht aus einer analogen Anwendung dieser Vorschrift die Heilmittelabgabe durch eine bestimmte Stelle festgelegt werden dürfe. Auch hier zeigt sich, daß mittels systematischer Auslegung konträre Ergebnisse gewonnen werden können. Beide Auto. ren gehen im übrigen in diesem Zusammenhang auf § 46 nicht ein. In der Praxis erfährt die Selbstabgabe von Heilmitteln durch die Krankenversicherungsträger um die Jahrhundertwende eine größere Verbreitung. Als die Krankenkassen immer höhere Rabatte von den Apotheken verlangten (in Berlin 25 0/o), diese die Forderung aber nicht erfüllten, kam es häufig zu Streitigkeiten und Boykottmaßnahmen durch die Kassen. Während dieser Zeit (in Berlin beispielsweise dauerte der Boykott von 1901 bis 1903) durften die Versicherten häufig nicht­ apothekenpflichtige Mittel nur aus Drogerien bzw. eigenen Abgabe­ stellen der Kassen beziehen62 • dd) In der Reichsversicherungsordnung vom 19. 7. 1911 (RGBI. S. 509) wurde § 182 Abs. 1 Nr. 1 als Gegenstand der Krankenpflege neben an­ deren Heilmitteln die Brille wiederum besonders hervorgehoben. Wie schon im Krankenversicherungsgesetz sind auch in der RVO die Er­ stattungsvorschriften für Mittel der Krankenpflege auf besonders ge­ lagerte Ausnahmefälle beschränkt (vgl. §§ 193 Abs. 3, 217, 370 RVO). Neu war in diesem Zusammenhang die Vorschrift des § 193 Abs. 1, wonach die Satzung mit Zustimmung des Oberversicherungsamtes für kleinere Heilmittel einen Höchstbetrag festsetzen und auch bestimmen konnte, daß die Kasse bis zu dieser Höhe einen Zuschuß für größere Heilmittel gewähren durfte. Hierdurch sollte auch für Versicherte die Härte vermieden werden, überhaupt keine Hilfe für ein Heilmittel zu erhalten, weil dessen Kosten über die eines „kleineren" Heilmittels (i. S. v. § 182 Abs. 1 Nr. 1) hinausgehen. Ihm sei aber damit gedient, wenn die Kasse ihm für das teurere Heilmittel soviel zuschieße, als sie für ein billiges selbst hätte ausgeben dürfen63 • 61 Julius Hahn, Krankenversicherungsgesetz, Kommentar, § 6 a Anm. 7 h, m. w. N. 62 Vgl. hierzu und zur weiteren Entwicklung in der Praxis H. Meyer, Die Selbstabgabe von Arznei- und Heilmitteln durch die Krankenkassen, Apo­ theker-Zeitung 1930, 1 177 ff., 1 178 ; zum Boykott in Berlin Unger, Der Apo­ thekerboykott und die Krankenkassen in Berlin, Arbeiterversorgung 1902, S. 553 ff., zur Selbstabgabe dort S. 563 ff. 63 So die Amtliche Begründung zur RVO, RT-Drucks. Nr. 340, Anlage I, S. 158 zu § 208 des Entwurfs (= § 193), 12. Legislaturperiode, II. Session 1909 - 1911. 3 von Maydell / Scholz

B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

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Die Regel bildet demgegenüber wiederum die Gewährung der Sach­ leistung selbst ohne Rücksicht auf die Kosten. Dieses kommt auch durch die Verwendung des Begriffes „Versorgung mit Brillen" in § 1 82 Abs. 1 Nr. 1 statt „ist zu gewähren : . . . Brillen" in § 6 KVG zum Ausdruck. Eine dem § 29 Abs. 1 KVG entsprechende Bestimmung (lediglich Bei­ tragspflicht der Mitglieder) wurde in die RVO nicht aufgenommen. ,,Daß die Kasse ihren Mitgliedern . . . (die Krankenpflege) wie über­ haupt alle ihre Leistungen ,frei', d. h. abgesehen von der Beitragspflicht ohne besonderen Entgelt zu gewähren hat, braucht im Gesetze nicht noch besonders hervorgehoben zu werden." heißt es dazu in den Mo­ tiven64. In Bezug auf die Art der Beschaffung der Heilmittel und deren Ab­ gabe an die Anspruchsberechtigten enthielt die RVO bei ihrer Verkün­ dung nur diej enigen Vorschriften, die im wesentlichen noch heute gelten, nämlich in §§ 375, 376 (Möglichkeit der Vereinbarung von Vor­ zugsbedingungen mit Apotheken bzw. Pflicht der Apotheken zur Ge­ währung von Rabatt für Arzneien) sowie § 407, dessen Abs. 1 Nr. 2 die Kassenverbände u. a. auch ermächtigt, Verträge über die Lieferung von Heilmitteln und anderen Bedürfnissen der Krankenpflege zu schließen. Eine ausdrückliche Entscheidung für oder gegen die Selbstabgabe­ stellen der Krankenkassen hat sich soweit im Text der RVO nicht niedergeschlagen. In der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs findet sich hierzu im Zusammenhang mit der Darlegung des Problems des Ausschlusses verschiedener Apotheken von der Belieferung von Kassenmitgliedern (keine freie Apothekenwahl) zu § 375 die Äußerung: ,,Die gleichfalls viel umstrittene Frage, ob die Krankenkassen ermäch­ tigt werden sollen, unmittelbar an ihre Mitglieder Arzneien abzugeben, liegt außerhalb des Rahmens der vorliegenden Reform65. " Während der ersten Lesung i n der zuständigen Kommission war im übrigen der Antrag auf Einfügung einer Vorschrift gestellt worden, die den Krankenkassen das Recht zugestehen sollte, eigene Apotheken zu errichten und sie durch geprüfte Apotheker verwalten zu lassen. Dieser Antrag fand j edoch keine Zustimmung66 • Die Ablehnung eigener Apotheken der Kassen in den Kommissions­ beratungen weist darauf hin, daß j edenfalls die Selbstabgabe apothe§

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Amtliche Begründung zur RVO, RT-Drucks. Nr. 340, Anlage I, S. 155 zu des Entwurfs ( = § 1 82), 12. Legislaturperiode, II. Session 1909 - 1 9 1 1 . RT-Drucks. Nr. 340, Anlage 1, S. 137, 1 2 . Legislaturperiode, II. Session

179 65

1909 - 1 9 1 1 .

6 6 RT-Drucks. Nr. 946 (Bericht der 16. Kommission (Antrag 14), 12. Legislaturperiode, II. Session 1909 - 1 9 1 1 .

2.

Teil), S.

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III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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kenpflichtiger Mittel nicht erlaubt war, worüber auch später im Schrift­ tum Einhelligkeit herrschte. ee) War unter dem Krankenversicherungsgesetz stets auf § 6 ver­ wiesen worden und darauf, daß dieser den Krankenversicherungsträ­ gern in ihr Ermessen stellte, wie sie ihrer Leistungsverpflichtung nach­ kommen wollten, so findet sich in den Stellungnahmen zu dem Problem unter der RVO die Verweisung auf die entsprechende Vorschrift des § 1 82 nicht so häufig. Darauf, daß § 182 nichts über das „Wie" sage und die Beschaffung der Mittel daher dem freien Ermessen der Kassen­ verwaltungen unterliege, verweist Kleeis 67 • In ähnlicher Richtung ver­ läuft die Begründung, eine Vorschrift über die Beschaffungsweise der Arznei enthalte das Gesetz nicht68 , oder die Pflicht zu Vereinbarungen mit Lieferanten wie Drogisten, Bader, Masseure und dgl. sei nicht vor­ geschrieben, die Kasse habe also insoweit freie Hand69 • Verschiedentlich wird die Zulässigkeit ohne Begründung bej aht70 • Stier-Somlo71 hält die Kassen zur direkten Abgabe von freiverkäuf­ lichen Heilmitteln allein aus dem Sachleistungsprinzip heraus für be­ rechtigt: ,,Nach der Fassung des § 1 82 haben die Mitglieder keinen An­ spruch darauf, daß sie das Geld erhalten und sich die Mittel selbst be­ sorgen, sondern auf Lieferung i n n a t u r a. Wenn die Krankenkassen Einrichtungen treffen, die ihnen ermöglichen, die Mittel selbst zu liefern, so kann das nicht gesetzeswidrig sein." Vergleichbares findet sich an anderer Stelle, wo mit dem Begriff der „Versorgung" in § 182 argumentiert wird72 • Teilweise wird auf den (kaum einschlägigen) § 23 verwiesen (Haf­ tung der Mitglieder der Kassenorgane für getreue Geschäftsverwal­ tung), aus dem die Verpflichtung der Kassen abgeleitet werden soll, auf möglichst billigen Bezug der Heilmittel Bedacht zu nehmen73 • 67 Kleeis, Die Selbstabgabe von Heilmitteln durch die Krankenkassen, Arbeiterversorgung 1917, S. 731. 68 So F. Albert, Das Verhältnis zwischen Apotheker und Sozialversicherung, 193 1 , s. 66 f. 69 Helmut Lehmann, Verwaltung der Krankenversicherung, Band 1 , 1928,

s. 348.

So Internationales Arbeitsamt, Die obligatorische Krankenversicherung, Teil, Leistungen, 1927, S. 1 3 5 ; Goldmann / Grotj ahn (Internationales Ar­ beitsamt), Die Leistungen der deutschen Krankenversicherung, 1928, S. 36 f. ; Hoffmann / Kreil, Reichsversicherungsordnung, 2. Buch, 9. Aufl. 1939, § 182 Anm. IV a 3; Kühne, Die Arznei als Kassenleistung, in : Arbeiterversorgung 1930, s. 17 ff., 21. 7 1 Stier-Somlo, Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, 1. Band, 1915, § 182 Anm. 8 (S. 379). 72 Schriftleitung, in : Arbeiterversorgung 1916, S. 816, Nr. 15. 73 So in einem Bescheid des Preußischen Handelsministers von 1914, mit­ geteilt bei Kleeis, Die Selbstabgabe von Heilmitteln durch die Krankenkassen, 70

2.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

Abgestellt wird auch auf den im ersten Buch der RVO angelegten Gedanken der Selbstverwaltung: Die Selbstabgabe sei genauso möglich wie etwa eine Entscheidung über die Frage, ob die Kasse die nötigen Geschäftsräume mieten oder kaufen oder bauen wolle74 , bzw. ebenso möglich wie Errichtung von Eigen- und Wirtschaftsbetrieben durch andere öffentlich-rechtliche Körperschaften und nicht zuletzt durch Reich, Länder und Kommunen (Badeanstalten, Krankenhäuser, Gas­ und Wasserwerke) 75 . überwiegend zieht man zur Begründung der Zulässigkeit der Selbst­ abgabestellen aber § 375 heran oder diskutiert das Problem anhand dieser Vorschrift76 • So folgert z. B. Lehmann77 aus § 375 wegen der ausdrücklichen Be­ rechtigung der Kasse, mit anderen Personen Liefervereinbarungen ab­ zuschließen, daß sie dann auch die freiverkäuflichen Arzneimittel unter Umgehung derartiger Personen an die Versicherten unmittelbar ab­ geben könne. Daß diese Ausführungen nicht unbedingt zwingend sind, liegt auf der Hand. So gibt es denn auch eine Meinung, die die Selbstabgabestellen und Eigenbetriebe gerade wegen § 375 für unzulässig hält: Marquardt78 beruft sich darauf, daß durch § 375 den Apothekern das Recht einge­ räumt werden sollte, den Kassenmitgliedern Handverkaufsartikel lie­ fern zu dürfen, selbst wenn die Kasse vorher mit anderen Apothekern, Drogisten bzw. besondere Lieferungsvereinbarungen abgeschlossen habe. Eine Einrichtung der Kassen aber, die den Apothekern diese Mög­ lichkeit entziehe, verstoße damit gegen das Gesetz. Vereinbarungen mit Lieferanten dürfen eben überhaupt nur in solch einer Form ge­ schlossen werden, daß den Apothekern der Zutritt auch tatsächlich möglich sei. Arbeiterversorgung 1917, 731, 732 ; Wilde, Das Heilmittellager der Ortskran­ kenkassen, Ortskrankenkasse 19 14, Sp. 151 ff., 151. 74 So Schriftleitung, in : Arbeiterversorgung 1914, S. 497. 75 So Paul Weber, Die Hetze gegen die deutsche Krankenversicherung, offensichtlicher Volksbetrug (Selbstverlag), 1929, S. 70. 76 Helmut Lehmann, Verwaltung der Krankenversicherung, S. 367 ; Riedel, Selbstabgabe, Ortskrankenkasse 1921, Sp. 707 ; Hoffmann, Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, 2. Band, 7. Aufl. 1927, § 375 Anm. 2 und 4 ; Reichsversicherungsordnung mit Anmerkungen, hrsg. von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes, Band II, 2. Aufl. 1929, § 375 Anm. 3; Helmut Leh­ mann, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, Band I, 6. Aufl. 1931, § 375 ,.Selbstabgabe" ; Kühne, Krankenversicherung, Kommentar, 2. Aufl. 1939, § 375 Anm. 2 b. 77 Helmut Lehmann, Verwaltung der Krankenversicherung, Band 1, S. 367. 78 Marquardt, Eigenbetriebe der Krankenkassen, Arbeiterversorgung 1914, s. 493 ff., 496 f.

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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Scherer79 betont die zwingende Natur der öffentlich-rechtlichen Vor­ schriften, die Eigenbetriebe nicht zulasse. Werde in der RVO die Selbst­ abgabe nicht, wohl aber der Abschluß von Verträgen behandelt (in §§ 375, 407) müsse man von der Unzulässigkeit der Selbstabgabe aus­ gehen. ff) Ein wichtiges Jahr für die Initiativen bezüglich der Selbstabgabe von Heil- und Hilfsmitteln ist 1914 80 • Anfang des Jahres wandte sich der Deutsche Apotheker-Verein zusammen mit Verbandsstoffabrikan­ ten, Drogisten und Bandagisten in einer Eingabe an den Reichstag und später an preußische Minister mit dem Ziel des Verbotes der Selbst­ abgabe und Selbstherstellung von Heilmitteln durch die Kranken­ kassen. Während es nicht mehr zu einer Beratung im Reichstag über diese Initiativen kam, fielen die Antworten der Ministerien negativ aus. Auf der Mitgliederversammlung des Hauptverbandes deutscher Orts­ krankenkassen und auch auf einer Tagung des Verbandes der Betriebs­ krankenkassen im selben Jahr wurden schließlich Empfehlungen ausge­ sprochen, die auf eine Ausweitung der Selbstabgabe abzielten. Dieses hatte zur Folge, daß die Kassen mehr und mehr zu dieser Praxis grif­ fen, die im Laufe des ersten Weltkrieges einen ersten Höhepunkt er­ reichte. Im Jahre 1917 beschloß man auf der Tagung des Ortskranken­ kassenverbandes sogar einstimmig, die Selbstabgabe zu erweitern und zu fördern. Die Krankenkassen betrachteten die Selbstabgabe als eine Art Selbsthilfe gegen die wachsenden Kosten durch Preiserhöhungen und Mehrverbrauch. Als Großabnehmer forderten sie von den Lieferanten Rabatte sowie Einräumung von Kredit. Auf die Apotheken wirkten sie ein bei der Festlegung von Umfang und Preisen durch sog. Handver­ kaufslisten, d. h. Listen, die solche Arzneien aufführten, die ohne ärzt­ liche Verschreibung abgegeben werden konnten (vgl. § 376 Abs. 2) und deren Aufstellung in Preußen Vertretern der Krankenkassen und Apothekern übertragen worden war81 • Die Apotheker warfen den Kassen ihrerseits die Ausnutzung einer Monopolstellung bei der Preis­ festsetzung vor und verwiesen wegen der Kostensteigerungen auf die Vermehrung des Arzneimittelverbrauchs. Zu Beginn der zwanziger Jahre gingen die Krankenkassen dazu über, zur Versorgung über Abgabestellen unter Umgehung des Zwi79 Scherer, Die Eigenbetriebe der Krankenkassen, Pharmazeutische Zeitung 1926, s. 18 ff., 19. 80 Zur Geschichte vgl. wiederum : H. Meyer, Die Selbstabgabe von Arznei­ und Heilmitteln durch die Krankenkassen, Apotheker-Zeitung 1930, S. 1 177 ff. , 1 178 f. ; ferner Kleeis, Die Selbstabgabe von Heilmitteln durch die Kranken­ kassen, Arbeiterversorgung 1917, S. 731 ff., 732 ff. 81 Preußischer Erlaß v. 5. Juni 1913, Handelsministerialsblatt, S. 450.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

schenhandels Heilmittelvertriebsgesellschaften zu gründen. Die Heil­ mittelvertriebsgesellschaft m. b. H. des (privatrechtlichen) Hauptver­ bandes deutscher Ortskrankenkassen wurde 1924 sogar in eine Aktien­ gesellschaft umgewandelt. Zur Zeit des Höhepunktes der Inflation im Jahre 1923 wurde es für die Krankenkassen immer schwieriger, die auf die Heilmittel entfallenden Beträge aufzubringen82 • Die ständig steigende Inflationsrate führte zur Forderung der Lieferanten nach einer täg­ lichen Bezahlung durch die Kassen bzw. zur ausschließlichen Abgabe gegen Barzahlung. Schließlich wurde zum Schutze der Kassen durch die Notverordnung der Reichsregierung zur Krankenhilfe vom 30. Ok­ tober 1923 (RGBL I, S. 1054) den Versicherten ein Kostenanteil für Arznei-, Heil- und Stärkungsmittel in Höhe von 10 °/o des Preises (in be­ sonderen Fällen bis zu 20 0/o) auferlegt. Gleichfalls wurde bestimmt, daß bei einem Zusammenbruch der Heilmittelversorgung (wenn die Apotheken ihre Verträge mit den Kassen nicht einhielten, Barzahlung verlangten oder höhere als durch die amtliche Arzneitaxe vorgeschrie­ benen Preise forderten) , von einer Leistungsgewährung in Natur abge­ sehen werden konnte: Die Kassenvorstände konnten die Bewilligung von Barleistungen in Höhe der nachgewiesenen Kosten bzw. bis zu einem Höchstsatz statt freier Arznei und sonstiger Heilmittel beschlie­ ßen. Außerdem wurde § 375 dahin abgeändert, daß das Beitrittsrecht der Apotheken des Kassenbezirks zu den von der Kasse abgeschlosse­ nen Verträgen mit Lieferanten beseitigt wurde. Wie unter der KVG­ Novelle von 1892 konnten also wiederum bestimmte Apotheken von der Arzneibelieferung der Versicherten ausgeschlossen werden. Die entstehenden Versorgungsschwierigkeiten führten zu einer Be­ lebung des Gedankens der Eigenbetriebe der Krankenkassen. Jedoch ließen sich auch hiermit nicht alle Probleme beseitigen. Die wenigen Kassen, die über eigene Badeanstalten verfügten, waren beispielsweise wegen steigender Kohlenpreise und durch Einsparungen erzwungener Personalentlassungen genötigt, den Betrieb einzuschränken oder gar stillzulegen83 • Die Praxis der Selbstabgabe wurde durch besondere Einkaufsgenos­ senschaften und die schon erwähnte vom Ortskrankenkassenverband betriebene „Heilmittelversorgung deutscher Krankenkassen AG" un­ terstützt. Letztere machte sogar den Versuch, durch Beteiligung an Er­ werbsunternehmen in großem Maße die Herstellung von Heilmitteln 82 Vgl. zum Jahr 1923 : Hans Schneider, Die Aufrechterhaltung der Lei­ stungsfähigkeit der Krankenkassen unter Berücksichtigung der Allgemeinen Ortskrankenkassen in der letzten Periode des Währungsverfalls, Volkswirt­ schaftliche Dissertation, Freiburg 1928, insbesondere S. 86 ff. 83 Vgl. Hans Schneider, Die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit der Krankenkassen unter Berücksichtigung der Allgemeinen Ortskrankenkassen in der letzten Periode des Währungsverfalls, S. 90.

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(auch Brillen) selbst in die Hand zu nehmen, erlitt aber Mißerfolge und stellte dieses Vorgehen schließlich unter dem Druck der öffentlichen Meinung ein. Selbst entschiedene Befürworter der Eigenbetriebe und die übrigen Krankenkassen-Spitzenverbände verurteilten dieses Ge­ baren als „wirtschaftspolitische Bestrebungen" und „Verquickung von öffentlicher Fürsorge und Geschäft" 84 • Nach Überwindung des Höhepunktes der Inflationszeit verminderte sich die Zahl der kasseneigenen Lieferbetriebe nur allmählich. Da das Reichsarbeitsministerium keine Neigung erkennen ließ, die alte Fas­ sung des § 375 wieder in Geltung zu setzen, trafen 1 924 Vertreter der Krankenkassen und der Apotheker zusammen und vereinbarten Richt­ linien für Verträge zwischen den Parteien. In dem Abkommen vom 14. Dezember 1 924 heißt es zur Selbstabgabe: ,, 3 . Wenn die Krankenkassen auf Selbstabgabe in j eglicher Form ver­ zichten oder solche nicht einführen und den Apotheken die Allein­ lieferung übertragen, soll ihnen auf die gesamte Lieferung ein Sonderabschlag von 8 v. H. gewährt werden. In begründeten Fällen können die bezirklichen Organisationen zugunsten einzelner klei­ nerer Apothekenbetriebe, insbesondere für Apotheken mit einem Jahresumsatz bis zu 15 000,- RM einen geringeren Sonderab­ schlag festsetzen. Verzichten die Kassen nur auf die Selbstabgabe von Arzneimitteln, so ist die Höhe des Sonderabschlags bezirklich oder örtlich zu vereinbaren. 4. Verbandstoffe und Artikel zur Krankenpflege sind nach einer ge­ meinsam herauszugebenden Preisliste zu berechnen, die laufend nachzuprüfen ist85 . " D e r Verzicht auf die Selbstabgabe diente hier also i m Rahmen privater vertraglicher Vereinbarungen als Anreiz für die Krankenkassen. Zwar gaben sie ihre Praxis hierdurch noch nicht völlig auf - insbesondere unterstützte das Heilmittelversorgungsunternehmen des Ortskranken­ kassenverbandes die Selbstabgabe weiterhin -, j edoch besserte sich das Verhältnis zwischen Apotheken und Krankenkassen. H. Schneider8 6 sah 1 928 einen Grund für das Bestreben der Kassen, die Selbstabgabe zu erweitern, darin, daß sich ihnen dadurch zeitweise 84 So in der Resolution der Krankenkassen-Spitzenverbände, Arbeiterver­ sorgung 1925, S. 41 0 ; Paul Weber, Die Hetze gegen die deutsche Krankenver­ sicherung, offensichtlicher Volksbetrug, S. 1 1 0 f. 85 Abdruck der Vereinbarung bei Helmut Lehmann, Verwaltung der Kran­ kenversicherung, Band 1, S. 497 f. ; siehe dort auch § 3 des Mustervertrages auf S. 481. 86 Hans Schneider, Die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit der Kran­ kenkassen unter Berücksichtigung der Allgemeinen Ortskrankenkassen in der letzten Periode des Währungsverfalls, S. 95.

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ein Weg zur wertbeständigen Kapitalanlage eröffnete: die sofortige Anlage der Beiträge in Sachgütern konnte werterhaltend wirken. Mög­ licherweise ist dies auch die Ursache für das Bestehenbleiben vieler Selbstabgabestellen trotz der Vorzugsbedingungen. Im November 1926 gingen dem Reichstag verschiedene Anträge in Bezug auf ein Verbot der Selbstabgabe zu. Ein Antrag der Deutschen Volkspartei beispielsweise hatte folgenden Wortlaut: ,,Der Reichstag wolle beschließen: Die Reichsregierung zu ersuchen, baldtunlichst den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Reichsversicherungsordnung vorzulegen, wodurch den Trägern der Krankenversicherung untersagt wird, die wertvollen Kreise des Mittelstandes (Apothekern, Drogisten, Opti­ ker, Bandagisten usw.) schwer schädigende, die Krankenkassen und Krankenkassenverbände auf finanziell und grundsätzlich bedenk­ liche Abwege abdrängende Eigenversorgung mit Heil- und Korrek­ tionsmitteln (Brillen, Bruchbändern, Bandagen, Stärkungsmitteln, medizinischen Markenartikeln usw.) in irgendeiner Weise zu be­ treiben87." Die Anträge wurden bei den Haushaltsberatungen für das Jahr 1927 mitabgehandelt. Im Plenum führte der Reichsarbeitsminister Brauns aus, daß es bei dem großen Verbrauch von Arznei- und Heilmitteln das natürliche Bestreben der Kassen sei, auf die Preise der Sachleistungen Einfluß zu gewinnen. ,,Preishemmend wirkt allerdings schon die bloße Möglichkeit der Selbstabgabe . . . Das Verbot der Selbstabgabe an die Krankenkassen würde demnach eine Rechtsungleichheit schaffen und für deren Haushalt außerordentlich bedenklich sein88 . " Mit anderen Worten: Die Selbstabgabe sollte nur deshalb nicht verboten werden, weil sie den Krankenkassen als Druckmittel zur Erreichung angemesse­ ner Preise dienen könnte. Die Anträge fanden im übrigen keine Zu­ stimmung89. gg) In den auf ein Verbot der Selbstabgabe abzielenden Anträgen wurden - soweit ersichtlich - erstmals in Gesetzen oder Gesetzes­ initiativen die Optiker ausdrücklich erwähnt. Selbst im Schrifttum 87 RT-Drucks. Nr. 2649, III. Wahlperiode 1924/26 ; vgl. auch die anderen Anträge RT-Drucks. Nr. 2668 und 2711 in derselben Wahlperiode. 88 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstages, III. Wahl­ periode 1924, S. 9366. 89 Der Ansicht Rohwer-Kahlmanns, der Reichstag habe damit eine „grund­ legende Entscheidung des PreußOVG aus dem Jahre 1908" bestätigt (Hoheit­ liche Aufgaben der Krankenkassen und unlauterer Wettbewerb, ZSR 1 980, 92, 1 1 0) vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil diese Entscheidung überhaupt nicht zur RVO, sondern noch zum Krankenversicherungsgesetz von 1892 ergangen war.

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wurden fast immer die Apotheker behandelt, wenn es um die Selbst­ abgabe ging, i. d. R. wurde nur am Rande mitgeteilt, daß auch die Augenoptiker betroffen waren90 • Neben der allgemeinen Problematik der Höhe der Preise (wie sie auch bei den Apothekern vorlag), war besonderer Anlaß der Streitigkeiten zwischen Optikern und den Kran­ kenkassen auch eine Praxis, die schon 1927 wie selbstverständlich erwähnt wird91 : Da die Kasse die Kosten nur für Brillengestelle und Gläser bis zu einem bestimmten Preis trug, der Versicherte aber oft den Wunsch hatte, die Sehhilfe in einer besonderen Ausführung zu erhalten, zahlte er für diese sog. Feinbrille den Betrag, der über den Preis für eine Normalausführung (sog. Kassenbrille) hinausging, selbst hinzu. Den Optikern wurde vorgeworfen, es gehe ihnen weniger um das Kassengeschäft als um das private Zusatzgeschäft92 • Aus Anlaß eines solchen Konflikts ließ beispielsweise die Ortskrankenkasse in Frankfurt am Main durch eine GmbH eine eigene Abgabestelle für Sehhilfen betreiben. Eine wichtige Rolle hierbei spielte auch noch die Heilmittelvertriebsgesellschaft des Ortskrankenkassenverbandes93 , die die gesamte Belieferung mit dem erforderlichen Material übernahm. Die Abgabestelle in Frankfurt gab an die Versicherten sogar Fein­ brillen ab, wobei durch die Geschäftspraxis wesentlich geringere Zu­ zahlungen von den Versicherten verlangt werden konnten als diese sonst die Optiker in Rechnung stellten94 • Der Grundgedanke bei der Einführung der Selbstabgabestellen war anfänglich folgender : Die Gewährung der gesetzlich festgelegten Sach­ leistungen durch die Krankenkasse sollte nicht mehr mittels „Erfül­ lungsgehilfen" (Apotheker, Optiker, usw.) vorgenommen werden, viel­ mehr sollten diese Regelleistungen unter Ausschaltung dieser Personen von der Kasse selbst direkt und unentgeltlich an den Versicherten gelangen. Die Kasse setzte sich also selbst an die Stelle ihrer Hilfs­ personen und leistete das gleiche, das die Hilfspersonen regelmäßig für Rechnung der Kasse dem Versicherten weitergaben. Etwaige Mehr­ leistungen der Hilfspersonen honorierte die Kasse nicht, d. h. sie waren ggf. vom Versicherten selbst zu tragen. Der Kasse gegenüber war der Versicherte nur zur Zahlung der Beiträge verpflichtet; dieses wurde in § 29 Abs. 1 KVG 1883 noch ausdrücklich ausgesprochen, galt aber auch 90 Ausnahme : Schäfer, Zum Kampf gegen Selbstverwaltung und Selbst­ abgabe, Deutsche Krankenkasse 1927, Sp. 107 ff. 91 Bei Schäfer, Zum Kampf gegen Selbstverwaltung und Selbstabgabe, Deutsche Krankenkasse 1927, Sp. 107 ff., 109 f. 92 Schäfer, Zum Kampf gegen Selbstverwaltung und Selbstabgabe, Deutsche Krankenkasse 1927, Sp. 107 ff., 1 1 1 ; vgl. auch N. N., Eine Kampfansage, Deutsche Krankenkasse 1926, Sp. 997. 93 Uber diese Gesellschaft siehe bereits oben S. 38. 0 4 Schäfer, Zum Kampf gegen Selbstverwaltung und Selbstabgabe, Deutsche Krankenkasse 1927, Sp. 107 ff., 1 1 1.

