Unscharfe Grenzen: Perspektiven der Kultursoziologie [2., unveränderte Auflage 2010] 9783839409176

Die Kultursoziologie ist zu einem Brennpunkt der theoretischen und empirischen Öffnung der Soziologie geworden. Der Band

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Unscharfe Grenzen: Perspektiven der Kultursoziologie [2., unveränderte Auflage 2010]
 9783839409176

Table of contents :
INHALT
Vorwort
KULTUR
Die Kontingenzperspektive der »Kultur«. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm
Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik
Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen
PRAKTIKEN
Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken
Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten
SUBJEKTFORMEN
Medientransformation und Subjekttransformation
Umkämpfte Maskulinität. Zur Transformation männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten
Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerlichkeit als hybride Subjektkultur
ÄSTHETISIERUNGEN
Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne. Der kulturelle Wandel der Konsumtion
Die Erfindung des Kreativsubjekts. Zur kulturellen Konstruktion von Kreativität
Elemente einer Soziologie des Ästhetischen
KULTURTHEORIE ALS KRITIK
Kritische Gesellschaftstheorie heute. Zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Kritischer Theorie
Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus
Literatur
Nachweise

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Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen

2008-07-21 14-03-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543919192|(S.

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Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Universität Konstanz.

2008-07-21 14-03-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543919192|(S.

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Andreas Reckwitz

Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie

2008-07-21 14-03-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543919192|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Andreas Reckwitz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-917-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-07-21 14-03-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543919192|(S.

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I N H AL T

Vorwort ................................................................................................... 7

KULTUR Die Kontingenzperspektive der »Kultur«. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm .............................. 15 Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik ....................................................... 47 Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen ....... 69

PRAKTIKEN Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken ................................. 97 Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten ............................................... 131

SUBJEKTFORMEN Medientransformation und Subjekttransformation ............................. 159 Umkämpfte Maskulinität. Zur Transformation männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten .............................................. 177 Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerlichkeit als hybride Subjektkultur ............................................ 197

ÄSTHETISIERUNGEN Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne. Der kulturelle Wandel der Konsumtion .............................................. 219 Die Erfindung des Kreativsubjekts. Zur kulturellen Konstruktion von Kreativität ..................................... 235 Elemente einer Soziologie des Ästhetischen ...................................... 259

KULTURTHEORIE ALS KRITIK Kritische Gesellschaftstheorie heute. Zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Kritischer Theorie ...... 283 Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus .......................................... 301

Literatur ............................................................................................... 321 Nachweise ........................................................................................... 351

Vorw ort

Die Studien, die dieser Band versammelt, sind größtenteils zwischen zwei Büchern entstanden: Die Transformation der Kulturtheorien (2000) und Das hybride Subjekt (2006). Die Aufsatzform erlaubt es dabei, fokussierter und programmatischer Aspekte dessen zu beleuchten, was zeitgenössische Kultursoziologie in meinem Verständnis ausmachen kann. Kultursoziologie ist in der Vorstellung, die den Aufsätzen dieses Bandes zugrunde liegt, keine bloße »Bindestrichsoziologie«, die sich mit dem Kulturellen als einem engen und speziellen Bereich der Gesellschaft befassen würde. Kultursoziologie perspektiviert vielmehr das Soziale insgesamt und damit alles, was innerhalb der Gesellschaft stattfindet, als Kulturelles: von der Ökonomie bis zur Technik, von der Politik bis zur Kunst. Eine solche zeitgenössische Kultursoziologie befindet sich im Spannungsfeld dreier Doppelperspektiven, Spannungsfelder, aus denen sie idealerweise ihren Reiz und ihre Fruchtbarkeit bezieht: zwischen Kulturtheorie und materialen Kulturwissenschaften; zwischen Gegenwartsorientierung und Historisierung; zwischen einer Mikrologie des Alltags und einer Makroperspektive auf die Moderne. Die zeitgenössische Kultursoziologie setzt sowohl die systematische Reflexion auf der Ebene von Kulturtheorien als auch die Einbettung in das fächerübergreifende Feld der materialen, empirischen Kulturwissenschaften voraus: Kulturtheorien diskutieren Heuristiken und Vokabulare dessen, wie man kulturelle Phänomene beschreiben und analysieren kann. Gleichzeitig partizipiert die Kultursoziologie am breiteren Feld der unterschiedlichen, einander ergänzenden und überschneidenden gegenstandsorientierten Kulturwissenschaften, das neben der Soziologie vor allem die Geschichtswissenschaft, die Ethnologie und die Literaturwissenschaft umfasst. In ihren materialen Analysen befindet sich die zeitgenössische Kul7

UNSCHARFE GRENZEN

tursoziologie im Kraftfeld zweier scheinbar gegenläufiger Aufmerksamkeiten, die sie versucht, miteinander zu kombinieren: Zum einen bemüht sie sich, an jene ausgeprägte Neugierde und Sensibilität für die Veränderungen von Praktiken und Diskursen der unmittelbaren Gegenwart, an den Sinn für die »Modernität« des Zeitgenössischen anzuknüpfen, wie man ihn etwa in den von den ästhetischen Avantgarden beeinflussten Arbeiten von Baudelaire, Simmel und Benjamin und in anderer Weise in den angelsächsischen, kulturorientierten studies – etwa den media studies und den science studies – findet. Zum anderen forciert diese Kultursoziologie eine Historisierung, eine historische Situierung und Zurückverfolgung kultureller Phänomene, wie sie der Tradition der post-hegelianischen Geisteswissenschaften entspricht und unter anderem durch Foucaults Archäologie/Genealogie einen neuen Schub erhalten hat. Schließlich oszilliert die Kultursoziologie zwischen einer dezidierten Mikro- und einer Makroperspektive: einer Konzentration auf und einer detaillierten Analyse von einzelnen Alltagsphänomenen, wie man sie aus der Ethnomethodologie und anderen Formen der Alltagssoziologie und -geschichte kennt, und die auch die Konzentration auf die komplexen Strukturen einzelner Texte und visueller Repräsentationen einschließt; zugleich einem Interesse an umfassender angelegten Prozessund Strukturmodellen, welche langfristige Transformationen innerhalb der Moderne im Visier haben. Die Aufsätze dieses Bandes behandeln mehrere, miteinander zusammenhängende Fragestellungen, die mich vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses einer kulturwissenschaftlichen Soziologie in den letzten Jahren beschäftigt haben. Sie sind entsprechend unter fünf Überschriften gruppiert: Kultur, Praktiken, Subjektformen, Ästhetisierungen und Kulturtheorie als Kritik. Die Reihenfolge dieser Themen spiegelt durchaus eine gewisse Chronologie wider, und die nachfolgenden Fragestellungen haben sich für mich aus den jeweils früheren ergeben, ohne dass sich diese damit erledigt hätten. Im ersten Block geht es um einige grundsätzliche Klärungen, die den Kulturbegriff, die Kulturtheorien und den Cultural Turn in den Sozialwissenschaften betreffen. Der erste Artikel diskutiert »Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹« und thematisiert die Blickverschiebungen, die diese in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie und der Literaturwissenschaft bewirkt hat. Es folgen zwei Aufsätze, die zwei für die aktuellen Kulturtheorien elementare und zugleich schillernde Konzepte diskutieren: Zunächst geht es um den »Identitätsdiskurs«, dessen Transformation von einem Interesse an der Konstanz des Selbst zu einem Interesse am kulturellen Selbstverstehen nachgezeichnet wird, dann um »Multikulturalismustheorien«, deren häufig essenzialistische 8

VORWORT

Kulturbegriffe herausgearbeitet und mit einem Verständnis von Kultur als einer Konstellation der Hybridität konfrontiert werden. Das grundsätzliche Anliegen der Kulturtheorien, die sinnhafte Konstitution der Sozialwelt angemessen zu beschreiben und entsprechend der materialen Analyse zugänglich zu machen, ist für mich der Ausgangspunkt gewesen, um die Fruchtbarkeit einer »Theorie sozialer Praktiken« auszuloten, wie sie von derart unterschiedlichen Autoren wie Wittgenstein, Bourdieu oder Garfinkel angeregt wurde. Deren praxeologische Leitidee lautet, das Kulturelle nicht in erster Linie auf der Ebene von Ideen oder von Symbolen und Texten, sondern im impliziten Wissen körperlicher Routinen zu verorten. Dies ist das Thema von »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«. Ein spezielles Problem in diesem Zusammenhang behandelt der folgende Aufsatz »Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien«: die lange vernachlässigte Frage, welcher Stellenwert in einem kultur- und praxistheoretischen Rahmen der Materialität von Artefakten zukommen kann, eine Frage, die insbesondere durch die Arbeiten Bruno Latours neue Brisanz erhalten hat. Während die ersten fünf Artikel des Bandes damit grundbegriffliche Probleme der Kulturtheorien behandeln, gehen die folgenden sechs Aufsätze unter den Rubriken »Subjektformen« und »Ästhetisierungen« zu einer materialen Kultursoziologie über. In allen Texten liefert ein auffälliges Element der postmodernen Gegenwartskultur den Ausgangspunkt: die Relevanz von Medientechnologien für die Subjektkonstitution, der Status von Geschlecht und Männlichkeit, die Diskussion um die »Neue Bürgerlichkeit«, die Prominenz der Konsumkultur, die Ausbreitung der Semantik der Kreativität, schließlich die Relevanz von Ästhetisierungsprozessen generell. Dieses Gegenwartselement wird jeweils in ein historisch-soziologisches Prozessmodell der Kultur der Moderne eingebettet, so dass es in seiner kulturellen Besonderheit wie in seinen »intertexuellen« Bezügen sichtbar wird. Mein besonderes Interesse gilt in diesen Aufsätzen der Form, die innerhalb der modernen Kultur »Subjekte« annehmen. Ich folge hier Michel Foucaults Grundintuition – die sich in anderer Weise auch in Charles Taylors Sources of the Self und letztlich bereits in Max Webers Religionssoziologie findet –, dass sich im Zentrum der modernen Kultur widerstreitende Bemühungen finden, dem Individuum, dem Selbst eine sozial-kulturelle Form zu geben, es zu »subjektivieren«. Aber die Richtung dieser Subjektivierungen ist keineswegs so eindeutig, wie es vertraute Diagnosen der Rationalisierung oder der Individualisierung des Selbst suggerieren. Unter der Überschrift »Subjektformen« geht es um drei unterschiedliche Aspekte charakteristisch moderner Subjektivität, die sich in der ge9

UNSCHARFE GRENZEN

samten Entwicklung der modernen Kultur von der bürgerlichen Moderne bis zur Postmoderne als konstitutiv erweisen: »Medientransformation und Subjektransformation« rekonstruiert die Entwicklung von Medientechnologien vom Buchdruck zur Digitalität als eine Abfolge von Subjektivierungsformen. »Umkämpfte Maskulinität« skizziert die Diskontinuitäten zwischen unterschiedlichen modernen Modellierungen von Geschlechtlichkeit, genauer von männlicher im Unterschied zu weiblicher Subjektivität, wobei ein besonderes Interesse der affektiv-emotionalen Formierung der Geschlechter gilt. »Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerlichkeit als hybride Subjektkultur« schließlich geht von der aktuellen Diskussion um eine »Neue Bürgerlichkeit« aus, um den widersprüchlichen Sinnhorizont klassischer Bürgerlichkeit und ihre uneinheitliche Wiederaufnahme in der Kultur des 20. Jahrhunderts zu sezieren. Mir ist im Rahmen der allgemeinen Frage, wie sich innerhalb der Geschichte der Moderne die leitenden Subjektordnungen transformieren, zunehmend bewusst geworden, dass ästhetischen Bewegungen und der Modellierung des Selbst als ein ästhetisches in den Kulturkonflikten um die Moderne ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zukommt, den die Sozialwissenschaften – in einer unglücklichen Arbeitsteilung mit den Kunstwissenschaften – tendenziell vernachlässigt haben. Dabei geht es nur in einem oberflächlichen Sinne um eine Reaktivierung des Interesses der klassischen, an der Hochkultur orientierten Kultursoziologie an der Kunst, vielmehr um eine breitere Perspektive auf Prozesse der Ästhetisierung von Praktiken und Subjektformen. »Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne« skizziert den Siegeszug der consumer culture in der Postmoderne als einen historisch höchst voraussetzungsreichen Prozess des Trainings eines ästhetisch sensibilisierten Subjekts, das sich zunächst gegen den bürgerlichen Produktivismus richtet. »Die Erfindung des Kreativsubjekts« führt die Prominenz der postmodernen Semantik der Kreativität und des Kreativen zurück auf die schrittweise Universalisierung eines vorgeblich kreativen und expressiven Subjekts in den ästhetischen Bewegungen von der Romantik zur Counter Culture sowie auf entsprechende ökonomische und psychologische Diskurse der Innovation und des Selbstwachstums. »Elemente einer Soziologie des Ästhetischen« schließlich versucht zu systematisieren, was man in einem kultursoziologischen Sinn unter dem Ästhetischen verstehen kann und wie sich im Zuge einer Verarbeitung des Ästhetischen sowohl die Theorie der Moderne als auch die Theorie sozialer Praktiken neu justieren lassen. Die letzten beiden Artikel des Bandes spannen einen Bogen zurück zur Ausgangsfrage: was Kulturtheorie und Kultursoziologie leisten können. Dabei gilt ein besonderes Interesse ihrer kritischen und dekonstruktiven Funktion, und die Frage rückt ins Zentrum, inwiefern poststruktu10

VORWORT

ralistische Analytiken, ausgehend von Foucault und Derrrida, in dieser Hinsicht einen Impuls zu liefern vermögen. »Kritische Gesellschaftstheorie heute: Zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Kritischer Theorie« thematisiert über den Weg eines Vergleichs mit der Frankfurter Schule, inwiefern der Poststrukturalismus einen alternativen Modus sozial- und kulturwissenschaftlicher Kritik installiert. Der abschließende Text, »Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus«, der zugleich meine Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz war, argumentiert, dass das poststrukturalistische Interesse an der Überschreitung, der Instabilität und der Überschneidung von Sinngrenzen auf verschiedenen Ebenen für die zeitgenössische Kultursoziologie heuristisch fruchtbar gemacht werden kann. Der Titel des gesamten Bandes, Unscharfe Grenzen, leitet sich von diesem abschließenden Artikel her und weist zugleich auf einen Aspekt hin, der für alle Aufsätze in der einen oder anderen Form von Relevanz ist: die Thematisierung von Grenzüberschreitungen und instabilen sinnhaften Separierungen, sei es zwischen verschiedenen historischen Versionen der Moderne, zwischen Mehrheitskulturen und Subkulturen, zwischen ethnischen Gruppen, zwischen Funktionssystemen, zwischen Kulturalität und Materialität, schließlich zwischen den disziplinären Kulturwissenschaften selbst. Es liegt in der Natur der Sache, dass die einzelnen Aufsätze dieser Anthologie kein bruchloses Ganzes ergeben. Sie sind zu sehr unterschiedlichen Gelegenheiten und Zeitpunkten entstanden. Die Artikel sind im Kern unverändert geblieben, gelegentlich habe ich sie gekürzt – auch um zu starke Überschneidungen zu vermeiden – oder auch leicht formal-stilistisch modifiziert, falls dies nötig erschien. Eine Reihe der Texte sind bisher unveröffentlicht. Obwohl die Aufsätze miteinander zusammenhängen, lassen sie sich unabhängig voneinander lesen. Sehr zu danken habe ich Daniel Felscher und Hendrik Stary, die die redaktionelle Betreuung dieses Bandes äußerst sorgfältig und zuverlässig übernommen haben. Sophia Prinz und Hilmar Schäfer danke ich für die Übersetzung zweier der Aufsätze aus ihren englischen Originalfassungen. Insgesamt möchte ich das Buch meinem Konstanzer Arbeitsbereich Kultursoziologie (dem »Lehrstuhl«, wie man in Süddeutschland sagt) widmen, dessen Mitglieder mich in den beiden letzten Jahren mit ihrer intellektuellen Neugier und ihrem Enthusiasmus immer wieder inspiriert haben.

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K ULTUR

Die Kontingenz perspektive der »Kultur«. Kulturbe griffe, Kulturthe orie n und das kulturw issenschaftliche Forsc hungs programm »Kultur« ist kein Gegenstand neben anderen Gegenständen. Kulturwissenschaft ist keine spezifische geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplin neben anderen Disziplinen. Kultur ist auch nicht das, was die Humanwissenschaften natürlicherweise als ihr konstitutives Objekt reklamieren können. Um zu begreifen, was auf dem Spiel steht, wenn seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Soziologie, Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Literaturwissenschaft im englischen, französischen und deutschen Sprachraum eine Expansion der kulturwissenschaftlichen Denkweisen stattfindet, sollte man stattdessen die Kulturwissenschaften als ein spezifisches, intern vielfach differenziertes Forschungsprogramm verstehen. Man kann die Attraktivität, die der kulturwissenschaftlichen Denkweise für viele Geistes- und Sozialwissenschaftler zukommt, ebenso wie den Widerstand, den sie bei anderen hervorruft, erst dann nachvollziehen, wenn man sie als ein solches fächerübergreifendes research programme wahrnimmt, als eine bestimmte Perspektive des Fragens und der Analyse, die sich gegenüber anderen, klassischen research programmes in einer Situation der Konkurrenz und des Konflikts befindet. Was sind die Spezifika des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms? Und wogegen richtet es seine Kritik? Wenn Kultur nur ein Gegenstand neben anderen wäre, dann würde die Kulturanalyse nicht mehr als eine Ergänzung der Analyse klassischer Gegenstände sein. Tatsächlich entsprachen die klassischen Subdisziplinen der Kultursoziologie und der Kulturgeschichte weitgehend diesem 15

KULTUR

Verständnis: Die Kultursoziologie analysiert in diesem Sinne nicht die Ökonomie, die Sozialstruktur oder die Politik, sondern die Kultur. Die Kulturgeschichte überlässt der Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte ihre Gegenstände und betreibt parallel zu diesen eine Geschichte der Kultur. Aber dies ist nicht die Bedeutung des Cultural Turns. Kein bloßer Zulauf für Kultursoziologie oder Kulturgeschichte als Subdisziplinen ist hier gemeint, es sei denn, man versuchte eine Domestizierung des Phänomens; nicht eine Partialperspektive, sondern eine »Totalperspektive Kultur« wird im kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramm eröffnet. Jeder Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften kann und soll nun als kulturelles Phänomen rekonstruiert werden: ökonomisch-technische Praktiken ebenso wie Politik und Staat, die Sozialstruktur ebenso wie Familie oder Geschlechter, die modernen ebenso wie die vormodernen Gesellschaften, die Natur so wie der Affekthaushalt. Die kulturwissenschaftliche Programmatik wäre gleichfalls missverstanden, wenn man sie ausschließlich als Verfechterin einer eigenständigen, neuartigen Disziplin Kulturwissenschaft neben den anderen, traditionellen Disziplinen verstünde. Zwar wird ein solches Programm vertreten,1 und namentlich in den angelsächsischen Cultural Studies ist eine genuin kulturalistische Disziplin flächendeckend institutionalisiert worden. Jedoch besteht eine Besonderheit der kulturwissenschaftlichen Programmatik gerade darin, über diese neuen Disziplinen hinaus die klassischen Disziplinen nicht unberührt zu lassen, vielmehr eine entsprechende Transformation der Forschungspraxis von Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie selbst voranzutreiben. Schließlich liefert die kulturwissenschaftliche Programmatik aber auch mehr als lediglich die Anerkennung einer scheinbar selbstverständlichen Tatsache, die etwa schon der Neukantianismus der vorigen Jahrhundertwende benannte: nämlich dass alle Wissenschaften, die nicht Naturwissenschaften sind, sich als Disziplinen der menschlichen Angelegenheiten und damit des im weitesten Sinne sinnhaften Handelns per definitionem als Kulturwissenschaften darstellen.2 Es verfehlte die Pointe des kulturwissenschaftlichen Programms, kurzerhand sämtliche Geistesund Sozialwissenschaftler (möglicherweise mit Ausnahme der Soziobiologen) zu Kulturwissenschaftlern zu erklären, die sie immer schon gewesen seien. Die genannten Engführungen von Kultur und Kulturwissenschaft – 1 2 16

Vgl. etwa Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000. Vgl. Wolfgang Frühwald, u.a. (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a.M. 1991.

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

Kultur als Partialgegenstand, Kultur allein als Perspektive einer neuen Disziplin, Kultur als selbstverständliche Grundlage der Nicht-Naturwissenschaften – haben ihre Wurzeln in bestimmten Konnotationen des chronisch vieldeutigen Kulturbegriffs, der eine genauere Klärung erfordert. Aber die Besonderheit des vielgliedrigen kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms, das so unterschiedliche Richtungen einschließt wie die new cultural history, die Ethnomethodologie, die symbolistische Anthropologie, den new historicism, das Programm der Semiotik, die von Foucault inspirierten Diskursanalysen und die von Bourdieu beeinflussten Habitusanalysen, die Mentalitätsgeschichte, die Rezeptionsästhetik, die sozialkonstruktivistischen gender studies und organizational studies, die historische Semantik, die Arbeiten im Kontext der ethnologischen writing culture-Debatte, die science studies oder die Arbeiten im Umkreis des Postkolonialismus, ist damit kaum angemessen erfasst. Was ist es aber stattdessen, was dieses kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm – trotz aller interner konzeptueller Differenzen und disziplinären Besonderheiten – ausmacht? Was wird hier unter Kultur verstanden? In einem ersten Zugriff kann man es folgendermaßen formulieren: Das kulturwissenschaftliche Forschungspro-gramm zielt darauf ab, die impliziten, in der Regel nicht bewussten symbolischen Ordnungen, kulturellen Codes und Sinnhorizonte zu explizieren, die in unterschiedlichsten menschlichen Praktiken verschiedener Zeiten und Räume zum Ausdruck kommen und diese ermöglichen. Indem die Abhängigkeit der Praktiken von historisch- und lokal-spezifischen Wissensordnungen herausgearbeitet wird, wird die Kontingenz dieser Praktiken, ihre Nicht-Notwendigkeit und Historizität demonstriert.3 Die Kontingenzperspektive des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms steht jedoch der in diesen Praktiken selbst, aber zum Teil auch in den intellektuellen Diskurs eingebauten Tendenz entgegen, diese Kontingenz unsichtbar zu machen, zu invisibilisieren und stattdessen die Notwendigkeit der Praktiken zu suggerieren: eine Notwendigkeit als »natürlich«, »allgemeingültig« oder Produkt einer rationalen Entwicklung. Die Kontextualisierung und teilweise auch Verfremdung menschlicher Handlungsformen und ihrer Hervorbringungen, die das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm betreibt, steht nun jedoch in einem kritischen Verhältnis zu Grundannahmen klassischer Forschungsprogramme der Soziologie, der Ethnologie, der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft. Die vier zentralen Disziplinen der Geistes3

Im sozialtheoretischen und sozialphilosophischen Kontext ist der Begriff der Kontingenz vor allem von Richard Rorty (vgl. ders.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989) und Niklas Luhmann (vgl. ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93ff) profiliert worden. 17

KULTUR

und Sozialwissenschaften sind unter sehr spezifischen Bedingungen zu Beginn (Geschichts- und Literaturwissenschaft) beziehungsweise gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Soziologie und Ethnologie) entstanden. Sie sind genuine Produkte der intellektuellen Entwicklung der Moderne und deren Bestreben, kulturelle und soziale Strukturen transparent zu machen. Aber diese wissenschaftlichen Diskurse haben selbst häufig sehr spezifische theoretische, programmatische und forschungspraktische Festlegungen betrieben, die nicht transparent gemacht worden sind. Diese konzeptuellen Festlegungen, welche die spezifische Perspektive der Disziplinen und ihre Forschungspraxis begründet haben, bewegen sich auf drei Ebenen: Es wurden regelmäßig bestimmte, scheinbar selbstverständliche begriffliche Voraussetzungen zur Struktur der modernen Gesellschaft und Kultur gemacht – so ist etwa für die Soziologie ein strikter Dualismus zwischen sogenannten traditionalen und sogenannten modernen Gesellschaften disziplinenkonstitutiv gewesen. Es sind bestimmte grundbegriffliche Voraussetzungen zur generellen Struktur der Sozialund Kulturwelt in Anspruch genommen worden: etwa Konzepte von Text, Autor und Werk in der Literaturwissenschaft oder Unterscheidungen von Basis/Sozialstruktur und Überbau/Kultur in den drei anderen Disziplinen. Schließlich hatten alle vier Disziplinen auf der wissenschaftstheoretischen Ebene eine Tendenz, ihre eigene kulturelle Standortgebundenheit unsichtbar zu machen und den Status eines scheinbar autonomen unbeobachteten Beobachters einzunehmen. Das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm betreibt nun, indem es die Abhängigkeit sozialer Praktiken von kontingenten symbolischen Ordnungen demonstriert und im Detail analysiert, auf allen drei Ebenen unmittelbar oder indirekt eine Revision der Perspektive. Insbesondere das Bild der Moderne, der modernen Gesellschaft und Kultur, verschiebt sich durch die kulturwissenschaftlichen Forschungen, aber auch das Bild der eigenen wissenschaftlichen Praxis. Die Einsicht in die häufig nicht bewusst gemachte Abhängigkeit verschiedenster moderner Praktiken – politischer, wirtschaftlicher, technischer, ästhetischer, geschlechtlicher Art – von alles andere als natürlichen, universalen oder rational entscheidbaren kulturellen Codes trägt zu einem modifizierten Verständnis des Verhältnisses von Moderne und Nicht-Moderne bei, ebenso wie die Bewusstwerdung der kulturellen Voraussetzungen der eigenen wissenschaftlichen Praktiken das Verständnis der wissenschaftlichen Tätigkeit und ihrer Beziehung zum Gegenstand verändert. Möglich werden diese neuen Perspektiven letztlich infolge der Transformation der Grundbegrifflichkeit zur Analyse der Humanwelt, wie sie von den Kulturtheorien im Zuge des Strukturalismus und der Semiotik, der Phänomenologie, Hermeneutik und der Sprach- und Symbolphilosophie 18

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

ausgelöst worden sind. Allerdings: Dass man in dieser Weise von einem allgemeinen kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramm im Singular sprechen kann, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass innerhalb dieses Programms die begriffliche Grundlage, somit die Frage, welches kulturtheoretische Vokabular verwendet werden soll, das die Forschungspraxis anleitet, hochgradig umstritten bleibt. Offen ist in der kulturalistischen Theoriediskussion und Forschungspraxis vor allem, ob eine stärker strukturalistisch-semiotische, das heißt holistische, oder eine stärker hermeneutisch-interpretative, individualistische Perspektive eingenommen werden und ob das Konzept des Diskurses oder das der Praktiken eine Leitfunktion erhalten soll: Ist Kultur als Struktur oder als subjektive Leistung zu verstehen? Bewegt sich Kultur auf der Ebene von Diskursen oder auf der von Praktiken? Um die Voraussetzungen des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms zu erläutern, sollen drei Problemebenen unterschieden werden: Zunächst geht es um eine historisch-systematische Klärung des Kulturbegriffs, so dass das spezifische bedeutungsorientierte Kulturverständnis von traditionellen Konnotationen des Kulturbegriffs abgegrenzt werden kann (1). Vor diesem Hintergrund kann die Kontingenzperspektive des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms, das auf diesem bedeutungsorientierten Kulturbegriff aufbaut, herausgearbeitet werden. Dieses Programm geht auf Distanz zu Kontingenzinvisibilisierungen auf modernetheoretischer, wissenschaftstheoretischer und sozialtheoretischer Ebene in klassischen Forschungsprogrammen der Soziologie, Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Literaturwissenschaft (2). Schließlich sollen die unterschiedlichen kulturtheoretischen Optionen innerhalb des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms gegenübergestellt werden, die um die Fragen »Strukturen oder Individuen?« und »Diskurse oder Praktiken?« kreisen (3).

1 . D e r K u l t u r b e g r i f f : N o r m a t i ve , t o t a l i t ä t s orientierte, differenzierungstheoretische und bedeutungsorientierte Versionen Ganz allgemein kann man feststellen, dass die Entstehung und Verbreitung des modernen Begriffs der Kultur, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgen lässt, mit dem Bewusstsein der Kontingenz menschlicher Lebensformen verknüpft ist. Kultur ist damit ähnlich wie »Gesellschaft« oder »Geschichte« einer der Schlüsselbegriffe der Sattelzeit, der signalisiert, dass im modernen Denken und der modernen Praxis etwas bisher naturwüchsig Erscheinendes als problematisch und 19

KULTUR

gestaltbar interpretiert wird.4 Allerdings nimmt dieses Kontingenzbewusstsein, das mit dem Kulturbegriff verbunden ist, zunächst noch moderate, domestizierte Formen an. Vier verschiedene Kulturbegriffe lassen sich hier systematisch unterscheiden: zunächst der normative und der totalitätsorientierte, im 20. Jahrhundert schließlich der differenzierungstheoretische und der bedeutungsorientierte Kulturbegriff. Erst die letzte Version des Kulturbegriffs betreibt eine Radikalisierung des Kontingenzgedankens. Die erste Version des Kulturbegriffs, die sich im Kontext der Aufklärung ausbildet, aber teilweise bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts hineinreicht (und bis in die Alltagsverwendung selbst der nach-bürgerlichen Gegenwart), ist normativ ausgerichtet: Kultur im Sinne einer menschlichen Lebensweise zu umschreiben ist zunächst noch untrennbar verbunden mit einer Bewertung dieser Lebensweise. Kultur bezieht sich dann auf eine ausgezeichnete, letztlich für »jedermann« erstrebenswerte Lebensform. Diejenige Lebensform, der dieser Kulturwert zukommen soll, ist faktisch jene des aufstrebenden Bürgertums, welches sich sowohl gegen den Adel als auch gegen die agrarischen, später proletarischen Unterklassen kulturell-moralisch abgrenzt, aber seinen eigenen Lebensstil mit einem Universalanspruch vertritt. Der moderne Kulturbegriff kann die klassische Verwendungsweise des Begriffs aus der Antike und der Renaissance aufnehmen und umdeklinieren: Cultura verwies ursprünglich auf die Pflege, die sorgfältige Gestaltung eines Gegenstandes, vor allem die Bebauung des Ackerlandes, in einem zweiten Schritt auch auf die Verfeinerung des individuellen Geistes. Erst in der modernen Verwendung wird Kultur nun konsequenterweise auf die Lebensform eines Kollektivs bezogen: nicht allein einzelne Individuen, ganze Kollektive können Kultur erwerben. Kennzeichnend für den normativ-bürgerlichen Kulturbegriff ist dabei jedoch, dass nicht jedes Kollektiv seine eigene Form von Kultur besitzt, vielmehr ein universaler Maßstab des Kultivierten angenommen wird, der insgeheim dem der bürgerlichen Kultur entspricht. Repräsentativ für diese Begriffstradition definiert der Sprachtheoretiker Johann Christoph Adelung 1793 Kultur als

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Vgl. Raymond Williams: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von »Kultur«, München 1972; Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1979; Friedrich H. Tenbruck: »Die Aufgaben der Kultursoziologie«, in: KZfSS 31 (1979), S. 399-421; Niklas Luhmann: »Kultur als historischer Begriff«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1995, S. 31-54.

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

»die Veredelung oder Verfeinerung der gesamten Geistes- und Leibeskräfte [...] eines Volkes, so daß dieses Wort sowohl die Aufklärung, die Veredelung des Verstandes durch Befreiung von Vorurteilen, als auch die Politur, die Veredelung und Verfeinerung der Sitten, unter sich begreift.«5

Während bei Adelung der Kultur noch ein eigentlicher Gegenbegriff fehlt, wird in der weiteren Tradition des normativen Kulturkonzepts Kultur zunehmend kontrastiv gegenüber dem Begriff der Zivilisation einerseits, dem der Gesellschaft andererseits in Anschlag gebracht. Wegweisend für den Dualismus zwischen Kultur – welche die moralische Bildung des Subjekts bezeichnet – und Zivilisation als der bloßen Verfeinerung der Sitten ist zunächst Kant: »Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.«6

Während der soziologische Hintergrund der Kant’schen Opposition von Kultur und Zivilisation noch die Distinktion der bürgerlichen Lebensform gegen die der alten Elite des Adels ist,7 verschiebt sich das Differenzschema durch die Kontrastierung von Kultur und Gesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts. Repräsentativ ist hier die post-romantische Sozial- und Kulturkritik in Großbritannien im Kontext der Industriellen Revolution, für die etwa Matthew Arnold8 steht: Die Kultur im Sinne der Ideale der bürgerlichen, auf Bildung und Persönlichkeitsentwicklung abzielenden Lebensform wird hier der »Gesellschaft« entgegengestellt, welche sich als Prozess der formalen Rationalisierung und Technisierung darstellt. Der normative Kulturbegriff nimmt Kultur, verstanden als menschliche Lebensweise, somit zwar als kontingent, als der Gestaltung und Veränderung zugänglich an. Aber diese Kontingentsetzung der Kultur wird durch die normative Fassung des Begriffs von vornherein do-

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Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Wien 1807, Spalten 1354f. Immanuel Kant: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, in: ders., Werkausgabe, Bd. 11, Frankfurt a.M. 1991, S. 3150, hier S. 44 (A 402, 403). Vgl. auch Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1990, Bd. 1, S. 1-42. Vgl. Matthew Arnold: Culture and Anarchy, Cambridge 1990; vgl. auch R. Williams: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. 21

KULTUR

mestiziert: Da ein allgemeiner – in Wahrheit der bürgerlichen Kultur entsprechender – Maßstab des Kultivierten und des Nicht-Kultivierten vorausgesetzt wird, liegt die Richtung der wünschenswerten Gestaltung der Lebensweise von vornherein fest. Jene Begriffstradition, die man als die des totalitätsorientierten Kulturbegriffs umschreiben kann, beschreitet hier einen alternativen Weg. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff entuniversalisiert das Kulturkonzept, er kontextualisiert und historisiert es. Kultur ist keine ausgezeichnete Lebensform mehr, Kulturen sind vielmehr spezifische Lebensformen einzelner Kollektive in der Geschichte, und der Kulturbegriff kommt konsequenterweise im Plural vor. Kultur wird damit zu einem holistischen Konzept, das sich zum Vergleich von unterschiedlichen Kulturen eignet: die Diversität der Totalitäten menschlicher Lebensweisen in verschiedenen »Völkern«, »Nationen«, »Gemeinschaften«, »Kulturkreisen« soll sichtbar gemacht werden. Es ist Johann Gottfried Herder, der im Kontext des romantischen Interesses für einzelne Völker und Gemeinschaften und deren Geschichte den totalitätsorientierten Kulturbegriff auf den Weg bringt, wenn er (mit leicht normativen Untertönen) formuliert: »Die Kultur eines Volkes ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbaret. Wie der Mensch, der auf die Welt kommt, nichts weiß – er muß, was er wissen will, lernen – so lernt ein rohes Volk durch Übung für sich oder durch Umgang mit anderen. Nun aber hat jede Art der menschlichen Kenntnisse ihren eigenen Kreis, d.i. ihre Natur, Zeit, Stelle und Lebensperiode«.9

Tatsächlich enthält auch der kontextualistische Kulturbegriff teilweise eine normative Konnotation, jedoch ist diese eine andere als im bürgerlich-normativen Kulturverständnis: Nun ist es die »unvergleichliche« Individualität eines Kollektivs, die prämiert wird und die den jeweiligen normativen Maßstab in sich selbst trägt. Vor allem aber liefert der totalitätsorientierte Kulturbegriff im Laufe des 19. Jahrhunderts den Hintergrund für eine empirisch-wissenschaftliche Analyse dieser kulturellen Totalitäten. Für die anglo-amerikanische Ethnologie, die sich unter der Bezeichnung anthropology im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausbildet und sich als Kulturanthropologie versteht, hat das holistische Kulturverständnis zunächst disziplinenkonstitutive Bedeutung. Dies wird auch in Edward B. Tylors Definition des Kulturbegriffs im Rahmen seiner Darstellung über Primitive Culture (1871) deutlich: 9 22

Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Leipzig 1903, S. 157.

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

»Culture or civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.«10

Im Unterschied zur normativen Gegenüberstellung von Kultur und Gesellschaft werden hier letztlich Kulturen und Gesellschaften miteinander identifiziert, es wird ein »condensed concept of culture-and-society«11 vertreten: Gesellschaften – zumindest jene vormodernen Gesellschaften, denen das Interesse der frühen Ethnologie gilt – sind »ganze Lebensformen« von Gemeinschaften und in diesem Sinne Kulturen. Das totalitätsorientierte Kulturkonzept scheint zunächst in seiner Anerkennung der Verschiedenartigkeit von Kulturen im Vergleich zum normativ-bürgerlichen Kulturbegriff auf einem gesteigerten Kontingenzbewusstsein zu beruhen. Jedoch findet hier regelmäßig in anderer Weise eine Einschränkung des Kontingenzgedankens statt, und zwar in zwei verschiedenen Formen: einmal durch die feste Kopplung von Kulturen an einzelne Gemeinschaften; zum anderen durch eine Universalisierung der menschlichen »Natur« als »kulturbedürftig«. Die Kopplung von Kulturen als Lebensformen an einzelne Kollektivsubjekte – Völker, Ethnien, Nationen, Kulturkreise –, damit an Gemeinschaften ist für das totalitätsorientierte Kulturkonzept insgesamt charakteristisch. Man muss hier wohl schon die Alternative des späteren bedeutungs- und symbolorientierten Kulturbegriffs kennen, um den letztlich vorkonstruktivistischen Charakter dieser Festlegung zu sehen: Es sind für die Totalitätskulturalisten nicht unterschiedliche Zeichen- und Symbolsysteme, verschiedene Sinnhorizonte oder Sprachspiele, zwischen denen Differenzen bestehen, sondern gesamte Lebensformen (unter denen »Ideen« nur ein Element von mehreren darstellt), die hier unterschieden werden und die scheinbar untrennbar an bestimmte Gemeinschaften gebunden sind. Aus dieser Sicht gibt es zwar radikal unterschiedliche Lebensformen, aber für das einzelne Kollektiv (oder gar das einzelne Individuum) sind diese keineswegs austauschbar oder kombinierbar, vielmehr erscheint eine bestimmte Lebensweise idealerweise nach innen homogen und nach außen geschlossen, gleich – wie Herder es formulierte – einer Kugel gegenüber anderen Kugeln.12 10 Edward B. Tylor: Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom, London 1903, S. 1. 11 Alfred Louis Kroeber/Talcott Parsons: »The concepts of culture and of social system«, in: American Sociological Review 23 (1958), S. 582-583, hier S. 583. 12 Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt a.M. 1967, S. 44f. 23

KULTUR

Die zweite Möglichkeit der Kontingenzeinschränkung, die im totalitätsorientierten Kulturbegriff angelegt ist, wird in der Philosophischen Anthropologie demonstriert: Letztlich läuft das holistische Kulturverständnis darauf hinaus, als Kultur alles das zu bezeichnen, was nicht Natur ist. Kultur stellt sich als alles das dar, was vom Menschen selbst hergestellt wird und nicht unmittelbar biologisch determiniert ist. Aber diese Bindung des Kulturbegriffs an die Kultur/Natur-Relation kann zu einer konzeptuellen Abhängigkeit der Kultur von der Natur führen, wie sie in der Philosophischen Anthropologie, etwa bei Arnold Gehlen, vorgeführt wird:13 Nun wird argumentiert, dass es gerade ein entscheidendes Merkmal der menschlichen Natur, der universalen Conditio humana ist, kulturbedürftig zu sein, sich soziale Institutionen zu schaffen, die die menschliche Mängelsituation kompensieren. Die »Kulturalität des Menschen« kann somit dazu genutzt werden, eine allgemeine Theorie aller Kulturen und deren gemeinsamer Fundierung in einer bestimmten anthropologischen Struktur zu formulieren, die als alles andere denn kontingent, vielmehr als natürlich und notwendig erscheint. Neben dem totalitätsorientierten Konzept bedient sich auch der differenzierungstheoretische Kulturbegriff aus der Erbmasse des normativen Kulturbegriffs. Während das holistische Kulturverständnis den Weg einer begrifflichen Ausweitung beschreitet, wählt der differenzierungstheoretische Kulturbegriff, der gleichfalls in die Alltagssemantik eingegangen ist, den einer radikalen Einschränkung. Der sektorale Kulturbegriff lässt den Bezug auf ganze Lebensweisen hinter sich und bezieht sich nurmehr auf das enge Feld der Kunst, der Bildung, der Wissenschaft und sonstiger intellektueller Aktivitäten: auf ein sozial ausdifferenziertes Teilsystem der modernen Gesellschaft, das sich auf intellektuelle und ästhetische Weltdeutungen spezialisiert. Die Umwandlung des normativen in den funktional-differenzierungstheoretischen Kulturbegriff war jedoch nicht unmittelbar möglich. Der semantische Zwischenschritt bestand zunächst darin, das normative Kulturverständnis, das insgeheim von Anfang an auf die Maßstäbe der bürgerlichen Kultur (und zwar auch der Alltagskultur) verwies, in eine deskriptive Identifikation von Kultur und bürgerlicher Hochkultur zu transformieren: Kultur bezieht sich bei Autoren wie T.S. Eliot oder Tenbruck auf jene hochkulturellen Objektivationen, die das bürgerliche Publikum rezipiert, und die von der Massen- oder Volkskultur eindeutig abgrenzbar erscheinen.14 In 13 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. 14 Vgl. T.S. Eliot: Notes Towards the Definition of Culture, London 1948; Friedrich H. Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, Opladen 1990. 24

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

dem Maße, in dem diese eindeutige stratifikatorische Differenzierung kultureller Objektivationen zweifelhaft erscheint, wird der sektorale Kulturbegriff jedoch zunehmend funktionalistisch umgedeutet: Nicht mehr als Ausdruck der Hochkultur werden Kunst und Wissenschaft interpretiert, sondern als ein spezialisiertes soziales System, das zum Bestand der modernen Gesellschaft bestimmte funktionale Leistungen erbringt. Die klassische Formulierung eines solchen differenzierungstheoretischen Kulturkonzepts findet sich in der Soziologie Talcott Parsons’.15 Parsons zufolge stellt das »sozial-kulturelle System« neben Politik, Wirtschaft und der societal community der Familien eines der vier Teilsysteme der modernen Gesellschaft dar, das sich in Gestalt der Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen, auch der künstlerischen Institutionen historisch ausdifferenziert hat und das die Funktion eines Treuhändersystems, eines Treuhänders gesellschaftlicher Symbolisierungen übernimmt. In seiner differenzierungstheoretischen Version verliert der Kulturbegriff damit weitgehend seine – in der normativen und totalitätsorientierten Variante eingeschränkt vorhandene – Konnotation eines Indikators von Kontingenz der Lebensformen und sein Anregungspotenzial zum Vergleich16 von unterschiedlichen Lebensweisen. Der Sprung von einem differenzierungstheoretischen zu einem bedeutungsorientierten Kulturbegriff könnte kaum größer sein. Es ist dieses bedeutungs-, wissens- und symbolorientierte Kulturverständnis, das letztlich den Hintergrund für das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm in den verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte und ihre Kontingenzperspektive liefert. Das Neuartige dieses Kulturbegriffs wird insbesondere deutlich, wenn man ihn mit dem totalitätsorientierten Kulturmodell vergleicht. Wenn letzteres davon ausging, dass es verschiedene Kulturen gibt und damit meinte, dass an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten verschiedenartige Verhaltenskomplexe existieren, so impliziert der bedeutungsorientierte Kulturbegriff ein theoretisches Argument: dass diese Verhaltenskomplexe vor dem Hintergrund von symbolischen Ordnungen, von spezifischen Formen der Weltinterpretation entstehen, reproduziert werden und sich verändern. Diese Sinn- und Unterscheidungssysteme, die keinen bloßen gesellschaftlichen Überbau, sondern in ihrer spezifischen Form einer symbolischen Organisation der Wirklichkeit den notwendigen handlungskonstitutiven Hintergrund aller sozialen Praktiken darstellen, machen die Ebene der Kultur aus – dies ist das sozialkonstruktivistische 15 Vgl. Talcott Parsons/Gerald M. Platt: Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1990, S. 33ff. 16 Vgl. N. Luhmann: »Kultur als historischer Begriff«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 31-54. 25

KULTUR

Argument des bedeutungsorientierten Kulturverständnisses. Ernst Cassirer kann in seiner (allerdings noch universalistisch konnotierten) Kulturphilosophie deren Kerngedanken herausarbeiten, dass die Welt nicht anders erfahren werden kann, als dadurch, dass ihr fortwährend und meist implizit Bedeutungen verliehen werden. Sie ist zwangsläufig »Bedeutungswelt«. Damit gelte, dass »die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung für alles Erfassen von ›Gegenständen‹ oder ›Sachverhalten‹«17 darstellt: Die Welt existiert als Humanwelt nur als bedeutungsvolle, symbolische, alles »Sinnliche nur als Sinnhaftes«. Der theoretische Hintergrund für das bedeutungsorientierte Kulturverständnis und die kulturwissenschaftliche Forschungsprogrammatik findet sich nun in einer Reihe von relativ unabhängig voneinander entstandenen Philosophien und Sozialtheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn hier zentrale theoretische Versatzstücke bis zu den Philosophien des deutschen Idealismus zurückreichen, sind es im Wesentlichen die als Kulturtheorien umschreibbaren theoretischen Modelle des vergangenen Jahrhunderts, die in ihrer intensiven Thematisierung von Sprache, Zeichen, Wissen und Symbolen den Anstoß zum Perspektivenwechsel des Cultural Turns in den Geistes- und Sozialwissenschaften gegeben haben. Vor allem vier kulturtheoretische Diskurse sind hier zu nennen, welche in unterschiedlichsten Versionen in der kulturwissenschaftlichen Programmatik verarbeitet worden sind: die Phänomenologie und Hermeneutik; der Strukturalismus und die Semiotik; der Pragmatismus; schließlich die Sprachspielphilosophie Wittgensteins. Alle vier liefern das Rüstzeug für ein bedeutungsorientiertes, sozialkonstruktivistisches Kulturverständnis, auch wenn der Begriff Kultur dabei teilweise gar nicht mehr an prominenter Stelle verwendet wird.18 Der »interpretative« Diskurs der Phänomenologie nach Husserl setzt zunächst am Bruch mit der natürlichen Einstellung und an der Freilegung der sinnzuschreibenden Leistungen und Sinnhorizonte der Subjekte an, um dann mit der modernen Hermeneutik, wie sie von Heidegger, Gadamer und Ricoeur auf den Weg gebracht worden ist, sein Interesse auf die sinnhaften Verweisungszusammenhänge und historischen Überlieferungszusammenhänge zu verschieben, welche ein »Verstehen« – des alltäglichen »Daseins« wie von Texten – ermöglichen. Der strukturalistisch-semiotische Diskurs setzt mit Saussure bei einer Analyse der immanenten Differenzialität und Arbritrarität sozialer, insbesondere sprachlicher, Zeichensysteme an, die in einem nicht-repräsentationellen 17 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt 1980, S. 31. 18 Vgl. dazu genauer Andreas Reckwitz: Die Tranformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000. 26

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

Verhältnis zur Welt stehen, um sich in der Folge auch nicht-sprachlichen Symbolsystemen zuzuwenden (etwa bei Barthes), diese auf der Ebene der Diskurse (Foucault), der Praxis von Körpern (Bourdieu) oder des Unbewussten (Lacan) zuzurechnen und das Problem der Temporalität dieser Sinnsysteme (Derrida) und ihren einschränkenden Charakter zu thematisieren. In ihrer Wirksamkeit für die kulturwissenschaftliche Forschungspraxis begrenzter sind bisher die Diskurse des Pragmatismus und der Sprachspielphilosophie gewesen: Der amerikanische Pragmatismus bei Peirce, James, Dewey und anderen betreibt eine Transformation der Handlungstheorie in Richtung einer Theorie symbolvermittelter Handlungskoordination und einer Theorie der Semiosis der im Prinzip endlosen interpretativen Zeichenanwendung. Ludwig Wittgenstein formuliert in seinem Spätwerk eine Theorie der »Sprachspiele« als »Lebensformen«, die den praktischen Routinecharakter des im Prinzip immer bodenlosen alltäglichen Verstehens und Wissens thematisiert; diese Sprachspielphilosophie erlangt eine Schlüsselbedeutung für die postanalytische Philosophie von Quine bis Rorty, welche sich unter anderem mit der Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher Vokabulare zueinander und ihrer Übersetzbarkeit beschäftigt. Erst die modernen Kulturtheorien, die sich aus diesen vier verschiedenen theoretischen Quellen speisen, vermögen damit die Implikation der Kontingenz menschlicher Lebensformen, die im Kulturbegriff von Anfang an angelegt war, zu radikalisieren. Entscheidend ist nun die Einsicht, dass sämtliche Komplexe von Praktiken der Vergangenheit und Gegenwart vom archaischen Ritus bis zur modernen Naturwissenschaft erst vor dem Hintergrund der jeweiligen, sehr spezifischen Sinnhorizonten und Bedeutungscodes möglich sind, »normal« und »rational« werden oder gar als notwendig und natürlich erscheinen. Normal, rational, notwendig oder natürlich sind die Praktiken nur im Verhältnis zu ihren spezifischen, kontingenten Sinnsystemen – gleichgültig, ob man diese Sinnsysteme nun als Zeichensysteme, Diskurse, Sinnhorizonte oder Sprachspiele konzeptualisieren mag. Natürlich existiert auch innerhalb des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs noch ein weiteres Mal die Möglichkeit, das Kontingenzverständnis einzuschränken, und zwar über den Weg eines Symboluniversalismus: Man kann auch im Rahmen einer bedeutungsorientierten Kulturtheorie voraussetzen, dass die differenten Sprachspiele von einem universalen, für die gesamte Menschheit geltenden Meta-Sprachspiel überwölbt werden. Eine solche universalistische Kulturtheorie wird im Rahmen des Strukturalismus etwa in Claude LéviStrauss’ Ethnologie vertreten; die Phänomenologie Husserls setzt gleichfalls voraus, dass den historisch differenten Lebenswelten eine überhistorische Lebenswelt zugrunde liegt. Das kulturwissenschaftliche For27

KULTUR

schungsprogramm in Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft lehnt sich jedoch im Wesentlichen nicht an diese universalistischen Versionen an, sondern an das Potenzial eines radikalisierten Kontingenzbegriffs, das in der semiotischen, hermeneutischen, pragmatistischen und sprachspieltheoretischen Tradition enthalten ist. Inwiefern verändert ein solches bedeutungsorientiertes, sozialkonstruktivistisches Kulturverständnis nun jedoch die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungspraxis? Und welchen bisherigen Grundannahmen dieser Disziplinen steht es entgegen?

2. Kultur als Kontingenzperspektive. Modernetheoretische, gegenstandstheoretische und wissenschaftstheoretische Implikationen Die Kontingenzperspektive des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms, das auf dem bedeutungsorientierten Kulturbegriff aufbaut, steht insgesamt in einem kritischen Verhältnis zu bestimmten konzeptuellen Festlegungen traditioneller Soziologie, Ethnologie, Geschichtsund Literaturwissenschaft. Diese disziplinären Basisannahmen haben als Formen der Invisibilisierung von Kontingenz gewirkt, und zwar auf der Ebene einer – expliziten oder impliziten – Theorie der Moderne, der gegenstandstheoretischen Grundbegrifflichkeit und der Wissenschaftstheorie. Alle vier Disziplinen verwenden zwangsläufig derartige modernetheoretische, gegenstandstheoretische und wissenschaftstheoretische Basisvokabulare und in allen Fällen – so wird nun aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive deutlich – wurden Kontingenzen sowohl des jeweiligen Gegenstandes als auch des wissenschaftlichen Verhältnisses zu ihm »unsichtbar« gemacht. Diese begrifflichen Vorgaben zur Einschränkung von Kontingenz dienen letztlich dazu, auf verschiedenen Ebenen Rationalität zu sichern, eine immanente Rationalität des Gegenstandes wie auch eine Rationalität der wissenschaftlichen Analyse: beispielsweise die Rationalität der Moderne im Vergleich zur Vormoderne; die formale Rationalität der sozialen Akteure oder der Binnenstruktur von Texten; schließlich die Rationalität des wissenschaftlichen Beobachters. Im Wesentlichen hat es in den Geistes- und Sozialwissenschaften dabei drei Formen gegeben, um durch begriffliche Vorgaben kulturelle Kontingenz unsichtbar zu machen: den Naturalismus, den Universalismus/Formalismus und die Geschichtsphilosophie. Der Naturalismus kann bestimmte Phänomene – und nicht selten gerade die fundamentalen 28

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

menschlichen Antriebe und Strukturen – dem Kontingenzspiel des Kulturellen dadurch als entzogen betrachtet, dass er sie als »natürlich«, dem Menschen als biologischem Wesen zukommend interpretiert. Der Universalismus geht davon aus, dass – jenseits von Aussagen über die Natur – auf der Ebene der Gesellschaft und Kultur, den normativen, symbolischen und systemischen Ordnungen, allgemeine, für alle Menschen oder Lebensformen geltende Strukturen existieren. Ein Spezialfall des Universalismus ist der Formalismus: Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt, wird hier vorausgesetzt, dass auf der Ebene der »Inhalte« kulturelle Variationen existieren mögen, dass jedoch die »formalen Strukturen«, die diesen inhaltlichen Differenzen vorausliegen sollen, allgemeiner, kulturübergreifender Art sind. Das Vokabular der Geschichtsphilosophie setzt demgegenüber voraus, dass zwar kulturelle oder soziale Differenzen existieren, dass diese Formationen jedoch in der historischen Entwicklung im Prinzip einer Fortschrittssequenz folgen und jede Praxis im Rahmen dieser Sequenz seinen Platz hat. Die beiden sozialwissenschaftlichen Disziplinen der Soziologie und Ethnologie sowie die beiden geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Geschichts- und Literaturwissenschaft, die sowohl für die bisherigen Humanwissenschaften als auch für das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm ein disziplinäres Kernquarré bilden, haben in ihren traditionellen Forschungsprogrammen auf unterschiedlichen Wegen begriffliche Vorannahmen getroffen, die eine Marginalisierung der Kontingenzwirkung von Kultur bewirkten. Das kulturwissenschaftliche Programm führt in allen vier Fällen dazu, dass diese Festlegungen zweifelhaft werden: Für die Soziologie von Comte, Spencer und Marx bis zu aktuellen Versionen der Modernisierungs- und Differenzierungstheorie ist auf der Ebene der Theorie der Moderne die strikte Unterscheidung zwischen moderner Gesellschaft und traditionaler Gesellschaft disziplinenkonstitutiv gewesen. Um ihre Identität als Wissenschaft der Moderne zu erlangen, bedarf die Soziologie der strikten Differentsetzung zu sogenannten traditionalen, vormodernen Formen der Sozialität. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gesellschaftstypen ist regelmäßig mit der Zuschreibung einer besonderen Form von Rationalität gegenüber dem modernen Gesellschaftstypus verbunden (formale Rationalität, kommunikative Rationalität, ökonomisch-technologische Effizienz, Reflexivität der Individuen, politisch-rechtliche Verfahrensrationalität). Im Rahmen der Modernisierungstheorien wird die Entwicklung von der traditionalen zur modernen Gesellschaftsform dabei als ein unilinearer, allgemeingültiger Entwicklungspfad konzeptualisiert. Analysen aus dem Kontext des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms haben den Dualismus von moderner und traditiona29

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ler Sozialität zunehmend fragil werden lassen. Auch in den modernen Gesellschaften lassen sich Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsformen von grundlegender Bedeutung auffinden, die Gemeinsamkeiten mit denen traditionaler Gesellschaften aufweisen – von kollektiven Identiäten über Rituale bis zu neuen Tribalismen und Religionen. Andererseits scheint aber auch die Modernität der modernen Vergesellschaftungen nicht einem einheitlichen allgemeinen Muster zu folgen: So erscheint das, was einmal als typisch modern und als Endpunkt des Pfades der Modernisierungstheorien galt, im Zeichen von Analysen hochmoderner Sozialitäts- und Subjektformen zunehmend als historisch-kulturell spezifische Besonderheit. Im Zuge der Analyse kultureller Mikroprozesse sind zudem die Annahmen bezüglich vorgeblich typisch moderner institutioneller Rationalität relativiert worden, wofür die Untersuchungen nur sehr begrenzt rationaler organisationeller Binnenlo-giken im Kontext der organizational studies und science studies die besten Beispiele liefern. Schließlich ist in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zunehmend die kulturelle Voraussetzungshaftigkeit vieler modernisierungstheoretisch scheinbar zwingender oder gar natürlicher Strukturen der Moderne herausgearbeitet worden: die sehr speziellen symbolischen Bedingungen des modernen Verständnisses von Politik und der Marktökonomie, aber auch die des modernen Geschlechterverhältnisses, der modernen Affektstrukturen, der Formen des Körpers oder des Umgangs mit technischen Artefakten. Dabei wird – gerade im Rahmen von kulturvergleichenden Studien – zunehmend deutlich, dass man statt eines universalen Entwicklungspfades multiple modernities (S. N. Eisenstadt), unterschiedliche kulturelle Transformationsprozesse in der Moderne annehmen muss. Auch die gegenstandstheoretische Grundbegrifflichkeit der soziologisch relevanten Sozialtheorien hat in der Geschichte der Disziplin regelmäßig dazu geführt, dass die Kontingenz sozial-kultureller Praktiken und ihres Sinnhintergrundes marginalisiert worden ist. Zwar ist der Soziologie das kulturwissenschaftliche Vokabular niemals völlig fremd gewesen – man denke an Max Weber oder den symbolischen Interaktionismus –, aber einflussreiche Sozialtheorien haben die Sichtweise befördert, dass der Sozialwelt letztlich vorkulturelle beziehungsweise formale Strukturen zugrunde liegen. Dies gilt für das auch über den Marxismus hinaus wirkungsmächtige Schema von Basis und Überbau ebenso wie für die »formale Soziologie« (Simmel), die in der structural sociology (P. Blau) weitergeführt worden ist, sowie für das Erklärungsmodell des Funktionalismus. Während in diesen Fällen die eigentlich relevanten sozialen Strukturen als nicht-sinnhafte Muster verstanden werden, geht die Kontingenzeinschränkung in den rationalistischen Handlungsmodel30

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

len des Homo oeconomicus und Homo sociologicus einen anderen Weg. Diesen Vokabularen zufolge ist menschliches Handeln zwar durchaus als sinnhaft zu verstehen, jedoch wird dem Konzept des Sinns im Rahmen eines Rationalmodells des Handelns ein eingeschränkter Stellenwert jenseits des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs zugeschrieben. Handelnde erscheinen hier entweder als interessensorientierte, nutzenkalkulierende Individuen oder als norm- und rollenfolgende Akteure. Dieser Suche nach einem soliden Fundament der Handlungserklärungen in vorsinnhaften Strukturen oder rationalistischen Handlungsmodellen stehen die kulturtheoretischen Ansätze in der Soziologie – von Bourdieu bis zur Ethnomethodologie – entgegen, indem sie die kontingenten symbolischen Ordnungen und Wissensbestände als konstitutive Voraussetzungen sozialer Praktiken ans Tageslicht bringen, vor deren Hintergrund bestimmte Interessen erst definiert und Normen normal erscheinen, vor deren Hintergrund etwaige Nutzenkalküle und Rollenkonformität erst als kultureller Standard für Akteurskompetenz gelten können. Schließlich stellt das kulturwissenschaftliche Programm auch bestimmte in der Soziologie weit verbreitete Grundannahmen bezüglich des epistemologischen Status des eigenen wissenschaftlichen Handelns in Frage. Die Soziologie hat in der Vergangenheit wesentlich stärker als etwa die Ethnologie und Geschichtswissenschaft Sympathien für Neuraths Programm einer Einheitswissenschaft gehegt, das heißt für eine Position, die von einer identischen wissenschaftstheoretischen Grundstruktur für Natur- und Humanwissenschaften ausgeht. Gleichzeitig hat das soziologische Erkenntnisinteresse in der Gründungsphase (Mitte des 19. Jahrhunderts) wie in der Institutionalisierungsphase (1950 bis 70er Jahre) der Disziplin in geradezu prototypischer Form dem entsprochen, was Zygmunt Bauman als die Haltung der legislator (gegenüber dem interpreter) umschrieben hat:19 ein reformistisches Interesse an gesellschaftlicher Steuerung. Diese Kombination von einheitswissenschaftlichem und steuerungspragmatischem Interesse hat in der Soziologie »realistische« Wissenschafts- und Erkenntnisinteressen zur Verbreitung verholfen, zu denen das kulturwissenschaftliche Programm, etwa in der soziologischen Hermeneutik oder im systemtheoretischen Konstruktivismus, auf wissenschaftskritische Distanz geht. Die post-empiristischen Wissenschaftstheorien lassen die Theorien und Methoden der Sozialwissenschaftler als kulturell spezifische Vokabulare und Techniken erscheinen – und gerade die Wissenschaftssoziologie hat in ihren Analysen der Praktiken und Diskurse des Wissenschaftsalltags die Einsicht in die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gefördert. 19 Zygmunt Bauman: Legislators and Interpreters, Cambridge 1987. 31

KULTUR

Auch in der Ethnologie haben die Vertreter des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms grundsätzliche Kritik an bestimmten Vorannahmen der Fachtradition vorgebracht.20 Wenn die Soziologie sich in ihrem Selbstverständnis von vornherein als Disziplin der Moderne definiert hat, dann hat die Ethnologie im Feld der Humanwissenschaften seit ihrer Entstehung insbesondere in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewissermaßen die Komplementärposition übernommen: die einer Wissenschaft des Vorund Nicht-Modernen, der schriftlosen und im Lévi-Strauss’schen Sinne kalten, scheinbar ahistorischen Gesellschaften und Kulturen. Im Sinne einer strikten Unterscheidung zwischen dem Eigenen – der westlichen Kultur, die aber immer im Rücken des Beobachters bleibt – und dem Fremden, das heißt dem in einem emphatischen und radikalen Sinne Anderen (im Unterschied etwa zur Antike oder zum Mittelalter, die zwar auch nicht-modern, aber doch als hochkulturelle Vorgängerinnen der Moderne erscheinen), ist die Differenz zwischen traditionalen und modernen Sozialitätsformen auch für die Ethnologie konstitutiv.21 Auf sozialtheoretischer Ebene ist die klassische Ethnologie im Vergleich zur Soziologie auf den ersten Blick deutlich offener für den Kulturbegriff – ja, die Ethnologie definierte sich zu großen Teilen als Kulturanthropologie: Es bestand eine gewisse Arbeitsteilung darin, die »fremden«, nicht-modernen Sozialitäten von außen als einzelne »Kulturen« analysieren zu können, während die »eigenen« Sozialitätsformen in der Soziologie nicht als Kulturen, sondern als soziale Strukturen interpretiert wurden. Diese Kulturanthropologie beruhte jedoch vor dem Cul-

20 Vgl. beispielhaft Clifford Geertz: »Deep play: Notes on the Balinese cockfight«, in: ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, London 1993, S. 412-453; James Clifford/George E. Marcus (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley 1986; James Clifford: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge (Mass.) 1988. 21 Der impliziten These der grundsätzlichen strukturellen Andersartigkeit der »primitiven« schriftlosen Kulturen der Nicht-Moderne gegenüber der »eigenen« modernen Zivilisation steht in der ethnologischen Tradition ein anderes modernetheoretisches Muster nur scheinbar gegenüber: an die Stelle des Primitivismus und Exotismus tritt hier genau umgekehrt der kulturelle Universalismus. Dieser Universalismus, etwa in Durkheims »Formen des religiösen Lebens« und bei Lévi-Strauss, geht davon aus, dass in den schriftlosen und den westlichen Kulturen in der »Tiefenstruktur« dieselben Codes und Normen gelten. Während der Primitivismus die radikale Verschiedenartigkeit von nicht-westlichen und westlichen Kulturen voraussetzt und damit etwaige Gemeinsamkeiten aus dem Blick geraten lässt, setzt der Universalismus die basale Gleichartigkeit voraus und entschärft damit mögliche Differenzen. 32

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

tural Turn der 1970er Jahre größtenteils auf jenem vorkonstruktivistischen totalitätsorientierten Kulturbegriff, der zwar immer auch auf ideelle Elemente verwies, aber Kultur letztlich als ganze Lebensform verstand, die an eine Gemeinschaft gebunden bleibt.22 Neben einer solchen Version des Kulturalismus hat die Ethnologie jedoch vor allem auch eine Reihe dezidiert nicht-kulturalistischer Vokabulare als sozialtheoretischen Hintergrund ihrer Forschungen gewählt. Hier ist vor allem der an ausdrücklich nicht-symbolischen, sozialen Strukturen orientierte Zweig zu nennen,23 der die Sozialanthropologie gegen die Kulturanthropologie in Stellung brachte, hier sind aber auch evolutionistische sowie funktionalistische Sozialtheorien einzuordnen.24 Mit diesen funktionalistischen, sozialstrukturellen oder totalitätskulturalistischen Sozialtheorien ist jedoch, so die Kritik der Kulturwissenschaftler, regelmäßig auf wissenschaftstheoretischer und methodologischer Ebene die Voraussetzung des ethnologischen Feldforschers als eines anthropological hero (Stocking) verknüpft gewesen: als ein unbeobachteter Beobachter, der über den Weg des Eintauchens ins Feld ein wirklichkeitsgetreues Abbild des »Fremden« zu geben vermag. Die kulturwissenschaftlich gewendete Ethnologie hat nun die disziplinenkonstitutive Differenz zwischen dem Fremden/Anderen und dem Eigenen problematisiert und unter Druck gesetzt. Zum einen hat die Kontingenzperspektive auf wissenschaftstheoretischer Ebene eine Krise der ethnologischen Repräsentation bewirkt: Die unausweichlichen und nicht selten durch die westliche Herkunftskultur geprägten, begrifflichen und methodischen Voraussetzungen sowohl der ethnographischen Feldforschung als auch der Praxis ethnologischer Textproduktion und der dort hergestellten Bilder des Fremden sind insbesondere im Kontext der writing culture- und Postkolonialismus-Debatte herausgearbeitet worden. Auf sozialtheoretischer Ebene haben bedeutungsorientierte Kulturtheorien, von denen die symbolistic anthropology von Clifford Geertz die wirkungsmächtigste darstellt, dazu geführt, dass sich der Blick von den Gebräuchen und sozialen Strukturen auf die dahinter befindlichen Wirklichkeitsmodelle und interpretativen Leistungen richtet. Schließlich ist auf modernetheoretischer Ebene die strikte Differenz zwischen westli-

22 So definiert etwa Franz Boas: »Culture embraces all the manifestations of social habits of a community.« (Ders.: »Anthropology«, in: Edwin R. A. Seligman (Hg.), Encyclopaedia of the Social Sciences, New York 1930, Bd. 2, S. 79) und Margaret Mead: »Culture means the whole complex of traditional behavior.« (Dies.: Cooperation and Competition among Primitive Peoples, New York 1937, S. 17). 23 Vgl. die Arbeiten von John Radcliffe-Brown und E. E. Evans-Pritchard. 24 Vgl. etwa B. Malinowski und L. White. 33

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chen und nicht-westlichen Gesellschaften/Kulturen unterminiert worden, was zu einer Neustrukturierung des ethnologischen Forschungsgegenstandes geführt hat. Insbesondere unter den Bedingungen kultureller Globalisierung lässt sich die strikte Grenzziehung zwischen dem Westen und seinem Anderen in asiatischen oder afrikanischen Kulturen nicht mehr aufrechterhalten. Die Kulturen außerhalb Europas oder Nordamerikas erscheinen so wie dieser vorgebliche westliche Kern selbst als komplexe Überlagerung verschiedener symbolischer Ordnungen, so dass schließlich auch die westlichen Kulturen zum Gegenstand des nun bewusst verfremdenden Blicks ethnologischer Forschung werden können. Wenn die klassische Ethnologie auf eine Analyse des Anderen der Moderne in den nicht-westlichen Kulturen abzielt, so richtet sich die Geschichtswissenschaft in erster Linie auf die westliche Vorgeschichte dieser modernen Gegenwart. Kennzeichnend für die moderne Geschichtswissenschaft, die sich zunächst im Kontext der Aufklärungsphilosophie und der Romantik ausbildet, sich im Rahmen des Historismus des 19. Jahrhunderts professionalisiert und im 20. Jahrhundert in nationalspezifisch verschiedener Weise mit sozialwissenschaftlichen Theorieprogrammen vom Historischen Materialismus bis zur Modernisierungstheorie in Berührung kommt, ist jedoch, diese Geschichte der Moderne größtenteils als Vor-Geschichte auf dem Weg zur Moderne zu deuten, als eine kontinuierliche Sequenz von Etappen, die in die Gegenwart einmündet. Diese modernetheoretische Denkfigur einer kontinuierlichen Entwicklung findet sich in der liberalen (Wiggish) Geschichtsschreibung aus der Tradition der Aufklärung, die Geschichte als empirische Demonstrationsfläche der sich entfaltenden Vernunft deutet, in anderer Form aber auch im aufklärungsskeptischen Historismus, für die nun die Entwicklung der jeweiligen »individuellen« Nation beziehungsweise der fortlaufende Konflikt der Nationen die narrative Linie der Geschichte bildet, und schließlich in den sozialwissenschaftlichen Theorieimporten des Historischen Materialismus und der historisch angewandten Modernisierungstheorien. Dieses implizierte Moderneverständnis der Geschichtswissenschaft bildet die Zielscheibe der Kritik von Seiten der Historischen Kulturwissenschaft, Historischen Anthropologie und new cultural history:25 Indem Historiker eine Kontinuität historischer Entwicklung bis zur Gegenwart voraussetzten und insofern verschiedenen Versionen einer großen Erzählung folgten, war die Geschichtswissenschaft gerade keine Disziplin historischer Kontingenzen, 25 Vgl. beispielhaft Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in 19th Century Europe, Baltimore 1973; Jacques LeGoff u.a.: La nouvelle histoire, Paris 1978; Lynn Hunt (Hg.): The New Cultural History, Berkeley 1989. 34

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

sondern eine Disziplin der Konstatierung von ex post-Notwendigkeiten. Das kulturwissenschaftliche Programm in der Geschichtswissenschaft zielt dann umgekehrt darauf ab, zu demonstrieren, wie an bestimmten Punkten in der Geschichte erst sehr spezifische kulturelle Praktiken und Diskurse nachfolgende Entwicklungen ermöglicht und erzwungen haben. Historische Kontingenz wird demonstriert, indem die historische Spezifizität (und möglicherweise auch Befremdlichkeit) von symbolischen Ordnungen und Praktiken aufgezeigt wird, deren Konsequenzen in eine scheinbar allgemeingültige Struktur der Moderne mündeten. Somit können auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der kulturellen Entwicklung und das historische Potenzial anderer Möglichkeiten im Sinne nicht ausgeschöpfter kultureller Bedeutungsressourcen sichtbar gemacht werden. Während die klassischen Erzählungen der Geschichtswissenschaft damit die verstehbare Kontinuität des Historischen voraussetzten, werden aus kulturhistorischer Perspektive damit die historischen Diskontinuitäten wahrnehmbar. Dieser modernetheoretische Perspektivenwechsel ist mit entsprechenden gegenstandstheoretischen und wissenschaftstheoretischen Verschiebungen aufs engste verknüpft: In ihrer heuristischen Grundbegrifflichkeit steht die durch die Kulturtheorien informierte neue Kulturgeschichte der Politikgeschichte, die vor allem mit intentionalen Akteuren (individueller oder auch kollektiver Art) hantierte, und der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, deren Leitbegriffe die der Institutionen und sozialen Klassen sind, entgegen. Wissenschaftstheoretisch schließlich bringt die Kulturgeschichte ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein gegenüber der begrifflichen und methodischen Kontextabhängigkeit der historischen Forschung, damit für Fragen der Darstellung und Repräsentation von Geschichte auf den Weg: Dem »Positivismus der Geisteswissenschaft« (Habermas) des klassischen Historismus und dem Positivismus der Sozialwissenschaften wird nun mit einem selbstreflexiven Blick auf die Begriffsabhängigkeit und Narrativität der historiographischen Perspektive geantwortet – und letztlich hat insbesondere die neue Wissenschaftsgeschichte dazu beigetragen, für die Geistes- und Sozial- wie für die Naturwissenschaften eine historisch-kulturelle Kontextualisierung wissenschaftlicher Paradigmen zu betreiben. Auch in der Literaturwissenschaft hat der Cultural Turn dazu geführt, dass diziplinenkonstitutive Unterscheidungen, die die immanente Rationalität des Gegenstandes wie auch die Rationalität des wissenschaftlichen Handelns sichern sollten, unter Druck geraten sind.26 Kons26 Vgl. beispielhaft Harold Bloom u.a.: Deconstruction & Criticism, New York 1979, Stephen Greenblatt/Giles Gunn (Hg.): Redrawing the Bounda35

KULTUR

titutiv für die moderne Literaturwissenschaft und Zielscheibe der kulturwissenschaftlichen Kritik ist vor allem die Unterscheidung zwischen Text und Kontext. Die moderne Literaturwissenschaft, die im Zusammenhang von Romantik und Historismus im 19. Jahrhundert zunächst durchgreifend historisiert wird, um dann im 20. Jahrhundert eine zunehmende strukturale Systematisierung ihre Gegenstandes zu betreiben (new criticism, strukturale Analyse, werkimmanente Interpretation), versteht sich als eine Wissenschaft von Texten, und zwar in erster Linie von ästhetischen Texten, denen die Merkmale der Literarizität beziehungsweise Poetizität zukommt. Die gegenstandstheoretische Grundbegrifflichkeit der Literaturtheorie kreiste in der klassischen Hermeneutik zunächst um das Expressionsverhältnis zwischen Text und Autor, um sich im Kontext der systematischen Textanalyse zunehmend auf die Binnenstrukturen und -logiken von Texten zu richten. Die kulturwissenschaftlichen Ansätze von der Rezeptionsästhetik und einer radikalisierten Hermeneutik über die Dekonstruktion bis zum new historicism haben diese Grundannahmen als latent kontingenzinvisibilisierend kritisiert. Zum einen scheint die Annahme einer Sicherung der Textbedeutung durch die Intentionen des Autors beziehungsweise durch eine objektiv-autonome Binnenstruktur des Textes, die eine Abschließung des Textes von nichttextuellen Kontexten (beziehungsweise anderen Texten) ermöglichen sollen, zweifelhaft. Statt dessen kann man die Position vertreten, dass die Bedeutung von Texten von den Bedeutungszuschreibungen, das heißt Interpretationen, der Leser, Interpreten und Rezipienten, mithin von ihrem sozial-kulturellen Gebrauch in bestimmten historischen Kontexten sowie von den instabilen semiotischen Verweisen zwischen dem jeweiligen Text und anderen kulturell relevanten Texten und Diskursen abhängt. Zum anderen erscheint die Begrenzung von Literatur auf Texte ästhetischer Literarizität und ihre Abgrenzung vom Nicht-Literarischen fragil. Der Textbegriff lässt sich stattdessen auch auf nicht-fiktionale Texte sowie schließlich auf alle zeichentragenden Medien (etwa auch audiovisuelle Medien) ausdehnen. Die Neudefinition des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes hat dabei tiefgreifende wissenschaftstheoretische wie modernetheoretische Konsequenzen: Wissenschaftstheoretisch erscheint im Zeichen der radikalen Hermeneutik und des Poststrukturalismus die Möglichkeit der Feststellung eines objektiven Textsinns durch den Interpreten – sei es auf dem Wege einer Nachempfindungshermeneutik oder einer »textim-

ries. The Transformation of English and American Literary Studies, New York 1992; Frank Lentricchia/Thomas McLaughlin (Hg.): Critical Terms for Literary Study, Chicago 1995. 36

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

manenten« Analyse – unterminiert. Modernetheoretisch hatte die Literaturwissenschaft zum Teil mehr implizit als explizit zwei Grundpositionen vertreten: Die eine begriff Literatur als eine hochkulturelle Selbstkommentierung der Moderne, die individuelle oder kollektive »Bildung« ermöglichen sollte; die andere verstand Literatur in der Moderne als ein autonomes System von Texten, im Prinzip separiert von anderen gesellschaftlichen Sphären. Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft hingegen versteht literarische und nicht-literarische Texte als modernespezifische Medien einer diskursiven Produktion und Veränderung kultureller Codes. Paradigmatisch erscheinen hier der new historicism und die Medienwissenschaft: Der new historicism 27 rekonstruiert, wie in bestimmten historischen und sozialen Kontexten Texte bestimmte gesellschaftliche Sinnoptionen transportieren und andere ausschließen. Die Medienwissenschaft arbeitet heraus, wie die modernespezifischen Medien bestimmte Wahrnehmungsweisen präformieren und eröffnen (wobei dabei auch die Grenze zwischen Hochkultur und Populärkultur überschritten wird). Die kulturwissenschaftliche gewendete Literaturwissenschaft überschneidet sich damit anders als die klassische Textwissenschaft in ihren Fragestellungen mit denen von Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie. Die Perspektive der Kultur im kulturwissenschaftlichen Programm enthält auf diese Weise in allen Disziplinen eine kritische wie eine konstruktive Seite. Kritisch wendet sie sich gegen jene rationalitätsverbürgenden Invisibilisierungen von Kontingenz in den Grundbegrifflichkeiten der modernen Geistes- und Sozialwissenschaft: gegen die scheinbare Eindeutigkeit der Unterscheidungen zwischen moderner und traditionaler Gesellschaft in der Soziologie, zwischen dem Eigenen und dem Fremden in der Ethnologie, dem Kontinuierlichen und dem Diskontinuierlichen in der Geschichtswissenschaft sowie zwischen Text und Kontext in der Literaturwissenschaft. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene wurde zur Rationalitätssicherung in allen vier Disziplinen die Denkfigur des reinen, unbeobachteten Beobachters eingeführt und auf die vorgeblich kontextneutralen Methoden der wissenschaftlichen Praxis verwiesen, die den Status von wissenschaftlichen Aussagen als nicht-kontingente, akulturelle und erfahrungsdeterminierte Produkte garantieren sollten. Auf gegenstandstheoretischer Ebene sollte die immanente Rationalität des jeweiligen Forschungsobjekts über Vokabulare abgesichert werden, die den Gegenstand auf der Ebene formaler, akultureller Strukturen oder Handlungsmuster verorten (Basis/Überbau, strukturale Soziologie und strukturale Ethnologie, Homo oeconomicus, Homo sociologicus, 27 Vgl. S. Greenblatt/G. Gunn (Hg.): Redrawing the Boundaries. 37

KULTUR

Funktionalismus, symbolischer Universalismus, formaler Textstrukturalismus). Auf modernetheoretischer Ebene schließlich ist es die Gegenüberstellung zwischen der Moderne und nicht-modernen Formationen – welche entweder als arational oder als Etappen zur Moderne interpretiert werden –, die der Demonstration moderner Rationalität dienen sollte. In der kritischen Abgrenzung von diesen begrifflichen Vorannahmen gewinnt das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm sein Profil: Wissenschaftstheoretisch geht es nun darum, die symbolischen Ordnungen und kulturellen Praktiken, aus denen sich die historisch-spezifischen wissenschaftlichen Tätigkeiten zusammensetzen, reflexiv in den Blick zu nehmen und forschungspraktische Konsequenzen aus den postempiristischen Wissenschaftstheorien zu ziehen. Modernetheoretisch gilt das Interesse den sehr spezifischen historisch-kulturellen Kontexten, in denen scheinbar notwendige moderne Strukturentscheidungen ihren kontingenten Anfang nehmen, sowie den alternativen Codes und Praktiken der Gegenwart und Vergangenheit, die die Existenz von multiple modernities demonstrieren. Gegenstandstheoretisch schließlich kommen jene Sozialtheorien zum Einsatz, die man unter der Überschrift der Kulturtheorien zusammenfassen kann. Die Verschiedenartigkeit dieser Kulturtheorien hat jedoch für die Fragerichtung der kulturwissenschaftlichen Forschungspraxis erhebliche Auswirkungen, die abschließend angedeutet werden sollen.