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unter der RVO und war (weil überflüssig) nicht in das Gesetz aufge­ nommen worden : Die unentgeltliche Leistungsgewährung wurde als selbstverständlich angesehen95 • Daß den Kassenmitgliedern für die In­ anspruchnahme der Kasse keine Kosten entstehen sollten, war Teil des Sachleistungsprinzips96 • Hieran änderte sich im Grundsatz auch nichts, als im Oktober 1 923 zur Sicherung der Leistungsfähigkeit der Kassen der Heilmittelkosten­ anteil in Höhe von 10 0/o eingeführt wurde. Nach alledem fällt die Zuzahlung bei Feinbrillen an die kasseneigene oder von der Kassen beherrschte Abgabestelle aus dem Rahmen des ursprünglichen Gedankens der Selbstabgabe und steht darüber hinaus im Widerspruch zu den Intentionen des Gesetzgebers. Das Vorgehen steht dann auch in auffälligem Zusammenhang mit den Vorgängen und Nachwirkungen der Inflationszeit und dem Auftreten der „Heilmittel­ versorgung deutscher Krankenkassen" des Ortskrankenkassenver­ bandes. Im Oktober 1927 kam nach langwierigen Verhandlungen zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Optiker und der optischen Industrie eine Vereinbarung über die Lie­ ferung von Sehhilfen für die Kassenmitglieder zustande97 • Hierin wur­ den sog. Grundpreise ( = Lieferpreise von drei führenden optischen Firmen) und ein Verkaufszuschlag von 33 1 /s 0/o bzw. 50 0/o für die Opti­ ker festgesetzt. Die Preise wurden später mehrfach geändert. Zuzahlun­ gen von Kassenmitgliedern waren nach Nr. 3 des Abkommens aus­ drücklich verboten; bei Verstoß hiergegen hatten die Optiker sogar mit dem Ausschluß von der Kassenbelieferung zu rechnen. In dem Ab­ kommen sicherten die Krankenkassenverbände ferner zu, ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß von den einzelnen Kassen, die Selbst­ abgabeeinrichtungen betrieben, das Weiterbestehen dieser Einrichtun­ gen ernstlich überprüft würde. Infolge vermehrter Zulassung von Kassenlieferanten, sowie durch Lieferungsvereinbarungen, in denen auf die Selbstabgabe zugunsten höherer Rabatte verzichtet wurde, nahm die eigene Abgabe der Kassen gegen Ende der zwanziger Jahre etwas ab. In Düsseldorf z. B . , wo die AOK 1929 von der ausschließlichen Selbstabgabe der Brillen abging, und auch Optiker als Kassenlieferanten zuließ, ging die Zahl der in der eigenen optischen Werkstätte hergestellten und ausgegebenen Sehhil­ fen binnen eines Jahres um ca. 10 0/o zurück98 • Vgl. dazu die bereits zitierte Gesetzesbegründung, Fn. 64. So ausdrücklich schon Albert, Das Verhältnis zwischen Apotheker und Sozialversicherung, 1931 , S. 45. 97 Abdruck, in : Deutsche Krankenkasse 1928, Sp. 87 f. 98 Vgl. die Zahlen, in : Deutsche Krankenkasse 1932, Sp. 425 f. 95

9fl

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hh) Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Kranken­ kassenspitzenverbände, denen während der Zeit der Weimarer Repu­ blik bestimmte Rechte zugestanden worden waren, 1934 der behörd­ lichen Aufsicht unterstellt (RGBL I, S. 93) und 1937 (RGBL I, S. 964) in Reichsverbände mit dem Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften umgebildet, neben denen es keine Spitzenverbände mehr gab. Nach § 414 a Abs. 1 Nr. 2 hatten die Reichsverbände u. a. die Aufgabe, Ver­ träge für das Reichsgebiet oder für Teile des Reiches mit den Verbän­ den und Vereinigungen der Lieferanten der Krankenversicherung, sowie mit den einzelnen Krankenversicherungsträgern oder deren Ver­ bänden abzuschließen bzw. abzuändern. Weiter hatten sie nach dieser Vorschrift auch die Aufgabe, selbst Verträge mit Lieferanten abzu­ schließen oder abzuändern, wenn Vereinbarungen der einzelnen Mit­ gliedskassen mit diesen nicht binnen einer bestimmten Frist zustande kamen99 • In einer Stellungnahme zur Selbstabgabe äußerte der Reichs- und Preußische Arbeitsminister 1936 100 , daß bei der Selbstabgabe das Prin­ zip „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" zu beachten sei, und diese daher nur insoweit Berechtigung habe, als es nicht möglich sei, mit den in Frage kom menden Berufsgruppen angemessene und der Wirtschaft­ lichkeit entsprechende Vereinbarungen zu erzielen. In den Jahren nach 1933 kam es dann auch zu einem Abbau der Eigeneinrichtungen und Selbstabgabestellen der Krankenkassen. Sie wurden entweder ersatzlos geschlossen oder an private Interessenten veräußert1°1• 99 Aus dieser Zeit stammt auch eine Entscheidung des Reichsversicherungs­ amtes (Entscheidung v. 13.11. 1933, Nr. 4711, AN 1934, S. 8), das einer Kran­ kenkasse, die satzungsgemäß Mehrleistungen nicht gewährte, verbot, in ihrer eigenen Zahnklinik besondere Leistungen gegen Zuzahlung zu erbringen. In einem obiter dictum führt das RVA aus, daß die derartige Gewährung von Zahnersatz aber „im Einzelfalle .. . nicht schlechthin unzulässig" sei, ebenso „wie es dem Versicherten überlassen bleib(e), die auf Anweisung der Kasse vom Optiker gelieferte Brille gegen eine Brille besserer Ausstattung unter Zuzahlung des Unterschiedsbetrages umzutauschen". Unverständlicherweise sieht Rohwer-Kahlmann (Oberlandesgericht untersagt Kasse schlichthoheit­ liche Tätigkeit, ZSR 1980, 92, 101, 106 ; Hoheitliche Aufgaben der Krankenkas­ sen und unlauterer Wettbewerb, SGb. 1980, 89, 91) hierin eine Bestätigung der Zulässigkeit der Selbstabgabe von Brillen, obwohl selbst das obiter die­ turn nur auf den Normalfall der beim Optiker bezogenen Brille eingeht; der Umtausch in eine Feinbrille, den das RVO ansprach, vollzieht sich außerhalb der Leistungsgewährung durch die Krankenkasse. Seine Ausführungen kön­ nen auch insoweit nicht nachvollzogen werden, als er meint, das RVA habe sich „in einer Reihe von Entscheidungen" für die Rechtmäßigkeit der Selbst­ abgabestellen ausgesprochen (ZSR 1980, 197 ff., 233), ohne jedoch diese Ent­ scheidungen zu nennen ; an späterer Stelle (a.a.O., S. 242 f.) führt er lediglich zwei Entscheidungen an, die sich jedoch auf eine eigene Zahnklinik bzw. eine Badeanstalt beziehen. 100 Vgl. den Bericht, in : Ortskrankenkasse 1936, S. 1091 f. 1•1 So Polenz, Die Eigenbetriebe der Krankenkasse, DOK 1949, S. 249 ff., 250.

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ii) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von einzelnen Ortskranken­ kassen zum Zwecke einer preisgünstigeren Versorgung der Kassenmit­ glieder mit Heilmitteln die Idee der Selbstabgabe, diesmal insbesondere von Sehhilfen, wieder aufgegriffen. In Düsseldorf, Wuppertal und Essen wurden derartige Einrichtungen 1 949/50 eröffnet. Selbst abge­ geben wurden von den Kassen nicht nur Kassenbrillen, sondern auch Feinbrillen gegen Zuzahlung an die Kasse. Von der Seite verschiedener Ministerien wurde ein Einschreiten gegen die Selbstabgabestellen un­ ter rechtlichen Gesichtspunkten abgelehnt102 • Das galt auch für die Selbstabgabe von Feinbrillen. Der Bundesminister für Arbeit teilte in einem Schreiben 1 9 5 1 anläßlich eines Referentenentwurfs für ein Ge­ setz über die Beziehungen zwischen Ärzten, Zahnärzten, Dentisten und Krankenkassen mit, daß „ die Beseitigung der Selbstabgabestellen und sonstigen Nebenbetrieben der Krankenkassen nicht vorgesehen" sei1°8 • Für die Versorgung mit Brillen wesentliche Gesetzesänderungen gab es in der Bundesrepublik Deutschland nicht. 1955 wurden die Bestim­ mungen über die kassenärztliche Versorgung (§§ 368 ff. RVO) neu ge­ faßt (BGBl. I, S. 5 1 3), zu der auch die Verordnung von Brillen gehört (§ 368 Abs. 2). Nach § 368 e Satz 2 dürfen Leistungen, die für die Erzie­ lung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, weder beansprucht, noch gewährt werden. Bei den Beratungen zum Krankenversicherungs-Weiterentwicklungs­ gesetz vom 20. 1 2 . 1 976 wurde der Vorschlag der Schaffung bestimmter kasseneigener Einrichtungen zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrags gemacht; er fand allerdings keine Zustimmung. Hierbei ist bedeutsam, daß man solche Einrichtungen wohl nicht ohne ausdrückliche Ermäch­ tigung zulassen wollte 104 • Zur Selbstabgabe finden sich im Schrifttum in der neueren Zeit, ab­ gesehen von früher erstatteten Gutachten, nur sehr wenige, kurze Stellungnahmen 105 • Dies mag daher rühren, daß die praktische Rele­ vanz der Eigeneinrichtungen im Laufe der Zeit stark zurückgegangen 102 Vgl. bei Berten, Selbstabgabestellen für Sehhilfen, DOK 1950, 1 54 ff., 156. Zur Situation im allgemeinen vgl. noch : ders., S. 315 f., 433 f., Stellung­ nahme eines Augenoptikerverbandes, S. 432 f. 103 Vgl. DOK 1951, 365. In den ministeriellen Stellungnahmen aber, wie Rohwer-Kahlmann (Oberlandesgericht untersagt Kasse schlichthoheitliche Tätigkeit, ZSR 1980, 92, 101, 1 1 1 ; ders., Hoheitliche Aufgaben der Kranken­ kasse und unlauterer Wettbewerb, SGb. 1980, 89 91) dies tut, ,,Präjudizien" ( !) sehen zu wollen, erscheint nicht vertretbar; insoweit handelt es sich weder um gesetzgeberische Stellungnahmen noch um eine maßgebliche juristische Würdigung, die den Gerichten vorbehalten ist. Aus dem zuletzt genannten Grunde sind auch Vorbehalte gegen die Äußerungen des RVA angebracht. 1 04 Vgl. dazu Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst, 1 980, s. 79. 105 Vgl. die Nachweise bei Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesund­ heitsdienst, 1980, S. 10 - 12.

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ist. Nach einer Statistik über die Eigenbetriebe der Ortskrankenkassen im Bundesgebiet und Berlin (West) mit dem Stand 31. 12. 1970 gab es hier zwar 61 Eigenbetriebe, davon jedoch nur eine Selbstabgabestelle für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel sowie drei optische Werkstätten106 • kk) Bei der Auswertung dieses historischen Rückblicks ist zunächst einmal festzustellen, daß die RVO zwar - in Teilbereichen - die Be­ ziehungen der Krankenkassen zu den Apotheken, nicht aber zu den Optikern und anderen Lieferanten ausdrücklich regelt, sieht man ein­ mal von § 407 Abs. 1 RVO ab, auf den noch einzugehen sein wird. Die RVO knüpft an die Vorschriften über die Heilmittelversorgung im Krankenversicherungsgesetz von 1883 an. Die Apotheker waren dort schon erwähnt worden (§ 46 KVG 1883, §§ 6 a, 26 a KVG 1892), was nicht zuletzt an ihrer schon zahlenmäßig größeren Bedeutung gelegen haben dürfte. Die §§ 375, 376 RVO waren die Reaktion des Gesetzgebers auf die um die Jahrhundertwende aufgetretenen Streitigkeiten mit den Kassen, die bis zu Apothekerstreiks gingen. Demgegenüber waren die Optiker nicht derart massiv in Erscheinung getreten, ihre Bedeutung war z. Zt. der Schaffung des Krankenversiche­ rungsgesetzes nicht nur von der Zahl her unvergleichbar geringer als in der Gegenwart. Die Entwicklung der modernen Augenoptik setzte erst in diesem Jahrhundert ein. Noch später aufkommende Berufs­ zweige, wie z. B. die Hörgeräteakustiker, existierten bei Erlaß der RVO noch gar nicht. Es verwundert also nicht, daß die Beziehungen der Kassen zu anderen Lieferanten von Krankenpflegebedarf eine nur spärliche Erwähnung in der RVO fanden. Die Selbstabgabe von Brillen hat demgegenüber von Anfang an keine in der RVO liegende Grundlage. Das blieb auch so, als 1927/28 ein Ver­ bot der Selbstabgabe wegen ihres wünschenswerten preisdrückenden Effekts nicht zustande kam und gilt bis in die Gegenwart, wie dargelegt worden ist. Fragt man weiter, inwieweit in der Vergangenheit die Selbstabgabe von Brillen durch die Ortskrankenkassen tatsächlich praktiziert worden ist, so ist festzustellen, daß solche Einrichtungen vereinzelt bereits seit Anfang dieses Jahrhunderts existierten. Die Selbstabgabe von Brillen - wie auch von Heilmitteln - ist immer dann ausgeweitet worden und hat damit eine nennenswerte Bedeutung bekommen, wenn Krisen­ zeiten eines heute unvorstellbaren Ausmaßes herrschten oder voran­ gegangen waren (Erster Weltkrieg, Inflationszeit, Weltwirtschaftskrise, Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg). Anlaß zur Errichtung der kassen­ eigenen Abgabestellen waren neben der fortdauernd kontroversen Frage der Kostenhöhe im Heilmittelsektor auch Versorgungsprobleme 106

Statistik, in : DOK 1971, 801.

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und das Bestreben der Kassen, die j eweilige wirtschaftliche Krise so wenig kostenintensiv wie möglich zu durchstehen. Mit dem Abflauen der wirtschaftlichen Bedrängnis wurde die Selbstabgabe allerdings zu­ meist nicht sofort wieder abgebaut, vielmehr suchte man sich mit diesem Versorgungsmodus gegen künftige Krisen größeren Ausmaßes zu wappnen, z. T. mögen auch Motive rein erwerbswirtschaftlicher Art bestanden haben, die zu einer Beibehaltung von Selbstabgabestellen führten. Von einer tatsächlichen Übung kann man j edoch nicht spre­ chen, allenfalls beschränkt auf Krisenzeiten. Zur Bildung von Gewohnheitsrecht 107 muß im übrigen aber auch die vorherrschende Rechtsüberzeugung treten, daß die tatsächliche Übung rechtens ist. Die Selbstabgabe ist jedoch in der Vergangenheit stets um­ stritten gewesen. Allenfalls in der Zeit unmittelbar nach der Entschei­ dung des Preußischen OVG aus dem Jahre 1908 108 könnte man auf­ grund der Autorität dieses Gerichts davon sprechen, daß die Praxis die Zulässigkeit von Selbstabgabestellen bej ahte, wobei diese Entscheidung sich nicht speziell auf Brillen bezog. Wie die späteren erneuten Auseinandersetzungen über die Selbst­ abgabestellen beweisen, wurde die Entscheidung des Preußischen OVG in der Folgezeit nicht mehr allgemein respektiert. Das ist auch insofern erklärlich, als die Rechtslage, auf die sich das Preußische OVG glaubte stützen zu können, wenig später weggefallen ist. An die Stelle des Krankenversicherungsgesetzes von 1 883 und 1892 trat die RVO, die die Krankenversicherung in wesentlich ausführlicherer und verfeinerter Weise regelte. Vor allem aber änderte sich mit der Weimarer Reichs­ verfassung und später mit dem Grundgesetz die grundsätzliche Auf­ fassung von der Stellung öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes existierte in dieser Form im Jahre 1 908 noch nicht, sie hat ihre moderne Ausprägung erst nach dem Zwei­ ten Weltkrieg erfahren 1 09 ; auch die Auffassung von der Abgrenzung des privaten zum öffentlichen Sektor hat sich geändert, wie im einzel­ nen in Teil C dieses Gutachtens dargelegt wird. Demgemäß veränderte Zu den Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts vgl. nochmals Fn. 42. PreußOVGE 53, 376 ff. 109 Vgl. z. B. die Arbeiten von Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, und Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965. Insofern muß auch diese Entscheidung entgegen der Meinung Rohwer-Kahlmanns (ZSR 1980, 197 ff., 232 f.) relativiert werden, der von einer „grundlegenden und richtungsweisenden Entscheidung" spricht. Die Entscheidung geht eben­ so wie Stellungnahmen in der Zeit danach von rechtlichen Prämissen aus, die nach dem heutigen Verständnis von den Befugnissen hoheitlicher Organe überholt sind (vgl. im einzelnen die Ausführungen von Scholz in Teil C des Gutachtens). Das wird etwa auch daran deutlich, daß das PreußOVG sogar für unbedenklich hielt, wenn Kassenmitglieder verpflichtet würden, Heil­ mittel nur von wenigen, von der Kasse bestimmten Lieferanten zu beziehen. 10 7

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sich auch die vorhandene Rechtsüberzeugung über die Kompetenz der Sozialversicherungsträger. Vor allem aber darf bei der Auswertung der geschichtlichen Entwick­ lung nicht außerachtgelassen werden, daß durch die Ausdehnung der gesetzlichen Krankenversicherung die Stellung der Krankenversiche­ rungsträger sich grundlegend geändert hat; aus genossenschaftlich organisierten Hilfseinrichtungen für wirtschaftlich schwache Bevölke­ rungsschichten sind öffentlich-rechtliche Körperschaften der Daseins­ vorsorge geworden, deren Aufbau und Tätigkeitsfeld bis ins einzelne gesetzlich geregelt ist und die fast die gesamte Bevölkerung in ihren Schutz einbeziehen. Waren im Jahre 1908 bei einer Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich von ca. 63 Millionen nur etwa 13 Millionen von der Krankenversicherung erfaßt, d. h. etwas über 20 ¾ 110 , so werden heute fast 90 0/o der Bevölkerung durch die soziale Krankenversicherung geschützt1 1 1 • Von einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung der Selbstabgabe­ stellen kann somit aus einer Mehrzahl von Gründen keine Rede sein : (1) Selbstabgabestellen hat es in nennenswertem Umfang überhaupt nur aus Anlaß von Notsituationen gegeben. Eine allgemeine Übung ist daher nicht nachweisbar. Das gilt insbesondere für die Selbst­ abgabe von Sehhilfen. (2) Die Zulässigkeit von Selbstabgabestellen ist - zumindest über einen längeren Zeitraum - nicht allgemein anerkannt worden. (3) Soweit eine Selbstabgabe durch Krankenkassen noch vor dem 1. Weltkrieg zeitweilig rechtlich anerkannt worden ist, können daraus für die heutige Zeit keine Schlüsse gezogen werden, denn die für die Wertung maßgeblichen juristischen und tatsächlichen Um­ stände haben sich seither grundlegend geändert. Das wird besonders deutlich an dem veränderten verfassungsrechtlichen Verständnis von der Stellung und den Kompetenzen öffentlich-rechtlicher Kör­ perschaften und der quantitativen und qualitativen Ausdehnung der gesetzlichen Krankenversicherung. 3. Selbstabgabe durch Krankenkassen als notwendiges Erfüllungsgeschäft? a) Die bisherige Prüfung hat ergeben, daß weder eine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung noch ein gewohnheitsrechtlicher Satz die Kran­ kenkassen zur Einrichtung von Selbstabgabestellen ermächtigt. Die 110 111

Vgl. Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, 2. Aufl. 1 973, S. 60. Vgl. Schewe u. a., Übersicht über die Soziale Sicherung, 10. Aufl. 1977,

s. 1 84/185.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

Selbstabgabe kann demgemäß nur dann ein zulässiges Geschäft i. S. des § 30 Abs. 1 SGB IV sein, wenn sie notwendig zur Erfüllung der den Krankenkassen obliegenden Aufgabe, der Versorgung mit Brillen, ist und der Gesetzgeber keine anderen Geschäfte zur Erfüllung der ge­ setzlichen Verpflichtung - Versorgung mit Sehhilfen - vorgesehen hat. Nun hat der historische Rückblick schon gezeigt, daß die Selbstabgabe nicht der übliche Weg für eine Versorgung der Versicherten mit Brillen ist , vielmehr handelt es sich dabei, sieht man von vorübergehenden Notzeiten ab, um eine ganz singuläre Einzelerscheinung. Der übliche, reguläre Weg, der auch heute noch ganz überwiegend gewählt wird, ist die Versorgung mit Brillen unter Heranziehung von freiberuflichen Optikern, wobei zwischen Kassen und Optikern Vertragsbeziehungen begründet werden. Es wird daher nachfolgend zu prüfen sein, ob (1) dieses Vertragssystem zur Brillenversorgung im geltenden Sozial­ versicherungsrecht verankert ist (dazu nachfolgend unter b) und soweit dies der Fall ist (2) die Selbstabgabe neben dem Vertragssystem erforderlich ist, um die Aufgabe der Kassen, die Brillenversorgung der Versicherten sicher­ zustellen, zu erfüllen (dazu nachfolgend unter c). b) Der Gesetzgeber hat, wie dargelegt worden ist, keinerlei Aussagen über Selbstabgabestellen getroffen. Wohl aber hat er zumindest zu er­ kennen gegeben, daß er bei der Versorgung der Versicherten mit Bril­ len von der Einschaltung der Augenoptiker durch Verträge ausgeht. Das ergibt sich aus § 407 Abs. 1 Nr. 2 RVO, wonach der Kassenverband für die angeschlossenen Kassen gemeinsame Verträge unter anderem über Lieferung von Heilmitteln und anderen Bedürfnissen der Kran­ kenpflege vorbereiten oder abschließen kann. Diese Vorschrift ist zwar unmittelbar eine Regelung über die Kompetenz der Kassenverbände, sie sagt aber auch, daß von der Reichsversicherungsordnung solche Verträge zwischen Krankenkassen und Augenoptikern vorausgesetzt werden. Die Kassenverbände können nämlich auch Verträge vorbe­ reiten; die vorbereiteten Verträge werden aber von den einzelnen Kassen dann selbst abgeschlossen. § 407 Abs. 1 Nr. 2 RVO ist also zur Stärkung der Position der einzelnen Kassen gedacht. Auch um Rechts­ ungleichheiten zu vermeiden, werden Verträge üblicherweise auf einer höheren Ebene abgeschlossen. Die außerdem in § 407 erwähnten Ver­ träge mit Ärzten, Zahnärzten und Zahntechnikern sind sogar heute obligatorisch auf Landes- und Bundesebene zu schließen (§ 368 g RVO). Daher ist nicht auszuschließen, daß der Gesetzgeber, weil er dies als

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den häufigsten Fall betrachtete, die Verträge mit den Lieferanten des Krankenpflegebedarfs allein im Zusammenhang mit den Kassenver­ bänden erwähnte. Die Befugnis der einzelnen Krankenkassen zum Abschluß von Verträgen mit Augenoptikern läßt sich also durch Aus­ legung des § 407 RVO entnehmen. Außerdem folgt aus dieser Vorschrift, daß der Gesetzgeber bei der Versorgung mit Heilmitteln und anderen Bedürfnissen der Kranken­ pflege, also auch Sehhilfen, von einem Vertragssystem ausgegangen ist. Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn man untersucht, in welcher Weise die Krankenkassen die Versorgung mit sonstigen Leistungen, zu deren Erbringung sie verpflichtet sind, sicherzustellen haben. Ganz regelmäßig hat der Gesetzgeber das Instrumentarium des Vertrages vorgeschrieben; das gilt selbst da, wo das Verhältnis zwischen Kranken­ kasse und dem Vertragspartner öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist. Durch Verträge ist, soweit der Gesetzgeber keine Regelung getroffen hat, das Verhältnis zwischen kassenärztlichen Vereinigungen und Kran­ kenkassen auszugestalten; das gilt insbesondere für die Festsetzung der Gesamtvergütung (§§ 368 f, 368 g RVO) sowie die Möglichkeit der Reha­ bilitation (§ 368 s RVO). Im Rahmen dieses Kassenarztsystems schließen die Kassenärztlichen Vereinigungen, soweit ärztliche Leistungen von Nicht-Kassenärzten erbracht werden, ihrerseits Verträge, und zwar gemäß § 368 n Abs. 3 RVO mit den Krankenhäusern und ihren Ver­ bänden über die in Krankenhäusern ausgeführten ärztlichen Sach­ leistungen und mit den Hochschulen über die Vergütung der Behand­ lung in poliklinischen Einrichtungen; auch über die ambulante Erbrin­ gung der in § 200 f RVO aufgeführten Leistungen (Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch) schließen die kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenhäuser Verträge (§ 368 n Abs. 6 RVO). Gemäß § 368 g Abs. 5 a RVO wird die Vergütung der Zahntechniker in Verträgen zwischen dem Landesverband der Krankenkassen und den Vertretern der Innungen oder Innungsverbände geregelt112 • Schließlich wird für das Verhältnis mit den Krankenkassen in § 372 RVO und mit den Apotheken in § § 375, 376 RVO das Instrumentarium des Vertrages vorgesehen und vorgeschrieben. Auch in Randbereichen sieht man, daß der Gesetzgeber generell von Bestehen von Verträgen mit den in § 122 RVO genannten Personen, den Heilanstalten, den Apothekern und den Lieferanten ausgeht. Diese Verträge werden nämlich im Zusammenhang mit der Zusammenlegung von Kassen in § 2 9 1 Abs. 2 RVO erwähnt. 1 12 Vgl. dazu Schallen, Die Einbeziehung der zahntechnischen Leistungen in das System des Kassenarztrechts, SGb. 1978, 270, 273.

4 von Maydell / Scholz

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

Die allgemeine Regel, daß der Gesetzgeber ein Vertragssystem und damit die Einschaltung von selbständigen „Lieferanten" für die Kran­ kenversorgung der Versicherten vorgesehen hat, wird nicht widerlegt sondern vielmehr bestätigt durch die wenigen Ausnahmen, die der Gesetzgeber von diesem Prinzip vorgesehen hat. So werden gemäß § 376 a RVO die Gebühren der Hebammen vom Staat festgesetzt; einer solchen Festsetzung bedürfte es j edoch nicht, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, daß die Versicherung die Dienste der Heb­ ammen selbst, d. h. durch angestellte Hebammen, erbringen würden. Von einer Ausnahme könnte man allenfalls sprechen, sofern es die häusliche Pflege durch Krankenpfleger und Krankenschwestern und den Einsatz von Haushaltshilfen anbelangt (§§ 185, 185 a, 185 b RVO). Diese Leistungen werden in der Regel durch angestellte Schwestern und Haushaltshilfen der Krankenkassen erbracht. Bedeutsam ist, daß in § 376 b RVO eine besondere Ermächtigung zur Einstellung dieser Personen enthalten ist. Der Grund dafür, daß in diesem Falle der Gesetzgeber vom Vertragssystem abgewichen ist, liegt darin, daß die insoweit benötigten Dienste nicht von selbständig praktizierenden Per­ sonen angeboten werden. Es konnte insoweit nicht auf einen Angebots­ markt zurückgegriffen werden, auf dem mit Hilfe von Verträgen die notwendigen Leistungen zugunsten der Versicherten von der Kasse ,,erworben" werden könnten. Soweit allerdings Einrichtungen beste­ hen, die häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe zur Verfügung stellen, so ist das Verhältnis mit diesen Einrichtungen wiederum durch Verträge zu regeln (§ 376 b Satz 2 RVO). Die Vorschrift des § 376 b RVO zeigt sehr deutlich dreierlei : (1) Der Gesetzgeber geht von dem Grundsatz aus, daß die von den Krankenkassen den Versicherten zu gewährenden Leistungen nicht von der Kasse selbst erbracht sondern nur von der Kasse bezahlt werden. Die Ausnahme für Haushaltshilfen und häusliche Kranken­ pflege bedurfte daher einer besonderen Regelung. (2) Der Gesetzgeber hat in § 376 b Satz 1 RVO eine ausdrückliche Er­ mächtigung für die Einstellung von Krankenschwestern und Haus­ haltshilfen geschaffen. Er hat also keineswegs die allgemeine Auf­ gabenbestimmung in §§ 182, 185, 185 a und b RVO für ausreichend erachtet. (3) Für die Versorgung mit Sehhilfen ist ein Angebotsmarkt vorhanden. Es ist daher nicht erforderlich, daß die Kassen diese Leistungen in Natur selbst erbringen. I>aß in diesem Punkte eine dem § 376 b Satz 1 RVO entsprechende Ermächtigung fehlt, ist daher kein Zu­ fall ; darin kommt vielmehr zum Ausdruck, daß es insoweit einer Durchbrechung des Vertragsprinzips nicht bedurfte.

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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c) aa) Die vorangegangene Prüfung hat gezeigt, daß der Gesetzgeber für die Versorgung der Versicherten mit Brillen ein System vorgesehen hat, das auf der Heranziehung der Augenoptiker mittels des Vertrags­ instrumentariums beruht 1 1 3 . Man spricht insoweit von einem Tren­ nungsprinzip 1 1 4 zwischen Versicherung und der Versorgung mit den notwendigen Heilmitteln und Brillen. Neben diesem Vertragsinstru­ mentarium, das für das Trennungsprinzip typisch ist, könnte eine Selbstabgabe von Kassenbrillen nur dann zulässig sein, wenn die Selbstabgabe als Ergänzung oder Korrektur des Vertragssystems not­ wendig wäre, um den Krankenkassen die Erfüllung ihrer Aufgabe die Versorgung mit Sehhilfen - zu ermöglichen. Dies wird nachfol­ gend zu überprüfen sein. Dabei wird man insbesondere zu beachten haben, daß eine Ergänzung oder Korrektur des Vertragssystems nur insoweit möglich ist, als dieses System, das als ein Grundprinzip des Sozialversicherungsrechts 1 15 bezeichnet werden kann, dadurch nicht in Frage gestellt wird. bb) Erforderlich zur Erfüllung der Aufgabe „Versorgung mit Bril­ len" neben dem Vertragssystem wären die Selbstabgabestellen nur dann, wenn allein durch ihre Zulassung eine ausreichende und wirt­ schaftliche Versorgung gewährleistet werden könnte. Die Ortskranken­ kassen begründen die Notwendigkeit der Selbstabgabe damit, daß durch sie eine weitere Kostensteigerung im Gesundheitswesen ge­ bremst werden könnte, weil durch die Existenz der Selbstabgabestellen die Preisforderungen der Augenoptiker heruntergedrückt werden wür­ den 1 1 6 . Außerdem ermöglichten die Selbstabgabestellen ein besseres 113 Ebenso Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst, 1980, S. 109 und passim. 1 14 Von diesem Trennungsprinzip gehen auch die Kassen und ihre Verbände aus, wie sich z. B. aus den von dem Bundesverband der Ortskrankenkassen und dem Bundesverband der Betriebskrankenkassen erarbeiteten „Grund­ sätze und Forderungen zum Vertragsrecht der Krankenkasse" ergibt (BKK 1974, 5*). Dort wird u. a. folgende Forderung aufgestellt : ,,Der Gesetzgeber, der die Krankenkassen zur Gewährung von Naturalleistungen verpflichtet, muß die Voraussetzungen schaffen, daß Regelungen zustande kommen (vor allem durch Vereinbarungen und Beschlüsse gemeinsamer Gremien), mit deren Hilfe die Ansprüche auf diese Leistungen erfüllt werden können. 115 Diese Aussage kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, daß ein Widerspruch des Vertragsprinzips mit dem Sachleistungsgrundsatz kon­ struiert wird (so das OLG Düsseldorf v. 22. 5. 1980, S. 21 der Urteilsgründe). Dabei wird verkannt, daß das Sachleistungsprinzip im Gegensatz zum Ko­ stenerstattungsprinzip steht. Zwischen Sachleistungs- und Vertragsprinzip besteht keine Antinomie, denn das Sachleistungsprinzip sagt - entgegen den Darlegungen von Rohwer-Kahlmann (ZSR 1980, 197 ff., 205 ff.) - nichts dar­ über aus, in welcher Weise dem Versicherten die Sachleistung, auf die er allein Anspruch hat, zur Verfügung gestellt wird (so zutreffend Zacher / Friedrich-Marczyk, Zum Wesen des Sachleistungsprinzips im gesetzlichen Krankenversicherungsrecht, ZfS 1980, 97 ff.). 116 So spricht auch das OLG Düsseldorf in seinem Urteil vom 22. 5. 1980 (S. 21 der Urteilsgründe) von einer „preisregulierenden" Wirkung der Selbst-

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

und erweitertes Angebot an Kassenbrillen, da die Augenoptiker häufig nicht ein qualitativ und umfangmäßig ausreichendes Angebot an Kas­ senbrillen vorrätig hätten. Soweit es den Aspekt der Kostendämpfung anbelangt, wird die Frage der Wirtschaftlichkeit der Brillenversorgung angesprochen. Bei der Wirtschaftlichkeit oder der Unwirtschaftlichkeit kann man nicht allein darauf abstellen, welches Verfahren bei der Brillenversorgung die Kasse mit den geringeren Kosten belasten. Unwirtschaftlichkeit liegt vielmehr nur dann vor, wenn die Kassen für die den Versicherten zur Verfügung zu stellenden Sehhilfen Preise zahlen müssen, die überhöht sind. Abzustellen ist dabei auf den Marktpreis. Es liegen keine An­ haltspunkte dafür vor, daß die zwischen Kassen und Augenoptikern aufgrund des Vertragsmechanismus ausgehandelten Preise unter Zu­ grundelegung des Marktpreises überhöht sind. Davon könnte man allenfalls dann sprechen, wenn die Augenoptiker auf dem Markt ein Übergewicht besäßen. Solches Marktübergewicht besteht jedoch nicht. Viel eher könnte man von einer stärkeren Machtposition bei den Kas­ sen sprechen, die praktisch bei dem hohen Prozentsatz der von der Krankenversicherung erfaßten Bevölkerung eine Monopolstellung innehaben. In Anbetracht dieser faktischen Monopolstellung besteht kein Anlaß, durch ein zusätzliches - im übrigen nicht marktkonformes - Instrumentarium, nämlich die Selbstabgabe, das Marktungleich­ gewicht noch weiter zu Ungunsten der Augenoptiker zu verschieben. Diese Aspekte sind bei der Forderung nach Wirtschaftlichkeit zu be­ rücksichtigen. Eine solche Forderung kann daher Selbstabgabestellen nicht als notwendig zur Erfüllung der Versorgungsaufgabe rechtferti­ gen. Mit Hilfe des Vertragsinstrumentariums haben die Kassen die Möglichkeit, ihre berechtigten Belange nach Kostendämpfung zur Gel­ tung zu bringen. Soweit die Ortskrankenkassen die Selbstabgabe damit rechtfertigen, daß nur so eine ausreichende Versorgung mit Kassenbrillen gewähr­ leistet wird, übersehen sie, daß auch insoweit in Form der bestehenden Verträge ein Instrumentarium zur Verfügung steht, mit dem sicher­ gestellt werden kann, daß die Augenoptiker eine genügende Auswahl an Kassenbrillen führen. Die Verträge enthalten ganz detaillierte Be­ stimmungen über die Qualität und die Anzahl der von den Augenopti­ kern vorrätig zu haltenden und den Versicherten anzubietenden Bril­ lenmodellen. So bestimmen z. B. die Abgabebestimmungen, die Teil des Rahmenvertrages über die Versorgung Anspruchsberechtigter durch abgabe, ohne allerdings einen Gedanken darauf zu verschwenden, wodurch diese Wirkung erzielt wird, und ob den Kassen nicht marktkonforme Mittel im Rahmen des Vertragssystems zur Verfügung stehen, um auf eine ange­ messene Preisgestaltung hinzuwirken.

III. Sozialversicherungsrecht und Kassenbrillen

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Augenoptiker in Nordrhein-Westfalen sind, daß die Augenoptiker min­ destens je drei marktübliche Fassungsmodelle für Damen und Herren zur Auswahl anzubieten haben, und zwar j edes dieser Modelle in unter­ schiedlichen Farben. Die Ausführungen der Modelle müssen dem j ewei­ ligen Marktangebot entsprechen. Es folgen in diesen Abgabebestim­ mungen zahlreiche weitere Regelungen, die zusätzliche Festlegungen über die von den Augenoptikern zu führenden Brillenmodelle enthal­ ten. Hinzu kommen Bestimmungen über die Mindestausstattungen der Werkstatt und des Lagers. Die Augenoptiker sind verpflichtet, diese Bestimmungen einzuhalten (vgl. z. B. § 14 des nordrhein-westfälischen Rahmenvertrages). Verletzungen der Verpflichtungen können zu einer Beendigung der Lieferungsberechtigung für den einzelnen Augenopti­ ker führen (vgl. z. B. §§ 5, 8 des nordrhein-westfälischen Rahmen­ vertrages). Diese wenigen Hinweise machen deutlich, daß es genügend Möglich­ keiten im Rahmen der Verträge gibt, eine ausreichende Versorgung mit Kassenbrillen sicherzustellen. Tatsächlich haben die Vertragspartner diese Möglichkeiten auch ausgenutzt und ein entsprechendes Instru­ mentarium geschaffen. Es ist nicht ersichtlich, wieso dieses Instru­ mentarium nicht praktikabel sein sollte. Damit ist aber gleichzeitig nachgewiesen, daß auch insoweit die Selbstabgabe nicht erforderlich ist, um eine ausreichende Versorgung mit Sehhilfen sicherzustellen. cc) Nun ist die Erforderlichkeit nicht die einzige Voraussetzung für die Zulässigkeit der Selbstabgabe neben dem Vertragssystem. Eine Durchbrechung des Trennungsprinzips darf auch nicht in Widerspruch zu allgemeinen Prinzipien des Sozialversicherungsrechts stehen. Ein solches Prinzip ist, wie dargelegt worden ist, das Vertragssystem, wo­ nach die zur Versorgung der Versicherten notwendigen Dienstleistun­ gen und Mittel der Krankenversorgung grundsätzlich nicht von den Kassen selbst vertrieben werden sondern mit Hilfe des Vertragsinstru­ ments auf dem j eweiligen Markt zugunsten der Versicherten erworben werden. Die Versicherungsträger, die aufgrund des staatlichen Ver­ sicherungszwanges alle nach der gesetzlichen Definition Versicherungs­ pflichtigen erfassen, sind keine personenrechtlich organisierte Konsum­ genossenschaften zur möglichst billigen Eindeckung mit Heil- und Hilfsmitteln für die Krankenversorgung ; dies mag in der Vergangen­ heit bei den früheren freien Hilfskassen anders gewesen sein. Den heutigen Versicherungsträgern ist das Vertragssystem vorgegeben. Die­ ses System ist dadurch gekennzeichnet, daß zwischen den Kassen bzw. ihren Verbänden und den Innungen der Augenoptiker Rahmenverträge geschlossen werden, in denen die Modalitäten der Lieferung von Seh­ hilfen durch Augenoptiker geregelt werden. Die einzelnen Augenopti­ ker haben, soweit sie die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

des Rahmenvertrages erfüllen, die Möglichkeit des Beitritts. Mit diesem Vertragssystem ist die Selbstabgabe letztlich nicht vereinbar, denn die Ortskrankenkassen, die Selbstabgabestellen einrichten, versetzen sich damit in die Rolle des Vertragspartners. Daß dadurch das Vertrags­ system insgesamt, d. h. also ein tragendes Prinzip des geltenden Sozial­ versicherungsrechts, gefährdet wird, ergibt sich aus einer Mehrzahl von Aspekten: (1) Durch die Rahmenverträge erhalten die Kassen weitgehende Ent­ scheidungs- und Überwachungsrechte. So entscheidet gemäß § 3 des nordrhein-westfälischen Rahmenvertrages die von der örtlichen Krankenkasse genannte Stelle über Anträge auf Erteilung der Lie­ ferungsberechtigung (vgl. auch § 2 der Vereinbarung über die Lie­ ferung von Sehhilfen für Niedersachsen und Bremen). Die Kassen haben darüber hinaus regelmäßig nach den Rahmenverträgen auch ein Überprüfungsrecht, das sogar Betriebsbegehungen mit ein­ schließt (vgl. z. B. § 20 des nordrhein-westfälischen Rahmenvertra­ ges und § 1 5 des entsprechenden Vertrages für Niedersachen und Bremen). Solche für die Augenoptiker einschneidenden Rechte lassen sich nur mit der Position der Ortskrankenkasse als Nachfrager rechtfertigen. Unvereinbar mit dieser Position ist, daß die Kassen sich gleichzeitig als Wettbewerber ihres Vertragspartners betätigen und in dieser Eigenschaft zumindest potentiell die aus den vertraglichen Über­ wachungsbefugnissen gewonnenen Erkenntnisse dazu ausnutzen können, um ihre Wettbewerbsposition zu verbessern. Eine Kasse, die gleichzeitig auch Sehhilfen vertreibt, hat nicht die notwendige Un­ abhängigkeit, die für die in den Verträgen vorgesehene Überwa­ chung notwendig ist. (2) Die Ortskrankenkassen haben, zumindest im Verbund mit anderen Kassen, eine marktbeherrschende Stellung auf dem Markt der Seh­ hilfen117 . Die Kasse darf diese Stellung nicht marktwidrig ausnutzen. Die Selbstabgabe dient aber erklärtermaßen dem Ziel, durch das eigene Angebot preisdämpfend auf den Vertragspartner einzuwir­ ken. Die Ortskrankenkasse benutzt die Selbstabgabe somit als Druckmittel und verstärkt damit ihre Position als monopolistischer Nachfrager noch zusätzlich. Ein solches Verhalten ist auch wettbe­ werbsrechtlich fragwürdig. (3) Wäre die Selbstabgabe zulässig, so erhielten die Ortskrankenkassen ein Instrumentarium, mit dem sie ihre Vertragspartner letztlich vom 117 Mit vollem Recht fordert daher Siebeck, Marktprobleme der Kranken­ versicherung, DOK 1977, 333 auch von den Kassen ein marktgerechtes Ver­ halten. Dies bedeutet aber auch, daß die Regeln der Marktwirtschaft beachtet werden müssen.

IV. Sozialversicherungsrecht und Feinbrillen

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Markt verdrängen könnten. Die Selbstabgabestellen könnten so dazu benutzt werden, die Existenz des Berufsstandes der freiberuf­ lichen Augenoptiker vollständig zu vernichten. Die Ortskranken­ kassen haben aufgrund ihrer Stellung als öffentlich-rechtlicher Ver­ sicherungsträger Wettbewerbsvorteile, die - bei voller Ausnutzung - die Konkurrenzfähigkeit der freien Augenoptiker beseitigen würde. Die Ortskrankenkassen haben nämlich erhebliche Steuer­ vorteile, da sie praktisch nicht steuerpflichtig sind. Sie werden nicht belastet mit den Aufwendungen für die berufsständische Vertre­ tung. Sie haben schließlich die Möglichkeit, eigenes Personal und Räumlichkeiten für die Zwecke der Selbstabgabe einzusetzen, wobei kaum zu kontrollieren ist, ob die dabei eingesetzten Einstandspreise den tatsächlichen Marktpreisen entsprechen. Die Ortskrankenkassen müssen ferner keine Gewinne erwirtschaften. Schließlich haben sie durch die Möglichkeit der unmittelbaren Ansprache ihrer Versicher­ ten einen weiteren entscheidenden Wettbewerbsvorteil, den sie ohne großen Werbeaufwand realisieren können. Diese Vorteile könnte eine Ortskrankenkasse dazu benutzen, ein Angebot von verbesserten Kassenbrillen und verbilligten Feinbrillen bereitzuhalten, mit dem die freiberuflichen Augenoptiker nicht konkurrieren können. Letzt­ lich ist es dann nur noch eine taktische Frage, ob die Ortskranken­ kassen und die anderen Krankenkassen diese Vorteile voll ausspielen wollen. Tun sie es, so könnten sie damit den Berufsstand der freien Augenoptiker ruinieren und gleichzeitig ihren Vertragspartner be­ seitigen. Dadurch würde das Vertragssystem in diesem Sektor hin­ fällig. Letztlich dürften an dieser Entwicklung weder die Versicher­ ten noch die Allgemeinheit ein Interesse haben, zumal sie im wesentlichen durch einen Steuereinnahmeverzicht des Staates er­ kauft würde, der zwar die freien Augenoptiker, nicht aber die Ortskrankenkassen besteuert. IV. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Abgabe von Feinbrillen

1 . Ausgangspunkt Für Kassenbrillen ist dargelegt worden, daß es an einer Ermächti­ gung für die Einrichtung von Selbstabgabestellen fehlt. Weder hat der Gesetzgeber eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für das Ge­ schäft der Abgabe von Kassenbrillen geschaffen, noch läßt sich die Selbstabgabe damit rechtfertigen, daß nur auf diese Weise die Kassen ihre Aufgabe, die Versicherten mit Brillen zu versorgen, erfüllen könn­ ten. Schließlich ist, wie dargelegt worden ist, die Abgabe von Brillen

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

unvereinbar mit dem Trennungsprinzip. Das vom Gesetzgeber vorge­ schriebene Vertragssystem würde durch Selbstabgabestellen ausgehöhlt und könnte letztlich ganz beseitigt werden. Diese Erwägungen gelten in gleicher Weise für Kassen- wie für Fein­ brillen. Nachfolgend soll daher nur untersucht werden, ob für Feinbril­ len noch zusätzliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. 2. Versorgung mit Feinbrillen - keine Aufgab e der Krankenv ersicherung

Gemäß § 30 Abs. 1 SGB IV dürfen die Ortskrankenkassen nur inso­ weit tätig werden, als es um die Erfüllung einer vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgabe geht. Außerhalb dieses Bereichs besteht keine Kompetenz zum Tätigwerden. Die Aufgabe der Krankenversicherung wird in §§ 1 79, 182 RVO fixiert. Sie umfaßt insbesondere die Versor­ gung mit Brillen gemäß § 182 Abs. 1 Ziff. 1 lit. b RVO. Eine Leistungs­ pflicht nach § 182 Abs. 1 RVO besteht auch bei der Versorgung mit Bril­ len nur im Falle der Krankheit, d. h. einem regelwidrigen Körperzu­ stand, der Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Die Leistungspflicht ist gleichzeitig begrenzt auf die Leistungen, die zur Heilung der Krankheit oder zur Korrektur des regelwidrigen Körperzustandes notwendig sind. Weitergehende Leistungen kann der Versicherte nicht beanspruchen. Sie liegen damit auch außerhalb des Aufgabenbereichs der Kasse. Wünscht der Versicherte Gestell und/oder Gläser in einer besonderen Ausführung, so geht es dabei nicht mehr um eine von der Kasse ge­ schuldete Leistung. Demgemäß hat der Versicherte die Mehrkosten allein zu tragen. Die Motive für das Verlangen einer Feinbrille können vielfältig sein: Angesichts der Auswahl an Brillen bei einem Augen­ optiker, die nicht nur auf Kassengestelle beschränkt ist, wird in der Regel das individuelle Aussehen eine Rolle spielen. So sind sogar Mo­ dellfassungen bekannter Modeschöpfer erhältlich; eine Brille kann also bewußt als Modeartikel eingesetzt werden. Möglich ist auch das Ver­ stecken starker Fehlsichtigkeit durch vorteilhafte Gestelle und stärker brechende, entspiegelte oder getönte Gläser. Sportler werden bruch­ sichere Gläser und sichersitzende Gestelle wählen. Oft besteht auch das Verlangen nach Sonnenschutzgläsern. Alle diese besonderen Ausführun­ gen liegen regelmäßig außerhalb der Leistungspflicht der Kranken­ kassen, denn insoweit geht es nicht mehr um eine Leistung, die zur Korrektur des regelwidrigen Körperzustandes erforderlich ist. Nur zur Abdeckung dieses in § 182 Abs. 1 genannten Risikos darf die Kranken­ kasse tätig werden, d. h. bei der Versorgung mit Brillen nur zur Kor­ rektur der Fehlsichtigkeit. Der regelwidrige Körperzustand wird denn

IV. Sozialversicherungsrecht und Feinbrillen

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auch durch eine Kassenbrille voll ausgeglichen, soweit dies medizinisch möglich ist. Gleichzeitig werden mit der Lieferung einer Kassenbrille die Schranken des § 182 Abs. 2 RVO eingehalten. Zur Befriedigung der Bedürfnisse, die gelegentlich der Fehlsichtigkeit entstehen und die keine Krankheit darstellen, sind die Krankenversicherungsträger dem­ gegenüber nicht berufen. Insofern liegt keine Aufgabe der Kranken­ versicherung aus § 1 82 Abs. 1 RVO vor. Eine Feinbrille darf von der Kasse also schon wegen dieser Vorschrift nicht geleistet werden. Durch die dargestellte Bedarfslage beim Wunsch nach einer Fein­ brille unterscheidet sich diese Brillenart auch besonders von „Mehr­ leistungen" bei anderen Hilfsmitteln. Zwar sind auch viele andere Hilfsmittel in Sonderausführungen erhältlich, wie z. B. angenehmer zu tragende Prothesen für brustamputierte Frauen, elektrische Roll­ stühle für gehbehinderte Personen, orthopädisches Schuhwerk in be­ quemer Ausführung etc. Bei dieser Art von Mehrleistungen wird je­ doch gleichzeitig mit dem „Mehr" die Krankheit oder Behinderung kompensiert; die besondere Ausstattung des Hilfsmittels erleichtert dem Leistungsberechtigten weitgehend, die regelwidrige Körperfunk­ tion - und nicht nur eine entfernte Folge des Ausfalls der Körper­ funktion - auszugleichen. Im Gegensatz dazu hat die Feinbrille keinen Einfluß auf eine bessere Sehleistung im Vergleich zur bloßen Kassen­ brille. Daher muß für die besondere Ausstattung, die die Feinbrille von der Kassenbrille unterscheidet, eine hilfsmittelähnliche Qualität im Sinne des Krankenversicherungsrechts ausscheiden118 • Die Feinbrille ist krankenversicherungsfremd119• Dies folgt nicht allein aus § 182 II RVO (Überschreitung des Maßes des Notwendigen), sondern ergibt sich schon aus § 182 I RVO, da die Sonderausstattung nicht auf Bekämpfung der Krankheit abzielt. Demgemäß überzeugt auch nicht der Versuch Roh­ wer-Kahlmanns 126, über ein „fortentwickeltes" Sachleistungsprinzip und § 33 SGB I die Selbstabgabe von Feinbrillen durch die Kranken­ kassen für rechtmäßig zu erklären. Zusätzlich folgt ein Verbot aus § 182 Abs. 2 RVO, denn eine Feinbrille zur Sehschärfenkorrektur überschreitet das Maß des Notwendigen. Die Leistungspflicht der Kasse ist bei der Versorgung mit Brillen folglich von vornherein beschränkt auf die Gewährung einer Kassenbrille bzw. 118 Zum Begriff des Hilfsmittels vgl. etwa Krauskopf / Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung Stand Dez. 1979, § 182 RVO Anm. 3.2.5. Es soll an die Stelle eines nicht oder nicht mehr voll funktionsfähigen Körperorgans treten und möglichst weitgehend dessen Funktion übernehmen. 119 OLG Oldenburg, Urteil v. 3. 1 . 1980, Az. 1 U 197/78, S. 20 unter Hinweis auf das Gutachten Nipperdey (1950), S. 3. 120 ZSR 1980, 197 ff., 225, 259 ; ders., Oberlandesgericht untersagt Kasse schlichthoheitliche Tätigkeit, ZSR 1980, 92, 1 03 , 106 f. ; ders., Hoheitliche Auf­ gaben der Krankenkassen und unlauterer Wettbewerb, SGb. 1 980, 89, 9 1 .

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

des ihrem Wert entsprechenden Betrages, der aber in einer Feinbrille aufgehen muß. Erhielte ein Versicherter von einer kasseneigenen Ab­ gabestelle eine Feinbrille, so läge hierin ein Verstoß gegen § 182 Abs. 1 und 2 RVO, unbeschadet des generellen Problems der Unzulässigkeit der Selbstabgabe. Die Frage ist nun, ob sich an der Beurteilung dadurch etwas ändert, daß das Kassenvermögen durch den Verkauf einer Feinbrille nicht höher belastet wird als durch Abgabe einer Kassenbrille, da der Ver­ sicherte den Differenzbetrag hinzuzahlen muß. Wirtschaftlich wird also das Kassenvermögen nicht zusätzlich belastet. Für die Frage der Er­ mächtigung gemäß § 30 Abs. 1 SGB IV kommt es aber nicht auf die wirtschaftliche Belastung an, denn die Kassen dürfen, losgelöst von der Frage der Wirtschaftlichkeit, nur Geschäfte zur Erfüllung der ihnen gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben führen. An der Ermächtigung zur Abgabe von Feinbrillen fehlt es jedoch, die Kassen überschreiten damit ihren Aufgabenbereich. Die Abgabe von Feinbrillen ist daher schon aus diesem Grunde unzulässig. Demgemäß hat schon das Reichsversicherungsamt in einer Entschei­ dung aus dem Jahre 1933 121 die Lieferung von Zahnersatz durch eine eigene Zahnklinik der Krankenkasse über die für Heilmittel satzungs­ mäßig festgelegte Wertgrenze hinaus für unzulässig erklärt, auch wenn die Lieferung gegen Zahlung des Differenzbetrages erfolgte. Das Reichsversicherungsamt sah darin einen Verstoß gegen § 363 RVO, aber auch gegen § 25 RVO, d. h. den Vorgänger des heutigen § 30 Abs. 1 SGB IV 122 • 121

RVA 471 1 , AN 1934, 8. 122 Aus einem obiter dictum in den Urteilsgründen dieser Entscheidung will Rohwer-Kahlmann allerdings gerade die Zulässigkeit der Selbstabgabe begründen ; vgl. zu diesem Fehlschluß Fn. 99). Auch die von ihm (ZSR 1980, 92, 104 ff. ; ZSR 1980, 197 ff., 222) und dem OLG Düsseldorf vom 22. 5. 1980 (S. 22 f.) herangezogene Entscheidung des BSG (E 42, 229 f.) sagt nichts zur Selbstabgabe von Feinbrillen. Wenn das BSG ausführt, die Kasse sei nicht gehindert, ,,es dem Versicherten zu ermög­ lichen, daß ihm ein über das Maß des Notwendigen hinausgehendes Hilfs­ mittel zur Verfügung gestellt wird oder daß er sich ein solches selbst be­ schafft", geht es damit nicht von der Selbstabgabe aus, da dieses Wort in den Entscheidungsgründen überhaupt nicht auftaucht. Vielmehr ergibt sich aus dem vollständigen Urteil, daß die orthopädischen Schuhe, um die es ging, von einem selbständigen orthopädischen Schuh­ machermeister geliefert worden waren. Das BSG hat - und das widerlegt die These von Rohwer-Kahlmann - die Verpflichtung der Kasse auf die Kosten für die orthopädischen Schuhe unter Abzug des Eigenanteils für ge­ wöhnliches Schuhwerk beschränkt. Nur in dieser Höhe bestand eine Ver­ pflichtung der Kasse zur Kostenübernahme. Demgemäß spricht das BSG davon, daß der Versicherte „eine das Maß des Notwendigen überschreitende Leistung zwar in Empfang nimmt, von der Kasse aber nur die notwendige Leistung erhält" (BSGE 42, 229, 230). Es ist aber unzutreffend, wenn das OLG

IV. Sozialversicherungsrecht und Feinbrillen 3.

Die

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Abgab e v on Feinbrillen als Verstoß

gegen weitere sozialversicherungsrechtliche Grundsätze

Die Abgabe von Feinbrillen ist nicht nur wegen der mangelnden gesetzlichen Ermächtigung unzulässig. Aus dem Sozialversicherungs­ recht sind weitere Bedenken gegen eine solche Praxis der Ortskranken­ kassen abzuleiten. a) Das Sozialversicherungsrecht wird von dem Sachleistungsprinzip beherrscht. Dieses Prinzip besagt, daß der Versicherte, soweit nicht etwas anderes ausdrücklich bestimmt ist, Sachleistungen in Natur be­ anspruchen kann. Daß heißt gleichzeitig, daß die Kasse nur solche Lei­ stungen gewähren darf 123 • Demgemäß kommt eine Bezahlung der Lei­ stung, die von der Versicherung erbracht wird, durch den Versicherten nicht in Betracht. Eine Bezahlung erfolgt nur im Verhältnis der Kran­ kenkasse zum Lieferanten, der die Leistung im Auftrage der Kranken­ kasse an den Versicherten vornimmt. Die Geldleistungen des Ver­ sicherten an die Kasse sind beschränkt auf die Zahlung des Beitrages124 • Bei den durch die Kassen abgegebenen Feinbrillen kassiert j edoch die Kasse vom Versicherten einen Betrag zuzüglich zum Mitgliedsbeitrag. Ebenso wenig wie der Versicherte anstelle der Naturalleistung Geld­ zahlung verlangen kann , kann die Kasse die Abgabe einer Sachleistung von der Zahlung eines Geldbetrages abhäng ig machen, auch wenn diese Zahlung für eine Leistung erfolgt, die wertvoller ist als die gesetzlich geschuldete Leistung. b) Das Sozialversicherungsrecht wird weiter beherrscht durch das Versicherungsprinzip, das allerdings durch Elemente des sozialen AusDüsseldorf (S. 23 der Urteilsgründe) meint, das BSG habe die Kasse zu einer ,,über das Maß des Notwendigen hinausgehenden Leistung" verpflichtet. Das Urteil des BSG ist auch deshalb so ganz ungeeignet, die Argumentation von Rohwer-Kahlmann und des OLG zu stützen, weil das BSG selbst in dem Fall, in dem die Trennung der von der Kasse geschuldeten Sachleistung und der vom Versicherten tatsächlich erworbenen Leistung gegenständlich nicht möglich ist, da orthopädische Schuhe in jedem Fall auch das normale Bedürf­ nis der Schuhbekleidung abdecken, dennoch eine Begrenzung der Verpflich­ tung der Kasse auf das Notwendige ausgesprochen hat. Im Gegensatz zu orthopädischem Schuhwerk ist bei den Brillen eine Tren­ nung zwischen dem versicherungsrechtlich Notwendigen, was allein von der Kasse geschuldet wird, und dem vom Versicherten tatsächlich Gewünschten auch gegenständlich möglich, Kassenbrille und Feinbrille sind zwei verschie­ dene Gegenstände. 123 Vgl. Meydam, Zum Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Kranken­ versicherung, SGb. 1977, 92, 96. Das BSG hat noch unlängst in einer Ent­ scheidung vom 24. 4. 1979 - 3 RK 25/78 - betont, daß das System der sozia­ len Krankenversicherung nicht vom Kostenerstattungsprinzip, sondern vom Sachleistungsprinzip geprägt wurde. 12 4 So schon Albert, Das Verhältnis zwischen Apotheker und Sozialversiche­ rung 1931 , S. 45.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

gleichs modifiziert wird125 • Kennzeichen j eder Versicherung ist es, daß die Versicherten gleich zu behandeln sind. Das gilt in besonderem Maße für die Sozialversicherung, da hier das Prinzip des sozialen Ausgleichs gleiche Leistungen auch dort gebietet, wo das versicherte Risiko unter­ schiedlich hoch ist. So zahlt der hochverdienende Junggeselle als Bei­ trag den gleichen Prozentsatz seines Einkommens wie der Verheiratete mit einer mehrköpfigen Familie, der nur ein geringes Einkommen bezieht126 • Der Umfang der allen Versicherten gleichmäßig zustehenden Leistungen wird durch § 182 Abs. 2 RVO bestimmt. Die Krankenkasse hat nur das zu leisten, was notwendig ist, um dem regelwidrigen Zu­ stand abzuhelfen. Jeder Versicherte hat entsprechend diesem Maßstab bei gleichem Krankheitstatbestand Anspruch auf die gleiche Leistung der Kasse. Wenn aber manche Versicherte vom Versicherungsträger eine Feinbrille, die anderen nur Kassenbrillen erhalten, so ist der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung verletzt, gleichzeitig aber auch das Prinzip des sozialen Ausgleichs ; denn die Art der Leistungs­ gewährung durch die Kasse wird davon abhängig gemacht, wie finanz­ kräftig der Versicherte ist. Damit sind nicht mehr alle Versicherten im gleichen Umfange gegen das Risiko „ Fehlsichtigkeit" gesichert. Die Kasse erbringt mit ein und derselben Organisation unterschiedliche Leistungen für dasselbe Risiko ; damit finanziert ein Versicherter, der eine Kassenbrille erhält, durch seine Beiträge auch den Luxus anderer Versicherter. Dem kann nicht entgegengehalten werden, rein wirtschaftlich erhiel­ ten Kassen- und Feinbrillenträger von der Kasse dasselbe, denn die Zuzahlungen beseitigen nicht den Umstand, daß die faktische Kassen­ leistung einmal Kassenbrille und zum anderen Feinbrille ist. Hierbei besteht ein Unterschied zu der Fallgestaltung, bei der die Kasse dem Versicherten, der beim Optiker eine Feinbrille erworben hat, den Betrag für eine Kassenbrille gewährt. In diesem letzteren Falle sind die Leistungen der Kasse an den, der eine Kassenbrille wählt, und an den, der eine Feinbrille kauft, unter dem Gesichtspunkt der Grund­ sicherung identisch. Der Apparat der Kasse wird nämlich nicht für einen „Luxus" eingesetzt, Geldbeträge für Sonderleistungen gehen nicht in das Kassenvermögen ein sondern bleiben reine Privatsache außerhalb des Bereiches der Versicherung. Die Kasse zahlt j eweils nur den Betrag für eine Kassenbrille an den Augenoptiker. Hinzu kommt, daß die Ortskrankenkassen - unabhängig davon, daß sie als Großabnehmer billiger einkaufen können - Wettbewerbsvor125 Siehe dazu Burdenski, in : Burdenski / v. Maydell / Schellhorn, Kommen­ tar zum Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, 1976, § 4 Rdnr. 3 ff. 126 Vgl. zur Kennzeichnung der Sozialversicherung H. Bogs, Die Sozialver­ sicherung im Staat der Gegenwart, 1972, S. 314.