3. Optionen der Kulturtheorien: Kultur als Strukturen oder als interpretative Leistungen – Kultur als Diskurse oder als soziale Praktiken Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff, welcher der kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammatik die Richtung weist, wird in den Kulturtheorien verarbeitet und systematisch weitergeführt. Diese unterscheiden sich im Aufbau ihres Vokabulars und damit in ihren forschungspraktischen Anschlussmöglichkeiten deutlich voneinander. Das bedeutungsorientierte Kulturverständnis unterstützt zwar generell ein Vokabular, das von der symbolischen Konstituiertheit menschlicher Handlungsformen ausgeht – was darunter jedoch genau zu verstehen ist, bleibt zwischen den verschiedenen Ansätzen der Kulturtheorien, die sich insbesondere im Gefolge von Semiotik, Strukturalismus, Phänomenologie, Hermeneutik, Pragmatismus und Sprachspielphilosophie ausgebildet haben, strittig. Die kulturwissenschaftliche Forschungspraxis greift, ob in expliziter oder in impliziter Form, auf diese Kulturtheorien zurück. 38

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

Mit der Form der Kulturtheorien verändert sich jedoch die Ausrichtung des kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresses. Insbesondere unter zwei zentralen Gesichtspunkten liefern die Kulturtheorien unterschiedliche forschungspraktische Optionen und in beiden Fällen ist wiederum das Verständnis dessen strittig, was Kultur ausmacht: Die eine Frage lautet, ob Kultur grundsätzlich als eine Konfiguration von übersubjektiven symbolischen Strukturen oder als ein Ergebnis interpretativer Leistungen der Individuen zu verstehen ist. Die zweite Frage lautet, ob Kultur in erster Linie auf der Ebene von Diskursen (oder Texten oder Symbolsequenzen) oder auf der Ebene (körperlich verankerter) routinisierter sozialer Praktiken situiert werden soll.28 Die strukturalistisch-semiotische und die interpretative, phänomenologisch-hermeneutische Theorietradition bilden die beiden einflussreichsten Stränge kulturalistischer Theoriebildung im 20. Jahrhundert. Idealtypisch exemplifizieren diese beiden Theorieschulen – zumindest in ihren klassischen Anfangsversionen – einerseits ein Verständnis von Kultur als symbolische Strukturen, andererseits ein Verständnis von Kultur als Produkt subjektiver Interpretationsleistungen. Im Rahmen des strukturalistisch-semiotischen Vokabulars, welches eine für das kulturwissenschaftliche Denken klassische Form in der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss gefunden hat,29 werden symbolische Ordnungen als unüberschreitbare Voraussetzungen, als Bedingungen verstanden, die vorgeben, welche Ereignisse, welche Formen des Subjekts, welche Handlungs- und Diskurspraktiken möglich sind: sie erscheinen als Sinnmuster, die den Möglichkeitsspielraum von Sinnzuschreibungen in einzelnen Situationen durch die einzelnen Individuen bestimmen. Als Strukturen können die symbolischen Ordnungen eine historisch-spezifisch distinkte Form besitzen, aber im Zeitraum ihrer historischen Wirksamkeit stellen sie bestimmte Unterscheidungsmuster auf Dauer – ein Konzept, das Foucaults Modell historischer Episteme ebenso zugrunde liegt wie der Konzeption von Mentalitäten in der long durée im Rahmen der Annales-Historiographie. Leitend für das strukturalistische Vokabular ist die Position, dass die klassischmodernen Konzeptualisierungen des »Subjekts« dessen Wirkungsmöglichkeiten – in Form eines autonomen Akteurs, eines Stifters von Bedeutungen etc. – regelmäßig überschätzt haben. Dem stellt das strukturalistische Kulturkonzept eine Minimierung des Subjektiven entgegen, welches nun im Wesentlichen als Produkt oder Exekutor kultureller Strukturen erscheint. Das Verständnis von Kultur als Konstellation von symboli-

28 Vgl. auch Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000. 29 Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a.M. 1991. 39

KULTUR

schen Strukturen ist dabei mit einer einflussreichen Neuprofilierung des Begriffs der Macht verknüpft: Macht existiert nicht außerhalb der Kultur, die Kultur ist keine Sphäre »weicher« Faktoren, die machtlos blieben. Im Gegenteil sind die symbolischen Codes der Ort, an dem Macht ihre subtilste Wirkung entfalten kann: durch die symbolischen Codes wird eingeschränkt, was überhaupt denkbar, sagbar, wünschbar ist. Gleichzeitig entfaltet die Macht der symbolischen Codes eine produktive Qualität: sie limitiert nicht nur, sondern bringt auch bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen hervor.30 Im Unterschied zum strukturalistischen Denken setzt die phänomenologisch-hermeneutische, interpretative Tradition in ihrem Verständnis von Kultur als symbolische Ordnungen an den Verstehensleistungen der Individuen an. Kultur ist hier etwas, was allein in den Zuschreibungen von Sinn und Bedeutungen durch den Einzelnen in bestimmten Situationen gegenüber bestimmten Gegenständen existieren kann – Sinn ist im phänomenologischen Kontext immer als intentional, als Sinn »von etwas« zu begreifen: ein Sinn, mit dem Individuen sich die Welt als ihre Welt verstehbar und handhabbar machen. Konsequenterweise wird im interpretativen Kontext der situative und der intersubjektive Charakter von Sinnzuschreibungen betont: Interpretationen erscheinen hier als Ergebnis von »interpretative work«,31 das vom einzelnen Akteur im Angesicht einer häufig überkomplexen oder mehrdeutigen Situation oder von mehreren Akteuren in der Sequenz einer Bedeutungsaushandlung vollzogen wird. Im Unterschied zum strukturalistischen vertritt ein derartiges interpretatives Kulturverständnis, das in der soziologischen Ethnomethodologie ebenso wie in der Rezeptionsästhetik und der Alltags- und Mikrogeschichte zum Einsatz kommt, die Position, dass in klassischmodernen Theorien der Status des Subjekts nicht über-, sondern umgekehrt systematisch unterschätzt, auf einen bloßen subjektiven Faktor individueller Vorstellungen reduziert worden ist. Demgegenüber betreibt eine interpretative Kulturwissenschaft gerade eine Rehabilitierung der subjektiven Verstehensleistungen als unhintergehbarer Hintergrund allen Handelns: sie stärkt den Stellenwert der interpretierenden Akteure gegenüber den übersubjektiven Strukturen. Auf diese Weise treten im interpretativen Kulturverständnis auch die Bedeutungsinstabilitäten und situativen Transformationsmöglichkeiten der Kultur in den Vordergrund. Die Konzeptualisierungen von Kultur als Struktur und von Kultur als Produkt subjektiver Interpretationsleistungen stellen sich beide als für die kulturwissenschaftliche Forschungspraxis einflussreich dar und 30 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991. 31 Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984. 40

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

sind beide mit komplementären heuristischen Vorzügen und Nachteilen verknüpft. Die strukturalistische Perspektive ermöglicht ein Verständnis kultureller Reproduktion, eine Analyse der Mechanismen, in denen symbolische Ordnungen auf Dauer gestellt werden und sie räumliche wie zeitliche Grenzen transzendieren. Kultur wird hier als eine Makrostruktur sichtbar, die Sinnoptionen einschränkt. Auf der anderen Seite besteht das Problem einer derartigen kulturalistischen top down-Perspektive darin, dass sie kulturelle Transformationen und situative Destabilisierungen nur mit Mühe verständlich zu machen vermag und sie die Prozesse, in denen individuelle oder kollektive Akteure routinisiert, innovativ oder konflikthaft Interpretationsleistungen vollziehen, zugunsten der strukturellen Voraussetzungen und Ergebnisse dieser Prozesse einklammert. Umgekehrt vermag die interpretative bottom up-Perspektive einen theoretischen Hintergrund für die Analyse dieser situationsspezifischen Mikroprozesse zu liefern, tut sich jedoch schwer mit einer Analyse der übersubjektiven und bestimmte Kontexte transzendierenden kulturellen Reproduktionen. Zunehmend sind jedoch kulturtheoretische Synthesemodelle erarbeitet worden, die den Antagonismus von »Kultur als Struktur« und »Kultur als Interpretationsleistung« als überwindbar erscheinen lassen.32 Gefragt ist hier ein structure and agency-link für die Kulturtheorien, der kulturelle Reproduktion und kulturelle Innovation gleichermaßen verständlich macht und den Dualismus zwischen kulturellen Strukturen und interpretierenden Akteuren hinter sich lässt. Neben der Frage nach der strukturellen oder subjektiven Qualität von Kultur, aber davon nicht unberührt erscheint für die kulturwissenschaftliche Forschungspraxis eine zweite grundsätzliche Begriffsentscheidung auf der Ebene der Kulturtheorien folgenreich: Die Frage, was als »Ort« von Kultur auszumachen ist. Sind die symbolischen Ordnungen der Kultur auf einer »geistigen«, mentalen Ebene zu verorten, bewegen sie sich auf der Ebene von Diskursen oder auf der von sozialen Praktiken? In der kulturtheoretischen Diskussion stehen sich entsprechend mentalistische, textualistische und praxeologische Theorievokabulare gegenüber, wobei für die gegenwärtige Diskussion vor allem die beiden letzteren von Relevanz sind. Die frühen Versionen der modernen Kulturtheorien im klassischen Strukturalismus und in der klassischen Sozialphänomenologie waren der 32 Vgl. Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London 1979; Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987; Jeffrey C. Alexander u.a. (Hg.): The Micro-Macro-Link, Berkeley u.a. 1987; Theodore Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996. 41

KULTUR

Tendenz nach mentalistisch ausgerichtet: Kultur erscheint hier als eine Eigenschaft des Geistes. In der klassisch-strukturalistischen Zeichenund Kulturtheorie werden symbolische Codes als Eigenschaften einem mentalen Unbewussten zugerechnet, als »produit social dans le cerveau de chacun«.33 Im Bereich der symbolischen Ordnungen erscheinen die psychische und die sozial-kollektive Ebene identisch, Kulturanalyse stellt sich entsprechend als Geistanalyse dar – Ziel ist es, zu den grundlegenden Strukturen des Geistes vorzudringen. In der klassischen sozialphänomenologischen Kulturtheorie – für die in der Soziologie Alfred Schütz’ Programmatik Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt steht34 – wird ein gegenüber dem Strukturalismus konträres Modell des Mentalen verwendet: Bedeutungen existieren hier nicht in einem geistigen Unbewussten, sondern allein in den intentionalen Sinnzuschreibungen des Bewusstseins. Der Interpret hat nicht die Aufgabe, eine den Subjekten selbst nicht bewusste Zeichensystematik zu dechiffrieren, sondern sich in die »subjektive Perspektive« der Teilnehmer und ihrer interpretativen Akte zu versetzen. Trotz dieses konträren Aufbaus der strukturalistischen und sozialphänomenologischen Vokabulare sind sie sich in ihrer scheinbar selbstverständlichen Verortung der Bedeutungswelt der Kul tur auf der Ebene des Mentalen, des Geistes einig: Übereinstimmung herrscht in »the idea that mind is a substance, place, or realm that houses a particular range of activities and attributes«.35 Die mentalistisch orientierten klassischen Kulturtheorien und ihr Verständnis von Kultur als »geistige Welt« (Husserl) haben für die kulturwissenschaftliche Forschungspraxis in Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft nur eine begrenzte Anschlussfähigkeit besessen. Das Problem des Mentalismus, der sich in Kontinuität zur Kantianischen Subjektphilosophie befindet, besteht aus der Perspektive der Kulturwissenschaften in der impliziten Annahme einer Separiertheit des inneren Geistes vom Außen der Handlungspraxis und der materialen Kultur (Zeichen, Medien, Artefakte, Körper). Die Relation zwischen diesem Innen des Mentalen und der Außenwelt der Handlungsakte und Zeichen bleibt in allen Versionen des Mentalismus prekär. Durchaus konsequent hat der kulturalistische Mentalismus darüber hinaus eine problematische Tendenz zum Universalismus und damit zu einer Dementierung der Kontingenzperspektive der Kulturwissenschaften: Wenn letztlich die kulturellen Codes des Geistes jenseits der Variabilität der Außenwelt des Handelns herausgearbeitet werden sollen, dann ist der Fluchtpunkt einer 33 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, Paris 1985, S. 22. 34 Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a.M. 1991. 35 T. Schatzki: Social Practices, S. 22. 42

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

post-kantianischen universalen Struktur kognitiver Schemata folgerichtig, auf den sowohl Lévi-Strauss’ Strukturalismus als auch Husserls Phänomenologie, aber auch die kognitive Psychologie zulaufen. Im Feld der Kulturtheorien haben sich mit dem Modell von »Kultur als Diskurse« und dem Modell von »Kultur als Praktiken« zwei nichtmentalistische Optionen herausgebildet, die beide für die kulturwissenschaftliche Praxis attraktiv sind. Eine Konzeptualisierung von Kultur als Diskurse, Texte oder Symbolsequenzen hat sich insbesondere in den 1960er und 70er Jahren ausgebildet: einerseits im Kontext des Poststrukturalismus in Michel Foucaults Diskursanalyse und Jacques Derridas Dekonstruktion,36 andererseits im Rahmen des interpretativen Ansatzes in Clifford Geertz’ Modell von culture as text.37 Später lässt sich hier auch Niklas Luhmanns konstruktivistische Systemtheorie einordnen, die soziale Systeme als Kommunikationssequenzen versteht.38 Diese Theorieperspektiven vollziehen eine resolute »Dezentrierung des Subjekts« und rechnen Sinnsysteme eindeutig außerhalb mentaler Eigenschaften auf der Ebene von Diskursformationen oder Symbolen und Zeichen zu. Es ist in diesen historisch-spezifischen Diskursen – so die Annahme in Foucaults Diskursanalyse – beziehungsweise in der Symbolhaftigkeit von Gegenständen und Ereignissen – so Geertz’ Konzeption von »Kultur als Text« –, dass eine spezifische symbolische Organisation der Wirklichkeit stattfindet. Die kulturwissenschaftliche Analyse stellt sich dann konsequenterweise entweder als Diskursanalyse oder als semiotische Analyse dar – sie kann von den Subjekten abstrahieren, die erst in den spezifischen Codes dieser Diskurse beziehungsweise Symbolsysteme als solche definiert werden. Dem textualistischen Kulturverständnis gegenüber stehen Kulturtheorien, die die symbolischen Ordnungen der Kultur auf der Ebene körperlich verankerter, Artefakte verwendender und öffentlich wahrnehmbarer sozialer Praktiken verorten. Verschiedene Versionen dieser praxeologischen Ansätze finden sich vor allem seit den 1980er Jahren etwa in Pierre Bourdieus Theorie der Praxis, Victor Turners und Judith Butlers Theorien des Performativen, Charles Taylors Modell der embodied agency, aber auch in der Subjekttheorie des späten Foucault und zuvor bereits in der Ethnomethodologie.39 Neben Theorieelementen aus der neostruk36 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1990; Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M 1983. 37 Vgl. C. Geertz: »Deep play«. 38 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1991. 39 Vgl. P. Bourdieu: Sozialer Sinn, Victor Turner: Dramas, Fields, and Metaphors. Symbolic Action in Human Society, Ithaca 1974; Judith Butler 43

KULTUR

turalistischen und interpretativen Tradition sind es hier vor allem die Sprachspiele-als-Lebensformen-Philosophie des späten Wittgenstein und die Philosophie des Pragmatismus, die diese Version der Kulturtheorie beeinflusst haben.40 Als kleinste Einheit kulturwissenschaftlicher Analyse stellen sich aus dieser Perspektive weder mentale Kategorien noch Diskurse, sondern soziale Praktiken dar. Unter einer »sozialen Praktik« wird hier »a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings«41 verstanden – die Praktik des bürokratischen Verwaltens, der körperlichen Hygiene oder des riskanten Unternehmens, der Praktikenkomplex der wissenschaftlichen Theoriebildung, des bürgerlichen Ehelebens oder der Rezeption von Popmusik etc. –, ein nexus of doings and sayings, der durch einen bestimmten praktischen Sinn (Bourdieu), das heißt einen Komplex von impliziten Interpretationsformen, know-how-Wissen und kulturell geformten emotional-motivationalen Zuständen, strukturiert wird. Eine Praktik stellt sich in diesem Sinne als ein körperlich verankerter Komplex von implizit sinnhaft organisierten, routinisierten Verhaltensweisen dar, der in der öffentlichen Performanz auch als intelligibel wahrgenommen wird. Soziale Praktiken können dabei eine intersubjektive Struktur haben, das heißt mehrere körperlich-mentale Träger voraussetzen, sie können jedoch auch »interobjektiv« (Latour) strukturiert sein und materiale Artefakte voraussetzen oder schließlich im Sinne der Praktiken des Selbst (Foucault) eine auf einen einzelnen Träger bezogene Struktur aufweisen. Aus kulturwissenschaftlich-praxeologischer Perspektive erscheinen dann soziale Institutionen – von der Ökonomie bis zur Intimsphäre – als Konfigurationen historisch-spezifischer sozialer Praktiken und auch Texte stellen sich als Bestandteile von bestimmten Rezeptions- und Produktionspraktiken dar. Textualistische und praxeologische Kulturtheorien haben gleichermaßen einen fruchtbaren Hintergrund für ein forschungspraktisch handhabbares Kulturverständnis geliefert. Beide haben dazu geführt, dass sich der kulturwissenschaftliche Blick von der mentalen Welt des Geistes auf die öffentlich wahrnehmbare materiale Kultur richten konnte – und gegenwärtig sind es vor allem die textualistischen und praxeologischen Ansätze, die den Hintergrund für die kulturwissenschaftliche Forschungspraxis liefern. Manches spricht jedoch dafür, dass die praxeoloDas Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; Charles Taylor: »To follow a Rule…«, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge (Mass.) 1995, S. 165-180; Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2, Frankfurt a.M. 1991, H. Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. 40 Vgl. T. Schatzki: Social Practices. 41 Ebd., S. 89. 44

DIE KONTINGENZPERSPEKTIVE DER »KULTUR«

gischen Kulturtheorien auf bestimmte Defizite der textualistischen Kulturmodelle antworten: Die textualistischen Ansätze – etwa die Diskursanalyse oder Geertz’ »Kultur als Text«-Modell – haben eine Tendenz zum »Mythos des autonomen Diskurses«42 impliziert und damit zu der stillschweigenden Annahme tendiert, dass den Diskursen oder den symbolischen Gegenständen an sich und bereits außerhalb ihres interpretativ-praktischen Verwendungskontextes bestimmte Bedeutungen oder Codes zukämen. Hinzu kommt, dass die Ausrichtung des Blicks auf die Diskurse die nicht-diskursiven Praktiken sowie die körperlichen, mentalen, materialen und psychischen Bedingungen, unter denen die Diskurse vollzogen werden, marginalisiert hat. Diese körperlichen, mentalen, materialen und psychischen Bedingungen erscheinen aus textualistischer Sicht bevorzugt als diskursive Definitionen des Körpers, des Geistes etc., aber kaum als kulturell produzierte Bestandteile einer bestimmten sozialen Praxis. Die praxeologische Perspektive betreibt hingegen eine Entintellektualisierung des Kulturverständisses, welche den Ort der symbolischen Ordnungen der Kultur von den mentalen Kategorien und Diskursen in Richtung des tool kit43 praktischen Wissens verschiebt. Die verschiedenen Praxistheoren vollziehen auf diese Weise eine theoretische und damit auch forschungspraktische Rehabilitierung sowohl der menschlichen Körper als auch der materialen Artefakte als Bestandteile sozialer Praktiken, vor allem aber des vorbewussten Routinecharakters der Verwendung der symbolischen Ordnungen, die Kultur ausmachen. Die Debatte zwischen textualistischen und praxeologischen Forschungsansätzen und die Probleme einer weiteren Ausarbeitung der – bisher eher in Umrissen erkennbaren – praxeologischen Kulturtheorie stellen sich offenbar als zentrale Aufgaben der künftigen Weiterentwicklung des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms jenseits einer traditionellen Ausrichtung auf geistige Strukturen und Ideen dar. Auf welche Art und Weise sich die kulturalistische Kontingenzperspektive am fruchtbarsten in die Forschungspraxis umsetzen lässt und am wirkungsvollsten eine Revision der Perspektive auf die Moderne, die Sozialwelt und die Wissenschaft betreiben kann, ist damit eine offene Frage. Es wäre verwunderlich, wenn die Kulturwissenschaften hier nicht auch nach der Etablierung des Cultural Turn ihre Stärke ausspielen, alte Theorievokabulare dekonstruieren und neue, überraschende, perspektivenreichere Vokabulare entwickeln würden.

42 Vgl. Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, New York u.a. 1982. 43 Vgl. Ann Swidler: »Culture in action: Symbols and strategies«, in: American Sociological Review 51 (1986), S. 273-286. 45

Der Identitätsdiskurs. Zum Be de utungsw andel einer sozialw issenschaftlichen Semantik Semantische Innovationen, vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften, werden von der Entwicklung der gesellschaftlichen Problemlage beeinflusst – dies gilt zumal für die Moderne. Reinhart Koselleck hat in seiner historischen Begriffsgeschichte in beispielhafter Weise demonstriert, dass erst in der Sattelzeit am Ende des 18. Jahrhunderts Begriffe wie »Gesellschaft«, »Geschichte«, »Kultur« oder »Fortschritt« ihre bis zur Gegenwart wirkungsmächtige Bedeutung erhalten konnten.1 Erst in dem Moment, in dem eine Gesellschaft sich als eine säkularsoziale, gestaltbare Entität wahrnahm, in dem sie ihre Vergangenheit als informative Vorgeschichte zur Gegenwart interpretierte, in dem sie ihre symbolischen Grundlagen, ihre Kultur, als kontingent betrachtete, konnte sie auch eine entsprechende humanwissenschaftliche und philosophische Semantik ausbilden. Das, was die moderne Semantik bezeichnet, entspricht dem, was zu diesem Zeitpunkt in den Institutionen und Sinnhorizonten der alltäglichen Lebensführung als problematisches, als nicht mehr selbstverständlich voraussetzbares Phänomen erscheint. Dass die moderne Semantik schillernd und umstritten bleibt und normativ aufgeladen ist, steigert dabei offenbar noch ihre Attraktivität, sowohl in der Auseinandersetzung politisch-kultureller Bewegungen als auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Es scheint, dass der Begriff der Identität in der hochmodernen Kultur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts mittlerweile einen vergleichbaren Platz einnimmt wie die Begriffe der Gesellschaft,

1

Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1979. 47

KULTUR

Geschichte oder des Fortschritts in der klassischen Moderne.2 Dies gilt für die öffentliche politisch-kulturelle Debatte wie für den Diskurs der Humanwissenschaften. Der Boom des Konzepts der Identität weist darauf hin, dass in der politischen und privaten Wahrnehmung etwas problematisch geworden ist: Diese Problematik wird auch humanwissenschaftlich mit dem Begriff »Identität« belegt. Philosophiehistoriker mögen darauf hinweisen, dass die Frage nach der Identität im Sinne einer Gleichheit zweier Objekte oder eines Objekts mit sich selbst in der Zeit ein klassisches Problem der Ontologie und Logik sei.3 Aber diese Begriffstradition geht nur sehr vermittelt in den aktuellen Identitätsdiskurs ein. Identität wird nun nicht mehr als ein logisches, sondern als ein kulturelles Problem betrachtet, als ein Problem des Sinns, den Individuen und Kollektive ihrem Handeln und sich selbst zuschreiben. Nicht, ob oder dass Eigenschaften beliebiger Gegenstände gleich sind oder gleich bleiben ist die Frage, sondern welche Eigenschaften überhaupt vorliegen, genauer: was die Eigenschaften von einem selbst als sogenanntes Individuum und als Teil eines vorgeblichen Kollektivs sind, kurz: »wer man ist« wird nun zum Problem. Identität bezeichnet die Problematik der Kontingenz des Selbstverstehens in der Hochmoderne, welches dann in zweiter Linie auch ein Problem der Konstanz dieses Selbstverstehens ist.

E x p l o s i ve I d e n t i t ä t e n Dass die Identitätsprobleme sich als sehr konkret und praxisnah darstellen, verdeutlicht ein Blick auf die Vereinigten Staaten. Die Sozialwissenschaften, zumal die Soziologie, sind bis vor kurzer Zeit scheinbar selbstverständlich in erster Linie Disziplinen zur Analyse der Gesellschaften des Westens gewesen, während die Gesellschaften des Ostens und Südens höchstens als Kontrastmittel in der Modernisierungstheorie dienten. Als paradigmatisch für diesen Typus westlicher Moderne wiederum haben nach dem Ersten und noch eindeutiger nach dem Zweiten Weltkrieg die USA gegolten. Es ist kaum überraschend, dass Talcott Parsons in seiner Historischen Soziologie des modernen Westens die 2

3

48

Vgl. zur Diskussion um den Identitätsbegriff auch Jürgen Straub: »Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs«, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a.M., S. 73-104; Peter Wagner: »FestStellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität«, in: A. Assmann/H. Friese (Hg.), Identitäten, S. 44-72. Vgl. etwa Amélie Oksenberg-Rorty (Hg.): The Identities of Persons, Berkeley 1976. Zur philosophischen Diskussion auch Odo Marquard/ Karlheinz Stierle (Hg.): Identität, München 1979.

DER IDENTITÄTSDISKURS

Darstellung in einen nordamerikanischen Idealtypus münden lassen konnte, dessen Institutionen politischer, ökonomischer, sozialstruktureller und kultureller Art Modellcharakter für den gesamten Westen und darüber hinaus beanspruchen sollten.4 Umso bedeutsamer erscheint die Transformation des kulturellen Problemhaushalts in den USA seit den 1970er Jahren. Im Mittelpunkt dieses Problemhaushalts steht die Frage nach Identität und Identitäten. Zum einen haben sich mannigfache Arenen zur Auseinandersetzung um kollektive Identitäten ausgebildet. Den strukturellen Hintergrund bilden hier vor allem die multiethnische, sich nahezu vollständig aus Migranten und ihren Nachfahren zusammensetzende Bevölkerungs-struktur, die soziale Ungleichheit, die mit der ethnischen Differenzierung verknüpft ist, sowie die neuen Möglichkeiten der kommunikativen Vernetzung von grenzüberschreitenden Gemeinschaften im Zeichen kultureller Globalisierung.5 Insbesondere jene Gruppen, die sich an der Peripherie des liberalen Konsenses der 1950er und 60er Jahre befanden, haben nun begonnen, sich kollektive Identitäten zuzuschreiben und eine Kollektividentität zu organisieren: In den ethnischen Bewegungen der Schwarzen, der Hispanics, der native Americans und der amerikanischen Juden sowie in den gender-orientierten Bewegungen der Frauen, der Schwulen und Lesben finden Interpretationsprozesse statt, in denen sich die Individuen in ihrer gesamten Lebensführung oder als Teil ihrer Persönlichkeit partikularen Kollektiven, deren Geschichte und deren Lebensstil zurechnen und imagined communities ausbilden.6 Die culture wars, die von der bisherigen gesellschaftlichen Peripherie ausgingen, haben das sich selbst vormals universalistisch interpretierende kulturelle Zentrum der White Anglo-Saxon Protestants als nurmehr eine partikulare Fraktion innerhalb des Konflikts um identity politics erscheinen lassen.7 Gleichzeitig haben sowohl die Alternativkulturen der 1970er Jahre als auch die radikalen religiösen, insbesondere protestantischen Bewegungen der 1980er Jahre,8

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Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, Weinheim, München 1985. Vgl. Manuel Castells: The Power of Identity. The Information Age, Volume II, London 1997. Vgl. Cornell West: Race Matters. Boston 1993; Nancy Whittier: Feminist Generations. The Persistance of the Radical Women’s Movement, Philadelphia 1995; Joseph Bristow/Angie Wilson (Hg.): Activating Theory: Lesbian, Gay, Bisexual Politics, London 1993. Vgl. Ishmael Reed (Hg.): Multi-America. Essays on Cultural Wars and Cultural Peace, New York 1997. Vgl. Frank Musgrove: Ecstasy and Holiness. Counter Culture and the Open Society, London 1974; Matthew C. Moen: The Transformation of the Christian Right, Tuscaloosa 1992. 49

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die beide letztlich meinten, auf amerikanische Traditionen zurückgreifen zu können, schon im kulturellen Zentrum selbst eine Auseinandersetzung um die Form der amerikanischen kollektiven Identität entfacht. Es ist dabei nur konsequent, dass der Konflikt um kollektive Identitäten in den Vereinigten Staaten insbesondere dort ausbricht, wo gesamtgesellschaftlich bindende Symbole, Regeln und Institutionen berührt sind: in den Curricula der Schulen und Universitäten, in der Gestaltung von Museen und Gedenkstätten, schließlich vor allem im Rechtssystem. Die Auseinandersetzung um kollektive Identitäten, das heißt um die Form des Selbstverstehens, in der sich der Einzelne als Teil eines Kollektivs definiert, ist jedoch nur die eine Seite des kulturellen Identitätsdiskurses der USA. Die andere Seite manifestiert sich weniger in der politischen Öffentlichkeit als in der publizistischen Öffentlichkeit der psychologischen Beratungsliteratur und in der psychologischen Therapie: die Debatte um personale Identitäten, das heißt um die Art und Weise, in der sich der Einzelne als Individuum verstehen soll. Diese Debatte findet im Zentrum jener nach-bürgerlichen Mittelklasse statt, deren balancierte Persönlichkeit für das klassische Modell der modernen Kultur einmal ebenso bahnbrechend war, wie dies für die Abstraktion von partikularen kollektiven Identitäten gilt. Die Tendenz zur Entkonventionalisierung der Privatsphäre und der Diskursivierung der dortigen Interaktionsnormen seit den 1970er Jahren,9 die Flexibilitäts- und Mobilitätsansprüche der new enterprise culture,10 schließlich die von der Freizeit-, Konsum- und Gesundheitskultur hervorgebrachten neuen Persönlichkeitsmodelle11 – alle diese sozial-kulturellen Entwicklungen eröffnen für die Individuen neue Chancen bei der Erarbeitung ihrer personalen Identitäten, ihres individuellen Selbstverstehens und einer damit zu vereinbarenden Lebensführung. Dass mit den neuen Optionen einer Öffnung personaler Identität allerdings auch psychische Risiken und Überforderungen zunehmen, zeigt sich in der Veränderung psychischer Krankheitsbilder, für die gerade die in den USA expandierende psychologische Diagnose von multiple

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Vgl. Judith Stacey: Brave New Families. Stories of Domestic Upheaval in Late 20th Century America, New York 1990; Marlis Buchmann: The Script of Life in Modern Society. Entry into Adulthood in a Changing World, Chicago 1990. 10 Vgl. Paul Heelas/Paul Morris (Hg.): The Values of the Enterprise Culture. The Moral Debate, London 1992; Catherine Casey: Work, Self, and Society. After Industrialism, London 1995. 11 Vgl. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991; Derek Wynne: Leisure, Life-Style, and the New Middle Class. A Case Study, London 1998. 50

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selves nur einen besonders auffälligen Indikator liefert,12 und in der Explosion der psychologischen Beratungsliteratur. Deren Schwerpunkt verschiebt sich von psychischen Problemen, die sich aus dem Überdruck sozialer Konformitätszwänge ergeben, zu Problemen der individuellen Persönlichkeitsfindung und -formung, wobei sich letztere freilich selbst zu einer sozialen Erwartung entwickelt hat, der es zu folgen gilt.13 Die neuartige Relevanz der Auseinandersetzung um kollektive Identitäten wie die Veränderungen in der Ausbildung personaler Identitäten sind nun alles andere als US-amerikanische Besonderheiten, wenn sie auch dort von ausgeprägter Publizität scheinen. Kontroversen um kollektive Identitäten werden offenbar überall dort relevant, wo sich in Nationalstaaten potenziell unterschiedliche »Herkunftskulturen« gegenüberstehen. Und man muss angesichts der Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts und des Konstruktcharakters von Herkunftsgemeinschaften feststellen, dass dies letztlich in nahezu allen gegenwärtigen Nationalstaaten der Fall ist: in den postkolonialen Nationen der Dritten Welt ohnehin, aber auch in West- und Osteuropa oder den westlichen, außer-europäischen Commonwealth-Staaten (Kanada, Australien, Südafrika). Die Transformationen auf der Ebene personaler Identitäten schließlich erscheinen in den westeuropäischen Gesellschaften – in denen die religiösen Ligaturen schließlich deutlich abgeschwächter sind – mindestens ebenso weitreichend wie in Nordamerika. Der veränderte politisch-kulturelle Problemhaushalt hat sich nun in einer veränderten human- und insbesondere sozialwissenschaftlichen Semantik niedergeschlagen, in der Expansion von Analysen personaler und kollektiver Identitäten und der Reprofilierung des Identitäts- und Selbstkonzepts in soziologischer,14 ethnologischer,15 histori12 Vgl. Ian Hacking: Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne, München 1996. 13 Vgl. zum Einfluss der psychologischen Therapie auf die Definition, Modifikation und Standardisierung von personaler Identität Nikolas Rose: Inventing Our Selves. Psychology, Power, Personhood, New York 1994; ders.: Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London, New York 1999. Vgl. auch René J. Muller: The Marginal Self. An Existential Inquiry into Narcissim, 1987; Robert Jay Lifton: The Protean Self. Human Resilience in an Age of Fragmentation, New York 1993. 14 Vgl. Hans-Georg Brose/Bruno Hildenbrand (Hg.): Vom Ende des Individuums zum Individuum ohne Ende, Opladen 1988; Kenneth Gergen: The Saturated Self, New York 1991; Robert Hettlage/Ludgera Vogt (Hg.): Identitäten in der modernen Welt, Opladen 2000. 15 Vgl. Brian Morris: Anthropology of the Self. The Individual in Cultural Perspective, London, Boulder 1994; Dorothy Holland: »Selves as cultured«, in: Richard D. Ashmore/Lee Jussin (Hg.), Self and Identity. Fundamental Issues, New York, Oxford 1997, S. 160-190; Pnina Werbner/ 51

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scher,16 psychologischer17 und interdisziplinär-kulturwissenschaftlicher18 Perspektive. Der humanwissenschaftliche Identitätsdiskurs ist selbst durch die bereits vorwissenschaftlich virulenten Identitätsdebatten, insbesondere im postkolonialen und im feministischen Umfeld, beeinflusst worden. Aber die neue Zentralität des Identitätskonzepts speist sich auch und vor allem aus einer generellen Transformation der Grundbegrifflichkeit der Sozial- und Humanwissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts. Diese Transformation umfasst zwei miteinander verknüpfte Aspekte: die Wende zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive und die Skepsis gegenüber der Adäquatheit klassischer Modelle der Moderne und der Modernisierung. Der Cultural Turn in der Sozialtheorie und Sozialphilosophie, aber auch den empirischen Disziplinen der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie hat die Grundannahme befördert, dass in den sozialen Praktiken symbolische Ordnungen zum Einsatz kommen, die die soziale Wirklichkeit kognitiv organisieren.19 Der Cultural Turn betreibt damit eine konsequente Hermeneutisierung und Historisierung sozialer Phänomene. In diesem konzeptuellen Kontext kann Identität zu einem Schlüsselphänomen werden: Wenn symbolische Codes Handeln und Sozialität organisieren, dann erscheinen jene Codes, auf deren Grundlage sich Handelnde selbst interpretieren – als Individuum und als Teil eines Kollektivs – für ihre sozialen Praktiken von besonderer Bedeutung. Gleichzeitig hat sich in den Sozialwissenschaften eine Skepsis gegenüber linearen Modellen der Modernisierung entwickelt: Statt die Gegenwartsgesellschaften als Produkte einer am Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden kontinuierlichen Entwicklung »der Moderne« zu begreifen, die den Prozessen der formalen Rationalisierung, der funktionalen Differenzierung und der Etablierung bestimmter liberaler Kerninstitutionen (Politik, Recht, Markt) folgt, haben sich Perspektiven entwi-

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Tariq Modood (Hg.): Debating Cultural Hybridity. Multi-Cultural Identities and the Politics of Anti-Racism, London 1997. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York 1983; Kurt Danziger: Constructing the Subject. Historical Origin of Psychological Research, New York 1990. Vgl. Roy F. Baumeister: Identity. Cultural Change and the Struggle for Self, New York 1986; Heiner Keupp u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 1999. Vgl. Stuart Hall/Paul du Gay (Hg.): Questions of Cultural Identity, London 1996, A. Assmann/H. Friese (Hg.): Identitäten. Vgl. Paul Rabinow/William M. Sullivan (Hg.): Interpretive Social Science. Berkeley 1979; James Bohman/David Hiley/Richard Shusterman (Hg.): The Interpretive Turn, Ithaca 1991.

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ckelt, die sich vom Dualismus zwischen Tradition und Moderne lösen und damit auch die strukturellen Neuartigkeiten vieler Elemente der Gegenwartsgesellschaften seit den 1970er Jahren – als hochmodern oder postmodern – erkennen können. Bei dieser Gegenüberstellung zwischen Merkmalen der klassisch-modernen Gesellschaft, wie sie in der episodischen organisierten Moderne der 1950er und 60er Jahre einen Höhepunkt erreichte, und denen der Hochmoderne kommt den Identitäten wiederum ein besonderer Stellenwert zu: Die Entwicklung reflexiver oder multipler personaler Identitäten und neuer partikularer kollektiver Identitäten erscheinen als Phänomene der Hochmoderne, wie sie in der organisierten Moderne gar nicht hätten vorkommen dürfen.20 Betrachtet man vor diesem Hintergrund den sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurs, dann drängt sich die Überlegung auf, dass sich im Bedeutungswandel der sozialwissenschaftlichen Semantik der Identität eine darüber hinausgreifende Transformation der sozial- und humanwissenschaftlichen Perspektive manifestiert. Diese konzeptuelle Transformation wiederum steht im Kontext eines realhistorischen Strukturwandels von der klassischen Moderne zur Hochmoderne, ein Strukturwandel, dessen Wahrnehmung umgekehrt durch die semantische Blickverschiebung befördert (und sicherlich auch dramatisiert) wird. Identität war schließlich bereits vor der Explosion partikularer kollektiver Identitäten und den Verkomplizierungen personaler Identitäten seit den 1970er Jahren ein sozialwissenschaftliches Thema. Aber in der Soziologie und Psychologie der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre, somit im sozialwissenschaftlichen Denken der organisierten Moderne, kam dem Identitätskonzept ein anderer Stellenwert zu als in den hochmodernen Kultur- und Sozialwissenschaften seit den 1970er und 80er Jahren. Diese Bedeutungsverschiebung gilt sowohl für das Konzept personaler wie für das kollektiver Identität(en). Wie lässt sich dieser Bedeutungswandel der Identitätssemantik in den Sozialwissenschaften genauer fassen? Man kommt der semantischen Transformation am besten auf die Spur, wenn man zunächst zwischen der Frage nach personalen und der nach kollektiven Identitäten unterscheidet und ihre Konzeptualisierung in den klassischen Modellen der 1940er bis 70er und denen seit den 70er Jahren 20 Die Unterscheidung zwischen klassischer, organisierter Moderne und Hochmoderne wird hier im Sinne von Peter Wagners Versuch verwendet, den scheinbar monolithischen Block der Moderne historisch-soziologisch aufzubrechen. Letztlich wird man hier allerdings nicht zwei Gesellschaftsformationen als einander ablösende Blöcke gegenüberstellen können, sondern eher die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit klassisch-moderner und hochmoderner Sozialitäts- und Kulturformen betonen. Vgl. Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, New York, London 1993. 53

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gegenüberstellt. Dann zeigt sich, dass das klassische Identitätskonzept universalistisch und kompetenztheoretisch orientiert und auf das Problem des Verhältnisses zwischen Individuum und sozialen Zwängen sowie das Problem der temporalen Konstanz zentriert war; das hochmoderne Identitätskonzept ist dagegen hermeneutisch und historisch orientiert sowie auf das Problem des kontingenten Selbstverstehens bezogen. Die Semantik ändert sich offenbar mit der gesellschaftlichen Problemlage.

Identität in der organisierten Moderne: Konstanz und Koordination Bereits dem gesellschaftstheoretischen Denken im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war, worauf Lutz Niethammer gegen eine dominierende Rezeptionsgeschichte hingewiesen hat,21 der Identitätsbegriff alles andere als fremd. Bei derart diversen Autoren wie Freud und C.G. Jung in der Psychologie, Halbwachs in der Soziologie sowie Carl Schmitt und Georg Lucacs in der Politischen Philosophie wird dem Identitätsproblem im Kontext dessen, was man als die Phase der ersten Krise der Moderne umschreiben kann,22 wie sie das Denken vom Fin de Siècle bis zur Zwischenkriegszeit prägt, ein gewisser Stellenwert eingeräumt. Das Konzept (kollektiver) Identität dient zur Postulierung eines politischen Kollektivsubjekts im rechtskonservativen wie sozialistischen Denken (Schmitt, Lucacs), zur Bezeichnung eines faktischen – wenn auch in der Moderne größtenteils abhanden gekommenen – kollektiven Gruppengedächtnisses (Halbwachs), schließlich kulturkritisch zur Umschreibung der Gleichförmigkeit von Individuen in der Massengesellschaft (Jung). Die eigentliche systematische Relevanz erlangt die Identitätssemantik jedoch erst im Kontext der nordamerikanischen Soziologie und Psychologie seit den 1940er Jahren. Das Konzept wird nun ausdrücklich auf das Problem der Identität einer Person bezogen, nicht auf kollektive Gleichheiten, sondern auf die Frage, wie ein Individuum eine »personale Identität« erlangen kann. Erik Eriksons Entwicklungspsychologie und George Herbert Meads Sozialisationstheorie in Mind, Self, and Society, wie sie jedoch erst im Kontext des symbolischen Interaktionismus der

21 Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. 22 Vgl. P. Wagner: A Sociology of Modernity, Kap. II. 54

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1950er und 60er Jahre breiter rezipiert wird, liefern hier die beiden zentralen Ansätze zu einer Analyse personaler Identität.23 Was wird in diesem Kontext unter personaler Identität oder »IchIdentität« verstanden? Erikson definiert sie folgendermaßen: »Das Gefühl der Ich-Identität ist [...] das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheit und Kontinuität [...] aufrechtzuerhalten.«24

Für Erikson stellt sich Ich-Identität als eine Gleichheit des Ichs mit sich selbst, eine Strukturiertheit und temporale Konstanz seiner Dispositionen und Kompetenzen dar. Identität ist in diesem Sinne etwas, was der Einzelne »aufrechtzuerhalten« hat. Im Prinzip stellt sie sich als Aufgabe jedes Individuums, Erikson verlagert das Problem und seine Lösung jedoch in die Ontogenese und interpretiert es in erster Linie entwicklungspsychologisch. In jeder menschlichen Entwicklungsphase vom Säuglingsalter bis zum Erwachsenen stellt sich dem Einzelnen ein spezifisches psychisches Problem, auf das er eine gelungene Antwort – welche dann im Idealfall während des gesamten Lebenslaufes konstant gehalten wird – und eine pathologische Antwort gibt. Das psychische Problem der Adoleszenz besteht nun in der Gewinnung von Identität im Sinne der Entwicklung einer stabilen Dispositionsstruktur. Die pathologische Entwicklung wäre demgegenüber die der Identitätsdiffusion, die Erikson als die Unfähigkeit versteht, Konstanz und Stabilität der eigenen mentalen Struktur zu erreichen. Wann ist jedoch eine Ich-Identität stabil, und warum erscheint gerade die Phase der Adoleszenz in diesem Zusammenhang riskant? Erikson gibt eine Antwort, indem er personale und soziale Identität eng aneinander koppelt: »Der Begriff Identität drückt [...] insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes internes Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt.«25

Das Subjekt muss sich, erstmals als junger Erwachsener, in spezifische soziale Identitäten einfügen, insbesondere in Bezug auf soziale Beziehungen der Arbeitswelt und der Partnerschaft, es wird von ihm eine In23 Vgl. Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1973; George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a.M. 1991. 24 E. Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 107. 25 Ebd., S. 124. 55

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teriorisierung sozialer Erwartungen verlangt. Personale Identität wird möglich, wenn der Einzelne sich diese sozialen Identitäten aneignet und für sich als Individuum in eine konsistente Form bringt. Der symbolische Interaktionismus George Herbert Meads, wie er in den 1950er und 60er Jahren in der amerikanischen Soziologie breit rezipiert und von manchen als ein Gegenprogramm zu Erikson interpretiert wird, akzentuiert den Prozess der Gewinnung von Ich-Identität im Sozialisationsprozess in zweierlei Hinsicht um: der Erwerb einer sozial akzeptierten Identität wird weniger stark als ein Prozess der internalisierenden Übernahme von sozialen Erwartungen, sondern stärker als ein Interaktions- und Kommunikationsprozess verstanden, in dem das Individuum lernt, sich selbst so zu beobachten, wie es von einem konkreten oder verallgemeinerten Anderen beobachtet wird. Zudem tritt in Meads Theoriedesign neben den am Ende gleichfalls internalisierten Komplex sozialer Erwartungen, dem me, die Instanz des I: eine unkontrollierbare Spontaneitäts- und Kreativitätsinstanz, die sich auch gegen die sozialen Erwartungen zu positionieren vermag. Während für Erikson das Identitätsproblem in der Gefahr einer Identitätsdiffusion zu suchen ist, in der die sozialen Identitäten mangelhaft verarbeitet werden und die Konstanz der subjektiven Dispositionen bedroht ist, kann man im Anschluss an Mead das Identitätsproblem gewissermaßen individuenfreundlicher definieren: Das Problem besteht nun in der Balance zwischen den sozialen Erwartungen des me und der Spontaneitätsinstanz des I. Krappmann kann in diesem Zusammenhang im Anschluß an Mead die »balancierte Persönlichkeit« als Idealbild symbolisch-interaktionistischer Identitätstheorie definieren.26 Trotz aller Differenzen zwischen dem Identitätskonzept bei Erikson und im symbolischen Interaktionismus liegt ihnen beiden offenbar eine gemeinsame Problemstellung zugrunde: Das Problem der Identität besteht für die Theoretiker aus der Phase der klassischen, organisierten

26 Vgl. Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 1993. Goffman entwickelt im Kontext des interpretativen Ansatzes ein anders akzentuiertes Konzept, demzufolge personale Identität – wie soziale Identität – eine soziale Zurechnungskategorie darstellt: »Mit persönlicher Identität meine ich [...] positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird [...] Persönliche Identität hat folglich mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann« (Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1975, S. 74) Auch hier wird damit Identität wie bei Erikson nicht auf die Form des Selbstverstehens des Akteurs bezogen, sondern auf eine von außen definierte Konstanz der Person. 56

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Moderne darin, eine Konstanz des Ich angesichts institutionalisierter sozialer Erwartungen beziehungsweise eine Balance zwischen Ich und sozialen Erwartungen zu erreichen. Das klassisch-moderne Problem der Identität wird in der Frage gesucht, wie sich individuelle Dispositionen im Kontext sozialer Rollenanforderungen ausbilden können. Das Risiko besteht dann in einer Unbalanciertheit zwischen individuellem Ich und sozialen Rollen oder in einer Fragmentierung des Ich angesichts verschiedener sozialer Erwartungen. Dieses Problem wird als ein überhistorisch-universales vorausgesetzt und das Modell seiner Beschreibung ist konsequenterweise eine allgemeine Theorie der Identität. Die Antwort auf das Identitätsproblem wird sowohl bei Erikson als auch bei Mead in der Form einer Theorie der primären Sozialisation formuliert, in der das Individuum bestimmte Kompetenzen erwirbt und sein Selbst in eine formale Struktur bringt: Das Kind beziehungsweise der Jugendliche »erwirbt« eine Identität, indem es spontanes Ich und soziale Erwartungen beziehungsweise verschiedene soziale Erwartungen gegenseitig in ein Gleichgewicht bringt und so seine Konstanz sichert. Die Konzeptualisierung kollektiver Identitäten im Rahmen der klassisch-modernen Theoriebildungen ist dann nur konsequent. Im Wesentlichen bleiben hier zwei Möglichkeiten: Einerseits wird kollektive Identität vor dem Hintergrund einer Theorie sozialer Differenzierung als soziale Identität verstanden, die wiederum an die Rollenerwartungen und Werte von Institutionen (insbesondere Beruf und Familie) gebunden ist. Falls doch nach einer kollektiven Identität gesucht wird, die diese Rollensysteme übergreifen soll, dann muss es sich andererseits um eine hochabstrakte Form kollektiver Identität handeln, die sich etwa am modernen Verfassungsstaat orientiert. Talcott Parsons und Jürgen Habermas liefern Prototypen derartiger Theorien kollektiver Identität: Die Rollentheorien der 1950er und 60er Jahre gehen sowohl in ihrem strukturfunktionalistischen Strang, wie ihn Parsons verkörpert, als auch in ihrem stärker die Ambivalenzen der negotiated order betonenden interaktionistischen Zweig (Goffman) davon aus, dass soziale Identitäten in der modernen Gesellschaft an die funktional differenzierten Teilsysteme und die dortigen sozialen Rollen gekoppelt sind.27 Wenn Identität hier kollektiv ist, dann nicht in der symbolischen und affektiven Attribution des Einzelnen zu einer Gemeinschaft von Individuen. Eine solche Konstellation würde in der post-durkheimianischen Differenzierungstheorie vielmehr als Kennzeichen traditionaler, vormoderner Gesellschaften gel-

27 Vgl. Talcott Parsons: The Social System, New York, London 1964; Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, London u.a. 1990. 57

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ten. Als kollektiv kann Identität in der Moderne sich allein in der Selbstwie Fremdattribution des Einzelnen zu einer sozialen Rolle, einer spezifischen »Funktion« im Rahmen einer ausdifferenzierten Institution darstellen: Soziale Identität besteht in der Befolgung der oder dem kreativen Umgang mit den Rollenerwartungen, Normen und Werten einer sozialen Position. Charakteristischerweise besitzt der Einzelne in der Konstellation funktionaler Differenzierung damit mehre soziale Identitäten: die Koordinierung dieser verschiedenen Rollenerwartungskomplexe stellt sich dann gerade als das Problem personaler Identität dar. Wenn im Rahmen der klassisch-modernen Theoriebildung kollektive Identität mehr sein soll als eine funktions- und rollenspezifische soziale Identität, dann bleibt nur der Weg einer radikalen Formalisierung kollektiver Identität und eine Loslösung des Konzepts von jeglicher Bindung an partikulare communities. Aussagekräftig ist hier die Position von Habermas, wie er sie in »Können moderne Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?« entwickelt.28 Sein Ausgangspunkt ist hier die Position, dass in den post-traditionalen modernen Gesellschaften nach dem Prozess der Loslösung allgemeiner Normen und Maximen von partikularen kulturellen Kontexten keine kollektiven Identitäten (jenseits der sozialen Identitäten) mehr existieren müssen – wenn dies doch der Fall ist, müsste es sich um eine hochabstrakte Identität handeln, die derart formal ist, dass sie lebensweltliche Spezifika einzelner Gruppen übergreift. Vorsichtig formuliert Habermas: »wenn in komplexen Gesellschaften eine kollektive Identität sich bilden würde, hätte sie die Gestalt einer inhaltlich kaum präjudizierten, von bestimmten Organisationen unabhängigen Identität einer Gemeinschaft derer, die ihr identitätsbezogenes Wissen über konkurrierende Identitätsprojektionen [...] diskursiv und experimentell ausbilden«.29

Wenn kollektive Identität nicht mehr allein auf die sozialen Identitäten einzelner Funktionssysteme beschränkt sein soll, dann bleibt mit Habermas in der Moderne (jedenfalls um deren Rationalitätsmaßstäben zu genügen) nur die Möglichkeit, sie auf die gesamte Gesellschaft zu beziehen und entsprechend zu entsubstanzialisieren.30 28 Vgl. Jürgen Habermas: »Können moderne Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?«, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1990, S. 92-126. 29 Ebd., S. 121. 30 Auch Habermas’ Begriff der personalen oder Ich-Identität ist im Übrigen in der Tradition Eriksons (und in einer eigentümlichen Spannung zur Hoffnung auf »experimentelle Identitätsprojektionen«) auf die Konstanz von Dispositionen bezogen: »Die gelungene Ich-Identität bedeutet jene 58

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Aus der Perspektive der klassisch-modernen Theorievokabulare, die personale und kollektive Identität thematisieren, müssen die geschilderten neuartigen Phänomene kollektiver und personaler Identitäten der letzten Jahrzehnte – die ethnischen und gender-orientierten kollektiven Bewegungen und die individuenzentrierten, nicht mehr unbedingt an Selbstkonstanz orientierten Biographien – als Anomalien oder Pathologien erscheinen: als Ergebnis der geöffneten Pandorabüchse der kulturellen Kontingenz. Der neuartige Identitätsdiskurs scheint auf gefährliche Art hinter die Moderne zurückzufallen, indem erneut partikulare Gruppenidentitäten – statt funktionsspezifischer sozialer oder universaler kollektiver Identitäten – beschworen werden, oder aber auf ebenso riskante Weise in Richtung einer Postmoderne zu weisen, in der personale Identitäten asozial und fragmentiert werden.31 Aber der neue Identitätsdiskurs hat die Identitätssemantik verschoben und antwortet auf eine veränderte Problemstellung. Das Problem der Identität ist nun nicht mehr vorrangig das der Konstanz und Balanciertheit der Dispositionen des Individuums angesichts rollenspezifischer und höchstens abstrakt zu universalierender sozialer Normen. Das Problem, das der Begriff Identität nun bezeichnet, ist das der individuellen und kollektiven Selbstinterpretation und seiner Kontingenz.