I V. Sozialversicherungsrecht und Feinbrillen

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teile durch ihre Steuerfreiheit genießen. Hierdurch können sie Fein­ brillen billiger abgeben als die mit ihnen konkurrierenden Optiker. Diese Vorteile geben die Kassen aber nur zu einem Teil ihrer Ver­ sicherten weiter. Auch hierin liegt eine Verletzung des Grundsatzes, daß die Versicherten beim gleichen Krankheitstatbestand die gleichen Leistungen erhalten müssen. An den Bezieher von Kassenbrillen kön­ nen Preisvorteile aber nicht weitergegeben werden, da sie diese Kas­ senbrillen ohne j edes Entgelt erhalten. Das Prinzip der Gleichbehandlung gilt aber nicht nur für die Mit­ glieder einer Kasse, es gilt auch im Verhältnis der Kassen zueinander. Für alle Kassen und ihre Mitglieder besteht grundsätzlich ein einheit­ liches Leistungsrecht. Selbst die Ersatzkassen müssen gemäß § 507 Abs. 1 RVO mindestens die Regelleistungen der gesetzlichen Kranken­ kassen gewähren. Eine Ausnahme von dem Grundsatz der einheitlichen Leistungen gilt nur insoweit, als es satzungsmäßige Mehrleistungen anbelangt, die j edoch nur insoweit zulässig sind, als der Gesetzgeber eine ausdrückliche Ermächtigung geschaffen hat. Die im Vergleich zu den Marktpreisen verbilligte Abgabe von Fein­ brillen durch Ortskrankenkassen ist weder als regel- noch als satzungs­ mäßige Mehrleistung vorgesehen. Diese Vorteile erhalten nur die Mit­ glieder der j eweiligen Kasse, die eine solche Selbstabgabestelle betrei­ ben, nicht aber die Mitglieder anderer Kassen. Auch unter diesem As­ pekt stellt die Selbstabgabe von Feinbrillen eine unzulässige Ungleich­ behandlung dar 127 • c) Für das Sozialversicherungsrecht ist weiter das Vertragssystem und seine Funktionsfähigkeit ein grundlegendes Prinzip. Das ist im einzelnen bereits dargelegt worden, soweit es die Kassenbrillen anbe­ langt. Der Verstoß gegen dieses Ordnungsprinzip ist besonders ekla­ tant, soweit es die Feinbrillen anbelangt. aa) Indem die Kassen Feinbrillen verkaufen, machen sie ihrem Ver­ tragspartner Konkurrenz. Dieser Weg ist weder vom Gesetzgeber vor­ gesehen, noch bewegen sich die Kassen damit im Rahmen der ihnen gemäß §§ 182 ff. RVO zugewiesenen Aufgaben. Die Kassen können sich, soweit es die Feinbrillen anbelangt, nicht einmal formal darauf beru­ fen, ihr Verhalten werde dadurch gerechtfertigt, daß sie einen Beitrag zur Kostendämpfung leisteten. Dies kann nur insoweit ein berechtigtes Anliegen der Krankenkassen sein, als es um ihre Leistungspflicht geht, soweit sie also durch die Leistungen mit Kosten belastet werden. Die 127 Dies wiegt bei einer öffentlich-rechtlichen Institution wie der Ortskran­ kenkasse besonders schwer, die stets das Interesse der gesamten Bevölke­ rung beachten muß, vgl. dazu Jahn, Allgemeine Sozialversicherungslehre, 1956, s. 53.

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

Lieferung von Feinbrillen liegt j edoch außerhalb des Aufgabenkreises der Kassen. Soweit sie verbilligte Feinbrillen anbieten, senken sie nicht ihre Kosten sondern ersparen dem Versicherten erhöhte Aufwendun­ gen für eine Luxusleistung. Sie mindern also nur die Aufwendungen des Versicherten. bb) Indem Ortskrankenkassen verbilligte Feinbrillen verkaufen, tre­ ten sie in einen Preiswettbewerb mit ihren Vertragspartnern, den Augenoptikern. Bei den Kassenbrillen liegt zwar auch eine Kompetenz­ überschreitung der Kassen vor, nicht aber ein solcher Preiswettbewerb. Bei diesem Wettbewerb setzen die Kassen Vorteile ein, die sie als öf­ fentlich-rechtliche Versicherungsträger genießen, die ihre Vertrags­ partner, mit denen sie in Wettbewerb treten, jedoch nicht haben. Vor allem geht es dabei um die Steuervorteile. Was die Größenordnung dieser Vorteile anbelangt, so zeigt eine Ergebnis- und Kostenanalyse im Augenoptikerhandwerk, die von der Treuarbeit AG erstellt worden ist, für das Basisj ahr 1977, daß in einem Betrieb mit einem Umsatz von 707 600,- DM steuerliche Belastungen (Umsatzsteuer, Betriebssteuern, Einkommens- und Kirchensteuer) von 18,9 0/o des Umsatzes entstehen. Diese Belastungen haben die Selbstabgabestellen nicht zu tragen. Geht man weiter davon aus, daß etwa 40 0/o des Umsatzes auf Feinbrillen ent­ fallen und bezieht diesen Vorteil, den die Ortskrankenkassen durch die Steuerfreiheit haben, allein auf die Feinbrillen, so setzt diese geringere Kostenbelastung die Kassen in die Lage, die handelsüblichen Preise für Feinbrillen um 47,2 0/o zu senken. Zu diesen steuerlichen Vorteilen, die allein schon auf dem Markt der Feinbrillen den Wettbewerb zugunsten der Selbstabgabestellen verzer­ ren, kommen aber auch die Vorteile, die darauf beruhen, daß die Kassen als Institution bereits über eine Organisationsform verfügen, die sie auch zum Zwecke der Selbstabgabe einsetzen können. Schließlich haben die Ortskrankenkassen besondere Möglichkeiten, ihre „Kunden", die Versicherten, anzusprechen. Alle diese Vorteile beruhen auf der Tatsache, daß die Ortskrankenkassen Versicherungsträger sind und damit nach dem unser Sozialversicherungsrecht beherrschenden Tren­ nungsprinzip Nachfrager auf dem Markt der Heil- und Hilfsmittel im weitesten Sinne. Wenn die Kassen gleichzeitig aber auch als Anbieter und damit als Konkurrenten der anderen Anbieter tätig werden, nut­ zen sie die Vorteile, die ihnen in ihrer spezifischen Position als öffent­ lich-rechtliche Nachfrager eingeräumt worden sind, in sachwidriger Weise aus. cc) Wenn die Ortskrankenkassen entgegen der ihnen vom Gesetz­ geber zugewiesenen Rolle als Nachfrager gleichzeitig auch als Anbieter auftreten und ihre Vorteile als öffentlich-rechtliche Körperschaften ein-

V. Durchsetzungsmöglichkeiten

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setzen, indem sie die Preise der freiberuflichen Augenoptiker unter­ bieten, handeln sie nicht zum Vorteil aller Versicherten, sondern nur derjenigen, die sich eine Feinbrille leisten können. Dieser Luxusbedarf liegt aber außerhalb des Aufgabenbereichs der Krankenversicherung. Dieser Vorteil der preisgünstigen Feinbrille für einige wird im übrigen teilweise bezahlt durch den Staat, dem durch die Geschäfte, die von der Kasse und nicht von den steuerpflichtigen Optikern getätigt werden, Steuern entgehen. Letztlich wird also die verbilligte Abgabe von Fein­ brillen an einige Versicherte zumindest zu einem Teil vom Staat sub­ ventioniert. Daß für eine solche Subvention keinerlei Anlaß besteht, ist offensichtlich. dd) Durch die Selbstabgabe von Feinbrillen treten die Kassen in einen offenen Wettbewerb mit den Augenoptikern, ihren Vertrags­ partner. Da die Augenoptiker in Anbetracht der unterschiedlichen Ausgangslage hinsichtlich der Kosten und der für sie bestehenden Notwendigkeit, Gewinne zu erzielen, diesen Wettbewerb nicht be­ stehen können, hängt es nur von den Kassen ab, ob die Augenoptiker als freier Berufsstand weiter existieren dürfen. Wäre die Selbstabgabe von Feinbrillen durch die Kassen zulässig, hätten die Kassen es in der Hand, durch eine entsprechende organisatorische Ausdehnung der Selbstabgabe den Markt für Feinbrillen vollständig in ihre Hand zu bringen. Es steht von vornherein fest, daß die Augenoptiker einen sol­ chen Preiswettbewerb nicht bestehen können 128• Ganz abgesehen von den gesellschaftspolitischen Folgen einer solchen Entwicklung zeigt sich daran, daß die Selbstabgabe ein Instrumen­ tarium darstellt, mit dem die Existenz des Vertragspartners beseitigt werden kann und damit gleichzeitig auch das Vertragsprinzip über­ haupt. Eine Rechtsordnung, die für die Belieferung der Versicherten mit Sehhilfen das Vertragssystem vorzieht, kann nicht gleichzeitig ein anderes Instrumentarium zulassen, durch das dieses Vertragssystem nach Belieben eines Vertragspartners eleminiert werden kann.

V. Durchsetzungsmöglichkeiten 1 . Ausgangspunkt

Wie dargelegt worden ist, fehlt es im Sozialversicherungsrecht an einer Ermächtigung für die Allgemeinen Ortskrankenkassen, Selbst­ abgabestellen einzurichten. Das gilt sowohl für Kassen- wie auch für 128 Das widerspricht offensichtlich dem Grundsatz des partnerschaftlichen Zusammenwirkens, wie ihn die Krankenkassen selbst als Maxime postulie­ ren (vgl. Grundsätze und Forderungen zum Vertragsrecht der Krankenkas­ sen, BKK 1974, 5*).

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B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

Feinbrillen. Hinzu kommt, daß solche Abgabestellen gegen grundle­ gende Prinzipien des Sozialversicherungsrechts, vor allem gegen das Trennungsprinzip verstoßen. Mit diesem Befund, wonach die Selbstabgabe rechtswidrig ist, ist noch nichts darüber ausgesagt, wie und von wem die Rechtswidrigkeit geltend gemacht werden kann. Dies hängt von den Umständen des kon­ kreten Falles, insbesondere von dem Umfang und der Art und Weise der Selbstabgabetätigkeit ab. An dieser Stelle können daher nur einige allgemeine Hinweise auf die Behelfe und Anspruchsgrundlagen gege­ ben werden, die im konkreten Fall in Betracht kommen können.

2. Aufsichtsmaßnahmen Die Allgemeinen Ortskrankenkassen unterliegen, wie alle Sozial­ versicherungsträger, der Aufsicht gemäß §§ 87 ff. SGB IV129 • Diese Auf­ sicht erstreckt sich auf die Beachtung von Gesetz und sonstigem für die Versicherungsträger maßgeblichen Recht. Die Selbstabgabe stellt eine Rechtsverletzung dar. Damit wird ein Einschreiten der Aufsichtsbehör­ den erforderlich. Allerdings verneint die Rechtsprechung1 30 einen Rechtsanspruch von Dritten auf ein Tätigwerden der Aufsichtsbehörden. Die neuere Recht­ sprechung des Bundesgerichtshofs eröffnet j edoch zumindest einen mittelbaren Weg der Einflußnahme auf die Aufsichtsbehörden, näm­ lich mit Hilfe eines Amtshaftungsanspruches im Falle des Ermessens­ fehlgebrauchs der Aufsichtsbehörde. Für den Bereich der Banken­ aufsicht hat der Bundesgerichtshof 1 3 1 die Interessen von Dritten an Auf­ sichtsmaßnahmen bejaht und daraus die Möglichkeit einer Amts­ pflichtsverletzung durch Ermessensfehlgebrauch gefolgert. Diese Ent­ scheidung dürfte für die Rechtsposition des Dritten gegenüber der Aufsichtsbehörde von grundsätzlicher Bedeutung sein. Wie im ein­ zelnen noch in Teil C dargelegt wird, bestehen schutzwürdige Interes­ sen der Augenoptiker daran, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen ihren Kompetenzbereich nicht überschreiten. Schreitet die Aufsicht ge­ gen solche Kompetenzüberschreitungen nicht ein, so kann ein Schadens­ ersatzanspruch wegen Aufsichtsverletzung in Betracht kommen. 1 29 Allgemein dazu Bull, Maßstäbe und Verfahrensvorschriften für die Tä­ tigkeit der Aufsichtsbehörden nach dem Sozialgesetzbuch, VSSR 1978, 113; Meydam, in : GK-SGB IV zu §§ 87 ff. ; Schirmer, Zur Aufsicht in der Sozial­ versicherung nach dem Sozialgesetzbuch, BlStSozArbR 1977, 105. 130 So für den Fall einer Klage von Augenoptikern gegen die Aufsichts­ behörde, von der ein Tätigwerden gegen die Selbstabgabestellen verlangt wurde, BSG 26, 237. 1 a 1 BGH v. 15. 2. 1979, VersR 1979, 467.

V. Durchsetzungsmöglichkeiten

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3. Unterlassungsansprüche gegen die Allgemeinen Ortskrankenkassen

Es kommen Ansprüche aus Vertrag, aus unerlaubter Handlung und aus wettbewerbsrechtlichen Vorschriften in Betracht. a) Zwischen den Allgemeinen Ortskrankenkassen und den zur Belie­ ferung zugelassenen Augenoptikern bestehen Vertragsverhältnisse, die als Dauerschuldverhältnisse zu kennzeichnen sind 1 32 • Zwar enthalten die einschlägigen Verträge kein ausdrückliches Verbot einer Selbstabgabe durch den Vertragspartner „Allgemeine Ortskrankenkasse". Das schließt aber nicht aus, daß eine solche Selbstabgabe gegen vertragliche Nebenpflichten verstößt. Es ist allgemein anerkannt, daß aus jedem Vertragsverhältnis zu den ausdrücklich normierten Verpflichtungen zusätzliche Nebenpflichten treten können, durch die ein vertragsge­ rechtes Verhalten gewährleistet wird. Das gilt in besonderem Maße für Dauerschuldverhältnisse, für die spezifische Loyalität-, Treue- und Schutzpflichten typisch sind133 • Demgemäß hat die Rechtsprechung immer wieder z. B. die besondere Treueverpflichtung der Augenoptiker bei der Durchführung der Verträge betont134 • Die Verpflichtung zur Treue und Loyalität kann jedoch keine einseitige sein, sie trifft auch den Vertragspartner, d. h. die Allgemeine Ortskrankenkasse, zumal die Ortskrankenkasse aufgrund ihrer faktischen Monopolstellung Macht ausüben kann. Auch die Kasse darf daher durch ihr Verhalten die Grundlagen des Vertrages nicht zerrütten und in Frage stellen. Genau dies geschieht jedoch, wenn die Ortskrankenkassen eigene Selbstabgabe­ stellen einrichten, ihre Steuervorteile als öffentlich-rechtliche Körper­ schaft zu einem letztlich ruinösen Preiswettbewerb einsetzen und da­ durch erklärtermaßen Einfluß auf den Vertragspartner ausüben wol­ len. Dies Verhalten erhält sein besonderes vertragswidriges Gepräge zusätzlich dadurch, daß die Kassen die Kenntnisse bei dem Preiswett­ bewerb einsetzen können, die sie aufgrund der ihnen in den Verträgen eingeräumten Überwachungs- und Kontrollfunktionen erworben haben. Vertragliche Ansprüche können so dazu benutzt werden, zu dem Partner in einen „besonders wirkungsvollen" Wettbewerb zu treten. Die Schaffung neuer und die Ausweitung bestehender Selbstabgabe­ stellen ist somit vertragswidrig und kann als positive Vertragsverlet­ zung Unterlassungsansprüche begründen. 132 Zu den Besonderheiten von Dauerschuldverhältnissen vgl. Larenz, Lehr­ buch des Schuldrechts, Ed. I, 12 Aufl. 1979, § 2 VI. 133 Vgl. zu diesen Nebenpflichten Larenz (s. Fn. 132), § 24 I a. 134 Siehe z. B. OLG Hamm v. 13. 12. 1974, DOK 1975, 392 ; BGH v. 12. 5. 1976, GRUR 1976, 600.

5 von Maydell / Scholz

B. Sozialversicherungsrechtliche Grenzen

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b) Als Ansprüche auf Unterlassung kommen weiter solche aus uner­ laubter Handlung gemäß § 823 Abs. 1 und Abs. 2 BGB in Betracht. Soweit es § 823 Abs. 1 BGB anbelangt, kann ein Eingriff in den ein­ gerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vorliegen. Wie im einzelnen in Teil C 135 dargelegt wird, kann das Betreiben von Selbstabgabestellen als ein solcher Eingriff in ein absolutes Recht der j eweils betroffenen Augenoptiker gewertet werden. Dadurch wird insoweit ein Unterlas­ sungsanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB begründet. Die Selbstabgabe von Sehhilfen durch Allgemeine Ortskranken­ kassen kann ferner ein Verstoß gegen ein Schutzgesetz darstellen. Als ein solches Schutzgesetz kommt § 30 SGB IV in Frage. Nach der Recht­ sprechung des Bundesgerichtshofes ist Schutzgesetz eine Rechtsnorm, die - sei es auch nur neben dem Schutz der Allgemeinheit - gerade dazu dienen soll, den einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines Rechtsguts oder eines bestimmten Rechtsinteresses zu schützen. Dabei kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf den In­ halt und Zweck des Gesetzes, insbesondere darauf an, ob der Gesetz­ geber bei Erlaß des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt hat136 • Diese Voraussetzungen hält z. B. Menard 137 im Falle des § 30 SGB IV für nicht gegeben, da es sich bei dieser Vorschrift lediglich um eine interne Bindung handele. Dem ist j edoch entgegenzu­ halten, daß durch § 30 SBG IV das Verfassungsprinzip der Gesetz­ mäßigkeit der Verwaltung zum Ausdruck kommt, das nie allein Selbst­ zweck i. S. einer internen Bindung der Verwaltung ist. Wegen der drittschützenden Komponente resultieren daraus vielmehr in Verbin­ dung mit den Grundrechten Abwehransprüche des einzelnen. Das wird im einzelnen im Teil C dargelegt. Im übrigen kann auf die Ausführungen im Gutachten von Prof. Hefermehl vom 12. 5. 1977 zum Schutzgesetzcharakter des § 30 SGB IV verwiesen werden. Die Argumentation aus der Entwicklungsgeschichte des § 25 RVO, der durch § 30 SGB IV abgelöst worden ist, wird bestä­ tigt durch die Materialien zu §§ 100 b Abs. 1 und 2, § 98 a Abs. 3 des Innungsgesetzes von 1881. Diese Bestimmungen sind, ebenso wie die §§ 8 Abs. 1 und 13 des Hilfskassengesetzes vom 7. 4. 1 876 (RGBI. S. 1 25) - ohne sachliche Änderung - in § 29 Krankenversicherungsgesetz 1883 aufgegangen, der folgenden Wortlaut hatte: Siehe unten C IV 4. Vgl. z. B. BGHZ 40, 306 ; 43, 1 7 ; Palandt / Thomas, Kommentar zum BGB, 38. Aufl. 1979, § 823 Anm. 9 b. 137 Bei Jahn, Kommentar zum SGB IV, § 30 Rdnr. 5, ebenso OLG Düssel­ dorf v. 22. 5. 1980, S. 16 der Urteilsgründe. 135

136

V. Durchsetzungsmöglichkeiten

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Abs. 1 „Die Mitglieder sind der Kasse gegenüber lediglich zu den aufgrund dieses Gesetzes und des Kassenstatuts festgestellten Beiträge ver­ pflichtet." Abs. 2 „ Zu anderen Zwecken als den statutenmäßigen Unterstützungen, der statutenmäßigen Ansammlung und Ergänzung des Reservefonds und der Deckung der Verwaltungskosten dürfen weder Beiträge von Mit­ gliedern erhoben werden, noch Verwendungen aus dem Vermögen der Kasse erfolgen." In der Amtlichen Begründung138 zum Innungsgesetz heißt es 139 : „Endlich soll durch den vorletzten Absatz des § 98 a, welcher in den §§ 100 b Abs. 1 und 2 seine Ergänzung findet, ähnlich wie es für die Hülfskassen durch das Gesetz vom 7. April 1876 geschehen ist, Vor­ sorge getroffen werden, daß nicht mit Hülfe einer für bestimmte Zwecke gesetzlich anerkannten Organisation ungesetzliche und fremdartige Zwecke verfolgt werden könnten." Finden sich zu dem aus derselben Zeit stammenden Krankenversiche­ rungsgesetz in den Motiven und bei den Verhandlungen keine Stellung­ nahmen, so muß angenommen werden, daß der Gesetzgeber auch hier die Bestimmungen über das Tätigkeitsfeld der Versicherungsträger im gleichen Sinne verstanden wissen wollte. § 29 Krankenversicherungs­ gesetz 1883 verbot demnach ebenfalls, Zwecke zu verfolgen, die unge­ setzlich oder fremdartig waren. Fremdartig waren z. B. solche Zwecke, die (bereits) von anderen für die Wahrnehmung dieser Zwecke aner­ kannten Institutionen wahrgenommen wurden. Das Verbot an die Ver­ sicherungsträger, auf einem fremden Gebiet tätig zu werden, geht aber notwendigerweise einher mit einem Schutz derer, die in diesem Bereich anerkanntermaßen tätig sein dürfen. Dieser Gedanke wirkt auch bis in das gegenwärtige Sozialrecht fort und findet seinen Niederschlag in § 30 Abs. 1 SGB IV. c) Schließlich kommen auch Unterlassungsansprüche aus § 1 UWG und §§ 22, 26 Abs. 2 GWB in Betracht. Darauf wird im Teil C 140 noch eingegangen, so daß sich hier weitere Erörterungen dazu erübrigen.

138 Reichstagsdrucksache Nr. 49, S. 262 und 263 zu § 100 b, 4. Legislatur­ periode, IV. Session 1881. 1 3 9 Auf diesen Zusammenhang hat bereits v. Woedtke, Krankenversiche­ rungsgesetz (Kommentar) , 4. Aufl. 1893, zu § 29, hingewiesen. 1 40 Siehe unten C V 1 b und c.

5•

TEIL C

Verfassun gsrechtliche Grenzen der Selbstabgabe von Heil- und Hilfsmitteln durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen I. Verfassungsrechtliche Grundfragestellung zur Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen

1 . Allgemeines Die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen steht neben der Frage nach deren sozialversicherungsrechtlicher Zuläs­ sigkeit. Zum anderen überschneiden sich beide Fragenkreise jedoch insofern, als die Erfüllung und Wahrnehmung sozialversicherungs­ rechtlicher Aufgaben durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen im Einklang (auch) mit der Verfassung zu erfolgen haben. Im einzelnen kulminiert diese Verbindung von sozialversicherungsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Fragestellung in der Bestimmung von Reich­ weite und Grenzen des (sozialversicherungsrechtlichen) Gesetzesvorbe­ halts und seiner Begrenzung von Selbstabgabetätigkeiten. Neben den Fragen der gesetzlichen Ermächtigung (Gesetzesvorbehalt) stehen aus verfassungsrechtlicher Sicht die Fragen der Vereinbarkeit einer Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen mit den Grundsätzen der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung sowie mit den Grund­ rechten der betroffenen Konkurrenten (Augenoptiker). Bevor diese Problemkomplexe jedoch im einzelnen untersucht werden können, be­ darf es der prinzipiellen Standortbestimmung bzw. der funktionsrecht­ lichen Qualifikation entsprechender Selbstabgabetätigkeiten und ihrer Wirkungen im Verhältnis zu den Augenoptikern. Gerade die letztere Frage ist bisher nicht hinreichend untersucht bzw. diskutiert worden. Dies hatte zur offenkundigen Folge, daß die gesamte, nicht nur sozial­ versicherungsrechtliche und wettbewerbsrechtliche, Komplexität der Selbstabgabetätigkeit nicht in genügendem Umfange aufgehellt wurde. Aus diesem Grunde bedarf es zunächst der genannten Ortung bzw. der

I. Grundfragestellung

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differenzierenden Auffächerung der, auch aus verfassungsrechtlicher Sicht maßgebenden, Problembezüge. a) Seit der sog. Gummistrumpf-Entscheidung des BGH 1 geht die herrschende Auffassung davon aus, daß die Allgemeinen Ortskranken­ kassen sich im Rahmen ihrer (ggf. sozialversicherungsrechtlich legiti­ men) Heilmittelversorgung privater Lieferanten bedienen können, von diesen im Wege privatrechtlich-fiskalischer Beschaffungsverträge die erforderlichen Materialien (Heilmittel etc.) beziehen können und diese anschließend an die Sozialversicherungsberechtigten verteilen können. In der sog. Sehhilfen-Entscheidung hat der BGH2 das prinzipiell Gleiche für das Verhältnis von Ortskrankenkassen und Augenoptikern aus­ geführt: Wenn Optiker oder optische Betriebe entsprechende Sehhilfen an die Ortskrankenkasse liefern, so soll es sich nach Auffassung des BGH um eine prinzipiell privatrechtlich einzuordnende Vertragsbeziehung han­ deln. Eine nähere Würdigung stellt der BGH jedoch nicht an; er konnte dies mit Recht unterlassen, da der konkrete Streitgegenstand ein solcher des Wettbewerbsrechts (GWB) war und es demgemäß nicht auf eine voll konkretisierte Ortung der Rechtsqualität jener Vertragsbezie­ hungen ankam. Im vorliegenden Problembereich bedarf es jedoch einer entsprechend genaueren Qualifikation. Wenn ein Hoheitsträger bzw. öffentlicher Aufgabenträger sich bei der Erfüllung seiner (öffentlich-rechtlichen) Zuständigkeit der privaten Verwaltungshilfe bedient, so kann dies in unterschiedlicher Rechtsform geschehen: Es kann sich einmal um fiskalische Rechtsbeziehungen han­ deln, d. h. um tatsächlich und definitiv materiell-privatrechtliche Bezie­ hungen. Zum anderen kann es sich um Rechtsbeziehungen handeln, die zwar ihrer äußeren Gestalt nach privatrechtlich organisiert sind, die materiell aber dem öffentlichen Recht angehören (,,Verwaltungsprivat­ recht")3; als dritte Möglichkeit verbleibt schließlich die (auch) öffent­ lich-rechtliche Gestaltung solcher Rechtsbeziehungen. Soweit ein entsprechender Hoheitsträger im Wege bloßer Beschaf­ fungsgeschäfte Rechtsbeziehungen zu Privaten einrichtet, handelt es sich in aller Regel um lediglich fiskalische, d. h. auch materiell-privat­ rechtliche Rechtsverhältnisse4 • In diesem Sinne ist insbesondere der t BGHZ 36, 91 ff. 2 WuW/E BGH 1423 ff. 3 Zum Verwaltungsrecht vgl. bes. Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht 1, 10. Aufl., § 23 II b. 4 Vgl. z. B. Wilke / Schachei, WuV 78, 95 (97) ; zu den Beschaffungsgeschäf­ ten siehe im einzelnen sowie mit weiteren Nachw. bes. Pietzcker, Der Staats­ auftrag als Instrument des Verwaltungshandelns, 1978, S. 235 ff. ; Kunert,

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C. verfassungsrechtliche Grenzen

Gummistrumpf-Entscheidung des BGH5 recht zu geben. Anders sieht es jedoch bereits dort aus, wo der Private als (mittelbarer) Verwal­ tungshelfer mit der Maßgabe in den öffentlichen Aufgabenvollzug ein­ geschaltet wird, daß er selbst an der Zuständigkeitswahrnehmung des öffentlichen Auftraggebers (unmittelbar) teilnimmt6 • Als klassische Fälle solcher öffentlich-rechtlichen Verwaltungsteilhabe sind die Kon­ stellationen der Beleihung oder Indienstnahme Privater zu öffentlich­ rechtlichen Zwecken zu erkennen7 • Während im Falle der Beleihung der Private zum organisationsrechtlich integrierten Bestandteil der betref­ fenden Hoheitsverwaltung wird, also selbst kraft staatlich-originärer Hoheitsbefugnisse tätig wird8 , gilt im Falle der (bloßen) Indienstnahme prinzipiell anderes9 : Hier wird der Private in aller Regel auf der Ebene des Privatrechts tätig; lediglich hinter seiner privatrechtlichen Tätig­ keit stehen sein öffentlicher Auftrag und seine öffentlich-rechtliche Pflichtenbindung10 • Der Status des in dieser Art verpflichteten Privaten ist also sowohl privatrechtlich als auch öffentlich-rechtlich bestimmt. Privatrechtlich bleibt sein prinzipieller Status als Teilnehmer am all­ gemeinen Privatrechtsverkehr; öffentlich-rechtlich ist sein Status inso­ fern, als er spezifischen öffentlich-rechtlichen Pflichten oder Bindungen untersteht und mit dieser Maßgabe in ein entsprechend konkretisiertes Abhängigkeits- oder Gewaltverhältnis zum Hoheitsträger tritt. Im Rah­ men der konkreten Aufgabenerfüllung können sich privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Teilstatus wechselseitig überlagern; denn die öffentlich-rechtliche Pflichtenbindung bildet in aller Regel Anlaß und Grundlage für das privatrechtliche Tätigwerden � die privatrecht­ liche Tätigkeit verkörpert also gleichzeitig bzw. mittelbar einen öffent­ lichen Aufgabenvollzug. Welcher juristische Aspekt konkret maßgebend ist, beurteilt sich je nach der aktuell zu messenden Rechtsbeziehung: Im Verhältnis zum anderen Privatrechtsubjekt gilt prinzipiell Privatrecht, im Verhältnis zum verpflichtenden Hoheitsträger gilt prinzipiell öf• fentliches Recht. Staatliche Bedarfsdeckungsgeschäfte und Öffentliches Recht, 1977, S. 22 ff., 42 ff., 101 ff., 129 ff. 5 Vgl. BGHZ 36, 93 ff. 8 Zum Privaten als entsprechendem Verwaltungshelfer vgl. mit weiteren Nachw. bes. Ossenbühl, VVDStRL 29, 137 ff. ; Gallwas, VVDStRL 29, 2 1 1 ff. 7 Vgl. hierzu u. a. Ossenbühl, VVDStRL 29, 138 ff. ; Steiner, Öffentliche Ver­ waltung durch Private, 1975. 8 Sog. Rechtsstellungstheorie (vgl. dazu auch schon R. Scholz, Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1967, S. 29 f. mit weiteren Nachw.). 9 Vgl. hierzu z. B. BVerfGE 30, 292 (312 ff.) ; Ipsen, AöR 90, 393 ff. 1 0 Zum Recht der öffentlichen Aufträge vgl. bes. Pietzcker, Der Staatsauf­ trag als Instrument des Verwaltungshandelns, 1978, S. 235 ff. ; Forsthoff, Der Staat als Auftraggeber, 1963 ; Kunert, Bedarfsdeckungsgeschäfte ; Wenger, Das Recht der öffentlichen Aufträge, 1977, S. 80 ff.

I. Grundfragestellung

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Auf der Grundlage dieser prinzipiellen Unterscheidungen ergeben sich im einzelnen die folgenden Differenzierungen bzw. Konsequenzen für das - konkret maßgebende - Verhältnis von Allgemeinen Orts­ krankenkassen und Augenoptikern : b) Die Rechtsbeziehungen zwischen den Allgemeinen Ortskranken­ kassen und den kraft Sozialversicherungsrechts zur Versorgung mit Brillen Berechtigten sind öffentlich-rechtlicher Art; denn diese Rechts­ beziehungen beruhen unmittelbar auf den Rechtsansprüchen des So­ zialversicherungsrechts. Keine Rolle spielt hierbei der Umstand, daß eine Versorgung mit Kassen- oder Feinbrillen durch die Ortskranken­ kassen selbst außerhalb der Ermächtigungen des Sozialversicherungs­ rechts liegt bzw. liegen kann. Die hierzu im Teil B gewonnenen Er­ kenntnisse sind für die Frage der juristischen Zuordnung bzw. recht­ lichen Qualifikation der gegebenen Rechtsbeziehungen (zunächst) ohne Belang. Selbst wenn die Allgemeinen Ortskrankenkassen ihre Selbst­ abgabe von Brillen außerhalb der Ermächtigungen des Sozialversiche­ rungsrechts vornehmen, bleiben die zugrundeliegenden Ansprüche und die entsprechenden Abgabetätigkeiten als solche doch öffentlich-recht­ licher Qualität. c) Die zwischen den Allgemeinen Ortskrankenkassen und der opti­ schen Industrie bestehenden Belieferungsverhältnisse fallen unter den Tatbestand des (fiskalischen) Beschaffungsgeschäfts, sind also materiell­ privatrechtlicher Natur1 1 • Obwohl das öffentliche Auftragswesen auch im Bereich von Beschaffungsgeschäften öffentlich-rechtliche Ordnungs­ elemente oder Zwecke enthalten kann 12 , scheiden derartige Zuordnun­ gen im hiesigen Zusammenhang aus. Denn die öffentlich- bzw. sozial­ versicherungsrechtliche Aufgabenerfüllung im Verhältnis von Orts­ krankenkasse und Sozialversicherungsberechtigten wird allein und un­ mittelbar von der Ortskrankenkasse selbst wahrgenommen. Der private Lieferant ist in diesen Aufgabenvollzug in keiner (auch nicht bloß mittelbarer) Weise eingeschaltet. Die Allgemeine Ortskrankenkasse be­ schafft sich beim privaten Lieferanten das Rohmaterial und fertigt aus diesem in ihren eigenen Werkstätten (Selbstabgabestellen) die j eweils individuell zu erbringende Leistung (nach Glas und Gestell angepaßte Kassen- und Feinbrille). In diesem Sinne entspricht die rechtliche Kon­ stellation im Verhältnis von Ortskrankenkasse und privatem Lieferan­ ten der im Falle der Gummistrumpf-Entscheidung des BGH. In beiden Fällen handelt es sich zwar um Tatbestände öffentlicher Auftragsver­ gabe; diese öffentlichen Aufträge sind aber als fiskalische Beschaf­ fungsgeschäfte materiell-privatrechtlich gestaltet. 11 12

Vgl. BGHZ 36, 93 ff. Vgl. näher Pietzcker, Staatsauftrag, S.

304 ff., 339 ff.

C. Verfassungsrechtliche Grenzen

72

d) Das Verhältnis von Allgemeinen Ortskrankenkassen und Augen­ optikern ist im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Allgemeinen Orts­ krankenkassen und Lieferanten (optische Industrie) teilweise anders gestaltet. In das Verhältnis von Allgemeiner Ortskrankenkasse und Augenoptiker fließen nämlich unterschiedliche Zweck- und Ordnungs­ elemente ein: aa) Der Augenoptiker, der an sozialversicherungsberechtigte Perso­ nen entweder Kassenbrillen oder Feinbrillen (bei entsprechender Zu­ zahlung des Differenzbetrages) liefert, tut dies auf der Grundlage der mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse bestehenden Verträge. Die Ein­ zelheiten dieses Vertragswerkes wurden bereits oben 13 insoweit dar­ gestellt, als es um die hiesige Problemstellung geht. Hiernach ergibt sich, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen ihr Versorgungssystem abgesehen von den Selbstabgabestellen - prinzipiell auf ein System vertraglich geordneter Kooperation mit den Augenoptikern stützen. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen gewährleisten die materielle Hilfe als solche, deren Vollzug bzw. deren technische Durchführung liegt dagegen - wiederum abgesehen von den Selbstabgabestellen - bei den privaten Augenoptikern. Diese erbringen die konkret und indivi­ duell erforderlichen Leistungen (Auswahl, Zusammensetzung und An­ passung von Brillen etc.) und rechnen anschließend mit den Allgemei­ nen Ortskrankenkassen ab; wie bereits oben 14 festgestellt wurde, liegt in dieser Aufgabenverteilung die sozialversicherungsrechtlich maßge­ bende und (allein) rechtmäßige Pflichterfüllung. In den maßgebenden Vertragswerken begründen die Allgemeinen Ortskrankenkassen zunächst ihr Recht, die Augenoptiker hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und Qualifikation zu kontrollieren bzw. ent­ sprechenden Zulassungsvoraussetzungen zu unterstellen. Gleichzeitig werden die zur Brillenversorgung zugelassenen Augenoptiker einem Kontrahierungszwang mit den sozialversicherungsberechtigten Perso­ nen unterstellt. Die Allgemeine Ortskrankenkasse verpflichtet sich im Gegenzug, ihren Mitgliedern die lieferungsberechtigten Augenoptiker bekanntzugeben und die konkrete Auswahl zwischen diesen durch den jeweiligen Sozialversicherungsberechtigten nicht zu beeinflussen. So erklären beispielsweise der Bayerische Rahmenvertrag vom 1. 4. 1979 und die Niedersächsische Vereinbarung vom 15. 10. 1974 in ihrem § 8 bzw. ihrem § 6, daß die freie Lieferantenwahl garantiert sei und daß die Ortskrankenkassen sich der Beeinflussung der konkreten Liefe­ rantenwahl zu enthalten haben. 13

14

Vgl. Teil B 1. Vgl. Teil B III, IV.

I. Grundfragestellung

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Aus verfassungsrechtlicher Sicht erweist sich dieses Vertragswerk als Tatbestand einer typischen Indienstnahme Privater zu Zwecken öffent­ licher Aufgabenerfüllung. Die Augenoptiker werden zwar nicht belie­ hene Unternehmer ; sie erlangen also nicht etwa einen öffentlich-recht­ lichen Funktionsstatus - vergleichbar dem der Ortskrankenkassen selbst. Die Augenoptiker bleiben vielmehr private Gewerbetreibende ; ihr optisches Gewerbe steht aber „im Dienste" (auch) der Ortskranken­ kassen und ihrer Leistungssysteme. Die Augenoptiker sind verpflichtet, ihre Leistungen auch zwecks Erfüllung der sozialversicherungsrecht­ lichen Pflichten der Ortskrankenkassen zu erbringen. Oder anders aus­ gedrückt : Die Augenoptiker wirken mittelbar bei der Erfüllung sozial­ versicherungsrechtlicher Leistungspflichten mit, indem sie die konkre­ ten Sachleistungen auf der Grundlage ihrer vertraglichen Pflicht ge­ genüber den Ortskrankenkassen erbringen. Aus der Sicht der Allge­ meinen Ortskrankenkassen sind die Augenoptiker also (mittelbare) Verwaltungshelfer, deren gewerbe- und berufsrechtlicher Status sich maßgebend nach den konkreten Vertragswerken bestimmt. Die in die­ sen festgelegten gewerblichen (beruflichen) Pflichten (Zuverlässigkeit, fachliche Qualifikation etc.) bedeuten aus der Sicht des Grundrechts des Art. 12 GG, daß hier bestimmte Formen der freien Berufsbetätigung unter den Vorbehalt öffentlicher Zulassung, öffentlicher Kontrolle und öffentlicher Inpflichtnahme gestellt werden. Der Beruf des von den Ortskrankenkassen als Lieferant zugelassenen Augenoptikers stellt sich als „staatlich gebundener Beruf" im Sinne der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dar 15 • Diese berufsrechtlichen Bindungen im Gewerbe des Augenoptikers vollziehen sich aus der Sicht wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Instru­ mentarien in der Gestalt des öffentlichen Auftrages : Die Augenoptiker werden von den Ortskrankenkassen im Wege öffentlicher Beauftragung zur Belieferung der sozialversicherungsberechtigten Personen herange­ zogen. Im Rahmen dieser öffentlichen Auftragsverhältnisse, deren Ein­ zelheiten, wie gezeigt, vertragsrechtlich geregelt sind, übernehmen die Augenoptiker nicht nur die konkret vereinbarten Lieferungspflichten, sie unterstellen sich auch den qualifikationsmäßigen Zulassungsvoraus­ setzungen und Kontrollen durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen. Die letzteren garantieren umgekehrt die freie Lieferantenwahl bzw. implizit - die Beteiligung der Augenoptiker an dem zugrundeliegen­ den Versorgungssystem. Aus diesem Grunde verpflichten sich die All­ gemeinen Ortskrankenkassen zur öffentlichen Bekanntmachung der 15 Siehe auch Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst?, 1980, S. 91 ff. ; zum „staatlich gebundenen Beruf" vgl. allgemein bes. BVerfGE 7, 377 (398) ; 22, 380 (383 f.) ; 30, 292 (312 ff.) ; Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 12 Rdnr. 95.

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C. verfassungsrechtliche Grenzen

lieferungsberechtigten Augenoptiker - eine Verpflichtung, die anders gelesen keinen Sinn besäße. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen ga­ rantieren dem einzelnen Augenoptiker in den besagten Vertragswerken zwar keine bestimmten Marktanteile bzw. keine definitiven Absatz­ möglichkeiten ; insofern gilt vielmehr - gleichfalls als Grundlage j enes Vertragswerks - das Prinzip des freien Wettbewerbs der (lieferungs­ berechtigten) Augenoptiker untereinander. Für die Allgemeinen Orts­ krankenkassen besteht insofern nur ein wettbewerbspolitisches Inter­ ventionsverbot (unbeeinflußte Lieferantenwahl) . Andererseits liegt in diesem Interventionsverbot nicht nur die Unzulässigkeit der Beeinflus­ sung des Wettbewerbs der Augenoptiker untereinander; Grundlage ist vielmehr der Wettbewerb der Augenoptiker als solcher ; und dies be­ deutet notwendig, daß den (konkurrierenden) Augenoptikern das grundsätzliche Belieferungsrecht auch als solches (vertraglich) vorbe­ halten wird - eine Feststellung, die für die Legitimität einer eigenen Wettbewerbsteilnahme durch die Ortskrankenkassen (Selbstabgabe­ stellen) von entscheidender Bedeutung ist. Das Vertragswerk zwischen Augenoptikern und Allgemeinen Orts­ krankenkassen fällt mit dieser Maßgabe in den thematischen Ord­ nungszusammenhang des Rechts der öffentlichen Aufträge - einen Ordnungszusa:mmenhang, der nicht nur durch die Kategorien des Pri­ vatrechts bestimmt wird. Im Gegenteil, soweit öffentliche Aufträge dazu dienen, bestimmte sozial- oder wirtschaftspolitische Ziele (Verwal­ tungszwecke) zu erfüllen, gelten auch für öffentliche Aufträge die Bin­ dungen und Zuständigkeitsabgrenzungen des öffentlichen Rechts 16 • Öf­ fentliche Aufträge dieser Qualität können in der Gestalt des öffentlich­ rechtlichen Vertrages (öffentlich-rechtlicher Vertragsgegenstand) 17 oder auch in der Form des privatrechtlichen Vertrages (öffentlich-rechtlicher Gegenstand bei privatrechtlicher Form) auftreten. Im letzteren Falle wäre vom Tatbestand des Verwaltungsprivatrechts auszugehen. Hin­ sichtlich der materiell-rechtlichen Konsequenzen ergeben sich zwischen beiden Vertragstypen keine Unterschiede18 , so daß es auch im hiesigen Zusammenhang keiner weiteren vertragsimmanenten Differenzierun­ gen mehr bedarf. Wesentlich ist lediglich die Feststellung, daß das bestehende Vertragswerk zwischen Augenoptikern und Allgemeinen Ortskrankenkassen jedenfalls nicht als rein fiskalisches (materiell­ privatrechtliches) Vereinbarungssystem etwa von der Art begriffen 16 Vgl. Pietzcker, Staatsauftrag, S. 304 ff., 339 ff., 362 ff. ; Forsthoff, Auftrag­ geber, S. 16 ff. ; Kunert, Bedarfsdeckungsgeschäfte, S. 101 ff., 129 ff. ; Schenke, WuV 78, 226 (238 f.) ; Wilke / Schachel, WuV 78, 1 12. 17 Zum diesbezüglichen Abgrenzungskriterium des öffentlich-rechtlichen Vertrages siehe z. B. BGHZ 32, 214 (216), 56, 365 (368) ; BVerwGE 22, 129 (138) ; 25, 299 (301) ; 42, 331 (332) ; R. Scholz, Günther-Festschrift, 1976, S. 223 (226) ; s. zur Abgrenzungsfrage insgesamt zuletzt etwa Gern, VerwArch. 70, 219 ff. 18 Vgl. auch Pietzcker, Staatsauftrag, S. 362 ff.

I. Grundfragestellung

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werden kann, wie dies für das Verhältnis von Allgemeinen Ortskran­ kenkassen (Selbstabgabestellen) und industriellen Lieferanten gilt. Denn im Gegensatz zu deren Verhältnis geht es im Verhältnis von Allgemeinen Ortskrankenkassen und Augenoptikern um ein unmittel­ bar vom Sozialversicherungsrecht und seinen Aufgaben bestimmtes Rechtsverhältnis (Verwaltungshilfe durch inpflichtgenommene Augen­ optiker). Die den Augenoptikern erteilten öffentlichen Aufträge sind im vorbezeichneten Sinne öffentliche Aufträge mit eigenständig-sozial­ politischer Zwecksetzung, unterscheiden sich also von öffentlichen Auf­ trägen mit allein fiskalischem Bedeutungsgehalt. bb) Soweit die Allgemeinen Ortskrankenkassen die Selbstabgabe von Kassenbrillen und ggf. auch von Feinbrillen betreiben, wird das Rechts­ verhältnis von Allgemeinen Ortskrankenkassen und Augenoptikern durch eine weitere Rechtsbeziehung geprägt: nämlich durch den wett­ bewerblichen Bezug. Die Selbstabgabestellen treten durch ihre Tätig­ keit unmittelbar in Konkurrenz zu den Augenoptikern, zwischen beiden entwickelt sich ein Wettbewerbsverhältnis im allgemein-wirtschaft­ lichen Sinne 19 • Dieses Wettbewerbsverhältnis nimmt seinen Ausgang bei den Selbstabgabestellen als augenoptischen Betrieben von der gleichen Grundanlage wie bei den privaten Augenoptikern. Die Selbstabgabe­ stellen beziehen von den industriellen Lieferanten das erforderliche Rohmaterial und fertigen aus diesem die individuell benötigten Kassen­ brillen oder Feinbrillen; die Selbstabgabestellen operieren auf der gleichen fachlichen bzw. handwerklichen Grundlage und Qualifikation wie die Betriebe der Augenoptiker. Im wirtschaftlichen Sinne sind beide Seiten nicht voneinander unterschieden. Dies gilt auch für die Kassenbrillen, soweit der Sozialversicherungsberechtigte eine solche Brille bei der Selbstabgabestelle bezieht. Denn ebenso wie bei dieser hat der Sozialversicherungsberechtigte auch beim Augenoptiker keine wirtschaftliche Gegenleistung zu erbringen. Im Falle der Selbstabgabe­ stelle fallen der Allgemeinen Ortskrankenkasse die Unkosten der Selbstabgabestelle unmittelbar zur Last; im Falle der Belieferung durch den Augenoptiker hat dieser einen entsprechenden Erstattungsanspruch gegen die Allgemeine Ortskrankenkasse, diese trägt aus der Sicht des Sozialversicherungsberechtigten die Unkosten für die von diesem emp­ fangene Leistung also mittelbar. Zwischen unmittelbarer und mittel­ barer Kostentragung in diesem Sinne besteht aus der Sicht wettbe­ werblicher Koordination aber kein Unterschied. Das gleiche gilt hinsichtlich der Versorgung mit Feinbrillen. So wie der Augenoptiker in diesen Fällen vom Sozialversicherungsberechtig­ ten einen Zuschlag erhebt, tut dies auch die Selbstabgabestelle. Zu den Kriterien des Wettbewerbs der öffentlichen Hand vgl. bereits Scholz, ZHR 132, 97 (100 ff.).

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R.

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C. verfassungsrechtliche Grenzen

Hinzu kommt schließlich der auf beiden Seiten bestehende Wettbe­ werbswille : Die Augenoptiker sind schon aus existenziellen Gründen darauf angewiesen, den ihnen von den Selbstabgabestellen aufgezwun­ genen Wettbewerb anzunehmen und in diesem Wettbewerb zu beste­ hen (zur Frage, ob den Augenoptikern ein solches Bestehen im Wett­ bewerb möglich oder zumutbar ist, siehe weiter unter 4.). Die Selbst­ abgabestellen begeben sich mit ihrem Verhalten unmittelbar an den augenoptischen Markt, suchen dort den Wettbewerb mit den Augen­ optikern und versuchen, sich diesen gegenüber durchzusetzen. Dieser wettbewerbliche Durchsetzungswille wird vor allem in den werblichen Aktionen deutlich, die die Selbstabgabestellen in reichem Maße vor­ nehmen und mittels derer sie den wettbewerblichen Vorteil bzw. Vor­ sprung gegenüber dem privaten Augenoptikergewerbe suchen. 2. Selbstab gab e als sozialversicherungs­ rechtliche Aufgab enerfüllung? Die Frage, ob die Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen als sozialversicherungsrechtliche Aufgabenerfüllung vom Sozialversiche­ rungsrecht selbst gerechtfertigt wird, wurde bereits oben im Teil B untersucht. Hiernach war als Ergebnis festzuhalten, daß die Selbst­ abgabe sowohl von Kassenbrillen als auch von Feinbrillen grundsätz­ lich keine Legitimation im geltenden Sozialversicherungsrecht finden kann. Das System der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen und Pflichten untersteht einem strikten Gesetzesvorbehalt; außerhalb des­ selben ergeben sich für die Sozialversicherungsträger keine legitimen Zuständigkeiten. Wie die obigen Ausführungen im Teil B beweisen, findet sich im geltenden Sozialversicherungsrecht keine Rechtsgrund­ lage, die eine entsprechende Selbstabgabetätigkeit von Kassenbrillen oder von Feinbrillen erlaubte. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird diese Frage dahingehend weiter zu verfolgen sein, welche verfassungs­ rechtliche Tragweite der sozialversicherungsrechtliche Gesetzesvorbe­ halt besitzt bzw. ob der sozialversicherungsrechtliche Gesetzesvorbehalt auch aus verfassungsrechtlicher Sicht eine entsprechend restriktive Interpretation gebietet, wie dies bereits aus sozialversicherungsrecht­ lichen Zusammenhängen im engeren Sinne oben gefolgert wurde; im einzelnen ist hierzu auf die Ausführungen im Abschnitt II. zu ver­ weisen. Der äußeren Erscheinung wie der tatsächlichen Wirksamkeit nach bedeutet die Selbstabgabe von Kassenbrillen und Feinbrillen eine säch­ liche Versorgungsleistung, die zwar dem legitimen sozialversicherungs­ rechtlichen Leistungszweck dient, die im Verhältnis zu seiner Errei­ chung aber nur vollzugstechnische bzw. instrumentale Bedeutung hat.

I. Grundfragestellung

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Die Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen stellt im Verhältnis zur sozialversicherungsrechtlichen Leistungspflicht lediglich ein Mittel zum Zweck dar, ist vom Zwecke selbst und seiner kompetentiellen Legitima­ tion also zu unterscheiden. Das Sozialversicherungsrecht kennt ebensowenig wie das allgemeine öffentliche Recht - den legitimatori­ schen Schluß vom legitimen Zweck auf das (auch) legitime Mittel. Mittel­ zweck-Relationen dieser Art sind zumindest dort prinzipiell nicht statthaft, wo sie dazu dienen, bestimmte, gesetzlich festgelegte oder gesetzgeberisch vorbehaltene Kompetenzen zu erweitern. Kein Verwal­ tungsträger ist berechtigt, den Kreis seiner eigenen (gesetzlich fixier­ ten) Zuständigkeiten mit der Begründung (eigenmächtig) zu erweitern, daß die zusätzlich in Anspruch genommene Kompetenz einer anderen, gesetzgeberisch festgelegten Kompetenz gegenüber lediglich Vollzugs­ mittel oder Mittel zum Zweck sei. Jede verwaltungsrechtliche Zustän­ digkeit bedarf der eigenen Legitimation, gleichgültig wie ihr tatsäch­ liches Verhältnis zu einer anderen Kompetenz bestimmt ist. Kompe­ tenzrechtliche Legitimationen können zwar (zweck-)abgeleiteter Art sein; sie sind dies aber nicht von vornherein oder in jedem Fall. Auch abgeleitete Kompetenzrechtfertigungen bedürfen als solche des recht­ lichen (gesetzgeberischen) Ausweises. Fehlt es an ihm, so fehlt es an der kompetenzrechtlichen Legitimation insgesamt. In diesem Sinne offen­ barte das geltende Sozialversicherungsrecht den Legitimationsmangel der Selbstabgabe von Kassenbrillen wie von Feinbrillen. Die entspre­ chende Selbstabgabetätigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkassen im­ pliziert - ungeachtet des legitimen Leistungszwecks - keine aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht legitime Aufgabenerfüllung. 3. Selbstabgab e als erwerbswirtschaftliche oder sozialwirtschaftliche Tätigkeit?

Soweit die Allgemeinen Ortskrankenkassen durch ihre Selbstabgabe­ tätigkeit den privaten Augenoptikern wettbewerblich gegenübertreten, handelt es sich um eine Form öffentlicher Eigenwirtschaft bzw. staat­ licher Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsverkehr. Daß diese wirt­ schaftliche Betätigung von den Allgemeinen Ortskrankenkassen unter Berufung auf ihre sozialversicherungsrechtlichen Leistungspflichten be­ trieben wird, ändert hieran nichts. Staatliche Wirtschaft liegt überall dort vor, wo der Staat oder einer seiner Aufgabenträger sich am allge­ meinen wirtschaftlichen Verkehr (,,marktmäßig") betätigt, wo der be­ treffende Aufgabenträger also wirtschaftliche Leistungen am Markt erbringt, gleichgültig ob diese auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Güterproduktion oder auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Güter­ absatzes liegen20 • In diesem Sinne stellt die Abgabe von Kassenbrillen 20 Vgl. R. Scholz, ZHR 132, 107 ff.