Identität in der Hochmoderne: Die Kontingenz der Selbstinterpretationen Paul Ricoeur hat darauf hingewiesen, dass der Begriff der Identität von Anfang an zwei Bedeutungen umfasst hat: den Aspekt des »idem« und den des »ipse«, den der Selbigkeit und der Selbstheit, das Problem der zeitlichen Konstanz, somit dessen, was »identisch« bleibt (idem) einerseits, und das Problem, was man oder wer man »selbst« (ipse) im Unterschied zu allem anderen ist, andererseits.32 In einer bestimmten Version hat die sozialwissenschaftliche Identitätssemantik der klassisch-modernen Theoriebildung in den 1940er bis 70er Jahren Identität in erster Linie als ein Problem der Konstanz begriffen, welche die individuellen Dispositionen angesichts starker und konfligierender normativer Erwar-

eigentümliche Fähigkeit sprach- und handlungsfähiger Subjekte, auch noch in tiefgreifenden Veränderungen ihrer Persönlichkeitsstruktur [...] mit sich identisch zu bleiben.«, ebd., S. 93. 31 Die Furcht vor einem derartigen »Rückfall« scheint auch Lutz Niethammers Abrechnung mit dem Identitätsdiskurs zu weiten Teilen zu motivieren. Vgl. ders.: Kollektive Identität. 32 Vgl. Paul Ricoeur: Oneself as Another, London 1992, S. 1ff, S. 165ff. 59

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tungsstrukturen zu erreichen haben. Nicht wer man ist, sondern dass man derselbe bleibt, war das Problem der Identität. Erikson und Parsons einerseits, Mead und Habermas andererseits bezeichnen dann konservative und progressive Lesarten dieser Problemstellung: Während für Erikson/Parsons bereits eine Aufeinanderabgestimmtheit von personaler und sozialer Identität das Kriterium gelungener Identitätsbildung darstellt, formulieren Mead/Habermas rationalitätstheoretisch anspruchsvollere Kriterien, die eine Balancierung von I und me und eine »offene« kollektive Identität betreffen. Dass Identität sich auf die konstanten Dispositionen und Kompetenzen von Individuen bezieht, wird jedoch vorausgesetzt. Die hochmodernen Theorieansätze seit den 1980er Jahren nehmen die Frage nach der Identität nun jedoch in erster Linie als das Problem wahr, als wer oder was sich die Handelnden selbst verstehen sollen (was ein mögliches Selbstverstehen als Teil eines Kollektivs einschließt), wenn sie eine als subjektiv sinnvoll interpretierte Lebensführung vollziehen wollen. Diese Selbstinterpretation wird als kontingent und prekär wahrgenommen, und zwar von den hochmodernen Theoretikern wie auch den realen Akteuren. Die Dimension des Selbstverstehens und der Selbstrepräsentation war in den klassisch-modernen Identitätstheorien zugunsten des formalen Konstanzinteresses als unproblematisch vorausgesetzt worden, gerät nun aber in den Mittelpunkt des Interesses. Eine dreifache Umorientierung der Perspektive auf Identitäten findet nun statt: eine Hermeneutisierung, eine Historisierung und eine gegenüber der Differenzierungstheorie skeptische Neuausrichtung auf die Totalität der Lebensführung. Der Identitätsbegriff wird hermeneutisiert, indem er statt auf die »objektiven«, scheinbar jenseits des subjektiven Verstehens existierenden Dispositionen und Kompetenzen der Individuen auf deren subjektive Akte der Selbstinterpretation bezogen wird, die sie vor dem Hintergrund kollektiver Bedeutungshorizonte vollziehen: Identität ist nichts, was der soziologische oder psychologische Beobachter »von außen« zuschreiben könnte. Identität haben die Individuen nur subjektiv in ihren Selbstzuschreibungsakten, in dem sie sich als jemanden interpretieren. Diese Hermeneutisierung geht konsequenterweise mit einer Historisierung einher: Die kollektiven Bedeutungshorizonte, welche die Individuen verwenden, wenn sie sich als Individuen oder Kollektivmitglieder interpretieren, ihre kulturellen Codes von Lebensstil, Nation, Ethnie, Geschlecht, gelungener Existenz, gutem Leben etc. können nicht als universal und überkulturell, sondern müssen als historisch und kulturell spezifische Wissensordnungen begriffen werden. Schließlich ist der Bezugspunkt des Selbstverstehens ein anderer als es eine radikale Theorie funktionaler Differenzierung annehmen konnte: Die Selbstinterpreta60

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tion der Individuen bezieht sich nicht nur auf ihre rollenspezifischen Funktionen, sondern auf ihre gesamte der eigenen Biographie zugerechneten, narrativ strukturierten Lebensführung. Die sozial-moralischen Milieus jenseits der Differenzierung in soziale Felder sind die Orte der kulturellen und partikularen Codes des Selbst wie auch der Kollektive, in denen sich ein Selbst situiert. Konsequenterweise hat der neuere Identitätsdiskurs es aufgegeben, allgemeine Theorien der Identität zu formulieren – es geht vielmehr darum, begriffliche Werkzeuge zu liefern, um konkrete Identitätsanalysen anzuleiten. In Bezug auf die Analyse kollektiver Identitäten sind hier insbesondere die im weitesten Sinne kommunitaristischen Kulturtheorien, die postkolonialen und feministischen Ansätze sowie die Milieuund Lebensstiltheorien zu nennen. Für die Analyse personaler Identitäten haben die Theorien des hochmodern-reflexiven und die des postmodernen Subjekts neue Ansatzpunkte geliefert. Die Differenzen zwischen diesen Theorieangeboten sind erheblich – aber sie alle tragen zu einer Hermeneutisierung und Historisierung des Identitätskonzepts bei. Charles Taylor bietet die elaborierteste Fassung einer im weitesten Sinne in den Kontext der Kommunitarismusdiskussion einzuordnenden Kulturtheorie, in deren Zentrum die Frage des Selbstverstehens des modernen Subjekts steht.33 Wenn man im Rahmen einer hermeneutischen Theorie Akteure als self-interpreting animals versteht, dann ist Identität nichts anderes als die Art und Weise, in der sich Akteure selbst als Akteure interpretieren. Diese Selbstinterpretation nimmt eine narrative Form an und ermöglicht es dem Einzelnen, sich in einen symbolischen und moralischen Raum zu situieren: »My identity is defined by the commitments and identifications which provide the frame or horizon within which I can try to determine from case to case what is good, or valuable, or what ought to be done, or what I endorse or oppose.«34

Die Art und Weise, in der sich das moderne Subjekt repräsentiert, hängt nun jedoch ihrerseits von historisch-spezifischen Codes dessen ab, was unter einem »Selbst« und einer diesem Selbst gemäßen Lebensform zu verstehen ist, historische Traditionen, die Taylor in Sources of the Self nachzeichnet. Wenn das moderne Subjekt sich als Individuum oder als rationaler Akteur interpretiert, dann handelt es sich weder um Idiosyn33 Vgl. Charles Taylor: »Self-interpreting animals«, in: ders., Human Agency and Language. Philosophical Papers 1, Cambridge 1985, S. 45-76; ders: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989. 34 Ebd., S. 24 61

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krasien noch um Universalien, sondern um hochspezifische kulturelle Traditionen der Interpretation des Selbst, die etwa im christlichen, im rationalistischen, im aufklärerischen oder im romantischen Denken wurzeln. Diese kollektiven Codes dessen, wie die Individuen sich interpretieren, haben in der Moderne eine Tendenz, ihre Kollektivität und historische Kontingenz unsichtbar zu machen. Tatsächlich gehen jedoch in die Bildung personaler Identitäten kollektive, kulturelle Codes ein und die Gewinnung eines kollektiven Selbstverständnis der »gemeinsamen« kulturellen Wurzeln dieses Selbstverständnis erscheint Taylor wie den anderen Kommunitaristen als ein in der Gegenwart relevantes Anliegen, dem sich etwa auch ethnische oder regionale politisch-kulturelle Bewegungen verschrieben haben.35 Letztlich sind es nach diesem Verständnis nur diese historisch und kulturell dichten Kollektividentitäten – und nicht etwaige hochabstrakte und kulturell vermeintlich neutrale kollektive Maximen –, die in der sozialen Praxis wirksam sein können. Ein zweiter Theoriestrang, der die Hermeneutisierung und Historisierung des Identitätsdiskurses vorangetrieben hat, sind die postkolonialen und feministischen Ansätze. Diese verschiedenartigen Theorieangebote betonen übereinstimmend den kulturell-historischen Konstruktcharakter von kollektiven, aber auch von personalen Identitäten, ein Konstruktcharakter, der in der sozialen Praxis regelmäßig über den Weg einer Naturalisierung und Essenzialisierung von Identität unsichtbar gemacht wird. Beeinflusst von poststrukturalistischen und semiotischen Ansätzen betonen postkoloniale und feministische Theoretiker und Theoretikerinnen, dass Identität sich unweigerlich über symbolische Differenzen innerhalb von kulturellen Unterscheidungssystemen konstituiert: Die Differentsetzung vom Anderem geht der Definition der eigenen Eigenschaften voraus. Dies gilt sowohl für die Identifizierung des Selbst, das man zu sein beansprucht, als auch für die Identifizierung eines Kollektivs, etwa einer ethnischen Gruppe oder einer Geschlechtsgruppe.36 Postkolonialisten wie Edward Said und Feministinnen wie Judith Butler haben dabei darauf hingewiesen, dass diese Identifizierungen über Differentsetzungen regelmäßig mit einer Abwertung der jeweils anderen, fremden Eigenschaften und mit einer Naturalisierung der letztlich kulturellen Differenzen, das heißt einer Umdefinition der kulturellen zu natürlichen Unterschieden, der imagined communities zu scheinbar

35 Vgl. Charles Taylor u.a.: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1993. 36 Vgl. etwa Kathryn Woodward (Hg.): Identity and Difference, London 1997; Ania Loomba: Colonialism/Postcolonialism, London 1998; Linda J. Nicholson (Hg.): Feminism/Postmodernism, London 1990. 62

DER IDENTITÄTSDISKURS

naturwüchsigen Herkunftsgemeinschaften verknüpft gewesen sind.37 Während kommunitaristische Kulturtheoretiker wie Taylor eine Neigung haben, die kontingenten kulturellen Codes sichtbar zu machen, um sie stabilisieren und pflegen zu können, tendieren die vom Poststrukturalismus beeinflussten Autoren dazu, diese Codes ans Tageslicht zu bringen, um sie zu destabilisieren beziehungsweise zu zeigen, wie sie in der sozialen Realität beständig destabilisiert wird. Homi Bhabha und andere haben in diesem Zusammenhang die Tendenz zur Hybridisierung von kollektiven Identitäten hervorgehoben, das heißt die komplexe Überlagerung und Kombination von kulturellen Codes des Selbst und kollektiven Zugehörigkeitsdefinitionen; dies gilt insbesondere für ethnische Zugehörigkeiten.38 Ein vielschichtiges Feld, das zu einer Neuthematisierung von kollektiven Identitäten in den Gegenwartsgesellschaften jenseits der sozialen Identitäten von funktionalen Rollensystemen nicht unerheblich beigetragen hat, ist schließlich das der Lebensstiltheorien und -analysen. Autoren wie Michel Maffesoli in Le temps des tribus (1988), Michael Featherstone (1991) in seinen Arbeiten zur Konsumentenkultur, Michèle Lamont in Money, Morals and Manner (1992) oder Gerhard Schulze in Die Erlebnisgesellschaft (1992) haben in unterschiedlicher Weise demonstriert,39 dass in den Gegenwartsgesellschaften zwar einerseits bestimmte Bezugspunkte der kollektiven Identifizierung – etwa Klasse oder Nation – prekärer geworden sein mögen, dass aber gleichzeitig neuartige Orientierungspunkte kollektiver Identifizierungen entstanden sind. Diese neuen kollektiven Identitäten sind zum großen Teil solche, die auf einem gemeinsamen Lebens-»Stil«, einer gemeinsamen Vorstellung »guten Lebens«, auch einem gemeinsamen Komsumstil aufbauen. Gemeinsame Lebensstile sind offenbar in der Lage, Grundlagen neuer Kollektividentitäten zu bilden, die, wie Maffesoli oder Zygmunt Bauman mit Blick auf hochmoderne Jugendkulturen betonen, den Charakter neuer »Tribalisierungen« annehmen können. Auch oder gerade, so argumentieren die Lebensstiltheoretiker, in der hochmodernen Gesellschaft gehen Kollektividentitäten über jene bloßen sozialen Identitäten funktional differenzierter Rollen hinaus und gruppieren sich nun um kollektiv geteilte 37 Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York 1994; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. 38 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London 1994. 39 Vgl. Michel Maffesoli: The Time of the Tribes. The Decline of Individualism in Mass Societey, London 1996; Michael Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991; Michèle Lamont: Money, Morals and Manner. The Culture of the French and the American UpperMiddle Class, Chicago 1992; Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M., New York 1992. 63

KULTUR

Codes der Lebensführung, in deren Kontext sich narrative personale Identitäten erst bilden können. Parallel zur Bedeutungsveränderung des Konzepts kollektiver Identitäten haben sich auch die Modelle personaler Identitäten transformiert. Teilweise – wie etwa bei Charles Taylor oder im poststrukturalistischen Diskurs – sind die Veränderungen auf beiden Begriffsebenen auch kaum trennbar miteinander verknüpft. Wenn Identität sich generell nicht mehr auf die Konstanz von sozialisierten Kompetenzen und das Spannungsfeld von Ich und sozialen Zwängen, sondern auf das kulturell kontingente Selbstverstehen bezieht, dann stellen die neuen Modelle personaler Identitäten nun regelmäßig die Vorstellung eines konstanten und mit sich identischen Subjekts in Frage. Dabei lassen sich ein Strang der Thematisierung »postmoderner« Identitäten und die Diskussion um das »hochmoderne« Selbst und dessen Identitätsarbeit voneinander differenzieren. Im Kontext der in den Kulturwissenschaften seit dem Beginn der 1980er Jahre verbreiteten Diskussion um eine Postmoderne haben Autoren wie Kenneth Gergen, Douglas Kellner oder Fredric Jameson Ansätze einer gegenüber bestimmten »modernistischen« Annahmen kritischen Konzeptualisierung des Selbst und der Identität formuliert.40 Insbesondere die in klassischen Identitätstheorien regelmäßig gemachten Voraussetzungen einer nach der Adoleszenz vorherrschenden Konstanz der Dispositionsstruktur und der Einheit(lichkeit) der Ich-Identität werden nun kritisiert. Wenn Identität nicht mehr als Dispositionsstruktur, sondern als Selbstrepräsentation begriffen wird, dann ist für die postmodernistischen Autoren die Annahme konsequent, dass dieses Sinnverstehen, das heißt die Zuordnung bestimmter Bedeutungen gegenüber dem Selbst, keine fixe Struktur bildet, sondern einen zeitlichen Prozess darstellt, in dem sich die Bedeutungen beständig verschieben und wandeln können. Die Sinnverschiebungen auf der Ebene des Selbstverstehens können dabei nicht für sich in Anspruch nehmen, dem Muster einer Entwicklung oder eines biographischen Fortschritts zu folgen. Über die Voraussetzung einer Konstanz des Selbst hinaus kritisieren die postmodernistischen Autoren die Annahme einer zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschenden Einheit der Ich-Identität, das heißt die Vorstellung, dass – zumindest im nicht-pathologischen Normalfall – letztlich eine immanente Konsistenz des Subjekts existieren müsse. Stattdessen wei40 Vgl. Kenneth Gergen: The Saturated Self, New York 1991; Douglas Kellner: »Popular culture and the construction of postmodern identities«, in: Scott Lash/Jonathan Friedman (Hg.), Modernity and Identity, Oxford 1992, S. 141-177; Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. 64

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sen Autoren wie Kellner oder Gergen nun darauf hin, dass Handelnde unterschiedliche Muster des Selbstverstehens und Entwürfe der Lebensführung gleichzeitig nebeneinander aufrechterhalten und in unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz bringen können. Multiple selves stellen dann nicht nur einen – tatsächlich problematischen – klinischen Fall dar, sondern erscheinen im übertragenen Sinne auch in der hochmodernen Alltagspraxis möglich. Gegenüber den Theorien des postmodernen Selbst sind die Theorien des im engeren Sinne hochmodernen, reflexiven Selbst anders akzentuiert: Vertreter des Modells einer reflexiven Modernisierung in der Soziologie, etwa Ulrich Beck und Anthony Giddens,41 vor allem aber neuere Ansätze in der Sozialpsychologie, die sich von Erikson und – in schwächerem Maße – vom symbolischen Interaktionismus lösen und ein Modell der alltäglichen Identitätsarbeit skizzieren,42 ziehen zwar einerseits wie die postmodernistischen Autoren die Vorstellung eines in der biographischen Zeit konstanten, mit sich identischen Selbst in Zweifel. Andererseits betrachten sie das hochmoderne Selbst weniger als ein in unterschiedliche, im Extrem inkommensurable Hintergrundsprachen fragmentiertes »Dividuum«, sondern – in revidierter modernistischer Tradition – als ein in hohem Maße reflexives, mit Sinnangeboten flexibel umgehendes Selbst, das beständig seine individuelle Identitätsarbeit betreibt.43 Das hochmoderne Selbst verfolgt die Veränderung seines Selbstverstehens und seiner Lebensführung als ein individuelles, durchaus zielgerichtetes, wenn auch fragiles Projekt, in dem es diverse kulturelle Codes zu seiner Selbstkonstitution heranzieht. Die Verschiebung der sozialwissenschaftlichen Identitätssemantik von jenen in der Psychologie und Soziologie dominierenden Modellen der 1940er bis 70er Jahre, die Identität als konstante Subjektstruktur konzeptualisierten, zu den hermeneutischen, historisierten und antistrukturalistischen, kulturwissenschaftlichen Modellen der Gegenwart,

41 Vgl. Ulrich Beck (Hg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt a.M., 1991; Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991. 42 Vgl. Heiner Keupp/Renate Höfer (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt a.M. 1997; ders. u.a.: Identitätskonstruktionen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das wichtige Konzept der narrativen Identität: Norbert Meuter: Narrative Identität, Stuttgart 1995. 43 Vgl. die Definition von Giddens: »Self-identity [...] is the self as reflexively understood by the person in terms of her or his biography. [...] A person’s identity is not to be found in behaviour, nor [...] in the reactions of others, but in the capacity to keep a particular narrative going« (A. Giddens: Modernity and Self-Identity, S. 53f). 65

KULTUR

die Identität als Prozess des Selbstverstehens der Akteure im Kontext kultureller Codes begreifen, hat damit nicht zu einem eindeutigen Ergebnis in Form einer neuen umfassenden Theorie der Identität geführt. Sie hat aber einen Raum für Fragestellungen und Analyseformen geschaffen, die der gegenwärtigen Form der Identitätsprobleme adäquater zu sein scheint – so wie die Identitätsmodelle der organisierten, klassischen Moderne in ihrem historisch-gesellschaftlichen Kontext hohe Plausibilität beanspruchen konnten. Allerdings sind die Risiken der verschiedenen, zum Teil einander widersprechenden Identitätsmodelle der gegenwärtigen Theoriediskussion mittlerweile ebenso deutlich, wie dies für die klassischen Identitätstheorien gilt. Während letztere eine problematische Enthermeneutisierung und Universalisierung des Identitätsmodells betrieben und dieses tendenziell auf funktionale Differenzierung und zeitliche Konstanz festlegten, enthalten die Identitätsmodelle der Gegenwart Risiken neuartiger konzeptueller Rigidität. Als Antwort auf die Festlegung auf Einheit und Konstanz besteht nun offenbar eine doppelte Gefahr: die einer Dramatisierung der Stabilität von Differenzen sowie die genau entgegengesetzte Gefahr einer Dramatisierung der permanenten Veränderbarkeit von Identitäten. Auf der einen Seite ergibt sich das Risiko, die kulturellen Differenzen zwischen unterschiedlichen kollektiven Identitäten – etwa solchen, die sich auf Herkunftsgemeinschaften oder Geschlechter beziehen – zu reifizieren. Sowohl die kommunitaristischen als auch manche der postkolonialen und feministischen Identitätsmodelle enthalten derartige essentialistische Elemente, die eine Inkommensurabilität von Sinnsystemen und Kollektividentitäten nahelegen können. Eine solche Annahme fixer Sinn- und Identitätsdifferenzen zwischen kulturellen Kollektiven würde aber die Annahme eindeutiger und konstanter personaler Identität der klassischen Identitätstheoretiker nurmehr in kulturalisierter Form auf die Ebene kollektiver Identitäten übertragen. Wenn die neueren Identitätsanalysen zu Recht die Hartnäckigkeit partikularer Kollektividentitäten auch und gerade unter den Bedingungen kultureller Globalisierung betonen, müssen sie gleichzeitig dem Risiko entgehen, ein zu traditionalistisches, essentialistisches Bild der Entstehung und Wirkung kollektiver Identitäten zu zeichnen.44 Dem Risiko einer Reifizierung der Differenzen zwischen kollektiven Identitäten steht das Risiko gegenüber, genau umgekehrt die permanente Veränderbarkeit und Auswechselbarkeit von – personalen wie kollektiven – Identitäten vorauszusetzen. Teilweise neigen die poststrukturalistischen und postmodernistischen Modelle kollektiver und personaler Iden44 Vgl. dazu den Artikel zu »Multikulturalismustheorien« in diesem Band. 66

DER IDENTITÄTSDISKURS

titäten dazu, die ständige Dynamik, Auflösung und Rekombination von Mustern des Selbstverstehens zu dramatisieren (oder auch in einer Weise normativ zu fordern, dass sie dem Ideal des hochkapitalistischen »flexiblen Subjekts« bereits verdächtig nahekommen). Wenn die entsprechenden semiotischen Ansätze hier dazu tendieren, die subjektive Perspektive der Alltagspraxis zu überspringen, in der die Akteure die Praktikabilität von Mustern des Selbstverstehens in den Alltagsroutinen erproben müssen, und stattdessen eine Beobachterperspektive auf sich verschiebende oder sich überlagernde Sinnelemente beanspruchen, dann übernehmen sie jedoch genau jenen kritisierten Objektivismus der klassischen Identitätstheorien, der gegenüber dem praktischen Sinn der Akteure immun blieb. Die neueren Identitätsanalysen müssen offenbar nicht nur dem Risiko des kulturalistischen Essentialismus, sondern genau umgekehrt auch dem Bild eines hyperflexiblen, seine Identitäten auswechselnden Subjekts entgehen, das den Boden der Alltagspraktiken zu verlassen scheint.45 Die neueren Ansätze der Identitätsanalyse im Kontext der kulturwissenschaftlichen Wende in der Sozialtheorie haben damit Anregungen zu einem Umbau der Identitätsbegrifflichkeit geboten, die gegen neue – und in mancher Hinsicht eher alte – konzeptuelle Risiken nicht gefeit sind. Aber verhältnismäßig offene und modifizierbare Heuristiken für die empirische Analyse kollektiver und personaler Identitäten in Soziologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft können sie allemal liefern. Dies gilt jedenfalls so lange, wie sich die Kontingenz des individuellen und kollektiven Selbstverstehens weiterhin im Zentrum des Problemhaushalts der Gegenwartsgesellschaften befindet und die Pandorabüchse der Identitäten in Zukunft nicht – auf welche Weise auch immer – wieder verschlossen wird.

45 Vgl. Calvin O. Schrag: The Self after Postmodernity, New Haven, London 1997 für einen interessanten Versuch, ein tragfähiges Modell des Selbst zwischen Poststrukturalismus und Hermeneutik über das postwittgensteinianische Konzept eines praxis-oriented self zu entwickeln. 67

Multik ultura lismusthe orie n und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell z um Modell kultureller Interferenzen Das Konzept des Multikulturalismus nimmt in den sozialwissenschaftlichen Versuchen der letzten Jahre, die gegenwärtigen westlichen Kulturen auf den Begriff zu bringen, eine Schlüsselstellung ein. »Multikulturalismus« verweist auf eine neuartige (oder zumindest als neuartig wahrgenommene) Konstellation der gelockerten Bindung von Nationalstaaten an Nationalkulturen, die sich in einer Parallelität unterschiedlicher Einzelkulturen, insbesondere solcher ethnischer Art, innerhalb der gleichen Nationalstaaten niederschlägt. Der Begriff des Multikulturalismus hat dabei von Anfang an nicht nur eine analytische, sondern auch eine normative Konnotation: Sowohl in der Politik- und Sozialtheorie als auch in der politischen Auseinandersetzung, wie sie insbesondere von ethnisch-kulturellen Minoritäten in Nordamerika und Westeuropa vorangetrieben worden ist, wird die multikulturelle Gesellschaft als ein normatives Leitbild formuliert: Diesem zufolge erscheint es begründbar und legitim, kulturell-ethnischen Großgruppen kollektive Rechte zuzuschreiben und von der Mehrheitskultur eine Respektierung der Minderheitskulturen zu erwarten.1 Diskurshistorisch ist es der Kontext der politischen Artikulation von, insbesondere sich als ethnisch verstehenden, Minderheitskulturen im 1

Vgl. nur David Theo Goldberg (Hg.): Multiculturalism: A Critical Reader, Oxford 1994; Pnina Werbner/Tariq Modood (Hg.): Debating Cultural Hybridity. Multi-Cultural Identities and the Politics of Anti-Racism, London 1997; Cynthia Willett (Hg.): Theorizing Multiculturalism. A Guide to the Current Debate, Oxford 1998; Seyla Benhabib: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M. 1999. 69

KULTUR

weiteren Zusammenhang der neuen sozialen Bewegungen am Ende der 1960er und Beginn der 70er Jahre, in dem sich das Konzept des Multikulturalismus als anfänglich normativer Leitbegriff ausbildet. In einem zweiten Schritt stellte sich die Frage des Multikulturalismus als Herausforderung für die – am Anfang gleichfalls normativ konnotierte – Sozialtheorie und Sozialphilosophie. Neben der politischen Formierung einer black community in den Vereinigten Staaten2 ist hier vor allem die zunächst ganz exzeptionelle, aber durch die sozialwissenschaftliche Rezeption äußerst wirkungsmächtige Formierung der frankokanadischen kulturellen Gemeinschaft in Quebec seit dem Beginn der 1970er Jahre zu nennen. Vor allem der Fall Quebec bildet den Hintergrund für die normativen Sozialtheorien des Multikulturalismus von Charles Taylor und Will Kymlicka, die die beiden gegenwärtig wohl avanciertesten Sozialtheorien des Multikulturalismus darstellen. Ein zweiter, davon zu unterscheidender politischer und theoretischer Kontext des Multikulturalismus sind die postkolonialen Theorien, die seit den 1980er Jahren vor allem in Großbritannien und ehemaligen Commonwealth-Staaten, daneben auch wiederum in den USA entstanden sind. Als Erfahrungshintergrund stellen sich hier die globalen Migrationsbewegungen im postkolonialen Zeitalter dar, die zu einer häufig unter dem Schlagwort einer kulturellen Globalisierung zusammengefassten parallelen oder auf komplizierte Weise einander überlagernden Existenz verschiedener kultureller Traditionen und Praktiken von ethnischen Gruppen innerhalb der Nationalstaaten geführt haben.3 Es ist die spezifische Kombination von Elementen einer Theorie moderner Kultur und eines politischen Programms beziehungsweise einer normativen politischen Philosophie, die jedoch dem Konzept des Multikulturalismus auch eine Doppeldeutigkeit verleiht. Diese Mehrdeutigkeit betrifft vor allem den Begriff der Kultur und damit auch den der Multiplizität von Kulturen, auf dem das Konzept des Multikulturalismus aufbaut. Mein Interesse gilt im Folgenden diesen grundbegrifflichen Festlegungen einer Theorie der Kultur bei den Autoren der Multikulturalismusdebatte. Es soll gezeigt werden, dass das kulturtheoretische Basisvokabular in weiten Teilen der Multikulturalismusdebatte, beispiel2

3

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Vgl. Berndt Ostendorf: »Probleme mit der Differenz. Historische Ursachen und gesellschaftliche Konsequenzen der Selbstethnisierung in den USA«, in: Wilhelm Heitmeyer/Rainer Dollase (Hg.), Die bedrängte Toleranz, Frankfurt a.M. 1996, S. 155-178. Vgl. zum Konzept kultureller Globalisierung Roland Robertson: Globalization. Social Theory and Global Culture, London 1992; zum Postkolonialismus Bart Moore-Gilbert: Postcolonial Theory. Contexts, Practices, Politics, London, New York 1997; Gerd Baumann: Multicultural Riddle. Rethinking National, Ethnic, and Religious Identities, London 1999.

MULTIKULTURALISMUSTHEORIEN UND DER KULTURBEGRIFF

haft bei Taylor und Kymlicka, auf ein pluralistisches Homogenitätsmodell von Kultur hinausläuft, dessen Theoriearchitektur auf einer impliziten Identifikation von Sinngrenzen mit Kollektivgrenzen beruht. (1) Taylor und Kymlicka stehen hier in mancher Hinsicht in der Tradition eines von Herder geprägten totalitätsorientierten Kulturbegriffs, der Kulturen als Gemeinschaften von Menschen und deren Ideensystemen begreift. Dem steht ein bedeutungsorientierter Kulturbegriff gegenüber, der aus den kulturtheoretischen Theorieinnovationen des 20. Jahrhunderts schöpft und der die Identifikation zwischen übersubjektiven Sinnsystemen und Gruppen oder Gemeinschaften auflöst. (2) Aus dem gemeinsamen Kontext eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs und der Konfrontation mit dem Phänomen einer hochmodernen kulturellen Globalisierung zeichnet sich damit ein alternatives Multikulturalismuskonzept ab, das im Rahmen der postkolonialen Theorien im Zusammenhang der Analysen von kulturellen Hybridbildungen angedeutet worden ist. Dieses Kulturmodell nimmt die Form eines Modells kultureller Interferenzen an: Eine kulturelle Heterogenität nicht zwischen Kollektiven, sondern innerhalb dieser ist hier die Leitvorstellung (3).

Das pluralistische Homogenitätsmodell d e r K u l t u r : T a yl o r u n d K ym l i c k a Charles Taylor und Will Kymlicka können als die avanciertesten Theoretiker der sozialtheoretischen Multikulturalismusdebatte seit den 1980er Jahren gelten.4 Sie repräsentieren zunächst die beiden in der sozial- und politikphilosophischen Diskussion einander entgegenstehenden Theoriestränge einer im Kern kommunitaristischen und einer im Kern liberaluniversalistischen Argumentation. Trotz dieser grundsätzlichen Differenzen teilen Charles Taylor und Will Kymlicka die von vornherein normative Fassung, die sie dem Problem des Multikulturalismus verleihen. Für beide lautet die Frage, auf welcher Legitimitätsgrundlage in einem Nationalstaat, in dem sich unterschiedliche kulturelle Gemeinschaften gegenüberstehen, auch Minderheitskulturen berechtigterweise eine Respektierung »ihrer« kulturellen Besonderheiten einfordern können: Wie lässt sich eine gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften begründen, die sich in ihren Wertgrundlagen möglicherweise gegenseitig dementieren? Auch wenn sie das Multikul4

Vgl. Charles Taylor, (1992): »Die Politik der Anerkennung«, in: ders. u.a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1993, S. 13-78; Will Kymlicka: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995. 71

KULTUR

turalismusproblem damit als ein normatives Begründungsproblem fassen, so geht beiden Autoren jedoch auf der Ebene ihres kulturtheoretischen Basisvokabulars ein bestimmtes Vorverständnis dessen voraus, was unter »Kulturen« und ihrer Verschiedenartigkeit zu verstehen ist – und zwar ein alles andere als selbstverständliches Kulturmodell. Charles Taylor behandelt die Frage des Multikulturalismus in seinem Artikel »Die Politik der Anerkennung« (1993). Sein kulturtheoretisches Basisvokabular entwickelt er in einer Anzahl von sozialtheoretischen, vor allem in den beiden Bänden der Philosophical Papers gesammelten Aufsätzen, in denen eine kulturwissenschaftliche Neufundierung der Sozialtheorie angestrebt wird.5 Taylors hermeneutische Kulturtheorie des Menschen als self-interpreting animal6 baut auf drei zentralen Konzepten auf, die zunächst unabhängig vom Multikulturalismusproblem entwickelt werden: dem des significance feature, dem des kollektiven »Hintergrundwissens« und dem der »starken Wertungen«. Als significance feature umschreibt Taylor das Phänomen, dass jeder menschliche Handlungsakt notwendigerweise von Akten des Sinnverstehens, von interpretativen Sinnzuschreibungen der Akteure ermöglicht wird, mit denen diese den Gegenständen und Personen ihrer Handlungsumwelt spezifische Bedeutungen zuschreiben. Innerhalb dieser routinisierten Bedeutungszuschreibungen kommt jenen interpretativen Akten, in denen die Handelnden über die Phänomene der Außenwelt hinaus sich selbst bestimmte Bedeutungen verleihen und damit ihre Identität, ein Verständnis ihrer selbst, produzieren, eine besondere Relevanz zu. Der Begriff des Hintergrundwissens liefert das Komplementärkonzept zu dem der Interpretation. Wenn Interpretationen situative und notwendig von einem Individuum vollzogene Akte der Sinnzuschreibung darstellen, dann liefert das Hintergrundwissen im Sinne eines Systems von Unterscheidungen jene übersubjektiven Sinnmuster, aus denen der einzelne Akteur in seinen Sinnzuschreibungen schöpft. Erst die Kombination von deskriptiven und evaluativen Unterscheidungssystemen, damit die Aufladung einzelner Sinnelemente mit »starken Wertungen«, macht dabei verständlich, wie die background languages den Akteuren nicht allein eine kognitive Konstruktion ihrer Handlungsumwelt, sondern gleichzeitig eine Motivierung bestimmten Handelns ermöglichen.7 5

6 7 72

Charles Taylor: Human Agency and Language. Philosophical Papers 1, Cambridge 1985; ders: Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2, Cambridge 1985. Vgl. Charles Taylor: »Interpretation and the sciences of man«, in: ders., Philosophy and the Human Sciences, S. 15-57. Vgl. zu Taylors Kulturtheorie Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M., New York

MULTIKULTURALISMUSTHEORIEN UND DER KULTURBEGRIFF

Die allgemeine Kulturtheorie liefert den Hintergrund für Charles Taylors Modell des Multikulturalismus. Wenn Kultur für Taylor zunächst als kollektive sinnhafte Bestände eines Hintergrundwissens zu verstehen ist, stellt sich jedoch die Frage, was mit Kulturen im Plural gemeint sein kann, die eine Konstellation der Multikultur bilden. Taylor betreibt in seinen Ausführungen zum Multikulturalismus nun eine implizite Bedeutungsverschiebung seines Kulturkonzepts: Die Differenz zwischen unterschiedlichen background languages wird zunächst in eine Differenz zwischen unterschiedlichen kulturellen Gemeinschaften, das heißt Personengruppen, transformiert, die gleichzeitig Repräsentanten jeweils eines kulturellen Hintergrundwissens darstellen sollen. In einem zweiten Schritt geht Taylor darüber hinaus von einer Differenz zwischen kulturellen Gemeinschaften aus, die jeweils eine kollektive Identität besitzen, das heißt, die sich in ihrer Selbstbeschreibung gegenseitig als different wahrnehmen und dabei jeweils »kollektive Ziele« entwickeln. Die gesamte Behandlung des Multikulturalismusproblems bei Taylor ist von der Frage motiviert, wie sich der Anspruch bestimmter Gruppen auf eine Respektierung und Verteidigung ihrer spezifischen sozialen Praktiken, wie sich mithin der Anspruch auf eine gegenseitige Anerkennung der Eigenarten verschiedener Kollektive legitimieren lässt. Taylor rechnet damit Kulturen über die Zuordnung auf Hintergrundsprachen hinaus auf Personengruppen zu, die jeweils ein bestimmtes Sinnsystem vertreten. Er muss dann konsequent und ausdrücklich den Begriff »Kulturen« für jene Praktiken und background languages reservieren, die »ganze Gesellschaften über längere Zeiträume mit Leben erfüllt haben. Mit dieser Formulierung möchte ich [Taylor, A.R.] bestimmte kulturelle Milieus innerhalb einer Gesellschaft oder auch kurze Phasen innerhalb der Entwicklung einer Kultur ausschließen.«8 Kulturen werden somit von Taylor insofern mit Gemeinschaften gleichgesetzt, als sie in ihrer Eigenschaft als bedeutungsholistisch strukturierte Sinnsysteme die gesamte Lebensweise eines Kollektivs anleiten. Kulturen sind nicht allein background languages, sondern die Lebensform, die für eine soziale Gruppe charakteristisch ist und sie von anderen Gruppen unterscheidet. Taylor nimmt hier ausdrücklich Bezug auf Herder und lehnt sich an dessen Definition an, die »das Volk als Träger einer Kultur inmitten anderer Völker« versteht: Bestimmte Gruppen sind Vertreter von bestimmten Kulturen, während sich in ihrer Umwelt andere Personengruppen mit anderen Kulturen, das heißt differenten Lebensformen, befinden. Die

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1998, Kap. II; A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien, Kap. 6.5. C. Taylor: Die Politik der Anerkennung, S. 63. 73

KULTUR

normative Aussage »Es gibt andere Kulturen, und wir müssen mit ihnen zusammenleben«9 ist nur verständlich, wenn eine solche Innen-AußenGrenzziehung zwischen verschiedenen kulturellen Hintergrundsprachen vorausgesetzt wird, die gleichzeitig eine Innen-Außen-Grenzziehung zwischen sozialen Gruppen darstellen soll. Taylor geht noch einen Schritt über diese Festlegung hinaus: Die Konstellation der Diversität verschiedener historisch verwurzelter kultureller Gemeinschaften wird dann zu einer »multikulturellen« Konstellation im eigentlichen, für Taylor interessanten Sinne, wenn diese kulturellen Gemeinschaften einander selbst gegenseitig als different wahrnehmen und beginnen, kollektive Ziele zu entwickeln. In Bezug auf die potenziell marginalisierten Minderheitskulturen ist es insbesondere das Interesse an einem Fortbestand der kollektiven Lebensform selbst, welches das zentrale kollektive Ziel gegenüber der Mehrheitskultur bildet. Bei Kulturen in diesem Sinne handelt es sich mithin jeweils um »eine Gesellschaft mit ausgeprägten kollektiven Zielsetzungen«, wobei gilt: »was die Angehörigen von Gesellschaften mit besonderem Charakter in Wirklichkeit anstreben[, ist] ihr [...] Fortbestand«.10 Die Kontingenz der theoretischen Entscheidungen, die Taylor trifft, wenn er von seiner allgemeinen Skizze einer Theorie menschlicher Kultur zu einer Theorie des Multikulturalismus übergeht, sollte nicht aus den Augen verloren werden: Wenn er Kultur als die Abhängigkeit des Handelns von übersubjektiven Unterscheidungssystemen definiert, so ist in diesem allgemeinen hermeneutischen Kulturverständnis zunächst keineswegs vorausgesetzt, dass diese background languages an – nach außen eindeutig abgrenzbare sowie sich selbst von ihrer Umwelt different setzende – kulturelle Gemeinschaften gebunden sind. Erst dadurch, dass Taylor in seiner Behandlung des Multikulturalismus die politischen Forderungen nach Respektierung von »Minderheitskulturen« zum Ausgangspunkt nimmt, geht er jedoch zu dem über, was man ein pluralistisches Homogenitätsmodell der Kultur nennen kann. Pluralistisch ist dieses Modell, indem es von der Möglichkeit der Existenz verschiedenartiger kultureller Basiscodes auch innerhalb von modernen Nationalstaaten ausgeht, die in ihren Grundlagen inkommensurabel sein können. Zu einem Homogenitätsmodell wird der Ansatz jedoch zugleich dadurch, dass die analytischen Grenzen zwischen diesen kulturellen Wissensvorräten mit den konkreten Grenzen zwischen unterschiedlichen Personengruppen identifiziert werden. Damit wird vorausgesetzt, dass eine einzelne Person wie auch ein ganzes Kollektiv sich als Trägerin eines und 9 Ebd., S. 20, 70, Hervorheb. A.R. 10 Ebd., S. 53, 55. 74

MULTIKULTURALISMUSTHEORIEN UND DER KULTURBEGRIFF

nur eines Sinnhorizontes erweisen muss: Die Differenzen zwischen Sinnhorizonten erscheinen gleichzeitig als Differenzen zwischen Gemeinschaften, durchaus im Sinne von Tönnies als »Gemeinschaften des Geistes« verstanden.11 Während diese Gemeinschaften nach außen eindeutig different und separierbar sind, erscheinen sie nach innen homogen und auf jeweils einer spezifischen, die Lebensform begründenden, bedeutungsholistisch strukturierten Hintergrundsprache fundiert. Eine zusätzliche konzeptuelle Stütze gewinnt das Homogenitätsmodell der Kultur dadurch, dass es von einer Übereinstimmung der Sinngrenzen zwischen Kollektiven mit ihren Fremd- und Selbstwahrnehmungen ausgeht. Kennzeichnend für die multikulturelle Konstellation ist damit, dass die Kollektive in ihren Sinngrundlagen nicht nur different sind, sondern einander auch als different perzipieren. Taylors Modell des Multikulturalismus ist damit letztlich im Sinne einer Multiplizierung mehrerer Mono-Kulturen aufgebaut, die jeweils als vorausgesetzte Einheit von Personengruppe, homogenem Sinnhorizont, gemeinsamer Lebensform und einer Selbstidentifizierung als Kollektiv gegenüber »anderen« Kollektiven einander gegenüberstehen.12 Die theoretische Wurzel einer derartigen homogenitätsorientierten Konzeption von Multikulturalismus ist jedoch letztlich darin zu suchen, dass Taylor, der in seiner allgemeinen Kulturtheorie zunächst an den bedeutungsorientierten Kulturbegriff aus der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts anknüpft, in seiner Konzeption des Multikulturalismus dem in der romantischen Philosophie und frühen Kulturanthropologie des 19. Jahrhunderts verwurzelten, totalitätsorientierten Kulturbegriff verhaftet bleibt. Wirft man einen Blick auf Will Kymlicka, wird deutlich, dass es sich beim pluralistischen Homogenitätsmodell nicht um ein Spezifikum Taylors oder allein kommunitaristischer Theoretiker handelt. Kymlickas Arbeiten sind sehr viel stärker als diejenigen Taylors auf eine (normative) Theorie des Multikulturalismus, und zwar im Sinne einer erneuerten liberalen politischen Philosophie der Staatsbürgerschaftsrechte, konzen-

11 Tönnies beschreibt die »Gemeinschaft des Geistes« als höchste und abstrakteste Stufe, die die Kollektivität einer Gemeinschaft ausmacht und denen die »Gemeinschaft des Ortes« und die »Gemeinschaft des Blutes« vorausgeht. Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1991, S. 12. 12 Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zu Taylor in Kwame Anthony Appiah: »Identitiy, authenticity, survival: Multicultural societies and social reproduction«, in: Amy Gutman (Hg.), Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition, Princeton 1992, S. 149-164; G. Baumann: Multicultural Riddle; S. 107-120. 75

KULTUR

triert.13 Während Taylor bereits unabhängig von der multikulturellen Problematik Ansätze einer Kulturtheorie liefert, ist Kymlickas Interesse an Kultur und Kulturen ein ausschließlich normativ-politisch ausgerichtetes Interesse am Begründungsproblem, wie sich spezifische kollektive Rechte von ethnischen Minderheiten legitimieren lassen. Die grundbegriffliche Frage, was überhaupt unter einer Kultur und unter einer Multiplizität von Kulturen zu verstehen ist, wird bei ihm daher nur am Rande behandelt. Kymlicka konstatiert jedoch in einer Klarheit, die kaum zu wünschen übrig lässt: »I am using ›a culture‹ as synonymous with ›a nation‹ or ›a people‹ [...] that is, as an intergenerational community, more or less institutionally complete, occupying a given territory or homeland, sharing a distinct language and history.«

Kulturen bilden »societal cultures whose practices and institutions cover the full range of human activities, encompassing both public and private life. These societal cultures are typically associated with national groups.«14

Für Kymlickas Verständnis von Kultur, und damit auch von Multikultur, ist somit eine Identifikation von Kultur mit der ganzen Lebensform eines Kollektivs kennzeichnend. Zusätzlich führt er noch ein drittes GrenzKriterium ein, nach dem sich – zumindest in der idealtypischen Definition – Kulturen voneinander separieren: das Kriterium der räumlichen Abgrenzbarkeit. Kulturen beziehen sich damit nicht allein auf unterschiedliche Lebensformen und Personengruppen, sondern auch auf unterschiedliche Territorien. Die Sinngrenzen der Lebensformen fallen nicht nur mit den körperlich-mentalen Grenzen der »Menschen« in Kollektiven, sondern idealerweise zudem mit räumlichen Grenzen zusammen. Der zeitgenössische Multikulturalismus, den Kymlicka als eines der zentralen Merkmale der westlichen Gegenwartskulturen ausmacht, muss sich damit konsequenterweise auf eine multinationale oder – in schwächerem Maße – auf eine polyethnische Konstellation beziehen: Im ersten Fall besteht tatsächlich jene strikte Trennung nicht nur nach Kollektiven und Lebensformen, sondern auch nach räumlichen Territorien, während im letzteren Fall die kulturellen Minderheiten sich zwar als 13 Vgl. Will Kymlicka: Liberalism, Community and Culture, Oxford 1991; ders.: Multicultural Citizenship; ders.: The Rights of Minority Cultures, Oxford 1995. 14 W. Kymlicka: Multicultural Citizenship, S. 18, S. 75f. 76

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eine Personengruppe mit distinkter (zumindest privater) Lebensform abgrenzen lassen, aber kein eigenes Territorium bewohnen.15 Multikulturalismus stellt für Kymlicka die Multiplikation mehrerer kultureller, historisch verwurzelter Gemeinschaften – oder sogar mehrerer »Nationalkulturen« – innerhalb des gleichen Nationalstaates dar. Das pluralistische Homogenitätsmodell der Kultur, das man bei Taylor herausarbeiten konnte, findet sich damit in direkterer und einfacherer Form auch bei seinem liberalen Opponenten Kymlicka: Jene eindeutige Zuordnung eines Kollektivs zu einer Lebensform, die sich nach innen als homogen und nach außen als distinkt zu anderen »kulturellen Gemeinschaften« darstellt, und damit die Identifikation von Sinngrenzen beziehungsweise den Differenzen zwischen sozialen Praktiken mit den Differenzen zwischen Personengruppen als »ganze Menschen« ist für Kymlickas Verständnis so zentral, wie es für Taylor war.

Der totalitätsorientierte und der bedeutungsorientierte Kulturbegriff Zwei sozialtheoretisch relevante Kulturbegriffe sind für die Multikulturalismusdebatte wirkungsvoll gewesen: der totalitätsorientierte und der bedeutungsorientierte Kulturbegriff. Beide implizieren unterschiedliche Modelle dessen, was eine Kultur ist, und führen daher zu verschiedenartigen Grundannahmen dessen, was eine multikulturelle Konstellation ausmachen kann. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff ist historisch mit Johann Gottfried Herder verbunden. Gegen die normativ konnotierte Differenz von Kultur und Zivilisation der Kant’schen Aufklärungsphilosophie setzt Herder ein kontextualistisches Kulturverständnis, das gleichzeitig jedoch auf die gesamte Lebensform eines Kollektivs, bevorzugt eines »Volkes« bezogen wird. Kennzeichnend für Herder ist ein Kugelmodell der Kulturen, wobei die Nationalkulturen den paradigmatischen Fall darstellen: »jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt.«16 Im totalitätsorientierten Kulturverständnis ist für eine Kultur ein Komplex spezifischer Verhaltensweisen charakteristisch, so dass das Verhältnis der Kulturen zueinander durch eine »natürliche [...] Fremdheit«17 geprägt ist. Gleich einer Kugel erscheint die Kultur im Sinne der Totalität einer Lebensweise, wie sie 15 Vgl. ebd., S. 11ff. 16 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt a.M. 1967, S. 44f. 17 Ebd., S. 45. 77

KULTUR

von einem Kollektiv praktiziert wird, immanent geschlossen und nach außen durch eine eindeutige Differenz zu anderen Lebensweisen bestimmt. Diese Differenz der Lebensweisen der Völker stellt sich nicht nur als eine durch den historischen Beobachter konstatierte Faktizität dar, sondern wird nach Herders Darstellung von den fraglichen Kollektiven auch in ihrer Selbst- und Fremdbeschreibung in gleicher Weise wahrgenommen. Diese Innen-Außen-Interpretationen, wie sie von den sozialen Gruppen selbst vorgenommen werden, tragen zur Stabilisierung der Sinngrenzen bei.18 Indem Herder Kulturen als sich geschichtlich ausbildende Lebensweisen einzelner Völker und Nationen begreift und die Individualität jedes Volkes, jeder Epoche hervorhebt, die prinzipiell an ihrem eigenen Maßstab zu messen sei, bereitet er der Ausbreitung des Kulturbegriffs in den Geistes- und Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts und damit einer empirischen Analyse der Kultur insgesamt ihren Weg. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff wird vor allem von der sich am Ende des 19. Jahrhunderts im angelsächsischen Raum ausbildenden Ethnologie aufgegriffen und empirisch angewendet.19 Er bezieht sich in diesem Sinne auf die »gesamte menschliche Lebensweise«. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff identifiziert letztlich Kultur und Gesellschaft miteinander. Talcott Parsons und A.L. Kroeber sprechen daher zu Recht von einem »condensed concept of culture-and-society«.20 Im Herder’schen und ethnologischen Verständnis von Kultur ist damit bereits ein spezifisches Modell des Multikulturalismus angelegt: Ausdrücklich geht der totalitätsorientierte Kulturbegriff von der Existenz einer »Vielfalt von Kulturen« aus. Diese Vielfalt ist jedoch von vornherein als eine Multiplizität von sozialen Gemeinschaften gedacht: Soziale Gemeinschaften zeichnen sich nach diesem Verständnis durch jeweils gemeinsame Lebensformen und durch eine kollektive Selbstperzeption aus, die das eigene Kollektiv von fremden Kollektiven unterscheidet. Einem Kollektiv lässt sich damit eindeutig eine in sich homogene Lebensform zuordnen, und – dies wird damit vorausgesetzt – der einzelne Akteur innerhalb des Kollektivs partizipiert allein an dem seiner Gemeinschaft zugehörigen Sinnsystem.

18 Herder betont hier die kollektivstabilisierende Kraft der gegenseitigen »Vorurteile«, welche die Völker »zu ihrem Mittelpunkt zusammendräng[en]« (Ebd., S. 46). 19 Vgl. wegweisend Edward B. Tylor: Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology. Philosophy, Religion, Language, Art and Custom, London 1871. 20 Alfred Louis Kroeber/Talcott Parsons: »The concepts of culture and of social system«, in: American Sociological Review 23 (1958), S. 582-583, hier S. 583. 78

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Es ist nun genau diese Kopplung des Kulturbegriffs an den Begriff der Gesellschaft, der Gemeinschaft, des Kollektivs und der Lebensform, letztlich die Kopplung von Kultur an ein Kollektivsubjekt, die in dem, was man als bedeutungsorientierten Kulturbegriff umschreiben kann, aufgegeben wird. Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff, wie er die kulturwissenschaftliche Wende in den Sozialwissenschaften des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts beherrscht, definiert Kultur als symbolischen Code, als ein System von Unterscheidungen oder als einen Sinnhorizont, in dem eine spezifische Form der kognitiven Organisation der Wirklichkeit vollzogen wird. Die Differenz zwischen einem totalitätsorientierten und einem bedeutungsorientierten Kulturbegriff wird bereits in A. L. Kroebers und Talcott Parsons Manifest »The Concepts of Culture and of Social System« angedeutet. Kroeber/Parsons stellen dem aus dem 19. Jahrhundert tradierten condensed concept of culture-and-society ein zeitgenössisches Verständnis gegenüber, das Kultur als »content and patterns of [...] symbolic-meaningful systems as factors in the shaping of human behavior«21 begreift. In seiner Zusammenfassung der kulturtheoretischen Debatte der drei folgenden Jahrzehnte umschreibt Jeffrey Alexander ein ähnliches Kulturverständnis, so wie es sich in einem allgemeinen Sinne in den Kulturtheorien durchgesetzt hat: »The concept of culture comes into play to the degree that meaning is conceived as ordered [...]. [C]ulture is the ›order‹ corresponding to meaningful action.«22 Ein solches bedeutungsorientiertes Kulturverständnis ist theoretisch insbesondere von der Semiotik, der Hermeneutik und Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele auf den Weg gebracht worden. Menschlichen Handlungsweisen liegt diesem Verständnis zufolge eine symbolische Organisation der Wirklichkeit in symbolischen Codes oder Sinnhorizonten zugrunde – und diese symbolische Organisation der Wirklichkeit macht das Kulturelle aus. Der Kulturbegriff erhält damit eine sozialkonstruktivistische Umdeutung: Aus der semiotischen, hermeneutischen oder sprachspielphilosophischen Perspektive sind die unterschiedlichen Lebensformen, die der totalitätsorientierte Kulturbegriff im Gefolge der Romantik und der Kulturanthropologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts als den Kern der Kulturalität ausmachte, nur die Oberfläche, »hinter« der sich unterschiedliche Wissensordnungen befinden, seien diese nun als symbolische Ordnungen, kulturelle Codes, übersubjektive Sinnhorizonte oder konstitutive Regeln umschrieben. Zwar stimmen das totalitätsorientierte

21 Ebd. 22 Jeffrey C. Alexander/Steven Seidman (Hg.): Culture and Society. Contemporary Debates, Cambridge 1990, S. 1f. 79

KULTUR

und – zumindest zum größten Teil – das bedeutungsorientierte Kulturverständnis dahingehend überein, dass sie kontextualistisch, nicht universalistisch ausgerichtet sind: ersteres geht von der Historizität der Gemeinschaften, letzteres von der historischen Kontingenz der kulturellen Codes aus. Die sozialkonstruktivistische Fassung des Kulturbegriffs bewirkt nun jedoch das, was insbesondere im Zusammenhang mit (neo)strukturalistischen Theorien unter der Bezeichnung einer »Dezentrierung des Subjekts« bekannt ist, aber für die Hermeneutik und die post-wittgensteinianischen Ansätze genauso gilt. Diese Dezentrierung löst den Kultur- vom Gemeinschaftsbegriff: Die Subjekte sind dem bedeutungsorientierten Kulturverständnis zufolge zwar notwendige Träger von Komplexen sozialer Praktiken und diesen entsprechenden Wissensordnungen; jedoch erscheinen die Wissensordnungen hier nicht mehr in einem eindeutigen Zuordnungsverhältnis zu den Subjekten in ihrer Ganzheit oder deren Gemeinschaften. Das einzelne Subjekt kann an verschiedenen Komplexen sozialer Praxis partizipieren, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher, im Extrem in ihren Grundlagen inkommensurabler Sinnhorizonte vollzogen werden. Diese sind somit nicht mehr eindeutig einer bestimmten Gruppe zurechenbar. Die Grenzen zwischen Komplexen sozialer Praktiken und ihren Wissensordnungen können nicht kurzerhand als identisch mit den Grenzen zwischen gemeinschaftlichen Kollektiven und auch nicht mehr mit den körperlichen Grenzen zwischen Individuen vorausgesetzt werden. Das bedeutungsorientierte Kulturverständnis hat für die Perspektive auf die moderne Gesellschaft eine doppelte Konsequenz: Zum einen vollzieht es eine Kulturalisierung jener für die soziologische Theorie des 20. Jahrhunderts charakteristischen Denkfigur, die Georg Simmel als Kreuzung sozialer Kreise im Individuum umschreibt:23 So wie die klassische Sozialtheorie bei Émile Durkheim, Simmel und Talcott Parsons ihre Theoriearchitektur in der Weise aufbauten, dass die Kreuzung von sozialen Norm- und Rollensystemen in der mentalen Struktur der einzelnen Akteure als ein zentrales Signum moderner Gesellschaften denkmöglich wurde, so macht es der bedeutungsorientierte Kulturbegriff im Gefolge von Semiotik, Hermeneutik und Sprachspielphilosophie beschreibbar, dass kognitive Wissensordnungen in Form eines welterschließenden Sinnhorizontes nicht mit der gesamten mentalen Struktur eines Subjekts und nicht mit der mentalen Struktur sämtlicher Subjekte in einem gemeinschaftlichen Kollektiv identisch sein müssen, sondern dass hier eine Kreuzung, das heißt eine simultane Wirksamkeit von

23 Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992, S. 456-511. 80

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Sinnhorizonten im Subjekt und in den Kollektiven stattfinden kann: Der Einzelne ist Träger unterschiedlicher Komplexe sozialer Praktiken und deren verschiedener Wissensordnungen. Auf diese Weise mündet das bedeutungsorientierte Kulturverständnis aber konsequent in ein alternatives Konzept des Multikulturalismus (das bei den soziologischen Klassikern selbst in dieser Weise kaum angedacht war): Multikulturell ist nun eine Konstellation, in der Akteure gleichzeitig an mehreren unterschiedlichen Wissensordnungen teilnehmen, die sie zu unterschiedlichen Interpretationen ihrer Lebensführung anleiten. In einer multikulturellen Konstellation bilden Wissensordnungen kulturelle Interferenzen und konfrontieren die Akteure mit einer Situation kultureller Hybridität, in der in den sozialen Kollektiven verschiedene kulturelle Hintergrundsprachen gleichzeitig wirksam sind und miteinander kombiniert werden. Aus dieser Perspektive erscheint nun jedoch gerade jene Konstellation, die aus Sicht des totalitätsorientierten Kulturmodells als eine Vielfalt der Kulturen interpretiert wurde, als monokulturell: als eine Addition überschneidungsfrei nebeneinander existierender Gemeinschaften.

Multikulturalismus als Konstellation kultureller Interferenzen Wenn man die Vokabulare zum Multikulturalismus, so wie sie von Charles Taylor und Wil Kymlicka geboten werden, vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Optionen des Kulturbegriffs versteht, wird deutlich, dass deren Kulturbegriff in vieler Hinsicht in Kontinuität zum totalitätsorientierten Kulturverständnis im Gefolge von Herder steht. Das Ergebnis des gemeinschaftsorientierten, essentialistischen Multikulturalismuskonzepts ist eine Einengung der empirisch-analytischen Anschlussmöglichkeiten, die mit einem bemerkenswerten Traditionalismus in der Diagnose hochmoderner Kultur verknüpft ist. Die Identifikation von Kollektiv und Sinnsystemen schließt von vornherein eine adäquate Begrifflichkeit zur Analyse alternativer, posttraditionaler Konstellationen aus: der Konstellation, dass Handelnde an Komplexen sozialer Praktiken partizipieren, die ihren Hintergrund in verschiedenen, möglicherweise inkompatiblen background languages haben, so dass auf der Ebene des vermeintlichen Kollektivs wie auch des vermeintlich homogen strukturierten Subjekts mehrere Wissensordnungen gleichzeitig herangezogen werden. Damit bleibt der theoretische Rahmen, den das Multikulturalismuskonzept eines pluralistischen Homogenitätsmodells bietet, jedoch darauf beschränkt, solchen Konstellationen den Status eines nicht weiter erläuterungsbedürftigen Normal81

KULTUR

falls zu verleihen, die bereits bei Klassikern der modernen Sozialtheorie wie Durkheim und Tönnies als typisch für primär traditionale Gesellschaften angenommen wurde (und die wohl auch dort nur aufgrund eines modernistischen Vorurteils als typisch erscheinen konnten): die Existenz eines gemeinsamen Kollektivbewusstseins, einer sozialen Gemeinschaft als »Gemeinschaft des Geistes«. Nun hat bereits ein Großteil der soziologischen Theorie des 20. Jahrhunderts auf einer bestimmten Ebene gegen eine solche Identifikation der Verhältnisse traditionaler, gemeinschaftlich organisierter und moderner Gesellschaften argumentiert: Die klassische Argumentation von Durkheim und Simmel über Parsons und Merton bis Luhmann ging dabei regelmäßig in die Richtung, das traditionelle Konzept des homogen strukturierten gemeinschaftlichen Kollektivsubjekts auf der Grundlage einer Theorie funktionaler Differenzierung moderner Institutionen, an denen moderne Akteure jeweils gleichzeitig partizipieren, zu kritisieren und aufzulösen.24 Dabei wurde funktionale Differenzierung in der Regel als eine Differenzierung unterschiedlicher Systeme von Normen und Rollen konzeptualisiert. Man kann nun eine Theorie des Multikulturalismus, die sich von der Identifikation zwischen Kollektiven und symbolischen Ordnungen löst, als einen zweiten, radikaleren Anlauf verstehen, eine Alternative zum Modell traditionaler kultureller Gemeinschaften zu formulieren. Anders als die Theorie funktionaler Differenzierung bezieht sich eine solche Multikulturalismuskonzeption jedoch nicht auf die simultane Partizipation von Akteuren an verschiedenen Funktionssystemen und deren Rollenerfordernissen, sondern auf die simultane Partizipation von Akteuren an verschiedenen die Lebensformen anleitenden, kognitiv-evaluativen background languages (hier kann man durchaus auf Taylors Terminologie zurückgreifen): Es gilt, mit einer kulturellen Pluralisierung in dem Sinne zu rechnen, dass Akteure in ihrer Lebensführung gleichzeitig unter dem Einfluss verschiedener grundlegender Sinnhorizonte und kultureller Traditionen geraten können, die sich miteinander auf unberechenbare Weise kombinieren.25 Insbesondere jene Akteure, die an den globalen Migrationsbewegungen teilhaben, sind mit einer derartigen Konstellation hybrider Kulturen konfrontiert, die folgenreich für die Identitätsbildung auf individueller wie auf kollektiver 24 Vgl. insgesamt Karl-Otto Hondrich (Hg.): Soziale Differenzierung, Frankfurt a.M., New York 1982; Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. 25 Vgl. etwa R. Robertson: Globalization; J. Friedman: Cultural Identity and Global Process; Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.): Global Modernities, London 1995; Manuel Castells: The Power of Identity. The Information Age, Volume II, London 1997. 82

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Ebene wird. Die Wirkung von Kultur im Sinne von Multikultur ist dann jedoch eher mit einem Modell kultureller Interferenzen zu erfassen, das heißt einem Modell, das mit der Überlagerung unterschiedlicher Wissensordnungen rechnet.26 Ein auf dem Grundgedanken kultureller Interferenzen beruhendes, alternatives Multikulturalismuskonzept ist insbesondere im Kontext der postkolonialen Theorien unter der Überschrift kultureller Hybridbildungen angedeutet worden.27 In diese Richtung weisen die Arbeiten von Michail Bakhtin, Homi K. Bhabha und Gerd Baumann: Bakhtin führt das Konzept der Hybridisierung im Sinne einer Kombination zweier oder mehrerer »Sprachen« oder Zeichensysteme in die Diskussion ein.28 Dabei verwendet er die Unterscheidung zwischen den gleichsam unbewussten »organischen« und den bewusst-reflektierten Hybridisierungen: Die von den Akteuren selbst gar nicht wahrgenommene, latente Überlagerung und Vermischung unterschiedlicher »Sprachen« – und damit gerade nicht die Existenz von homogenen Kulturen mit festen Sinngrenzen – muss als der Normalfall kultureller Entwicklung angesehen werden. Demgegenüber erscheint die sich selbst bewusste Hybridisierung als ein, insbesondere moderner, Spezialfall, in dem Akteure virtuos und experimentell mit unterschiedlichen kulturellen Versatzstücken umgehen. Homi K. Bhabha hat im Kontext der postkolonialen Theorien das Konzept kultureller Hybridbildung zur Umschreibung multikultureller Konstellationen am deutlichsten profiliert. Bhabha betont in The Location of Culture, dass Kollektivphänomene wie Gemeinschaft oder Nation Ergebnisse von sozialen Aushandlungs-, Selbst- und Fremddefinitionsprozessen darstellen, denen eine komplexe Überlagerung von kulturellen Codes vorausgehen kann:

26 Man kann den Begriff der »Interferenzen« im metaphorischen Sinne der Physik entlehnen, die damit die Überlagerung etwa unterschiedlicher Schallwellen, die von unterschiedlichen Zentren ausgehen, umschreibt. Auf Kultur übertragen wird der Begriff erstmals von Geertz (vgl. Clifford Geertz: »Ritual and social change: A Javanese example«, in: ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, London 1993, S. 142-169, hier S. 167). 27 Der Terminus des »Hybriden«, der zunächst im Kontext der Biologie negativ konnotiert war, wird dabei in seiner Übertragung auf sozialkulturelle Verhältnisse in der exemplarischen Form einer semantischen Verschiebung wertfrei oder mit positiver Konnotation verwendet (vgl. zur Begriffsgeschichte Nikos Papastergiadis: »Tracing hybridity in theory«, in: P. Werbner/T. Modood (Hg.), Debating Cultural Hybridity, S. 257281. 28 Vgl. Michail Bakhtin: The Dialogic Imagination, Austin 1981, S. 358ff. 83

KULTUR

»It is in the emergence of the interstices – the overlap and displacement of domains of difference – that the intersubjective and collective experiences of nationness, community interest, or cultural value are negotiated.«29

Gerd Baumann schließlich kritisiert ein auf Gemeinschaften bezogenes, essentialistisches Multikulturalismuskonzept, indem er diesem ein Modell multikultureller Konstellationen im Sinne von cross-cutting cleavages gegenüberstellt.30 Konzeptualisiert man Multikulturalismus nicht als eine Multiplikation homogener Gemeinschaften, sondern als eine Konstellation der simultanen Wirkung unterschiedlicher, Lebensformen anleitender Wissensordnungen in der Handlungspraxis der gleichen Akteure, dann zeichnet sich ein Konzept des Multikulturalismus ab, das sich von der Denklinie Taylors und Kymlickas deutlich unterscheidet. Die Forderungen von Minderheitskulturen nach Authentizität und Respektierung ihrer kollektiven Rechte, mithin deren Selbstbeschreibung als kulturelle Gemeinschaften, bildet dann nicht den Ausgangspunkt der multikulturalistischen Theorie, sondern verweist auf ein seinerseits analysebedürftiges kulturelles Phänomen. Ein Multikulturalismusmodell, das nicht am totalitätsorientierten, sondern am bedeutungsorientierten Kulturbegriff ansetzt, klammert die Selbstbeschreibung von Kollektiven als Gemeinschaften nicht aus, sondern begreift die Bildung von kollektiven wie von personalen Identitäten unter den Bedingungen hybrider Kulturen als reales Problem, gegenüber dem die Versuche, sich als distinkte Gemeinschaften zu definieren und eine Homogenisierung von Kulturen zu betreiben, als eine offensichtlich mögliche kulturelle Strategie erscheint. Angesichts des bislang eher geringen Grads einer theoretischen Ausarbeitung des Konzepts der Hybridkulturen im Kontext postkolonialer Theoriebildungen sind jedoch einige heuristische Differenzierungen nötig, um ein leistungsfähiges Konzept kultureller Interferenzen31 und damit des Multikulturalismus zu erhalten: Relevant erscheint neben (1) der Differenzierung zwischen unterschiedlichen Graden der Divergenz oder Konvergenz zwischen Sinngrenzen und Personengrenzen (2) die Verschiebung des analytischen Kernproblems von dem der sozialen Anerkennung vorausgesetzter Gemeinschaften zum Problem der Bildung von Identität, und zwar auf personaler wie auf kollektiver Ebene sowie 29 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London 1994, S. 2. 30 Vgl. Gerd Baumann: »Dominant and demiotic discourses of culture«, in: P. Werbner/T. Modood (Hg.), Debating Cultural Hybridity, S. 226-254; G. Baumann: Multicultural Riddle. 31 Vgl. hierzu auch A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien, S. 617-643. 84

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(3) die Unterscheidung zwischen der Ebene impliziter Wissensvorräte und der Ebene diskursiver Selbstbeschreibungen. (1) Anders als der totalitätsorientierte Kulturbegriff nahelegt, sind in der Frage der Grenze zwischen Kulturen heuristisch die Grenzen zwischen verschiedenen Praxis/Wissens-Komplexen und die Grenzen zwischen Akteuren sowie zwischen Kollektiven zu unterscheiden. Komplexe sozialer Praktiken werden ermöglicht durch Wissensordnungen, durch implizit wirkende, mehr oder minder geordnete kulturelle Schemata, die den Hintergrund der Interpretationen der Akteure in der Handlungssituation bilden. Die Grenze zwischen verschiedenen Praxiskomplexen und ihren Wissensordnungen ist dann eine – zumindest analytisch zu ziehende – Sinngrenze. Von dieser sind die Grenzen zwischen Akteuren, verstanden als körperlich-mentale Träger von Handlungsakten, und schließlich zwischen Kollektiven von Akteuren, damit die Personengrenzen zu unterscheiden. Eine homogene Kultur würde entstehen, sobald eine Gruppe von Akteuren einen homogenen Komplex sozialer Praxis trägt, in dem sich ein homogenes Hintergrundwissen ausdrückt. Hier handelt es sich im Extrem um jene Konstellation, die klassisch Durkheim mit der Existenz eines einheitlichen Kollektivbewusstseins umschreibt. In einer Konstellation kultureller Interferenzen hingegen partizipieren die Akteure an unterschiedlichen Komplexen sozialer Praktiken, in denen sich jeweils verschiedenartiges Hintergrundwissen ausdrückt. Auf der Ebene des Handelnden interferieren diese unterschiedlichen Wissenskomplexe – was in entsprechende Ambivalenzen der Interpretation von Situationen und vor allem seiner selbst münden kann. Sinngrenzen und Personengrenzen sind in einem solchen Fall nicht identisch: Die Bearbeitung der Sinngrenze durch den Akteur beziehungsweise durch das Kollektiv wird gerade zum Problem. Im Interesse einer Analyse im engeren Sinne multikultureller Phänomene erscheint eine zusätzliche heuristische Präzisierung notwendig. Man kann aus Alfred Schütz’ Sozialphänomenologie die Unterscheidung zwischen lebensweltlichem (Allgemein-)Wissen und Sonderwissen beziehen32 und darauf aufbauend zwei Konstellationen differenzieren: In einem ersten Fall ist ein Komplex lebensweltlicher Praxis und zugehörigen lebensweltlichen Wissens von verschiedenen anderen Praxiskomplexen zu unterscheiden, in denen ein vom lebensweltlichen Wissen in seinen grundsätzlichen Schemata differentes, spezialisiertes Sonderwissen (ökonomischer, wissenschaftlicher, künstlerischer etc. Art) zum Einsatz kommt. Davon zu differenzieren ist eine zweite Konstellation: Hier

32 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Darmstadt, Neuwied 1975, S. 371-376. 85

KULTUR

existieren unterschiedliche lebensweltliche Praxis-Komplexe und entsprechende verschiedene lebensweltliche Wissensordnungen selbst, an denen die gleichen Akteure partizipieren, etwa unterschiedliche historische Traditionen, Moralen, Ethiken des guten Lebens etc., somit unterschiedliche für die Lebensführung und die Form der eigenen Identität konstitutive background languages. Die erste Konstellation ist für die Theoretiker der funktionalen Differenzierung zentral: Die Konstellation einer Differenzierung von rollenspezifischem Sonderwissen kann dabei mit der Annahme verknüpft sein, dass auf der Ebene des lebensweltlichen Wissens weiterhin ein in seinen Basisunterscheidungen einheitlicher kultureller Code existiert.33 Nicht dieser, sondern erst der zweite Fall bezeichnet jedoch jene Konstellation, die für ein nicht-totalitätsorientiertes Modell des Multikulturalismus von Interesse ist: Eine multikulturelle Konstellation lässt sich über eine simultane Wirksamkeit und in diesem Sinne eine Interferenz unterschiedlicher Sinnhorizonte innerhalb des lebensweltlichen Wissens von Handelnden definieren, mit dem sie die Grundlagen ihrer Lebensführung und Identität definieren, unabhängig von etwaigen zusätzlichen Differenzen zwischen lebensweltlichem Basiswissen und Sonderwissen oder zwischen verschiedenen Beständen von Sonderwissen. Während die Wissensdifferenzierung auf der Ebene von Sonderwissen, wie sie die Differenzierungstheoretiker in den Vordergrund stellen, über eine eindeutige Regelung der Anwendung des Sonderwissens in verschiedenen Praxiskomplexen und sozialen Feldern entproblematisiert werden kann (wobei auch hier die kulturelle Realität dem Modell häufig nicht entspricht), stellt sich für die simultane Geltung unterschiedlichen lebensweltlichen Wissens in gesteigertem Maße das Problem des Umgangs mit der Überlagerung verschiedener Wissensordnungen: Diese Wissensordnungen sind nicht »funktionsspezifisch« abgrenzbar, sondern berühren die Identität der Akteure. Kulturelle Interferenzen stellen den Akteur vor das Problem interpretativer Unterbestimmtheit und Mehrdeutigkeit: Handlungssituationen und insbesondere die eigene Person sowie die soziale Zugehörigkeit erscheinen nicht eindeutig bestimmbar, sondern werden ambivalent. Je nachdem, welches der lebensweltlichen kulturellen Codes herangezogen wird, sind unterschiedliche Sinnzuschreibungen möglich, werden unterschiedliche Praktiken nahegelegt. Kulturelle Interferenzen setzen sich in der subjektiven Perspektive des unter Handlungsdruck stehenden Akteurs damit in interpretative Ambivalenzen um. Für den Umgang der Akteure mit der Überlagerung unterschiedli33 Vgl. etwa Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, Weinheim, München 1985. 86

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cher lebensweltlicher Wissensvorräte sind unterschiedliche Szenarien möglich. Heuristisch lassen sich vor allem drei differenzieren: Die »Innovationsstrategie« der Akteure besteht darin, unterschiedliche Sinnelemente zu neuartigen lebensweltlichen Wissensordnungen und Praxiskomplexen zu kombinieren, in die verschiedene alte Sinnelemente in nun veränderter Bedeutung eingehen. Diese kulturelle Innovation qua Rekombination entspricht einem Vorgang, der unter dem Begriff der »Kreolisierung« bekannt geworden ist.34 Die Strategie der »Kompartmentalisierung« von Wissen besteht darin, die Differenz zwischen den unterschiedlichen lebensweltlichen Wissensvorräten aufrechtzuerhalten und ihre Anwendung in unterschiedlichen Komplexen sozialer Praktiken eindeutig zu regeln (etwa in der Herkunftsfamilie einerseits, in der peer group andererseits).35 Diese zweite Strategie kombiniert die lebensweltlichen Codes nicht, sondern separiert sie mit Hilfe eindeutiger Anwendungskriterien. Eine dritte Möglichkeit – die allerdings keiner intendierten Strategie der Akteure entsprechen muss – ist in einer diffusen Anwendung unterschiedlicher Sinnhorizonte zu suchen, ohne dass für den Akteur eindeutige Kriterien existieren, in welcher Situation welches Wissen als Interpretationshintergrund zum Einsatz kommt. Eine derartige Stabilisierung von interpretativer Ambivalenz und Handlungsunsicherheit kann offenbar in jene psychische »Stresssituationen« münden, wie sie von sozialpsychologischen Studien zur Migration hervorgehoben worden sind.36 (2) Eine zweite grundbegriffliche Umstellung, die die Kritik am essentialistischen Multikulturalismusmodell mit sich bringt, ist die Verschiebung dessen, was als analytisches Problem einer multikulturellen Konstellation wahrgenommen wird. Für Taylor und Kymlicka besteht das multikulturelle Problem darin, wie Minderheitskulturen innerhalb von Mehrheitskulturen ihren Fortbestand sichern und kulturelle sowie 34 Vgl. Ulf Hannerz: »The world in creolisation«, in: Africa 57 (1987), S. 546-559), Jan Nederveen Pieterse: »Globalization as hybridization«, in: M. Featherstone/S. Lash/R. Robertson (Hg.), Global Modernities, S. 4568. Vgl. die Fallbeispiele Ayse Çaglar: »McDöner: Döner Kebap and the social positioning struggle of German Turks«, in: Jeannine ArnoldCosta/Gary Bamossy (Hg.), Marketing in a Multicultural World, London 1995, Gerd Baumann: Contesting Culture: Discourses of Identity in MultiEthnic London, Cambridge 1996, S. 173-187. 35 Diese Strategie erläutern Strauss/Quinn vor sozialpsychologischem Hintergrund, vgl. Claudia Strauss/Naomi Quinn: A Cognitive Theory of Cultural Meaning, Cambridge 1998, S. 213-231. 36 Vgl. Paul B. Hill: »Kulturelle Inkonsistenz und Streß bei der zweiten Generation«, in: Hartmut Esser/Jürgen Friedrichs (Hg.), Generation und Identität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie. Opladen 1990, S. 101-126. 87

KULTUR

rechtliche Anerkennung erhalten können. Ein Multikulturalismuskonzept, das Wissensordnungen nicht mit Gemeinschaften gleichsetzt, ist hingegen an einem anderen, doppelten Problem orientiert: dem der Bildung personaler Identitäten sowie dem der Bildung kollektiver Identitäten unter Bedingungen kultureller Hybridität. Die Frage ist dann nicht mehr, wie in ihrem Bestand bereits vorausgesetzte kollektive Identitäten fortbestehen oder anerkannt werden, sondern ob und wenn ja, wie derartige Identitäten in einem offenen Prozess entstehen, reproduziert oder verändert werden. In dem Moment, in dem die feste Verankerung von Kollektividentitäten in der Primärsozialisation fragil werden kann, wandeln sich die Bedingungen und Strukturen personaler Identitätsbildung, das heißt, die Art und Weise, in der sich das Individuum selbst versteht und in dieser Form des Selbstverstehens die Basis für seine Handlungspraxis findet.37 Das mit dem totalitätsorientierten Kulturbegriff verknüpfte Multikulturalismusmodell musste in der Bildung personaler Identität kein prinzipielles Problem sehen: Die Voraussetzung der stabilen kollektiven Identität einer kulturellen Gemeinschaft konnte hier den Hintergrund für die implizite Annahme liefern, dass relativ stabile Bedingungen für eine Ausbildung personaler Identität existieren. Im Rahmen eines an kultureller Hybridität orientierten Modells, in dem diese Voraussetzung nicht mehr gemacht wird, erhält die Frage nach der Fragilität der Bildung personaler Identität einen neuen Stellenwert: Die Partizipation an Komplexen sozialer Praktiken, in denen unterschiedliche, einander im Extremfall widersprechende kulturelle Codes zum Einsatz kommen – eine Konstellation, wie sie für die personale Identitätsbildung von Migranten in der zweiten Generation paradigmatisch ist38 – lässt klassische soziologische Modelle der Identitätsbildung im Sinne einer Enkulturalisation in einen eindeutigen, vorgegebenen Sinnhorizont simplifizierend erscheinen. Stattdessen kann

37 Der Begriff der Identität ist kein problemloses Konzept: In unserem Zusammenhang soll der Begriff nicht primär die Konstanz eines Subjekts oder eines Kollektivs in der Zeit im Sinne eines klassischen Verständnisses von Identität als »Selbstnämlichkeit« bezeichnen, sondern die Sinnmuster, mit denen Akteure sich als Individuen bzw. als Glieder eines Kollektivs selbst verstehen. Vgl. auch den Artikel zum »Identitätsdiskurs« in diesem Band. 38 Vgl. nur die Beispiele in James Clifford: »Diasporas«, in: Cultural Anthropology 9 (1994), S. 302-338; Nina Glick-Schiller/Linda Basch/ Christina Blanc Szanton: »From immigrant to transmigrant: Theorizing transnational migration«, in: Anthropological Quaterly 68 (1995), S. 48-63; Pnina Werbner: »Global pathways. Working class cosmopolitans and the creation of transnational ethnic worlds«, in: Social Anthropology 7 (1999), S. 17-35. 88