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C. Verfassungsrechtliche Grenzen

wie von Feinbrillen an sozialversicherungsberechtigte Personen Wirt­ schaften im marktmäßigen Sinne dar, wobei die weitere ökonomische Besonderheit darin besteht, daß diese Tätigkeit im unmittelbaren Wett­ bewerb mit den Augenoptikern erfolgt. Wenn der Staat oder einer seiner Aufgabenträger sich am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr (eigenwirtschaftlich) beteiligen, ist zwischen den Inhalten, Zwecken und Wirkungen solcher öffentlichen Eigenwirtschaft zu differenzieren. Die herrschende Auffassung unterscheidet zumeist zwischen Wirtschafts­ tätigkeiten der öffentlichen Hand, die aus Gründen der Erwerbswirt­ schaft bzw. der Gewinnmaximierung betrieben werden, und Wirt­ schaftstätigkeiten, die aus Gründen öffentlicher Zwecksetzungen be­ trieben werden21 • Oder anders gesagt : Das betreffende öffentliche Un­ ternehmen wird auf seine Zielsetzung dahingehend befragt, ob diese allein erwerbswirtschaftlichen Zwecken oder öffentlichen Zwecken ver­ pflichtet sei. Als entsprechendes „ öffentliches Unternehmen" ist - bei geboten funktionaler Betrachtungsweise - nicht nur die verselbständigte wirt­ schaftliche Handlungseinheit im privatwirtschaftlichen Sinne, sondern j ede ökonomisch agierende Handlungseinheit zu begreifen, gleichgültig ob diese generell oder überwiegend die Begriffsmerkmale des ökono­ mischen (organisatorischen) Unternehmensbegriffs erfüllt22 • Jeder staat­ liche Verwaltungsträger, der sich tatsächlich ökonomisch (wettbewerb­ lich) betätigt, fällt - seiner realen Funktion gemäß - unter den (funk­ tionalen) Begriff des öffentlichen Unternehmens. Für die Allgemeinen Ortskrankenkassen hat dies der BGH in seiner, bereits mehrfach zitier­ ten Gummistrumpf-Entscheidung ausdrücklich bestätigt23 • Die Allge­ meinen Ortskrankenkassen figurieren also, soweit sie die Selbst­ abgabe von Kassen- oder Feinbrillen betreiben, als öffentliche Unter­ nehmen. Daß die Selbstabgabestellen als solche lediglich organisa­ torisch unselbständige Verwaltungsabteilungen der Allgemeinen Orts­ krankenkassen sind, spielt hierbei keine Rolle. Die tatsächlich-wirt­ schaftliche Leistung wird zwar in j enen unselbständigen Abteilungen erbracht ; deren Wirkungen und Aufgaben sind aber der Allgemeinen 21 Vgl. näher u. a. Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 72 ff., 125 ff. ; H. Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1 968, S. 13 ff., 1 1 9 ff., 202 ff. ; Wilke / Schachel, WuV 78, 95 ff. ; Grupp, ZHR 140, 367 (370 ff.) ; R. Scholz, in : Duwendag, Der Staatssektor in der sozialen Markt­ wirtschaft, 1976, S. 1 1 3 (115 ff.) ; Eichhorn, PVS 8/1977, S. 65 (66 ff.) - Fest­ schrift für von Eynern -. 22 Zum diesbezüglichen funktionalen Unternehmensbegriff - namentlich aus der Anwendungssicht des Wettbewerbsrechts - vgl. mit weiteren Nachw. R. Scholz, ZHR 132, 125 ff. ; Mestmäcker, NJW 69, 1 . 2 3 Vgl. BGHZ 3 6 , 9 1 (93 ff.) ; vgl. auch z. B. BGH, WuW/E BGH 1423 ff. so­ wie BGH, BB 77, 1665 (1666 ff.) ; BGHZ 66, 229 (232 ff.) ; 67, 81 (83 ff.) ; zuletzt siehe etwa noch BGH, WuW/E BGH 1661 ff.

I. Grundfragestellung

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Ortskrankenkasse als solcher unmittelbar zuzurechnen - die Allge­ meine Ortskrankenkasse ist mithin als solche öffentliches Unterneh­ men. Ohne Belang ist hierbei des weiteren die Frage, ob die betref­ fende unternehmerische Wirtschaftsbetätigung in öffentlich-rechtlicher oder in privatrechtlicher Gestalt erfolgt. Denn wie Wirtschaften einen lediglich tatsächlichen Verhaltensprozeß umschreibt, so ist der reale Sachverhalt wirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand von der rechtlichen Organisationsform unabhängig24 • Erwerbswirtschaft­ liches Verhalten orientiert sich allein an der konkreten ökonomischen Zielsetzung; wirtschaftliches Verhalten zwecks Erreichung einer öffent­ lichen Zielsetzung kann sowohl in öffentlich- wie in privatrechtlicher Gestalt erfolgen - am Grundtatbestand der ökonomischen Wirksam­ keit als solcher ändert dies nichts. Die tatbestandliche Feststellung staatlicher Eigenwirtschaft ist mit anderen Worten von der Zuordnung zu konkreten Zwecken oder Rechtsformen (zunächst) unabhängig; Zu­ ordnungen dieser Art erlangen Bedeutung erst im Rahmen der weite­ ren Fragestellung, ob und inwieweit jenes wirtschaftliche Verhalten bzw. jene Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsverkehr juristisch ge­ rechtfertigt ist. Typologisch ist der erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand, wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde, die sozialwirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand an die Seite zu stellen2 5 . Welchen Tatbestand die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand umreißt, wurde bereits bezeichnet. Von sozialwirt­ schaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand ist im Gegensatz hierzu überall dort zu sprechen, wo ein wirtschaftender Aufgabenträger der öffentlichen Hand sozial-erforderliche oder sozial-nützliche Leistungen erbringt, die die Privatwirtschaft - z. B. das private Dienstleistungs­ gewerbe - zwar als solche leistet oder zu leisten vermag, von denen der betreffende staatliche Aufgabenträger aber annimmt oder gar er­ kennen muß, daß sie in der gegebenen privatwirtschaftlich organisier­ ten Form entweder tatsächlich ungenügend oder sozial unterentwickelt sind. Wenn der Staat oder einer seiner Aufgabenträger zur Überwin­ dung derart erkannter oder vermuteter Sozialdefizite in der Privat­ wirtschaft eigene Unternehmen zur wirtschaftlichen Leistung berufen, so treten diese öffentlichen Unternehmen nicht nur äußerlich zur Pri­ vatwirtschaft in Konkurrenz; sie werden zugleich zum häufig über­ mächtigen Gegenspieler sozial-nützlicher oder -wirksamer Gesell­ schaftsautonomie26 . Gerade im Bereich der Sozialversicherung haben die 24 Vgl. BGHZ 66, 232 ff. ; 67, 83 ff. ; R. Scholz, ZHR 132, 108 ff., 125 ff. ; ders., NJW 74, 781 f. ; 78, 16 ff. mit weiteren Nachw. 25 Vgl. - zugleich zum Folgenden - R. Scholz, in : Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, S. 1 1 5 ff. ; vgl. auch Grupp, ZHR 140, 370 ff. •• Vgl. R. Scholz, in: Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft,

S. 1 15.

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C. Verfassungsrechtliche Grenzen

vergangenen Jahre verschiedene Beispiele solcher Problematiken offen­ bart (vgl. z. B. Probleme der Studentenkrankenversicherung, der Aus­ dehnung öffentlicher Gebäudeversicherungsmonopole, der Übernahme privater Krankenversicherungsagenden durch öffentlich-rechtliche Ver­ sicherungsunternehmen etc.)27 • Die Selbstabgabetätigkeit der Allgemei­ nen Ortskrankenkassen fällt prinzipiell unter den Tatbestand der sozial­ wirtschaftlichen Betätigung; denn die Abgabe der Kassen- wie Fein­ brillen durch die Selbstabgabestellen der Ortskrankenkassen erfolgt, wie gezeigt, als prinzipielles Mittel zur Erreichung des sozialversiche­ rungsrechtlichen Leistungs- bzw. Versorgungszwecks. Mit dieser Maß­ gabe kann sich die Selbstabgabe sowohl der Kassenbrillen wie der Feinbrillen auf eine sozialwirtschaftliche Grundorientierung berufen; die Selbstabgabestellen der Ortskrankenkassen sind prinzipiell keine erwerbswirtschaftlichen, sondern sozialwirtschaftliche Unternehmen der öffentlichen Hand. An dieser Feststellung ändert der wettbewerb­ liche Charakter der Selbstabgabestellen bzw. deren bewußte Wettbe­ werbsführung im Verhältnis zu den Augenoptikern grundsätzlich nichts; denn auch die sozialwirtschaftlichen Unternehmen sind typi­ scherweise wettbewerblich orientierte Einheiten. Andererseits lassen sich Tendenzen zu erwerbswirtschaftlicher Orientierung nicht über­ sehen. Vor allem die Selbstabgabestelle der AOK Leer wirbt neuer­ dings auch um „Versicherte anderer Kassen"; die AOK Leer beschränkt ihre Leistungsangebote also nicht auf solche Personen, die ihrerseits berechtigte Mitglieder der AOK selbst sind. Soweit die AOK Leer damit die Grenze ihrer eigenen Mitgliedschaft überschreitet bzw. wettbewerb­ lich zu überschreiten sucht, ist ihr wirtschaftliches Verhalten nicht mehr als sozialwirtschaftlich, sondern bereits als erwerbswirtschaftlich zu qualifizieren. Die gleiche Tendenz offenbart sich in der außerordentlich massiven Wirtschaftswerbung, mit der die bisher bekannten Selbst­ abgabestellen am Markt tätig werden: Die AOK Leer wirbt beispielsweise für ihre Feinbrillen mit Aus­ sagen, wie denen von nur „geringen Aufpreisen", vom „breiten Ange­ bot von modischen Kunststoff- und Metallfassungen", von der „AOK­ Augenoptik" als „einer besonderen Dienstleistung" ; die AOK Wupper­ tal ruft in ihren Werbeaktionen zum Besuch der „modernen Augen­ optik" auf; sie stellt ihre Selbstabgabetätigkeit als „Service besonderer Art" dar; sie offeriert „moderne Sehhilfen aus eigenem Meisterbetrieb zu überaus günstigen Preisen"; sie fordert den Sozialversicherungs27 Vgl. dazu Isensee, DB 79, 145 ff. ; Leisner, Sozialversicherung und Privat­ versicherung, 1974; ders., Zur Abgrenzung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, 1974 ; R. Scholz, Sieg-Festschrift, 1976, S. 507 ff. ; R. Scholz / Isensee, Zur Krankenversicherung der Studenten, 1973 ; Voigt, Gew­ Arch. 77, 6 ff.; Bettermann, WiR 73, 184 ff., 241 ff. ; Obermayer / Steiner, NJW 69, 1457 ff. ; Zweigert / Reichert-Facilides, ZVersWiss. 1971, 1 ff.

I. Grundfragestellung

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berechtigten auf: ,,Nutzen Sie den Vorteil, den nur AOK-Versicherte und ihre Angehörigen haben . . . " Oder: ,,Auch für Ihren Typ halten wir die richtige Brille bereit". Die AOK Düsseldorf wirbt beispielsweise mit ihren „Sehschärfen­ bestimmungen", die „bei der Anfertigung einer Wiederholungsbrille den Weg zum Arzt ersparten". Die AOK Leer geht besonders weit und begreift ihre Selbstabgabetätigkeit bereits als ersten „Schritt zum Ge­ sundheitshaus" bzw. ,,Gesundheitsvorsorgehaus", in dessen Rahmen nicht nur für augenoptische Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der Mundhygiene, der Ernährungs- und Diätberatung, für den eigenen Krankentransport etc. geworben wird. Die Errichtung derartiger „Ge­ sundheitshäuser" (,,Gesundheitsvorsorgehäuser") geht eindeutig über den Rahmen legitimer Sozialversicherung hinaus; sie betritt, abgesehen vom wirtschaftlichen Wettbewerb mit konkurrierenden Privaten (Augenoptikern, Krankentransportunternehmen etc.), bereits den Bo­ den der eigenen therapeutischen Betätigung (Konkurrenz zum Arzt). Die erwerbswirtschaftliche Tendenz solcher Einrichtungen offenbart sich des weiteren bei Werbeaktionen, wie denen eines „Tages der offe­ nen Tür", den die AOK Leer veranstaltet hat und in dessen Rahmen sie nicht nur ihre eigenen therapeutischen Einrichtungen vorgeführt hat, sondern in dessen Rahmen sie auch typisch werbewirtschaftliche Maß­ nahmen getroffen hat (unentgeltliche Beratung, Spiele, Preisvergabe, Malwettbewerb für Kinder, kostenlose Getränke etc.). Dieses werbliche Verhalten der Selbstabgabestellen offenbart eine auch insgesamt festzustellende Tendenz zur erwerbswirtschaftlichen Betätigung. Obwohl die Selbstabgabe von Kassen- wie Feinbrillen als solche grundsätzlich sozialwirtschaftlicher Art ist, kann eine entspre­ chend übermäßige Werbung am Markt bzw. eine entsprechend rigide Führung des Wettbewerbs gegenüber dem privaten Konkurrenten den Schritt zur auch tatsächlich überwiegenden Erwerbswirtschaft be­ deuten. Verstärkend im Sinne dieser Tendenz wirken überdies vertragliche Bestimmungen, die den Augenoptikern bestimmte Werbemaßnahmen untersagen; in diesem Sinne verbietet beispielsweise der nordrhein­ westfälische Rahmenvertrag vom 17. 1. 1979 Werbemaßnahmen hin­ sichtlich der Leistungspflicht der Krankenkassen sowie Werbemaßnah­ men von Lieferungsberechtigten in den Räumen der Krankenkassen sowie in Arztpraxen etc. Obwohl Werbeverbote dieser Art aus Grün­ den des medizinischen Grundethos prinzipiell geboten oder doch adä­ quat sind, empfangen derartige Werbebeschränkungen im Lichte des zwischen den Selbstabgabestellen und den Augenoptikern bestehenden Wettbewerbs ganz andere Wirkungen: Da die Allgemeinen Ortskran6 von Maydell / Scholz

C. Verfassungsrechtliche Grenzen

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kenkassen sich ihrerseits keinerlei werbliche Beschränkungen aufer­ legen, bedeuten solche Vertragsbestimmungen wettbewerbliche Nach­ teile zu Lasten der Augenoptiker, die schon im Lichte der Grundsätze eines lauteren Wettbewerbs (§§ 1, 3 UWG) nicht statthaft sind28 • Das Gesamtbild einer - trotz sozialwirtschaftlicher Grundorientierung erwerbswirtschaftlichen Tendenz wird durch die Feststellung des Land­ gerichts Düsseldorf abgerundet, derzufolge die Selbstabgabestelle der AOK Düsseldorf angesichts der ihr möglichen bzw. von ihr wahrgenom­ menen Preisvorteile Gewinne erzielt (Urteil vom 20. 9. 1978 - 12. 0. 168/78). Worin diese Preisvorteile der Selbstabgabestellen bestehen bzw. auf welchen spezifischen Umständen diese beruhen, wird im Fol­ genden zu erörtern sein. 4. Gleichheit und Ungleichheit im Wettb ewerb Wettb ew erbliche Auswirkungen der Selbstab gab e

Selbstabgabestellen und Augenoptiker treten sich sowohl im Bereich der Abgabe von Kassenbrillen als auch im Bereich der Abgabe von Feinbrillen wettbewerblich gegenüber. Beide Seiten konkurrieren mit einem wirtschaftlich identischen Leistungsangebot am Markt; ihre ge­ genseitigen Beziehungen sind nicht nur durch das zugrundeliegende Vertragswerk, sondern auch durch die gegeneinander bestehenden, wettbewerblichen Marktbeziehungen koordiniert. Dieses Wettbewerbs­ verhältnis besteht unabhängig davon, ob die Selbstabgabe als sozial­ wirtschaftliche oder erwerbswirtschaftliche Betätigung zu qualifizieren ist. Das gleiche gilt hinsichtlich eventueller Gewinnerzielungsabsichten bzw. hinsichtlich eines Fehlens solcher Absichten. Denn wirtschaftlicher Wettbewerb ist nicht nur dort gegeben, wo Wirtschaftssubjekte mit (identischer) Gewinnerzielungsabsicht konkurrieren; wirtschaftlicher Wettbewerb ist vielmehr überall dort gegeben, wo in Angebot und/oder Nachfrage konkurrierende Wirtschaftsgüter am Markt angeboten bzw. nachgefragt werden. Rechtliche wie wirtschaftliche Grundbedingung eines funktionierenden Wettbewerbs ist die prinzipielle Gleichheit der Konkurrenten in der marktmäßigen Position, in den ökonomischen Startbedingungen sowie im gegenseitigen Marktverhalten. Betrachtet man das konkrete Wettbewerbsverhältnis zwischen den Selbstabgabe­ stellen und den Augenoptikern unter diesem Aspekt, so ergeben sich nicht nur formale Gleichheiten im Marktzutritt, sondern auch evidente Ungleichheiten bzw. entsprechende Begünstigungen (Vorteile) der Selbstabgabestellen im Wettbewerb : a) Die erste, prinzipiell bedeutsame Ungleichheit im bestehenden Wettbewerb basiert auf dem widersprüchlichen Verhalten der Allge28

Vgl. dazu auch noch unten sub V.

I. Grundfragestellung

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meinen Ortskrankenkassen. Auf der einen Seite sichern diese durch das bestehende Vertragswerk die Lieferberechtigung der Augenoptiker und verpflichten sich hierbei namentlich, auf die Lieferantenwahl keinen eigenen Einfluß auszuüben. Auf der anderen Seite begeben sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen mit ihren Selbstabgabestellen selbst an den Markt und konkurrieren dort unmittelbar mit. Dieser Wett­ bewerb wird, wie gezeigt, mit werblich aggressiven Methoden geführt - Methoden, die mit dem vertraglichen Interventionsverbot nicht zu vereinbaren sind. Das gleiche gilt hinsichtlich der den Augenoptikern vertraglich auferlegten Werbebeschränkungen, die die Allgemeinen Ortskrankenkassen für sich selbst bzw. für ihre eigene Wettbewerbs­ teilnahme gerade nicht gelten lassen. Hinzu kommt, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen über das bestehende Vertragswerk die Zulassung, die Zulassungsvoraussetzun­ gen, die Tätigkeit, die Leistungskonditionen und damit das gesamte marktmäßige Verhalten der Augenoptiker nicht nur kennen, sondern voll unter Kontrolle halten. Diese Kenntnis- und Kontrollmöglich­ keiten vermitteln den Allgemeinen Ortskrankenkassen einen evidenten Wettbewerbsvorteil; denn über die Kenntnis von Position, Konditionen und marktmäßiger Strategie des Konkurrenten können die Allgemei­ nen Ortskrankenkassen das eigene Wettbewerbsverhalten nicht nur ohne marktmäßiges Risiko, sondern auch in der Weise bestimmen, daß jeweils ein entsprechender Wettbewerbsvorteil entsteht oder doch er­ halten bleibt. b) Der zweite, maßgebende Wettbewerbsvorteil der Selbstabgabe­ stellen besteht darin, daß diese die sog. Fiskalprivilegien öffentlicher Aufgabenträger29 voll in Anspruch nehmen und für ihre Leistungen weder Körperschaftssteuer noch Gewerbesteuer entrichten30 • Der weitere, ebenso maßgebende Wettbewerbsvorteil der Selbst­ abgabestellen besteht darin, daß diese als unselbständige Abteilungen der Allgemeinen Ortskrankenkassen geführt, in ihrer personellen und sächlichen Ausstattung demgemäß aus dem allgemeinen Haushalt der Allgemeinen Ortskrankenkasse finanziert werden oder doch finanziert werden können. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen sind weder auf Gewinnerzielung noch auf Selbstkostendeckung hinsichtlich der Selbst­ abgabestellen angewiesen. Denn hinter ihrem geschäftlichen Gebaren steht jedenfalls der konzentrierte Haushalt der Sozialversicherung ins­ gesamt - ein unter den Aspekten von Existenzsicherung und -risiko 29 Zu diesen und deren (verfassungsrechtlichen) Grenzen vgl. bes. Leisner, BB 70, 405 ff. ; Selmer / Schulze-Osterloh, DÖV 78, 381 ff. 30 Zur Reformbedürftigkeit vgl. auch die Beschlußempfehlung und den Be­ richt des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages vom 9. 5. 79 zum E-UStG 1979/80 - BT-Drucks. 8/2827, S. 6, 14 zu §§ 2, 4 UStG.

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C. Verfassungsrechtliche Grenzen

unschätzbarer Vorteil im Verhältnis zu den konkurrierenden Augen­ optikern. Nach geltendem Sozialversicherungsrecht sind die Allgemei­ nen Ortskrankenkassen zwar nicht berechtigt, die ihnen „ treuhände­ risch" überantworteten Beitragsmittel ihrer Mitglieder zu wirtschaft­ lichen Zwecken zu mißbrauchen ; in solchem Verhalten läge ein rechts­ widriger Verwendungsmißbrauch31 • c) Ein weiterer Wettbewerbsvorteil der Selbstabgabestellen besteht darin, daß diese von den industriellen Lieferanten Preisnachlässe er­ zwingen können. Angesichts ihrer marktstarken Position als Großab­ nehmer sind die Selbstabgabestellen zur Durchsetzung derartiger Preisnachlässe befähigt - Möglichkeiten, die den Augenoptikern umge­ kehrt kaum eröffnet sind. Würden sich die Augenoptiker in entspre­ chender Weise zusammenschließen und versuchen, durch ein vergleich­ bar starkes Nachfragemonopol identische Belieferungsbedingungen ge­ genüber den industriellen Lieferanten durchzusetzen, so gerieten sie mit Sicherheit in vielfältige Konflikte mit dem geltenden Kartellrecht (unzulässige Kartellabsprache; Mißbrauch marktbeherrschender Unter­ nehmensstellung; ggf. sogar unzulässige Fusionierung). Diese Wettbewerbsvorteile der Selbstabgabestellen potenzieren sich wechselseitig. Dies offenbart sich beispielsweise an der Preisbildung für Feinbrillen. Diejenigen Preisvorteile, die die Allgemeine Orts­ krankenkasse etwa aus ihrer Steuerersparnis, aus ihrer starken Nach­ frageposition etc. zieht, kann sie in vollem Umfange auf ihre Preisbil­ dung bei Feinbrillen umlegen; die Zuzahlungspflichten der Sozial­ versicherungsberechtigten für Feinbrillen können also entsprechend niedrig gehalten werden. Diese Preisbildung ist jedoch nicht Ausdruck wettbewerblicher Leistung, sondern Ergebnis wettbewerbsfremder (un­ lauterer) Marktvorteile. Insgesamt kann das Verhältnis von Augen­ optikern und Selbstabgabestellen nicht als ein Verhältnis gleicher Wettbewerbsbedingungen qualifiziert werden. Die zwischen beiden Wettbewerbern bestehenden Unterschiede sind allzu groß; die Wett­ bewerbsvorteile der Selbstabgabestellen sind evident. Im Einklang hiermit hat der BGH in seiner Sehhilfen-Entscheidung das Verhältnis von Augenoptikern zu den Krankenkassen mit Recht als ein „abhängi­ ges" Verhältnis im Sinne des § 26 II GWB qualifiziert: Die Allgemeinen Ortskrankenkassen unterfallen in ihrem Verhältnis zu den Augen­ optikern dem Diskriminierungsverbot des § 26 GWB, weil für die 31 Vgl. hierzu näher bes. Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungs­ beiträge, 1973, S. 13 ff., 52 ff., 60 ff., 74 ff. ; R. Scholz / Isensee, Zur Kranken­ versicherung der Studenten, S. 26 ff. ; zum korrespondierenden Eigentums­ schutz der Sozialversicherungsberechtigten vgl. u. a. Meydam, Eigentums­ schutz und sozialer Ausgleich in der Sozialversicherung, 1973, S. 13 ff., 27 ff., 59 ff., 91 ff.

I. Grundfragestellung

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Augenoptiker keine „ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglich­ keiten . . . bestehen" 32 • Diese Abhängigkeit der Augenoptiker bzw. diese wettbewerbliche Unterlegenheit, der diese im Verhältnis zu den Selbstabgabestellen aus­ gesetzt sind, führt zu entsprechenden Auswirkungen nicht nur in wett­ bewerblicher, sondern auch in existenzieller Hinsicht. Letzteres gilt zu­ mindest für solche augenoptischen Betriebe, die unmittelbar im ört­ lichen Einzugsfeld von Selbstabgabestellen liegen. Von besonderer Be­ deutung ist hierbei die Ausdehnung der Selbstabgabestellen auch auf den Vertrieb von Feinbrillen. Soweit es um Kassenbrillen geht, ist der Wettbewerb der Selbstabgabestellen kaum existenzgefährdend; denn insofern konkurrieren identische Produkte ohne äußeren Preisvergleich miteinander. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen tragen die Kosten der Kassenbrillen entweder unmittelbar (Selbstabgabe) oder mittelbar (Abgabe durch Augenoptiker) . Der Empfänger solcher Brillen empfin­ det diesen Unterschied nicht; seine Entscheidung, ob er sich vom Augen­ optiker oder von der Selbstabgabestelle beliefern läßt, wird also nicht von preislichen Überlegungen bestimmt. Anderes gilt dagegen für die Feinbrillen. Hier werben die Allgemeinen Ortskrankenkassen, wie ge­ zeigt, ausdrücklich mit dem Hinweis auf ihre angeblich günstigere Preisgestaltung; die Selbstabgabestellen zielen also auf die markt­ mäßige Zurückdrängung der Augenoptiker bzw. - zumindest im Ex­ trem - auf deren Verdrängung vom Markte überhaupt. Eine solche Marktverdrängung muß nicht von einer ausdrücklichen Verdrängungs­ absieht getragen sein; hierfür genügt der objektive Tatbestand bzw. die objektiv nachweisbare Entwicklungstendenz. Ob ein solcher Nach­ weis bereits heute gelingen kann, läßt sich noch nicht abschließend be­ antworten. Andererseits ist angesichts der dargestellten tatsächlichen Wettbewerbsvorteile der Selbstabgabestellen unübersehbar, daß deren konsequente Nutzung im Ergebnis bzw. auf Dauer zu Konsequenzen führen muß, die zunächst vielleicht nur in Einzelfällen, zugleich aber in durchaus allgemein-typischer Gefahrenart die Verdrängung oder den faktischen Ausschluß der privaten Augenoptiker vom Markt impli­ zieren. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen berufen sich zur Rechtfertigung ihrer Preispolitik darauf, daß sie im Sinne der Kostendämpfung im öffentlichen Gesundheitswesen auch über das Recht verfügen müßten, durch Eigenangebote markt- und preisregulierend wirksam zu werden. Abgesehen davon, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen über kein Interventionsrecht dieser Art kraft geltenden Rechts verfügen, legiti­ miert eine solche Zielsetzung auch nicht die Begründung bzw. Aus32

WuW/E BGH 1423 (1425).

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C. Verfassungsrechtliche Grenzen

nutzung wettbewerblicher Vorteile der vorgenannten Art. Selbst wenn die Allgemeinen Ortskrankenkassen von Gesetzes wegen berechtigt wären, durch Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen kostendämp­ fend wirksam zu werden, würde dies sie doch nicht berechtigen, den bestehenden Wettbewerb mit den Augenoptikern in unlauterer Weise bzw. unter Ausnutzung wettbewerbsfremder Vorteile in einer Art zu führen, die für die Augenoptiker den Ruin bedeuten kann. 5. Gesetzesvorb ehalt, Wirtschaftsverfassung und konkrete Grundrechtskontrolle

Das Verhältnis von Selbstabgabestellen und Augenoptikern sieht sich damit ausreichend eingegrenzt. Die für die verfassungsrechtliche Prü­ fung erforderlichen Positionen sind abgesteckt. Das Verhältnis von Augenoptikern und Allgemeinen Ortskrankenkassen ist einmal durch ein Vertragswerk bestimmt, das die Augenoptiker in ein System spezi­ fisch öffentlicher Beauftragung versetzt, als öffentliche Auftragsnehmer sind die Augenoptiker am tatsächlichen Vollzug sozialversicherungs­ rechtlich vorgegebener Zielsetzungen beteiligt; zwischen Augenoptikern und Allgemeinen Ortskrankenkassen besteht ein Verhältnis prinzipiel­ ler Kooperation33 • Dieses Kooperationsverhältnis beruht des weiteren und notwendig - darauf, daß die Selbstabgabetätigkeit bzw. eine von vornherein durch die Sozialversicherungsträger selbst vorgenommene Versorgung mit Kassen- und Feinbrillen durch das geltende Sozial­ versicherungsrecht nicht gerechtfertigt wird. Das Prinzip der gesetz­ lichen Krankenversicherung reicht funktionell, wie gezeigt, nicht so weit, daß für das private Gewerbe der Augenoptiker schon von Kompe­ tenz' wegen kein Raum (mehr) wäre. Im Gegenteil, die privatwirtschaft­ liche Tätigkeit der Augenoptiker sieht sich durch das geltende Sozial­ versicherungsrecht mittelbar in ihrem Bestande bestätigt - eine Fest­ stellung, die zumindest so lange Gültigkeit behält, wie nicht ein Gegen­ beweis dahingehend geführt ist, daß die Allgemeinen Ortskranken­ kassen unabhängig von den konkreten Ermächtigungen und Hand­ lungsmaßstäben des Sozialversicherungsrechts berechtigt wären, ent­ sprechende Selbstabgabestellen kraft eigener Kompetenzentscheidung zu begründen. Ob die Allgemeinen Ortskrankenkassen über derartige Möglichkeiten verfügen, beantwortet die Frage nach Sinn und Reich­ weite des sozialversicherungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts und seiner verfassungsrechtlichen Grundorientierung. Als wettbewerbswirtschaft­ liches Verhalten muß sich die Tätigkeit der Selbstabgabestellen an den 33 Zu Kooperationsverhältnissen dieser Art und ihren (verwaltungsrecht­ lichen) Besonderheiten vgl. z. B. Ossenbühl, VVDStRL 29, 149 f. ; Dagtoglou, DÖV 70, 532 (533).

I. Grundfragestellung

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Grundsätzen der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung messen las­ sen. Sofern das System der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung staatlicher Eigenwirtschaft Grenzen setzen sollte, wären diese auch für die Selbstabgabestellen wirksam. Auch aus wirtschaftsverfassungsrechtlicher Sicht stellt sich die Frage der grundrechtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Die Augenoptiker kön­ nen in ihren wirtschaftlichen Grundrechten durch eine wettbewerb­ liche Eigenwirtschaft der hier in Frage stehenden Art beeinträchtigt sein; zu denken ist insbesondere an die Grundrechte aus Art. 2 I, 12, 14 GG. Die zuvor j edoch zu klärende Frage lautet, ob die (wirtschaftlichen) Grundrechte auch Schutz gegenüber staatlichen Konkurrenzmaßnah­ men bieten können. Hinter dieser Frage steht das Problem des verfas­ sungsrechtlichen Eingriffsbegriffs (auch Konkurrenz als grundrechts­ relevanter Eingriff?) 34 • Gegen eine Grundrechtskontrolle der genannten Art kann nicht unter Berufung auf die angeblich nur fiskalische Wirt­ schaftsbetätigung der Selbstabgabestellen argumentiert werden35 • Denn abgesehen davon, daß das vertraglich sowie wettbewerblich koordi­ nierte Rechtsverhältnis zwischen Selbstabgabestellen und Augenopti­ kern nicht bzw. nicht nur privatrechtlich organisiert ist, bleibt doch jedenfalls festzuhalten, daß die Grundrechte auch im Rahmen öffent­ licher Auftragsverhältnisse dann maßgebend sind, wenn j enen öffent­ lichen Aufträgen wirtschafts- oder sozialpolitische Zielsetzungen zu­ grunde liegen36 - ein Tatbestand, der - wie gezeigt - im vorliegenden Zusammenhang voll erfüllt ist. Selbst wenn man j edoch das Verhältnis zwischen Allgemeinen Ortskrankenkassen und Augenoptikern im vor­ nehmlich fiskalischen Sinne qualifizieren wollte, würde nichts anderes gelten. Die Frage einer Grundrechtsbindung des Fiskus ist zwar nach wie vor außerordentlich umstritten37 • Offen ist insbesondere die Frage, ob fiskalisches Staatsverhalten automatisch bzw. generell öffentlich­ rechtlichem Staatsverhalten mit der Maßgabe gleichgestellt werden kann, daß in beiden Fällen die gleichen Grundrechtsmaßstäbe Geltung zu beanspruchen hätten. Nach hiesiger Auffassung ist eine derartige ,,Gleichstellungsthese" nicht haltbar. Zwischen fiskalischem und öffent­ lich-rechtlichem Staatsverhalten bestehen notwendige Unterschiede 34 Im bejahenden Sinne (auch staatliche Konkurrenz als „Eingriff") vgl. R. Scholz, in : Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, S. 133; ders., VVDStRL 34, 145 (185 ff.) ; ders., AöR 97, 301 (305) ; Isensee, DB 79, 145 (148) ; Wertenbruch, Schieckel-Festschrift, 1978, S. 357 (361) ; Hoffmann-Becking, Wolff-Festschrift, 1973, S. 445 (457 ff.) ; vgl. grundsätzlich bejahend auch BVerfGE 38, 281 (303 ff.). 35 a. A. etwa H. Klein, Teilnahme des Staates, S. 1 77. 36 Vgl. die Nachw. Teil C Fn. 16. 37 Vgl. dazu allgemein bes. Mallmann, VVDStRL 19, 165 ff. ; Zeidler, VVDStRL 19, 208 ff. ; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bun­ desrepublik Deutschland, 12. Aufl. 1980, S. 145 ff.

C. Verfassungsrechtliche Grenzen

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Unterschiede, die auch grundrechtliche Konsequenzen fordern. Eine Gleichstellung von fiskalischem und öffentlich-rechtlichem Staatsver­ halten ist nur dort legitim, aber auch geboten, wo eine Freistellung des fiskalisch handelnden Staates von grundrechtlichen Bindungen die Um­ gehung öffentlich-rechtlicher Grenzen bzw. dortiger Grundrechtskon­ trollen bedeuten würde38 • So wie der Staat nicht berechtigt ist, durch Ausweichen auf privatrechtliche oder fiskalische Handlungsformen den Bindungen des öffentlichen Rechts - und hier namentlich der Grund­ rechte - zu entgehen, so ist der Staat auch kompetenzrechtlich nicht berechtigt, seine Zuständigkeiten bzw. Zuständigkeitserfüllungen in einer (privatrechtlichen) Weise dahin zu organisieren, daß grundrecht­ liche Bindungen nicht mehr eingriffen. Die Maßgeblichkeit der Grund­ rechte besteht für den Staat überall dort, wo seine Handlungen Emana­ tionen hoheitlicher Gewalt bzw. genuin-staatlicher Kompetenz sind. Gleichgültig wie der Staat hier seine Zuständigkeiten oder seine Verhal­ tensweisen rechtlich organisiert, die Grundrechte bleiben stets und mit stetig gleichem Range verbindlich. Für das System des sog. Verwal­ tungsprivatrechts sieht sich dieser Befund seit längerem allgemein an­ erkannt39 . Das gleiche muß für den Fiskus dort gelten, wo der Staat öffentlich-rechtlichen Zuständigkeitsgrenzen durch Ausweichen in fis­ kalisches Verhalten zu entgehen versucht: Was dem Staate - nament­ lich aus der Sicht der Grundrechte - im öffentlich-rechtlichen Bereich untersagt ist, dies ist ihm auch als Fiskus verboten40 • Wenn das öffent­ liche Recht den Allgemeinen Ortskrankenkassen die wirtschaftliche Selbstabgabetätigkeit verbieten sollte, so wäre ihnen die gleiche Tätig­ keit auch als Fiskus untersagt. Folgerichtig sind die Grundrechte im vorliegenden Problemzusammenhang auf jeden Fall maßgeblich: Wenn die Selbstabgabetätigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkassen als öffentlich-rechtliche oder verwaltungsprivatrechtliche Tätigkeit mit prinzipieller öffentlicher Zwecklegitimation zu gelten hätte, wären die Grundrechte unmittelbar maßgebend; wenn die gleichen Tätigkeiten als bloß fiskalische Verhaltensweisen zu qualifizieren wären, würde mittel­ bar das gleiche gelten, da die Allgemeinen Ortskrankenkassen ihren vorgegebenen öffentlich-rechtlichen Grundrechtsbindungen nicht durch die „Flucht in fiskalisches Verhalten" ausweichen könnten41 • 38 Vgl. K. Hesse, Grundzüge, S. 145 ff. ; Forsthoff, Auftraggeber, S. 16 ; Grupp, ZHR 140, 377 ff. ; Burmeister, WiR 72, 3 1 1 (341 ff.) ; Isensee, DB 79, 147 ff. ; Kunert, Bedarfsdeckungsgeschäfte, S. 105 ff. ; Pestalozza, Formen­ mißbrauch des Staates, 1973, S. 170 ff. ; Rupp, BVerwG-Festschrift, 1978, S. 539

(540).

Vgl. hierzu die Nachw. Teil C Fn. 3 und 38. Vgl. die Nachw. Teil C Fn. 38. 41 Vgl. gerade zur Wirtschaftsbetätigung der öffentlichen Hand zuletzt bes. Isensee, DB 79, 147 ff. - a. A. etwa Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der 39

40

II. Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung

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Der weitere Untersuchungsgang sieht sich damit abgesteckt: Zunächst ist die Frage der verfassungsrechtlichen Reichweite des (sozialversiche­ rungsrechtlichen) Gesetzesvorbehalts zu prüfen. Anschließend sind die Fragen der Wirtschaftsverfassung und der Grundrechte zu erörtern.

II. Das Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung aus verfassungsrechtlicher Sicht 1 . Der Gesetzesvorb ehalt im SGB und seine verfassungsrechtliche Grundorientierung Die Zuständigkeiten, Aufgaben und Befugnisse der Sozialversiche­ rungsträger unterstehen nach geltendem Sozialversicherungsrecht einem strikten Gesetzesvorbehalt. Dessen Reichweite bestimmt sich aus dem Konzert der folgenden Bestimmungen : Gemäß § 31 SGB-AT dür­ fen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen nur begrün­ det, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, ,, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt". Gemäß § 32 SGB-AT ist dieser Gesetzes­ vorbehalt auch gegenüber privatrechtlichen Vereinbarungen „zum Nachteil des Sozialleistungsberechtigten" wirksam. Nach § 29 SGB IV steht den Trägern der Sozialversicherung das Recht der Selbstverwal­ tung zu; dieses Selbstverwaltungsrecht gilt aber nur „ im Rahmen des Gesetzes . . . " (§ 29 III SGB IV). Nach § 30 SGB IV dürfen die Versiche­ rungsträger „nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschrie­ benen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten verwenden" (§ 30 I SGB IV). Trotz dieser sehr konsequenten und detaillierten Ausführung des Ge­ setzesvorbehalts im Sozialrecht ergeben sich doch auslegungsmäßig noch manche Zweifel - Zweifel, die sich auch auf die hiesige Proble­ matik maßgebend ausgewirkt haben' und die eine genauere Bestim­ mung der maßgebenden Reichweite des sozialversicherungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts im System des grundgesetzlichen Verfassungsstaa­ tes erforderlich machen42 • Verfassungsrechtlich wurzelt der Gesetzesvorbehalt sowohl im (all­ gemeinen) Rechtsstaatsprinzip als auch im Demokratieprinzip (Art.

öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 120 ff., 132 ff. ; Püttner, Öffentliche Unter­ nehmen, S. 270. 42 Vgl. näher zum Problem des Gesetzesvorbehalts allgemein wie im So­ zialrecht im besonderen sowie gleichzeitig zum Folgenden : Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961 ; Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Ver­ waltung, 1!)62 ; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975 ; Selmer, JuS 68, 490 ff. ; Schenke, GewArch. 77, 313 ff. ; Thieme, JZ 73, 692 f. ; Werten­ bruch, Schieckel-Festschrift, S. 357 ff. ; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 1 13 ff. ; N. Henke, AöR 101, 576 ff.; ders., DOV 77, 41 ff. ; Bettermann, in : Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 47 ff.

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C. verfassungsrechtliche Grenzen

20/28 GG). Im einzelnen ist zwar seit langem streitig, wie sich beide verfassungsrechtlichen Ableitungen des Gesetzesvorbehalts zueinander verhalten : Ob der Gesetzesvorbehalt primär oder allein rechtsstaatlich begründet sei ; ob der Gesetzesvorbehalt primär oder ausschließlich im demokratischen Prinzip verankert sei? Ohne daß diese Streitfrage hier im einzelnen aufzurollen wäre4 3 , steht doch j edenfalls fest, daß beide Verfassungsprinzipien maßgebend an Voraussetzung und Wirksamkeit des Gesetzesvorbehalts beteiligt sind. Das demokratische Prinzip sta­ tuiert den Gesetzesvorbehalt j edenfalls als Grundlage aller exekuti­ vischen Tätigkeit (Bindung der öffentlichen Verwaltung an das parla­ mentarisch-demokratische Gesetz und seine funktionelle Ermächti­ gung). Das Rechtsstaatsprinzip fordert das Gesetz als Grundlage na­ mentlich exekutivischer Eingriffe in bürgerliche Rechtspositionen (Art. 20 III GG). In letzterer Hinsicht bewegte sich der Auslegungsstreit demgemäß vor allem um die Frage, ob neben der Eingriffsverwaltung auch die Leistungsverwaltung dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt un­ terzuordnen wäre. Die überwiegende Meinung ging und geht nach wie vor dahin, eine derartige Bindung der Leistungsverwaltung zu vernei­ nen44 . Andererseits ist längst offenkundig geworden, daß die zugrunde­ liegende Unterscheidung von Eingriffs- und Leistungsverwaltung als solche problematisch geworden ist. Nur allzu oft sind Verwaltungs­ leistungen mit Verwaltungseingriffen untrennbar verbunden, nur allzu oft korrespondiert der Leistungsgewährung der (gleichzeitige) Eingriff45 • Aus diesem Grunde verlagert sich die verfassungsrechtliche Fragestel­ lung mehr und mehr von der Unterscheidung zwischen Eingriffsver­ waltung und Leistungsverwaltung weg zu neuen Kriterien. Der sozial­ rechtliche Gesetzesvorbehalt spiegelt diese Entwicklung in besonderer Weise wider. Denn wie unstreitig ist, erstreckt sich der sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt sowohl auf die soziale Eingriffsverwaltung als auch auf die soziale Leistungsverwaltung (kompletter Gesetzesvorbehalt für die gesamte Sozialverwaltung) 46 . Auch das Bundesverfassungsgericht hat die vorstehenden Abgren­ zungskategorien weitgehend verlassen bzw. neueren Ordnungsvorstel­ lungen untergeordnet47 • Vor allem die tatbestandliche Fragwürdigkeit Vgl. dazu die Nachw. vorstehend Fn. 42. Vgl. zuletzt etwa W. Henke, Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, 1979, S. 53 ff. ; Schenke, a.a.O. ; Eyermann, WuV 78, 149 ff. ; siehe auch noch BVerfGE 8, 155 (166 f.) ; BVerwGE 6, 282 (287 f.) ; BVerwG, DVBI. 78, 212 ff. 45 Vgl. z. B. Wertenbruch, Schieckel-Festschrift, S. 361 ; Selmer, JuS 68, 492 ff. ; Burmeister, WiR 72, 331 ff. ; vgl. auch BVerwGE 6, 288. 46 Vgl. N. Henke, AöR 101, 585 ff. ; ders., DÖV 77, 41 ff. ; Wertenbruch, Schieckel-Festschrift, S. 358 ff. ; Freitag, KrV 76, 8 (13) ; Burdenski / v. May­ dell / Schellhorn, SGB-AT, 1976, § 31 Rdnr. 3 ff. ; Zacher, Krankenkassen, s. 23 f., 90. 43

44

II. Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung

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des verwaltungsrechtlichen „ Eingriffs"-Begriffs hat das Bundesverfas­ sungsgericht veranlaßt, die Reichweite des Gesetzesvorbehalts nicht allein am verwaltungsrechtlichen Eingriff zu orientieren. Der Gesetzes­ vorbehalt sei „losgelöst von den in der Praxis fließenden Abgrenzungs­ merkmalen des Eingriffs" zu bestimmen48 • Statt dessen greift das Bun­ desverfassungsgericht in seiner sog. ,,Wesentlichkeitstheorie" auf das Kriterium der materiellen Bedeutsamkeit von Regelungen zurück: ,,Der Gesetzgeber" sei „verpflichtet . . . - losgelöst vom Merkmal des ,Ein­ griffs' -, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" 49 • Als Maßstab der materiellen Bedeutsamkeit (,,Wesentlichkeit") gelten also vor allem die Grundrechte bzw. die auf diese bezogene „Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung" 50 • Mit der grundrechtlichen Bewertungsdimension hält sich das Bun­ desverfassungsgericht auf der traditionellen Ebene des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts, löst diesen lediglich - und mit Recht - von der formalen Kategorie des Eingriffs. Gleichgültig ob Eingriffs- oder Lei­ stungsverwaltung, soweit Grundrechte in „ wesentlicher" Form betrof­ fen sind, bedarf es der gesetzgeberischen Entscheidung. Andererseits beschränkt sich das Kriterium der „Wesentlichkeit" nicht ausschließlich auf die Grundrechte ; auch das demokratische Prinzip bleibt maßgebend und fordert bei entsprechend bedeutsamen Kompetenzentscheidungen die gesetzgeberische Ermächtigung. Zusammengefaßt kann die neuere Auslegung des Gesetzesvorbehalts durch das Bundesverfassungsgericht also als eine sachgerechte Kombination von rechtsstaatlicher und demo­ kratischer Orientierung klassischen Gesetzesvorbehalts-Denkens gelten. Auf der Grundlage dieser verfassungsrechtlichen Grundorientierung ist auch der sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt zu begreifen bzw. zu prakti­ zieren.

2. Sozialrechtlicher Gesetzesvorb ehalt als umfassender Funktionsmaßstab Aus den vorstehend entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäben ergibt sich zunächst, daß dem Gesetzesvorbehalt zwei Wirkungskompo­ nenten zu eigen sind : Der Gesetzesvorbehalt ist einmal als (demo­ kratiestaatliche) Ermächtigungsvoraussetzung wirksam ; er ist zum an­ deren als (rechtsstaatliche) Grenze staatlicher Maßnahmen wirksam. In 47 Vgl. bes. BVerfGE 33, 125 (157) ; 33, 303 (345 f.) ; 34, 1 65 (192 f.) ; 40, 237 (249) ; 41, 251 (260) ; 45, 400 (41 7 f.) ; 47, 46 (78 ff.) ; 48, 210 (22 1 ) ; 49, 89 (126 ff.). 48 BVerfGE 40, 237 (249). 49 50

BVerfGE 49, 89 (126). BVerfGE 49, 126.

C. Verfassungsrechtliche Grenzen

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diesem Sinne unterscheidet auch das Sozialrecht; die oben referierten Bestimmungen zum sozialrechtlichen Gesetzesvorbehalt nehmen folge­ richtig beide Komponenten des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbe­ halts auf und verankern diese im geltenden Sozialrecht. Die funktionsrechtliche Komponente des Gesetzesvorbehalts wird vor allem durch die Bestimmung der §§ 29, 30 SGB IV konkretisiert. Die selbstverwaltungsrechtlichen Kompetenzen der Sozialversicherungsträ­ ger unterstehen dem Vorbehalt der gesetzlichen Ermächtigung; die So­ zialversicherungsträger dürfen „Geschäfte" nur zur Erfüllung ihrer „gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten ver­ wenden" (§ 30 I SGB IV). Dies bedeutet zunächst, daß das Sozialver­ sicherungsrecht keine Generalkompetenz bzw. keine Vermutung zu­ gungsten einer solchen Allzuständigkeit der Sozialversicherungsträger anerkennt51 • Im Gegensatz etwa zur verfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 II GG) kennt die sozial­ versicherungsrechtliche Selbstverwaltung keine Regelzuständigkeit bzw. Selbstverwaltungskompetenz kraft gesetzlicher (verfassungsrechtlicher) Vermutung für „eigene Angelegenheiten" . Die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger ist vielmehr erst von Gesetzes wegen verlie­ hen, sie wird vom Gesetzgeber folglich erst als solche ausgestaltet und dies impliziert das strikte Gebot, j ede von einem Sozialversicherungs­ träger in Anspruch genommene oder reklamierte Kompetenz gesetzlich zu begründen. Der sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt ist mit anderen Worten als umfassender Funktionsmaßstab wirksam - ein Ergebnis, das § 30 I SGB IV auch mit dem Begriff der „Geschäfte" betont. Denn der tatbestandlich außerordentlich weit ausgefächerte Begriff des „Ge­ schäfts" umfaßt „alle Tätigkeiten gleich welcher Form" ; er umfaßt nicht nur rechtsgeschäftliche Akte, sondern auch Realakte; er umfaßt des weiteren nicht nur öffentlich-rechtliche Rechtsgeschäfte, sondern ebenso auch privatrechtliche Rechtsgeschäfte52 • Das letztere bestätigt auch die Bestimmung des § 32 SGB-AT, derzufolge privatrechtliche Vereinba­ rungen, ,,die zum Nachteil des Sozialleistungsberechtigten von Vor­ schriften dieses Gesetzbuchs abweichen", nichtig sind. Diese Bestim­ mung des § 32 SGB-AT komplettiert in der rechtsstaatlichen Wirkungs­ komponente des Gesetzesvorbehalts die hier maßgebende Zentralnorm des § 31 SGB-AT53 • In diesem Sinne steht die Bestimmung des § 3 1 SGB-AT neben der Bestimmung des § 3 0 SGB IV. Beide Bestimmungen betreffen den gleichen Gegenstand (Gesetzesvorbehalt), basierend auf 51

Vgl. Krause / von Maydell / Merten / Meydam, SGB IV, 1978, § 30 Rdnr.

52

Vgl. Krause / v. Maydell / Merten / Meydam, SGB IV, § 30 Rdnr. 6. Vgl. Freitag, KrV 76, 13.

5 ff. 53

II. Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung

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der prinzipiellen Unterscheidung zwischen den beiden Grundkomponen­ ten des Gesetzesvorbehalts (Gesetzesvorbehalt als Ermächtigungs- bzw. Funktionsmaßstab und Gesetzesvorbehalt als rechtsstaatliche Begren­ zung öffentlicher Gewalt). Dieser Zusammenhang der Bestimmungen des § 3 1 SGB-AT und des § 30 SGB IV wird allerdings nicht immer hin­ länglich beachtet; würde man diesen, wie geboten, strikt beachten, so entstünden die nachfolgend zu diskutierenden Auslegungsprobleme nicht. Beide Komponenten des Gesetzesvorbehalts stehen notwendig neben­ einander, bedingen einander gegen- und wechselseitig und konsti­ tuieren den Gesetzesvorbehalt erst auf diese Weise in seiner verfas­ sungsrechtlichen Ganzheit. Dies bedeutet gleichzeitig, daß die funktio­ nellen Komponenten des Gesetzesvorbehalts deckungsgleich sind: Der Geltungsanspruch rechtsstaatlicher Funktionsbeschränkung reicht nicht weiter als der Geltungsanspruch der funktionsrechtlichen Ermächti­ gungsvoraussetzung und umgekehrt. Interpretationsmäßig bedeutet dies, daß beide Komponenten des Gesetzesvorbehalts einheitlich ausge­ legt werden müssen und daß beide Komponenten zu identischen Rechts­ folgen führen müssen. Zweifel an der Stringenz des sozialrechtlichen Gesetzesvorbehalts werden vor allem auf die gesetzliche Differenzierung zwischen „ vorge­ schriebenen" und „zugelassenen Aufgaben" im Sinne des § 30 I SGB IV sowie auf die entsprechende Formulierung des § 31 SGB-AT gestützt, derzufolge die Begründung, Feststellung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten nur statthaft ist, sofern „ein Gesetz es vor­ schreibt oder zuläßt" . Gerade im hiesigen Problemzusammenhang wird die Tendenz verfochten, über den Begriff der bloß „zugelassenen Auf­ gabe" das Recht der Allgemeinen Ortskrankenkassen zur Einrichtung von Selbstabgabestellen abzuleiten, obwohl das Gesetz selbst keine aus­ drückliche Ermächtigung für derartige Einrichtungen enthält. Eine solche Interpretation ist indessen, wie näheres Zusehen unschwer er­ gibt, nicht statthaft. Denn wenn die Formel von den „zugelassenen Auf­ gaben" den Sinn hätte, den Sozialversicherungsträgern auch dort Kom­ petenzbereiche kraft eigener Entscheidung zu eröffnen, wo das Gesetz im übrigen schweigt, so sähe sich das System der gesetzlich ausgestalte­ ten, sozialversicherungsrechtlichen Selbstverwaltung partiell in sein Gegenteil verkehrt. Denn die Sozialversicherungsträger besäßen über­ all dort die Kompetenzprärogative, wo das Gesetz nichts Gegenteiliges ausdrücklich verfügte. Es wäre mit anderen Worten zwischen gesetz­ lichen Pflichtaufgaben (,,vorgeschriebenen Aufgaben") und freiwilligen Aufgaben der Sozialversicherungsträger zu unterscheiden, die die Sozial­ versicherungsträger kraft eigener Entscheidung deshalb übernehmen dürften, weil das Gesetz kein ausdrückliches Verbot statuierte. Eine

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C. Verfassungsrechtliche Grenzen

solche Interpretation verkennt j edoch das skizzierte System der sozial­ versicherungsrechtlichen Selbstverwaltung. Eine entsprechende Kompe­ tenzprärogative bzw. ein entsprechendes Recht zur „freiwilligen" Be­ gründung von Eigenkompetenzen selbstverwaltungsrechtlicher Qualität steht zwar den Gemeinden, nicht aber den Sozialversicherungsträgern zu. Der Begriff der „zugelassenen Aufgaben" ist vielmehr anders bzw. enger zu verstehen. Er meint im Gegensatz zur gesetzlich abschließend geregelten und pflichtmäßig aufgegebenen „vorgeschriebenen" Aufgabe (nur) alle j enen Aufgaben, die der Gesetzgeber den Sozialversicherungs­ trägern zwar als solche aufgegeben hat, bei deren gesetzgeberischer Ausgestaltung er aber auf eine Detailregelung verzichtet hat, sei es, daß den Sozialversicherungsträgern die tatsächliche Wahrnehmung der Aufgabe ermessensmäßig überlassen bleibt, sei es, daß das Gesetz die konkreten Modalitäten des Aufgabenvollzuges partiell der verwaltungs­ mäßigen Ermessensentscheidung überlassen hat. In diesem Sinne wird auch im sozialversicherungsrechtlichen Schrifttum richtig ausgeführt, daß der Begriff der „zugelassenen Aufgabe" jedenfalls voraussetze, daß sich die konkrete Rechtmäßigkeit eines verwaltungsbehördlichen Han­ delns von einer formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ableiten lasse, von ihr legalisieren oder doch als geduldet erkennen lasse54 • Die hiernach „zugelassene Aufgabe" ist damit jedoch nicht schon überall dort anzuerkennen, wo das Gesetz schweigt bzw. keine ausdrückliche Regelung getroffen hat. Der Begriff der „zugelassenen Aufgabe" ist vielmehr, bei verfassungskonformer Auslegung, eng zu fassen. Denn nur unter dieser Voraussetzung bleibt gewährleistet, daß die Sozialver­ sicherungsträger sich nicht paralegale Zuständigkeiten anmaßen. Auch die „zugelassene Aufgabe" muß ermächtigungsmäßig im Gesetz vorbe­ stimmt sein: wenn nicht als Pflicht- so doch als Kann-Ermächtigung55 • Eine entgegengesetze Auslegung würde sich auch mit der rechtsstaat­ lichen Komponente des Gesetzesvorbehalts nicht vertragen. Denn wenn § 31 SGB-AT die Begründung, Feststellung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen überall dort bereits erlaubte, wo das Gesetz keine ausdrückliche Regelung „vor­ schreibt", so würde eine Fülle von (grundrechtsrelevanten!) Ordnungs54 Haucll: / Haines, SGB-AT, 1976, § 31 Anm. 5 ; Wertenbruch, Schiecll:el­ Festschrift, S. 368. 55 Diese Stringenz des sozial-(verfassungs)-rechtlichen Gesetzesvorbehalts erlaubt auch keine Relativierung oder Aushöhlung durch Berufung auf even­ tuelles Gewohnheitsrecht, obwohl dieses prinzipiell auch im Bereich des Ge­ setzesvorbehalts wirksam werden kann (vgl. BVerwG, DVBI. 78, 212 ff.). Letzteres gilt aber nur für die rechtsstaatliche Komponente des Gesetzes­ vorbehalts (eventuelle gewohnheitsrechtliche Eingriffsermächtigung), nicht dagegen für die (hier parallel maßgebende) funktionsrechtliche Komponente des Gesetzesvorbehalts (keine Begründung von [sozialrechtlichen] Verwal­ tungskompetenzen kraft Gewohnheitsrechts).

II. Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung

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bereichen ohne gesetzliche Grundlage gestaltbar sein - ein mit den Grundsätzen der „Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsge­ richts66 schlechthin unvereinbares Ergebnis. Daß das SGB indessen gerade solche Ergebnisse nicht meint, offenbart namentlich die Bestim­ mung des § 33 SGB-AT. Wenn es dort nämlich heißt, daß „die persönli­ chen Verhältnisse des Berechtigten oder Verpflichteten . . . " dann be­ rücksichtigt werden sollen, wenn „der Inhalt von Rechten oder Pflich­ ten nach Art oder Umfang nicht im einzelnen bestimmt" ist, so wird damit genau der Rahmen abgesteckt, in dem eine Entscheidungsfreiheit der Sozialversicherungsträger nach Maßgabe gesetzlicher „Zulassung" besteht - mit dem natürlichen, weiteren Vorbehalt: ,,soweit Rechtsvor­ schriften nicht entgegenstehen" (§ 33 I 1 SGB-AT). Diese Bestimmung dokumentiert ein deutliches Beispiel dafür, was der Gesetzgeber unter „zugelassenen Aufgaben" verstanden wissen wollte : keine eigenständige Kompetenzbegründungsmacht zugunsten der Sozialversicherungsträger, sondern lediglich deren Recht zur detailmäßigen Konkretisierung ge­ setzlich bestehender und als solcher auch gesetzespositiv ausgewiesener Zuständigkeiten. Aus diesen Grundsätzen folgt, daß auch eine Selbstabgabetätigkeit der im vorliegenden Zusammenhang zu erörternden Art der gesetzli­ chen Ermächtigung bedarf. Sowohl die Selbstabgabe von Kassenbrillen als auch die Selbstabgabe von Feinbrillen steht unter dem strikten Ermächtigungsgebot des sozialrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Daß es an einer solchen sozialversicherungsrechtlichen Gesetzesermächtigung fehlt, wurde bereits oben im Teil B dargelegt. Die hier gewonnenen Ergebnisse sehen sich im Lichte des verfassungsrechtlichen Grundver­ ständnisses des sozialversicherungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts be­ stätigt: Als Gewährung von Sachleistungen fällt die Selbstabgabe von Kas­ senbrillen wie von Feinbrillen nicht unter den Katalog der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen; es fehlt an einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. Dieser Ermächtigungsmangel läßt sich nicht in der Weise ausräumen, daß man die Selbstabgabe zwar nicht als gesetzlich „vorge­ schriebene" Aufgabe deklariert. Denn auch eine solche „Zulassung" besteht nicht. Am deutlichsten wird dies hinsichtlich der Abgabe von Feinbrillen gegen entsprechende Zuzahlung. Sozialversicherungsrecht­ liehe Mehrleistungen gegen Zuzahlung von Differenzbeträgen kennt das Sozialversicherungsrecht zwar an verschiedenen Stellen; diese Stel­ len sind jedoch sämtlich im Gesetz ausdrücklich bezeichnet. Soweit Mehrleistungen mit Zuzahlungspflichten erlaubt sind, geschieht dies in ausdrücklicher Form. Bereits § 179 III RVO bestimmt ausdrücklich, 56 Vgl. hier die Nachw. Teil C Fn. 47.