MULTIKULTURALISMUSTHEORIEN UND DER KULTURBEGRIFF

nun ein Anschluss an die neueren Theorien der Identitätsarbeit hergestellt werden.39 Die in der Multikulturalismusforschung zu behandelnde Frage lautet dann, in welcher Weise die Akteure mit der Verschiedenartigkeit oder sogar Inkommensurabilität der ihnen gültig erscheinenden kulturellen Codes umgehen, wenn sie sich als ein Selbst verstehen: Kreolisierung, Kompartmentalisierung von lebensweltlichen Wissensordnungen und Stabilisierung von Ambivalenzen fordern auf unterschiedliche Weise die Definition des Selbst heraus. Von der Analyse multikultureller Konstellationen kann man sich damit Aufschluss auf die Frage nach genuin hochmodernen Formen der Identitätsbildung erwarten. Zu unterscheiden von kulturellen Interferenzen und Ambivalenzen auf der Ebene des einzelnen Akteurs und damit dem Problem der personalen Identitäten ist die Frage nach der Wirkung kultureller Interferenzen auf der Ebene von Kollektiven und damit die nach den kollektiven Identitäten. In der totalitätsorientierten Multikulturalismuskonzeption Taylors und Kymlickas wird vorausgesetzt, dass die fraglichen kulturellen Gemeinschaften nicht nur »an sich« differente Lebensformen besitzen, sondern zudem »für sich« einander als different interpretieren und damit sich selbst als Gemeinschaft identifizieren. Aus der Perspektive einer hybriditätsorientierten Multikulturalismuskonzeption können jedoch genauso wenig wie kulturelle Gemeinschaften kollektive Identitäten vorausgesetzt werden. Stattdessen wird nun die Bildung von kollektiven Identitäten, das heißt von sozial geteilten Selbstbeschreibungen als ein Kollektiv, zum faktischen wie analytischen Problem: Wie kommen, wenn gleichzeitig unterschiedliche kulturelle background languages wirksam sind, »Kollektive« dazu, kollektive Selbstbeschreibungen auszubilden, in denen sie sich als einheitliche Gruppe interpretieren? Die Multikulturalismusdiagnose kann damit an – etwa aus dem Kontext der Nationenbildungsforschung bekannte – Ansätze anschließen, die danach fragen, wie kollektive Identitäten vor allem über den diskursiven Weg von Narrationen konstruiert werden, die eine bestimmte gemeinsame Vergangenheit postulieren und die sich dabei als spezifische Produkte kultureller Eliten darstellen können.40 (3) Im Vergleich zur begrifflichen Kopplung von kulturellen Gemeinschaften und kollektiven Identitäten, wie sie im Rahmen der homogenitätsorientierten Multikulturalismuskonzeption betrieben wird, unterscheidet ein hybriditätsorientiertes Multikulturalismusmodell damit zwischen der Ebene der Wirksamkeit impliziter Wissensordnungen und den 39 Vgl. Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 1999. 40 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York 1983. 89

KULTUR

expliziten Selbstthematisierungsdiskursen: Welche kulturellen Schemata in einem Kollektiv für die alltägliche Handlungspraxis und Lebensführung konstitutiv sind und damit auch die Form, in der sich hier unterschiedliche Schemata in komplizierter Weise »multikulturell« überlagern, muss nicht mit der Art und Weise übereinstimmen, in der im selben Kollektiv die eigenen »Sinngrundlagen« in Form von Selbstbeschreibungsdiskursen interpretiert werden. Eine hybride Kultur Quebec, eine hybride black community in den USA kann sich selbst trotzdem als eine homogene Gemeinschaft beschreiben. Die Ebene und Struktur der in einem Kollektiv implizit wirksamen Wissensordnungen und die Ebene der Selbstbeschreibungen bilden damit zwei zu differenzierende Dimensionen: Während die kollektiven Hintergrundsprachen, die sich in den sozialen Praktiken ausdrücken, gewissermaßen eine implizite Kultur bilden, ist davon die explizite Kultur der diskursiven Selbstthematisierungen, Selbstbeobachtungen und Identitätserzählungen zu unterscheiden. Unterschiede zwischen diesen beiden Ebenen können jedoch nicht kurzerhand als Ergebnisse falscher Selbstrepräsentationen des jeweiligen Kollektivs abgetan werden. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass bestimmte Selbstbeschreibungen, die »erfundenen« Traditionen,41 die »imaginierten« Gemeinschaften,42 für die Formierung und Neuformierung der impliziten kulturellen Schemata über kurz oder lang in hohem Maße wirkungsmächtig sein können (so wie auch umgekehrt die Schemata der Selbstbeschreibungsdiskurse ihrerseits nicht unabhängig von dem schon vorhandenen impliziten Wissen existieren können). Es ist möglich, dass die Selbstbeschreibungsdiskurse der Kollektive, wenn sie entsprechend institutionalisiert sind, eine Homogenisierung des impliziten Wissens befördern, die ohne die entsprechenden Diskurse gar nicht entstanden wäre. Die möglichen Relationen zwischen impliziten Wissensvorräten einerseits, kulturellen Selbstthematisierungsdiskursen andererseits, die beide jeweils zwischen kultureller Homogenität und kulturellen Interferenzen variieren können, sind damit für einen Multikulturalismusbegriff, der das Homogenitätsmodell hinter sich lässt, von zentraler Bedeutung. Neben der konzeptuellen Marginalisierung des Phänomens kultureller Interferenzen im Zuge der Identifikation von Sinngrenzen und Personengrenzen stellt sich die mangelnde Differenzierung zwischen den Ebenen von impliziten background languages und Selbstbeschreibungsdiskursen als zweite begriffliche Engführung der normativen Multikultu-

41 Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 42 Vgl. B. Anderson: Imagined Comunities. 90

MULTIKULTURALISMUSTHEORIEN UND DER KULTURBEGRIFF

ralismustheoretiker dar. Differenziert man diese voneinander und unterscheidet zwischen Konstellationen relativ homogener Kulturen und Konstellationen kultureller Interferenzen, so lassen sich idealtypisch verschiedene mögliche Relationen der beiden – in jedem Fall aufeinander einwirkenden – Ebenen gegenüberstellen, die diverse multikulturelle oder monokulturelle Konstellationen ergeben: Homogene Kulturen, das heißt Kollektive mit einem relativ abgeschlossenen Komplex sozialer Praktiken und einer entsprechenden Wissensordnung, können sich selbst als homogene Kulturen beschreiben und von anderen homogenen Kulturen different setzen. Dies ist der Fall, den Taylor in seiner Multikulturalismuskonzeption voraussetzte, der aber unter hochmodernen Bedingungen eine ungewöhnliche Konstellation darstellt. Wahrscheinlicher erscheint dieser Fall möglicherweise (aber auch hier wird man dem modernistischen Vorurteil nicht erliegen dürfen) für jene relativ wenig differenzierten und durch ein geringes Maß kulturellen Außenkontakts charakterisierten vormodernen Großgruppen der Vergangenheit, die zudem eine kollektive Identität auf der Grundlage eines primordialen Codes oder eines traditionalen Codes der InnenAußen-Differenzierung bilden.43 Andererseits können hybride Kulturen, das heißt solche, in denen »multikulturell« Sinninterferenzen stattfinden und die sich aus der Beobachterperspektive im Sinne von Bakhtins organischer Hybridisierung als hybrid darstellen, von den Teilnehmern in ihren Selbstbeschreibungsdiskursen selbst als homogene Kulturen uminterpretiert werden. Ebenso können sie in der Fremdbeschreibung etwa von Seiten der Mehrheitskultur als homogen konstruiert werden. Hier findet der klassische Fall der Kreation einer imagined community statt.44

43 Vgl. Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a.M. 1999, S. 32-54. 44 Mittlerweile haben eine Anzahl von Autoren die homogenisierende Wirkung nicht nur von nationalistischen, sondern auch von »multikulturalistischen« Selbstbeschreibungsdiskursen hervorgehoben, wobei letztere damit nichts anderes als eine legitimatorisch auf »Differenz« rekurrierende Spielart von ersteren darstellen. Vgl. etwa Bruce Kapferer: Legends of People, Myths of State. Violence, Intolerance and Political Culture in Sri Lanka and Australia, Washington 1988; Paul Gilroy: »The end of antiracism«, in: James Donald/Ali Rattansi (Hg.), »Race«, Culture and Difference, London 1992, S. 49-61. Vgl. zum spezifischen Fall Quebec bereits Richard Handler: »On sociocultural discontinuity: Nationalism and cultural objectification in Quebec«, in: Current Anthropology 25 (1984), S. 55-71. Umgekehrt weisen etwa Bukow/Llaryora auf die »Politik der Ethnisierung« über den Weg von homogenisierenden Fremdettiketierungen der »Minderheitskultur« durch die »Mehrheitskultur« hin, vgl. WolfDietrich Bukow/Roberto Llaryora: Mitbürger aus der Fremde. Soziogenese ethnischer Minoritäten, Opladen 1988, S. 82-110. 91

KULTUR

Der dritte mögliche Fall erscheint in seiner realen Bedeutung bislang eher marginal: Auf der Ebene ihrer impliziten background languages relativ homogene und gegenüber ihrer Umwelt differente Kollektive können sich selbst in ihren Selbstthematisierungsdiskursen als hybrid und multikulturell definieren. Diese Möglichkeit scheint nicht ausgeschlossen, wenn die Theorien kultureller Hybridität in den postkolonialen Human- und Sozialwissenschaften, insbesondere den britischen und nordamerikanischen Cultural Studies, keine rein wissenschaftlichen Diskurse, sondern selbst politisch und kulturell wirksame Selbstbeschreibungsdiskurse darstellen, in denen Hybridität offen oder latent als ein normativ konnotiertes Ideal erscheint.45 Schließlich kann viertens eine Konstellation kultureller Interferenzen auf der Ebene der impliziten Wissensordnungen mit einer kollektiven Selbstbeschreibung eines Kollektivs als inhomogen und »multikulturell« korrespondieren: Ein Kollektiv, in dem in der kollektiven Lebensführung und den dort wirksamen Codes gleichzeitig unterschiedliche, sich überlagernde kulturelle Traditionen wirken, kann sich in seinen Selbstbeschreibungsdiskursen selbst als eine hybride oder kreolisierte Kultur beschreiben – und so indirekt doch eine kollektive Identität als einzigartige Kombination spezifischer kultureller Traditionen und Vokabulare erreichen.46 Ein an kulturellen Interferenzen orientiertes heuristisches Modell des Multikulturalismus lenkt damit den Blick auf andere Phänomene und Probleme als das homogenitätsorientierte Multikulturalismusmodell, das in der Sozialphilosophie und Sozialtheorie bisher den Ton angibt. Das Verhältnis der Grenzen von Wissensordnungen, vor allem von lebensweltlichen background languages, zu Kollektiven und zu Akteuren, das Problem der personalen und kollektiven Identitätsbildung unter Bedingungen einander kreuzender Wissensordnungen, schließlich das Verhältnis von impliziten background languages und expliziten Selbstthe45 Vgl. etwa den kritischen Kommentar in Jonathan Friedman: »Global crises. The struggle for cultural identity and intellectual porkbarrelling«, in: P. Werbner/T. Modood (Hg.), Debating Cultural Hybridity, S. 70-89. 46 Zu denken wäre hier etwa an die von Stuart Hall skizzierte Selbstdefinition der »carrebeans« als Kombination afrikanischer, europäischer und amerikanischer kultureller Traditionen (vgl. Stuart Hall: »Cultural identity and diaspora«, in: Jonathan Rutherford (Hg.), Identity: Community, Culture, Difference, London 1990, S. 222-237) oder an das von Baumann analysierte Fallbeispiel der Bewohner des Londoner Vorort Southhall: Insbesondere in der Jugendkultur lässt sich hier eine komplexe Kombination unterschiedlicher kultureller Elemente verschiedener (asiatischer, karibischer, britischer) Herkunftsmilieus wie auch eine Selbstdefinition der Akteure als multikulturelle »Southall«-Bewohner beobachten, die nicht mehr zwischen verschiedenen Herkunftsmilieus trennt (vgl. G. Baumann: Contesting Culture, S. 173-187). 92

MULTIKULTURALISMUSTHEORIEN UND DER KULTURBEGRIFF

matisierungsdiskursen sind die zentralen Fragen, die sich im Rahmen des post-essentialistischen Multikulturalismuskonzepts stellen. Es scheint, dass die genuin sozial- und politikphilosophische Ausrichtung des Multikulturalismusmodells, die Taylor und Kymlicka repräsentieren, »ein[en] ›voreilige[n] Normativismus‹ [...], das heißt eine verfrühte Reifizierung vorausgesetzter Gruppenidentitäten«47 gefördert hat. Ein hybriditätsorientiertes Multikulturalismusmodell, das vom bedeutungs- statt vom totalitätsorientierten Kulturkonzept Herder’scher Prägung ausgeht, kann demgegenüber, so scheint es, einen neuen, fruchtbaren Kontakt zwischen den begrifflichen Festlegungen auf der Ebene der Sozialtheorie und den sozial- und kulturwissenschaftlichen Analysen zu Ethnizität und kollektiven Identitäten in der gegenwärtigen Gesellschaft herstellen. Die Fassung des Kulturbegriffs macht hier den Unterschied aus.

47 S. Benhabib: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, S. 13f. 93

P R AKTIKEN

Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken Das Feld der Praxistheorien Im internationalen Feld der Sozialtheorien der letzten zwanzig Jahre hat sich ein facettenreiches Bündel von Analyseansätzen herausgebildet, die man als Theorien sozialer Praktiken, Praxistheorien oder Versionen einer Praxeologie umschreiben kann. Auch wenn die Annahme eines Practice Turn in Contemporary Theory (2001), den Theodore Schatzki, Karin Knorr-Cetina und Eike von Savigny im Titel ihrer Anthologie1 diagnostizieren, zumindest wohl auch proklamatorisch zu verstehen ist, so scheint damit eine Tendenz der neueren Theorieentwicklung auf den Punkt gebracht. Bei dem diagnostizierbaren und proklamierten practice turn handelt es sich jedoch nicht allein um eine innertheoretische Tendenz. Eine ganze Reihe von materialen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern von der Organisationsforschung über die Wissenschaftsund Techniksoziologie und die gender studies bis hin zur Medienforschung und Lebensstilanalyse greifen mittlerweile regelmäßig auf praxistheoretische Vokabulare zurück, um die Routinen in Unternehmen, die Formen der Verwendung technischer und medialer Artefakte, die Charakteristika geschlechtlicher performances oder etwa das doing culture in alltäglichen Zeitpraktiken zu rekonstruieren. Dies gilt darüber hinaus auch für empirische Arbeiten aus dem Bereich der alltagshistorischen Geschichtswissenschaft und der Ethnologie.2 1 2

Vgl. Theodore R. Schatzki/Karin Knorr Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001. Vgl. etwa Phillippe Ariès/Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Frankfurt a.M. 1989-93, 5 Bde.; Dorothy Holland: »Selves as cul97

PRAKTIKEN

Für den Uneingeweihten und den Skeptiker mögen das Interesse an den »sozialen Praktiken« und der Versuch, auf der Grundlage dieses Konzepts eine Sozialtheorie und ein Forschungsprogamm zu errichten, auf den ersten Blick verblüffend erscheinen: Was ist neu an einer »Theorie sozialer Praktiken«? Liegt hier nicht lediglich eine Neuauflage der klassischen Handlungstheorien vor? Sind soziale Praktiken mehr als die Handlungsregelmäßigkeiten oder geregelten Handlungsmuster, deren Beschreibung und Erklärung die Sozialtheorien schließlich von Anfang an verfolgt haben? Diese Zweifel scheinen zunächst nachvollziehbar, aber sie unterschätzen den Innovationswert der Praxistheorien. Tatsächlich geht es diesen um ein modifiziertes Verständnis dessen, was Handeln – und damit auch, was der Akteur oder das Subjekt – ist, gleichzeitig und vor allem aber geht es ihnen um ein modifiziertes Verständnis des Sozialen. In der grundbegrifflichen Debatte liefert eine ganze Reihe von Diskussionssträngen – nur lose miteinander verbunden – konzeptuelle Bausteine zu einem derartigen praxistheoretischen Verständnis des Sozialen und des Handelns sowie zu einem entsprechenden praxeologischen Forschungsprogamm: – Innerhalb der grand theories der soziologischen Theorie haben Pierre Bourdieu und Anthony Giddens verschiedene Versionen einer Praxistheorie formuliert. Bourdieu hat durchgängig an seinem ausdrücklich so genannten Projekt einer »théorie de la pratique« oder »praxeologie« gearbeitet, welche auf den Begriffen des Habitus, des sozialen Feldes, des praktischen Sinns und der Inkorporiertheit von Wissens aufbaut.3 Giddens hat – im Vergleich zu dem tendenziell eher strukturalistischen Bourdieu in einer stärker akteurstheoretischen Nuancierung – zur Überwindung des Dualismus von Struktur und Handeln eine theory of structuration skizziert, die mit den zentralen Konzepten des praktischen Bewusstseins und der sozialen Raum-Zeit-Bindung durch Praktiken arbeitet.4 – Im Bereich der sozialwissenschaftlich einflussreichen Sozialphilosophien muss man Ludwig Wittgensteins Spätwerk, in dem sich eine skizzenhafte Theorie der Sprachspiele, des Wissens als Können und der

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tured«, in: Richard D. Ashmore/Lee Jussin (Hg.), Self and Identity. Fundamental Issues, Oxford 1997, S. 160-190. Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979; ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987; ders.: Méditations pascaliennes, Paris 1997. Vgl. Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London 1979; ders.: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984.

GRUNDELEMENTE EINER THEORIE SOZIALER PRAKTIKEN

impliziten Regeln findet, als entscheidenden Impuls einer Praxistheorie einordnen und desgleichen Martin Heideggers Vokabular zur Analyse des »Daseins« als praktisch agierendes und verstehendes »In-der-WeltSein«. Unmittelbar an Wittgenstein schließt Theodore Schatzki in seinem systematischen Entwurf Social Practices. A Post-Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social (1996) an, im Kielwasser von Heideggers Hermeneutik steuert Charles Taylor mit seiner Kritik am individualistischen Rationalismus und seinem Modell der »embodied agency«.5 – Die Ethnomethodologie hat in ihren materialen Arbeiten seit den 1970er Jahren, programmatisch vorbereitet durch Harold Garfinkels Studies in Ethnomethodology (1967), ein verschobenes Verständnis des Sozialen als ein fortdauerndes accomplishment von kontextreflexiven skillful practices vorangebracht, in dem sich ein alltagsmethodisches Wissen ausdrückt und das intersubjektiv eine entsprechende Handlungskompetenz demonstriert.6 In der neueren Diskussion haben Luc Boltanski und Laurent Thévenot einen neuen Anlauf zu einer ethnomethodologischen Sozialtheorie unternommen, die – von Bourdieu sich teilweise distanzierend – soziale Felder als »régimes d’engagement« rekonstruiert.7 – Die Theoretiker im Rahmen des Poststrukturalismus haben – neben einer dezidierten Neigung zu einer letztlich anti-praxeologischen, 5

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Vgl. Ludwig Wittgenstein: »Philosophische Untersuchungen«, in: ders., Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, S. 225-580; ders.: »Über Gewißheit«, in: ders., Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M. 1984, S. 113-257; Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986; Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Post-Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996; Charles Taylor: »Engaged agency and background«, in: Charles Guignon (Hg.), The Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge 1993, S. 317-336; ders.: »To follow a rule…«, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge (Mass.) 1995, S. 165-180. Der US-amerikanische Pragmatismus von Autoren wie Dewey, James und Mead steht nicht im Zentrum der neueren praxeologischen Diskussion – ein Vergleich der Theorien sozialer Praktiken mit einer pragmatistischen Handlungstheorie, wie sie etwa Joas (vgl. Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992) vertritt, wäre ein eigenes lohnenswertes Thema. Vgl. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984; vgl. auch Jeff Coulter: The Social Construction of Mind, London 1979; John Heritage: Garfinkel and Ethnomethodology, Cambridge 1984; Michael Lynch: Scientific Practice and Ordinary Action: Ethnomethodology and Social Study of Science, Cambridge 1993. Vgl. Luc Boltanski/Laurent Thévenot: De la justification, Paris 1991; Laurent Thévenot: L’action au pluriel – Sociologie des règimes d’engagement, Paris 2006. 99

PRAKTIKEN

textorientierten Semiologie – im Zusammenhang mit ihrer Arbeit an Alternativen zur klassischen Subjekttheorie teilweise gleichfalls Anstöße zu spezifischen Versionen einer Praxistheorie geliefert. Zu nennen sind hier vor allem Michel Foucaults späte Arbeiten zu den »Technologien des Selbst«, ferner deren Kombination mit den »Techniken des Regierens« im machttheoretischen Konzept der »gouvernementalité«,8 schließlich Gilles Deleuzes’ Ansatz zu einer Theorie der Materialität, das heißt des Sozialen als ein räumlich-materialer Zusammenhang von Körpern und Artefakten.9 – Weniger auf der Ebene allgemeiner Sozialtheorie als im Sinne spezifischerer Forschungsprogramme haben die Cultural Studies, die Artefakt-Theorien und die Theorien des Performativen Beiträge zu einer Theorie sozialer Praktiken geliefert. Die britischen, post-marxistischen Cultural Studies, die theoretisch unter anderem von Michel de Certeaus Kunst des Handelns (1983) profitierten, stellen sich als prominentester Zweig einer Alltagssoziologie dar, die von der konflikthaften Agonalität und interpretativen Unterbestimmtheit sub- und populärkultureller Alltagspraxis ausgeht.10 Die Artefakt-Theorien haben im Kontext wissenschafts- und techniksoziologischer Analysen von naturwissenschaftlicher und technologischer Praxis, prominent etwa bei Bruno Latour,11 post-humanistische Theorien des Sozialen, verstanden als »Netzwerke«, entwickelt, die als Interaktionen zwischen Menschen und Dingen, zwischen humanen Akteuren und nicht-humanen Aktanten/Artefakten interpretiert werden. Der kultur- und literaturwissenschaftliche Ansatz einer die Sprechakttheorie transformierenden Theorie des Performativen schließlich, die bei Judith Butler in eine profilierte Form gebracht wird, liefert einen Rahmen zur Analyse von Subjekten wie von Texten.12 Verstanden werden diese als Akte der öffentlichen Hervorbringung von Be8

Vgl. Michel Foucault: »Die Gouvernementalität«, in: Ulrich Bröckling/ Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 41-67; ders.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 7-45. 9 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992. 10 Vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988; Lawrence Grossberg u.a. (Hg.): Cultural Studies, London 1992; Rainer Winter: Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001. 11 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995. 12 Vgl. Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002; Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, London 1990. 100

GRUNDELEMENTE EINER THEORIE SOZIALER PRAKTIKEN

deutungen, welche bei Butler ihren paradigmatischen Fall in der Produktion von Geschlechtsidentität durch öffentliche performances findet. Die genannten Theorieprogramme und Forschungsansätze bieten keine bis in die Details konsensual geteilte »Praxistheorie«, sondern bilden eher ein Bündel von Theorien mit Familienähnlichkeiten. Im Folgenden soll das Interesse nicht den zahllosen mehr oder minder subtilen Differenzen zwischen den verschiedenen praxeologisch orientierten Autoren gelten, sondern ihren Gemeinsamkeiten. Die Frage lautet: Was sind zentrale Merkmale einer praxistheoretischen Perspektive auf Handeln und das Soziale, wenn man die Praxistheorie gewissermaßen als einen konzeptuellen Idealtypus versteht? Die Theorie sozialer Praktiken soll nicht wie ein Feld miteinander konkurrierender Theorien, sondern als eine sozialtheoretische Theorieperspektive behandelt werden, welche die einzelnen Autoren übergreift. Das Ziel ist somit eines der systematischen Synthese und zugleich der theoretischen Programmatik: Grundelemente »einer« Theorie sozialer Praktiken sind in einer (selbstverständlich nicht völlig neutralen) Synthese herauszuarbeiten, die in programmatischer Absicht skizziert wird. Getreu dem semiotischen Gemeinplatz, dass Identität sich immer erst indirekt über die Differenzen zu anderen Elementen eines Zeichensystems ergibt, lässt sich der konzeptuelle Witz der Praxistheorie darüber hinaus allein im vergleichenden Rückgriff auf die – in unserem Rahmen in konzeptuellen Idealtypen zu behandelnden – alternativen Paradigmata des sozialtheoretischen Feldes klären: Inwiefern geht die Praxistheorie in ihrem Verständnis des Sozialen und des Handelns auf Distanz zu anderen sozialtheoretischen Optionen? Ich werde in vier Schritten vorgehen: Um die Bedeutung der Praxistheorie als ein Forschungsprogramm, das letztlich Antworten in der material-empirischen Analyse liefert, zu unterstreichen, möchte ich den Einstieg in Abschnitt 2 über eine Reihe von Beispielen aus verschiedenen soziologischen Forschungsgebieten wählen. Umso drängender stellt sich anschließend die Frage nach der Grundkonzeption der hier angewandten Praxistheorien. Im 3. Abschnitt wird die Theorie sozialer Praktiken im Feld der Sozialtheorien insgesamt situiert, und es werden ihre elementaren Differenzen zu Strukturtheorie, Homo oeconomicus und Homo sociologicus, sodann ihre Zugehörigkeit zur Theoriefamilie der Kulturtheorien und ihre Unterschiede gegenüber »mentalistischen« und »textualistischen« Versionen der Kulturtheorien erläutert. Im 4. Abschnitt, dem Hauptteil, versuche ich, die leitenden Annahmen der Praxistheorien synthetisierend zu skizzieren: ihre Postulate der Materialität der Praxis in Körpern und Artefakten, der impliziten Logik der Praxis im praktischen Wissen sowie der Routinisiertheit und gleichzeitig Unbere101

PRAKTIKEN

chenbarkeit der Praxis. Im 5. Abschnitt werden abschließend mehrere offene Fragen des praxeologischen Analysedesigns angerissen.

Die »Praxis« der Praxistheorien Die Praxeologie ist nicht allein eine »Sozialontologie«, ein theoretisches Vokabular, das eine andersartige Perspektive auf die Sozialwelt liefert, sondern vor allem ein Forschungsprogramm für die materiale Analyse. Entsprechend kommen in einer Reihe verschiedener Forschungsfelder der Sozial- und Kulturwissenschaften praxeologische Denkfiguren zum Einsatz, und zwar größtenteils unabhängig voneinander und ohne dass ein Bewusstsein einer sozialtheoretischen Gemeinsamkeit bestünde. Ein Blick auf die Praxis der Praxistheorie ermöglicht ein erstes Verständnis ihrer diversen und zunächst nur scheinbar lose – oder gar nicht – aneinander gekoppelten Grundannahmen. Aufschlussreich ist dabei auch, wogegen, das heißt gegen welche traditionellen Forschungsansätze der jeweiligen Analysefelder sich die praxeologischen Ansätze richten. Ein mittlerweile bereits klassisches Beispiel für die offensive Praxeologisierung eines Analysefeldes liefert die neuere Wissenschafts- und Technikforschung, auch weil hier die materialen Arbeiten aus dem Bereich der science studies und der neuen Techniksoziologie von einer komplexen theoretischen Selbstreflexion bei Autoren wie Latour, Pickering, Knorr Cetina und Rheinberger begleitet werden.13 Die laboratory studies distanzieren sich von einem vereinfachenden Verständnis der Naturwissenschaften als Institutionen, die im Wesentlichen Orte der Argumentation oder der Überprüfung von Hypothesen sein sollen. Allerdings wird die (Natur-)Wissenschaft aus praxeologischer Sicht auch nicht allein als eine Produktion von selbstreferenziellen »Texten« verstanden, sondern als ein heterogener Komplex von in hohem Maße informellen Verhaltensroutinen at work rekonstruiert; diese werden ihrerseits von einem impliziten Hintergrundwissen gestützt. Anstelle formalisierter Methodologien bringen die Akteure im Labor verschiedene Formen des »praktischen Räsonnierens« zum Einsatz, die in hohem Maße kontextspezifisch sind und mit situativen Irritationen umzugehen wissen. Entscheidend für den praxeologischen Blick auf den Wissenschaftsalltag ist 13 Vgl. B. Latour: Wir sind nie modern gewesen; Andrew Pickering: The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science, Chicago 1995; Karin Knorr Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1991; dies.: Epistemic Culture. How the Sciences Make Knowledge, Chicago 1999; Hansjörg Rheinberger: Toward a History of Epistemic Things, Stanford 1997. 102

GRUNDELEMENTE EINER THEORIE SOZIALER PRAKTIKEN

dabei auch der herausgehobene Stellenwert, der den Artefakten zukommt: Diese lassen sich nicht auf instrumentelle Hilfsmittel reduzieren, sondern ermöglichen und begrenzen erst bestimmte Verhaltensweisen, stellen sich im Sinne von epistemic objects (Knorr-Cetina) auch als ständige, kreativ zu beantwortende irritative Herausforderungen dar. An dieser Stelle begegnen sich die science studies und eine generalisierte Techniksoziologie:14 Gegen eine Reduktion von Dingen und Artefakten auf bloße erleichternde Hilfsmittel und gegen eine Totalisierung von Technik als gesellschaftsdeterminierender, akultureller Kraft wird in der praxeologischen Technikforschung das »Reich der Dinge«, die vom Konsum bis zur Organisation in den Alltag involviert sind, unter dem Aspekt ihres mit know-how ausgestatteten und veränderbaren Gebrauchs betrachtet. Die alltäglichen Artefakte der neueren Techniksoziologie werden damit in ihrer Abhängigkeit von den Wissensbeständen der Benutzer kulturalisiert, andererseits erscheint die Handlungspraxis materialisiert, abhängig von den Interaktionen mit nicht beliebig manipulierbaren Objekten. Die Organisationsforschung verarbeitet praxeologische Denkfiguren im Rahmen der Distanzierung von ökonomischen, einer strikten Rational Choice Orientierung folgenden Modellen zweckrationalen Entscheidungshandelns einerseits, und vom Muster einer post-Weber’schen Organisation als bürokratisch-hierarchischer Anstalt formaler Rationalität andererseits. Vor allem in der seit den 1980er Jahren beobachtbaren organisationssoziologischen Verarbeitung von Giddens’ Strukturierungstheorie sowie von interpretativen Ansätzen erscheinen statt rationaler Entscheidungskonstellationen von Individuen kontinuierlich-rekursive Verhaltensroutinen für den Organisationsalltag paradigmatisch. Hier geht es um »Entscheidungen unter Ungewissheit«, zustande kommend im »interpretative work« kulturell eingespielter Prozeduren (über »rules of thumb«, Vertrauensbeziehungen etc.). Statt der normativen Idealisierung von Akteuren, die expliziten institutionellen Normen folgen, geben für die praxeologische Organisationsforschung informelle Praktiken, etwa in Form von Netzwerken oder in der Verwendung von symbolischen Organisationsmythen, dem organisationellen Alltag seine Struktur. Zu verstehen sind sie als informelle Techniken, die regelmäßig den offiziellen Prozeduren zuwiderlaufen und die verantwortlich für organisationelle Konflikte und unintendierte Transformationen sein können.15 14 Vgl. Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt a.M., New York 1998; Karl H. Hörning: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001; vgl. auch Daniel Miller (Hg.): Material Cultures. Why Some Things Matter, London 1998. 15 Vgl. Karl E. Weick: Sensemaking in Organizations, London 1995; Günther Ortmann: Formen der Produktion. Organisation und Rekursivität, Op103

PRAKTIKEN

Ein ganz anderer Bereich, auf den sich die praxeologische Perspektive ausgewirkt hat, sind die gender studies. Auch in diesem Feld gehen materiale Analysen und Konzeptbildung – am elaboriertesten bei Judith Butler – Hand in Hand. Entscheidend für ein praxistheoretisches Verständnis ist die Identifizierung von Geschlecht (und auch von Sexualität und sexueller Orientierung) mit den körperlichen und öffentlichen performances von Geschlechtlichkeit: Geschlecht stellt sich als ein doing gender dar und muss als ein solches analysiert werden. Der konzeptuelle Gegner dieser Perspektive ist zunächst in der Reifizierung von Geschlecht als dem »inneren Kern« einer Person zu suchen: einem naturalen oder psychologischen Kern oder einer fixen inneren Geschlechtsidentität, aber auch in einem entkörperlichten Verständnis von Geschlecht als binärem Code innerhalb von Diskursen und Texten. Geschlecht wird stattdessen praxeologisch als eine öffentliche, kulturell intelligible, know-how-abhängige Demonstration »gekonnter« Akte körperlicher Bewegung analysierbar, welche auch für das subjektive Selbstverstehen konstitutiv sind. Der Geschlechtskörper zeichnet sich gewissermaßen durch eine spezifische »Hexis« (Bourdieu), eine kulturelle codierte Kompetenz des Körperlichen aus. Der vorgebliche psychische Kern des Geschlechts (oder auch: des sexuellen Begehrens) als Struktur löst sich auf in einen Prozess von implizit geregelten Akten, deren fortwährende Reproduktion allerdings keineswegs gesichert sein muss.16 Im Rahmen der Analysen von kultureller Globalisierung und des realen Multikulturalismus, welche die internationalen Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren zunehmend beschäftigen, wird eine weitere Facette des praxeologischen Denkens deutlich. Die praxeologisch ausgerichteten Analysen stellen sich hier in Opposition zu einem anthropologischen, homogenisierenden Kulturmodell, welches Kultur als eine Sphäre geteilter Normen und Werte oder als ein kollektives Symbolsystem betrachtet, das einem Kollektiv als Ganzem zugeordnet wird und dem separatistisch wiederum andere Kollektive mit anderen »Kulturen« gegenübergestellt werden. Praxeologische Kulturanalysen von Globalisierungsphänomenen wenden sich der Mikrologik des Verhaltens in jenen Konstellationen zu, in denen Elemente »unterschiedlicher Kulladen 1995; Erhard Friedberg: Ordnung und Macht. Dynamiken organisierten Handelns, Frankfurt a.M., New York 1995; Jens Beckert: »Was ist soziologisch an der Wirtschaftssoziologie?«, in: Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 125-146. 16 Vgl. J. Butler: Gender Trouble; dies.: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of Sex, New York 1993; Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität: Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt a.M. 1999; Vikki Bell (Hg.): Performativity and Belonging, London 1999. 104

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turen« in den Praktiken des Konsums, der Arbeit, von Familie, Nachbarschaft und peer-group miteinander in Berührung kommen: Kultur wird hier als ein alltagspraktisches tool kit17 verstanden, als kulturelle Codes im beständigen interpretative work. Kultur bezeichnet ein Alltagswissen, welches in seinem Werkzeugcharakter und seiner Heterogenität keineswegs einem ganzen Kollektiv – oder auch nur einer Person – eindeutig zuzurechnen ist. Multikulturalität präsentiert sich damit paradigmatisch nicht in der Konfrontation intellektueller Sinnsysteme, sondern in der reflexiven und in ihren Folgen unberechenbaren Kreolisierung (Hannerz) und Hybridisierung (Bhabha), der bricolage-förmigen Überlagerung und Kombination unterschiedlicher Komplexe von Praktiken und ihres Hintergrundwissens, die sich zu partiell neuartigen, handhabbaren kulturellen tools formen.18 Ein letztes Beispiel für die Konsequenzen einer praxeologischen Analyseperspektive liefert die Medienforschung, die seit den 1960er Jahren durch die Cultural Studies und seit den 1980er Jahren durch die Medienkulturtheorien angetrieben worden ist. Gegen traditionelle kommunikationstheoretische Input-Output-Modelle eines »Transports« medialer Inhalte vom Sender zum Empfänger wendet man sich hier den medialen Praktiken – der Praktik des Fernsehens, der Praktik des Lesens etc. – zu. Beispielhaft dafür ist hier die rezeptionstheoretische Analyse der Praktiken des Fernsehens in den Cultural Studies, verstanden als ein Bündel routinisierter interpretativer Strategien und Kompetenzen der Nutzer, als Alltagstechniken, die sich in ihrer Eigensinnigkeit einer externen Steuerung entziehen.19 Als Träger medialer Praktiken stellt sich das medienverwendende Subjekt aus praxeologischer Perspektive weder als ein bloßes Objekt medialer Informationsströme dar, noch als völlig ungebunden hinsichtlich seiner individuellen Instrumentalisierung von Medien. Vielmehr lässt sich das mediennutzende Subjekt nun als jemand analysieren, dem die Techniken des Mediengebrauchs zu Techniken des

17 Vgl. Ann Swidler: »Culture in action: Symbols and strategies«, in: American Sociological Review 51 (1986), S. 273-286. 18 Vgl. etwa Ulf Hannerz: Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992; George Lipsitz: Dangerous Cross-roads. Popular Music, Postmodernism and the Poetics of Place, London 1994; Pnina Werbner/Tariq Modood (Hg.): Debating Cultural Hybridity. Multi-Cultural Identities and the Politics of Anti-Racism, London 1997; Martin Fuchs: »Der Verlust der Totalität. Die Anthropologie der Kultur«, in: Heide Appelsmeyer/Elfriede Billmann-Mahecha (Hg.), Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis, Weilerswist 2001, S. 18-53. 19 Vgl. Ien Ang: Watching Dallas. Soap Opera and the Melodramatic Imagination, London 1985; John Fiske: Television Culture, London 1987. 105

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Selbst werden, so dass sich durch die medialen Praktiken bestimmte »innere« Kompetenzen und Dispositionen aufbauen. Ein anschauliches Beispiel liefert die Analyse jener spezifischen Praktik des Lesens,20 wie sie sich im westlichen Bürgertum des 18. Jahrhunderts etabliert hat: Auch wenn Lesen ein monologisches Verhalten in Einsamkeit und damit auf den ersten Blick gar nicht sozial ist, lässt es sich nun als eine kollektiv geformte, im Hinblick auf das in ihr enthaltene know-how höchst voraussetzungsreiche Aktivität rekonstruieren, die unter anderem die äußere körperliche Immobilität, eine extreme Fixierung von Aufmerksamkeit und die Fähigkeit einschließt, Signifikante in Signifikate zu verwandeln, und die papiernen Markierungen in Bilder und Ideen in der mentalen »Innenwelt« zu transformieren. In der materialen Analyse zeichnen sich damit bereits eine Reihe von Merkmalen der praxeologischen Perspektive auf das Soziale und das menschliche Handeln sowie grundbegriffliche Differenzen zu anderen Theorieansätzen ab. Diese zunächst noch unkoordinierten Merkmale gilt es zu systematisieren.

Die Praxistheorie im Feld der Sozialtheorien Verstanden als ein idealtypisches Modell, unterscheidet sich die Praxistheorie, so wie sie sich in verschiedenen Versionen bei Bourdieu, Giddens, Wittgenstein, Taylor, dem späten Foucault, Garfinkel, Boltanski, Butler etc. findet, von alternativen, klassischen Sozialtheorien. Sie tut es auf einer ersten sehr elementaren und allgemeinen Weise dahingehend, wo, das heißt auf welcher Ebene sie »das Soziale« verortet, wie sie das Soziale versteht. Es geht dabei um jene zentrale Frage, die die Soziologie seit ihrer Gründung am Ende des 19. Jahrhunderts umgetrieben hat. Auch in anderer Hinsicht, insbesondere in ihrem Verständnis von Handeln und Subjektivität, von Materialität und Rationalität, sind die theoretischen Differenzen zwischen der Praxeologie und ihren Konkurrenten deutlich. Um aber die Identität der Praxistheorie nachzuvollziehen, eignet sich in einem ersten Schritt besonders die Frage nach dem differenten Ort des Sozialen. Eine Systematisierung des gesamten Feldes moderner Sozialtheorien in verschiedene Alternativansätze ist zwangsläufig nur in Form einer ra20 Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, S. 89-158; Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987; Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999. 106

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dikalen, vereinfachenden Typisierung möglich. Versucht man sie trotzdem, so kann man unter dem Gesichtspunkt dessen, was für die Theorien jeweils das Soziale ausmacht, zu folgender Skizze kommen. Elementar scheint für das Feld der modernen Sozialtheorien zunächst die Differenz zwischen vier grundsätzlich unterschiedlich aufgebauten Basisvokabularen des Sozialen: strukturtheoretische Ansätze, ökonomischindividualistische Ansätze, normativistische Ansätze und kulturtheoretische Ansätze. Die Praxistheorie stellt sich als eine spezifische Version einer kulturtheoretischen, »sozialkonstruktivistischen« Perspektive dar, so dass die Differenzen zu den anderen Formen einer Kulturtheorie – vor allem jenen, die das Soziale/Kulturelle als ein geistig-kognitives oder als ein textuelles Phänomen verorten (Mentalismus und Textualismus) – ein besonderes Problem aufwerfen. Dass die Praxistheorie einen Fall von »Kulturtheorie« darstellt, soll dabei generell bedeuten, dass in ihrem Verständnis die soziale Welt ihre Gleichförmigkeit über sinnhafte Wissensordnungen, über kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens, durch im weitesten Sinne symbolische Ordnungen erhält.21 Für strukturtheoretische Ansätze ist das Soziale auf der Ebene nichtsinnhafter, im weiteren Sinne »materieller« Strukturen festzumachen, in subjektübergreifenden Strukturen, die für die beteiligten Akteure selbst nicht sinnhaft sind, die vielmehr erst aus der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive in ihrer gesellschaftsstrukturierenden Regelmäßigkeit deutlich werden. Georg Simmels Konzept einer »formalen Soziologie«, die das Soziale mit morphologischen Formen wie etwa der quantitativen Größe von Gruppen identifiziert,22 Emile Durkheims Ansatz im Frühwerk, der das Soziale in der Struktur der Arbeitsteilung und der Bevölkerungsstruktur ausmacht, auch Marx’ Historischer Materialismus, wenn er sich auf die übersubjektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von Produktivkräften und der Kapitalakkumulation konzentriert, sind hier klassische Beispiele. Die Strukturtheorien stehen zunächst in ihrer Ausrichtung auf nicht-sinnhafte Strukturen in der größtmöglichen Entfernung zu den Kultur- und damit auch zu den Praxistheorien.23 Die beiden weiteren, klassischen sozialwissenschaftlichen Paradigmen sind die zweckorientierte und die normorientierte Hand21 Vgl. auch A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien; ders.: Struktur. Zur sozialwissenschaftlichen Analyse von Regeln und Regelmäßigkeiten, Opladen 1997. 22 Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a.M. 1992. 23 In der Praxistheorie ergibt sich jedoch dadurch ein folgenreicher Umschlag der Theorieentwicklung, dass nun eine Rehabilitierung der »Materialität« des Sozialen betrieben wird, allerdings in deutlich anderer Weise, als dies in den klassischen Strukturtheorien der Fall war. 107

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lungstheorie, plakativ gesprochen die Figuren des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus. Sie stellen keine Kulturtheorien dar und stehen »vor« der interpretativen Wende. Indem der methodologische Individualismus der zweckorientierten Handlungstheorie – von der Schottischen Moralphilosophie bis zur Rational Choice Theorie – von den interessengeleiteten und mit einer subjektiven Rationalität ausgestatteten Handlungsakten einzelner Akteure ausgeht, ergibt sich aus dieser Perspektive die Ebene des Sozialen gewissermaßen als ein Produkt der individuellen Akte: in jenen matching situations (Coleman) des Zusammentreffens von Einzelhandlungen und -interessen, die als übersubjektives Produkt einen Marktpreis wie auch eine Vertragsnorm oder ein Ressourcenverteilungsmuster hervorbringen können. Die normorientierte Handlungstheorie des Homo sociologicus, wie sie paradigmatisch vom mittleren Durkheim und von Parsons24 formuliert wird, nähert sich dem, was die Kulturtheorien und die Praxistheorie unter dem Sozialen verstehen werden, bereits an, indem sie das Soziale nicht als ein Resultat individueller Akte versteht, sondern auf der Ebene sozialer Regeln verortet, die vorgeben, welches individuelle Handeln überhaupt möglich ist. Im Paradigma des Homo sociologicus werden diese sozialen Regeln jedoch in erster Linie als ein Konsens normativer Regeln verstanden, welcher gebotenes von verbotenem, wertvolles von wertlosem Verhalten unterscheidet. Für die normorientierten Sozialtheorien stellt sich – wie Parsons es paradigmatisch formuliert hat – die Frage nach dem Sozialen im Sinne des Hobbes’schen Problems sozialer Ordnung als Frage, wie eine intersubjektive Koordination potenziell einander widersprechender Handlungen verschiedener Akteure möglich sein kann. Die Antwort auf dieses Problem wird in der Etablierung normativer sozialer Erwartungen und Rollen gesehen, die eine unendliche Konfrontation disparater Interessen durch einen Konsens von Sollens-Regeln verhindern. Jene Theorieansätze, die man unter dem Etikett der Kulturtheorien oder auch sozialkonstruktivistischer Theorien zusammenfassen kann, die ihre konzeptuellen Ressourcen aus ansonsten derart unterschiedlichen Quellen wie Strukturalismus, Semiotik und Poststrukturalismus ebenso wie aus Phänomenologie, Hermeneutik, Pragmatismus und radikalem Konstruktivismus beziehen und die in den interpretative turn oder Cultural Turn seit den 1970er Jahren münden, verorten das Soziale auf einer anderen Ebene als der klassische soziologische Normativismus des Ho-

24 Vgl. Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M. 1984; Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York, London 1968. 108

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mo sociologicus. Die Praxistheorien als Version der Kulturtheorien vollziehen diesen konzeptuellen Schritt mit und setzen ihn als bereits getan voraus. Dieser Schritt der Kulturtheorien besteht darin, die Basis des Problems der sozialen Ordnung nicht mehr in einem Handlungskoordinationsproblem zu sehen, das über normative Regeln lösbar erscheint, sondern darin, was die Akteure überhaupt dazu bringt, die Welt als geordnet anzunehmen und somit handlungsfähig zu werden. Diese basale Ordnungsleistung setzt eine Ebene – häufig unbewusster oder vorbewusster – symbolisch-sinnhafter Regeln, von »Kultur« voraus, die die Zuschreibung von Bedeutungen gegenüber Gegenständen in der Welt und ihr Verstehen regulieren und deren paradigmatischer Fall die Semantik der Sprache ist. Die basale Strukturierung der Handlungswelt verläuft aus kulturtheoretischer Perspektive durch kollektiv geteilte Wissensordnungen, Symbolsysteme, kulturelle Codes oder Sinnhorizonte. In der Kollektivität dieser sinnhaften Ordnungen und ihrer symbolischen Organisation der Wirklichkeit (die beispielsweise auch den Hintergrund für Normen und Interessen liefert) ist für die Ansätze nach dem Cultural Turn der Ort des Sozialen zu suchen. Die Frage nach dem Ort des Sozialen geht damit über in die Frage nach dem Ort des Kulturellen, des Sinnhaft-Symbolischen.25 Die Praxistheorien sind Kulturtheorien, aber nicht alle Kulturtheorien sind Praxistheorien. Das genaue Verständnis dessen, was die fraglichen Sinnsysteme und Wissensordnungen ausmacht und wie sie wirken, unterscheidet einzelne kulturalistische Ansätze voneinander. In ihrer Verortung des Sozialen, das heißt hier der übersubjektiven Sinnsysteme und Wissensordnungen der Kultur, geht die praxeologische Theoriefamilie im Verhältnis zu anderen Versionen des modernen Kulturalismus einen eigenen Weg. Im Wesentlichen stehen sich im Feld der Kulturtheorien idealtypisch die Optionen des Mentalismus, des Textualismus und der Theorie sozialer Praktiken gegenüber. Die erste konzeptuelle Option, die sich anbietet, um Kultur zu verorten, kann man als Mentalismus umschreiben. Kultur ist hier ein geistiges, ideelles Phänomen. Der Ort der kulturellen Symbolsysteme ist der menschliche Geist, die mentale Struktur, das »Innen« des Mentalen, metaphorisch gesprochen »im Kopf« der Handelnden, und die kleinste Einheit des Sozialen, die es in der Kulturanalyse herauszuarbeiten gilt, sind kognitiv-geistige Schemata. Die Wissensordnungen, die die soziale Ordnung generieren, erscheinen hier konsequent in erster Linie in einer kognitiven Funktion,

25 Vgl. auch Paul Rabinow/William M. Sullivan (Hg.): Interpretive Social Science, Berkeley 1979. 109

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als Klassifikationssysteme und als Weltbilder, als Systeme, in denen spezifische Repräsentationen der Welt geliefert werden. Der Mentalismus, der davon ausgeht »that mind is a substance, place or realm that houses a particular range of activities and attributes«26, ist die traditionellste Form der modernen Kulturtheorien, und er kommt in verschiedenen, einflussreichen Varianten vor: In der klassischen neukantianischen Kulturtheorie, paradigmatisch bei Max Weber, wird Kultur als ein System von »Ideen« und »Weltbildern« verstanden; hieraus ergibt sich ein Kulturverständnis, welches Kultur als ein kollektives Überzeugungssystem betrachtet. Im klassischen Strukturalismus, der sich von Saussures Semiologie herleitet und für die Sozialwissenschaften ihren Höhepunkt in Claude Lévi-Strauss’ Ethnologie27 erreicht, wird das Soziale/Kultur im »unbewussten Geist« situiert, in einem unbewussten Regelsystem gleich einer kulturellen Grammatik, die im Geist des Einzelnen entsprechende Bedeutungen generiert. Die Phänomenologie schließlich, die von Husserl initiiert und soziologisch in Schütz’ Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932)28 verbreitet wird, befindet sich mit ihrem Ansatz an der »subjektiven Perspektive« der Teilnehmer zwar zunächst in einem diametralen Gegensatz zum objektivistischen Strukturalismus, aber auch hier wird das Soziale/die Kultur mental verortet: in der Intentionalität, das heißt der sinnhaften Gerichtetheit der Akte des Bewusstseins, in denen »etwas als etwas verstanden« wird.29 Die Praxistheorie steht der Situierung des Sozialen und der Kultur in der Innenwelt des kollektiven Geistes und ihrer Interpretation als reine Repräsentationssysteme, so wie sie die verschiedenen Zweige des Mentalismus favorisieren, eindeutig entgegen. Allerdings gilt diese Opposition auch einem zweiten Strang der Kulturtheorien, der seinerseits bereits kritisch auf den Mentalismus geantwortet hat: der Bewegung eines Textualismus. Als Textualismus kann man jene sich seit den späten 1960er Jahren im Umkreis des Poststrukturalismus, einer radikalen Hermeneutik und schließlich auch einer radikalkonstruktivistischen Systemtheorie entwickelnden Formen einer Kulturanalyse umschreiben, die das Soziale und damit die Wissensordnungen der Kultur auf der Ebene von Texten, von Diskursen, von öffentlichen Symbolen und schließlich

26 T. Schatzki: Social Practices, S. 22. 27 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a.M. 1991. 28 Vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a.M. 1991. 29 Die spätere Sozialphänomenologie, insbesondere in Schütz/Luckmanns Strukturen der Lebenswelt, entfernt sich jedoch zunehmend vom Mentalismus und weist Parallelen zur Theorie sozialer Praktiken auf. 110

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von Kommunikation (im Sinne Luhmanns) verortet haben. Wenn für den Mentalismus Kultur im Innern des Mentalen verborgen war, so bietet es sich für den Textualismus genau umgekehrt im Außen der Diskurse, der Texte, der Symbole, der kommunikativen Sequenzen öffentlich dar. Diese werden selbst durch sinnhafte Wissensordnungen und ihre kulturellen Codes strukturiert – und die vorgeblichen Eigenschaften des Mentalen und der Subjekte erscheinen nun als spezifische kulturelle Definitionen und diskursive Codierungen dessen, was in den Individuen vorhanden sein soll. Das Theoriedesign des Sozialkonstruktivismus wandelt sich damit grundsätzlich in Richtung einer Diskurstheorie im weiteren Sinne. Beispielhaft sind hier Foucaults poststrukturalistische Diskurstheorie aus seinem Frühwerk der Archäologie des Wissens (1969), die die »episteme« und Formationsregeln auf der Ebene von Diskursen selbst herausarbeiten will, sodann bestimmte Varianten semiotischer Analysen – z.B. in manchen Arbeiten von Roland Barthes –, welche die »öffentlich sichtbaren« Zeichenqualitäten von Alltagsgegenständen rekonstruieren wollen, ferner Clifford Geertz’ radikalhermeneutischer Ansatz einer culture as text und schließlich Niklas Luhmanns Festlegung des Sozialen auf die Codes und Semantiken von Kommunikationssequenzen in der Umwelt von psychischen Systemen.30 Die Praxistheorie steht in ihrem Kulturverständnis sowohl dem Mentalismus als auch dem Textualismus entgegen. Beiden (wie auch den Modellen des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus) hält sie einen konzeptuellen »Intellektualismus« vor, eine Intellektualisierung des sozialen Lebens. Die Praxistheorie begreift die kollektiven Wissensordnungen der Kultur nicht als ein geistiges knowing that oder als rein kognitive Schemata der Beobachtung, auch nicht allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen, sondern als ein praktisches Wissen, ein Können, ein know-how, ein Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines »Sich auf etwas verstehen«. Der Ort des Sozialen ist damit nicht der (kollektive) Geist und auch nicht ein Konglomerat von Texten und Symbolen, erst recht nicht ein Konsens von Normen, sondern es sind die sozialen Praktiken, verstanden als know-how-abhängige und von einem praktischen Verstehen zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte inkorporiert ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen 30 Vgl. dazu Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1990; Clifford Geertz: »Thick description: Toward an interpretive theory of culture«, in: ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, London 1993, S. 3-30; Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1991. 111

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Subjekten und von ihnen verwendeten materialen Artefakten annehmen. Aus praxeologischer Perspektive geht es weniger um die emphatische Totalität einer »Praxis«31, sondern darum, dass sich die soziale Welt aus sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verflochtenen Praktiken (im Plural) zusammensetzt: Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken der Partnerschaft, Praktiken der Verhandlung, Praktiken des Selbst etc. Das Problem des Sozialen ist aus praxeologischer Perspektive das Problem, wie es dazu kommt, dass in der sozialen Welt »Raum und Zeit gebunden werden«, das heißt wie eine zumindest relative Reproduzierbarkeit und Repetitivität von Handlungen über zeitliche Grenzen und über räumliche Grenzen hinweg möglich wird: »The true locus of the ›problem of order‹ is […] of how continuity of form is achieved in the day-to-day conduct of social activity.«32 Die Antwort ist für die Praxistheorie darin zu suchen, dass diese Handlungen nicht als diskrete, punktuelle und individuelle Exemplare vorkommen, sondern dass sie im sozialen Normalfall eingebettet sind in eine umfassendere, sozial geteilte und durch ein implizites, methodisches und interpretatives Wissen zusammengehaltene Praktik als ein typisiertes, routinisiertes und sozial verstehbares Bündel von Aktivitäten. Das Soziale ist hier nicht in der Intersubjektivität und nicht in der Normgeleitetheit, auch nicht in der Kommunikation zu suchen, sondern in der Kollektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches »praktisches Können« zusammengehalten werden: Praktiken bilden somit eine emergente Ebene des Sozialen, die sich jedoch nicht »in der Umwelt« ihrer körperlichmentalen Träger befindet. Dieses praxeologische Konzept des Sozialen und der Kultur gilt es nun näher zu bestimmen.

Die »Theorie« der Praxistheorie Die Praxistheorie als eine Sozialtheorie hat bisher keine abgeschlossene, durchsystematisierte Form gefunden und man kann ihre theoretische Vielfältigkeit als fruchtbaren Ideenpool wahrnehmen. Trotzdem ist es möglich, im Sinne einer synthetisierenden, programmatischen Skizze und zum Zwecke einer Verständigung nach außen wie nach innen die wichtigsten Merkmale der praxeologischen Perspektive auf das Soziale

31 Zu einem derartigen emphatischen Verständnis einer Totalität der Praxis tendierte vor allem die marxistische Budapester »Praxisphilosophie« (etwa bei Georg Lukacs und Agnes Heller). 32 A. Giddens: Central Problems in Social Theory, S. 216. 112

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und das Handeln zu umreißen.33 Als ihre beiden wichtigsten Grundpositionen lassen sich die Materialität des Sozialen/Kulturellen und die implizite, »informelle« Logik des sozialen Lebens nennen, welche den Rationalismen und Intellektualismen anderer Sozial- und Kulturtheorien entgegengestellt werden. Das Soziale lässt sich aus praxeologischer Perspektive nur begreifen, wenn man seine »Materialität« und seine implizite, nicht-rationalistische Logik nachvollzieht. Die Materialität der Praktiken. Wenn man als kleinste Einheit des Sozialen nicht ein Normensystem oder ein Symbolsystem, nicht Diskurs oder Kommunikation und auch nicht die Interaktion, sondern die »Praktik« annimmt, dann ist diese kleinste Einheit des Sozialen in einem routinisierten nexus of doings and sayings (Schatzki) zu suchen, welches durch ein implizites Verstehen zusammengehalten wird. Genau dies ist eine soziale Praktik: eine Praktik der Verhandlung, eine Praktik des Umgangs mit einem Werkzeug, eine Praktik im Umgang mit dem eigenen Körper etc. Für die Praxistheorie hat ein solcher Komplex aus regelmäßigen Verhaltensakten und praktischem Verstehen keine rein ideelle, sondern in einem spezifischen Sinne von vornherein eine »materielle« Struktur. Es sind zwei materielle Instanzen, die die Existenz einer Praktik ermöglichen und die von den Praxistheoretikern immer wieder hervorgehoben werden: die menschlichen Körper und die Artefakte. Die Praxistheorie will zwei scheinbare Trivialitäten rehabilitieren, die aber angesichts der Dominanz anderer Sozial- und Kulturtheorien wieder zur überraschenden und heuristisch fruchtbaren Einsicht werden können: dass Praktiken auf einer ersten Ebene nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel einen Umgang von Menschen mit Dingen, Objekten bedeuten, was beides jedoch weder im Sinne des Behaviorismus noch eines Technizismus zu verstehen ist. Während »der Körper in den meisten Handlungstheorien überhaupt nicht auf[tritt]«34 – und zwar im Homo oeconomicus und Homo sociologicus ebenso wenig wie in jenen Kulturtheorien, die auf das Mentale oder Diskurse oberhalb der Körper ausgerichtet sind und die den Körper am ehesten als eine kulturelle »Konstruktion« von Geist und Text behandeln –, betont die Praxistheorie die Körperlichkeit der Praktiken. Körperlichkeit umfasst hier mehrere Elemente: Eine Praktik – sei es eine der administrativen Verwaltung oder der künstlerischen Tätigkeit – ist immer als eine skillful performance von kompetenten Körpern zu verstehen. Wenn ein Mensch eine Praktik erwirbt, dann lernt er, seinen 33 Da es sich um eine programmatische Synthese handelt, wird im Folgenden darauf verzichtet, einzelne der genannten Elemente auf Textpassagen bestimmter praxeologischer Theoretiker zurückzuführen. 34 H. Joas: Kreativität des Handelns, S. 245. 113

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Körper auf bestimmte, regelmäßige und »gekonnte« Weise zu bewegen und zu aktivieren oder besser: auf eine bestimmte Art und Weise Körper zu sein, da der Körper aus praxeologischer Perspektive kein ausführendes Instrument darstellt, das von einem »dahinter liegenden« Zentrum gesteuert würde. Dies schließt auch nicht unmittelbar sichtbare Aktivitäten des Körpers wie ein bestimmtes Muster des Fühlens oder Formen des Denkens ein, sofern diese zur sozialen Praktik gehören. Im Extrem kann dies je nach Praktik auch bedeuten, dass die äußerlich wahrnehmbaren, motorischen Bewegungen auf ein Minimum reduziert werden. Generell gilt: Eine Praktik besteht aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers. Dies gilt ebenso für intellektuell »anspruchsvolle« Tätigkeiten wie die des Lesens, Schreibens oder Sprechens. Diese Körperlichkeit des Handelns und der Praktik umfasst die beiden Aspekte der Inkorporiertheit von Wissen und der Performativität des Handelns: »Nach innen« setzt die Fähigkeit der Akteure zum Vollzug einer Praktik als Sequenz von Körperbewegungen eine Inkorporierung (Bourdieu) von Wissen, eine Inkorporierung von know-how und eines praktischen Verstehens voraus. Das Wissen als ein Können wäre im Sinne einer intellectualist fallacy missverstanden, wenn man es ausschließlich als ein System expliziter kognitiver Regeln begriffe. Die Praxistheorie betont demgegenüber die körperlich-leibliche Mobilisierbarkeit von Wissen, die häufig gar nicht mit einer Explizierungsfähigkeit oder -bedürftigkeit dieses Wissens einhergeht. »Nach außen« bedeutet die Körperlichkeit des Vollzugs von Praktiken, dass sie von der sozialen Umwelt (und im Sinne eines Selbstverstehens auch von dem fraglichen Akteur selber) als eine skillful performance interpretiert werden kann: Die Praktik als soziale Praktik ist nicht nur eine kollektiv vorkommende Aktivität, sondern auch eine potenziell intersubjektiv als legitimes Exemplar der Praktik X verstehbare Praktik – und diese soziale Verständlichkeit richtet sich auf die körperliche performance. Entsprechend wendet sich auch der Sozialforscher in seiner Rekonstruktion von Praktiken zunächst auf die Beobachtung der skillful performance von Körpern. Die Materialität der Körper ist die eine, notwendige Seite der Materialität der sozialen Praktiken – die andere Seite, welche die Praxistheorie hervorhebt, ist in der Materalität der Dinge zu suchen. Ähnlich wie im Falle der basalen Körperlichkeit von Handeln und Praxis kritisiert die Praxistheorie auch hier eine grundlegende Entmaterialisierung des Sozialen in vielen Sozial- und Kulturtheorien, die entweder eine konzeptuelle Marginalisierung von Artefakten betreiben, welche dann als technische Hilfsmittel oder ausschließlich als Themen der Konstruktion durch symbolische Ordnungen erscheinen, oder aber die genau umgekehrt – wie in den klassischen Strukturtheorien – das Materielle zu einer hand114

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lungsdeterminierenden »Basis« gegenüber dem »Überbau« der Kultur reifizieren. Die Praxistheorie versucht hier einen dritten Weg: Spezifische Artefakte – von Computern bis zu Gebäuden, von Flugzeugen bis zu Kleidungsstücken – sind als ein Teilelement von sozialen Praktiken zu begreifen (wobei man sich darüber streiten mag, ob von allen oder von vielen Praktiken). Wenn eine Praktik einen Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen darstellt, dann setzen diese nicht nur als »Träger« entsprechende menschliche Akteure mit einem spezifischen, in ihren Körpern mobilisierbaren praktischen Wissen voraus, sondern regelmäßig auch ganz bestimmte Artefakte, die vorhanden sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann. Es sind in der neueren Diskussion vor allem die Medientheorien nach McLuhan,35 daneben auch die Konsumanalysen,36 die eindrücklich demonstriert haben, wie die Verfügbarkeit und der Gebrauch beispielsweise von bestimmten Kommunikationsmedien (wie des Buchdrucks) einen ganzen Komplex von sozialen Praktiken erst ermöglicht – in den Betrieben, den Administrationen und in der Bildung –, die es ohne diese Artefakte nicht gäbe. Aus praxeologischer Perspektive haben diese oder andere Artefakte weder einen allein materiellen noch einen allein kulturell-symbolischen Stellenwert: Die Artefakte erscheinen weder ausschließlich als Objekte der Betrachtung noch als Kräfte eines physischen Zwangs, sondern als Gegenstände, deren sinnhafter Gebrauch, deren praktische Verwendung Bestandteil einer sozialen Praktik oder die soziale Praktik selbst darstellt. In diesem sinnhaften Gebrauch behandeln die Akteure die Gegenstände mit einem entsprechenden Verstehen und einem know-how, das nicht selbst durch die Artefakte determiniert ist. Andererseits und gleichzeitig erlaubt die Faktizität eines Artefakts nicht beliebigen Gebrauch und beliebiges Verstehen. Die implizite Logik der Praxis. Indem die Praxistheorie sowohl die Materialität der Körper und deren inkorporiertes Wissen als auch die Materialität der Artefakte als notwendige Bedingungen und Bestandteile der Entstehung und Repetitivität einzelner sozialer Praktiken hervorhebt, materialisiert sie auch die Frage nach der Verankerung des Sozialen. Wenn das Soziale Praktiken sind, dann gewinnen diese ihre relative (wenngleich keineswegs vollständige) Reproduktivität in der Zeit und im Raum durch ihre materiale Verankerung in den mit inkorporierten 35 Vgl. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962; ähnlich bereits Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977. 36 Vgl. Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986. 115

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Wissen ausgestatteten Körpern, die – in der Dauer ihrer physischen Existenz – praxiskompetent sind, und in den Artefakten, in denen sich – deren Haltbarkeit oder Erneuerbarkeit vorausgesetzt – Praktiken über Zeit und Raum hinweg verankern lassen. Die Materialisierung des Sozialen und Kulturellen in den Körpern und den Artefakten positioniert die Praxistheorie in Opposition zu zwei – in den Prämissen des Homo oeconomicus, des Homo sociologicus, im kognitivistischen Mentalismus oder semiotischen Textualismus enthaltenen – für die westliche Tradition einflussreichen ontologischen Dichotomien: zur Dichotomie zwischen Geist und Körper und zur Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt als jeweils zwei separierte Sphären, von denen der jeweils erstgenannten – dem Geist und dem Subjekt – aus der Sicht des traditionellen Dualismus das Primat zukommt. Die Praxistheorie rehabilitiert demgegenüber den Status des jeweils zweiten Elements – die Körper und die Objekte – als notwendige Bestandteile des Sozialen und versucht, eine Alternative zu beiden Dualismen zu formulieren.37 Um diese Alternative zu erreichen, ist die Materialisierung der Kultur, wie sie die Praxistheorie betreibt, mit der Grundannahme einer »informellen«, einer »impliziten« Logik des Sozialen und des Handelns aufs Engste verknüpft. Und auch hier geht es um die Kritik von stillschweigenden Vorannahmen der alternativen Sozialtheorien, und zwar nun von bestimmten rationalitätstheoretischen Voraussetzungen, die aus Sicht der Praxistheorie zu einer verzerrenden Intellektualisierung des sozialen Lebens führen. Zentral für das praxeologische Verständnis des Handelns ist, dass Handeln zwar auch Elemente der Intentionalität enthält – wie das Paradigma des Homo oeconomicus betont –, dass es zwar auch mit normativen Kriterien hantiert – wie der Homo sociologicus es hervorhebt –, dass in ihm zweifellos symbolische Schemata zum Einsatz kommen – worauf die anderen Zweige des Kulturalismus verweisen –, dass Intentionalität, Normativität und Schemata in ihrem Status jedoch grundsätzlich modifiziert werden, wenn man davon ausgeht, dass Handeln im Rahmen von Praktiken zuallererst als wissensbasierte Tätigkeit begriffen werden kann, als Aktivität, in der ein praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines know-how und eines praktischen Verstehens zum Einsatz kommt. Jede Praktik und jeder Komplex von Praktiken – vom Zähneputzen bis zur Führung eines Unternehmens, von der Partnerschaft bis zur Verhandlung zwischen Konfliktparteien – bringt sehr spezifische Formen 37 Vgl. auch P. Bourdieu: Méditations pascaliennes, Kap. 2; C. Taylor: »Engaged agency and background in Heidegger« in: Charles B. Guignon (Hg.), The Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge 1993, S. 317336; T. Schatzki: Social Practices, Kap. 1; B. Latour: Wir sind nie modern gewesen, Kap. 2. 116

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eines praktischen Wissens zum Ausdruck und setzt dieses bei den Trägern der Praktik voraus. Beim Vollzug einer Praktik kommen implizite soziale Kriterien zum Einsatz, mit denen sich die Akteure in der jeweiligen Praktik eine entsprechende »Sinnwelt» schaffen, in denen Gegenstände und Personen eine implizit gewusste Bedeutung besitzen, und mit denen sie umgehen, um routinemäßig angemessen zu handeln. Die Praxistheorie betont die Implizitheit dieses Wissen, das kein explizierbares Aussagewissen (knowing that) von Überzeugungen darstellt, sondern einem praktischen Sinn ähnelt. Sie hebt hervor, dass die expliziten Regeln, die in einem Handlungsfeld als relevant angegeben werden, diesen impliziten Kriterien in keiner Weise entsprechen müssen. Sie betont schließlich auch, dass das Wissen nicht als ein »theoretisches Denken« der Praxis zeitlich vorausgeht, sondern als simultaner Bestandteil der Praktik zu begreifen ist.38 Dies hat zur Konsequenz, dass aus Sicht der Praxistheorie und im Gegensatz zum Mentalismus Wissen und seine Formen nicht praxisenthoben als Bestandteil und Eigenschaften von Individuen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren sind: Statt zu fragen, welches Wissen eine Gruppe von Individuen, das heißt eine Addition von Einzelnen, »besitzt«, lautet die Frage, welches Wissen in einer bestimmen sozialen Praktik zum Einsatz kommt (und erst darauf aufbauend kann man auf die Personen als Träger der Praktiken rückschließen). Dass eine wissensbasierte Praktik »sozial« ist, heißt aus Sicht der Praxistheorie dabei keineswegs, dass sie eine im klassischen Sinne intersubjektive oder interaktive Struktur besitzen müsste: Die soziologisch gängige Gleichsetzung von Sozialität mit Intersubjektivität erscheint nicht plausibel. Zwar existieren zahllose soziale Praktiken, die die Struktur von Aktivitäten zwischen mehreren Personen, mithin eine interaktive Struktur besitzen (so wie sie etwa der symbolische Interaktionismus in den Mittelpunkt stellt), aber dies gilt nicht für alle Praktiken und taugt damit nicht für eine generelle Definition des Sozialen. Vielmehr besitzen Praktiken regelmäßig neben oder statt einer intersubjektiven eine »interobjektive« Struktur (um die Terminologie von Latour zu verwenden), das heißt sie sind routinisierte Aktivitäten eines menschlichen Subjekts im Umgang mit Objekten statt mit anderen Subjekten. Schließlich können soziale Praktiken auch primär die Form von »Technologien des Selbst« (Foucault) annehmen, das heißt es kann sich um Aktivitäten handeln, in denen ein Akteur – unter Einschluss von Objekten oder auch ohne diese – in erster Linie auf sich selbst bezogen agiert, wie es etwa für viele der 38 Vgl. schon Gilbert Ryle: The Concept of Mind, London 1990; Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985. 117

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hochmodernen Körper- und Konsumpraktiken gilt. Die geläufige Identifizierung von Sozialität mit Intersubjektivität (oder auch mit Kommunikation wie bei Luhmann) führt gerade dazu, dass die primär interobjektiven Praktiken und die Technologien des Selbst und damit weite Gebiete sozialer Praxis marginalisiert werden. Aus Sicht der Praxistheorie besteht das Soziale einer Praktik stattdessen in der Repetitivität gleichartiger Aktivitäten über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg, die durch ein praktisches Wissen ermöglicht wird. Ein solcher Typus des Verhaltens und Verstehens ist zwar potenziell durch andere Akteure verstehbar und in jedem Einzelfall als Praktik X sozial identifizierbar (und in diesem weiteren Sinne intersubjektiv strukturiert), aber das accomplishment der wissensbasierten sozialen Praktik selbst braucht nicht die Form einer sozialen Interaktion oder von sozialem Handeln zu besitzen. Das »praktische Wissen«, das in einer sozialen Praktik mobilisiert wird und das die Praxistheorie rekonstruieren will, umfasst verschiedene Elemente: ein Wissen im Sinne eines interpretativen Verstehens, das heißt einer routinemäßigen Zuschreibung von Bedeutungen zu Gegenständen, Personen, abstrakten Entitäten, dem Selbst etc.; ein im engeren Sinne methodisches Wissen, das heißt script-förmige Prozeduren, wie man eine Reihe von Handlungen kompetent hervorbringt; schließlich das, was man als ein motivational-emotionales Wissen bezeichnen kann, das heißt ein impliziter Sinn dafür, »was man eigentlich will«, »worum es einem geht« und was undenkbar wäre. Durch die Zuordnung zu einzelnen, historisch und kulturell spezifischen Praxiskomplexen setzt die Praxistheorie diese Wissensformen dabei nicht als universal, sondern als historisch-spezifisch, als ein letztlich kontingentes local knowledge (Geertz) voraus. Aus praxeologischer Sicht verarbeiten alle diese Wissensformen einer Praktik oder eines Komplexes von Praktiken jene kulturellen Codes, jene symbolischen Ordnungen, wie sie die gesamte kulturalistische Theorietradition als Bedingung jedes Handelns herausgestellt hat. Aber die kulturellen Codes sind aus praxeologischer Sicht nicht wie ein theoretisch-intellektuelles Sinnsystem »im Kopf« oder im Diskurs zu begreifen, sondern als ein – nur hochabstrahiert zu einem »Code« zu verdichtenden – nicht unbedingt systematisch aufgebautes Netz von sinnhaften Unterscheidungen, das allein im Aggregatzustand des praktischen Wissens, als tool kit wirksam ist. Auch in Bezug auf die individuellen Zwecke und Interessen des Homo oeconomicus und die Normsysteme des Homo sociologicus wird nun eine praxeologische Einbettung und damit Relativierung der fraglichen Phänomene betrieben. Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne Handeln anleitet. Dies schließt teleologische Elemente 118

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nicht aus; die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete Zwecke oder Interessen, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/Emotions-Komplexe, die einer Praktik inhärent sind, in die die Akteure einrücken und die sie dann möglicherweise als »individuelle Interessen« umdefinieren. Auch die Normativität des Handelns kann praxeologisch nicht nach Art handlungsanleitender SollensRegeln verstanden werden. Nur innerhalb des weit über Normen hinausgehenden praktischen Wissens können auch implizite normative Kriterien bezüglich eines sozial angemessen erscheinenden Praktizierens wirksam werden. Diese impliziten normativen Kriterien des Angemessenen innerhalb eines Komplexes von Praktiken sind zu unterscheiden von etwaig vorhandenen expliziten, auch formalisierten Katalogen von Normen, die das gesamte Feld des Impliziten nicht zu repräsentieren vermögen und möglicherweise sogar im Widerspruch zu diesem stehen. Was bedeutet es, einen praxeologischen Blick auf Verhalten zu entwickeln und dessen praktisches Wissen herauszuarbeiten? Eine Illustration für die praxeologische Analysestrategie liefert die historische wie soziologische Lebensstilforschung.39 Die Lebensführung des frühmodernen, westlichen Bürgertums, wie es das 19. Jahrhundert kulturell dominiert und für die moderne Kultur insgesamt folgenreich ist, kann hier ein Beispiel liefern. Ein erster Schritt zu seiner praxeologischen Analyse besteht darin, die scheinbare, leicht reifizierbare Totalität einer »ganzen Lebensform« herunterzubrechen in die Heterogenität präzise bestimmbarer Alltagspraktiken, die ein »bürgerliches Leben« ausmachen: Praktiken der Arbeit – etwa der wirtschaftsbürgerlichen Arbeit im Kontor, der bildungsbürgerlichen Arbeit am Schreibtisch, der hauswirtschaftlichen Arbeit –, Praktiken der intimen Interaktion – im Umgang von Ehepartnern, zwischen Eltern und Kindern, im Rahmen bürgerlicher Geselligkeit –, Praktiken des Selbst – etwa im Schreiben von Tagebüchern, in der Lektüre von Romanen und Sachliteratur, im »Kunstgenuss«. Die informellen Logiken, die den bürgerlichen Lebensstil strukturieren, werden rekonstruierbar, wenn man im zweiten Schritt nach den hochspezifischen, letztlich ungewöhnlichen Wissensformen fragt, wie sie die einzelnen Praktiken ermöglichen: Was sind die know-howFormen, die Formen impliziten Verstehens, die kulturell geformten Motivationen, die die Praktiken des Arbeitens, der Intimität, des Selbst ermöglichen? Was heißt es, was wird tatsächlich geleistet, um im bürgerli39 Vgl. für die Soziologie etwa Karl H. Hörning/Daniela Ahrens/Anette Gerhard: Zeitpraktiken. Experimentierfelder der Spätmoderne, Frankfurt a.M. 1997; Paul Willis: »Profane Culture«. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur, Frankfurt a.M. 1981; Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1989. 119

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chen Sinne zu »arbeiten« (Techniken der Korrespondenz, der Informationssammlung und der souveränen Kommunikation, aber auch der informellen Absprache etc.)? Was ist das Prozedere der hochkomplexen Praktiken des bürgerlichen Lesens und Schreibens, der Praktiken der Bildung (körperliche Stillstellung und mentale Konzentration, Verwendung der Lektüre zum moralischen Exempel etc.)? Was heißt es praktisch, was »können« die Akteure, wenn sie eine bürgerliche Ehe führen (Bildungskommunikation, Fähigkeit zum sozialen Perspektivenwechsel, Sinn für das Einzigartige des Anderen, sexuelle Zurückhaltung etc.)? Die praxeologische Perspektive auf jenen Komplex von sozialen Praktiken beispielsweise, den man substantivisch als bürgerliche Intimsphäre zu umschreiben pflegt, kann eine Varietät von kulturell geformten Dispositionen herausarbeiten, die in ihrer historischen Außergewöhnlichkeit kulturelle Modernität beanspruchen: ein implizites Verstehen dessen, was die Intimität einer bürgerlichen Partnerschaft im Unterschied zur aristokratischen Tradition bedeutet (Ehe aus Sympathie, emotionale »Tiefe«, Zügelung des sexuellen Begehrens etc.), eine Kenntnis von Ablauf-Schemata zur »privaten« Interaktion (wie man eine Freundschaft pflegt, wie man versucht, sich in den Partner »hineinzuversetzen«), schließlich eine Routinisierung von bestimmten Motiven/Emotionen (eine Persönlichkeits-»Bildung« aller Beteiligten anstreben; Gefühle der Sympathie verfeinern; eine Abneigung gegenüber dem Primitiven pflegen etc.). Erst in den Praktiken wird damit deutlich, welche kulturellen Codes das bürgerliche Alltagsleben in fragiler Weise durch den praktischen Sinn hindurch strukturieren: Codes der moralischen Lebensführung, der Moderatheit, der Ernsthaftigkeit, der Nützlichkeit des Subjekts und die symbolische Abgrenzung vom »exzessiven«, »artifiziellen« und »unnützen« Verhalten.40 Die Routinisiertheit und die Unberechenbarkeit der Praktiken. In der Praxistheorie erscheint die soziale Welt der Praktiken im Spannungsfeld zweier grundsätzlicher Strukturmerkmale: der Routinisiertheit einerseits, der Unberechenbarkeit interpretativer Unbestimmtheiten andererseits. Anders formuliert, bewegt sich die Praxis zwischen einer relativen Geschlossenheit der Wiederholung und einer relativen Offenheit für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs. Diese beiden Aspekte (die allerdings bei verschiedenen praxeolo40 Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilserswist 2006, Kap. 2.1, 2.3; Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2000; Leonore Davidoff/ Catherine Hall: Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780-1850, London 1987. 120

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gischen Autoren in unterschiedlicher Weise betont werden) markieren keinen Widerspruch, sondern zwei Seiten der Logik der Praxis. Beide sind gegen eine rationalitätstheoretische Interpretation des sozialen Lebens, insbesondere in der Moderne, gerichtet. Sobald man sie als ein Netzwerk von sozialen Praktiken betrachtet, kommt der Sozialwelt die basale Eigenschaft der Routinisiertheit zu. Dies gilt aus Sicht der Praxistheorie keineswegs nur für sogenannte traditionale, vormoderne Gesellschaften, sondern auch für die Sozialität in den vorgeblich post-traditionalen modernen Gesellschaften, darunter auch für jene Praxiskomplexe, die sich als formale Institutionen verstehen, und auch für jene Lebensstile, die sich als individualisiert und reflexiv präsentieren. Die relative Strukturiertheit, Verstehbarkeit und Geordnetheit der Sozialwelt ergibt sich nicht primär aus einer Komplementarität von Interessen, aus einem normativen Konsens oder der Übersubjektivität abstrakter Symbolsysteme und Überzeugungen, sondern aus dem Routinehandeln, das durch ein implizites praktisches Wissen und Verstehen ermöglicht wird. Einmal vermitteltes und inkorporiertes praktisches Wissen tendiert dazu, von den Akteuren immer wieder eingesetzt zu werden und repetitive Muster der Praxis hervorzubringen. Auf eigentümliche Weise betreibt die Praxistheorie damit eine komplette Umkehrung von Max Webers Handlungstheorie:41 Hatte diese dem rationalen Handeln, vor allem in Form des zweckrationalen Handelns, das theoretische Primat zugeschrieben und das »traditionale Handeln« auf eine theoretische Residualkategorie von »Sitten und Gebräuchen« am Rande des Verhaltens festgelegt, so rückt die Praxistheorie etwas, was dem traditionalen Handeln ähnelt, in den Mittelpunkt ihrer Theorie des Sozialen: Handeln ist nicht als ein Konglomerat diskreter, intentionaler Einzelhandlungen zu denken, sondern als ein routinisierter Strom der Reproduktion typisierter Praktiken. Allerdings sind soziale Praktiken voraussetzungsvollere Gebilde, als es der Begriff des Traditionalen suggerierte. Die Routinisiertheit und »Traditionalität« sozialer Praktiken ist nur die eine Seite der sozialen Welt. Die Praxistheorie betont gleichzeitig, dass die Logik der Praxis nicht aus der Wiederholung von Routinen besteht, sondern dass sich hier immer wieder eine interpretative und methodische Unbestimmtheit, Ungewissheit und Agonalität ergibt, die kontextspezifische Umdeutungen von Praktiken erfordert und eine Anwendung erzwingt und ermöglicht, die in ihrer partiellen Innovativität mehr als reine Reproduktion darstellt. Entscheidend ist, dass sich diese relative Offenheit der Praxis aus Sicht der Praxistheorie nicht aus vorgängi41 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, Kap I. 121

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gen, allgemeingültigen Eigenschaften des Subjekts (oder der Gemeinschaft von Subjekten) ergibt, nicht aus einer subjektiven Freiheit und Autonomie »hinter« dem Sozialen der Praktiken und auch nicht aus einer subjektiven oder intersubjektiven Reflexivität oder einem individuellen Eigeninteresse, welche die Praktiken außer Kraft zu setzen vermögen. Vielmehr sind es verschiedene Eigenschaften der sozialen Praktiken selbst, ist es die »Logik der Praxis« (Bourdieu), die diese Offenheit und Veränderbarkeit herbeiführt und die den in der Praxis situierten Akteur dazu zwingt (und es ihm ermöglicht), ebenso »skillfully« wie im Routinemodus mit ihnen umzugehen. Vor allem vier Eigenschaften einer Logik der Praxis kann die Praxistheorie hier nennen, die ihre Unberechenbarkeit und damit Offenheit für kulturellen Wandel zum Normalfall werden lassen: Bereits das accomplishment einer einzelnen Praktik kann insofern eine praktische Unberechenbarkeit enthalten, als eben kein praktisches Wissen, das die Praktik enthält und das ein Akteur mobilisiert, Antworten auf sämtliche mögliche Eigenschaften des Kontextes, in dem die Praktik vollzogen wird, bereithalten kann. Die Kontextualität, die Situativität des Vollzugs von Praktiken, auf die vor allem die Ethnomethodologie hingewiesen hat,42 kann zwar unter vielen Umständen routinisiert bewältigt werden. Sie kann unter anderen Umständen aber auch mit Ereignissen, Personen, Handlungen, Objekten und Selbstreaktionen konfrontieren, für deren Behandlung die routinisierten Verstehensmuster, das methodische Wissen und die konventionalisierten Motiv/EmotionsKomplexe keine oder keine eindeutigen tools an die Hand geben. Die Überraschungen des Kontextes können dazu führen, dass die Praktik misslingt oder zu misslingen droht, dass sie modifiziert oder gewechselt werden kann oder muss, so dass sich eine unendliche Wiederholung verbietet. Einen besonderen Fall eines derartigen neuen Kontextes liefert das Aufkommen von neuen Artefakten, denen noch keine eingespielte Praktik entspricht und die – unter Einbeziehung alter Wissens- und Praxiselemente – die Entwicklung partiell neuer sozialer Praktiken (etwa im Umgang mit dem Computer, dem Mobiltelefon etc.) herausfordern. Ein zweites Strukturmerkmal der Logik der Praxis, welches Offenheit und Veränderbarkeit in der Routine erzwingt und das mit dem Merkmal der Kontextualiät verknüpft ist, betrifft die Zeitlichkeit des Vollzugs einer Praktik. Diese enthält die beiden Momente der Zukunftsungewissheit und des Potenzials der Sinnverschiebung. Dass eine soziale Praktik einen kollektiven und »die Zeit bindenden« Typus darstellt, ändert nichts daran, dass der Vollzug der Praxis aus der Sicht des Ak42 Vgl. H. Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. 122

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teurs in der temporalen Sequenz stattfindet und in jedem Moment – wie routinisiert auch immer – erneut hervorgebracht werden muss. Diese Zeitlichkeit ist keine bloße Eigenschaft in der »objektiven Zeit« eines Beobachters, sondern in der »subjektiven Zeit« von Handelnden, die eine Praktik vollziehen. Die Zeitlichkeit bedeutet vor allem eine Zukunftsungewissheit, ein Nicht-Wissen bezogen darauf, inwiefern ein weiteres Handeln im Rahmen der Praktik gelingen wird und die Praktik fortzusetzen ist. Gleichzeitig bedeutet dies einen Zwang zur schnellen Entscheidung unter Zeitdruck: In der Entscheidungslogik der Praxis kann die Routine zwar unterbrochen werden, wenn es angesichts von Zukunftsungewissheit oder der Unwägbarkeiten des Kontexts nötig erscheint, aber die Entscheidung muss i.d.R. unter Handlungsdruck erfolgen.43 Die Zeitlichkeit bringt schließlich auch insofern eine relative Offenheit und Unberechenbarkeit in den Vollzug einer Praktik, als sie jenes ermöglicht, was man als Sinnverschiebung umschreiben kann: Die »immer wieder neue« Anwendung einer Praktik ist nur im Grenzfall als eine absolute Wiederholung – gleich der Generierung kopienhafter tokens aus einem type – zu denken. Sie enthält vielmehr das Potenzial zufälliger, sprunghafter oder schleichender Verschiebungen im Bedeutungsgehalt der Praktik und ihres Wissens, die sich in bestimmten Kontexten ereignen.44 Die relative Veränderungsoffenheit der Praxis hängt drittens damit zusammen, dass in der sozialen Welt nicht einzelne diskrete soziale Praktiken isoliert vorkommen, sondern lose gekoppelte Komplexe von Praktiken, die häufig nur bedingt und widerspruchsvoll aufeinander abgestimmt oder gegeneinander abgegrenzt sind. Für eine gesellschaftstheoretische Weiterentwicklung der Praxistheorie ist es zentral, MakroAggregate von Komplexen miteinander zusammenhängender Praktiken zu rekonstruieren. Dabei lassen sich die Praktiken-Komplexe unter zwei verschiedenen Aspekten betrachten: als soziale Felder, in denen Praktiken »der Sache nach« zusammenhängen und aufeinander abgestimmt sind – etwa in einer Institution, einer Organisation oder in sogenannten Funktionssystemen – und als Lebensformen, in denen Praktiken etwa in einer kulturellen Klasse, einem Milieu oder einer kulturellen Bewegung so miteinander zusammenhängen, dass sie die gesamte Lebens- und Alltagszeit der beteiligten Subjekte strukturieren. Für die Praxistheorie kommt diesen Entitäten jedoch nicht von vorn43 Vgl. etwa P. Bourdieu: Méditations pascaliennes, Kap. 6. 44 In einer zunächst nicht praxeologischen, sondern zeichen- und texttheoretischen Kontext wird dieser Gedanke bei Derrida formuliert. Vgl. Jacques Derrida: »Die différance«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988/1999, S. 31-56. 123

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herein jene Homogenität nach innen und Festigkeit von Sinngrenzen nach außen zu, wie dies die klassischen Konzepte des differenzierungstheoretischen sozialen »Systems« oder der sozialphänomenologischen »Lebenswelt« suggerieren. Vielmehr erscheint aus praxeologischer Perspektive ein soziales Feld als ein Konglomerat von Praktiken, die zwar einerseits auf verschiedene Weise miteinander verknüpft sind, die sich andererseits jedoch auch deutlich in ihren Anforderungen an das praktische Wissen voneinander unterscheiden, die mitunter auch zueinander in Konkurrenz stehen können und trotzdem sachlich miteinander verbunden sind (etwa Praktiken des Forschens, des Lehrens, des Leitens von Forschergruppen, der öffentlichen Darstellung, die allesamt gleichermaßen im hochmodernen sozialen Feld Wissenschaft vorkommen). Gleichzeitig können die Grenzen zwischen verschiedenen sozialen Feldern oder verschiedenen Lebensformen, versteht man sie als Netzwerke durchaus heterogener Praktiken, alles andere als eindeutig sein, so dass etwa die gleichen Praktiken in verschiedenen Feldern vorkommen (z.B. Techniken der Selbstoptimierung gleichermaßen in der Wirtschaft und der Privatsphäre unter hochmodernen Bedingungen). Diese lose Kopplung von Praktiken in Praxiskomplexen stellt eine Quelle von Agonalität, das heißt der Konkurrenz unterschiedlicher sozialer Logiken in sozialen Feldern, und von interpretativen Mehrdeutigkeiten dar. Eine letzte und zentrale Bedingung der Unberechenbarkeit als Kennzeichen der Logik der Praxis ist in der Überschneidung und Übereinanderschichtung verschiedener Wissensformen in den Subjekten zu suchen: in der praxeologischen Struktur des Subjekts als eines lose gekoppeltes Bündels von Wissensformen. Die Struktur des Akteurs oder – um den philosophisch stärkeren Begriff zu gebrauchen – des Subjekts lässt dieses aus praxistheoretischer Perspektive als Quelle von Unberechenbarkeit und kultureller Innovation erscheinen, ohne dass dazu, klassisch subjekttheoretisch, Autonomie, Reflexivität oder Eigeninteressierheit jenseits und vor der Praxis präjudiziert würden. Für das praxeologische Subjektverständnis ist generell kennzeichnend, dass es keine dieser Voraussetzungen vorgeblich allgemeingültiger Eigenschaften »des Menschen« übernimmt, sondern die allgemeinen Subjekteigenschaften als soziale Anforderungen und Produkte historisch und kulturell spezifischer Praxiskomplexe neu beschreibt: die jeweiligen sozialen Praktiken produzieren beispielsweise subjektive Eigenschaften von »Innerlichkeit« und »Konstanz«. Die angebliche Universalie des sich selbst reflektierenden Subjekts wird praxeologisch aufgelöst in historisch-spezifische Praxiskomplexe, etwa in die der protestantischen oder bürgerlichen Selbstbefragung über Tagebücher, angeleitet von einem Code der Gewissenserforschung und Selbstverbesserung, oder in die der hochmoder124

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nen biographischen Selbstvergewisserung, die durch die Notwendigkeit des »story telling« über das eigene Ich im Beruf, in der Partnerschaft etc. induziert wird. »Reflexive Subjekte« werden so jeweils je anders hervorgebracht. Der Besitz individueller Eigeninteressen als vorgebliche Universalie erscheint praxeologisch als das soziale Produkt von modernen Marktbedingungen (Arbeitsmarkt, Konsummarkt, Partnerschaftsund Heiratsmarkt etc.), in denen die Subjekte sich die Kompetenz antrainieren (müssen), Entscheidungen unter Bedingungen der »Wahl« zwischen verschiedenen austauschbaren Items zu treffen und dafür Präferenzen zu entwickeln. Auch die vorgeblichen Subjekteigenschaften eines inneren sexuellen oder libidinösen Antriebs erscheinen praxeologisch als Produkt bestimmter Arrangements von sozialen Verhaltens-, Verstehens- und Emotionsroutinen – etwa Butlers heterosexuelle kulturelle Matrix –, die in den Subjekten bestimmte leidenschaftliche und libidinöse Bestrebungen instituieren. Für die Praxistheorie sind die Subjekte in allen ihren Merkmalen Produkte historisch- und kulturell spezifischer Praktiken, und sie existieren nur innerhalb des Vollzugs sozialer Praktiken: Ein Subjekt ist (im Wesentlichen) – auch in seinen »inneren« Vorgängen des Reflektierens, Empfindens, Erinnerns, Planens etc. – die Sequenz von Akten, in denen es in seiner Alltags- und Lebenszeit an sozialen Praktiken partizipiert. Nur scheinbar handelt es sich hier jedoch um einen soziologischen Determinismus. Abgesehen davon, dass bereits die bloße Anwendung einer Praktik durch ihre Kontextualität und Zeitlichkeit das praktische Vermögen des Handelnden auf die Probe stellen kann, ist es vor allem die Struktureigenschaft des Subjekts als heterogenes Wissensbündel, welches ein Element der Unberechenbarkeit begründet. Einzelne soziale Praktiken setzen jeweils ein sehr spezifisches praktisches Wissen voraus. Für das Subjekt und seine gesamte »Lebensform« – das heißt das Insgesamt der Praktiken, die es in seiner Alltags- und Lebenszeit vollzieht – bedeutet dies jedoch umgekehrt, dass es gleichzeitig unterschiedliche, heterogene, möglicherweise auch einander widersprechende Formen praktischen Wissens inkorporiert hält, die es in seiner Lebensführung zum Einsatz bringt. Wenn Simmel das Individuum als Kreuzungspunkt sozialer Kreise, das heißt von verschiedenartigen Gruppen, beschreibt,45 dann kann man praxeologisch reformulieren, dass das Subjekt einen Kreuzungspunkt unterschiedlicher Verhaltens/Wissenskom-plexe sozialer Praktiken darstellt, ein mehr oder minder loses Bündel von praktischen Wissensformen. In deren Heterogenität, Nicht-Aufeinander-abgestimmtheit, möglicherweise auch Inkommensurabilität findet sich ein Potenzial 45 Vgl. G. Simmel: Soziologie, Kap. 6. 125

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für die Unberechenbarkeit des Verstehens und Verhaltens des Einzelnen und für die kulturelle Transformation der Praxis. Aus praxistheoretischer Perspektive ist es nicht die vorausgesetzte Autonomie oder Individualität des Subjekts, die diese Eigensinnigkeit begründet. Sie ergibt sich vielmehr aus der praktischen Notwendigkeit, mit verschiedenartigen Verhaltensroutinen und deren heterogenen Sinngehalten umzugehen. Normative Implikationen der Praxistheorie. Alle Details zusammengenommen, gewinnt das praxistheoretische Vokabular zur Analyse der Sozialwelt sein Profil durch eine Kritik an der theoretischen Rationalisierung und Intellektualisierung des Sozialen und des Handelns. Eine solche Rationalisierung und Intellektualisierung ist impliziert im Modell des zweckrationalen Handelns und im Modell eines von formal-expliziten Normen angeleiteten Handelns. Sie ist ebenso im Geist/Kör-perDualismus, in der Voraussetzung universaler Strukturen der Subjektivität, im Konzept von Kultur als eines Ideensystems oder einer unbewussten kognitiven Matrix und schließlich auch im Verständnis von Kultur als einer Sequenz von Zeichen oder Diskursen enthalten. Die Praxistheorie setzt dem eine Materialisierung, Informalisierung und Routinisierung des Sozialen entgegen. Die Praxistheorie enthält dabei kaum explizierte und durchaus heterogene normative Elemente, die sich nur in ihrem Gegner einig sind. Sie können hier nur angedeutet werden: ein kulturalistischer »Konservatismus« und ein kulturalistischer »Anarchismus«, eine Tendenz zum Post-Humanismus und zu einem neuen Humanismus. In ihrer Betonung der Routinisiertheit des Sozialen, der Herrschaft der impliziten und damit niemals rationalistisch einholbaren Wissensbestände, der nicht auf abstrakte Prinzipien rückführbaren informellen Logik des Handelns und der Beharrungskraft des Inkorporierten macht die Praxistheorie eine Traditionalität, einen realen und reflexionstheoretisch niemals einholbaren »Konservatismus« des sozialen Lebens auch und gerade in sozialen Feldern und Lebensformen jener Moderne aus, die meint, post-traditional geworden zu sein. Eine solche Tendenz findet sich deutlich bei Taylor, Oakeshott und MacIntyre, möglicherweise auch schon bei Wittgenstein und Heidegger.46 Dadurch dass die Praxistheorie die kulturelle Kontingenz und informelle Heterogenität sozialer Praktiken, ihre potenzielle Veränderbarkeit und damit auch die Modifizierbarkeit nur vorgeblich allgemeingültiger Eigenschaften des Subjekts, von Normen und Interessen betont, dadurch dass sie die Offenheit und Unberechenbarkeit der sozialen Praxis, ihre Kontextualität, Zeitlichkeit und

46 Vgl. Michael J. Oakeshott: On Human Conduct, Oxford 1975; Alisdair MacIntyre: After Virtue, London 1981; David Bloor: »Wittgenstein and the priority of practice«, in: T. Schatzki u.a., The Practice Turn, S. 95-106. 126

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lose Gekoppeltheit hervorhebt, weist sie umgekehrt auf ein »anarchisches«, subversives Element der Praxis hin, das etwa Autoren der Cultural Studies oder Judith Butler herausstellen.47 Gleichzeitig enthält die Praxistheorie post-humanistische wie humanistische Konnotationen: Die Relativierung des Subjekts zugunsten des Körpers, der Artefakte und des vorbewussten Wissens impliziert etwa bei Bourdieu, bei Foucault oder in den Medientheorien eine Tendenz zum »Post-Humanismus«. Gleichzeitig aber scheint die Praxistheorie nicht selten einen anderen Humanismus anzudeuten: Gerade die Betonung der subtilen Kompetenzen und reichhaltigen praktischen Fähigkeiten, der impliziten knowledgeability, die selbst in den scheinbar trivialsten Alltagstechniken enthalten ist, sowie der Geschicklichkeit und Wendigkeit der »gens infâmes« (Foucault) macht die eigentümliche humanistische Tendenz der Praxeologie von Bourdieu bis Giddens, von Garfinkel bis de Certeau aus.

Au s b l i c k : P r a x e o l o g i s c h e Am b i va l e n z e n Eine ausführliche Behandlung der Doppeldeutigkeiten und Ambiguitäten der Praxistheorie ist an dieser Stelle nicht möglich und würde eine intensivere Auseinandersetzung mit einzelnen Autoren erfordern. Vielmehr sollen zum Abschluss nur drei Themenkomplexe angeschnitten werden, die für das theoretische Design und die forschungsheuristische Fruchtbarkeit einer Theorie sozialer Praktiken wichtig erscheinen, die aber bisher in der praxeologischen Diskussion offene Fragen aufwerfen: das Spannungsfeld zwischen den Grundannahmen der Repetitivität und der kulturellen Innovativität von sozialen Praktiken; die Stellung von Artefakten als Gebrauchsgegenstände oder als Aktanten; die Frage nach dem Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken. Die erste praxeologische Ambivalenz betrifft die Frage, ob soziale Praktiken primär durch vorreflexive Routinisiertheit und Wiederholbarkeit gekennzeichnet sind oder ob grundbegrifflich ein beständiges Potenzial von kultureller Innovation und eigensinniger Veränderung überkommener Praxismuster angenommen werden soll. Ich hatte beide Elemente als »zwei Seiten« der Logik der Praxis dargestellt, im Feld der realen Praxistheoretiker handelt es sich jedoch nach wie vor um eine strittige Frage. Es scheint, dass die klassische sozialtheoretische Kontroverse zwischen structure and agency hier unter neuen Vorzeichen wie-

47 Vgl. die Darstellung in R. Winter: Die Kunst des Eigensinns; J. Butler: Gender Trouble, S. 190ff. 127

PRAKTIKEN

deraufgelegt wird: Auf der einen Seite steht vor allem Pierre Bourdieus Version einer Theorie der Praxis, aber auch manche der Arbeiten von Foucault und Taylor. Hier erscheint vor allem die Inkorporierung des praktischen Wissens, die sich schließlich in einem Habitus oder bestimmten Subjektivierungsformen verdichtet, als ein sozialer Mechanismus, der im Normalfall eine »konservative« Reproduktion von Praktiken – im Übrigen auch eine generative Mächtigkeit des Sozialen – begründet. Auf der anderen Seite befinden sich Garfinkels und Boltanski/ Thévenots Ethnomethodologie, aber auch Theoretiker der Cultural Studies und Judith Butler, denen das beständige Potenzial zu kultureller Innovation – im Übrigen auch von machtvollem Widerstand und Subversion – als das Kennzeichen der Anwendung sozialer Praktiken gilt. Damit ist ein subversives Potenzial bezeichnet, das nicht über eine vorpraktische Autonomie der Subjekte, sondern über die Kontextualität, die Zeitlichkeit und die Agonalität der Praktiken begründet wird. Im Extrem tendieren die ersteren Autoren zu einem Modell unendlicher sozialkultureller Reproduktion, die letzteren zu einem Modell unendlicher kultureller, »spielerischer« Offenheit. Eine ausgearbeitete Theorie sozialer Praktiken müsste aber die kulturellen Bedingungen genauer spezifizieren, unter denen eine Reproduktion beziehungsweise eine Modifikation von Praktiken wahrscheinlich wird.48 Ein zweiter strittiger Punkt im Design der Theorien sozialer Praktiken betrifft den Status der Artefakte. Erst verhältnismäßig spät hat die Praxeologie – jenseits der eher verkürzenden Behandlung des Materiellen in Bourdieus Konzept des Kapitals und in Giddens’ Konzept der Ressourcen – die konstitutive Bedeutung von praktischen Objekten für die Struktur und Reproduktion sozialer Praktiken thematisiert. Diese Thematisierung verlief zu großen Teilen im Kontext von Theorien aus dem Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung, auch der Medientheorien, die – am prominentesten und einflussreichsten bei Bruno Latour, aber auch bei Andrew Pickering – den Artefakten innerhalb von Praktiken einen gleichberechtigten Status gegenüber den menschlichen Akteuren zuschreiben. Im Sinne einer »symmetrischen Anthropologie« und eines offensiven Post-Humanismus soll der ontologische Dualismus zwischen einer humanen und einer natürlichen Welt aufgelöst werden, so dass auch die Dinge als eigenmächtige nicht-humane Aktanten interpretiert werden. Dem Post-Humanismus, der den Handlungsbegriff nicht 48 Zu einer Thematisierung dieses Spannungsfeldes vgl. auch Andreas Reckwitz: »Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 40-54. 128

GRUNDELEMENTE EINER THEORIE SOZIALER PRAKTIKEN

nur auf den »Menschen«, sondern auch auf die »Dinge« bezieht, stehen jedoch post-wittgensteinianisch konnotierte Versionen der Praxistheorie gegenüber – etwa bei Schatzki oder Hörning49 –, die zwar auch die konstitutive Bedeutung von Artefakten für die Form einer Praktik hervorheben, aber betont asymmetrisch die Artefakte als Objekte des Gebrauchs durch menschliche Subjekte interpretieren. Die Diskussion zwischen einer »starken«, post-humanistischen und einer »schwachen«, postwittgensteinianischen Theorie der Artefakte hat gerade erst begonnen.50 Ein Kernproblem für eine post-humanistische Artefakttheorie dürfte darin bestehen, inwiefern es ihr gelingt, die Konzepte des praktischen Wissens und Verstehens nicht nur auf humane Träger von Praktiken, sondern auch auf nicht-humane Träger anzuwenden. Eine dritte, für die kulturwissenschaftliche Anwendung in hohem Maße relevante Frage betrifft das Verhältnis zwischen dem Konzept der Praktiken und dem der Diskurse. Generell betreibt die Praxistheorie hinsichtlich der Konstitution der Sozialwelt eine Relativierung und Reformulierung des Status von Diskursen, das heißt von geregelten sprachlichen (oder eventuell auch anderen, etwa visuellen) Aussagesystemen, die einem kulturellen Code folgen. Sie kritisiert jene Tendenz zu einer Identifizierung des Sozialen mit selbstreproduzierenden Zeichensystemen, wie sie die »textualistischen« Ansätze der Kulturtheorie betreiben, und erkennt in ihr eine weitere Form der Intellektualisierung des Sozialen. Die Kritik bewegt sich hier auf zwei Ebenen: Zum einen sind für die Praxistheorie interobjektive Praktiken sowie Techniken des Selbst ebenso sehr soziale Praktiken, wie es für kommunikative, zeichenverwendende Praktiken gilt – sie alle sind für die Reproduktion des Sozialen gleichermaßen verantwortlich. Zum anderen lässt sich das, was etwa in Foucaults früher Diskurstheorie als Diskurs, als ein historisch spezifisch codiertes Aussagesystem bezeichnet wird (etwa »der medizinische Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts« oder »der Sexualitätsdiskurs der Psychonanalyse«) aus praxeologischer Sicht nicht auf einen autonomen kulturellen Code mit immanenten, »objektiven« Bedeutungen reduzieren, sondern ist als eine »diskursive Praktik« zu analysieren. Für die Praxistheorie kann ein Diskurs selber nichts anderes denn eine spezifische soziale Praktik sein, das heißt der Diskurs wirkt aus praxeologi49 Vgl. Theodore R. Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park (Penn.) 2002; K. Hörning: Experten des Alltags. 50 Vgl. die Beiträge in T. Schatzki u.a.: The Practice Turn; vgl. auch Alex Preda: »Order with things: Humans, artifacts, and the sociological problem of rule-following«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 30 (2000), S. 269-298. 129

PRAKTIKEN

scher Sicht allein in einem bestimmten sozialen Gebrauch, als ein Aussagesystem, das in bestimmten Kontexten rezipiert und produziert wird. Erst die Rekonstruktion der kontextuellen Anwendung von diskursiven Aussagesystemen kann für die Praxistheorie klären, welche Bedeutung dem Diskurs im Wissen der Teilnehmer zukommt. Ansätze für eine solche praxeologische Version der Diskursanalyse, die die Verwendung von Aussagesystemen im Rahmen bestimmter sozial routinisierter Rezeptions- und Produktionspraktiken analysiert, kann man im text- und literaturwissenschaftlichen Bereich im new historicism oder der Rezeptionsforschung, einschließlich der weiteren Medienrezeptionsforschung ausmachen.51 Eine systematischere Ausarbeitung einer praxeologischen Diskursanalyse steht aber noch bevor. Die künftige Attraktivität einer Theorie sozialer Praktiken wird von ihrem weiteren heuristischen Wert für die Forschungspraxis abhängen. Praxistheorien leiten einen quasi-ethnologischen Blick auf die Mikrologik des Sozialen an. Die Ethnographie und die »dichte Beschreibung« stellen für sie nicht zufällig eine bevorzugte Forschungsmethode für die Rekonstruktion von Praktiken dar.52 Dieser quasi-ethnologische Blick auf die Fremdheit, die Kontingenz des scheinbar Selbstverständlichen wie auf die implizite Logik des scheinbar Fremden ist es wohl, der sie angesichts einer brüchig gewordenen Perspektive auf die Strukturmerkmale der Moderne und ihrer Modernisierung heuristisch attraktiv macht. Das Bewusstsein, dass die Sozialität und Subjektivität hochmoderner Gesellschaftsformen in verschiedenen Feldern wie Arbeit, Intimität und Geschlechtlichkeit, Konsum, Technik- und Mediengebrauch nicht mehr denen der für die Soziologie klassischen organisierten Moderne der Mitte des 20. Jahrhunderts entspricht, das Bewusstsein, dass auch die Geschichte der Moderne und ihre historisch sich entwickelnden Sozialitätsund Subjektformen unter dem Eindruck eines kulturalistischen Zweifels an der Linearität von Modernisierungsprozessen neu zu thematisieren ist, schließlich das Bewusstsein, dass als Ergebnis der fortschreitenden kulturellen Globalisierung zunächst unvertraute nicht-westliche Formen des Verhaltens und des Wissens zunehmend ins Blickfeld geraten, können Motivationen liefern, die den quasi-ethnologischen Blick praxeologischer Analysen weiterhin und verstärkt fördern. 51 Vgl. Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995; J. Fiske: Television Culture. 52 Vgl. Klaus Amann/Stefan Hirschauer (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a.M. 1997; Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M. 1993. 130

Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten 1

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sozialtheorie in mancher Hinsicht zur Kulturtheorie umgeformt. In den unterschiedlichsten theoretischen Lagern ist das Soziale als Kultur redefiniert worden: Strukturalismus, Semiotik und Poststrukturalismus, Phänomenologie und Hermeneutik, Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele und der symbolische Interaktionismus haben auf jeweils andere Weise zu der Auffassung beigetragen, dass die Welt des Sozialen auf sinnhaften, symbolischen Strukturen beruht. Im Unterschied zu klassischen Sozialtheorien wie dem Naturalismus, dem Utilitarismus oder dem normorientierten Paradigma des Homo sociologicus führen die Kulturtheorien damit menschliches Handeln und soziale Ordnungen auf symbolische Codes und Schemata zurück, die bedeutungsregulierend wirken. Es ist nur konsequent, dass sich diese Kulturalisierung des Sozialen nun massiv auf das auswirkt, was man das »Materielle« nennen kann. Die klassischen Dualismen zwischen »Idealismus« und »Materialismus«, zwischen den Sphären des »Ideellen« und des »Realen«, zwischen der Kultur des Symbolischen und der Wirklichkeit der materiellen Dinge scheinen sich mittlerweile zugunsten der ideellen Seite dieser klassischen Oppositionen aufgelöst zu haben. In der Unterscheidung von Kulturalität und Materialität erweist sich letztere damit als Supplement (um einen Ausdruck von Derrida zu verwenden) von ersterer, als ein Element, das zu der fertigen Ganzheit der Kultur lediglich noch »hinzugefügt« wird. Die kulturtheoretische Marginalisierung des Materiellen durch das Sinnhafte und Symbolische ist jedoch auf den zweiten Blick weniger

1

Dieser Aufsatz wurde in englischer Sprache geschrieben und 2002 veröffentlicht. Er ist von Sophia Prinz ins Deutsche übertragen worden. 131

PRAKTIKEN

eindeutig. Die Kulturtheorien haben immer erhebliche Mühe darauf verwandt, das Materielle gegenüber dem Symbolischen theoretisch zu verorten. Durchgängig stellt sich die Frage, wie sich der Status einer solchen »materiellen« Dimension der Wirklichkeit denken und wie sich diese innerhalb eines kulturtheoretischen Vokabulars definieren lässt. Die Form einer Kulturtheorie wird gerade darin deutlich, wie sie die nicht-kulturellen Elemente einordnet, die allgemein als das Materielle beschrieben werden können. Darüber hinaus lässt sich an der theoriesystematischen Entwicklung der Behandlung von Materialität ablesen, wie sich die Kulturtheorien insgesamt transformiert haben und transformieren können. Tatsächlich hat sich das Verständnis von Materialität innerhalb kulturtheoretischer Argumentationen im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich modifiziert. Die Entwicklung der Kulturtheorien lässt sich hinsichtlich ihres Verständnisses von Materialität in drei Phasen unterteilen, deren genauere Rekonstruktion im Folgenden die Aufgabe sein soll: 1.) die Wissenssoziologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wie sie von der klassischen Soziologie in den Werken von Mannheim, Scheler und Durkheim formuliert wurde; 2.) die Kulturtheorien seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, wie sie in den verschiedenen Versionen des Strukturalismus und der Sozialphänomenologie – zwei Formen des kulturellen Mentalismus –, im poststrukturalistischen und konstruktivistischen »Textualismus« sowie im Interaktionismus zu finden sind; 3.) die zeitgenössischen Praxistheorien und hier vor allem Bruno Latours Ansatz einer symmetrischen Anthropologie, die seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die konstitutive Relevanz von Artefakten thematisieren. Erst in der dritten und letzen Phase scheint die Kulturtheorie dazu in der Lage zu sein, die Beziehung zwischen dem Kulturellen und dem Materiellen jenseits kulturalistischer oder materialistischer Verkürzungen zu bestimmen. Diese theoretische Öffnung ist eng mit der Etablierung von Theorien sozialer Praktiken innerhalb des kulturtheoretischen Lagers verknüpft. Die Konzeptualisierung des Materiellen und der Materialität in den drei Theorieoptionen unterscheidet sich grundsätzlich voneinander: 1.) Die klassische Wissenssoziologie begreift das Materielle als soziale Strukturen, in denen die kulturellen Wissensordnungen fundiert sind. Dieser Ansatz erweist sich als eine kulturalistisch-materialistische »Doublette«, das heißt, er kombiniert Kulturalismus und Materialismus in spezifischer Weise miteinander, indem er ersteren in letzterem zu verankern versucht. 2.) Die verschiedenen Versionen der modernen Kulturtheorien kön132

DER ORT DES MATERIELLEN IN DEN KULTURTHEORIEN

nen als Reaktionen auf die Unzulänglichkeit des wissenssoziologischen Versuchs verstanden werden, eine Fundierung der Kultur außerhalb ihrer selbst vorzunehmen. Der Kulturalismus redefiniert stattdessen die materielle Welt als Objekte der Repräsentation, die erst im Kontext von Bedeutungssystemen – Kategorien, Diskursen oder Kommunikationshandlungen – existieren. In den letzten Jahrzehnten hat diese Auffassung von Materialität das kulturtheoretische Feld dominiert. 3.) Eine Neukonzeptualisierung von Materialität geht neuerdings vor allem von Bruno Latours Werk aus. Bruno Latours »symmetrische Anthropologie« kann als eine Kritik der kulturalistischen Tendenz verstanden werden, die soziale auf eine symbolische Ordnung und die Materialität auf ihre Bedeutungsdimension zu reduzieren. Das Materielle wird hier nicht als soziale Struktur oder Konglomerat symbolischer Objekte konzipiert, sondern als Ensemble von Artefakten, als »Dinge«, die als eigenständige Komponenten in soziale Netzwerke und Praktiken integriert sind. Latours skizzenhafter Ansatz bildet hier keine isolierte Position, sondern kann in eine breitere Bewegung eingeordnet werden, welche die Kulturtheorie gegen den Intellektualismus der Zeichen und Symbole in Richtung dessen zu refomulieren sucht, was Theodore Schatzki »Theorie sozialer Praktiken« genannt hat. Diese Richtung versucht, die Kulturtheorie zu »materialisieren«, ohne in den Fundierungsanspruch des alten Materialismus zurückzufallen.

Die klassische Wissenssoziologie: Das Materielle als soziale Struktur Die klassische Wissenssoziologie, wie man sie im Werk von Karl Mannheim und Max Scheler in den 1920er und 1930er Jahren sowie in anderer Form in Émile Durkheims Spätwerk antreffen kann, nimmt in der modernen Sozialtheorie einen ambivalenten Ort ein. In mancherlei Hinsicht kann die Wissenssoziologie als eine frühe Version kulturtheoretischen Denkens interpretiert werden. Aber gleichzeitig sieht sich diese kulturtheoretische Position insofern relativiert, als sie die Analyse kollektiver Wissensbestände mit einer materialistischen Argumentation kombiniert, derzufolge die symbolischen von sozialen Strukturen abhängen. In der Wissenssoziologie ist das Materielle damit eindeutig außerhalb des Kulturellen, in den sozialen Strukturen situiert: Die Materialität erscheint hier als die geheime Ursache und Begründerin der Kultur. In diesem Sinne lässt sich die klassische Wissenssoziologie als eine

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PRAKTIKEN

Art kulturalistisch-materialistische »Doublette«2 bezeichnen, wobei die von ihr proklamierte ursächliche Relation zwischen Sozialstruktur und Wissen in vieler Hinsicht opak bleibt. Für die meisten klassischen Sozialtheoretiker, die der Wissenssoziologie vorangingen, war das Soziale keineswegs mit der »Kultur« identisch. Bis auf Max Weber, der in diesem Zusammenhang eine Ausnahme darstellt, trifft dies sowohl für Marx’ Historischen Materialismus als auch für die frühe Durkheimianische Theorie sozialer Entwicklung und sozialer Tatsachen sowie für Georg Simmels »formale Soziologie« zu. Trotz der deutlichen Differenzen zwischen diesen klassischen Vokabularen erscheint in allen Theorien die Ebene der Ideen und Repräsentationen, der kulturellen Interpretationssysteme letztlich als Epiphänomen, das für eine Erklärung von Handlungen und sozialer Ordnung nicht als finale Erklärungsinstanz taugen kann. Die ursächlichen Bedingungen für das menschliche Verhalten werden hier vielmehr auf der Ebene präkultureller sozialer »Strukturen« angesiedelt. Die sozialen Strukturen werden von den klassischen Sozialtheoretikern allerdings unterschiedlich bestimmt: als Produktivkräfte und »consequence laws« (Marx), als soziale Differenzierungsmuster, soziale Dichte und soziale Tatsachen (Durkheim) oder als soziale »Form« im Gegensatz zu den kulturellen »Inhalten« (Simmel). Weitestgehend unumstritten ist in diesem Kontext hingegen, dass das Soziale auf der Ebene sozialer Strukturen zu verorten ist, die als nicht-ideelle Sphäre von Regelmäßigkeiten und Mustern unabhängig von subjektiven oder kollektiven Repräsentationen existiert.3 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie die Wissenssoziologie neue und alte konzeptuelle Elemente miteinander verschaltet. Auf der einen Seite bricht sie mit der klassischen Sozialtheorie, indem sie symbolische Ordnungen als notwendige Bedingungen von Handlungsordnungen einführt. Auf der anderen Seite übernimmt sie von ihren theoretischen Vorläufern die Bestimmung des Materiellen als soziale Struktur, die jenseits der Kultur situiert ist und den Handlungen zugrunde liegt. Eine klassische Formulierung dieser kulturalistisch-materialistischen Doppelstruktur findet sich in Karl Mannheims Ideologie und Utopie 2

3

Ich übernehme hier die Metapher der »Doublette« von Foucault, der die paradoxe Struktur der Kantischen Subjektphilosophie als eine »empirischtranszendentale Doublette« umschreibt. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1991, S. 384. Diese Identifikationen des Sozialen mit sozialen Strukturen im Sinne regelmäßiger, nicht-sinnhafter Muster wird heute von kritisch-realistischen Autoren wie Peter Blau und Jonathan Turner vertreten. Vgl. Jonathan Turner: »Analytical theorizing«, in: Anthony Giddens/ders. (Hg.), Social Theory Today, Cambridge 1987, S. 156-194.

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DER ORT DES MATERIELLEN IN DEN KULTURTHEORIEN

(1929). Andere Versionen liegen in Max Schelers Die Wissensformen und die Gesellschaft (1925) und in Émile Durkheims Les Formes élémentaires de la vie religieuse (1912) vor. Mannheim wendet sich gegen den klassischen Anti-Kulturalismus, indem er die Bedeutung der Begriffe der Ideologie und des Wissens modifiziert. Die alten Ideologietheorien des 19. Jahrhunderts verstanden Ideologie als falsches Bewusstsein, das der »Wahrheit« oder dem begründeten Wissen entgegengesetzt ist. Demgegenüber unternimmt Mannheim eine Totalisierung des Ideologiebegriffs und dehnt ihn auf alle von der Gemeinschaft geteilten Wissensformen aus. Damit koppelt er den Ideologiebegriff von der Wahrheitsfrage ab und verwirft die Unterscheidung von Wissen und Glauben. Die Transformation des Ideologie- und Wissensbegriff ermöglicht die spezifisch kulturtheoretische Perspektive der Wissenssoziologie: Handlungsmuster von sozialen Kollektiven werden auf gemeinsam geteilte »Denkstile« und »kollektive Repräsentationen« zurückgeführt. Nichtsdestotrotz vertritt Mannheim wie auch Scheler und der späte Durkheim die Annahme, dass für eine soziologische Erklärung des menschlichen Verhaltens eine rein kulturalistische Argumentationsweise unzureichend ist. Die soziologische Erklärung muss in den nichtideellen, materiellen Sozialstrukturen nach den Fundierungen der kulturellen Wissensstrukturen suchen. Die spezifisch »soziale« Fundierung des menschlichen Handelns kann nicht kulturell sein. Aber was sind soziale Strukturen und was ist ihr vorkultureller, materieller Inhalt? Mannheim umschreibt sie behelfsweise mit einer Reihe von Begriffen: »Seinslage«, »Strukturlage« oder »Seinsfaktoren«.4 Max Scheler spricht von »Realfaktoren«, die er den »Idealfaktoren« gegenüberstellt.5 Der späte Émile Durkheim verweist auf »soziale Bedingungen«, den »sozialen Ursprung der Kategorien« sowie die »Natur der Dinge«, um die soziale Basis der kollektiven, vor allem religiösen Repräsentationen zu beschreiben.6 Wie ist nun aber die logische Beziehung zwischen kollektivem Wissen und Sozialstruktur vorstellbar? Es lassen sich in der Wissenssoziologie drei Möglichkeiten unterscheiden, die beiden strikt voneinander separierten Sphären der Wissensvorräte und der »sozialen Bedingungen« in einen logischen Zusammenhang zu bringen: Die Relation wird

4 5 6

Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1985, S. 229244. Vgl. Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern, München 1960, S. 21ff. Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 7-42. 135

PRAKTIKEN

als »Kausalbeziehung«, als »Widerspiegelung« oder nach Art einer »sozialen Konstitution« gedacht. Die erste Möglichkeit, die Relation von Sozialstruktur und Kultur/ Wissen wissenssoziologisch zu modellieren, findet sich teilweise bei Mannheim und bei Scheler. Hier werden die »Strukturbedingungen« als Ursache der Entfaltung und Reproduktion der jeweiligen Denkstile dargestellt, die somit als »Effekte« ihrer sozialen Basis erscheinen. Die Beziehung zwischen den Strukturen des Seins und des Wissens ist demnach nicht nur durch eine »Korrelation« gekennzeichnet, sondern durch eine »Determination«.7 Kultur und Struktur werden hier dadurch zueinander ins Verhältnis gesetzt, dass die Existenz einer bestimmten Wissensform ausgehend von den strukturellen Bedingungen ihrer Entstehung – einer Klasse, einer Generation, einer Denkschule – »erklärt« wird.8 Es fällt schwer, in der Wissenssoziologie eine präzise Definition von »strukturellen Bedingungen« auszumachen, obwohl Mannheim diese mit einer bestimmten Distribution von »Ressourcen« z.B. zwischen verschiedenen Klassen zu identifizieren scheint: Dementsprechend verfolgen die Vertreter einer Klasse, einer Generation oder einer intellektuellen Schule Interessen, die aus ihren strukturellen Bedingungen und einer damit einhergehenden Weltsicht resultieren. Diese Version der Wissenssoziologie lehnt sich an die klassische Differenz von »Basis« und »Überbau« an. In Durkheims Wissenssoziologie trifft man auf eine zweite Variante des Verhältnisses von Sozialstruktur und Kultur: Hier wird die zu bestimmende Relation als eine epistemologische Widerspiegelung interpretiert. Die Kategorien, die eine soziale Gruppe entwickelt, um soziale oder natürliche Phänomene zu klassifizieren wie etwa Begriffe der Zeit, des Raums oder der Kausalität sind keine arbiträren Erfindungen. Sie »konstruieren« nicht die symbolische Welt als Fiktion, die mit der »realen« sozialen und natürlichen Welt nichts zu tun hat. Im Gegenteil, im epistemologischen Sinne »korrespondieren« sie mit realen Strukturen der sozialen und natürlichen Welt. In diesem Sinne spiegeln die kollektiven Klassifikationen des Wissens nicht nur die sozialen, sondern auch die natürlichen Strukturen wieder: Sie reflektieren die »Natur der Dinge«.9 Wenn in der ersten wissenssoziologischen Variante die Beziehung zwischen Struktur und Kultur der klassischen Differenz von Basis und Überbau gleicht, dann enthält die zweite Version Ähnlichkeiten mit der klassischen erkenntnistheoretischen Beziehung zwischen Subjekt und

7 8 9

Vgl. K. Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 230. Ebd., S. 265. Vgl. É. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 41.

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DER ORT DES MATERIELLEN IN DEN KULTURTHEORIEN

Objekt. Die Rolle des traditionellen Subjekts wird hier durch die symbolischen Kategorien des sozialen Kollektivs ersetzt, während die Rolle des traditionellen Objekts nicht nur von den natürlichen, sondern auch von den sozialen Strukturen eingenommen wird. Die zweite Form wissenssoziologischer Relationierung setzt auf jeden Fall einen Vorrang des Objekts, also der Strukturen der realen Welt, voraus, die sich in den sozialen Kategorien »manifestieren« sollen. Schließlich findet sich eine dritte Form, wie Wissenssoziologen die Beziehung zwischen Sozialstruktur und Wissen zu erfassen suchen. Diese Version kann als Modell der sozialen Konstitution umschrieben werden, wie es sich teilweise wiederum in Mannheims Arbeiten zeigt. Mannheims Argument der »Seinsverbundenheit« meint nicht nur, dass der kulturelle Bereich vom Sozialen als nicht-kulturellem Bereich kausal bedingt wird, sondern dass der Wissensvorrat in sozialen Prozessen, das heißt Prozessen der sozialen Interaktion innerhalb von Gruppen, übermittelt wird. Ein Akteur erlernt seinen Denkstil nicht durch eine individuelle Konfrontation mit einer bestimmten Welt voller Objekte und Ereignisse, sondern indem er in einen spezifischen Denkstil sozialisiert wird, der innerhalb einer Gruppe, einer sozialen Klasse oder Generation als wahr oder normal gilt: Dementsprechend ist Wissen ein Produkt der »sozialen Konstitution« beziehungsweise der sozialen Konvention.10 Diese sozialen Prozesse, in denen die Handelnden ihre »Denkart« ausbilden, beschränken sich nicht auf eine Übernahme der Kategorien anderer, sondern umfassen im Sinne eines intellektuellen Wettstreits auch Abgrenzungen von den Denkstilen anderer. Jedenfalls modifiziert diese dritte wissenssoziologische Variante die Bedeutung dessen, was soziale Strukturen sein sollen, in beträchtlichem Maße. Soziale Strukturen werden hier nicht mehr als eine vorkulturelle, materielle Sphäre verstanden, sondern als spezifisch geregelte intersubjektive Prozesse, als Kommunikationsgeschehen, das eine kollektive Wissensproduktion ermöglicht. Soziale Strukturen sind somit nicht mehr vorkulturelle Regelmäßigkeiten, sondern Regeln des Wissenserwerbs. Alle drei Versionen, Kultur und Wissen in sozialen Strukturen zu fundieren, haben sich als problematisch erwiesen und langfristig zur Diskreditierung der klassischen Wissenssoziologie beigetragen: Die Auffassung, dass diese Relation als Kausalbeziehung zu interpretieren sei, wirft die Frage nach dem Mechanismus von Ursache und Wirkung auf. Die Wissenssoziologie begnügt sich schließlich nicht mit der Aussage, dass spezifische Wissensformen mit bestimmten sozialen Klassen 10 Vgl. Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1984, S. 68. 137

PRAKTIKEN

oder anderen Gruppen und ihren nicht-kulturellen Ressourcen »korreliert«; sie unterstellt darüber hinaus eine explanative Logik von den sozialen Strukturen zur Kultur. Eine solche explanative Logik bedarf eines Mechanismus, der begründet, warum A das B ursächlich »erzeugt«.11 Wenn die soziale Struktur einer Gruppe mit ihren Ressourcen identifiziert wird (was bereits eine präzise Definition der Sozialstruktur voraussetzt), ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, wie der Hiatus zwischen den beiden zunächst strikt voneinander separierten Sphären von Ressourcen und Wissen überbrückt werden kann, um zu erklären, warum eine bestimmte materielle Struktur eine bestimmte Interpretation der Welt »bewirkt« und andere Weltsichten ausschließt. Mannheim konzediert selber, dass der klassische Begriff des »Interesses«, der versucht, Interessen aus Ressourcenausstattungen und kulturelle Schemata aus diesen Interessen abzuleiten, hier keine befriedigende Lösung bietet:12 Bestimmte Ressourcen, spezifische Lebensbedingungen oder ein sozialer Status rufen kein »korrespondierendes« Interesse hervor. Vielmehr hängen die von einer Gruppe verfolgten Interessen davon ab, wie sie diese definiert. Diese Definition des Interesses wurzelt selber im kulturellen Bereich der Weltanschauungen und des Wissens. Im Rahmen bestimmter Lebensbedingungen und Ressourcenausstattungen sind damit potenziell ganz unterschiedliche Interessensdefinitionen und Weltanschauungen möglich, die von diesen nicht determiniert werden.13 Die Relationierung von sozialen Strukturen und Wissen im Sinne einer epistemologischen Widerspiegelung läuft auf ein analoges Problem hinaus: Wenn die Wissenssoziologie behauptet, dass die »Natur der Dinge«, die auch soziale Dinge/Fakten umfasst, sich in der Art und Weise abbildet, wie diese Dinge in den kollektiven Kategorien einer Gruppe interpretiert und erfahren werden, sieht sie sich mit der Frage konfrontiert, wie sie es mit der »underdetermination of theories by facts«14 hält. Wie ist es einer Gruppe möglich, die »realen« Strukturen

11 In Rekurs auf Max Weber stellt selbst Mannheim heraus, dass die soziologische Erklärung sowohl einer Kausaladäquanz als auch einer Sinnadäquanz zwischen A und B bedarf, vgl. ebd., S. 56-59. 12 Vgl. Karl Mannheim: »Das Problem einer Soziologie des Wissens«, in: Kurt H. Wolff (Hg.), Wissenssoziologie, Darmstadt, Neuwied 1970, S. 308-387, hier S. 375-387. 13 Sehr ähnliche Probleme hat auch Bourdieu, der in Die feinen Unterschiede versucht, die kulturellen Schemata des Habitus als ein Effekt einer bestimmten »Kapitalstruktur« darzustellen. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1989. 14 Vgl. Willard Van Orman Quines Kritik des Empirismus (W.V.O. Quine: Word and Object, Cambridge [Mass.] 1960, Kap. 2). 138

DER ORT DES MATERIELLEN IN DEN KULTURTHEORIEN

der natürlichen und sozialen Welt abzubilden, wenn die Bedeutungsproduktion, die den jeweiligen Erfahrungen und Wahrnehmungen Sinn zuschreibt, potenziell verschiedene, empirisch äquivalente Wege gehen kann, so dass es keinen Ort für die vorgeblich neutrale Konstatierung einer »Korrespondenzbeziehung« zwischen der sozialen und natürlichen Realität und ihrer Repräsentation gibt? Die dritte Version der Relationierung von sozialen Strukturen und Kultur im Sinne einer »sozialen Konstitution« teilt dieses Problem nicht. Die Wissenssoziologie lockert hier die strikte Trennung zwischen den beiden ontologischen Sphären und dematerialisiert die Sozialstrukturen. Dass das kulturelle Wissen sozial konstituiert ist, bedeutet hier nichts anderes, als dass die Gemeinsamkeit des Wissens aus den sozialen Konventionen und Interaktionen resultiert, die eine kollektive Vermittlung von Bedeutungsmustern ermöglicht. Auf diese Weise verzichtet die Wissenssoziologie auf ihren Anspruch, die Kultur in Rekurs auf den stabileren Grund sozialer Strukturen zu erklären. Stattdessen buchstabiert sie nun das aus, was bereits in ihrer grundlegenden kulturtheoretischen Position impliziert ist: Denkstile sind nicht individuell, sondern werden in sozialen Gruppen kollektiv geteilt; um geteilt werden zu können, müssen sie innerhalb der sozialen Gruppe angeeignet werden. Sobald die Wissenssoziologie damit eine einigermaßen stabile Beziehung zwischen Kultur und Sozialstruktur formuliert, kollabiert die Unterscheidung zwischen den beiden Sphären und sie muss ihr Anliegen, die »Seinsverbundenheit« der Kultur zu erklären, letztlich zurücknehmen. Anstelle einer materialistisch-kulturalistischen Doublette transformiert sich die Wissenssoziologie in dieser dritten Version in eine interaktionistische Kulturtheorie: Es gibt hier keine materiellen Strukturen als eigenständigen Bereich mehr. Das Soziale lässt sich nicht in der vorgeblich soliden Sphäre des Vorkulturellen verorten, sondern muss in der Vermittlung der Kollektivität der symbolischen Strukturen selbst lokalisiert werden.

Mentalistische, textualistische und inter-subjektivistische Kulturtheorien: D a s M a t e r i e l l e a l s e i n e W e l t vo n O b j e k t e n der Repräsentation Die klassische Wissenssoziologie ist konzeptuell aufschlussreich, weil sie sich an der Schnittstelle zwischen den ihr vorangehenden materialistischen Theorien und den ihr folgenden kulturalistischen Ansätzen steht. Der Cultural Turn in der Sozialtheorie, der in den späten 1960er Jahren einsetzt, beruft sich jedoch kaum auf die Wissenssoziologie, die sich 139

PRAKTIKEN

durch Basis-Überbau-Unterscheidungen selbst belastet hat. Die zeitgenössischen Kulturtheorien erscheinen vielmehr als Produkte von sozialphilosophischen Denkschulen des 20. Jahrhunderts, die von vornherein das Basis-Überbau-Schema hinter sich lassen: vor allem des Strukturalismus, der Semiotik und des Poststrukturalismus, der Phänomenologie und Hermeneutik, Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele sowie des symbolischen Interaktionismus. Jenseits der Differenzen in ihrer jeweiligen Bestimmung von Sozialität und Sinnhaftigkeit teilen die meisten dieser Kulturtheoretiker eine gemeinsame Position hinsichtlich der materiellen Welt: Ihr kommt nicht länger der Status einer strukturellen Ursache oder Bedingung der Kultur zu, stattdessen sind materielle Entitäten Objekte, die durch Klassifikationssysteme, Diskurse oder sprachbasierte Interaktionen eine symbolische Qualität und dadurch erst eine soziale Relevanz erhalten. Die materielle Welt existiert nur, insofern ihre Elemente innerhalb kollektiver Bedeutungsstrukturen zu einem Objekt der Interpretation werden. Es gibt keine materiellen Entitäten als solche, sondern nur Interaktionen und Diskurse, die bestimmte materielle Objekte auf eine bestimmte Weise definieren und von anderen (materiellen und nicht-materiellen) Objekten abgrenzen. Zeitgenössische Kulturtheorien schreiben der Ebene materieller Entitäten damit keine eigenständige Erklärungsrelevanz zu, sie betrachten vielmehr umgekehrt die Strukturiertheit menschlichen Handelns als ein Resultat kollektiver symbolischer Ordnungen. Diese symbolischen Ordnungen sind nun selbst der letzte »Grund« für eine soziale Welt und können nicht von einer noch grundlegenderen, materiellen oder sozialen Ebene abgeleitet werden. Aus der Sicht der neuen Kulturtheorien kann das Soziale nicht vom Kulturellen abgespalten werden, sondern ist als sinnhafte Sphäre im Wesentlichen das Kulturelle. Unterschiedliche Ausprägungen dieser Vorstellung finden sich in vier verschiedenen Strängen zeitgenössischer Kulturtheorien, die sich vor allem hinsichtlich der Bestimmung dessen unterscheiden, was für sie eine symbolische, sinnhafte Ordnung ausmacht: der objektive und der subjektive Mentalismus, der Textualismus und der Intersubjektivismus. Im ersten und zweiten Fall, den beiden konträren Formen eines kulturtheoretischen Mentalismus, wird die Sphäre der symbolischen Ordnung im menschlichen Geist, in mentalen Strukturen oder Prozessen verortet, die entweder als unbewusste Codes oder als Bewusstseinsakte interpretiert werden. Der Strukturalismus und die Phänomenologie sind seine paradigmatischen Repräsentanten. Im dritten Fall, dem Textualismus, werden symbolische Ordnungen als Diskurse, Zeichensysteme oder »Texte« aufgefasst, die sich außerhalb des menschlichen Geistes befinden. Verschiedene Versionen des Postrukturalismus und der Hermeneutik können die140

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ser Richtung zugeordnet werden. Der theoretische Intersubjektivismus schließlich, etwa in Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, interpretiert soziale Interaktionen und deren sprachliche Basis als den eigentlichen Ort symbolisch-sinnhafter Ordnungen. Trotz aller theoriebautechnischen Differenzen zwischen Mentalismus, Textualismus und Intersubjektivismus nehmen sie alle gegenüber der Materialität der Objektwelt eine analoge Position ein: Alle Ansätze enthalten Spuren des post-Kantianischen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt – »nur« dass das klassische Subjekt in den Kulturtheorien teilweise durch andere »Figuren« ersetzt wird, die in ihrer repräsentierenden Funktion theorielogisch den Ort des Subjekts einnehmen (z.B. der Diskurs oder das kommunikative Handeln). Der klassische Status der Objekte als das Repräsentierte, das erst in bestimmten menschlichen Schemata begriffen werden kann, schließt aber nahtlos an die Tradition des Subjekt-Objekt-Dualismus an. Bei Objekten handelt es sich um Gegenstände des Wissens, um Objekte der Repräsentation, die damit alle Materialität verlieren. Dies lässt sich in allen vier genannten kulturtheoretischen Optionen zeigen: Der Strukturalismus, der zuerst von de Saussure formuliert und von Lévi-Strauss auf die Sozialwissenschaften übertragen wurde, hat die Opposition zwischen Kultur und sozialen Strukturen zunächst eindeutig hinter sich gelassen. Hier befinden sich die symbolischen Ordnungen im kognitiven Unbewussten des menschlichen Geistes. Die Ebene des Sozialen ist mit der Ebene der kollektiven mentalen Eigenschaften identisch. Die »Klassifikationssysteme«, »Schemata« oder »Codes« determinieren, was überhaupt ein Gegenstand der Sprache und des Handelns werden kann. Im klassischen Strukturalismus sind im Unterschied zum Poststrukturalismus die Zeichensysteme, die hier als Systeme von Signifikat-Signifikant-Paaren verstanden werden, primär mentale Strukturen. Es ist demnach nur folgerichtig, dass Lévi-Strauss in seiner Beschäftigung mit materiellen Phänomenen entweder Klassifikationssysteme wie in La pensée sauvage (1962) oder mythische Narrative wie in Mythologies (1964) analysiert und so symbolische und kognitive Logiken der Differenzsysteme untersucht, in denen materielle Entitäten als solche repräsentiert werden. Das Totem – Lévi-Strauss’ klassisches Beispiel eines Objekts – wird dann als Resultat spezifischer Klassifikationssysteme rekonstruiert, in denen Unterscheidungen des kulturellen Bereichs und (kulturelle) Unterscheidungen aus dem Bereich der Natur aneinander gekoppelt werden. Natur/Kultur ist selber eine sinnhafte Differenz, die bei der Repräsentation von Objekten zum Einsatz kommt.15 15 Dennoch enthalten die Arbeiten von Lévi-Strauss einige Relikte der Basis/ Überbau-Unterscheidung, nun jedoch auf den Geist selber bezogen (vgl. 141

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Innerhalb des kulturalistischen Lagers bildet die Sozialphänomenologie einen Antipoden zum Strukturalismus. Die Sozialphänomenologie, die sich von Husserl herleitet und in Schütz’ Werk Gestalt annimmt, lehnt den strukturalistischen Versuch ab, die Bedeutungsstrukturen ausgehend von einer »objektiven Perspektive« zu rekonstruieren, die die Bewusstseinsakte außer Acht lässt. Im Gegensatz dazu situiert sie Sinn in der »subjektiven Perspektive«, in der Art und Weise, wie das Bewusstsein den Dingen Sinn zuschreibt. Bewusstseinsakte stehen den Objekten der Welt gegenüber in einem Verhältnis der Intentionalität: Sie sind auf sie gerichtet, und indem sie sich auf sie beziehen, versehen sie die Dinge mit Bedeutung. Diese Objekte, zu denen sich das Bewusstsein in Beziehung setzt, können menschliche Akteure, nicht-lebende Objekte oder abstrakte Entitäten sein. In allen Fällen sind es die Sinnsysteme der Typisierungen, die das Bewusstsein einsetzt, um die Objekte auf eine bestimmte Weise zu arrangieren und sie dem Subjekt als real erscheinen zu lassen. In Schütz’ Strukturen der Lebenswelt werden materielle Objekte damit weitestgehend als Produkte der Typisierungssysteme interpretiert, welche die Objekte unter anderem gemäß des Kantischen Raum- und Zeitschemas anordnen.16 Obwohl die Sozialphänomenologie und der Strukturalismus den menschlichen Geist und seine mentalen Kategorien damit auf konfligierende Art und Weise konzipieren, teilen sie damit dennoch ein mentalistisches Vokabular, das die mentalen Kategorien als die »innere« Ursache der sozialen Ordnung voraussetzt. Sowohl dem subjektivistischen Mentalismus der Sozialphänomenologie als auch dem objektivistischen Mentalismus des Strukturalismus ist ein Kantianisches Erbe inhärent, das auf Seiten des Strukturalismus von Lévi-Strauss17 angedeutet und in der Phänomenologie Husserls expliziert wird.18 In diesem Sinne basieren sowohl Strukturalismus als auch Phänomenologie auf der asymmetrischen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt: Ohne Rücksicht auf die reale Welt der Dinge an sich »konstituieren« die mentalen Akte und Strukturen ihre Objektwelt mit Hilfe bestimmter Schemata. Während der Strukturalismus und die Sozialphänomenologie der Kantischen Tradition, der Unterscheidung zwischen einem erkennenden Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973, S. 284, S. 303f.). Hier tendiert Lévi-Strauss dazu, das kulturelle Unbewusste des Geistes mit der neuronalen Struktur des Gehirns zu identifizieren. 16 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Darmstadt, Neuwied 1975, S. 62-87, S. 224-290. 17 Vgl. Claude Lévi-Strauss: »Réponses à quelques questions«, in: Esprit 31 (1963), S. 628-653. 18 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1992, S. 93-113. 142

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Subjekt und einem Objekt, das von dem Subjekt erkannt wird, in unterschiedlicher Weise folgen, scheinen der kulturtheoretische »Textualismus« und der »Intersubjektivismus« auf den ersten Blick dem Kantianischen Subjektbegriff zu widersprechen. Der Textualismus kritisiert jeden Versuch, die symbolischen Ordnungen in den mentalen Strukturen zu lokalisieren, und verortet sie stattdessen auf der Ebene der Diskurse, der außer-mentalen Symbole oder Texte. Michel Foucaults Archäologie des Wissens, Clifford Geertz’ Ansatz, die »Kultur als Text« zu lesen und Niklas Luhmanns Theorie der sozialen Systeme als ihre Umwelt beobachtende Systeme lassen sich als verschiedene Varianten dieses Textualismus begreifen. Trotz ihrer immanenten Differenzen ist allen diesen Ansätzen gemeinsam, dass sie die symbolischen Ordnungen nicht im menschlichen Geist, sondern auf der Ebene der außer-mentalen Zeichen verorten – seien sie sprachlich oder nicht-sprachlich. Die konzeptuelle Verschiebung von mentalen Kategorien zu textuellen oder diskursiven Codes führt jedoch nicht zu einer grundlegenden Revision des theoretischen Status von materiellen Entitäten. Zwar wird die Rolle des – strukturalistischen oder phänomenologischen – Subjekts durch Diskurse, Symbole oder im Falle von Luhmann durch Kommunikationen ersetzt, aber das materielle Objekt erscheint weiterhin als Produkt der symbolischen Ordnungen, als Objekt des Wissens und der Repräsentation. So werden die Gegenstände der wissenschaftlichen Disziplinen in Foucaults Les mots et les choses (1966) als kontingente Resultate historischer Wissenscodes verstanden. In Geertz’ anthropologischer »dichter Beschreibung« erhalten materielle Entitäten und Ereignisse wie Hahnenkämpfe und Beerdigungen dadurch kulturelle Relevanz, dass sie mehr oder weniger abstrakte Phänomene symbolisieren: soziale Konflikte, religiöse Werte oder soziale Beziehungen.19 In Luhmanns Analyse der binären Codes und der Semantiken, die in sozialen Systemen verwendet werden, sind materielle Objekte wiederum sinnhafte Produkte systemspezifischer Unterscheidungen: Nicht-kommunikative und nicht-mentale Entitäten bilden organische (oder anorganische) Systeme in der »Umwelt« des Sozialen und des Psychischen, welche von sozialen (und psychischen) Systemen in spezifischer Weise »beobachtet« werden.20 Im Unterschied zu den verschiedenen Versionen des Textualismus, welche die soziale Ordnung auf Zeichensysteme zurückführen, wird sie vom Intersubjektivismus als Resultat symbolischer Interaktionen zwischen Akteuren gedeutet. Der symbolische Intersubjektivismus findet 19 Vgl. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, London 1993. 20 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1991. 143

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sich in seiner am komplexesten ausgearbeiteten Form in Jürgen Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns. In dieser Perspektive können die symbolischen Ordnungen als Strukturen geteilter Propositionen und pragmatischer Regeln des Sprachgebrauchs verstanden werden, die den Interaktionen zwischen Akteuren als Hintergrund dienen. Karl Poppers Unterscheidung dreier »Welten« beziehungsweise ontologischer Bereiche aufgreifend, ordnet Habermas das Materielle der »Welt eins« zu, die von der »Welt zwei«, welche die mentalen Akte der Subjekte enthält, und der »Welt drei«, die sozial geteilte semantische Propositionen umfasst, strikt getrennt ist. In den intersubjektiv geteilten Semantiken produzieren die Akteure Beschreibungen und Erklärungen »über« die Welt eins der materiellen Entitäten. Deren Stellenwert ist damit primär der einer Sphäre, über die kommuniziert wird, sie ist ein Gegenstand der Kommunikation zwischen Akteuren.21 Sowohl der Textualismus als auch der Intersubjektivismus distanzieren sich von den mentalistischen Ansätzen und ihrer neokantianischen Lokalisierung des Symbolischen und somit auch des Sozialen im menschlichen Geist. Theoriebautechnisch wird der vakante Platz des Geistes nun vom Komplex Diskurse/Text/Symbolsysteme oder von den symbolischen Interaktionen eingenommen. Die Form der SubjektObjekt-Unterscheidung ist jedoch durch diese Ablösung des klassischen Subjekts durch den Diskurs oder die Intersubjektivität nicht in Frage gestellt: Analog der klassischen Kantianischen Differenz wird die materielle Welt als eine Ebene von »Phänomenen« verstanden, als etwas, was Gegenstand der Repräsentation ist, eine Repräsentation, die nun durch symbolische Schemata, Codes oder semantische Propositionen reguliert wird. In den vier genannten Zweigen der Kulturtheorien, im strukturalistischen und phänomenologischen Mentalismus, im Textualismus und im Intersubjektivismus, erscheint die materielle Welt als eine Sphäre von Gegenständen, die erkannt und beobachtet, über die gesprochen oder die interpretiert werden können und die darin jedes Mal durch kulturelle Codes strukturiert werden. Die Vorteile und das Verdienst dieser »(sozial)konstruktivistischen« Ansätze sind allgemein anerkannt: Im Unterschied zu der klassischen Wissenssoziologie und dem alten Materialismus verwerfen sie die Vorstellung einer vordiskursiven, vorkulturellen Sphäre und ihrer das Soziale fundierenden Funktion. Stattdessen demonstrieren die Kulturtheorien, dass nicht nur die sozialen und kulturellen, sondern auch die sogenannten materiellen Entitäten ihre Bedeutung nur durch kontingente Diffe21 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, Bd. 1, S. 114-151. 144

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renzensysteme oder interpretative Schemata erhalten. Es stellt sich dennoch die Frage, welche ontologischen und heuristischen Kosten diese Kulturtheorien mit sich bringen. Ihr größtes Problem besteht in der Fortsetzung der klassisch idealistischen Auffassung des Materiellen als Gegenstand des Wissens, als Objekt der Repräsentation. Die Annahme, dass die materiellen Dinge nur durch die Brille kontingenter Sinnsysteme und interpretativer Schemata vorliegen, wird hier mit der scheinbar selbstverständlichen Vorstellung verknüpft, dass diese materiellen Dinge in erster Linie als zu beobachtende und zu interpretierende Objekte gelten müssen. Der Preis, den dieser Subjekt-Objekt-Dualismus zu zahlen hat, sind drei miteinander verknüpfte Simplifizierungen: erstens, dass Handeln auf intersubjektive Interaktionen und die Reproduktion symbolischen Ordnungen reduziert wird; zweitens, dass die soziale Ordnung mit einer überindividuellen symbolischen Ordnung (Sprachen, Diskurse etc.) identifiziert wird, und drittens, dass sozialer Wandel mit einer Transformation kultureller Codes gleichgesetzt wird. Die Frage ist, ob eine alternative Terminologie entwickelt werden kann, die die Vorzüge der Kulturtheorien beibehält, aber dennoch dazu in der Lage ist, Materialität in einer weniger intellektualistischen Weise zu denken: den handelnden Umgang mit Artefakten nicht als Residualkategorie im Vergleich zu intersubjektiven Handlungen anzusehen; die soziale Ordnung auch als ein Produkt sozial stabilisierter Artefakte (und sozial stabilisierter Körper) zu verstehen; und schließlich den sozialen Wandel in Zusammenhang mit der Transformation von Artefakten zu bringen, ohne dabei in eine im engeren Sinne materialistische, etwa technizistische, Theorie abzugleiten. Im Feld der bisher genannten Kulturtheorien hat es zweifellos bereits deutliche Tendenzen gegeben, über die Reduktion von materiellen Entitäten auf symbolische Wissensobjekte hinaus zu gehen und die konstitutive Rolle der Artefakte für Handeln und Sozialwelt in den Blick zu nehmen. Indem sie auf das im alltäglichen Umgang mit Dingen benötigte Rezeptwissen hinweisen, geben Schütz und Luckmann in Strukturen der Lebenswelt der Sozialphänomenologie eine »pragmatistische« Wendung, in der der Umgang mit der Objektwelt ansatzweise eine größere Relevanz für eine Analyse der Lebenswelt des Alltags erhält.22 Foucault bewegt sich in eine andere Richtung, wenn er in seinen genealogischen Arbeiten beginnt, subjektkonstitutive institutionelle Praktiken zu untersuchen, die nicht nur diskursiv funktionieren, sondern in Form von »Dispositiven« auch auf neuartige Artefakte zurückgreifen, wie etwa die

22 Vgl. A. Schütz/T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 139ff. 145

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Gefängnisarchitektur oder biotechnologische Entwicklungen.23 Die eigentliche Rehabilitierung der Materialität setzt jedoch mit Bruno Latour ein.