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C. Verfassungsrechtliche Grenzen

daß satzungsgemäße Mehrleistungen nur insoweit zulässig sind, wie es dieses Buch der RVO vorsieht. § 182 e RVO ermächtigt demgemäß zur satzungsgemäßen Zahlungspflicht bei kieferorthopädischer Behandlung. § 182 a RVO ermächtigt zur Erhebung der Arzneikostengebühr. § 182 c RVO ermächtigt zur satzungsgemäßen Erhebung von Zuschüssen zu den Kosten für Zahnersatz und Zahnkronen. § 184 RVO ermächtigt schließ­ lich zur Erhebung der Mehrkosten bei Nutzung eines anderen als des nächsterreichbaren geeigneten Vertragskrankenhauses. Wenn die Selbstabgabestelle dem Sozialversicherungsberechtigten wunschgemäß eine Feinbrille - gegen Zahlung der Mehrkosten - gewährt, so ent­ spricht dieser Tatbestand dem der vorstehenden Beispiele. Denn auch hier werden vom Bürger bestimmte Leistungen gefordert, die einen er­ höhten Kostenaufwand ausgleichen sollen. Daß dies nur „ auf Wunsch" des Sozialversicherungsberechtigten geschieht, spielt dabei keine Rolle. Denn entweder handelt es sich bei der Selbstabgabe von Feinbrillen durch die Allgemeinen Ortskrankenkassen um eine sozialversicherungs­ rechtlich legitime Leistung ; in diesem Falle wäre die Leistung als solche gesetzlich legitimiert, lediglich die den Bürger treffenden Mehrkosten müßten erstattet werden. Solche Erstattungspflichten berühren jedoch den Status des Sozialversicherungsberechtigten im Sinne des § 31 SGB­ AT : Pflichten des Sozialversicherungsberechtigten können nur durch Gesetz begründet werden; und eine entsprechende gesetzliche Ermäch­ tigung findet sich - im Gegensatz zu den vorbezeichneten Beispielen weder in der RVO noch im SGB. Handelt es sich bei der Abgabe von Feinbrillen dagegen nicht um eine sozialversicherungsrechtlich als sol­ che legitimierte Sachleistung, wäre als sozialversicherungsrechtlich legi­ timierte Leistung nur die Kassenbrille erlaubt, so wäre die Leistung der Feinbrille als solche bereits sozialversicherungsrechtlich unstatthaft - mit der weiteren Konsequenz, daß die Erhebung von Mehrkosten erst recht illegal wäre. In beiden Fällen bzw. bei beiden Interpretatio­ nen bedürfte es also einer gesetzlichen Ermächtigung, an der es j edoch fehlt. Hinzu kommt, daß das Sozialversicherungsrecht, wie oben ge­ zeigt, überhaupt nicht zur brillenmäßigen Sachleistung ermächtigt. Auch die Selbstabgabe von Kassenbrillen hat sich als gesetzlich nicht gedeckt erwiesen. Folgerichtig verstärkt sich der gesetzgeberische Ermächti­ gungsmangel auch für die Selbstabgabe von Feinbrillen. Gegen diese Feststellung läßt sich i. ü. nicht anführen, daß die Versor­ gung von Sozialversicherungsberechtigten mit selbstabgegebenen Kas­ sen- oder Feinbrillen immerhin einem sozialversicherungsrechtlich legi­ timierten Leistungszweck diene, daß es also nur um ein bestimmtes Mittel zum (legitimen) Zweck gehe. Wie bereits oben gezeigt, besteht zwischen der Selbstabgabe und dem sozialversicherungsrechtlichen Lei­ stungszweck zwar in der Tat eine entsprechende Mittel-Zweck-Relation.

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Diese Mittel-Zweck-Relation hat jedoch nicht zum Inhalt, daß die zur Zweckerreichung eingesetzten Mittel „automatisch" - ebenso wie der Zweck - gesetzlich gerechtfertigt oder „zugelassen" wären. Der sozial­ rechtliche Gesetzesvorbehalt fordert vielmehr sowohl für den Zweck als auch für das zur Zweckerreichung eingesetzte Mittel die gesetzliche Ermächtigung. Den gegenteiligen Schluß vom legitimen Zweck auf das angeblich auch legitimierte Mittel erlauben weder das Sozialversiche­ rungsrecht noch die verfassungsrechtliche Grundlage des sozialrechtli­ chen Gesetzesvorbehalts. Aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht offen­ baren bereits die Bestimmungen der §§ 179 ff. RVO, daß der Gesetz­ geber nicht nur den Leistungszweck der gesetzlichen Krankenversiche­ rung als solchen vorschreibt, sondern daß er auch die zur Erreichung dieses Zwecks erlaubten Mittel definitiv festgesetzt hat und den Sozial­ versicherungsträgern damit keine durch eigenes Ermessen ausführbare Vollzugskompetenz eingeräumt hat. Das Argument von den „zugelassenen Aufgaben" greift erneut nicht; denn da der Gesetzgeber auch die zweck­ erreichenden Mittel als solche gesetzgeberisch fixiert hat, bedürfte es der ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung, im Falle der Versorgung mit Sehhilfen eine auf freiwilliger Entscheidung der Allgemeinen Ortskrankenkassen basierende Selbstabgabe zu legitimieren. Eine solche Ermächtigung besteht jedoch, wie gezeigt, nicht. Daß weder im SGB noch in der RVO eine ausdrückliche Verbotsvorschrift enthalten ist, ändert hieran nichts. Denn die Selbstabgabetätigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkassen ist nicht bereits dann erlaubt (,,zugelassen"), wenn das Gesetz auf eine ausdrückliche Verbotsnorm verzichtet. Aus dem verfassungsrechtlichen Grundverständnis des sozialrechtlichen Gesetzes­ vorbehalts ergibt sich vielmehr, daß es umgekehrt des positiv-rechtli­ chen Nachweises einer entsprechenden „Zulassung" bedürfte. Daß der Gesetzesvorbehalt bzw. das Erfordernis gesetzlicher Ermäch­ tigung gemäß § 30 I SGB IV auch für das „Mittel" der Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen gilt, ergibt sich des weiteren aus den Bestim­ mungen der §§ 31 SGB-AT, 363 RVO: Die letztere Bestimmung verfügt, daß die Sozialversicherungsträger ihre Mittel nur zu den satzungsmäßi­ gen Leistungen, zur Füllung der Rücklage, zu den Verwaltungskosten und für Zwecke der besonderen oder allgemeinen Krankheitsverhütung verwenden dürfen. Dies bedeutet, daß die haushaltsmäßige Mittelver­ wendung an die gesetzlich bestimmten Aufgaben der Sozialversiche­ rungsträger gebunden wird57 • Da die Selbstabgabe von Kassen- sowie Feinbrillen gesetzlich nicht zugelassen wird, dürfen die Sozialversiche­ rungsträger auch keine Mittel für die Einrichtung, Unterhaltung und das Betreiben von Selbstabgabestellen verwenden. Hinsichtlich der Feinbrillen erweist sich wiederum § 31 SGB-AT insofern als mitmaß57

Vgl. auch Krause / v. Maydell / Merten / Meydam, SGB IV, § 30 Rdnr. 7 f.

7 von Maydell / Scholz

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gebend, als die Erhebung der vom Sozialversicherungsberechtigten auf­ zubringenden Mehrkosten für die Feinbrille der rechtsstaatlichen Ge­ setzesermächtigung bedarf - einer Ermächtigung, an der es, wie ge­ zeigt, wiederum fehlt. Aus dem Zusammenhang von funktionsrechtli­ chem und rechtsstaatlichem Gesetzesvorbehalt ergibt sich mithin, daß die Bestimmung des § 30 I SGB IV sowohl für die Selbstabgabe von Kassenbrillen als auch für die Selbstabgabe von Feinbrillen die positiv­ gesetzliche Ermächtigung fordert. In diesem Sinne ist auch die Bestimmung des § 30 I SGB IV zu ver­ stehen, daß die Versicherungsträger „ihre Mittel nur für diese (sc. vor­ geschriebenen oder zugelassenen) Aufgaben sowie die Verwaltungs­ kosten verwenden dürfen" . Als „Mittel" in diesem Sinne sind die lau­ fenden Einnahmen sowie das Vermögen der Sozialversicherungsträger zu verstehen58 • Unter diesen vermögensmäßigen bzw. finanziellen Be­ stand fallen auch die Aufwendungen für die Selbstabgabestellen, soweit diese aus den Mitgliedsbeiträgen der Sozialversicherungsträger aufge­ bracht werden. Die bereits oben festgestellte zweckwidrige Mittelver­ wendung erweist sich nunmehr als mit dem Gesetzesvorbehalt des § 30 I SGB IV unvereinbar und damit rechtswidrig. Die in § 30 I SGB IV festgelegte Zweckbindung der Mittel der Sozial­ versicherungsträger steht in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gesetzesvorbehalt als sol­ chem. Das SGB schließt richtig die Verwendung von Mitteln der Sozial­ versicherungsträger für Angelegenheiten aus, die die Sozialversiche­ rungsträger ohne gesetzliche Ermächtigung übernommen haben. Der finanzielle Aufwand zugunsten der Selbstabgabestellen läßt sich dem­ gemäß nicht etwa mit dem Argument rechtfertigen, daß die Allge­ meinen Ortskrankenkassen mit der Errichtung ihrer Selbstabgabestel­ len eine zusätzliche Leistung zugunsten der Sozialversicherungsberech­ tigten erbracht hätten - mit der weiteren Folgerung, daß es sich inso­ fern um eine Maßnahme „bloßer" Leistungsverwaltung handele, für die kein Gesetzesvorbehalt Geltung beanspruchen dürfe. Denn abgesehen davon, daß der sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt unstreitig sowohl für die Eingriffsverwaltung als auch für die Leistungsverwaltung gilt59, würde auch aus verfassungsrechtlicher Sicht das gleiche gelten. Denn die Mittel, um die es hierbei geht, sind als solche nicht nur gesetzlich zweckgebunden ; es handelt sich vielmehr um Beiträge der Mitglieder der Allgemeinen Ortskrankenkassen, über die die Sozialversicherungs­ träger nur im Sinne der gesetzlichen Ermächtigung disponieren dürfen. Jede nicht gesetzlich legalisierte Verfügung über Mitgliedsbeiträge 58 59

Vgl. Krause / v. Maydell / Merten / Meydam, SGB IV, § 30 Rdnr. 7. Vgl. die Nachw. Teil C Fn. 46.

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griffe in die mitgliedschaftsrechtliche Stellung der Mitglieder der So­ zialversicherung ein, beeinträchtigte diese also in ihren mitgliedschaft­ lichen Rechten60 . Der zweckwidrige Einsatz von Mitteln der Allgemei­ nen Ortskrankenkassen läßt sich also nicht als Maßnahme bloßer Lei­ stungsverwaltung erklären ; er impliziert vielmehr auch und maßgebend die Qualität des Eingriffs in die mitgliedschaftsrechtlichen Positionen der Sozialversicherungsmitglieder. Aus verfassungsrechtlicher Sicht er­ weist sich somit erneut das Erfordenis der positiv-gesetzlichen Ermäch­ tigung (rechtsstaatliche Komponente des Gesetzesvorbehalts). Nachdem sich bereits oben ergeben hatte, daß der sozialrechtliche Ge­ setzesvorbehalt auch auf privatrechtliche Verhaltensweisen anzuwenden ist, ergibt sich seine Maßgeblichkeit jetzt auch insoweit, als die Selbst­ abgabetätigkeit als privatrechtliche Wirtschaftsbetätigung zu qualifizie­ ren ist. Der sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt gemäß § 30 I SGB IV ist in vollem Umfang auf die Selbstabgabetätigkeit - sowohl für Kassen­ brillen als auch für Feinbrillen - anzuwenden. Die Selbstabgabetätig­ keit _der Allgemeinen Ortskrankenkassen wäre demgemäß nur dann legitim, wenn das geltende Sozialversicherungsrecht eine ausdrückliche Ermächtigung enthielte. Da dies nicht der Fall ist, ist die Selbstabgabe von Kassenbrillen wie von Feinbrillen mangels gesetzlicher Ermächti­ gung rechts- sowie verfassungswidrig60a. Die gleiche Feststellung ergibt sich unter dem Aspekt der sog. ultra­ vires-Doktrin6 1. Hiernach handeln Hoheitsträger rechtswidrig und ggf. auch verfassungswidrig, wenn sie ihre gesetzlich vorgegebenen Kompe­ tenzabgrenzungen überschreiten. Denn hinsichtlich des Maßes an Kom­ petenzüberschreitung fehlt es von vornherein am Maß der nötigen Rechtsfähigkeit. Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind nur insoweit mit Rechtsfähigkeit begabt, wie sie funktionsrechtlich mit Kompetenzen ausgestattet sind. Da die Allgemeinen Ortskrankenkassen über keine gesetzliche Kompetenz zur Selbstabgabe von Kassen- und Feinbrillen verfügen, fehlt es ihnen insoweit auch an der nötigen Rechtsfähigkeit - mit der weiteren bzw. erneuten Konsequenz, daß die Selbstabgabetätigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkassen rechts­ widrig und verfassungswidrig ist.

Vgl. hierzu schon die allgemeinen Nachw. Teil C Fn. 31. a Dies verkennt OLG Düsseldorf, E. vom 22. 5. 1980 (2 U 137/78). 61 Zu dieser sowie zum Folgenden vgl. BGHZ 20, 119 (24 f.) ; Leisner, Wer­ befernsehen und öffentliches Recht, 1967, S. 64 ff. ; Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 82 f. ; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1973, S. 482 f. ; Isensee, DB 79, 146. 60

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7•

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3. Sozialrechtlicher Gesetzesvorbehalt und wirtschaftliche Konkurrenzbetätigung Hat sich damit ein Verstoß der Allgemeinen Ortskrankenkassen gegen die funktionsrechtliche Komponente des sozialrechtlichen Gesetzesvor­ behalts ergeben, so könnte des weiteren ein Verstoß gegen die rechts­ staatliche Komponente des sozialrechtlichen Gesetzesvorbehalts im Ver­ hältnis zwischen den Selbstabgabestellen und den Augenoptikern ge­ geben sein. Wie bereits oben dargestellt62 , treten die Selbstabgabestel­ len durch die Abgabe von Kassenbrillen wie von Feinbrillen in den wirtschaftlichen Wettbewerb zu den Augenoptikern - grundsätzlich mit sozialwirtschaftlichem Charakter, partiell bzw. tendenziell aber auch mit erwerbswirtschaftlichem Einschlag. Ob das wettbewerbliche Verhalten von Hoheitsträgern allerdings dem (verfassungsrechtlichen) Gesetzesvorbehalt zu unterstellen ist, ist umstritten. Teilweise wird darauf abgestellt, daß die Teilnahme eines Hoheitsträgers am (allge­ meinen) wirtschaftlichen Wettbewerb keine hoheitsrechtliche Beziehung zu den privaten Konkurrenten begründe und demgemäß nicht unter den Tatbestand des den Gesetzesvorbehalt fordernden (hoheitlichen) ,,Eingriffs" falle63 • Im Lichte des traditionellen Verständnisses des Ge­ setzesvorbehalts als Schranke (nur) der Eingriffsverwaltung mochte diese Sicht zutreffen. Im Lichte eines rechtsstaatlich kompletten Ver­ ständnisses des Gesetzesvorbehalts ist eine derart verengte Sicht jedoch nicht mehr zu vertreten. Wie die Grundrechte auf jede staatliche Be­ einträchtigung materiell-rechtlich reagieren, so muß auch der Gesetzes­ vorbehalt in seiner rechtsstaatlichen, d. h. maßgeblich grundrechtsbe­ stimmten Dimension auf Beeinträchtigungen oder Belastungen des Bür­ gers dort reagieren, wo diese zwar nicht in der Gestalt des hoheitlichen Eingriffs, aber in wirkungsmäßig doch identischer Form relevant wer­ den. Die Grundrechte wehren staatliche Beeinträchtigungen jedweder Art ab, gleichgültig in welcher rechtlichen oder tatsächlichen Form diese erfolgen. Ausgehend von dieser Einsicht hat das Bundesverfassungs­ gericht seine „Wesentlichkeitstheorie" entwickelt und den Gesetzesvor­ behalt richtig vom Tatbestand des „hoheitlichen Eingriffs" gelöst64 • Fol­ gerichtig hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundrechtsjudi­ katur auch den „Eingriff durch Konkurrenz" bzw. die durch konkurrie­ rendes Staatsverhalten entstehende Grundrechtsbeeinträchtigung als tatbestandliche Grundrechtsverletzung anerkannt65 • 62 63 64 05

Vgl. C I 3, 4. Vgl. z. B. H. Klein, Teilnahme des Staates, S. 151 ff. Vgl. die Nachw. Teil C Fn. 48, 49. Vgl. BVerfGE 38, 281 (303 ff.).

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Diese Grundsätze müssen insbesondere für die Fälle wirtschaftlicher Konkurrenz maßgebend sein. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt66 , sind auch wirtschaftliche Konkurrenzmaßnahmen der öffentlichen Hand auf Seiten der betroffenen privi!ten Konkurrenten an den Grundrech­ ten zu messen67 • Soweit entsprechende staatliche Konkurrenzmaßnah­ men die Freiheitsrechte der privaten Konkurrenten tatsächlich beein­ trächtigen, müssen jene Konkurrenzmaßnahmen mit diesen Grundrech­ ten bzw. deren legitimen Beschränkungsvorbehalten vereinbar sein, um in gültiger Form Bestand zu haben. Für die Reichweite des ver­ fassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts bedeutet dies wiederum, daß zumindest solche Konkurrenzmaßnahmen staatlicher Aufgabenträger der gesetzlichen Ermächtigung bedürfen, die die Freiheitsrechte der privaten Konkurrenten in besonders intensiver (,,wesentlicher") Form berühren. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Zusammenhang offen­ kundig gegeben. Wie noch im einzelnen später auszuführen sein wird, beeinträchtigen die wirtschaftlichen Konkurrenzmaßnahmen der Selbst­ abgabestellen die konkurrierenden Augenoptiker in deren Grundrech­ ten aus Art. 12, 14 sowie Art. 2 I GG68 • Daß diese grundrechtlichen Be­ einträchtigungen von außerordentlicher Intensität sind, wurde bereits oben deutlich (existenzielle Gefährdung der privaten Augenoptiker) 69 • Demgemäß ist aus verfassungsrechtlicher Sicht zu fordern, daß die Konkurrenztätigkeit der Selbstabgabestellen ihrerseits eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage findet. Ohne eine solche Grundlage muß die Selbstabgabetätigkeit gegen das Rechtsstaatsprinzip bzw. sein Erforder­ nis gesetzlicher Eingriffsermächtigung verstoßen (Art. 20 III GG) 70 • Der sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt enthält freilich - zumindest vom Gesetzeswortlaut her - keine Regelung, die konkurrenzwirtschaftliche Maßnahmen der Sozialversicherungsträger zum Schutze der privaten Konkurrenten an den Gesetzesvorbehalt bände. Insofern könnte sich die sozialrechtliche Struktur des Gesetzesvorbehalts als unvollständig er­ weisen. Die rechtsstaatliche Komponente des (allgemeinen) Gesetzes­ vorbehalts positiviert das Sozialrecht lediglich in der Bestimmung des § 31 SGB-AT, d. h. in Bezug auf „Rechte und Pflichten in den Sozial­ leistungsbereichen". Geschützter Adressat des Gesetzesvorbehalts ist in­ sofern nur bzw. zunächst der Kreis der Sozialversicherungsberechtig­ ten. An den Schutz solcher Privatpersonen, die nicht zum Kreis der 00 Vgl. die Nachw. Teil C Fn. 34. 87 Vgl. weiterhin schon die Nachw. Teil C Fn. 34. 8s Vgl. Abschnitt C IV. 89 Vgl. C I 4. 70 Das gleiche gilt aus der Sicht der öffentlichen Beauftragung der Augen­ optiker (vgl. allgemein z. B. Wilke / Schachel, WuV 78, 1 12).

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Mitglieder bzw. der Leistungsberechtigten der Sozialversicherung ge­ hören, hat die geltende Gesetzgebung nicht gedacht. Dies enthebt jedoch nicht der (verfassungsrechtlichen) Pflicht, diese Lücke auch im Bereich des Sozialrechts zu schließen: Die rechtsstaatliche Komponente des (all­ gemeinen) Gesetzesvorbehalts ist auch dort wirksam, wo es um den Schutz von Nicht-Mitgliedern bzw. Nicht-Leistungsberechtigten der So­ zialversicherung geht. Soweit die Sozialversicherungsträger in Grund­ rechte dieser Personen „eingreifen", gilt für sie der verfassungsrecht­ liche Gesetzesvorbehalt gemäß Art. 20 III GG unmittelbar. In diesem Sinne ist die funktionsrechtliche Komponente des sozialrechtlichen Ge­ setzesvorbehalts gemäß § 30 SGB IV in entsprechender Weise zu er­ gänzen. Eine solche Ergänzung kraft verfassungskonformer Auslegung fällt jedoch nicht schwer. Denn wenn § 30 I SGB IV den Versicherungs­ trägern Geschäfte nur zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben erlaubt bzw. ihnen nur in diesem Rahmen die Verwendung der ihnen zustehenden Mittel gestattet, so läßt sich diese funktionsrechtliche Bindung an das ermächtigende Gesetz ohne weiteres mit dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt gemäß Art. 20 III GG verbinden - ebenso wie dies im Bereich des Sozialrechts selbst für das Verhältnis von § 30 SGB IV und § 31 SGB-AT gilt. Im Ergebnis bedeutet dies, daß die konkurrenzwirtschaftliche Betätigung der Selbst­ abgabestellen auch unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Schutzes der Augenoptiker der positiv-gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Da es an dieser Ermächtigung fehlt, sieht sich das Erfordernis des Gesetzes­ vorbehalts auch in der Person der als Konkurrenten geschützten Augen­ optiker mißachtet. Im einzelnen ergeben sich hierbei erneut Kongruenzen zwischen der rechtsstaatlichen und der funktionsrechtlichen Komponente des Ge­ setzesvorbehalts: Soweit sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen zugunsten ihrer Selbstabgabestellen auf die Ziele der Kostendämpfung im Gesundheits­ wesen bzw. ihre angebliche „markt- und preisregulierende" Aufgabe berufen, fehlt es an der funktionsrechtlichen Ermächtigung. Die Kosten­ dämpfung im öffentlichen Gesundheitswesen gehört zwar in der Tat zu den tragenden Grundsätzen gerade jüngerer Sozialrechtsgesetzge­ bung; die konkreten Inhalte dieser Zielsetzung sind jedoch durch den Gesetzgeber selbst festgelegt worden71 • Der Auftrag zur Kostendämp­ fung beinhaltet also keinen kompetenziellen Generalauftrag für die Sozialversicherungsträger, aus dem diese eigene Sonderzuständigkeiten ableiten könnten. Das von den Allgemeinen Ortskrankenkassen einge­ setzte Argument, billiger als die Augenoptiker zu sein und damit 71

Vgl. KVKG

vom 27. 6. 1977 (BGBl. I S. 1 069).

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kostendämpfend zu wirken, rechtfertigt die Selbstabgabetätigkeit dem­ gemäß nicht. Dem Eingriff in die geschützte Rechtsposition der Augen­ optiker korrespondiert der funktionsrechtliche Ermächtigungsmangel auf Seiten der Ortskrankenkassen. Wie sich aus den tatsächlichen Einlassungen der Allgemeinen Orts­ krankenkassen ergibt, erzielen diese im Rahmen ihrer Selbstabgabe­ stellen teilweise Gewinne. Diese Gewinne, die offenkundig auf den ge­ schilderten Wettbewerbsvorteilen der Selbstabgabestellen im Verhält­ nis zu den Augenoptikern beruhen, fügen den letzteren Nachteile und Schäden im Wettbewerb zu, ohne daß wiederum eine ermächtigende Gesetzesgrundlage vorhanden wäre. Das geltende Sozialversicherungs­ recht kennt keine Ermächtigung der Sozialversicherungsträger zur ge­ winnerzielenden Erwerbs- oder Sozialwirtschaft. Das gleiche gilt schließlich hinsichtlich des Einsatzes von Haushaltsmitteln zwecks Ein­ richtung, Unterhaltung und Betreibung der Selbstabgabestellen sowie zwecks Finanzierung werblicher Aktionen. Auch für diese Initiativen fehlt es sämtlich an einer funktionsrechtlichen Gesetzesermächtigung; und ihrem Fehlen korrespondiert der gleichfalls nicht gesetzlich ge­ rechtfertigte „Eingriff durch Konkurrenz" im Verhältnis zu den Augen­ optikern. Die Selbstabgabestellen können die allgemeinen Haushalts­ mittel der Sozialversicherungsträger nutzen, verfügen demgemäß über eine stärkere Position im Wettbewerb und fügen den wettbewerblich entsprechend unterlegenen Augenoptikern Schäden und Nachteile im Wettbewerb zu. Besonders eklatant wird dieser Verstoß gegen das Er­ fordernis funktionsrechtlicher wie rechtsstaatlicher Gesetzesermächti­ gung im Falle der erwerbswirtschaftlichen Werbung um Versicherte auch anderer Krankenkassen. 4. Zusammenfassung Insgesamt ergibt sich demnach, daß der sozialrechtliche Gesetzesvor­ behalt in vollem Umfange für die Selbstabgabetätigkeit der Allgemei­ nen Ortskrankenkassen maßgebend ist. Der sozialrechtliche Gesetzes­ vorbehalt ist aus der Sicht des Verfassungsrechts strikt auszulegen. Den Sozialversicherungsträgern steht demgemäß kein funktionsrechtliches Mandat jenseits gesetzgeberischer Ermächtigung zu. Aus funktions­ rechtlichen wie rechtsstaatlichen Gründen bedarf die Selbstabgabetätig­ keit der positiv-gesetzlichen Ermächtigung. Da es an einer solchen Er­ mächtigung fehlt, verstößt die gesamte Selbstabgabetätigkeit der Orts­ krankenkassen gegen das (objektiv-rechtliche) Erfordernis des Gesetzes­ vorbehalts.

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III. Selbstabgabe und grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung 1 . Die wirtschaftsverfassungsrechtliche Ordnung des GG

Die Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen staatlicher Wirt­ schaftsbetätigung gehört zu den - nach wie vor - zentralen Proble­ men der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung : Erlaubt die wirt­ schaftsverfassungsrechtliche Ordnung des GG Formen staatlicher Eigenwirtschaft oder schließt sie staatliche Eigenwirtschaften prinzi­ piell aus? Bedarf staatliche Eigenwirtschaft einer besonderen funktio­ nellen Legitimation; duldet die grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung insbesondere auch Formen staatlicher Erwerbswirtschaft? Diese prinzipiell bedeutsamen Grundfragestellungen sind auch für die hiesige Problemstellung maßgebend. Auch für die Selbstabgabe­ stellen der Allgemeinen Ortskrankenkassen stellt sich die Frage der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Legitimation. Denn da die Selbst­ abgabe sowohl von Kassenbrillen als auch von Feinbrillen sich als tat­ sächlich eigenwirtschaftliches Verhalten eines öffentlichen Aufgaben­ trägers (Sozialversicherungsträger) darstellt, bedarf es der entspre­ chenden wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Die Wirtschaftsverfassung des GG gilt nach heute herrschender und vom Bundesverfassungsgericht schon früh in seiner Entscheidung vom 20. 7. 1 954 zur Verfasungsmäßigkeit der Investitionshilfegesetzgebung72 gebilligten Auffassung als „neutral" bzw. als wirtschaftspolitisch offen und gestaltbar78 • Dies bedeutet im einzelnen, daß die konkrete Ordnung der Wirtschaft vorrangig in der Zuständigkeit des Gesetzgebers und seiner demokratisch legitimierten Ordnungsmacht liegt. Ordnung und Organisation der Wirtschaft gelten vor allem als Fragen der wirt­ schafts-, gesellschafts- und sozialpolitischen Zweckmäßigkeit; und Zweckmäßigkeitsentscheidungen dieser Art trifft das GG in richtiger Einschätzung der Dynamik, Relativität und Situationsbefangenheit aller wirtschaftspolitischen Fragen und Probleme nicht. Das GG enthält demgemäß auch keine Präferenzen im einen oder anderen ordnungs­ politischen Sinne. Das GG ist wirtschafts- wie ordnungspolitisch „offen" (Prinzip der offenen Wirtschaftsverfassung). Für die staatliche Wirt­ schaftspolitik bedeutet dies zunächst einen breiten Raum an eigener Gestaltungsmacht, wobei nicht nur an staatliche Interventionen im 12 BVerfGE 4, 7 (17 f.). 7 3 Vgl. - gleichzeitig zum Folgenden - z. B. BVerfGE 7, 377 (400) ; 12, 341 (347) ; 21, 73 (78) ; 50, 290 (336 ff.) ; BVerfG, NJW 79, 699 ff. ; BVerwGE 39, 329 (336) ; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 68 ff. ; Scheuner, VVDStRL 11, 1 (19 ff.) ; Zacher, Böhm-Festschrift, 1965, S. 63 (89 ff.) ; R. Scholz, Konzen­ trationskontrolle und Grundgesetz, 1971, S. 26 ff. ; ders., in : Der Staatssektor in der s