S ym m e t r i s c h e An t h r o p o l o g i e u n d P r a x i s t h e o r i e : D a s M a t e r i e l l e a l s Ar r a n g e m e n t vo n Ar t e f a k t e n Für die Kulturtheorien gibt es eine Alternative zum Kulturalismus und dessen Interpretation von Materialität als Gegenstände der Repräsentation, ohne die materialistisch-idealistische Doublette der Wissenssoziologie wiederbeleben zu müssen. Das ist Bruno Latours zentrale Annahme. Latours Arbeiten können als Plädoyer für eine solche »dritte« Alternative zwischen Idealismus und Materialismus verstanden werden.24 Latour ist nicht der einzige Autor, der die soziale Bedeutung der Objekte und Artefakte zu rekonzeptualisieren versucht. Friedrich Kittlers und Mark Posters Ansätze einer Geschichte der symbolischen Ordnungen als Geschichte technischer Kommunikationsmedien, Andrew Pickerings Version der science studies oder Donna Haraways Theoretisierung des »Cyborgs« schlagen bei aller Unterschiedlichkeit im Detail die Richtung einer Materialisierung der Kulturtheorie ein. In reichhaltiger Weise ist dies bereits in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Mille Plateaux (1980) und ihrem Modell der Kultur, Natur und Technologie gleichermaßen umfassenden Territorialisierungs- und Deterritorialisierungsbewegungen versucht worden.25 Bruno Latours Argumentation ist in erster Linie von der Wissenschaftsforschung inspiriert, die in den 1970er Jahren im Gefolge von Thomas Kuhns interpretativer Analyse der Normalwissenschaften, der französischen Wissenschaftshistoriografie und der soziologischen Ethnomethodologie entstand. Diese science studies, vor allem im Kontext der Edinburgh School um Barnes und Bloor, liefern zunächst ein paradigmatisches Beispiel für den Cultural Turn in den Sozialwissenschaften, indem sie ihn auf die Praxis wissenschaftlicher Forschung selbst 23 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976. 24 Vgl. insbesondere Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995. 25 Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995; Mark Poster: The Second Media Age, Cambridge 1995; Andrew Pickering: The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science, Chicago 1995; Donna J. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York, London 1991; Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992. 146

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anwenden. Für Latour verliert diese kulturalistische Perspektive auf die soziale »Gemachtheit« des Wissens nicht an Wert, aber sie ist nicht das letzte Wort. Der Radikalismus der kulturalistischen Perspektive relativiert sich, sobald deutlich wird, dass sie letztlich eine weitere Version der problematischen »modernistischen Verfassung« liefert, das heißt jenes modernistischen Denkens, das eine Purifizierung sowohl der Kultur von der Natur (die sowohl die organische als auch die physikalische Welt enthält) als auch der Natur von der Kultur betreibt. Diese semantische und praktische Purifizierung ermöglicht und widerspricht zugleich der Tatsache, dass in der Moderne eine Expansion von Hybriden zu beobachten ist, von »Quasi-Objekten« (Serres), die weder bloß Natur oder Technik noch kulturelle Projektionen sind, die vielmehr integrale Bestandteile sozialer »Netzwerke« und ihrer »Praktiken« darstellen. Der Status dieser Quasi-Objekte – vom Ozonloch bis zum HI-Virus, von Computern zu den Genen – wurde Latour zufolge von dem dominierenden theoretischen Dualismus zwischen Natur/Technik und Kultur/Gesellschaft mit seinen auf den ersten Blick entgegengesetzten, tatsächlich aber vergleichbaren Strategien der Naturalisierung, Sozialisierung und Diskursivierung systematisch missverstanden. Latours »symmetrischer Anthropologie« geht es darum, eine neue (nicht-modernistische) Terminologie herauszuarbeiten, um die Kopplung zwischen dem Kulturellen und dem Materiellen jenseits einer Konstitution der einen durch die andere Sphäre beschreiben zu können. Daher insistiert Latour darauf, dass die materielle Welt weder als grundlegende Struktur, die das Fundament aller Kultur und allen Wissens bildet, noch als Geflecht symbolischer Objekte auf dem Bildschirm der jeweiligen Kultur interpretiert werden kann. Das Materielle muss demgegenüber als Ansammlung von »Artefakten« oder hybriden Dingen verstanden werden, die analog zu den menschlichen Akteuren an den sozialen Praktiken notwendigerweise partizipieren. Zweifellos werden diese Dinge von den menschlichen Akteuren in bestimmter Weise interpretiert und sinnhaft besetzt, aber zur gleichen Zeit werden sie angewandt, genutzt und müssen in ihrer Materialität gehandhabt werden. Stärker noch: Sie enthalten eine Eigendynamik und präformieren, welche sozialen Praktiken und Netzwerke in ihnen und mit ihnen möglich sind. Als Dinge sind sie nicht willkürlich austauschbar. Latour bemüht sich, die verschiedenen intellektuellen Strategien aufzuzeigen, die das moderne Denken entwickelt hat, um zwei verschiedene »Kammern« zu errichten: eine für die soziale und kulturelle Welt, das heißt für die menschlichen Subjekte, und die andere für die materielle Welt, das heißt für die nicht-menschlichen Objekte. Nach Latour haben hier vor allem drei Strategien die westliche Philosophie und die So147

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zialwissenschaften dominiert:26 Die erste läuft auf einen expliziten Dualismus zwischen Natur und Kultur, zwischen Subjekten und Objekten als zwei unabhängig voneinander existierende Bereiche hinaus, die zueinander in einem Verhältnis der Inkommensurabilität stehen. Aus diesem Blickwinkel sind die Dinge und Objekte Elemente der Natur, die sich von den sozialen Beziehungen vollkommen absondern. Das zweite Muster, das nach Latour insbesondere in den Sozialwissenschaften weit verbreitet ist, läuft auf eine Relation gegenseitiger Konstitution von Kultur/Gesellschaft und Natur hinaus: Einige Elemente der Natur, die als »harte« und »unüberwindbare« Strukturen gelten, werden als die kausale Fundierung der Kultur interpretiert; gleichzeitig zeigen andere Aspekte der materiellen Welt »nur« in Form kultureller Interpretationen soziale Wirkung. Die dritte Strategie betreibt eine resolute Diskursivierung der materiellen Welt. Sie kann entweder in einen radikalen kulturellen Relativismus münden, demzufolge jede Kultur ihr eigenes Bild der Natur erschafft, oder in einen partikularistischen Universalismus, der annimmt, dass unter verschiedenen Deutungen der Natur einige (normalerweise die westlichen) sich als adäquater herausstellen als andere. Auf jeden Fall stellen aus dieser Perspektive die materiellen Entitäten keine Dinge dar, die man handhaben muss und die eigendynamisch wirken, sondern Objekte, die zu interpretieren sind. Gegenüber diesen konzeptuellen Purifizierungen führt Latour ein alternatives Vokabular ein, das in seinen Arbeiten jedoch nur skizzenhaft entwickelt wird. Die zentralen Konzepte dieses alternativen Blicks heißen »Netzwerk« und »Praktiken«, »Natur/Kultur«, »Quasi-Objekte« und »Hybride«.27 Weder die materielle Welt noch die soziale Welt der Bedeutungen oder Machtbeziehungen, als isolierte Sphären verstanden, taugen als theoretischer Ausgangspunkt. Anstatt der Ethnologie oder der kulturalistischen Soziologie in ihrer Unterscheidung und Interpretation unterschiedlicher »Kulturen« zu folgen, sollte man für Latour zwischen verschiedenen »Natur/Kulturen« unterscheiden: Die sozialen Netzwerke und Praktiken bestehen in ihrer historischen Variabilität nicht nur aus Menschen und ihren intersubjektiven Beziehungen, sondern ebenso aus nicht-menschlichen »Aktanten«, die notwendige und gewissermaßen gleichwertige Komponenten eines Ensembles sozialer Praktiken darstellen. Angesichts der Explosion technischer Artefakte in den gegenwärtigen Gesellschaften wird es immer schwieriger, der modernistischen Verfassung zu folgen und den konstitutiven Status der Dinge in sozialen Praktiken auszuklammern. Dasselbe gilt jedoch schon für die sogenann-

26 Vgl. B. Latour: Wir sind nie modern gewesen, Kap. 2. 27 Ebd., Kap. 3 und 4. 148

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ten vormodernen Gesellschaften, die nur quantitativ weniger sozial relevante Dinge besaßen. Dinge haben in diesem Sinne den Status von Hybriden: Sie gehören einerseits nicht bloß zur physischen Welt, da sie in Praktiken sozial und kulturell interpretiert und gehandhabt werden. Andererseits sind diese Quasi-Objekte mehr als der Inhalt kultureller Repräsentationen, da sie in ihrer eigensinnigen Materialität genutzt werden und in dieser Materialität Wirkung zeigen. Ohne die spezifische Materialität einer Luftpumpe wären die experimentellen Praktiken, um die es Boyle28 geht, nicht möglich – die Luftpumpe kann nicht kurzerhand durch ein anderes willkürliches Objekt ausgetauscht werden, dem dieselbe Bedeutung zugeschrieben wird. Nach Latour führt die Rehabilitation der materiellen Welt in Form der Integration von Artefakten in soziale Praktiken zu einem neuen Begriff der Kollektivität und zu einer Auflösung der notorischen Mikro/Makro-Unterscheidung in der modernen Sozialtheorie. Die Sozialtheorie hat ein »Kollektiv« klassischerweise als eine Ansammlung zwischenmenschlicher Beziehungen definiert, als eine Konstellation der Intersubjektivität. Als paradigmatische Situation der Sozialität gilt demnach die Face-to-face-Interaktion zwischen zwei oder mehreren Akteuren. Die traditionelle Kritik machte diesem soziologischen Interaktionismus den Vorwurf, dass er die sozial-kulturellen Strukturen ignoriere, die hinter den partikularen Kontexten der Interaktionen existierten. Aber was kann man sich unter diesen sozialen Entitäten vorstellen, die verschiedene Kontexte kreuzen und eine transkontextuelle Sozialordnung formieren? Latour zufolge kann der alleinige Rekurs auf Symbole oder Bedeutungsstrukturen keine befriedigende Antwort auf diese Frage liefern. Wenn man eine menschliche Gesellschaft mit einer Gesellschaft von Menschenaffen vergleicht, zeigt sich, dass die Besonderheit ersterer darauf beruht, dass sie über eine bloße Agglomeration von sozialen Interaktionen unter der Bedingung der Kopräsenz hinausgeht. Die Stabilität der menschlichen Sozialordnung jenseits spezifischer Handlungskontexte kann nun jedoch nur dann angemessen verstanden werden, wenn man Praktiken nicht auf intersubjektive Beziehungen beschränkt, sondern sie als Konstellationen der »Interobjektivität« zwischen Menschen und Dingen begreift: »Indem wir die Interaktion verschieben und uns mit dem Nicht-Menschlichen verbinden, können wir über die aktuelle Zeit hinaus in einer anderen Materie als unserem eigenen Körper überdauern und auf Distanz interagieren. […] Die alte Differenz der Ebenen resultiert einzig aus dem Vergessen um die materiel-

28 Ebd., S. 25ff. 149

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len Verbindungen, die es einem Ort ermöglichen, sich mit anderen zu verknüpfen, und aus dem Glauben, dass Interaktionen nur face-to-face ablaufen.«29

Latour zufolge verliert somit auch die Unterscheidung zwischen MikroInteraktionen und Makro-Strukturen an Bedeutung: Es gibt nichts jenseits der »flachen« Ebene sozialer Praktiken. In diesen Praktiken werden materielle Dinge von verschiedenen Akteuren in verschiedenen Situationen routinemäßig aufgegriffen und verwendet. Die Objekte, mit denen die Akteure wiederholt hantieren, überdauern die spezifischen Kontexte und ermöglichen so soziale Reproduktion jenseits von zeitlichen und räumlichen Begrenzungen. Bruno Latour entfaltet seine neue Sichtweise auf materielle Objekte nicht in Form einer elaborierten Sozialtheorie und sein Ansatz enthält eine Reihe von theoretischen Ambivalenzen, unter denen die Behauptung, das Objekt sei ein »Aktant« und darin mit dem menschlichen Akteur prinzipiell auf eine Stufe zu stellen, wohl die problematischste und am meisten diskutierte ist.30 Anstatt eine »Latour’sche« Sozialtheorie zu formulieren – ein Projekt, dem man mit einiger Skepsis begegnen kann, da sein Vokabular auf das Natur/Kultur-Problem fixiert ist und andere zentrale sozialtheoretische Fragen (Körper/Geist, Verstehen, soziale Institutionen etc.) kaum berührt – scheint es fruchtbarer, Latours Ideen zu instrumentalisieren und ihn in den breiten Strom jüngerer Kulturtheorien einzuordnen, die als »Theorien sozialer Praktiken« umschrieben werden können. An dieser Stelle ergibt sich eine interessante Konstellation: Systematische Konzeptionen einer Praxistheorie, wie sie sich in unterschiedlicher Gestalt in bestimmten Arbeiten von Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Laurent Thévenot, in der Ethnomethodologie (Garfinkel) oder in den Arbeiten von Judith Butler sowie in einer sozialphilosophischen Version in Theodor Schatzkis Social Practices finden, haben die analytische Verschiebung der Kulturtheorien von »Subjekten« und »Texten« zu »sozialen Praktiken« auf komplexere Weise als Latour

29 Vgl. Bruno Latour: »Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität«, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), S. 237252, hier S. 249f. 30 In Bezug auf die Kritiken vgl. Harry M. Collins/Steven Yearly: »Epistemological chicken«, in: Andrew Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992, S. 301-326; Yves Gingras: »Un air de radicalisme. Sur quelques tendances rècentes en sociologie de la science et de la technologie«, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 108 (1995), S. 3-17; David Bloor: »Anti-Latour«, in: Studies in History and Philosophy of Science 30 (1999), S. 81-112. 150

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vollzogen, aber sie haben nur in geringem Maße den Status materieller Dinge neubeschrieben.31 Die Grundidee der Praxistheorie ist jedoch nicht nur mit Latours Ansatz kompatibel, sondern verlangt danach, dass sie hinsichtlich des Status von Materialität überdacht wird. Umgekehrt wird auch Latours skizzenhafter Entwurf einer Rekonzeptualisierung des Verhältnisses zwischen Kultur und Materialität verständlicher (und kann in einer anthropozentrischeren Weise, als es Latour selbst recht wäre, neu gelesen werden), sobald er sich in den weiteren theoretischen Rahmen einer Theorie sozialer Praktiken einbetten lässt. Latours zentrale Konzepte »Netzwerke« und »Praktiken«, die menschliche und nicht-menschliche Wesen und ihre Beziehungen umfassen, können in einem praxeologischen Vokabular reformuliert werden. In die Praxeologie ist der Gedanke zu implantieren, dass Dinge oder Artefakte nicht auf Objekte der Repräsentation zu reduzieren sind, sondern notwendige Komponenten sozialer Praktiken darstellen. Ihre soziale Relevanz besteht nicht allein darin, dass sie in spezifischer Weise interpretiert, sondern dass sie »gehandhabt« werden und damit die Gestalt einer jeweiligen sozialen Praktik erst möglich machen. Neben dem Textualismus, der radikalen Hermeneutik, dem Konstruktivismus sozialer Systeme sowie dem Intersubjektivismus stellen innerhalb der zeitgenössischen Kulturtheorien die Praxistheorien einen alternativen Versuch dar, das mentalistische Denken zu überwinden, welches Kollektivität und Kultur primär im menschlichen Geist verortet. Während sich der Textualismus und der Intersubjektivismus hinsichtlich des impliziten Subjekt-Objekt-Dualismus als geheimer Verbündeter des Mentalismus herausstellten, gilt das nicht für die Praxistheorie. Aber was ist eine Praxistheorie? In Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social (1996) entwickelt Theodore Schatzki detailliert den systematischen Umriss einer solchen. Dieser Ansatz basiert zu einem Großteil auf Wittgensteins Theorie der Sprachspiele, daneben auf Heideggers Analyse des »Daseins«. Ein zentrales Problem der Sozialtheorie bestand Schatzki zufolge darin, dass sie das Subjekt und den (kollektiven) menschlichen Geist 31 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979; Anthony Giddens: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984; Laurent Thévenot: Sociologie pragmatique. Les régimes d’engagement, Paris 2002; Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996. 151

PRAKTIKEN

zum Ausgangspunkt ihrer sozialen Analyse machte. Für Schatzki ist, Wittgenstein folgend, der eigentliche Ort des Sozialen jedoch nicht der kollektive Geist, sondern es sind die sozialen Praktiken. Eine soziale Praktik ist nach diesem Verständnis ein Ensemble miteinander verknüpfter, regelmäßiger Aktivitäten der Körpers, die durch implizite und geteilte Formen des Verstehens und Wissens zusammengehalten werden. Eine soziale Praktik des »x-ens« (»x–ing«) (z.B. des Kochens, Sich Entschuldigens, Forschens, Arbeitens, Argumentierens etc.) stellt sich damit als »a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings«32 dar, die von einem sozial typischen Verstehen des x-ens organisiert wird, das neben normativen Regeln und teleoaffektiven Strukturen vor allem praktisches Wissen enthält. Schatzki kritisiert Versuche, soziale Praktiken auf diskursive Praktiken zu reduzieren, wie er es meint, bei Lyotard zu finden. Praktiken sind nicht nur Formen des Sagens, die von der Sozialtheorie in ihrem intellektualistischen Bias privilegiert worden sind, sondern auch Formen des Tuns. Tun und Sagen können nicht als mentale Kompetenzen oder als Zeichensequenzen gefasst werden, sondern erscheinen (beide) zuallererst als bestimmte körperliche Tätigkeiten. Um eine konventionalisierte und darin sozial intelligible Praktik zu bilden, müssen die körperlichen Tätigkeiten dabei durch ein spezifisches Wissen »organisiert« werden. Dieses Wissen wird zwangsläufig in den körperlichen Aktivitäten ausgedrückt: »Mind […] is the expressed of the body.«33 Das Mentale lässt sich aus der sozialwissenschaftlichen Analyse nicht ausschließen, aber ist zu demystifizieren: Regelmäßige, sich wiederholende körperliche Aktivitäten werden von typischen mental verankerten Formen des Verstehens und Wissens begleitet – ansonsten könnten die Körper nicht routinisiert handeln –, aber Verstehen und Wissen »existieren« nur, insofern als sie sich im körperlichen Verhalten manifestieren. Wenn Sozialwissenschaftler von sozialen Gebilden wie Gruppen, Institutionen oder Gesellschaften sprechen, werden sie letztlich auf nichts anderes stoßen denn auf Verknüpfungen und Sequenzen sozialer Praktiken. Die symbolischen Ordnungen, die von den Kulturtheoretikern hervorgehoben werden, lassen sich somit – sofern sie sozial relevant sind – als ein praktisches Verstehen herunterbrechen, das die Praktiken organisiert. Schatzkis Praxistheorie betreibt damit in einer Hinsicht bereits eine dezidierte Materialisierung der Kultur: durch die Verankerung von Praktiken und Wissen in den Körpern. Überraschenderweise werden jedoch die Dinge, Objekte und Artefakte dabei nicht systematisch berücksich32 Vgl. T. Schatzki: Social Practices, S. 89. 33 Ebd., S. 53. 152

DER ORT DES MATERIELLEN IN DEN KULTURTHEORIEN

tigt. In lediglich einem Abschnitt erwähnt Schatzki, dass Orte in Dingen verankert sind, die sich in bestimmten Arrangements angeordnet haben.34 Dinge erscheinen somit wiederum primär als symbolische Markierungen, die einen bestimmten Rahmen für spezifische Praktiken – hier für die Identifizierung eines Ortes – herstellen. In Übereinstimmung mit dem Kulturalismus, der die praktische Relevanz von Dingen generell marginalisiert, bleibt damit das volle konzeptuelle Potenzial der Praxistheorie unausgeschöpft.35 Wenn Schatzki aber betont, dass Praktiken einen nexus of doings and sayings bilden und nicht mit den Konstellationen der Intersubjektivität identifiziert werden können, müssen diese doings notwendigerweise Tätigkeiten mit Dingen einschließen. Möglicherweise sind nicht alle Praktiken Tätigkeiten mit Dingen, aber die meisten sind es. An dieser Stelle lässt sich – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – Latours Position in Schatzkis Ansatz integrieren: Nicht nur Menschen partizipieren an Praktiken, auch nicht-menschliche Artefakte sind ihre notwendigen Komponenten. Nicht nur Akteure als praktisch wissende Körper sind »Träger« von sozialen Praktiken, in anderer Weise gilt dies auch für Artefakte. Die Dinge, die in einer sozialen Praktik gehandhabt werden, sind notwendiger Bestandteile dieser Praktik, damit sie praktiziert werden kann. Sowohl der menschliche Körper (einschließlich seines Geistes) als auch die Artefakte sind für die Existenz einer Praktik erforderlich. Bestimmte Dinge dienen sozusagen als Ressource, die die Praktik in ihrer Spezifizität ermöglicht und beschränkt.36 Dennoch können Artefakte wie etwa technische Geräte Handeln nicht in strikt kausaler Weise determinieren. Damit die Artefakte Wirkungen zeigen, müssen sie benutzt werden und damit sie benutzt werden können, ist eine Kenntnis kultureller Codes notwendig; die Artefakte müssen zu einem integralen Teil sozialer Praktiken und ihrer Intelligibilität werden. Aus Sicht der Praxistheorie ist somit die Beziehung zwi-

34 Vgl. ebd., S. 189. 35 Später hat Schatzki ein Interesse an Artefakten entwickelt, vgl. Theodore R. Schatzki: »Introduction: Practice theory«, in: ders./Karin Knorr Cetina/ Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001, S. 1-14. (Schatzkis Buch The Site of the Social, das 2002 kurz nach der englischen Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes erschienen ist, thematisiert unter Rückgriff auf Deleuze ausführlich die Relevanz von artefaktförmiger Materialität für die Praxistheorie.) 36 An dieser Stelle lässt sich eine Verbindung zu Anthony Giddens’ Strukturationstheorie herstellen. In Giddens konzeptuellem Rahmen erscheint das Materielle im Wesentlichen als »Ressource«. Diese Ressourcen werden allerdings in erster Linie als Handlungsmittel verstanden und weniger als Dinge/Artefakte, die von dem Akteur gehandhabt werden (vgl. A. Giddens: The Constitution of Society, S. 58-62). 153

PRAKTIKEN

schen menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Dingen, die sich über ein Netzwerk von Praktiken herstellt, ein Verhältnis des praktischen Verstehens. Gleichzeitig erlauben die Artefakte in solch einer Beziehung keinen willkürlichen praktischen Gebrauch. Wenn Schatzki und die Praxistheorie betonen, dass Praktiken durch ein bestimmtes Verstehen und Wissen organisiert werden, vornehmlich aber nicht ausschließlich durch praktisches know-how, und wenn Praktiken nicht nur routinisierte sayings sind (die im Übrigen regelmäßig ihre eigenen Artefakte erfordern: über die körperlichen Sprechwerkzeuge hinaus die Schrift, den Buchdruck, das Telefon etc.), sondern auch routinisierte doings, setzt die Beziehung zwischen menschlichen Akteuren und den zu handhabenden Dingen ein praktisches Verstehen voraus. Wenn menschliche Akteure in Bezug auf bestimmte Dinge ein bestimmtes know-how ausgebildet haben, »materialisieren« diese Dinge das Wissen in den Praktiken – diese Einschränkung ist deshalb wichtig, weil die Dinge »als solche« jenseits von bestimmten Praktikenkomplexen nichts inkorporieren (zumindest aus Sicht einer post-Wittgensteinianischen Theorie). Dinge sind materialisiertes Verstehen und nur als solches können sie als Ressourcen für Praktiken fungieren. Die von Schatzki ausgearbeitete Praxistheorie unterstreicht die körperliche Verankerung aller Praktiken menschlicher Akteure. Der Körper ist Sitz des praktischen Sinns. Um das anti-praxeologische Schisma zwischen dem Kulturellen und dem Materiellen zu vermeiden, lässt sich jedoch argumentieren, dass in Praktiken nicht nur der Körper, sondern auch die Artefakte in anderer Weise Orte des Verstehens sind. Nicht nur wenn der Köper/Geist, der ein bestimmtes Verstehen inkorporiert hat und verkörpert, verschwindet, wird es für soziale Praktiken unmöglich, sich zu reproduzieren. Auch wenn die Dinge, die ein bestimmtes materielles Verstehen in sich enthalten, verschwinden würden oder nie in Erscheinung getreten wären, wäre man mit dem gleichen Ergebnis konfrontiert: der Unmöglichkeit, bestimmte soziale Praktiken aufrechtzuerhalten. Die Praxistheorie, verstanden im Sinne von Schatzki, und Latours Theorie der Artefakte lassen sich miteinander kombinieren. Soziale Ordnungen erscheinen nicht als Produkt der symbolischen Ordnungen im Geist, den Diskursen oder den Interaktionen. Symbolische Ordnungen existieren vielmehr im praktischen, impliziten Verstehen, das, wie Schatzki hervorhebt, in den tätigen Körpern und – in Rekurs auf Latour – zugleich in den Artefakten materialisiert ist. Die Materialität der Artefakte beeinflusst (aber determiniert nicht), welches praktische Verstehen und folglich welche sozialen Praktiken möglich sind. In Form von Dingen, die im Kontext sozialer Praktiken gehandhabt werden, ist die materielle Welt mehr als ein Geflecht von Symbolen, aber weniger als die 154

DER ORT DES MATERIELLEN IN DEN KULTURTHEORIEN

»Basis« eines kulturellen »Überbaus«. Die soziale Ordnung und Reproduktion kann nur dann adäquat verstanden werden, wenn man ihre doppelte Materialität berücksichtigt: ein Verstehen, das sowohl in den menschlichen Körpern inkorporiert als auch in den Artefakten materialisiert ist. Wenn die Praxistheorien Handeln, soziale Ordnung und sozialen Wandel grundsätzlich neubeschreiben, ergibt sich durch ein modifiziertes Verständnis von Artefakten auf allen drei Ebenen eine veränderte Perspektive: Wenn das Soziale in den Praktiken besteht, dann enthält das Soziale kulturalisierte Körper wie Artefakte. Letztere sind weder außersozial noch das eigentliche Fundament des Sozialen. Dementsprechend verlieren auf der Handlungsebene Interaktionen ihren omnipotenten Status und Handlungen zwischen menschlichen Akteuren und nichtmenschlichen Artefakten ziehen handlungstheoretisch gleich.37 Wenn schließlich sozialer Wandel eine Transformation sozialer Praktikenkomplexe und ihrer impliziten Wissensformen bedeutet, dann enthält dieser nicht nur eine Transformation von kulturellen Codes sowie der Form, in der menschliche Körper gestaltet werden, sondern gleichfalls eine Transformation der Artefakte, die wiederum weder technizistisch verklärt noch kulturalistisch marginalisiert werden kann. Die Theorie sozialer Praktiken, die sich abzeichnet, wenn man Schatzkis Wittgensteinianischen Entwurf als Ausgangspunkt nimmt38 und Latours Konzeption der Artefakte integriert, stellt sich selber als theoretisches Hybridwesen dar. Es bleibt die Frage, ob sich Latours Ansatz ohne weiteres von den Praxistheorien instrumentalisieren lässt oder erhebliche theoretische Differenzen zwischen einer artefakttheoretisch modifizierten Praxistheorie auf der einen und Latours symmetrischer Anthropologie auf der anderen Seite bestehen bleiben. Es scheint, dass die post-Wittgensteinianischen Praxistheorien gute Gründe haben, Artefakte zwar als notwendige und einflussreiche Bestandteile sozialer Praxis anzuerkennen, aber gleichzeitig auf einem asymmetrischen Verhältnis zwischen den Dingen und den menschlichen Akteuren zu bestehen. 37 Vgl. auch Karin Knorr Cetina: »Sociality with objects. Social relations in postsocial knowledge societies«, in: Theory, Culture & Society 14 (1997), S. 1-30. 38 Interessant wäre es, Heideggers Sein und Zeit (1927) als einen frühen Versuch zu lesen, eine Praxistheorie zu formulieren, die den Status von Artefakten innerhalb dieser Praktiken rehabilitiert: Heidegger beginnt seine Analyse der menschlichen Praktiken nicht bei der Intersubjektivität, sondern bei der Interobjektivität des menschlichen »Daseins« und den Artefakte in Form ihrer »Zuhandenheit« (vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986, S. 63-76). In der Techniksoziologie ist vor allem Don Ihde einen ähnlichen, post-heideggerianischen Weg gegangen (vgl. Don Ihde: Technics and Praxis, Dordrecht 1979). 155

PRAKTIKEN

Wenn Artefakte in Praktiken nur insofern wirksam sein können, als sie von menschlichen Akteuren »gehandhabt« werden und Sitz eines »materialisierten Verstehens« sind, dann kann ihr Status mit dem der menschlichen Akteure und ihres verkörperten Wissens nicht identisch sein: Akteure schreiben den Dingen Sinn zu, während man von der umgekehrten Relation nicht ausgehen kann. Die Unterscheidung zwischen einer solchen Position und Latours Plädoyer für eine radikale symmetrische Anthropologie sollte nicht verwischt, die Debatte, ob innerhalb sozialer Praktiken eine substanzielle Differenz zwischen menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Aktanten besteht, vielmehr fortgesetzt werden.39 Die Relation zwischen Kulturalität und Materialität bleibt kontrovers.

39 Viele der Beiträge in T.R. Schatzki/K. Knorr-Cetina/E. von Savigny: The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001, können als Ausgangspunkte einer solchen Debatte verstanden werden. 156

S UBJEKTFORMEN

Me die ntra nsforma tion und Subjekttransformation Benjamins Problem »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.«1

Diese beiden Sätze finden sich an zentralem Ort in Walter Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« aus dem Jahre 1936. Zusammengefasst in dieser Textpassage und ausgeführt im genannten Artikel lässt sich der Keim für eine Analyseform der Moderne ausmachen, die zugleich eine Analyse ihrer Medientechnologien voraussetzt. Die Gelenkstelle zwischen moderner Gesellschaftsform und Form der Medien ist in Benjamins Darstellung die Form des Subjekts: Das menschliche Subjekt in seiner Wahrnehmungsstruktur – und man könnte und müsste ergänzen: in seiner gesamten Struktur als ein Ensemble von Perzeptionsmustern, kognitiven und affektiven Schemata, von leiblichem Stil sowie Handlungsdispositionen – ist nicht nur natürlich, sondern auch und vor allem kulturell, gesellschaftlich und geschichtlich konstituiert, es ist ein Produkt seiner sozialen Praxis (welche sich seine »natürliche« Plastizität zunutze macht). Die Form, in der sich diese perzeptive Struktur des Subjekts transformiert, hängt nun – zwar zweifellos nicht vollständig, aber zumindest 1

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977, S. 14. 159

SUBJEKTFORMEN

auch und in beträchtlichem Maße – ab von der historischen Struktur der »Medien«, in denen sich diese Perzeption organisiert, von technischen, die Wahrnehmung modellierenden Artefakten, so wie Benjamin sie in seinem Artikel beispielhaft im Bereich des Kinofilms, das heißt der neuen visuellen und audiovisuellen Kultur seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ausmacht. Die Analyseperspektive, die Benjamin hier sehr tentativ entwickelt, erweist sich als außerordentlich fruchtbar. Sie liefert die Initialzündung für eine Kombination soziologisch-kulturwissenschaftlicher und medienwissenschaftlicher Blickwinkel auf die Moderne. Eine solche Verknüpfung von sozialwissenschaftlicher Theorie der Moderne beziehungsweise Gesellschaftstheorie und Medienwissenschaft ermöglicht es, dem Zusammenhang von Subjekttransformation und Medientransformation unter modernen Bedingungen auf die Spur zu kommen. Theoriehistorisch allerdings stellt sich Benjamins Artikel – dies sollte zumindest erwähnt werden – nicht als Initialzündung einer medientheoretischen Umformung der Sozialwissenschaften dar, sondern genau umgekehrt als Manifest einer Bifurkation von Sozialwissenschaft und Medienwissenschaft. Theoriehistorisch ist das Verhältnis zwischen Gesellschaftsanalyse und Medienanalyse im 20. Jahrhundert zu großen Teilen von einer grundsätzlichen Differenz der Perspektiven geprägt. Die Ursache für diese Parallelexistenz von soziologischer und medienwissenschaftlicher Perspektive scheint zunächst einer historischen Ungleichzeitigkeit von Soziologie und Medienentwicklung geschuldet: Die Soziologie als Disziplin der modernen Gesellschaft bildet sich mit ihren Klassikern Marx, Weber, Durkheim, Simmel und Tönnies am Ende des 19. Jahrhunderts aus und damit exakt kurz bevor die mediale Revolution durch die audiovisuellen Medien in ihrer ganzen Tragweite sichtbar wird. Diese medial-audiovisuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Relevanz in den 1920er Jahren vollends deutlich wird, ist jedoch nicht nur als eine Transformation leitender Medientechnologien grundlegend. Die Bedeutung ist auch eine indirekte, insofern erst die audiovisuelle Medientransformation im Sinne eines Kontrastmittels nun auch die medialen Voraussetzungen der Gesellschaften vor dieser Zeit, das heißt vor allem die Voraussetzungen der Schrift und des Buchdrucks in den bürgerlich-modernen und den vormodernen Hochkulturen, sichtbar macht. Erst die aktuell erfahrbare Kontingenz der Medientechnologien und des ihnen entsprechenden perzeptiven Apparats im Subjekt macht seit den 1920er Jahren die Medientechnologien im humanwissenschaftlichen Bewusstsein zu einem Faktor, dessen konstitutive Kraft für die menschliche Kultur auch in der Rückschau der histo-

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MEDIENTRANSFORMATION UND SUBJEKTTRANSFORMATION

rischen Analyse entzifferbar wird.2 Vor diesem Hintergrund erweist sich die für die Soziologie bis zur Gegenwart wegweisende Theoriebildung der Klassiker der Gesellschaftstheorie am Ende des 19. Jahrhunderts als doppelt gehandicapt: Dass diese ihre Arbeiten vor Beginn der audiovisuellen Revolution schreiben, mag zunächst nur bedeuten, dass sie eine empirische Entwicklung verpassen. Tatsächlich heißt es auf einer zweiten Ebene aber, dass der Zusammenhang zwischen Medientechnologien und Wahrnehmungsformen aufgrund dieses Mangels an Kontingenzerfahrung neuer Medien in ihrem Theoriedesign generell nicht von primärer Bedeutung ist. Die Grundprobleme der Klassiker sind bekanntlich andere: Das Moderne der Moderne wird nicht in einer neuen medieninduzierten Wahrnehmungsstruktur – allein Simmel deutet in seinen Arbeiten zur Metropolenerfahrung eine solche an –,3 sondern in einem Ensemble von Rationalisierung, Kapitalisierung und Arbeitsteilung des Sozialen ausgemacht. Demgegenüber entwickeln sich die Theorien der modernen Medien nach Benjamin, der selbst im weiteren Kontext der ästhetischen Avantgarde-Diskussion bezüglich neuer Medialitäten schreibt, zunächst weitgehend unabhängig von der soziologischen Tradition, beschleunigt nach 1945. Wegweisend sind hier in den 1960er Jahren die Arbeiten von Marshall McLuhan zur Veränderung der Subjektstruktur durch die audiovisuellen Medien und im Kontrast dazu in der Schriftkultur, insbesondere The Gutenberg Galaxy: The Making of Typografic Man und Understanding Media: The Extensions of Man, später auch die Arbeiten von Walter Ong und Willem Flusser, schließlich und vor allem jene von Friedrich Kittler, etwa in Aufschreibesysteme 1800/1900.4 Grundsätzlich geht diese medienwissenschaftliche Theorietradition ähnlich Benjamin davon aus, dass Medien technische Artefakte sind, in deren Rahmen sich die kognitiven, emotionalen und perzeptiven Strukturen von Subjekten transformieren. Wenn die soziologische Gesellschaftstheorie seit Mitte

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Vgl. zu diesen frühen Medientheorien, die zunächst eng mit der Medienpraxis verbunden sind, Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M. 2002. Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt a.M. 1995, S. 116-131. Vgl. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962; ders.: Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964; Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 2000; Vilém Flusser: Die Schrift, Frankfurt a.M. 1992; Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995. Zu den Medientheorien insgesamt vgl. Alexander Roesler/ Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005. 161

SUBJEKTFORMEN

des 20. Jahrhunderts trotz alledem die Frage der Medien berücksichtigt, deutet sie demgegenüber in zwei ganz andere Richtungen: in die einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien wie bei Parsons und Luhmann, die verallgemeinert nach Mechanismen der Reproduktionswahrscheinlichkeit sozialer Ordnungen fragt; oder aber in die Richtung einer kritischen Theorie der Medien, welche diese entweder wie bei Adorno als Disziplinierungsinstrument oder aber genau umgekehrt in den Cultural Studies als semiotisches Arsenal subversiver Akteure betrachtet.5 In beiden Hinsichten handelt es sich primär um eine Anwendung der klassisch soziologischen Frage nach den Mechanismen des Sozialen beziehungsweise nach der Form moderner Rationalisierung (und ihrer Alternativen) auf die Medien, aber höchstens sekundär um jene von Benjamin angeregte und durch die neueren Medientheorien von McLuhan bis Kittler weitergeführte Frage nach den Effekten medialer Technologien auf die Struktur der Wahrnehmung des modernen Subjekts. Wie könnte nun jedoch eine soziologisch-kulturwissenschaftliche Theorie der Moderne aussehen, die den in diesem Sinne verstandenen medientheoretischen Impuls verarbeitet? Es soll im Folgenden um eine Skizze gehen, die demonstriert, wie sich die Entwicklung der modernen Subjektform – eine ebenso klassisch soziologische wie neuere kulturwissenschaftliche Fragestellung – vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart nur verständlich machen lässt, wenn man sie zumindest auch im Zusammenhang mit der simultanen Transformation von Medientechnologien und entsprechenden medialen Praktiken betrachtet. Mediale Transformationen stellen sich in bisher insgesamt drei Schritten als Voraussetzungen für den Umbau der Subjektstruktur innerhalb der Kultur der Moderne dar: Die frühe, bürgerliche Form der Moderne mit ihrer spezifisch bürgerlichen Form des Subjekts, der innenorientierten kognitiv-moralisch-emotionalen Orientierung von Subjektivität, basiert auf der Schriftkultur in der Form des Buchdrucks. Die Verschiebung von der bürgerlichen Moderne zur organisierten Moderne um 1910/1920, damit die Transformation der Subjektform vom bürgerlichen Subjekt zum Angestelltensubjekt – vom, wie Riesman es plakativ formulierte, inner directed zum other directed character6 –

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Vgl. Talcott Parsons: Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, Opladen 1980; Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: dies., Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften 3, Frankfurt a.M. 1997, S. 141-191; Stuart Hall: »Encoding/Decoding«, in: ders. u.a. (Hg.), Culture, Media, Language: Working Papers in Cultural Studies 1972-79, London 1987, S. 128-138. David Riesman: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven 2001.

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MEDIENTRANSFORMATION UND SUBJEKTTRANSFORMATION

setzt wiederum die audiovisuellen Medien als Trainingsfeld voraus, die ein solches ästhetisch und sozial extrovertiertes Subjekt zu formen helfen. Schließlich wird der Strukturwandel von der organisierten Moderne zu einer post-, spät- und hochmodernen Gesellschafts- und Kulturformation seit den 1970er und 80er Jahren und zu ihrem Typus eines expressiv-elektiv-kombinatorischen Subjekts in entscheidender Weise ermöglicht durch die neuartigen digitalen Praktiken im Umgang mit der Medientechnologie des Computers. Bevor ich mich diesen drei MenschMaschine-Konfigurationen und ihrer Umwälzung der Struktur der Sinneswahrnehmung nacheinander zuwende, sollen einige begriffliche Vorklärungen vorgeschaltet werden: Diese betreffen das, was ich eine »praxeologische« Perspektive auf die Sozial- und Kulturwelt und damit auch eine praxeologische Sicht auf mediale Artefakte und auf das Subjekt nennen will.

Mediale Praktiken als Technologien des Selbst Eine praxeologische Perspektive auf die Medien betrachtet diese als ein spezifisches Ensemble materialer Artefakte:7 Artefakte haben dabei weder einen bestimmte Verhaltensweisen oder Wahrnehmungsweisen determinierenden Status, noch stellen sie sich umgekehrt als bloße Instrumente des Handelns dar, welche gegebene Handlungsweisen in ihrer Struktur letztlich unverändert lassen. Eine praxeologische Perspektive geht damit auf Distanz sowohl zu einem Technikdeterminismus (auch in der Variante des Mediendeterminismus, zu der Kittler teilweise neigt) als auch zu einem instrumentalistischen Medienverständnis, wie es sich etwa in jenem klassischen Übertragungsmodell der Kommunikation findet, in dem das Medium lediglich eine bestehende Kommunikationsstruktur im Sinne eines Verbreitungsmediums zu erweitern scheint.8 Wie ist dieser »dritte Weg« zwischen Technikdeterminismus und Handlungs7

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Zum Konzept einer Theorie sozialer Praktiken vgl. Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996; ders./Karin Knorr Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001, sowie den Artikel »Elemente einer Theorie sozialer Praktiken« in diesem Band. Die anti-mediale Position, dass zum Beispiel die Schrift in diesem Sinne lediglich die Wirkungsmöglichkeiten der gesprochenen Sprache erweitert, aber in ihrer Grundstruktur unverändert lässt, findet sich klassisch etwa bei Saussure (und wird dann das bevorzugte Objekt von Derridas Kritik am medienvergessenen Phonozentrismus). Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 37ff.; Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983. 163

SUBJEKTFORMEN

instrumentalismus zu denken? Die praxeologische Perspektive setzt ganz allgemein als kleinste Einheit der Sozialität wie der Kulturalität weder Handeln noch Kommunikation noch Interaktion, sondern eine »Praktik« im Sinne einer von einem spezifischen impliziten Wissen getragenen, typisierten und routinisierten Verhaltensweise voraus. Entscheidend ist hier die Logik der Implizitheit. »Kultur« im Sinne symbolischer Ordnungen und ihrer Codes kommt hier in einem praktischen, unmittelbar handlungsrelevanten Sinne vor: sie ist in der Form eines script-förmigen know-how-Wissens, eines interpretativen Deutungswissens und bestimmter routinisierter Motiv/Affektkomplexe in einer Praktik enthalten. Soziale Einheiten bis hin zu ganzen Gesellschaften stellen sich damit als Netzwerke von aneinander lose oder fest gekoppelten Komplexen von Praktiken dar, die Raum und Zeit binden, also soziale Reproduktion in der Zeit wie räumliche Zerstreuung ermöglichen. Praktiken umfassen dabei sowohl primär intersubjektive Aktivitäten als auch das, was Latour interobjektive Praktiken nennt, das heißt SubjektObjekt-Aktivitäten, wie auch mit Foucault Technologien des Selbst, das heißt jene selbstreferenziellen, auf eine Veränderung der Subjektstruktur selber gerichteten Verhaltensweisen. Wo kommen in diesem Kontext nun Medien vor? Prinzipiell betont die praxeologische Perspektive die materiale Verankerung der Praktiken, und zwar eine Verankerung in einer doppelten Materialität: den Artefakten und den menschlichen Körpern. Praktiken sind regelmäßig Verhaltensweisen mit Dingen, mit Artefakten im weitesten Sinne, vom Werkzeug bis hin zu komplexen Verkehrs- und Städtebautechnologien. Das, was man »(Massen-)Medien« nennt, ist eine spezifische Artefaktform. Man kann durchaus mit Latour kritisieren, dass die Humanwissenschaften die praxiskonstitutive Rolle von Artefakten regelmäßig kulturalistisch übergangen haben.9 Denn bestimmte Artefakte stellen sich als Voraussetzungen bestimmter Praktiken dar: ohne moderne Produktionsund Verkehrstechnologie keine fordistische Großorganisation, ohne die Speicherungs- und Ablagesysteme für Informationen keine moderne Bürokratie. Gleichzeitig jedoch bestimmt kein Artefakt im Voraus seine Verwendungsweise, es bleibt immer ein Spielraum möglichen, kaum vorhersagbaren Verhaltens im Umgang mit Artefakten, ein Verhalten, das dann zu routinisierten Praktiken zu gerinnen vermag. Artefakte sind keine kausalen Bedingungen von Praktiken, sie sind vielmehr als eine Komponente integraler Bestandteil von Praktiken. Als Medien kann man nun jene technischen Artefakte verstehen, die in Praktiken des Umgangs

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Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.

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mit Zeichen zum Einsatz kommen. In diesem Sinne stellen sich Schrift und Buchdruck, Fotografie und Film, Telefon und Telegraf, Fernseher und Computer als Medien dar; in dieser Begrifflichkeit sind nicht alle Artefakte Medien – Virilios Automobil etwa nicht –, und der menschliche Körper wird nicht als Medium definiert. Semiotische Praktiken, die Medien in diesem Sinne verwenden, sind damit mediale Praktiken. Aus einer praxeologischen Perspektive erscheint es zentral, nicht nach der Technologie an sich zu fragen, sondern immer nach dem wissensabhängigen, kulturell spezifischen Umgang mit diesen Medien, nach den medialen Praktiken: also nicht der Fernseher interessiert, sondern die spezifischen Praktiken des Fernsehens, nicht die Schrift, sondern die Praktiken des Lesens und Schreibens, nicht der Computer, sondern die Umgangsweisen mit dem Computer. Ohne ihre praktische Aneignung bleiben Artefakte wirkungslos; dies schließt historisch die Möglichkeit ein, dass zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Artefakte »zur Verfügung stehen«, aber faktisch nicht genutzt werden – es bilden sich dann keine Praktiken um die fraglichen Artefakte. Es kann sich dann das bekannte Phänomen einer historischen Verzögerung zwischen Artefakterfindung und deren Integration in Praktiken, somit ein Aufschub ihrer kulturellen Effektivität ergeben – dies gilt etwa für die Entwicklung von Techniken audiovisueller Reproduktion im Laufe des 19. Jahrhunderts, die erst um die Jahrhundertwende tatsächlich massiv in die soziale Praxis integriert werden.10 Offenbar muss die Kultur bereits bestimmte Codes bereithalten, welche den Umgang mit einem Artefakt zumindest denkmöglich machen, damit dieses umgekehrt Praxis und Subjektivität zu beeinflussen vermag. Wenn die Materialität der Artefakte eine notwendige Komponente von Praktiken darstellt, dann liefert die Materialität der Körper die andere Komponente. Individuen werden damit als körperliche Träger von Praktiken relevant, das heißt als ein Bündel von sozial-kulturell geformten, inkorporierten Dispositionen, eines praxisrelevanten impliziten Wissens. Jede Praxis produziert gewissermaßen ihr sozial-kulturell korrespondierendes Subjekt: Es können im Subjekt damit keine vorgeblich allgemeingültigen mentalen, kognitiven, affektiven usw. Eigenschaften vorausgesetzt werden. Wenn man etwa in der bürgerlichen Kultur ein autobiografisches Bewusstsein des Subjekts konstatiert, dann fragt die praxeologische Perspektive nach den Praktiken des Tagebuchschreibens als eine Aktivität, die eine solche autobiografische Innerlichkeit beför-

10 Vgl. zum unebenen Prozess der Verbreitung der Fotografie im 19. Jahrhundert: Fred Ritchin: In Our Own Image. The Coming Revolution in Photography, New York 1990. 165

SUBJEKTFORMEN

dert. Der Begriff des »Subjekts« wird in diesem Zusammenhang in jenem Sinne verwendet, wie es kulturtheoretisch-poststrukturalistisch orientierte Autoren wie Foucault und Butler vorschlagen: Das Subjekt ist hier die sozial-kulturelle Form, in der sich das Individuum ausprägt, in der sich die Praxis in ihm einprägt. Als Subjekt verleibt sich der Einzelne sozial-kulturelle Kriterien der Subjekthaftigkeit ein, er unterwirft sich ihnen, um aktiv werden zu können: ein Prozess der Subjektivation.11 Damit sind wir jedoch wieder beim Benjamin’schen Ausgangspunkt angekommen: der Frage nach der sozial-kulturellen Formierung der perzeptiven Apparatur des Subjekts über die Medien. Die praxeologische Perspektive geht hier von jenem missing link aus, das in der Benjamin’schen Darstellung fehlt und das sich möglicherweise hinter seinem Reden von »menschlichen Kollektiva« verbirgt: den sozialen Praktiken, welche sowohl Umgangsformen mit Artefakten inklusive Medien sind, als auch Technologien des Selbst in dem Sinne, dass sie Effekte in der dispositional-körperlich-mentalen Struktur des Subjekts hinterlassen und einen solchen Habitus in ihm heranzüchten, der wiederum zur routinisierten accomplishment der Praktiken erforderlich ist. Wenn man die historische Formierungsleistung von medialen Praktiken auf die Struktur des Subjekts in den Blick nimmt, ergibt sich damit ein anderer Blickwinkel auf Medien, als es einer soziologischen und kommunikationstheoretischen Tradition entspricht. Es ist ein Gemeingut der Medienmodelle der Sozialtheorie, Medien scheinbar selbstverständlich als »Kommunikationsmedien« zu betrachten, damit als Mittel, welche die Ausbreitung von Kommunikation – ob zwischen Personen oder als eigendynamische kommunikative Sequenz gedacht – erleichtern, die dabei möglicherweise auch die Strukturen der Kommunikation, ihre Raum-Zeit-Verhältnisse transformieren.12 Mediale Praktiken interessieren in unserem post-Benjamin’schen Zusammenhang jedoch nicht primär in ihrer Eigenschaft als kommunikative Praktiken – was sie zweifellos auch sind –, sondern als Technologien des Selbst, in einem Sinne, der über die Foucault’sche Definition hinausgeht.13 Als Technologien des Selbst verstanden, stellen sich mediale Praktiken – ob der Umgang mit 11 Zu einem solchen Subjektkonzept vgl. Nikolas Rose: »Identity, genealogy, history«, in: Stuart Hall/Paul du Gay, Questions of Cultural Identity, London 1996, S. 128-150; Dorothy Holland: »Selves as cultured«, in: Richard D. Ashmore/Lee Jussin (Hg.), Self and Identity. Fundamental Issues, New York, Oxford 1997, S. 160-190; A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 1. 12 Eine klassische Version dieses Komunikationsverständnisses findet sich in Bühlers Organon-Modell, vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1982. 13 Vgl. zu dieser engeren Definition Michel Foucault/Rux Martin/Luther H. Martin: Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993. 166

MEDIENTRANSFORMATION UND SUBJEKTTRANSFORMATION

Schrift und Buchdruck, mit audiovisuellen oder mit digitalen Medien – als Techniken dar, in und mit denen das Subjekt primär einen Effekt in sich selbst herstellt, einen kognitiven, perzeptiven, affektiven oder imaginativen Effekt. Mediale Praktiken sind in diesem Sinne selbstreferenzielle Praktiken. Anders etwa als die modernen Praktiken der Arbeit, die auf Produktion oder Dienstleistung abzielen, oder Praktiken der persönlichen – familiären, partnerschaftlichen, sexuellen oder erzieherischen – Interaktion, zwei Praktikenkomplexe, die für die Kon-stitution des Subjekts unter modernen Bedingungen von essenzieller Bedeutung sind und die mittelbar subjektivierend wirken, lassen sie sich als Techniken deuten, in denen das Subjekt in der Rezeption semiotischer Produkte unmittelbar auf eine Selbstveränderung abzielt: auf Bildung, auf Zerstreuung, auf Imaginationserweiterung, auf moralische Erbauung, auf Schockwirkung etc. Auf diese Weise stellen sich mediale Praktiken als von besonderer Bedeutung für eine Subjektgeschichte der Moderne dar. Sie sind, obwohl spezialisiert, Trainingsorte für Subjekt- und Lebensformen als ganze: In ihnen bilden sich Dispositionen aus, die dann innerhalb einer historisch-kulturellen Formation und ihrer Subjektordnung Voraussetzungen für die kompetente Partizipation an anderen spezialisierten Praktikenkomplexen (Ökonomie, Politik, Familie etc.) liefern.

M e d i e n r e vo l u t i o n e n u n d bürgerliche Schriftlichkeitskultur Welche historisch-kulturelle Transformation von Subjektordnungen innerhalb der Moderne lässt sich nun rekonstruieren? Und inwiefern setzt diese eine mediale Transformation voraus? Es spricht einiges dafür, in der Geschichte der modernen Kultur an drei Stellen einen zumindest relativen Bruch der hegemonialen Subjektkultur auszumachen: im 18. Jahrhundert der Beginn des bürgerlichen Charakters, in den 1920er Jahren die Entstehung des other-directed character des Angestelltensubjekts, seit den 1970er Jahren ein expressiver und elektiver postmoderner Typus. Die Praxisfelder, in denen sich diese Subjektformen ausbilden und verändern, sind zunächst einmal nichtmediale. Vor allem im ökonomischen Feld der Arbeit und im Feld der persönlichen Beziehungen, der Privat- und Intimsphäre, findet jeweils eine wirkungsmächtige Verschiebung der Subjektformen statt: im Bereich der Arbeit vom bürgerlichen selbständigen Berufscharakter und self-made-man über den angestellten organization man hin zum enterprising self; im Feld der persönlichen Beziehungen von der bürgerlichen Innerlichkeit in den Freundschaften, Familien und Ehen über die kollektivistischen und zugleich 167

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unterhaltsamen Beziehungen in der peer society hin zum expressiven Intimsubjekt der pure relationships. Das bürgerliche Subjekt ist von den Kriterien der Moralität und der Souveränität angeleitet; das nachbürgerliche Subjekt der Angestelltenkultur der 1920er bis 60er Jahre stellt sich demgegenüber als eine personality dar, die sich in sozialer Extrovertiertheit, daneben auch in der ästhetischen Außenorientierung gegenüber attraktiven visuellen Oberflächen übt; das spätmoderne Subjekt schließlich lässt sich von Kriterien der Selbstexpressivität leiten, die gleichzeitig mit einem Optionalitätshabitus verknüpft sind, das heißt einem Denken in Optionen, zwischen denen zu wählen ist. Für uns interessant jedoch ist, dass diese Transformation von Subjektformen ihr jeweiliges Trainingsfeld in den jeweiligen medialen Praktiken findet. Es ist keine bloß zufällige Koinzidenz, dass dem Beginn der modernen Kultur als bürgerliche Kultur, die im Renaissance-Humanismus des 16. Jahrhunderts einsetzt und in Deutschland eigentlich erst im 18. Jahrhundert entsteht, die Gutenberg-Revolution des Buchdrucks vorangeht, dass der Beginn der Angestelltenkultur, die in den USA in den 1920er Jahren eine Initialzündung erhält, mit der audiovisuellen Revolution zusammenfällt und dass die postmoderne Kultur mit der digitalen Revolution koinzidiert. Vielmehr erweisen sich a) der Umgang mit der Schriftlichkeit in Form des gedruckten Wortes als ein Trainingsfeld des moralisch-kognitiven bürgerlichen Subjekts, b) die medialen Praktiken im Umgang mit den audiovisuellen Medien als Trainingsfeld des extrovertierten Angestelltensubjekts und c) die Praktiken im Umgang mit dem Computer als Übungsraum des expressiv-elektiven Subjekts der Postmoderne. Wenn sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ein modernes als bürgerliches Subjekt im Rahmen einer spezifisch bürgerlichen Praxis ausbildet, dann stellen sich die medialen Praktiken im Umgang mit der Schriftlichkeit in der technologischen Form des Buchdrucks, der erst die überregionale Verbreitung von Schriftgütern ermöglicht, dann stellen sich spezifisch bürgerlich-moderne Formen des Lesens und des Schreibens als Übungsfelder dieses bürgerlichen Habitus dar.14 Die Lese- und 14 Zum Folgenden vgl. Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987; Roger Chartier (Hg.): Pratiques de la lecture, Marseille 1985; Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800, Stuttgart 1974; Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999; Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989; Jacqueline Pearson: Women’s Reading in Britain 17501835. A Dangerous Recreation, Cambridge 1999; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die 168

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Schreibpraktiken bilden dabei einerseits ein autonomes Feld der Bildung und Selbstbeobachtung, zugleich sind sie jedoch eng mit den Aktivitäten bürgerlichen Arbeitens und bürgerlicher persönlicher Beziehungen verknüpft. Das im Lesen gebildete Subjekt vollzieht eine unbewusste Selbstregierung körperlicher Bewegungen, eine dauerhafte Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen Korpus unanschaulicher Zeichen und die Ausbildung einer komplexen »inneren« Verstehenskompetenz, die kognitiv und affektuell zugleich orientiert ist. Das Medium der über den Buchdruck verbreiteten Schriftlichkeit konfrontiert das Subjekt mit einer Sequenz unanschaulicher Zeichen in ihrer Linearität und Abgeschlossenheit in Form von Texten. Das Schriftlichkeits-Subjekt übt sich damit in der Umwandlung der Signifikanten in Signifikate: Es bildet sich eine hermeneutische Kompetenz aus, die Mengen von abstrakten Zeichen verarbeitet und versucht, diesen über den Weg eines Sinnverstehens Bedeutungen zuzuschreiben, welche die Details des einzelnen Wortes oder Satzes übergreifen. Eine Lesbarkeit der Welt wird trainiert, in der sowohl abstrakt-kausale als auch narrativ-intentionale Strukturen ausgemacht werden: Das Subjekt kann damit auch an die Welt außerhalb des Textes mit einer hermeneutischen Haltung der Zeichendechiffrierung, des »Begreifens« des Intelligiblen herantreten. Das bürgerliche Schriftlichkeitssubjekt eignet sich damit Dispositionen an, die für die gesamte bürgerliche Praxis konstitutiv sind: eine kognitive Aufmerksamkeitskonzentration, eine Psychologisierung und affektive Sensibilisierung, schließlich ein moralischer Sinn.15 Insgesamt bildet sich das bürgerliche Subjekt auf diese Weise als ein innenorientiertes heraus, als ein Subjekt mit einer komplexen Innenwelt, die sowohl von kognitiven wie auch moralischen und emotionalen Elementen bevölkert ist. Das Lesen fokussiert die Aufmerksamkeit in radikaler Weise auf die kognitive Rezeption des Unanschaulichen und blendet damit die weitere sinnliche Wahrnehmung – im Übrigen auch das leibliche Bewusstsein – ab. Umgekehrt motiviert es zu einer Intensivierung von Akten der Reflexion in der Innenwelt. Der Umgang mit dem Schriftmedium leitet zudem eine Selbst- und Fremdpsychologisierung an: Anders als die spätere visuelle Kultur vermag es, psychische Innenzustände, das heißt Motive, Emotionen, Gedanken, moralische RegunDurchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1998; vgl. allgemein zu den Charakteristika einer Kultur der Schrift W. Ong: Orality and Literacy; V. Flusser: Die Schrift; Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990. 15 Zur bürgerlichen Subjektform insgesamt vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 175-203. 169

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gen, darzustellen und zu produzieren. Das Schriftsubjekt erlernt damit ein psychologisches Vokabular, das es im Verhältnis zu sich selbst und anderen anwenden kann. Schließlich ist auch die Ausbildung von Moralität an das Schriftmedium gebunden: Das Medium macht ganze Lebensführungsmuster und -dilemmata darstellbar und kommentierbar. Textgenres wie Biografien, Autobiografien und bürgerliche Romane leiten damit zu einer konsequenten moralischen Selbstbeobachtung an, die ihr Pendant in der Praktik des regelmäßigen Schreibens, vor allem von Briefen und Tagebüchern, findet. Wenn die bürgerliche Subjektkultur, wie sie sich in ausgereifter Form im späten 18. und im 19. Jahrhundert findet, grundsätzlich sowohl an Souveränität als auch an Moralität orientiert ist und versucht, ihr Subjekt in eine rationale Ordnung einzubetten, dann stellen sich die medialen Praktiken der Schriftlichkeit insgesamt als Voraussetzungen dafür dar: Souveränität setzt Bildung im Sinne kognitiven Wissens, Moralität setzt Psychologisierung und Sensibilisierung voraus. Zugleich implantiert jedoch gerade der Umgang mit dem Schriftlichkeitsmedium eine Friktion in die bürgerliche Kultur: eine Friktion zwischen einer zweckrationalen Instrumentalisierung der Schriftkultur zugunsten einer informierten Handlungspraxis einerseits, dem Selbstzweck einer handlungsentlasteten Sphäre im Umgang mit der Schrift, die in erster Linie ästhetisch-imaginative Bedürfnisse heranzieht andererseits, wie sie in der bürgerlich-antibürgerlichen Bewegung der Romantik in den Vordergrund treten.16

N e u e S u b j e k t e : D i e a u d i o vi s u e l l e u n d die digitale Revolution Dass Anfang des 20. Jahrhunderts im Westen die Dominanz der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft erodiert und eine andere soziale Praxis an deren Stelle tritt, ist eine weit verbreitete These. Peter Wagner spricht hier in Weiterentwicklung von Hilferdings Begriff des »organisierten Kapitalismus« von der »organisierten Moderne«. Deren Epizentrum sind die Vereinigten Staaten, und sie manifestiert sich in den fordistischen Korporationen ebenso wie in der peer society der suburbia, im legitimen Massenkonsum so wie in der Massendemokratie. In unseren Zusammenhang interessiert nun, dass dieser Wandel der hegemonialen Praxis zusammenfällt mit einer Transformation des Subjekts und dass die 16 Vgl. zum romantischen Subjektmodell und seiner Fundierung in der Schriftlichkeitskultur Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M. 1989. 170

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Eigenschaften des nach-bürgerlichen other directed character durch die neuen audiovisuellen Medien ermöglicht werden, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiten und sich zunächst im Kinofilm, dann im Fernsehen konkretisieren. Wenn das bürgerliche Subjekt mit einer ausgeprägten kognitiven, moralischen und emotionalen Innenwelt ausgestattet war, dann stellt sich das nach-bürgerliche Subjekt als ein im Grundsatz außenorientiertes, als extrovertiertes Subjekt heraus. Die dominante visuelle Kultur der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts setzt ein anders strukturiertes Subjekt voraus als die Schriftkultur, und sie verhilft einem solchen Alternativmodell zur Realität (wie Benjamin und später McLuhan richtig sehen).17 Entscheidend ist, dass im Umgang mit Kinofilm und Fernsehen anders als in der Schriftkultur das Subjekt nicht unanschaulichen Zeichen gegenübersteht, sondern die Zeichen die Gegenstände der Wahrnehmung so imitieren, wie sie durch den Gesichtssinn in der Lebenswelt des Alltags, das heißt vor der Medienbenutzung erschlossen werden: »Während traditionelle Künste Ordnungen des Symbolischen […] verarbeiten, sendet der Film seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozess.«18 Die visuellen Medien basieren auf einem »RealismusEffekt« (R. Barthes), so dass sie ihren Zeichencharakter regelmäßig unsichtbar machen. Sie legen dem Subjekt die Grundüberzeugung nahe, dass das Wirkliche das Sichtbare ist, während die Schriftkultur regelmäßig die Aufmerksamkeit auf eine vorgeblich essenzielle Welt »hinter« dem Sichtbaren, eine Welt von abstrakten Relationen und psychologischen Innenwelten lenkte. Umgekehrt sind es nun das Bildhafte und die Sequenz von Bildern, welche als Realitätsversicherung dienen: »moderns feel they are images, and are made real by photographs.«19 Subjekte werden nun nicht primär als Innenwelten repräsentiert, sondern als visuelle performances: die visuellen Medien testen ihre beobachtbare Darstellung. Das betrachtende Film- und Fernsehsubjekt wird damit weniger in Psychologisierung denn in einer Aufmerksamkeit für 17 Zum Folgenden vgl. David Freedberg: The Power of Images, Chicago 1989; W. Benjamin: Das Kunstwerk; John Ellis: Visible Fictions. Cinema, Television, Video, London 1982; Susan Sontag: On Photography, London 1987; W.J.T. Mitchell: Iconology: Image, Text, Ideology, Chicago 1986; Norman K. Denzin: The Cinematic Society. The Voyeur’s Gaze, London 1995; David Bordwell/Kristin Thompson/Janet Staiger: The Classical Hollywood Cinema. Film, Style and Mode of Production to 1960, New York 1985; Cecelia Tichi: Electronic Hearth. Creating an American Television Culture, Oxford 1991. 18 Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 103. 19 S. Sontag: On Photography, S. 287. 171

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körperliche Darstellungen der eigenen Person vor anderen geschult.20 Jene gegenseitige, permanente Beobachtung der sozialen Normalität des Anderen, wie sie grundlegend für die post-bürgerliche Organisationsgesellschaft und peer society ist, wird damit in den audiovisuellen Medien trainiert, welche das Subjekt zum Examinator äußerer performances machen und zugleich zum Objekt des being looked-at-ness. Das Training der testenden Beobachtung des Äußeren ist zugleich jedoch eines im ästhetischen Voyeurismus: Die visuelle Kultur züchtet ein »zerstreutes«, ein sich zerstreuendes Subjekt heran, das seine reflexive Ichkontrolle in der Auseinandersetzung mit der Bildersequenz verliert und sich im reinen Genuss der Wahrnehmung, in einer ästhetischen Haltung gegenüber attraktiven Oberflächen übt. Im Gegensatz zum Schriftsubjekt, das angesichts der Unanschaulichkeit der Zeichen ganz auf die Erweckung innerer Imagination angewiesen scheint, gewinnt das Film- und Fernsehsubjekt einen libidinösen Sinn für das, was Guy Debord das »Spektakel« der visuellen Kultur nennt.21 Damit wird aber auch in der nach-bürgerlichen Kultur im Innern des Subjekts gerade über den Weg der medialen Praktiken ein potenzieller Widerspruch verankert: der Umgang mit den audiovisuellen Medien hat gewissermaßen eine normalistische und eine ästhetisierende Konsequenz zugleich. Er übt das Subjekt in einer Orientierung an der kollektiven, einander gegenseitig beobachtenden Realität des Sichtbaren und zugleich in einer ästhetischen Aufladung von Bildern, die zu einem Gegenstand voyeuristischer Zerstreuung avancieren. Damit ist die letzte Phase in der bisherigen Subjekttransformation moderner Kultur und gleichzeitig die bisher letzte Etappe der Transformation von Medientechnologien und medialen Praktiken erreicht: das spätmoderne Subjekt und die digitale Technologie. Nach der Phase um 1920 stellt sich der Zeitraum um 1970 und 1980 als eine nächste und letzte strukturelle wie kulturelle Epochenschwelle dar, die zugleich eine Transformation der Subjektordnung einschließt. Im Bereich der Arbeit handelt es sich hier um eine Verschiebung vom organization man der Angestelltenkultur zu einer Kombination von Kreativsubjekt und enterprising self. In den persönlichen Beziehungen findet sich ein Bruch zwischen der nun konventionalistisch erscheinenden peer society und einem Modell des Selbst, das in seinen Intimbeziehungen nach self growth strebt. Analog wird im Bereich des Konsums eine Umorientierung von einem sozial kopierten Konsum hin zu einem individualästhetischen

20 Vgl. zur außenorientierten Subjektform der organisierten Moderne insgesamt A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 409-440. 21 Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996. 172

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Konsum deutlich.22 Auf abstrakter Ebene bildet sich in diesen unterschiedlichen Praktiken eine spät- oder postmoderne Subjektform heraus, die zwei Dispositionsbündel miteinander kombiniert: Es handelt sich zum einen um die Form eines expressiven Subjekts, das in allen seinen Aktivitäten nach Kreativität, Authentizität und self growth strebt, sich somit von einem generalisierten Künstlerideal leiten lässt und die Sphäre des Symbolischen als Gegenstand der experimentellen Kombinationssuche eines individuellen Stils behandelt. Diese Form ist verwoben mit einem doppelten Optionalitätshabitus: das postmoderne Subjekt nimmt sich als Subjekt von Wahlakten und damit die Gegenstände und Personen seiner Umwelt generalisiert als Objekte von Entscheidungen wahr; gleichzeitig perzipiert es sich selbst als Objekt von Wahlakten anderer und formt sich entsprechend. Es stellt sich heraus, dass wiederum die neuen Medien, das Medium des Computers in jener benutzerorientierten, am Internet ausgerichteten Form, wie sie sich seit Mitte der 1980er Jahre ausbreitet, diese veränderte Subjektform trainieren.23 Der Umgang mit dem Computer übt das Subjekt exakt in jener doppelten ästhetisch-experimentellen wie elektivmarktförmigen Praxis, wie sie die gesamte spätmoderne Lebensform charakterisiert. Der Computer konfrontiert das Subjekt mit der Konstellation einer Überfülle von visuellen und schriftlichen Zeichen, einer hypertextuellen Opulenz semiotischer Möglichkeiten. Anders als im Buch und im Film herrscht hier Unabgeschlossenheit und Kombinationszwang, damit eine Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Das Computer-Subjekt trainiert sich in der Haltung eines user, eines sich entscheidenden und konsumierenden Benutzers, der ein beständiges exploring betreibt: eine niemals abgeschlossene, tentative Suche nach ästhetischen Anregungen, die sich von den Möglichkeiten der Assoziation und Kombination leiten lässt: »Just move the cursor […], click on it (the item),

22 Zu diesen Komponenten vgl. beispielhaft Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M., New York 2003; Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991. Zur postmodernen Subjektform insgesamt vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 588-630. 23 Zum Folgenden vgl. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge (Mass.) 2001; Sherry Turkle: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York 1995; Martin Lister u.a.: New Media: A Critical Introduction, London, New York 2003; Andrew Darley: Visual Digital Culture. Surface Play and Spectacle in New Media Genres, London, New York 2000; Mark Poster: The Second Media Age, Cambridge 1995; Achim Brosziewski: Aufschalten. Kommunikation im Medium der Digitalität, Konstanz 2003. 173

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explore and have fun!«24 Charakteristisch ist hier die Routinisierung eines Experimentalismus: es gibt keine vorgefertigten Pfade, sondern den Zwang zur Pfaderprobung. Anders als das Schrift- und das Film-Subjekt steht das ComputerSubjekt den semiotischen Welten, die es wahrnimmt, nicht allein als Betrachter gegenüber, es vermag auch – etwa in Computer-Spielen – in dieses Geschehen einzugreifen, es bewegt sich selbst gefahrlos in einer possible world, die es zu verändern vermag. Das exploring des Computer-Subjekts bedeutet dabei die Routinisierung eines Optionalitätshabitus: der click fetishism ist als Einübung in eine Konstellation zu verstehen, in der eine Überfülle von Möglichkeiten wahrgenommen wird und darin eine schnelle Entscheidung, die immer auch eine Abwahl anderer Möglichkeiten einschließt, erforderlich ist. Dieser click fetishism enthält die Annahme, dass die Entscheidungen im Prinzip reversibel sind. Insgesamt vermögen die Praktiken im Umgang mit dem Computer das Subjekt damit in einer Art Spiel-Sinn zu üben, der die Immersion in alternative ästhetische Welten und einen vertieften ästhetischen Sensationssinn, ein radikalisiertes Kontingenzbewusstsein – auch gegenüber dem Selbst – einschließt. Zudem wird das Subjekt statt in Intersubjektivität primär in Interobjektivität geübt, das heißt einem interaktiven Agieren mit Dingen, die selbst eigendynamisch reagieren. Im Medium des Computers lernt das Subjekt, beständig Simulationen zu produzieren und mit Simulationen konfrontiert zu werden, die durch Vorläufigkeit und Veränderbarkeit charakterisiert sind und verschiedene Versionen durchspielbar machen (ob nun Simulationen der Wohnungseinrichtung, eines Kleidungsstücks, eines Fantasy-Spiels oder der eigenen Person im Chat-room). Es wird damit deutlich, wie die Transformation von Subjektkulturen in der Moderne in einem engen Zusammenhang mit der Transformation der Medientechnologien steht. Tatsächlich ist es so, dass sich die dispositionale Struktur des Subjekts einschließlich der Apparatur seiner Sinneswahrnehmung in den letzten dreihundert Jahren verschoben hat und tatsächlich geschieht dies, wie Benjamin annahm, im Kontext medialer Praktiken. Natürlich ist die Konstellation sehr viel komplexer: Keineswegs liefern Medien und mediale Praktiken den einzigen Faktor, der für die Subjekttransformation von Bedeutung ist. Hier spielen auch ganz andere Elemente, etwa kulturelle Bewegungen oder humanwissenschaftliche und politische Diskurse sowie nicht-mediale technologische Revolutionen eine Rolle. Zudem ist das Verhältnis zwischen den drei genannten modernen Subjektordnungen ebenso wenig wie das zwischen den 24 Vgl. S. Turkle: Life on the Screen, S. 20. 174

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drei großen medientechnologischen Schüben als eine Relation der gegenseitigen Ablösung zu verstehen. Vielmehr bleiben in den späteren kulturellen Formationen die Medientechnologien der früheren enthalten und ergeben eine komplexe Hybridität sich aufeinander schichtender medialer Praktiken und eines Subjekts, das sich in ihnen formt. Für die Gegenwartskultur ergibt sich damit eine Übereinanderschichtung von schriftsprachlichen, audiovisuellen und digitalen Praktiken. Nur angedeutet werden konnte, dass das Training, das die historisch spezifischen Medienapparaturen ihren Subjekten angedeihen lassen, jeweils nicht eindeutig, sondern in jeder kulturellen Formation durchzogen ist von spezifischen Widersprüchen und Friktionen: So übt die bürgerliche Schriftkultur ihr Subjekt einerseits in kognitiver Fokussierung und moralischer Sensibilisierung, aber gleichzeitig in der Entwicklung eines ästhetisch-imaginativen Sinns, der bürgerliche Bildungsansprüche potenziell untergräbt. So trainieren die audiovisuellen Medien der Angestelltenkultur das Subjekt sowohl in einem »normalisierenden« Vergleich der performances von Subjekten, in dem, was Benjamin eine Haltung des »Testens« äußeren Verhaltens auf seine Akzeptanz und Perfektion nennt, damit auch in einem Realismus-Sinn, der sich an das visuell Beobachtbare hält. Zugleich ziehen sie einen skopophilen Voyeurismus heran, eine ästhetisch-affektive Aufladung der visuellen Darstellung von Subjekten und Objekten (einschließlich der eigenen Person), einen libidinösen Sinn für attraktive Oberflächen. Schließlich enthält auch die digitale Kultur eine Doppelstruktur: sie übt das Subjekt in einem ästhetischen, experimentellen exploring visuell-textueller Opulenz und zugleich in einer quasi-marktförmigen, elektiven Haltung der Entscheidung zwischen Optionen. Generell stellen sich damit die medialen Praktiken der Kultur der Moderne immer wieder als spezifische Techniken einer Ästhetisierung des Subjekts dar, als Techniken der Einverleibung unterschiedlicher Formen eines ästhetischen Sinns.25 Doch zugleich enthalten sie eine andere, nicht-ästhetische »Regierung« (Foucault), welche das Subjekt auf bestimmte Regeln verpflichtet und die in jeder kulturellen Formation wechselt: ein kognitiv-moralisches Selbsttraining in der bürgerlichen Kultur, eine Übung im sozialen Normalismus in der Angestelltenkultur, schließlich ein Training in der generalisierten Marktkonstellation von Entscheidung und Wahl in der Postmoderne. Wenn das moderne Subjekt in seinen unterschiedlichen historischen Ausrichtungen eine immanent gespaltene Figur darstellt, die einander widersprechen-

25 Zum Konzept des Ästhetischen vgl. den Artikel »Elemente einer Soziologie des Ästhetischen« in diesem Band. 175

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de Orientierungen in sich vereinigt, dann liefern die medialen Praktiken offenbar einen entscheidenden Beitrag zu dieser immanenten Instabilität.

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Umkämpfte Maskulinität. Zur Transformation männlicher Subjektformen und ihrer Af fe kti vitä te n Wie hat sich in der westlichen Moderne seit ihrem Beginn im 18. Jahrhundert die emotionale und affektive Formung des Subjekts transformiert? Und in welcher Weise hängt die Ausbildung dessen, was Deborah Lupton das emotional self nennt,1 mit der Transformation der Geschlechterordnung und in diesem Kontext insbesondere mit der sich verschiebenden Subjektivierungsweise von Männlichkeit zusammen? Die Frage nach der affektiven und der geschlechtlichen Subjektivierung sowie jene nach der Schnittstelle zwischen affektiver und geschlechtlicher Formungen des Selbst ist kein isoliertes Problem der Kulturgeschichte, sondern lässt sich im Rahmen des umfassenderen, von Michel Foucault inspirierten Projekts einer Archäologie und Genealogie des assujettissement, der Subjektivierungsweise des modernen Individuums bearbeiten.2 Für die Praktiken und Diskurse der Kultur der Moderne sind eine sehr spezifische emotionale Subjektwerdung, das heißt eine umfassende affektive – und das heißt auch eine sinnlich-ästhetische und eine sexuelle – Selbstregierung, wie auch eine ebenso spezifische Vergeschlechtlichung des Subjekts, ein Training in einer bestimmten Sex-gender-Matrix kennzeichnend.3 »Emotion« bildet ebenso wie »Geschlecht« eine konstitutive 1 2

3

Vgl. Deborah Lupton: The Emotional Self. A Sociocultural Exploration, London 1998. Vgl. Michel Foucault: »Subjekt und Macht«, in: ders., Ästhetik der Existenz, Frankfurt a.M. 2007, S. 81-104; Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2008. Vgl. als weiterhin wegweisender Hintergrund zur Theoretisierung geschlechtlicher Subjektivierung: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. 177

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Semantik moderner Subjektivität, allerdings eine mit sich historisch verschiebender Bedeutung. Beide Subjektsemantiken arbeiten gängigerweise mit Mitteln der Selbstnaturalisierung und Selbstuniversalisierung, der vorgeblichen Natürlichkeit oder Riskanz von Gefühlen, der Normalität oder Anormalität einer bestimmten Geschlechterordnung, das heißt, mit Differenzmarkierungen, Verwerfungen wie auch positiven Umwertungen ihres konstitutiven Außens. Beiden stehen jedoch zwei andere kulturelle Tendenzen gegenüber, welche die klassischen Narrativen der Moderne fokussiert haben: eine Rationalisierung des modernen Selbst, die Emotionen verschiedenster Art (Lust, Angst, Zorn, Trauer, Empathie etc.) als problematisch voraussetzt und versucht, sie entweder zu kontrollieren oder gar nicht erst aufkommen zu lassen, und ein degendering dieses Selbst, das heißt eine Subjektivierung, für die »Geschlecht« kein zentrales Unterscheidungsmerkmal darstellt und die stattdessen jeden Menschen unabhängig von diesem oder anderen Herkunftsmerkmalen bestimmten Leistungskriterien unterwirft. Im Rahmen der Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Affekt kann man die affektive Mobilisierung, die Emotionalisierung des Subjekts als das allgemeinere Problem annehmen und die mögliche geschlechtliche Form dieser Emotionalisierung als eine Anschlussfrage.4 Diese Unterordnung des Geschlechts- gegenüber dem Affektsubjekt erlaubt sichtbar zu machen, was für die Emotionsgeschichte der Moderne zentral zu sein scheint: nämlich dass hier in verschiedenen Schüben ein gendering und ein degendering von Affektivität stattfindet, dass die Konkurrenz zwischen degendering und gendering von Emotionen ein zentrales konflikthaftes Merkmal moderner Kultur darstellt. Anders als große Teile der Geschlechtergeschichte und -soziologie es präjudiziert haben, kann man hier nicht von vornherein von einer/der Geschlechterdifferenz ausgehen, und zwar gleich, ob man diese naturalistisch oder 4

Noch grundsätzlicher gilt: »Affekte« lassen sich auf einer ersten Ebene den sozialen Praktiken – als einer überindividuellen Ebene vernetzter Aktivitäten von Körpern und Dingen – zuordnen und müssen nicht notwendigerweise eine entsprechende Subjektivierung voraussetzen. So können etwa Praktiken, in denen sich soziale »Massen« erleben, in hohem Maße durch Affekte/Affizierungen charakterisiert sein, ohne dass die Individuen von vornherein in diese Richtung subjektiviert wurden. Diese flottierenden Affizierungen sind namentlich in post-deleuzianischen Ansätzen thematisiert worden, vgl. etwa Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham 2002. Im Folgenden interessieren Affektkulturen jedoch allein als Subjektkulturen, das heißt als auf Dauer körperlich-psychisch antrainierte, damit »subjektivierte« (oder wenn man so will »reterritorialisierte«) Affekte und Emotionen. Daher können in unserem Zusammenhang die Begriffe Affekt und Emotion synonym verwendet werden.

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UMKÄMPFTE MASKULINITÄT

kulturalistisch begründet, und entsprechend kann man keine durchgehende Maskulinisierung/Feminisierung von Affektkulturen voraussetzen. Vielmehr setzen moderne Diskurse und Praktiken die Geschlechterdifferenz innerhalb ihrer Affektkulturen nur an ganz bestimmten Punkten ein und verzichten an anderen Punkten auf sie. Diese konträren Tendenzen von Vergeschlechtlichung und Entgeschlechtlichung von Affektivität nachzuvollziehen, ist eine zentrale Fragestellung der Kultursoziologie des affektiven Selbst. Die Aufgabe einer Historischen Kultursoziologie besteht darin, für den Verlauf dieser Moderne ein Prozess- und Strukturmodell der sich transformierenden Subjektkulturen und in diesem Zusammenhang der subjektivierten Affektivitäten und Sex/gender-Positionen zu entwickeln. Es liegen mittlerweile eine Fülle von Einzelstudien sowohl für die Emotions- als auch die Geschlechtergeschichte vor. Aber die darüber hinaus greifende Frage bleibt, was diese Spezialstudien für das Verständnis der Kultur der Moderne in ihrer langfristigen Transformation bedeuten. Auf der allgemeinen gesellschaftstheoretischen Ebene dominierten hier bisher zwei große Erzählungen, die beide ihren Gegenstand reifizieren: eine Modernisierungstheorie der Affekte, deren Kehrseite eine Repressionshypothese darstellt, sowie eine Theorie des hegemonialen Geschlechterdualismus. Die modernisierungstheoretische Linie der Affektgeschichte findet einen klassischen Ort in Norbert Elias’ Der Prozess der Zivilisation.5 Elias’ Kernthese lautet bekanntlich, dass der Beginn der Moderne mit einer dezidierten Affektregulierung, einem Umschlag der Fremdkontrolle in die Selbstkontrolle von Affekten zusammenfällt, welche die Voraussetzung für moderne Interaktionsformen und soziale Arbeitsteilung darstelle.6 Dieser Strukturkern des affektregulierten Selbst, die Unterordnung von Emotionalität gegenüber Rationalität, hält sich der modernisierungstheoretischen Perspektive zufolge während der gesamten Moderne bis zur Gegenwart durch und wird infolge gewisser Schübe der Informalisierung lediglich variiert.7 5 6

7

Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1990. Das modernisierungstheoretische Komplement zu Elias auf Seiten der Theorie der Geschlechterordnung findet sich bei Talcott Parsons und in seiner klassisch liberalen Annahme der Neutralisierung der Geschlechter in der Moderne im Zuge der weitgehenden Ablösung von ascribed- zu achieved-Mustern, das heißt von zugeschriebenen Rollen – zu denen auch das Geschlecht zählt – zu Leistungsrollen, die in der Regel geschlechterindifferent sind. Geschlechterdualismen erscheinen dann eher als ein vormoderner Restbestand. Vgl. dazu Cas Wouters: Informalization: Manners and Emotions Since 1890, Los Angeles, London 2007. 179

SUBJEKTFORMEN

Die Repressionshypothese der Frankfurter Schule, der zufolge die Moderne durch Affekt- und Triebunterdrückung gekennzeichnet ist, welche erst durch jüngste gegenkulturelle Bestrebungen konterkariert worden sei, stellt hier nur das kritische Abziehbild der Modernisierungstheorien dar: Die Kultur der Moderne wird en bloc als ein Disziplinierungsprogramm zur Züchtung eines affektlosen Menschen verstanden.8 Die positive oder negative Modernisierungstheorie der Affekte bleibt in ihrer linearen Struktur für die massiven Kulturkonflikte in der und um die Moderne und eben auch um ihre affektive (wie geschlechtliche) Subjektivation blind. Entsprechend marginalisiert wird in diesen Narrativen die positive, produktive Emotionalisierung in bestimmten Phasen der Moderne, die Tatsache, dass dem Subjekt hier bestimmte Emotionen wie Empathie, Mutterliebe, romantische Liebe, Arbeitsenthusiasmus oder ästhetische Erlebnisfähigkeit, aber auch aggressive Konkurrenzorientierung oder Xenophobie systematisch antrainiert werden – sei dies innerhalb der bürgerlichen Empfindsamkeit, der Phase des Nationalismus, im Rahmen der dualistischen Geschlechtermatrix des 19. Jahrhundert oder im emotional self der Postmoderne. Die vorgeblich rationalistische, »emotionslose« Kultur der Moderne stellt sich in einigen ihren Segmenten damit umgekehrt geradezu als ein Trainingsprogramm in der Ausbildung von Affekten dar, die in dieser Ausprägung und Intensität ohne die spezifisch modernen Praktiken, Diskurse, Subjektivierungsweisen und Materialitäten gar nicht existieren würden. Die grand récit eines Geschlechterdualismus, die seit den 1970er Jahren vor allem im Zuge der feministischen Kritik entwickelt wurde, befindet sich in vielerlei Hinsicht in Opposition zu den liberalen Modernisierungstheorien.9 Im Zentrum steht hier die These der konstitutiven Bedeutung einer antipodischen Geschlechtermatrix für die Kultur der Moderne, die in den liberalen Erzählungen der Moderne mit Vorliebe unsichtbar gemacht wurde. Kennzeichnend für diese zugleich komplementäre wie antagonistische Struktur von »Geschlechtscharakteren« erscheinen dieser Darstellung zufolge eine Rationalisierung des männlichen und eine Emotionalisierung des weiblichen Subjekts, ein spannungsreicher Dualismus, der das enthält, was Connell eine »hegemonic

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Vgl. Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2006; Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. dazu auch den kritischen Kommentar in Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983. Vgl. Kate Millet: Sexual Politics, London 1977; Sylvia Walby: Theorizing Patriarchy, Oxford 1991.

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masculinity« nennt, eine kulturell dominante Maskulinität,10 zu der Feminität sich als ein potenziell defizitäres Komplement verhält. Die Theorie des Geschlechterdualismus wird regelmäßig mit einer Krisendiagnose verbunden: der Krise der modernen Geschlechter- und Gefühlskultur, auch einer Krise der Männlichkeit, wie sie vor allem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet wird. Bei aller Sensibilität für kulturelle Spannungen und Widersprüche innerhalb der Moderne neigt die Erzählung des großen Dualismus dazu, in ihrer strukturalistischen Fixierung auf die vermeintliche Geschlechterdifferenz die Moderne in anderer Weise in die Form eines monolithischen, nun patriarchalischen Blocks zu pressen. Was damit an den Rand der Betrachtung gedrängt wird ist die Frage, in welchem Maße sich in verschiedenen Phasen der Moderne im Rahmen von Universalisierungsstrategien sowohl positive Emotionalisierung wie Strategien einer Entemotionalisierung geschlechtsindifferent auf das moderne Subjekt richten und damit hier an bestimmten Punkten tatsächlich ein degendering von Affekten und Subjektpositionen zu beobachten ist.11 Aus einer genealogischen Perspektive kann sich der Dualismus der Geschlechtscharaktere damit als ein seinerseits kulturell äußerst umstrittenes Phänomen mit begrenzter Haltbarkeit innerhalb der Geschichte der Moderne darstellen, das nicht universal gilt, sondern sich auf die Episode der hegemonialen Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts sowie auf bestimmte maskulinistische Gegenbewegungen im Laufe des 20. Jahrhunderts konzentriert. Im Folgenden soll ein alternatives Prozessmodell der Transformation von Affekt- und Geschlechterkulturen skizziert werden, das entsprechende kulturhistorische und -soziologische Einzelanalysen verarbeitet und sich als Bestandteil einer umfassenderen Theorie der Transformation moderner Subjektkulturen versteht. Gleichzeitig kann dieses Prozessmodell eine Forschungsheuristik für die Affekt- und Männlichkeitsforschung liefern.12 Es geht davon aus, dass sich in der Subjektgeschichte der modernen, westlichen Kultur trotz aller lokalen Unterschiede und aller kurzfristigen Trends vier jeweils langfristig wirkende Subjektordnungen unterscheiden lassen, die in relativer Diskontinuität aufeinander folgen und deren basale Wissensordnungen bezüglich der Subjektivität grundsätzlich voneinander differieren. Die historische Ablösung dieser Subjektordnungen ist jeweils eine konflikthafte. Die Differenzen zwi10 Vgl. R.W. Connell: Masculinities, Cambridge 1995. 11 Connell spricht diese Tendenzen an, nimmt sie aber als ein rein postmodernes Phänomen wahr (vgl. ebd., S. 232ff.). 12 Zur neueren Männlichkeitsforschung vgl. Tim Edwards: Cultures of Masculinity, London 2006. 181

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schen den kulturellen Formationen stellen sich auch als solche zwischen vier diskontinuierlichen Affektkulturen heraus, die zugleich in jeweils sehr spezifischer Weise mit einer geschlechtlichen oder geschlechtsindifferenten Subjektivation verknüpft sind. Als Affektkulturen sollen hier Komplexe von sozialen Praktiken, kulturellen Diskursen (die nicht nur textuelle, sondern auch visuelle Diskurse umfassen) und zugehörigen Artefakten (zum Beispiel Medientechnologien oder räumliche Strukturen) verstanden werden, welche im Individuum eine spezifische Hervorlockung und Hemmung von bestimmten Emotionen, sinnlichen Orientierungen und Affiziertheiten betreiben. Diese Hemmungen und Anreize, Sensibilisierungen und Imunisierungen der Affektkulturen werden im Körper, in der Psyche und in der Selbstwahrnehmung des Einzelnen subjektivierend auf Dauer gestellt. Diese historischen Affektkulturen kreuzen die Grenzen zwischen funktional differenzierten sozialen Feldern, wobei im Folgenden vor allem die spezialisierten Praktiken und Diskurse der Arbeit/Ökonomie, der privaten und persönlichen Beziehungen und der Konsumtion interessieren. Es ergeben sich vier Phasen der Transformation hegemonialer Affektivität in der Moderne:13 1. Die »empfindsame« Bürgerlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als die erste und früheste moderne Subjektordnung betreibt, angeleitet von den Vorstellungen der Moralität und balancierten Selbstregierung, nicht nur eine Rationalisierung, sondern auch eine Emotionalisierung des männlichen und weiblichen Subjekts. 2. Die geschlechtsdualistische Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts forciert eine eindeutige Affektbifurkation zwischen den Geschlechtern. 3. Die kulturell von den USA dominierte »organisierte Moderne« der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts verfolgt das Projekt einer Entemotionalisierung des Subjekts, das mit einer Angleichung der Geschlechtshabitus und zugleich mit der immanenten Gegentendenz eines aggressiven Maskulinismus verbunden ist. 4. Die Postmoderne seit den 1970er Jahren treibt eine positive Kultivierung des geschlechtsindifferenten emotional self voran. In diesem Diskontinuitätsmodell von Affekt- und Geschlechtskulturen lässt sich keine lineare Entwicklung und auch keine basale Kontinuität festmachen, sondern eher ein Durchspielen unterschiedlicher kultureller Optionen bezüglich von Affekt und Geschlecht. Dabei findet im Folgenden eine Konzentration auf »hegemoniale« Männlichkeiten/ Weiblichkeiten sowie Affektivitäten statt, so dass die manifesten oder latenten Konflikte zwischen »dominant, residual and emergent cultures« 13 Vgl. ausführlicher zur Transformation moderner Subjektivierungsformen und zu dieser Periodisierung A. Reckwitz: Das hybride Subjekt. 182

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(R. Williams) vorübergehend in den Hintergrund treten. Dies gilt etwa für die Herausforderung bürgerlicher Affektivität und Geschlechtlichkeit durch eine proletarische Affekt- und Geschlechterkultur. Die Brüche zwischen den Subjektordnungen sind nicht zufällig oder unmotiviert. Vielmehr lassen sich an den drei Bruchpunkten, das heißt um 1800, um 1900/1920 und um 1970, vor allem drei Faktoren ausmachen, welche die jeweilige Transformation der Affekt- wie der Geschlechterordnung vorantreiben:14 a) kulturelle Gegenbewegungen, häufig im weitesten Sinne kulturrevolutionärer Art, so die Romantik um 1800, die Avantgarden, aber auch die anti-bürgerlichen politischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schließlich die Counter Culture der 1960er Jahre, die allesamt Affektivität und häufig auch genderPositionen thematisieren und hier alternative Subjektpositionen forcieren; b) humanwissenschaftliche Diskurse etwa der Psychologie und der Biowissenschaften, die gleichfalls regelmäßig ein dezidiertes Interesse an der diskursiven Formierung von Affekt- und Geschlechtsmerkmalen entwickeln; c) schließlich eine Transformation der Materialität der modernen Kultur (Städtebau, Medientechnologien, ökonomische Technologien etc.), das heißt der gesellschaftlichen Artefaktssysteme und entsprechenden Subjekt-Objekt-Relationen, die sich auf die Möglichkeiten affektiver, etwa sinnlich-ästhetischer, Subjektivierung auswirkt.

1. Empfindsame Bürgerlichkeit Es gibt keinen komplikationslosen Beginn dessen, was die Soziologie die Moderne nennt. Wenn man Norbert Elias’ Studie zur emotionalen Zivilisierung ebenso wie Niklas Luhmanns »Liebe als Passion« heranzieht, spräche vieles dafür, die höfische Gesellschaft und ihre Kultivierung eines aristokratischen Habitus als eine Initialzündung moderner Affektkultur zu markieren, denn bereits hier wird das Individuum zum Zielpunkt vielfältiger emotionaler Subjektivierungsprogramme.15 Diese aristokratische Praxis treibt eine höchst widersprüchliche Affektivität hervor, in der sich die disziplinierte Selbstkontrolle sozial unverträglich erscheinender Emotionen mit einer fokussierten, äußerst intensiven Affektivität wie in der »amour passion« oder auch gegenüber bestimmten Objekten im Luxuskonsum kombiniert. 14 Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 89ff. 15 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a.M. 1983; Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 2007. 183

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In einer konventionelleren Periodisierung kann man die Genealogie des modernen Selbst jedoch mit der Ordnung der Bürgerlichkeit beginnen lassen. Diese bildet sich im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur als soziale Klasse, sondern als kulturelle Matrix heraus, als das Erziehungsprogramm eines bürgerlichen körperlich-psychischen Habitus, der in den Praktiken der Arbeit, der Familie und Geselligkeit, des Politischen und des Gebrauchs der Schriftkultur vollzogen wird. Wenn man neuere kulturhistorische Arbeiten heranzieht, die das Problem von Affekt und Geschlecht in diesem Zeitraum behandeln, dann wird deutlich, dass die frühe bürgerliche Subjektordnung zwei gesellschaftstheoretisch verbreiteten Vorurteilen bezüglich der modernen Kultur des Selbst nicht entspricht.16 Zunächst betreibt sie keineswegs eine einseitige Rationalisierung des Subjekts und keine entsprechend einsinnige Disziplinierung von Affekten. Eine solche primäre Rationalisierung und Entemotionalisierung hatte namentlich die gesellschaftstheoretische Tradition von Weber und Marx als kennzeichnend für die bürgerliche Moderne angenommen: in der Form einer asketischen, sinnenfeindlichen bürgerlichen Moralität beziehungsweise einer konsequenten anti-emotionalen Verdinglichung von sozialen Beziehungen. Vielmehr wird nun deutlich, dass die frühbürgerliche Kultur das »natürliche« und moralisch »integre« Subjekt zumindest auch auf eine Sensibilisierung und Kultivierung von Emotionalität festlegt. Diese bürgerliche Ordnung stellt keinen Käfig des Verbots vermeintlich präexistierender Gefühle dar, sondern eine offensive Emotionsproduktionsstätte. Allerdings ist sie in ihrem Modellfall auf moderierte und balancierte Emotionalität gerichtet, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Semantik der »Empfindsamkeit« beispielhaft entwickelt.17 Im Rahmen einer Vorstellung des souverän-selbstverantwortlichen wie moralisch-anständigen Selbst erscheinen im frühbürgerlichen Kontext eine Rationalisierung des Subjekts im Sinne einer Heran-

16 Vgl. etwa Leonore Davidoff/Catherine Hall: Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780-1850, London 1987; G.J. Barker-Benfield: The Culture of Sensibility. Sex and Society in 18th Century Britain, Chicago 1992; Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2000; Annet-Charlott Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Philipp Carter: Men and the Emergence of Polite Society, Britain 1660-1800, Harlow 2001. 17 Vgl. John Mullon: Sentiment and Sociability. The Language of Feeling in the Eighteenth Century, Oxford 1988; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. 184

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züchtung von Kompetenzen der Reflexivität und Selbstdisziplin und eine empfindsame Emotionalisierung, die auch eine ästhetische Sensibilisierung für das »Schöne« im Rahmen des omnipräsenten ästhetischen Diskurses einschließt, nicht als einander widersprechend, sondern als integrale Bestandteile der Balanciertheit eines genuin bürgerlichen Charakters. Gerade die positive Heranzüchtung moderater Emotionen stellt sich als entscheidendes Instrument der Differenzmarkierung gegenüber der aristokratischen, vermeintlich vormodernen und emotional »kühlen« Kultur dar. Das zweite Vorurteil gegenüber der bürgerlich-modernen Kultur, das sich den neueren Analysen zufolge nicht mehr aufrechterhalten lässt, betrifft ihren vorgeblichen strikten Geschlechterdualismus. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die frühe Bürgerlichkeit vor 1800 zu einem degendering tendierte und die Emotionalisierung sich in diesem Kontext im Rahmen einer spezifisch bürgerlich-modernen Universalisierungsstrategie entsprechend an »das« Subjekt richtet, sie geschlechtsindifferent an Frauen und Männer gleichermaßen adressiert ist.18 Der soziale Ort, das Praxisfeld, welches im Rahmen der frühbürgerlichen Kultur diese Sensibilisierung für Gefühle geschlechtsneutral forciert, vor allem positiver Gefühle für den Anderen wie Empathie und Sympathie, ist vor allem das Feld der Intimität, der persönlichen Beziehungen. Die Emotionalisierung des Selbst findet hier im Wesentlichen im Rahmen einer konsequenten intimen Selbst- und Fremdpsychologisierung statt. Die bürgerliche Intimität als Sphäre persönlicher Beziehungen der Freundschaft, der Ehe, der Familie und der Geselligkeit enthält dabei Interaktionen zwischen Männern und Frauen, zwischen Männern und zwischen Frauen, und die Sensibilisierung der Gefühle richtet sich im Prinzip an weibliche wie männliche Subjekte gleichermaßen. Keinesfalls sind Männer hier der Emotionalisierung und Psychologisierung entzogen, sie liefern vielmehr selber als man of feeling eines ihrer Modelle. Eine zweite, gewissermaßen materiale Voraussetzung der frühbürgerlichen Emotionalisierung als Psychologisierung liefert die Technologie der Schriftlichkeit:19 Sowohl das Lesen wie das Schreiben von Brie18 Vgl. Liselotte Steinbrügge: Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Weinheim, Basel 1987; G.J. Barker-Benfield, The Culture of Sensibility, S. 37-103; Sylvana Tomaselli: »The Enlightenment debate on women«, in: History Workshop Journal 20 (1985), S. 101-124; Dror Wharman: The Making of the Modern Self. Identity and Culture in Eighteenth-Century England, New Haven 2004, S. 7-82. 19 Vgl. Albrecht Koschorke: »Alphabetisation und Empfindsamkeit«, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, S. 605-628. 185

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fen trainieren das bürgerliche Subjekt in der permanenten Selbstbeobachtung, der Wahrnehmung und Reflexion seiner vermeintlichen und damit immer auch produzierten »Innenwelt« von Gedanken, Gefühlen oder Erinnerungen, damit in der Herausbildung einer raffinierten Emotionalität des Ichs, die sich auf sich selber und andere Personen richtet. Es ist dieses Dispositiv bürgerlicher Praktiken der Intimität und der Schriftlichkeit, welches den bekannten bürgerlichen Diskursen der Empfindsamkeit und der sympathy des moralischen Menschen praktische Wirksamkeit verleiht und eine entsprechende affektive Subjektivierung auch des männlichen Subjekts betreibt. Der/das »Andere« dieser Affektivitätsordnung markiert ein Subjekt, dem es an moderierter Empfindsamkeit fehlt, das unnatürlich emotionslos ist oder deren Affekten es an der Sensibilität der positiven Empfindungen für andere Personen mangelt. Es ist im frühbürgerlichen Kontext (insbesondere in Deutschland und England) vor allem die als unauthentisch und unnatürlich interpretierte aristokratische Kultur, in zweiter Linie auch die emotional unsensibel und primitiv erscheinende Volkskultur, die hinsichtlich ihrer Leistungen in moderierter Emotionalisierung als defizitär gedeutet werden.

2. Hegemoniale Bürgerlichkeit und die Produktion eines Geschlechter- und Af f e k t d u a l i s m u s Es spricht vieles dafür, dass die Subjektordnung der frühbürgerlichen Kultur nach 1800 einer verschobenen Affektkultur und Geschlechterformierung Platz macht. Auch diese ist im weitesten Sinne »bürgerlich«. Das Bürgertum bildet ihre nun eindeutig hegemoniale Trägerklasse (was parallel existierende und konkurrierende Klassenkulturen wie vor allem die der ländlich-agrarischen Volkskultur und des Proletariats einschließt) und ihre basale Ausrichtung an individualistischer Selbstregierung und moralischer Seriosität bleibt bestehen. Ihre Implikationen bezüglich von Affektivität und Geschlechtlichkeit sind jedoch nicht mehr dieselben. Diese Ordnung hegemonialer Bürgerlichkeit des 19. Jahrhundert ist der kulturwissenschaftlichen Forschung sehr vertraut: Als dominant stellt sich hier eine Subjektivierungsweise dar, die im Rahmen einer Struktur stattfindet, die Karin Hausen als eine der »Geschlechtscharaktere« umschrieben hat, ein strikter Geschlechterdualismus zwischen einer männlichen und einer weiblichen Subjektivität, der sich auch und gerade

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auf der Ebene der Affekte auswirkt.20 Antagonistisch stehen die Emotionalisierung des weiblichen und die Rationalisierung des männlichen Selbst einander gegenüber. Die in der frühbürgerlichen Ordnung angestrebte Kombination rational-reflexiver und emotional-empathischer Orientierungen im Subjekt als Ganzem wird nun auf die beiden als scheinbar natürlich repräsentierten Menschentypen Mann/Frau »aufgeteilt«. Dieser affektive Geschlechterdualismus stellt sich als eine in hohem Maße instabile Konfiguration heraus und nimmt die Form einer Supplementarität an: Das weibliche Subjekt als emotionales, natürliches und häusliches Supplement zum rational-aktiven masculine achiever markiert nicht nur die zweite Seite einer asymmetrischen Differenz, sondern kann verstörenderweise immer auch als latentes Fundament der gesamten bürgerlichen Subjektordnung dechiffriert werden, deren moralisch-lebensweltliche Basis sie liefert. In diesem Kontext kann sowohl das weibliche Subjekt – gefährdet durch seine überschießende »irrationale« Emotionalität – als auch das männliche Subjekt – unterminiert durch seine »unterdrückte« Affektivität, etwa seine Sexualität – zu einer kulturell riskanten Figur avancieren.21 Entscheidende Einflussfaktoren für diese Verschiebung der bürgerlichen Matrix nach 1800 sind zum einen die entsprechenden humanwissenschaftlichen, biologistischen Diskurse, die den Geschlechterdualismus, welcher sich bereits im aufklärerischen Diskurs von Natur und Natürlichkeit angebahnt hatte, ausdrücklich proklamieren. Zum zweiten wirkt hier der Diskurs der Romantik, indem er die heterosexuelle Paarbeziehung als einzig legitime intersubjektive Affektrelation fixiert. Schließlich stellt sich die fundamentale Bifurkation zwischen zwei gesellschaftlichen Sphären als Voraussetzung der Geschlechteropposition dar, welche im 19. Jahrhundert einsetzt und die Form einer antagonistischen Differenzierung annimmt: zwischen der Sphäre der bürgerlichen Privatsphäre, die weiblich dominiert ist, und der Sphäre der Öffentlichkeit, vor allem der Arbeit und Produktion, die sich männlich dominiert sieht.22 20 Vgl. Karin Hausen: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Wolfgang Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393; Ulrike Dörner: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M., New York 1994, S. 219-275. 21 Vgl. Michael Kane: Modern Men. Mapping Masculinity in English and German Literature 1880-1930, London, New York 1999; Judith Fetterley: The Resisting Reader: A Feminist Approach to American Fiction, Bloomington, London 1978. 22 Vgl. zum Biologismus Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge (Mass.) 1990, zum Geschlecht der 187

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Für die Affektivität des männlichen Subjekts ergibt sich damit jedoch im spätbürgerlichen Kontext keine eindeutige, sondern eine komplexe, widersprüchliche Konstellation: Es findet zum einen eine relative Delegitimierung jener Elemente positiver, empathischer Emotionalität gegenüber dem – insbesondere männlichen – Anderen statt, wie sie die frühbürgerliche Geschlechterkultur gepflegt hatte. Das Ergebnis ist die Heranzüchtung einer Männlichkeit, die Rotundo als die eines masculine achiever umschreibt, der sich im Zeichen der sich entfaltenden market society (Polanyi) in entmoralisierter Strategik und kompetitiver ZweckMittel-Rationalität übt.23 Dieser masculine achiever ist jedoch andererseits nicht affektiv neutral. Vielmehr erscheinen innerhalb der hegemonialen Männlichkeit nun bestimmte aggressive und kompetitive Affekte legitim, wenn nicht erforderlich. Peter Stearns arbeitet für die viktorianische Gefühlskultur heraus, wie beispielsweise Zorn in bestimmten Situationen sich innerhalb der spätbürgerlichen Subjektordnung als ein völlig legitimes männliches Gefühl herausstellt. Nye weist für das bürgerliche 19. Jahrhundert in Frankreich auf die affektive Aufladung männlicher Ehre – teilweise ein Import der Adelsgesellschaft – hin.24 Es scheint damit, dass die Rückzüchtung der frühbürgerlichen empathischen Emotionalität und die Heranzüchtung der spätbürgerlichen, zumindest partiellen aggressiven Emotionalität vor allem die homosozialen Beziehungen betreffen, die von Empathie auf aggressive Kompetition umgeschaltet werden. Soziale Institutionen wie das Duell und der Krieg zwischen den Nationen liefern entsprechende Praxisformen, in denen diese spätbürgerliche Affektivität einen außeralltäglichen Ausdruck findet.25

Romantik Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Tübingen 1966, S. 343463, zur bürgerlichen Privatsphäre Peter Gay: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, München 1987, zur entmoralisierten bürgerlichen Ökonomie Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M. 1978. 23 Vgl. Anthony E. Rotundo: »Learning about manhood: Gender ideals and the middle-class family in nineteenth-century America«, in: J.A. Mangan/ James Walvin (Hg.), Manliness and Morality. Middle-Class Masculinity in Britain and America 1800-1940, Manchester 1987, S. 35-51. 24 Peter N. Stearns: American Cool. Constructing a 20th Century Emotional Style, New York 1994, Kap. 1.; Robert A. Nye: Masculinity and Male Code of Honour in Modern France, Oxford 1993. 25 Zum Duell vgl. Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. 188

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3. Organisierte Moderne und die »kalte Persona« Vieles spricht dafür, dass sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, etwa um 1920, eine erneute Transformation der hegemonialen westlichen Affektkultur wie auch der Geschlechterordnung beobachten lässt. Sie stellt sich als Teil einer umfassenderen Umwälzung der modernen Subjektordnung in eine nach-bürgerliche Richtung dar, wie sie David Riesman 1949 plakativ als Umschlag vom inner-directed zum otherdirected character umschreibt und deren gesamtgesellschaftlicher Kontext der eines »organisierten Kapitalismus« und einer »organisierten Moderne« ist.26 Die nach-bürgerliche organisierte Moderne, deren westlicher Kristallisationsort die Vereinigten Staaten darstellen und die eine östliche Ausprägung im Staatssozialismus findet, treibt eine generelle Transformation der Subjektordnung in Richtung einer nach-bürgerlichen Orientierung am Sozialen, am Kollektiven und Gruppenförmigen voran. Dies wird auf der Diskursebene beispielhaft in einem psychologischen Interdiskurs deutlich, der das Subjekt als extrovertiertes, sozial orientiertes formt. Auf der Ebene der sozialen Praktiken ist es im Bereich der Arbeit die bürokratische, technische Großorganisation, die – mit William Whyte – den entsprechenden, in Kollektivität und Technizität trainierten organization man heranzieht und im Privaten stellt das, was Paula Fass die nach-bürgerliche peer society nennt, das heißt, eine informelle Gemeinschaft unter Gleichen, deren exemplarischer Ort die USamerikanische Mittelschichts-suburbia ist, ein ebenso dezidiert sozialorientiertes Komplementärphänomen dar.27 Dass diese neusachliche und zugleich an sozialen Gruppen orientierte Kultur der organisierten Moderne eine Transformation affektiver Subjektivierung betreibt, wird detailliert von Peter Stearns in Bezug auf den Ratgeberdiskurs in den USA sowie von Helmut Lethen in Bezug auf simultane intellektuelle und ästhetische Diskurse in Deutschland analysiert. Kennzeichnend ist hier eine generelle Entemotionalisierung des Subjekts, und zwar des weiblichen wie des männlichen gleichermaßen, im Rahmen und im Namen der prononcierten Außenorientierung, der

26 Vgl. David Riesman: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven 2001; Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, New York, London 1993. 27 Vgl. William H. Whyte: The Organization Man, New York 1956; Paula S. Fass: The Damned and the Beautiful. American Youth in the 1920s, Oxford 1977. 189

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Sozial- und Gruppenorientierung des Selbst.28 Wenn die zentrale Anforderung an das nach-bürgerliche Subjekt die geschickte Eingliederung in gruppenförmige Zusammenhänge sowohl im Bereich der Arbeit als auch der Privat- und Freizeitsphäre ist, dann erscheint Emotionalität jeglicher Art riskant und als eine potenzielle Quelle intersubjektiver Peinlichkeit, sie verwandelt sich in einen Fremdkörper der sowohl sachlichtechnischen wie kollektivorientierten Ordnung der organisierten Moderne. Diese Entemotionalisierung bezeichnet eine geschlechtsindifferent wirkende kulturelle Strategie und betrifft vor dem Hintergrund der hochemotionalen Weiblichkeit des 19. Jahrhunderts zunächst besonders die Frau, etwa durch eine Diskreditierung emotionaler Sensibilität in der (von Frauen vorgenommenen) Kindererziehung. Im Verhältnis zum Geschlechterdualismus des 19. Jahrhunderts ist für die Subjektordnung der organisierten Moderne generell ein bemerkenswertes Training in Richtung einer relativen Angleichung von weiblichen und männlichen Habitusformen kennzeichnend. Diese Homogenisierung setzt eine körperliche Mobilmachung der Frau voraus, deren öffentliche Sichtbarmachung und partielle Aktivierung, wie sie sich selbstbewusst etwa im Modell der new woman zeigt.29 Auf der Seite des männlichen Subjekts ergibt sich jedoch wiederum eine immanent widersprüchliche Konstellation: Die radikale Entemotionalisierung des Mannes im Rahmen des Modells einer sachlich-rationalen wie kollektivorientierten Persönlichkeit, die sich positiv-empathischer und aggressiver Affekte enthält und die sich in der betont emotionsarmen Figur des Angestellten, des Funktionärs und des organization man verdichtet, sieht sich kombiniert wie konterkariert durch zwei andere Tendenzen: Zum einen betreibt die organisierte Moderne als eine Massenkultur expansiven Konsums eine zumindest partielle Ästhetisierung des Mannes wie auch der Frau. Die Außenorientierung des nachbürgerlichen Sozialcharakters erschöpft sich nicht in der normalistischen Anpassung des Subjekts an soziale und sachliche Kollektive, sondern umfasst zudem dessen Orientierung an attraktiven, sinnlich-ästhetisch aufgeladenen Oberflächen, und zwar Oberflächen von Objekten – etwa Konsumgütern – und von Personen gleichermaßen. Dies gilt für die massive Sexualisierung der Frau in der visuellen Kultur aus dem Blickwinkel des männlichen Beobachters wie auch für eine partielle Selbstästhetisierung des »attraktiven« Mannes, die den Blick der Frau antizipiert 28 Vgl. P. Stearns: American Cool; Der Begriff »kalte persona« wird bei Lethen entwickelt, vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. 29 Vgl. nur Fritz Giese: Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925. 190

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oder auch sich auf sich selber richtet, eine maskuline Ästhetisierung, die etwa Tom Pendergast im Detail für die Werbung und die men’s magazines in den 1920er und 30er Jahren analysiert hat.30 Diese Ästhetisierung der sichtbaren Oberfläche der Personen, die mit deren Sexualisierung einhergeht, bedeutet zugleich eine riskante affektive Subjektivierung, ein Training in der libidinösen Aufladung von Subjektoberflächen, die der vorgeblichen affektiven Neutralität der nach-bürger-lichen Persönlichkeit widerspricht. Ein zweites Element, das der Entemotionalisierung männlicher Subjektivität entgegensteht, findet sich im Rahmen dessen, was Kevin White den Import der »rough Victorian underworld« in die nachbürgerliche Mittelschichts-Männlichkeit und was Rotundo das seit den 1890er Jahren an Bedeutung gewinnende Modell des masculine primitive nennen.31 Insbesondere ausgehend von anti-bürgerlichen Gegenkulturen um 1900/1920 in Europa und Nordamerika findet eine Diffusion des Musters einer vitalistischen, vorgeblich authentischen Männlichkeit statt, die letztlich auf die Errichtung einer neuen Geschlechterdifferenz ausgerichtet ist. Diese anti-bürgerlichen Gegenkulturen, die teilweise auch Elemente eines proletarischen und subproletarischen Subjekts in sich hinein kopieren, sind Erfindungsorte einer »harten«, körperorientierten, sich selbst naturalisierenden Männlichkeit. Zentral ist hier die Präjudizierung einer massiven, vorgeblich natürlichen Affektorientierung des Mannes, die neben der Hetero-Sexualität vor allem aggressive, »unkultivierte«, auch körperliche Gewalt implizierende Affekte umfasst. Diese erscheinen in der Angestelltenkultur genauso unterdrückt wie es angeblich in der moralisierten bürgerlichen Kultur galt. Es spricht einiges dafür, dass der Sport, vor allem in der amerikanischen Version des Mittelklassen-Wettkampf- und Publikumssports, und die teilweise mit Gewalt agierende Politik im Zeitalter der europäischen Bürgerkriege Praxisfelder sind, in denen im Rahmen der organisierten Moderne dieser

30 Vgl. Tom Pendergast: Creating the Modern Man. American Magazines and Consumer Culture, 1900-1950, Columbia 2000. Vgl. auch Lawrence Birken: Consuming Desire. Sexual Science and the Emergence of a Culture of Abundance, 1871-1914, Ithaca 1988. 31 Vgl. Kevin White: The First Sexual Revolution. The Emergence of Male Heterosexuality in America, New York 1993; Anthony E. Rotundo: American Manhood. Transformations in Masculinity from the Revolution to the Modern Era, New York 1993, S. 222-283; zur militaristischen Männlichkeit der Zwischenkriegszeit vgl. auch Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 2, Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, München, Zürich 2000. 191

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Code des Maskulinismus seinen spielerischen beziehungsweise gewaltsamen Manifestationsort findet.32 In abgeschwächter Form können Elemente der naturalisierten offensiven Maskulinität auch in die als »normal« dekretierte Geschlechterordnung der organisierten Moderne insgesamt eingehen. Männlichkeit schlägt sich dann nicht unbedingt in Aggressivität, wohl aber in besonders ausgeprägter Extroversion nieder, eine Hyperdemonstration jener sozialen Außenorientierung, wie sie die Kultur der organisierten Moderne insgesamt dekretiert. Für die extensive psychologische Thematisierung von Männlichkeit in dieser Phase ist nicht mehr die Annahme eines strikten Dualismus zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, sondern vielmehr eine Differenzmarkierung gegenüber »unmännlichen«, das heißt vor allem introvertiert-empathischen Elementen im männlichen Individuum selber kennzeichnend.33 Die pathologisierte Figur des Homosexuellen als Introvertiert-Invertierter, als durch sensible Emotionalität defizitärer Mann kann dann innerhalb der Geschlechterordnung der technisch-sozialen Moderne ein Objekt systematischer, affektiv heftiger Verwerfung markieren, und zwar in einer Weise, wie es weder für die bürgerliche noch für die postmoderne Kultur kennzeichnend ist.34

32 Neben dem westlichen Amerikanismus liefern der Staatssozialismus und der Faschismus zwei weitere Versionen der Kultur der organisierten Moderne. Für beide ist ebenfalls die Diskreditierung bürgerlicher Emotionalität als Sentimentalismus kennzeichnend, zumindest für den Staatssozialismus auch eine Angleichung von männlichem und weiblichem Habitus, der hier insbesondere in der gemeinsamen Partizipation am Arbeitssektor begründet ist. Zugleich findet sich in beiden die gegenläufige Tendenz eines offensiven Maskulinismus, der sich in der Zelebrierung männlicher Körperlichkeit, wie sie in der Subjektfigur des Arbeiters (auch des Kämpfers) deutlich wird, zeigt. 33 Vgl. als Zeitdokument: Lewis M. Terman/Catherine Cox Miles: Sex and Personality. Studies in Masculinity and Femininity, New York 1936. 34 Vgl. K. White: The First Sexual Revolution, S. 57-79; A. Rotundo: American Manhood, S. 262-279. Anders als manche Tendenzen in den gay and lesbian studies nahe legen, die sich mit der großen Erzählung patriarchaler Unterdrückung in der Moderne verbinden, lässt sich Homosexualität, das heißt gleichgeschlechtliche intime Praktiken und Subjektivierungsweisen, entsprechend nicht als konstantes Objekt einer modernen Repressionsgeschichte interpretieren (welche immer wieder durch »widerständige« Subkulturen konterkariert und in der Postmoderne liberalisiert werde), vielmehr kann man sie als einen seit der frühbürgerlichen Moderne konflikthaften Gegenstand sehr unterschiedlicher, widerstreitender kultureller Modellierungen rekonstruieren. Vgl. zu einer Interpretation der widersprüchlichen Codierung von homosexueller/schwuler Maskulinität beispielhaft nur Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet, Berkeley 1990. 192

UMKÄMPFTE MASKULINITÄT

4. Postmoderne und emotional self Seit den 1970er Jahren lässt sich ein erneuter Bruch der dominanten kulturellen Ordnung bezüglich der affektiven wie geschlechtlichen Subjektivation beobachten. Impulse für diese Transformation gehen wiederum zum einen von den humanwissenschaftlichen Diskursen, insbesondere jenem der Psychologie, zum anderen von den kulturellen Bewegungen, hier der Counter Culture der 1960er und 70er Jahre aus. Der psychologische Diskurs betreibt eine verblüffende Inversion seiner Affektsemantik, eine Umkehrung des Modells des normalen Selbst als sozial angepasstes, möglichst emotionsfreies Subjekt zum Modell des (wiederum geschlechtsindifferenten) normalen Selbst als ein Subjekt des self growth, des Persönlichkeitswachstums, das an prominenter Stelle emotionales Wachstum, emotionale Intelligenz und intersubjektive Empathie einschließt.35 Die Counter Culture kämpft in sehr ähnlicher Richtung gegen die vorgebliche emotionale Verkümmertheit des westlichen Individuums an und strebt – teilweise mit neo-rousseauistischen Konnotationen – nach einer Befreiung vorgeblich unterdrückter Affekte: des Lustprinzips, der ästhetisch-sinnlichen Sensibilität, des ludischen Umgangs mit den Dingen. Das kulturrevolutionäre Programm einer Reemotionalisierung betrifft Frauen wie Männer, aber nicht zufällig erscheint nicht nur in bestimmten Strängen des feministischen Diskurses das weibliche Subjekt angesichts seines bürgerlichen Erbes besser für diese affektpolitische Aufgabe gerüstet, dem männlichen Subjekt wird hingegen ein entsprechender Nachholbedarf zugeschrieben.36 Die Subjektordnung der dominanten postmodernen Kultur seit den 1980er Jahren ist nicht mit der radikalen Counter Culture identisch, aber bezieht aus ihr ausgewählte Elemente. Vor allem in den drei sozialen Felder der Arbeit, der persönlichen Beziehungen und der Freizeit finden sich Indizien für eine grundsätzliche Transformation der Subjektkultur seit den 1970er und 80er Jahren zumindest in den kulturell dominanten westlichen Mittelschichten, welche diese in eine grundsätzliche Differenz zum social character der organisierten Moderne bringt. Elementar für die post- oder spätmoderne Subjektivierungsweise ist die Kombination einer Ästhetisierung, das heißt eines Trainings des Selbst in kreati35 Vgl. Duane Schultz: Growth Psychology. Models of the Healthy Personality, New York 1977. 36 Vgl. Theodore Roszak: The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic Society and Its Youthful Opposition, New York 1969; Raoul Vaneigem: Das Buch der Lüste, Hamburg 1984; Shere Hite: The Hite Report: Women and Love. A Cultural Revolution in Progress, New York 1987. 193

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ven und expressiven Dispositionen, und einer Ökonomisierung, das heißt einer Übung in verallgemeinerten Dispositionen der rationalen Wahl in Marktkonstellationen. Die Auswirkungen auf die Affektkultur der Postmoderne sind erheblich: Wenn die organisierte Moderne im Kern geschlechterübergreifend eine Entemotionalisierung des Subjekts betrieb, dann sind die postmodernen Praktiken und Diskurse auf eine – allerdings wiederum rational kontrollierte und entsprechend moderierte – (Re-)Emotionalisierung des Subjekts aus, und zwar in universalisierender Tendenz adressiert an Individuen aller Geschlechter, Milieus, Ethnien und sexueller Orientierungen. Emotionale Intelligenz und sinnliche Erlebnisfähigkeit werden in diesem Kontext zu zentralen allgemeinen Anforderungen an ein kompetentes postmodernes Individuum. So setzen postmoderne Arbeitspraktiken in der Team- und Projektarbeit gerade keinen rein rationalen Akteur voraus – der eher als Negativbild fungiert –, sondern subjektiven Enthusiasmus und jene spielerische Sensibilität, welche für sogenannte kreative Prozesse nötig scheinen. So präjudiziert das, was man das Modell der spätmodernen pure relationship (Giddens) nennen kann, entsprechende empathische, emotionsbewusste Dispositionen der Partner. Dem postmodernen Freizeit- und Konsumbereich liegt analog eine Erlebnisorientierung, das heißt eine ästhetischsinnliche Sensibilisierung der Konsumenten zugrunde.37 Diese postmoderne (Re-)Emotionalisierung gilt für das weibliche wie das männliche Subjekt, sie schließt erneut ein degendering ein, jedoch im Vergleich zur organisierten Moderne auf ein konträres Ziel gerichtet. Die emotionale Subjektivierung des postmodernen Selbst, des emotional self, bleibt dabei allerdings auf ganz bestimmte als konstruktiv und produktiv wahrgenommene Emotionen beschränkt. Es geht gerade nicht um eine grenzenlose Befreiung der Affekte – ein Projekt, wie man es teilweise in den Gegenkulturen finden konnte –, sondern um eine Entwicklung von emotional sensibilisierenden Technologien des Selbst, welche sowohl intersubjektive Relationen als auch das Selbstverhältnis betreffen: es sind jene Emotionen zu kultivieren, welche die Kommunikation in der Privat- und Arbeitssphäre erleichtern, die der Selbstexpression und der ästhetischen Sensibilisierung dienen, ohne dass zwischen

37 Vgl. die detaillierte empirische Analyse zur postmodernen Emotionskultur in D. Lupton, The Emotional Self; daneben bereits Daniel Yankelovich: New Rules. Searching for Self-Fulfillment in a World Turned Upside Down, New York 1981. Vgl. zur Emotionalität der postmodenen Intimsphäre Anthony Giddens: The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies, Cambridge 1993; Francesca M. Cancian: Love in America. Gender and Self-Development, Cambridge 1987, S. 105-133. 194

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weiblichen und männlichen Subjekten hier ein Unterschied angenommen wird.38 Umgekehrt ist der unkontrollierte Affekt, namentlich wenn er sich in körperlicher – oder auch psychischer – Gewalt niederschlägt, nun eine Zielscheibe heftigster Abgrenzung: der gewaltsame »Täter« – der in der Regel ein männlicher ist – markiert den Antipoden zur sensibilisierten Emotionalität des postmodernen Selbst.39 Allerdings enthält auch die postmoderne Kultur ihre konterkarierenden Elemente: Jene Bewegung vitalistischer, authentizitätsorientierter Männlichkeit mit ihrer Erfindung des tough guy, die sich seit dem Beginn des 20. Jahrhundert festmachen ließ, verlängert sich in die Postmoderne hinein und fordert immer wieder die Befreiung einer vorgeblich maskulinen Affektivität ein. Einen prominenten Ausdruck findet sie in der »mythopoetischen Männerbewegung« in den USA seit den 1980er Jahren, aber auch in jugendlichen Subkulturen wie der maskulinistischen Hiphop-Kultur, in denen auch jener verworfene gewaltsame Täter zum Gegenstand der Zelebrierung wird.40 Insofern findet in der postmodernen Gegenwartskultur ein Widerstreit zwischen hegemonialem degendering und anti-hegemonialem regendering des Subjekts im Allgemeinen und seiner Emotionalität im Besonderen statt, die beide aber gemeinsam haben, dass sie offensiv nicht auf eine umfassende Rationalisierung des Subjekts, sondern in konträrer Weise auf seine affektive Modellierung setzen. In der langfristigen Perspektive stellt sich die Genealogie der Affekte und Geschlechter in der Kultur der Moderne damit als eine diskontinuierliche Transformation mehrerer einander widersprechender und miteinander konfligierender kultureller Formationen dar, die in kein lineares Muster eines Modernisierungsprozesses zu pressen ist: Am Beginn steht das fragile Projekt einer Integration von Reflexivisierung und moderat-empfindsamer Emotionalisierung im Innern des bürgerlichen – weiblichen wie männlichen – Selbst. Innerhalb der bürgerlichen Kultur

38 Vgl. zur Ausbildung einer entsprechend flexibilisierten und emotionskompetenten Männlichkeit in der jüngeren Generation Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen 1998, S. 246-262. Vgl. zur Programmatik einer entsprechenden neuen Männlichkeit Victor J. Seidler: Man Enough, London 1997. 39 Vgl. Klaus R. Scherpe/Thomas Weitin: Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, Tübingen, Basel 2003; vgl. auch der entsprechende Diskurs über die gehandicapte Unterschichts-Männlichkeit: Susan Faludi: Männer – das betrogene Geschlecht, Reinbek 2001. 40 Vgl. R. Connell: Masculinities, S. 204ff; Charise Cheney: Brothers Gonna Work It Out: Sexual Politics in the Golden Age of Rap Nationalism, New York 2005. 195

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wird diese Integrationsleistung instabil und es folgt eine antagonistische Differenzierung von männlichen und weiblichen Subjektformen, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Opposition von Rationalität und Emotionalität etabliert wird. Die resolute Vergeschlechtlichung des bürgerlichen 19. Jahrhunderts kehrt sich in der organisierten Moderne in eine systematische Entgeschlechtlichung des Subjekts um, die dieses zugleich entemotionalisiert. Diese Kombination von degendering und Ent-emotionalisierung kippt in der Postmoderne in eine Synthese des degendering mit einer neuen moderaten Emotionalität um – die in gewisser Weise die frühe Bürgerlichkeit zitiert –, wobei als Gegenbewegung gegen die Entgeschlechtlichung sowohl in der organisierten als auch der Postmoderne ein vitalistischer Maskulinismus auf der Bühne erscheint. Anstelle der Modelle einer linearen Modernisierung oder einer Repressionsgeschichte stellen sich die affektive und die geschlechtliche Formierung des modernen Selbst damit als Zielscheibe immer neuer Kulturkonflikte dar. Affekte wie Geschlechtspositionen werden in ihrem Rahmen einerseits in immer anderer Weise reformiert und revolutioniert und zugleich werden für sie immer wieder neue »natürliche Grundlagen« konstruiert – die im nächsten Schritt wiederum zu Gegenständen kultureller Dekonstruktion avancieren. In ihrer Modellierung von Affektivitäten und von Geschlechtern verwandelt die Moderne das scheinbar Natürliche und Unverfügbare in einen kontingenten, der aktiven Gestaltung zugänglichen Gegenstand kultureller Diskurse und Strategien; zugleich präsentiert sie innerhalb dieser Diskurse und Strategien Affekte und Geschlechter immer wieder als das Natürliche und Unverfügbare. Die gemeinsame Grundlage der charakteristisch modernen Kämpfe um Affekte und Geschlechter lautet, dass diese Inszenierungsorte des Natürlichen und der reformistisch-revolutionären Erziehung zugleich bilden.

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Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerlichkeit als h ybride Subjektkultur Wie bürgerlich ist die Moderne? Wie bürgerlich ist die Postmoderne? Und in welchen Hinsichten sind Moderne und Postmoderne strukturell und kulturell nicht-bürgerlich? Seit der Jahrtausendwende hat die öffentliche Debatte in Deutschland ein verblüffendes erneuertes Interesse an der Frage der Bürgerlichkeit demonstriert.1 Bürgerlichkeit erscheint in diesem Zusammenhang häufig weniger als ein Faktum denn ein schillerndes, mehrdeutiges Desiderat: Angeblich fehlt sie der postmodernen, »entbürgerlichten« Gesellschaft und ist zu revitalisieren – der bürgerliche Familiensinn und die Selbständigkeit, das Interesse an Bildung und kulturellem Kapital, an Manieren und bürgerschaftlichem Engagement. Zugleich meinen Zeitdiagnostiker, Elemente einer solchen »Neuen Bürgerlichkeit« bereits wahrzunehmen, sie in den kulturellen Eliten der Berliner Republik festmachen zu können. Die Kehrseite dieser Diagnose bildet die zeitgenössische Konstatierung einer neuen entkleinbürgerlichten und weitgehend gesellschaftlich exkludierten Unterschicht.2 Charakteristischerweise ist Bürgerlichkeit in diesem Kontext weniger ein so1

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Vgl. etwa Joachim Fest/Wolf Jobst Siedler/Frank André Meyer: Der lange Abschied vom Bürgertum, Berlin 2005; Alexander Cammann: »Auf der Suche nach dem Bürger. Ein aktueller Literaturbericht«, in: Vorgänge 44 (2005), S. 94-104; Paul Nolte: Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München 2006. Vgl. Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn 2004; Fabian Kessl/Christian Reutlinger/Holger Ziegler (Hg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ›neue Unterschicht‹, Wiesbaden 2007. Ein soziologischer Vorläufer dieser Debatte, die vor allem eine Kulturalisierung der Unterschicht betreibt, in einem anderen Kontext ist die Diskussion um eine culture of poverty, vgl. Oscar Lewis: »The culture of poverty«, in: George Gmelch/Walter Zenner (Hg.), Urban Life: Readings in Urban Anthropology, Prospect Heights 1996, S. 393-404. 197

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zialstruktureller Begriff, wie der des Bürgertums, als ein kultureller: es geht um Bürgerlichkeit als Habitus und Lebensstil. Für die Gesellschaftswissenschaften ist dieses Interesse am Bürgerlichen alles andere als neu. Die deutsche und in gewissem Umfang auch die angelsächsische und französische Geschichtswissenschaft pflegt seit den 1970er Jahren eine intensivierte sowohl sozial- als auch kulturhistorische, eine kritische wie nostalgische Auseinandersetzung mit Bürgertum und Bürgerlichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts, mit dem bürgerlichen Zeitalter und seinen sozialen wie alltagskulturellen Voraussetzungen.3 Die Soziologie wiederum, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst im Zeichen der These einer »nivellierten Mittelschichtsgesellschaft« und anschließend der Diagnose einer ästhetisierten Postmoderne dem Bürgerlichen ihre Aufmerksamkeit entzogen zu haben schien, hatte diese umso intensiver zu Beginn des 20.Jahrhunderts thematisiert. Die deutsche Historische Soziologie (und Wirtschaftswissenschaft) um Max Weber, Werner Sombart, Joseph Schumpeter, Franz Borkenau und Bernhard Groethuysen unterzog Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft als Grundprinzipien der klassischen Moderne einer skrupulösen Analyse,4 bevor diese einem »formal-rationalen« und »massengesellschaftlichen« Nachfolgemodell Platz machten.

S o z i o l o g i s c h e N a r r a t i ve d e r K o n t i n u i t ä t u n d Diskontinuität des Bürgerlichen Die aktuelle Diskussion um Spuren und Desiderata des Bürgerlichen in der Gegenwartsgesellschaft lässt sich damit in den breiteren Kontext der gesellschafts- und kulturtheoretischen Reflexion der Moderne einbetten. Ist die moderne Gesellschaft eine bürgerliche? War sie zunächst bürgerlich und ist es mittlerweile nicht mehr? Die Frage nach dem Ort des 3

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Vgl. nur Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987; Peter Lundgreen (Hg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000; Philippe Ariès/Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3 und 4, Frankfurt a.M. 1991/1994; Peter Earle: The Making of the English Middle Class. Business, Society and Family Life in London 1660-1730, Berkeley 1989; Leonore Davidoff/ Catherine Hall: Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class 1780-1850, London 1987. Vgl. Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München, Leipzig 1913; Bernard Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Halle/Saale 1927/1930; Joseph Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1950; Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1973.

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Bürgerlichen in der Moderne ist eine grundsätzliche Frage an das Narrativ, das der soziologische Diskurs entwickelt, um seinen elementaren Gegenstand, die »Moderne«, auf den Begriff zu bringen. Der soziologische Diskurs arbeitet von den Klassikern des 19. Jahrhunderts bis zu den aktuellen Autoren der Postmoderne oder der Reflexiven Modernisierung grundsätzlich mit Mustern der Temporalisierung von Gesellschaftsentwicklung in Stufen oder Perioden, sie bringt daher sehr spezifische Muster der Narration zum Einsatz, von soziologischen »grand récits« (Lyotard).5 Was den Status von Bürgerlichkeit, Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft innerhalb des soziologischen Diskurses der Moderne angeht, bietet dieser zunächst zwei konträre Varianten: die Narration der basalen Kontinuität des Bürgerlichen und die der grundsätzlichen Diskontinuität mit dem Bürgerlichen. Der Narration einer basalen Kontinuität zufolge besitzt die Moderne in ihrer historischen Genese eine bürgerliche Struktur und behält diese trotz aller Variationen und oberflächlichen Veränderungen bei. Moderne und bürgerliche Gesellschaft sind damit identische Phänomene. Eine frühe Variante dieser Erzählung findet sich im Umkreis der britischen Politischen Ökonomie und ihrer Vorläufer im 18. Jahrhundert bei Autoren wie Locke, Mandeville, Ferguson oder Adam Smith und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die moderne Gesellschaft selber noch ein neuartiges, post-feudales und säkulares Phänomen darstellt. Ihren wirkungsmächtigsten gesellschaftstheoretischen Vertreter findet diese Perspektive im 19. Jahrhundert in Marx’ Identifikation der modernen mit der kapitalistischen und dieser – Hegels klassische Diskussion verarbeitend6 í mit der bürgerlichen Gesellschaft: Die bürgerliche Gesellschaft ist eine des generalisierten Tauschwertes, das Bürgertum die Klasse der Besitzer von Produktionsmitteln, welche die Arbeitskraft anderer benutzt, und die Kultur der Bürgerlichkeit, insbesondere das Ethos der Leistung, ein Merkmal dieser Klasse. Neomarxistische Theoretiker bis zur Gegenwart können deshalb davon ausgehen, dass auch die kapitalistische Gegenwartsgesellschaft im verborgenen – oder in Zeiten des globalisierten Neoliberalismus gar nicht mehr derart verborgenen í Kern eine bürgerliche ist, die auf den entsprechenden Strukturmerkmalen von Privateigentum, dem Anbieten und Nachfragen von »freier« Arbeitskraft auf dem Markt, Kapitalakkumulation, aber auch entsprechenden bürger-

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Vgl. zum Diskurs der Moderne Peter Wagner: Theorizing Modernity: Inescapability and Attainability in Social Theory, London 2001. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Die bürgerliche Gesellschaft«, in: ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a.M. 1986, §§ 182-256. 199

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lichen Strukturen von Recht und Staatlichkeit sowie einer Vermarktlichung aller Lebensbereiche aufbaut.7 Neben dieser expliziten Kontinuitätsthese in der Tradition des Marxismus findet sich eine implizite Kontinuitätsthese in der Tradition soziologischer Modernisierungstheorien, wie sie sich klassisch bei Talcott Parsons manifestiert. Zwar spielt hier der Begriff des Bürgerlichen (im Englischen ohnehin jenseits des marxistisch-ökonomisch konnotierten bourgeois ein begriffliches Problem) keine prominente Rolle mehr. Aber es wird kein Zweifel daran gelassen, dass die westliche Moderne mit bestimmten bürgerlichen Errungenschaften im 17. und 18. Jahrhundert einsetzt und mit diesen zu identifizieren ist, mit den vorgeblich »evolutionären Universalien« der Marktgesellschaft, des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie, der Kleinfamilie, dem institutionalisierten Bildungssystem und der Wissenschaft, schließlich der gesamten Umstellung der Kultur von ascribed- auf achieved-Merkmale, das heißt von Herkunft auf Leistung.8 Diese Struktureigenschaften scheinen als grundlegende Formen bis zur Gegenwart identisch. Insofern ist in dieser Version von Modernisierungstheorien implizit die These einer Kontinuität bürgerlicher Merkmale vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart enthalten. Sie entspricht auch der im Westen gängigen liberalen (»Whiggish«) Historiografie,9 die mit den bürgerlichen politischen Revolutionen, der post-feudalen Marktrevolution und der aufklärerischen Bildungsrevolution den eigentlichen historischen Bruch der »fortschrittlichen« Moderne markiert, welcher bis zur Gegenwart fundamental und unüberholt bleibe. Diese Vorstellung der bürgerlichen Moderne als einem »Ende der Geschichte« (Kojève), einer letzten und unüberschreitbaren historischen Phase, welche diese selbst aufhebt, entspricht genau

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Vgl. zu einer solchen marxistischen Lesart der kapitalistisch-bürgerlichen Moderne nur Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem II: Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750, Wien 1998 und neuerdings Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, Cambridge (Mass.) 2000. Vgl. Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972. Ich würde auch die These von Joachim Fischer bezüglich der westlichen Moderne als konstant bürgerlicher Gesellschaft in den Kontext einer solchen modernisierungstheoretischen Soziologie einordnen, die sich des bürgerlichen Charakters ihrer »evolutionären Universalien« westlicher Moderne wieder bewusst wird. Vgl. Joachim Fischer: »Bürgerliche Gesellschaft. Zur historischen Soziologie der Gegenwartsgesellschaft«, in: Clemens Albrecht (Hg.), Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Würzburg 2004, S. 97-118. Vgl. als klassisches Beispiel einer solchen »Whig«-Historiografie in Bezug auf die englische Geschichte: Thomas Macaulay: The History of England from the Accession of James II, 5 Bde., London 1849-1861.

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dem bürgerlichen Fortschrittsoptimismus und kritischen Universalismus des 18. Jahrhunderts.10 Der Kontinuitäts- steht innerhalb des soziologischen Diskurses eine explizite oder implizite Diskontinuitätsthese bezüglich des Bürgerlichen gegenüber. Dieser zufolge lässt sich ein grundsätzlicher Bruch zwischen der bürgerlichen Gesellschaft des 18./19. Jahrhunderts und der Gesellschaftsformation des 20. Jahrhunderts markieren, die in ihren Grundzügen ein nach-bürgerliches Phänomen ist und von manchen als Periode eigentlicher Modernität wahrgenommen wird. Aktuelle Versionen dieser Diskontinuitätsthese finden sich im Umkreis der Theorien der Hochmoderne oder Postmoderne: In der Theorie reflexiver Modernisierung wird etwa ein grundsätzlicher Bruch zwischen erster und zweiter Moderne – letztere setzt in den 1970er Jahren an – postuliert, und zwar auf institutioneller wie kultureller Ebene.11 In eine ähnliche Richtung gehen Theorien der Postmoderne: Ob die Postmoderne nun als eine neue Phase innerhalb der Moderne oder als ihre komplette Überwindung gedacht wird, immer wird der Bruch mit ihrer bürgerlichen Vorgeschichte vorausgesetzt. Dann lassen sich etwa, wie Zygmunt Bauman es vorführt, der bürgerliche Produzent und der postmoderne Konsument, die bürgerliche Moralisierung und der postmoderne Hedonismus, die bürgerliche Hochkultur und die postmoderne Hegemonie des Populären, die bürgerliche Ordnungsorientierung und die postmoderne Orientierung an Spiel und Experiment einander gegenüberstellen.12 Die Diskontinuitätsthese setzt jedoch schon früher an. Bereits die Theorien der Industrie- und Massengesellschaft, welche die Soziologie zwischen 1920 und 1970 hervorgebracht hat, markieren einen Bruch gegenüber der »alten« bürgerlichen Gesellschaft und Kultur. Diese wird – im Westen wie im Osten – durch ein rationalisiertes, technisiertes und kollektiviertes Nachfolgemodell abgelöst. Erst die nach-bürgerliche Gesellschaft scheint hier die eigentlich moderne zu sein: ihre Dominanz der Technologie als eigendynamische Kraft, ihre Erosion bürgerlicher Moral, ihre Subjektmodelle des »Angestellten« beziehungsweise des »Arbeiters« in der Großorganisation anstelle des bürgerlichen Selbständigen, ihre medial vermittelte Massendemokratie anstelle der bürgerlichen Öffentlichkeit, ihr Umschlagen der Innenorientierung des bürgerli10 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1992. 11 Vgl. Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996. 12 Vgl. Zygmunt Bauman: Liquid Modernity, Cambridge 2000. Auch etwa Scott Lash/John Urry: The End of Organized Capitalism, Cambridge 1987. 201

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chen Über-Ichs in eine Außenorientierung des sozialen me in der nachbürgerlichen peer society, auch ihre vollständige Verdrängung des aristokratischen Elements, das in der bürgerlichen Kultur noch immer auf widersprüchliche Weise enthalten war. Panajotis Kondylis bringt diese Diagnose in Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform auf den Punkt, indem er die Postmoderne konsequenterweise bereits um 1900 beginnen lässt: Kennzeichnend ist hier ein Bruch zu einer nachbürgerlichen Lebensform, die er insbesondere mit der Ablösung einer ordnungsorientierten und invidualistischen, »synthetisch-harmonisierenden« Kultur durch eine Massendemokratie identifiziert.13 Ich möchte nun weder eine erneuerte Version der Kontinuitäts- noch der Diskontinuitätsthese vertreten. Beide gehen nämlich übereinstimmend von der Grundannahme aus, dass gesellschaftliche Strukturen entweder gänzlich die gleichen bleiben oder einander vollständig ablösen. In einem ersten Zugriff stellt sich die Diskontinuitätsperspektive gegenüber jener der Kontinuität sicherlich als aufschlussreicher dar:14 Sie sitzt gerade nicht der klassisch bürgerlich-modernen Teilnehmerperspektive auf, die ihren eigenen sehr partikularen und höchst voraussetzungsreichen Standort zur evolutionären Universalie verallgemeinert, eine Universalisierungstendenz, die der Marxismus als »feindlicher Bruder« der bürgerlichen Philosophie mit dieser teilt. Stattdessen nimmt sie in ihrer Fokussierung auf historische Brüche, die sich nicht in das Muster eines intelligiblen historischen Fortschritts pressen lassen, eine distanzierte Beobachterperspektive ein, welche dem Entwicklungsnarrativ entgeht. Allerdings stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass die Diskontinuitätsperspektive modernistischer bleibt, als sie es sich eingesteht. Auch hier geht es um eindeutige Strukturbrüche, nur werden sie nicht mehr für den Umschlagspunkt von der traditionalen zur modernen Gesellschaft allein reserviert. Eine Alternative bestünde darin, sich in einer – auf ihre Weise »postmodernen« í Perspektive zu schulen, welche sowohl Brüche wahrnimmt als auch die Spuren und Wiederaufnahmen des Vergangenen im Gegenwärtigen: in diesem Fall die Diskontinuitäten zwischen bürgerlicher und nach-bürgerlicher Kultur und die

13 Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991. In Bezug auf die Transformation des Subjekts wird der Bruch in Richtung einer nach-bürgerlichen Kultur am deutlichsten in Riesmans The Lonely Crowd (1949) diagnostiziert. 14 Vgl. klassisch für eine Historiografie der Diskontinuitäten: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1991. 202

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parallel dazu stattfindenden Rückgriffe auf Merkmale des Bürgerlichen im scheinbar Nach-Bürgerlichen. Ich möchte das Problem des Ortes der Bürgerlichkeit in der Moderne dabei von vornherein auf ein spezifisches Problem eingrenzen: Auf die Frage, inwiefern das moderne Subjekt, das heißt die moderne Kultur des Selbst und die sie tragenden alltäglichen Praktiken, bürgerlich sind und was eine solche bürgerliche Subjektivität bedeutet. Das Subjekt ist hier nicht im Sinne eines autonomen, vorsozialen Wesens – also genau als das, was die bürgerliche, sich selbst universalisierende Philosophie unter diesem begriff15 –, sondern als Produkt dessen zu verstehen, was Michel Foucault den Prozess der Subjektivierung, die kulturelle Formung von Körper und Psyche und was Pierre Bourdieu den Träger eines kulturellen Habitus nennt. Die Formierung – oder um es in Nietzsches Drastik zu formulieren: die Heranzüchtung í eines ihr entsprechenden Menschentypus stellt sich für die Kultur der Moderne durchgängig als ein zentrales Problem dar, und das Problem, was diese charakteristisch modernen Dispositionen, Affektstrukturen und Identitätsmuster in ihrer Konstanz oder Transformation ausmachen, ist von Max Weber über Adorno und Riesman bis zu Foucault oder Bauman immer wieder eine elementare soziologische Fragestellung gewesen.16 Was die Rolle des Bürgerlichen im Rahmen der Struktur und Transformation der Subjektformen in der Kultur der Moderne angeht, möchte ich zwei Thesen entwickeln: 1) Die klassische bürgerliche Subjektkultur in der Entstehungsphase der Moderne, das heißt im 18. und 19. Jahrhundert, ist nicht als eine homogene Kultur zu verstehen, sondern als ein hybrides Arrangement unterschiedlicher kultureller Versatzstücke, verschiedener Sinnmuster und Codes, die in ihrer widersprüchlichen Kombination »Bürgerlichkeit« ausmachen. Gegen eine gängige homogenisierende Selbstrepräsentation wie gegen eine verbreitete quasi-strukturalistische historisch-soziologische Lesart ist das bürgerliche Selbst nicht als eine einheitliche Figur zu begreifen, und die Aufgabe der Kultursoziologie besteht darin, diesen spezifischen Montagecharakter klassischer Bürgerlichkeit zu dechiffrieren. Es ist insbesondere die Moralisierung des bürgerlichen Selbst einerseits, sein Training in souveräner Selbstregierung andererseits, die sich hier in einem Spannungszustand zueinander befinden. 2) Erst wenn dieser hybride Charakter von Bürgerlichkeit zwischen Moralität und Souveränität deutlich wird, lässt sich die Bürgerlichkeit oder 15 Vgl. Brigitte Kible u.a.: »Subjekt«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel, Stuttgart 1998, S. 373-400. 16 Vgl. A. Reckwitz: Subjekt. 203

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Nicht-Bürgerlichkeit der modernen Kultur nach den 1920er Jahren dechiffrieren. Ich gehe dabei von der Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Postmoderne als drei historisch aufeinander folgenden kulturellen Formationen der Moderne aus. Tatsächlich stellen sich die leitenden Subjektformen der »kollektivistischen« organisierten Moderne und der ästhetisch-expressiven Postmoderne zunächst als nach-bürgerlich dar. Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass sowohl in der organisierten Moderne als auch in der Postmoderne bestimmte – und zwar jeweils konträre í Sinnmuster des Bürgerlichen wiederaufgenommen werden: die bürgerliche (vormals moralisch konnotierte) Ordnungsorientierung in der technisch-sozialen Ordnungsorientierung der organisierten Moderne, die souveräne Selbstregierung bürgerlicher Subjektivität in der Postmoderne.

Die Doppelstruktur der Bürgerlichkeit: Moralisierung und Selbstregierung Bürgerlichkeit ist zunächst nicht zu universalisieren, sondern strikt zu historisieren, als ein hochspezifisches Ensemble von sozialen Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsformen und Subjekt-Artefakt-Konstellationen, die sich in der Frühen Neuzeit insbesondere in städtischen Zentren Westeuropas zu einem bürgerlichen Muster verdichten.17 Bürgerlichkeit als ein solches kulturelles Muster verbreitet sich in England am Ende des 17. Jahrhunderts, in Frankreich und Deutschland im Laufe des 18. Jahrhunderts zunächst in eng umzirkelten gesellschaftlichen Milieus, dem Bürgertum, und erhebt über zugehörige Diskurse, etwa moralischer oder politischer Art, den Anspruch, »den« eigentlich modernen Menschen zu repräsentieren. Es sind vor allem drei Komplexe von Praktiken, in denen diese bürgerliche Subjektivation stattfindet und proklamiert wird: Zunächst sind die Praktiken der Arbeit zu nennen. Das bürgerliche Subjekt formt sich im Bereich des Handels, der freien Berufe wie auch im staatlichen Bildungsbürgertum als ein arbeitendes Subjekt, als ein Berufssubjekt, das

17 Vgl. zu einem praxeologischen Verständnis des Bürgerlichen im Unterschied zu einem sozialstrukturellen oder ideenhistorischen Konzept Wolfgang Kaschuba: »Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800 – Kultur als symbolische Praxis«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1988, Bd. 3, S. 9-44; sowie die Analysen in Philippe Ariès/Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Frankfurt a.M. 1989-93. Vgl. zum Folgenden im Detail A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 2.1, 2.3. 204

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entsprechende Kompetenzen von der Selbständigkeit über die körperliche und zeitliche Selbstdisziplinierung und die Anwendung von Wissen bis zur Risikokalkulation erwirbt. Es findet seine Identität wesentlich über Arbeit und Beruf als selbständige, wissensgestützte Tätigkeiten.18 Der zweite für die Bürgerlichkeit konstitutive Komplex von Praktiken ist jener privater und familiärer Beziehungen: Das bürgerliche Subjekt, das männliche wie das weibliche, formt sich als ein intimes Selbst, als eines, das dezidiert persönliche Beziehungen entwickelt und auf Dauer stellt. Zentral sind hier der Modus der Beziehungswahl und die Affektkultur der Empfindsamkeit sowie die Interaktionsformen der Freundschaft, der Ehe als exklusiver Intimbeziehung und der Familie.19 Als dritter charakteristischer Komplex innerhalb der bürgerlichen Lebensform lassen sich die Bildungspraktiken identifizieren, vor allem im Rahmen des Umgangs mit der Technologie der Schrift und des Buchdrucks, die sich als spezifisch bürgerliche Technologien des Selbst darstellen. Dieser Umgang mit der Schriftkultur trainiert das Subjekt in einer sowohl kognitiv-reflexiven als auch moralischen und emotionalen Innenorientierung, und praktische Gebildetheit erweist sich als notwendige Voraussetzung des bürgerlichen »Charakters«.20 Praktiken der Arbeit, der persönlichen Beziehungen und der Schriftkultur machen damit den Kern einer bürgerlichen Lebensform aus. Deren Identität verläuft zugleich über eine symbolische Grenzmarkierung nach außen: zum einen gegenüber dem Aristokraten und der höfischen Gesellschaft; zum anderen gegenüber dem populären Dritten Stand und seiner Volkskultur. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verschiebt sich diese Abgrenzung zum Proletarier und zudem zum »Primitiven« außerhalb Europas. Was sind nun die allgemeinen kulturellen Muster des Bürgerlichen, die in diesen konkreten Feldern der Arbeit, der persönlichen Beziehungen und der Bildung zum Ausdruck kommen? Was ist der bürgerliche »Subjektcode«? Nicht ein, sondern mindestens zwei Sinnmuster in ihrer

18 Vgl. Werner Conze: »Arbeit«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, S. 154-215; Herbert Applebaum: The Concept of Work. Ancient, Medieval, and Modern, New York 1992, S. 339-407; Paul Langford: A Polite and Commercial People. England 1727-1783, Oxford 1989. 19 Vgl. L. Davidoff/C. Hall: Family Fortunes; Anne-Charlott Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2000, S. 365-392. 20 Vgl. Pia Schmid: Zeit des Lesens í Zeit des Fühlens. Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums, Berlin 1985. 205

SUBJEKTFORMEN

Janusköpfigkeit stellen sich als konstitutiv für das Bürgerliche heraus: Das eine richtet Bürgerlichkeit an Moralität aus und betreibt durchgängig eine Moralisierung des Subjekts, deren Kehrseite die Abgrenzung von der Amoral ist, wie man sie in der Aristokratie, in anderer Weise auch im Dritten Stand und im Proletariat wittert. Das zweite Sinnmuster orientiert Bürgerlichkeit an Souveränität und Selbstregierung und versucht eine kulturelle Produktion von selbständig-reflexiven Subjekten. Diese Identität beruht auf der Differenzmarkierung gegenüber einem unsouveränen, fremdbestimmten, abhängigen Menschen, wie er wiederum vor allem im Dritten Stand ausgemacht wird. Dass das Subjekt über seine Moralisierung zu einem bürgerlichen werden soll – ein Prozess, der in einem klassisch soziologischen Kontext Gegenstand von Webers Analyse der bürgerlichen Askese in Bezug auf den Beruf und der Prämierung von Arbeit auf Kosten von Konsum ist –, wird sehr deutlich in der bürgerlichen Differenzmarkierung zur aristokratischen Kultur.21 Die bürgerliche Abgrenzung gilt der Amoralität des Adels. Dieser Kampf gegen die Amoralität lässt sich in drei Komponenten auffächern: in die Abgrenzung gegen das Exzessive, das Artifizielle und das Parasitäre. Bürgerlichkeit verwirft die amoralische Tendenz zum Exzessiven, das heißt die Neigung zur Maßlosigkeit und Übersteigerung – ob im Konsum oder in der Sexualität, im Müßiggang oder Körperschmuck í und prämiert umgekehrt die Regelkonformität und Mäßigung, die Askese und Disziplin. Bürgerlichkeit grenzt sich zweitens ab von der Amoralität des Artifiziellen, das heißt von der Künstlichkeit eines Selbst, das unnatürlich, gespielt und unecht ist. Drittens schließlich wird Amoralität als Parasitäres, das heißt als Nicht-Zweckvolles festgemacht: Die bürgerliche Differenzmarkierung gilt hier einer Kultur, die Selbstgenügsamkeit und Nutzlosigkeit fördert; Bürgerlichkeit setzt ein Trainingsprogamm des Subjekts in generalisierter Zweckorientierung im Rahmen eines zweckvollen Universums entgegen. Die Moralisierung des bürgerlichen Subjekts kann dann als Internalisierung eines Kosmos von moralischen Regeln mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit verstanden werden: Als moralisches ist das bürgerliche Selbst eines, das sich in der Aufrechterhaltung einer Ordnung in sich und seiner Umwelt übt. Die Moralisierung im Sinne einer Erziehung zum disziplinierten Ordnungssinn kreuzt alle bürgerlichen Praxisfelder: die Disziplinierung und Askese im Beruf, die Moralität von Ehe und 21 Vgl. Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (16801815), Göttingen 1996; Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968; P. Langford: A Polite and Commercial People. 206

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Familie, schließlich der Charakter der Bildung als ein Training in moralischer Selbstbeobachtung und im Erwerb zweckvollen Wissens. Die bürgerliche Subjektivierungsweise erschöpft sich nun jedoch nicht in Moralisierung. Das zweite Element, das für sie grundlegend bleibt, ist die »Selbstregierung« des Subjekts, seine Souveränität und Binnenreflexivität. Im bürgerlichen Modell sind beide Elemente untrennbar miteinander verbunden, tatsächlich aber stellt sich das kulturelle Muster der Souveränität als ein irreduzibles Element von Bürgerlichkeit heraus, dessen uneindeutiges Verhältnis zur Moralität gerade Probleme aufwirft. Wiederum wird gerade in der Abgrenzung die Relevanz der Souveränitätsorientierung des bürgerlichen Selbst am deutlichsten. Die bürgerliche Distinktion gilt der unsouveränen Unreflektiertheit und Abhängigkeit eines Subjekts, das sich nicht von seinen unmittelbaren Lebensumständen zu distanzieren versteht und dem damit auch nicht die scheinbar mühelose Steuerung seiner selbst und anderer gelingt, eine Unsouveränität, die vor allem dem alten Dritten Stand zugeschrieben wird. Demgegenüber entwickelt die bürgerliche Kultur eine Reihe von Schlüsselpraktiken, die in souveräner Selbstregierung üben, in einer Selbständigkeit und Autonomie, die sich konkret in Figuren wie dem bürgerlichen self-made man, dem Intellektuellen oder dem citoyen äußern: Praktiken der gewandten Kommunikation, der geschliffenen Regulierung des Körpers, der Entscheidungsfindung und mentalen Reflexion oder der kompetenten Psychologisierung. Diese Souveränitätsorientierung manifestiert sich wiederum in der ganzen Bandbreite bürgerlicher Praktiken: der Eigenständigkeit des bürgerlichen Homo oeconomicus mit seinem Interessensmanagement, der autonomen Beziehungswahl anstelle der Beziehungsvorgabe im Bereich des Privaten, der Reflexivität und Offenheit eines eigenständigen Bildungsprozesses.22 Die Kultur der Bürgerlichkeit und ihre entsprechende Subjektivierungsform sind damit an einem Doppelhorizont von Moralität und Selbstregierung orientiert. Moralität und Selbstregierung erweisen sich jedoch als unterschiedlich, ja widersprüchlich ausgerichtet: Die Moralisierung und ihre Distinktion vom Exzessiven, Parasitären und Artifiziellen geht von einer basalen Ordnung, einer Geordnetheit menschlicher

22 Vgl. etwa zu den Kommunikationspraktiken Dieter A. Berger: Die Konversationskunst in England, 1660-1740. Ein Sprechphänomen und seine literarische Gestaltung, München 1978; zu den Körperpraktiken Kirsten O. Frieling: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800, Frankfurt a.M. 2003; und zur Interessenssemantik Albert Otto Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a.M. 1987. 207

SUBJEKTFORMEN

Verhältnisse aus. Die Orientierung an allgemeingültigen, transparenten Regeln ist ihre ideale Konstellation. Der wohlvertraute bürgerliche Ordnungssinn und die Abgrenzung gegen die Unordnung als das Amoralische haben hier ihren Ursprung. Demgegenüber gehen die Elemente einer bürgerlichen Kultur der Souveränität und Selbstregierung davon aus, dass Handeln unter Bedingungen von Ungewissheit stattfindet und damit letztlich nicht dem Modus der Orientierung an allgemeinen Regeln folgen kann. Für eine post-feudale Kultur ist damit gerade kennzeichnend, dass sie sich systematisch auf Bedingungen der Ungewissheit einlässt: in der Riskanz des Handelns auf einem ökonomischen Markt, in der Riskanz der Beziehungswahl, schließlich der Unberechenbarkeit reflexiver Bildungsprozesse, eine Riskanz, für die das bürgerliche Subjekt in seiner souveränen Selbstregierung sich gerade einen kompetenten Umgang antrainiert. Abstrakter formuliert, ist die bürgerliche Moralund Ordnungsorientierung an Grenzstabilisierung orientiert, während die bürgerliche Selbstregierung unter Bedingungen der Handlungsungewissheit an Grenzüberschreitung ausgerichtet ist, so dass die bürgerliche Kultur eine konservative und eine progressive Orientierung zugleich anleitet. Diese widersprüchliche Strukturierung stellt nicht nur eine latente Spannung dar, sondern wird schon früh vor allem im Feld von Arbeit, Beruf und Ökonomie manifest: Einerseits bringt Bürgerlichkeit die Berechenbarkeit und den moralischen Anspruch einer Kultur des Berufs hervor, andererseits die ökonomische Interessensorientierung unter Marktbedingungen; einerseits setzt sie auf das Vertrauen in eine Ordnung verlässlichen Arbeitens und transparenter gegenseitiger Leistungen, andererseits auf das riskante Jonglieren mit Opportunitäten. Parallele Spannungen zwischen Moralität und Selbstregierung unter Ungewissheit finden sich auch in den Bereichen der Privatsphäre und der Bildung: die Orientierung an der moralischen Ordnung von Ehe und Familie, Geschlechterdualismus und Heteronormativität einerseits, die auf Sympathie, Liebe und Vertrag setzenden flexiblen und offenen Partnerschaften und Freundschaften andererseits; eine Orientierung der Bildung an Zweckhaftigkeit und Kanonisierung einerseits, eine Ausrichtung der Bildung an der Unberechenbarkeit einer »Persönlichkeitsbildung« andererseits.

Nachbürgerliche Bürgerlichkeiten Welcher Stellenwert kommt nun dem widersprüchlichen Doppelhorizont der bürgerlichen Kultur des Selbst zwischen Moralisierung und Selbstregierung in der nach-bürgerlichen Gesellschaft seit den 1920er Jahren 208

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zu? Auf einer ersten Ebene markieren die Kultur der organisierten Moderne der 1920er bis 70er Jahre wie auch jene der Postmoderne seit den 1970er Jahren in ihren leitenden Subjektformen gegenüber der bürgerlichen Kultur des Selbst einen Bruch. In der organisierten Moderne lässt sich eine Transformation der Subjektivierungsform in die Richtung einer Orientierung des Individuums am Sozialen, Kollektiven und Technischen sowie sekundär seine Ästhetisierung, mithin eine basale »Außenorientierung« des Subjekts gegenüber der bürgerlichen Innenorientierung beobachten. Die postmoderne Kultur kennzeichnet seit den 1970er Jahren in den Feldern der Arbeit, der persönlichen Beziehungen und der Technologien des Selbst eine Modellierung des Individuums entlang von Direktiven der Expressivität und eine Generalisierung ästhetischer Erfahrungen, damit eine Expansion des Künstlerideals (Boltanski) in die Alltagspraktiken. Sowohl die Subjektordnung der organisierten Moderne als auch die der Postmoderne beruhen damit in verschiedener Weise auf einer Abgrenzung gegenüber der alten Bürgerlichkeit. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass die organisierte Moderne und die Postmoderne jeweils eine Seite der historischen bürgerlichen Subjektkultur in revidierter Form reaktivieren und sie in sich implantieren. Organisierte Moderne und Postmoderne sind auf unterschiedlichen Ebenen nach-bürgerlich und bürgerlich zugleich. Dies gilt zunächst für die organisierte Moderne, die westliche (wie auch sozialistische) Kultur der Massendemokratie und des organisierten Kapitalismus, des »Amerikanismus« (Gramsci) und des Massenkonsums der neuen angestellten Mittelschichten, wie sie sich ausgehend von den Vereinigten Staaten seit den 1910er Jahren als neue gesellschaftlichkulturelle Hegemonie etablieren.23 Im Feld der Praktiken der Arbeit wird die Vorbildlichkeit des bürgerlichen Berufs und der ökonomischen Selbständigkeit des self-made man abgelöst durch das Modell des Angestellten innerhalb der Korporation. Im Feld der privaten und persönlichen Beziehungen tritt an die Stelle der Bifurkation der Sphären von Mann und Frau, wie sie in der bürgerlichen Ehe des 19. Jahrhunderts betrieben wird, das Modell einer freizeitorientierten peer society, an der beide Geschlechter partizipieren. Die bürgerliche Bildungs-, Schrift- und Hochkultur sieht sich schließlich durch alternative Technologien des Selbst herausgefordert, welche Schriftlichkeit durch Visualität ablösen: dies gilt für die Rezeption audiovisueller Medien ebenso wie für die urbane Kultur der Konsumtion. Der Code des nach-bürgerlichen Subjekts der

23 Vgl. zur organisierten Moderne Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, New York, London 1993, S. 37-54; A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 3.2. 209

SUBJEKTFORMEN

organisierten Moderne ist der eines am Gruppenförmigen, Sozialen orientierten Individuums, das zugleich eine »Ästhetik der perfekten Form« – von Objekten und Subjekten – kultiviert. Die Semantik des Selbst kippt, wie Susman es formuliert, vom bürgerlichen, ichzentrierten character zur nach-bürgerlichen personality, die sich in einer Umwelt veränderlicher sozialer Erwartungen und attraktiver ästhetischer Formen bewegt.24 Die komplexe bürgerliche Innenwelt von moralischem Gewissen und emotionaler Tiefe stülpt sich nach außen in einen Sinn für wechselhafte soziale Rollen und visuelle Eindrücke, die gleichwohl durch bestimmte kollektive Regeln sozialer »Normalität« in Schach gehalten werden. Die organisierte Moderne grenzt sich in ihrer affirmativen Selbstrepräsentation zeitgenössisch regelmäßig von der überholt und unmodern erscheinenden bürgerlichen Kultur – von deren Egoismus und Dilettantismus, vom Moralismus und bildungsbürgerlicher Enge – ab oder aber wird in der kritischen spätbürgerlichen Fremdrepräsentation als kollektivistischer Verfall in eine Massengesellschaft gedeutet. Tatsächlich stellt sich die Konstellation jedoch als komplizierter heraus: Auf einer ersten Ebene befindet sich der sozialorientierte other-directed character der Angestelltenkultur, seine Eingliederung in die Großorganisation und peer society in einer eklatanten Diskontinuität zur individualistischen Selbstregierung des bürgerlichen Subjekts.25 Gleichzeitig jedoch greift die organisierte Moderne in einer zentralen Hinsicht auf die bürgerliche Moderne zurück, ein Rückgriff, der erst aus der Perspektive der späteren Postmoderne wirklich deutlich wird (und der daher etwa Riesman verborgen bleibt): die Übernahme der basalen bürgerlichen Orientierung an

24 Vgl. Warren I. Susman: Culture as History. The Transformation of American Society in the 20th Century, New York 1984, S. 271-285. 25 Vgl. zur Anti-Bürgerlichkeit der (westlichen, vor allem amerikanischen) organisierten Moderne im Bereich von Arbeit und Ökonomie Reinhard Bendix: Work and Authority in Industry. Ideologies of Management in the Course of Industrialization, Berkeley 1974; Maury Klein: The Flowering of the Third America. The Making of an Organizational Society, 18501920, Chicago 1993; im Bereich der persönlichen Beziehungen und der Sexualität Paula S. Fass: The Damned and the Beautiful. American Youth in the 1920s, Oxford 1987; Jeffrey Weeks: Sex, Politics and Society. The Regulation of Sexuality since 1800, London 1989, S. 199-231; im Konsum und der Freizeitkultur Tom Pendergast: Creating the Modern Man. American Magazines and Consumer Culture, 1900-1950, Columbia 2000; Roland Marchand: Advertising the American Dream. Making Way for Modernity, 1920-1940, Berkeley 1985. Vgl. zur Nach-Bürgerlichkeit der Subjektform der organisierten Moderne insgesamt David Riesman: The Lonely Crowd, New York 1949; William Whyte: The Organization Man, New York 1956. 210

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Ordnung. Die bürgerliche Ordnungsorientierung war in erster Linie mit der Orientierung an Moralität verquickt und damit ins Innen des Subjekts projiziert, in abstrakterer Form bleibt sie jedoch in der organisierten Moderne erhalten. Sie steckt implizit in deren Orientierung am Modell einer transparenten, einerseits technischen und sachlichen, andererseits kollektiv-sozialen Ordnung.26 Die Moralisierung des Subjekts wird durch seine Ausrichtung an der social ethics der Gruppe sowie an den Sachgesetzen einer technologischen Ordnung abgelöst, aber in diesem Kollektivismus und Technizismus der nach-bürgerlichen Kultur (einschließlich des Sozialismus) ist die Regel- und Ordnungsorientierung der klassischen Moderne der Bürgerlichkeit in neuer Form weiterhin verborgen. Wenn die Differenzmarkierung der Bürgerlichkeit einer amoralischen Subjektivität galt, dann grenzt sich die Subjektkultur des organization man vom sozial auffälligen Selbst ab, das den Gruppenstandards der Normalität und den Sachzwängen der Technik widerspricht, einem »exzentrischen« Subjekt sozialer und sachlicher Unangepasstheit. Die bürgerliche Ordnungsorientierung wird hier gewissermaßen von »innen« nach »außen« gestülpt, so dass aus der Sicht der Counter Culture Ende der 1960er Jahre beide unterschiedslos als Gesellschaftsformen erscheinen können, die versuchen, das Individuum über moralische Schuldzwänge, intersubjektive Peinlichkeits- beziehungsweise technische Sachzwänge allgemeinen, »repressiven« Regeln zu unterwerfen.27 26 Zum Modell des Sozialen vgl. William Graebner: The Engineering of Consent. Democracy and Authority in 20th America, Madison 1987; zum Modell einer technologischen Ordnung Cecelia Tichi: Shifting Gears. Technology, Literature, Culture in Modernist America, Chapel Hill 1987; Howard P. Segal: Technological Utopianism in American Culture, Chicago 1985. 27 Vgl. zu dieser Kritik von bürgerlicher und organisierter Moderne aus Sicht der Counter Culture Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994. Nur scheinbar gilt die Aussage, dass das Soziale das Individuum in die allgemeinen Formen von Moral und Normalität presst, für Gesellschaftlichkeit insgesamt. Zwar ist es für jede Gesellschaftsform kennzeichnend, dass sie kollektive Kriterien akzeptablen und erstrebenswerten Verhaltens und einer entsprechenden Subjektivität dekretiert. Diese kollektiven Kriterien müssen jedoch nicht zwangsläufig auf die Produktion »normalen« Verhaltens oder einer identischen »moralischen« Innerlichkeit ausgerichtet sein, sondern können auch eine »Regierung der Selbstregierung« (Foucault) forcieren, welche dann in jedem Individuum zu unterschiedlichen Verhaltensresultaten und Eigenschaften führt und führen soll, die aber gleichwohl der Anwendung der gleichen Kriterien geschuldet sind. Genau dies gilt für die postmoderne Subjektkultur, wenn sie vom Einzelnen in Weiterführung der ästhetischen Subjektivierung der kulturellen Gegenbewegungen eine individuelle Selbstentfaltung einerseits, in 211

SUBJEKTFORMEN

Die Postmoderne bildet sich seit den 1970er und 80er Jahren als gesellschaftliche und kulturelle Formation gegen die organisierte Moderne aus und bringt damit ein neuartiges, in anderer Weise doppeldeutiges Verhältnis zur Bürgerlichkeit hervor. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um den intellektuellen Postmoderne-Diskurs, sondern um die reale Transformation der sozialen Praktiken in den Feldern der Arbeit und Ökonomie, der persönlichen Beziehungen sowie der Technologien des Selbst, wobei letztere in dieser Phase vor allem den individualästhetischen Konsum, die Praktiken des Körpers und des Sports sowie die digitalen Praktiken im Umgang mit der Computerkultur umfassen.28 Allesamt produzieren diese Praktiken eine neue, gegenüber der organisierten Moderne verschobene Subjekt- und Lebensform. Kennzeichnend für diese postmoderne Subjektivierungsweise ist eine hybride Kombination von zwei Elementen: einer generalisierten ästhetischen Orientierung des Subjekts am Expressiven, an der kreativen Selbstgestaltung und an ästhetischen Erfahrungen, ein »expressiver Individualismus« einerseits, und einer generalisierten ökonomischen Orientierung an der Konstellation des Marktes, damit an der Wahl und am Gewähltwerden andererseits, die Selbstoptimierung eines Subjekts, das primär als handlungsund entscheidungsfähiges Wesen verstanden wird. Diese generalisierte ästhetisch-ökonomische Doppelstruktur der postmodernen Kultur des Selbst durchzieht sämtliche soziale Praktiken.29 Die Spannung innerhalb dieser Doublette ist nicht kurzerhand zur einen oder anderen Seite aufzulösen: Während Autoren wie Gerhard Schulze in Die Erlebnisgesellschaft allein die Ästhetisierung des postmodernen Selbst hervorheben, weisen die governmentality studies primär auf dessen Selbstoptimierung und Vermarktlichung hin.30 Die eigentlich interessante Diagnose bezüglich der Subjektivierungsweise der Gegenwartskultur ist hingegen in der Kopplung von Selbstästhetisierung und Selbstoptimierung zu suchen, die sich in allen Praktikenkomplexen findet: So hebt die Arbeitssoziologie hervor, wie die hochmodernen Weiterentwicklung des bürgerlichen Liberalismus eine Selbststeuerung individueller Interessen andererseits erwartet, die beide eine »obligation to dissent« einschließen. 28 Vgl. zum Folgenden im Detail A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 4.2. 29 Vgl. zu diesem Doppel von Ästhetisierung und Ökonomisierung in der Postmoderne bereits Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. 30 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M., New York 1992; Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000. 212

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Arbeitspraktiken das Subjekt in die Richtung kreativer, symbolischer, Neues produzierender Tätigkeiten lenken und dieses ein entsprechendes Bedürfnis nach kreativer Selbstgestaltung, nach »subjektivierter Arbeit« ausbildet. Zugleich ist dieses postmoderne Arbeitssubjekt jedoch eines, das sich in employability übt und dabei sich Kompetenzen eines generalisierten Unternehmers seiner selbst aneignet.31 In der postmodernen Sphäre des Privaten und Persönlichen findet sich eine analoge Spannung zwischen einer neo-romantischen Modellierung von Paaren und Freundschaften als Erlebnisgemeinschaften und einer Strukturierung derselben Interaktionen als quasi-marktförmige Beziehungen der Wahl, des Gewähltwerdens, des Vertrags und der Aufkündigung.32 Ähnliches gilt für die Technologien des Selbst. Auch hier wird einerseits eine besonders tiefgreifende Tendenz zum expressiven Individualismus deutlich: in einem Konsum, der auf individuelle Stilkreation und ästhetisches Erleben setzt, in Praktiken des Individualsports, der auf Selbsterfahrung zentriert ist, und in Computer-Praktiken, welche ein scheinbar zweckfreies exploring visueller Oberflächen üben. Andererseits ist in den gleichen Feldern ein sich selbst optimierendes und sich in Marktkonstellationen bewährendes Subjekt am Werk: in der Selbststilisierung auf einem Aufmerksamkeitsmarkt von Stilen, im Training des Körpers mit dem Ziel der Fitness, in der Übung des Computersubjekts in einer Aufdauerstellung von Wahl- und Entscheidungskonstellationen.33 In welchem Verhältnis steht nun diese widersprüchliche postmoderne Symbiose von Selbstästhetisierung und Selbstoptimierung zum Bürgerlichen? Es ergibt sich eine komplexe Situation: Sowohl Selbstästhetisierung als auch Selbstoptimierung befinden sich in deutlicher Differenz zur Kollektivorientierung der Subjektkultur der organisierten Moderne. Die Selbstästhetisierung des postmodernen Subjekts greift vielmehr auf 31 Vgl. Hans J. Pongratz/G. Günter Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; Paul Leinberger/ Bruce Tucker: The New Individualists. The Generation after the Organization Man, New York 1991, S. 226-268, 352-387; Paul du Gay: Consumption and Identity at Work, London 1996. 32 Vgl. Thomas Meyer: Modernisierung der Privatheit. Differenzierungsund Individualisierungsprozesse des familialen Zusammenlebens, Opladen 1992; Jean-Claude Kaufmann: Singlefrau und Märchenprinz, Konstanz 2002. 33 Vgl. zum Konsum Steven Miles: Consumerism as a Way of Life, London 1998; zu den Körperpraktiken Cornelia Koppetsch (Hg.): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität, Konstanz 2000; Karl-Heinrich Bette: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Berlin, New York 1989; zu den Computerpraktiken Andrew Darley: Visual Digital Culture. Surface Play and Spectacle in New Media Genres, London, New York 2000. 213

SUBJEKTFORMEN

die Tradition ästhetischer Gegenbewegungen der Moderne von der Romantik über die Avantgarde bis zur Counter Culture zurück: die Orientierung am inneren Ausdruck und am Künstler, an der Grenzüberschreitung und Grenzerfahrung, am Spiel mit den Zeichen. Diese Sequenz ästhetischer Gegenbewegungen hat von Anfang an Identitäten produziert, die sich offensiv als Alternativen zur bürgerlichen Moralisierung und rationalen Selbstreflexion verstanden haben.34 Es ist nach wie vor eine bemerkenswerte Entwicklung, dass diese Muster einer emphatisch ästhetischen Subjektivität, die ursprünglich aus den künstlerischen Bewegungen stammen und sich während der bürgerlichen Moderne und der organisierten Moderne an der gesellschaftlichen Peripherie befanden, in der gesellschaftlichen Postmoderne im Zentrum der dominanten Kultur angekommen sind. In ihrem expressiven Individualismus, ihrer Prämierung der ästhetischen Selbsterfahrung gegenüber der Moralität der Pflichten und der Ordnung befindet sich die Postmoderne damit in einer Diskontinuität zur klassischen bürgerlichen Moderne.35 Zugleich aber greift die andere Hälfte der postmodernen Subjektkultur, die Orientierung an Selbstoptimierung, an Dispositionen der Wahl, Entscheidung und des Gewähltwerdens, schließlich am Aktivismus des Unternehmerischen und des virtuosen Umgangs mit Marktkonstellationen zeitlich vor die organisierte Moderne auf Kompetenzstrukturen der bürgerlichen Kultur zurück, die damit in neuer Form reaktiviert werden: Es ist das Training des bürgerlichen Subjekts in Selbstregierung, in der systematischen Erarbeitung eigener Souveränität – der Entscheidung, der Reflexion, der Biografie, der Beziehungswahl, der beruflichen Selbständigkeit –, die in der postmodernen Selbstoptimierung des Subjekts wieder angeeignet wird.36 Es handelt sich hier um ein bürgerliches Sinnmuster, das offenbar durchaus ohne den kompletten Lebensstil des alten europäischen Bürgers und sozialstrukturell wie politisch ohne eine

34 Vgl. dazu die Artikel zu »Konsum« und »Kreativsubjekt« in diesem Band. 35 Vgl. zu dieser anti-bürgerlichen Form der Postmoderne bereits Daniel Bell: The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1996; kritisch auch Christopher Lasch: The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York, London 1991. 36 Zur postmodernen und darin neo-bürgerlichen Form der Selbstregierung und Marktorientierung vgl. Klaus Kraemer: Der Markt der Gesellschaft. Zu einer soziologischen Theorie der Marktvergesellschaftung, Opladen 1997; Luise Behringer: Lebensführung als Identitätsarbeit. Der Mensch im Chaos des modernen Alltags, Frankfurt a.M., New York 1998; Ulrich Bröckling: »Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement«, in: ders./S. Krasmann/T. Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart, S. 131-167; Robert Jay Lifton: The Protean Self. Human Resilience in an Age of Fragmentation, New York 1993. 214

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bürgerliche Klasse auskommt. Der Rückgriff der postmodernen Subjektkultur auf die Bürgerlichkeit ist damit hochselektiv: Es wird die eine Hälfte bürgerlicher Subjektivität, seine Selbstregierung und Souveränitätsorientierung zitiert, zugleich aber eine Distanz zur anderen Hälfte des Bürgerlichen, zur bürgerlichen Moralisierung, seiner Einbettung des Subjekts in eine vermeintlich allgemeingültige Moral, seine Orientierung an Pflichten und seinen peniblen Ordnungssinn markiert, von der sich die postmoderne Subjektkultur in ihrer dezidiert ästhetisch-expressiven Ausrichtung deutlich absetzt. Die Aneignung von Bürgerlichkeit innerhalb der Postmoderne ist damit jener gegenüber, welche die organisierte Moderne betrieb, komplementär: Die organisierte Moderne führte die bürgerliche Ontologie der Ordnung weiter, indem sie die Orientierung an moralischen Regeln in eine Orientierung an sozialen und technischen Regeln umformte; zugleich ging sie auf Distanz zum bürgerlichen Individualismus der Selbstregierung. Genau umgekehrt greift die postmoderne Kultur auf zentrale Elemente dieser individualistischen Selbstregierung zurück, während sie auf Distanz zum bürgerlichen Ordnungssinn geht. Die Proklamation einer »Neuen Bürgerlichkeit« ist damit mehr als ein normativer Wunsch oder eine kurzatmige Diagnose: Tatsächlich integriert die postmoderne Subjektivierungsweise mit ihrer »individualistischen« Transformation des Selbst, die sich gegen die »kollektivistische«, nun konformistisch und unauthentisch scheinende organisierte Moderne richtet, Elemente der souveränen Selbstregierung bürgerlicher Subjektivität. Zugleich ist die Postmoderne alles andere als eine Kopie der bürgerlichen Kultur: insbesondere die Implantierung einer ästhetisch-expressiven Orientierung in den Kern ihrer Subjektkultur macht den entscheidenden Unterschied aus. Wenn für die bürgerliche Kultur Moralität, damit auch Pflichterfüllung und geordnete Harmonie, den entscheidenden psychologischen Antrieb lieferte (eine Moralität, in die religiös-christliche Elemente eingingen), dann ist es in der postmodernen Kultur die ästhetisch-expressive Orientierung an Selbsterfahrung, Selbstexpression und Selbstentfaltung, die, munitioniert aus den Bewegungen der ästhetischen Moderne, diesen Antrieb zur Verfügung stellt. Die Subjektkultur der Postmoderne in ihrer Doppelstruktur von Selbstästhetisierung und Selbstoptimierung greift zur Hälfte auf die antibürgerlichen ästhetischen Bewegungen und zur anderen auf die Bürgerlichkeit zurück.37 Das postmoderne Subjekt ist damit genauso fragmen-

37 Nur an der Lifestyle-Oberfläche dieser Doppelstruktur kratzt David Brooks’ Diagnose der bohemien bourgeois: Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There, New York 2000. 215

SUBJEKTFORMEN

tiert, wie es auch das bürgerliche in anderer Weise war: Hinter seiner einheitlichen Fassade und Selbstbespiegelung verbirgt sich eine Montage disparater Elemente. Insofern gelingt es der Gegenwartskultur, bürgerlich und anti-bürgerlich zugleich zu sein.

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Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne. Der kulturelle Wandel der Konsumtion D e r E x z e s s d e r B o va r y Emma Bovary ist eine der ersten Konsumentinnen der Moderne. Im Jahre 1857 veröffentlicht Gustave Flaubert seinen Roman Madame Bovary, in dessen Mittelpunkt Emma Bovary, die unglückliche Ehefrau eines Arztes in der französischen Provinz, steht. Vordergründig handelt er vom Skandal des Ehebruchs. Aber Gustave Flauberts Darstellung des kurzen Lebenswegs der Madame Bovary parallelisiert auf geschickte Weise Sexualität und Konsum, die beiden Übel, welche die Moralität bürgerlichen Lebens im 19. Jahrhundert zu unterwandern drohen. Der Roman wird nicht nur strukturiert durch Emma Bovarys skandalöse Affären, sondern auch und vor allem durch die Sequenz einer ebenso haltlosen Konsumtion von immer neuen Gegenständen, welche die Hauptfigur über den Weg ihres Händlers Monsieur Lheureux ununterbrochen und immer exzessiver aus der Großstadt bezieht: von Handschuhen und Schals, Koffern und Vasen, Teppichen und Vorhängen. Erotischer Hunger und konsumtorischer Durst scheinen in der Bovary, aufs Unheilvollste aneinander gekoppelt, einen persönlichen Verfallsprozess anzutreiben, der am Ende des Romans in finanziellen Ruin und Selbstmord mündet.1 1

Vgl. zu einer literaturwissenschaftlichen Lektüre von Madame Bovary Joachim Küpper: »Das Ende von Emma Bovary«, in: Hans-Otto Dill (Hg.), Geschichte und Text in der Literatur Frankreichs, der Romania und der Literaturwissenschaft, Berlin 1999, S. 71-93; Barbara Vinken: »Ästhetische Erfahrung durchkreuzt: Der Fall Madame Bovary«, in: Joachim 219

ÄSTHETISIERUNGEN

Flauberts Text ist ein klassisches Beispiel für den soziologisch reichhaltigen literarischen Diskurs des französischen Realismus, und er ist sehr viel mehr als lediglich eine Moritat von übermäßigem Konsum. Ich habe ihn hier als Aufhänger gewählt, weil man in ihm wie in einem Brennglas bereits drei Punkte ausmachen kann, die für ein kulturtheoretisches Verständnis des Konsums in der Moderne zentral sind: erstens die Frage, was den modernen Konsum, was die spezifischen Haltungen des konsumierenden Subjekts ausmacht; zweitens warum diese in der modernen Kultur lange diskreditiert erschien; und drittens schließlich wo die Orte der Bedeutungsproduktion zu situieren sind, aus denen die zunächst diskreditierten, aber gleichwohl attraktiven konsumtorischen Dispositionen innerhalb der modernen Kultur primär stammen. Flaubert stellt am Beispiel seiner Hauptfigur erstens sehr genau dar, was Konsum im modernen Sinne bedeutet: Konsum besteht hier nicht darin, dass Subjekte Objekte erwerben, um ihren Gebrauchswert zu vernutzen. Konsum setzt vielmehr eine sehr spezifische subjektive Haltung voraus. Emma Bovary geht es nicht um die Benutzung von Gütern, sie lädt die Gegenstände mit vielfachen Bedeutungen, Imaginationen und Ich-Idealen auf und hofft, ihre Identität durch diese symbolisch und affektiv aufgeladenen Objekte zu transformieren: Der moderne Konsum setzt ganz allgemein ein semiotisches Verhältnis zu den Dingen voraus, eine Ästhetisierung von Objekten und Identitäten und eine Stilisierung des Ichs.2 Flaubert macht zweitens schlagend deutlich, dass diese konsumtorische Haltung innerhalb einer bürgerlichen Kultur, die auf den Grundsätzen der Arbeit, der Aufklärung und der Moral beruht, als das diskreditierte Andere, als die Negativfolie der dominanten Rationalität erscheinen muss. In jener Version moderner Gesellschaft, in der Flaubert und Bovary sich bewegen, ist Konsumismus eine gefährliche individuelle Neigung. Gleichzeitig deutet Flaubert drittens in sehr suggestiver Weise an, wo in der Kultur der Moderne jene konsumtorische Haltung verwurzelt ist, der Bovary so fatal verfällt: Es ist ihre Lektüre der romantischen Literatur, von Texten aus dem weiteren Kontext der künstlerischen Romantik, welche die Produktion einer subjektiven Einbildungskraft, eines Sinns für das Ästhetische, eines Gespürs für das Genießen des Genusses in ihr implantiert.3 Allgemeiner formuliert: Es sind

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3

Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003, S. 241-263. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964; Jean Baudrillard: La société de consommation. Ses mythes, ses structures, Paris 1970; Pasi Falk: The Consuming Body, London 1994; Don Slater: Consumer Culture and Modernity, Cambridge 1997. Vgl. Gustave Flaubert: Madame Bovary, Frankfurt a.M. 1996, S. 45ff.

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die ästhetischen, anti-bürgerlichen Bewegungen der Moderne, von denen die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts die erste darstellt, welche jene Sinninnovationen liefern, die konsumorientierte Dispositionen auf den Weg bringen. Hinter Flauberts Madame Bovary verbirgt sich damit ein kultursoziologisches Problem. Aus der Sicht der Gegenwartskultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts tut sich zunächst ein historisch-soziologisches Rätsel auf: Was ist in der Kultur der Moderne geschehen, dass sie in jener Formation, in der wir uns seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts befinden und die man als Postmoderne oder Spätmoderne umschreiben mag, eine legitime Dominanz, ja, kulturelle Hegemonie des Konsumsubjekts enthält – diagnostiziert von Baudrillards La société de consommation (1970) bis zu Gerhard Schulzes Die Erlebnisgesellschaft (1992) –, während in der bürgerlichen Moderne, etwa zur Zeit Flauberts, diese Konsumtion das abgewertete Andere gegenüber der Produktion und der Arbeit war? Die Aufgabe besteht darin, die grundsätzliche immanente Transformation der Kultur der Moderne zu begreifen, welche den Status des Konsums für die moderne Lebensführung umstürzt und von der diskreditierten Peripherie in das Zentrum des modernen Lebensstils verschiebt. Vorausgesetzt ist damit, dass man die Moderne mit Max Weber, Michel Foucault und anderen im Kern als ein kulturelles Phänomen, als eine historisch sich wandelnde Form von basalen Sinnstrukturen und kulturellen Codes rekonstruiert, deren kultureller Wandel zudem nicht dem Muster einer linearen, bruchlosen »Modernisierung« folgt, sondern eher dem beständiger Kulturkonflikte um eine tatsächlich »moderne« Lebensform. Diese Sinnstrukturen ermöglichen und begrenzen bestimmte Lebensformen, sie produzieren in diesem Rahmen vor allem aber bestimmte Formen, was es heißt, ein modernes Subjekt zu sein, so dass sich innerhalb einer solchen Subjektivierungsweise bestimmte Dispositionen, Kompetenzen, Deutungsmuster und Wunschstrukturen ausbilden. Der Bedeutungswandel des Konsums in der Moderne lässt sich verstehen als eine Transformation der leitenden kulturellen Form, die das moderne Individuum annimmt. Es geht mir im Folgenden um eine historisch-kultursoziologische Skizze, die aufzeigt, welche Form dieser Umschlag von einer konsumskeptischen Haltung der bürgerlichen Kultur zur Leitfigur eines Konsumenten in der Gegenwartskultur annimmt. Entscheidend für ein solches Beschreibungsschema scheint mir, neben der Transformation der modernen dominanten Kulturmuster vom 18. und 19. ins 20. Jahrhundert, die ästhetisch orientierten Gegenbewegungen in die Betrachtung mit einzubeziehen, die im gleichen Zeitraum entstanden sind. Diese ästhetischen Bewegungen der Moderne reichen von der Romantik des frühen 221

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19. Jahrhunderts über die Avantgarde-Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur postmodernen Counter Culture der 1960er und 70er Jahre. Die zentrale These lautet, dass diese ästhetischen Gegenbewegungen es sind, die zunächst gegen die bürgerliche Moderne und aus einer Minderheitenposition Ansätze eines konsumierenden Subjekts, einer Ästhetisierung der Objektwelt und einer Stilisierung des Ichs liefern. Die verblüffende Entwicklung innerhalb der Kultur des 20. Jahrhunderts – eine Verblüffung, die man nicht vorschnell normalisieren sollte – besteht nun darin, dass diese konsumtorischen Dispositionen aus den ästhetischen Gegenkulturen schrittweise in die nach-bürgerliche MainstreamKultur einsickern und damit das, was einmal die moderne als bürgerliche Kultur ausmachte, umstürzen: vom produktivistischen Anti-Konsumismus zum ästhetischen Konsumismus.4 Ich werde zunächst auf die zentrale Codierung der bürgerlichen, klassisch-modernen Kultur eingehen: Diese setzt Arbeit und Moralität systematisch der Konsumtion entgegen. Dann werde ich die Sinnalternative der drei ästhetischen Gegenbewegungen Romantik, Avantgarde und Postmodernismus skizzieren, welche die ästhetischen Dispositionen des Subjekts initiieren und es für den Konsum ausstatten. Drittens geht es um die Form des kulturell dominanten, nach-bürgerlichen Konsumsubjekts, wie es sich zunächst seit den 1920er Jahren in der Angestelltenkultur in Form des sozial kontrollierten Konsumsubjekts, dann seit den 1970er Jahren in der noch einmal modifizierten, radikalisierten Form des individualästhetischen Konsumsubjekts ausbildet.

Die Distinktion gegen den Konsum Zunächst muss das Interesse jedoch den kulturellen Codes der bürgerlichen Moderne gelten, der Art und Weise, in der diese erste und klassische Form kultureller Modernität das Individuum als den bürgerlichen Charakter formt.5 Für die bürgerliche Kultur, wie sie sich mit dem An4

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Dieser Umsturz wird bei Daniel Bell (1976) als »cultural contradiction of capitalism« dramatisiert, eine grundlegende Spannung zwischen asketischem Produktivismus und ästhetischem Konsumismus. Noch nicht gesehen werden kann bei Bell, dass sich auch der Erwerbssektor selber – zumindest in den Berufen mit hohem kulturellen Kapital – seit den 1980er Jahren in die Richtung von »subjektivierter Arbeit« und eines ästhetischen »Künstlerideals« des Berufs entwickelt hat (vgl. Manfred Moldaschl/ Günter Voß (Hg.): Subjektivierung von Arbeit, München 2003), so dass hier eine neue Homologie zum Konsumbereich entstanden ist. Zur Struktur bürgerlicher Subjektivität vgl. nur Philippe Ariès/Roger Chartier (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3, Von der Renais-

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spruch des genuin Modernen im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildet und das 19. Jahrhundert, schließlich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominiert, ist die Differenz zwischen produktiver Arbeit und Konsumtion zentral. Das bürgerliche Subjekt gewinnt seine Identität aus der Trias einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit, einer emotional befriedigenden Intimsphäre, das heißt der bürgerlichen Familie, und der Bildung, der Entwicklung des eigenen Selbst im Umgang mit der Hochkultur. Was Arbeit, Familie und Bildung im bürgerlichen Kosmos von Praktiken und Werten zusammenhält, ist das Modell eines Subjekts, das sich durch souveräne Moralität, insgesamt durch eine rationale Lebensführung, auszeichnet. Diese souveräne Moralität bildet sich in einem dreifachen kulturellen Code von Identität und Differenz. Die positive Identität gilt im bürgerlichen Sinnhorizont einem Verhalten mit dreierlei Merkmalen: Moderatheit, Natürlichkeit und Teleologie. Moralisches Verhalten ist moderat, das heißt selbstkontrolliert, so dass man »Herr über sich selbst« ist; es ist »natürlich« und ernsthaft, das heißt, es baut auf allgemeinmenschlichen, ungekünstelten Bedürfnissen und Empfindungen auf; schließlich ist es zweckvoll, das heißt, es dient einer Teleologie des Nützlichen. Es stellt sich nun heraus, dass innerhalb dieses Codes der Moralität, wie er sich in Arbeit, Familie und Bildung konkretisiert, der Konsum in jenem späteren modernen, ästhetisierten Sinne, das heißt jenseits einer Benutzung des Gebrauchswertes nützlicher Gegenstände ein Objekt bürgerlicher Abgrenzung darstellen muss, eine Abgrenzung, der Max Weber in seiner Analyse der besonders extremen, ausdrücklich konsumfeindlichen Askese Benjamin Franklins ein Denkmal gesetzt hat.6 Wie jede Subjektivierungsweise gewinnt auch jene der Bürgerlichkeit ihre Identität über eine Sequenz von Differenzen, die es zu dem in

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sance zur Aufklärung, Frankfurt a.M. 1991; Otto Friedrich Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt a.M. 1958; Leonore Davidoff/ Catherine Hall: Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780-1850, London 1987; Ulrike Dörner: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M., New York 1994; Margaret R. Hunt: The Middling Sort. Commerce, Gender, and the Family in England, 1680-1780, Berkeley 1996; Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968; Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815), Göttingen 1996; Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland, Göttingen 1984. Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Bodenheim 1993, S. 30-37. 223

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Opposition bringen, was es verwirft. Hier besetzt der Konsum aus systematischen Gründen eine herausgehobene Stellung. Generell bezeichnet die Negativfolie, von der die bürgerliche Kultur sich abgrenzt, ein Wesen, das sich unter allen drei genannten Aspekten als amoralisch darstellt: Das unbürgerliche Subjekt zeichnet sich nicht durch Mäßigung, sondern durch Exzessivität, nicht durch Natürlichkeit und Ernsthaftigkeit, sondern durch Artifizialität, nicht durch das Zweckvolle, sondern das Parasitäre aus. Ein solches Anti-Subjekt ist exzessiv, indem es ständig die Grenzen des rechten Maßes überschreitet, es ist artifiziell, indem es nicht das Natürliche respektiert, sondern mit kontingenten Bedeutungen und Imaginationen hantiert, schließlich ist es parasitär, insofern es Aktivitäten folgt, die jenseits des Nützlichkeitsanspruchs liegen. Verkörpert findet sich dieser anti-bürgerliche Habitus im aristokratischen Subjekt und seiner höfischen Gesellschaft, teilweise auch in der Volksund Populärkultur. Für unseren Zusammenhang ist nun entscheidend, dass Konsumtion im moralischen Dreiercode der bürgerlichen Kultur konsequenterweise als Bedrohung einer rationalen Lebensführung erscheinen muss, indem es geradezu paradigmatisch alle drei Elemente des Differenzcodes zum Ausdruck bringt. Im bürgerlichen Sinne ist der Konsument exzessiv: Er überschreitet ständig die Grenzen des Moderaten, des Maßes, sucht nach ständig neuen Betätigungsmöglichkeiten und ist trotzdem unbefriedigt. Das Konsumsubjekt ist artifiziell: Es nimmt die Gegenstände nicht so, wie sie sind, sondern versieht sie mit kontingenten, spielerischen, darin künstlichen Bedeutungen. Schließlich ist es parasitär: Seine Aktivitäten dienen nicht einem weiteren Zweck, das Konsumerlebnis ist Zweck in sich selbst. Konsumtion bezieht sich damit immer auf das Überflüssige und die Verschwendung. Emma Bovarys Konsum – der hier nicht zufällig mit dem zweiten Ort von exzessiver, artifizieller und parasitärer Verschwendung im bürgerlichen Sinne parallelisiert wird: der nicht-reproduktionsorientierten, damit im weitesten Sinne masturbatorischen Sexualität7 – muss innerhalb einer bürgerlichen Kultur damit beispielhaft als Signum eines Kontrollverlustes, einer Verführung und Verführbarkeit des Subjekts, schließlich eines destruktiven Narzissmus erscheinen. Diese bürgerliche kritische Interpretation des Konsums ist weit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Vance Packards The Hidden Persuaders (1957) und Christopher Laschs The Culture of Narcissism (1969) präsent. Die im Kern konsumkritische Kultur der Bürgerlichkeit, wie sie sich im Zentrum der frühen Moderne findet, vermag allerdings konsumto7

Vgl. Robert A. Nye: Sexuality, Oxford 1999, S. 115-204.

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rische Dispositionen nicht vollständig zu eliminieren, die sie immer wieder von den Rändern her heimsuchen. Vor allem drei fragile bürgerliche Grenzziehungen sind hier zu nennen, die in diesem Zusammenhang beständig dem Risiko der Überschreitung ausgesetzt sind: Zum einen gilt dies für die unsichere Abgrenzung zwischen »Gebrauch« und »Konsumtion« von Objekten. Die bürgerliche Kultur diskriminiert nicht den Gebrauch, die Benutzung von Objekten. Im Gegenteil ist eine charakteristisch bürgerliche Objektwelt, ein bürgerliches Artefaktuniversum – vom bürgerlichen Haus über die standesgemäße Wohnungseinrichtung und die Bildungsgüter bis zur bürgerlich angemessenen Kleidung – ihr integraler Bestandteil. Das im bürgerlichen Kontext angemessen erscheinende Kriterium der Objektverwendung ist jedoch im Wesentlichen die »Nützlichkeit« der Gegenstände, ihr »Gebrauchswert« (der Marx’sche Begriff drückt hier eine im Kern bürgerliche Präferenz für den vorgeblich realen Nutzwert eines Gegenstandes aus). Hier wird die Abgrenzung gegenüber einer konsumtorischen Haltung markiert, die auf Symbolik, Erleben und unstillbarem Begehren aufbaut. Diese Grenzziehung ist jedoch durch das chronische Problem einer kulturellen Definitionsnotwendigkeit des Nützlichen, des »tatsächlichen« Gebrauchswerts bedroht, ein Konzept, das seine eigene Natürlichkeit suggeriert. Die Ausweitung der Semantik des Nützlichen zu einer solchen des »Komforts« exemplifiziert die bürgerliche Gratwanderung zwischen legitimem Nutzwert und des Exzesses verdächtiger Konsumtion.8 Diese fragile Grenzziehung ergibt sich noch auf einer zweiten, damit verbundenen Ebene: In der bürgerlichen Selbstbeschreibung ihrer Gesellschaft als eine ökonomische, der Produktion, des Handels und des Tausches, muss festgestellt werden, dass eine solche Gesellschaft den »Überschuss« und Konsum der produzierten Waren notwendig voraussetzt, ein Konsum, dessen Umfang und Expansion wiederum gegenüber Nützlichkeitserwägungen und fixen »Bedürfnissen« indifferent ist.9 Die Konsumtion erscheint hier als eine Art konstitutives Außen der bürgerlichen Gesellschaft, welches diese fundiert und zugleich ihr Objekt der Riskanz und der Verwerfung darstellt. Schließlich finden drittens im Rahmen des bürgerlichen Universums prä-konsumtorische Neigungen und Praktiken ihren Ort in einer Lebensform, deren Verhältnis zur Bürgerlichkeit sich letztlich als weniger eindeutig denn prekär darstellt: der Aristokratie. Die Aristokratie betreibt einen offensiven, an Luxus orientierten Gebrauch von Gütern und kann mit Sombart damit auch als An8 9

Vgl. zum Komfort- und Luxusproblem Michelle Perrot: Le luxe. Une richesse entre faste et confort XVIII-XIX siècle, Paris 1995, S. 331ff. Vgl. dazu Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 2004, S. 223-246. 225

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triebskraft des frühen Kapitalismus gelten.10 Die Moderatheit und Moralität prämierende bürgerliche Kultur grenzt sich einerseits massiv von der exzessiven und artifiziellen Kultur des Adels ab, darunter auch gegen dessen Neigung zur »Verschwendung« von Objekten, und sieht in ihm zugleich regelmäßig ein geheimes Vorbild souveränen Verhaltens, was bis hin zu Hybridgebilden von bürgerlichem und adeligem Lebensstil insbesondere am Ende des bürgerlichen Zeitalters reicht.

Konsumtorische Dispositionen Für die moderne Kultur unter der Hegemonie des Bürgerlichen liefert der Konsum damit primär ein Objekt der Abgrenzung und Abwertung, das zugleich immer wieder das Risiko enthält, sich nolens volens in die produktivistische bürgerliche Kultur »einzuschmuggeln«. Wie kann nun trotzdem im Innern der Kultur der Moderne das konsumtorische Subjekt zu einem eindeutig positiv besetzten Leitmodell avancieren? Da die Aristokratie längerfristig als positive Quelle für moderne Subjektivierungsformen ausfällt, muss offenbar eine alternative Produktionsstätte von Sinninnovationen in der Moderne existieren, die konsumtorische Haltungen massiv fördert. Diese Quelle ist die Sequenz moderner ästhetischer Bewegungen, welche indirekt die Dispositionen des Konsumsubjekts auf den Weg bringt, dieses als legitime Form denkmöglich, attraktiv und real macht: zunächst die Romantik, dann die verschiedenen Avantgardebewegungen vom Ästhetizismus über den Futurismus bis zum Surrealismus, schließlich die Counter Culture der 1960er und 70er Jahre, die eng mit der postmodernistischen Ästhetik verknüpft ist. Die Soziologie hat – mit Ausnahme der Arbeiten von Georg Simmel und Walter Benjamin11 – in ihrer Fixierung auf Differenzierungs- und Rationalisierungsphänomene die konstitutive Bedeutung dieser ästhetischen Bewegungen für viele Elemente der modernen Kultur lange Zeit vernachlässigt. Evolutionstheoretisch gesprochen, liefern diese Bewegungen jedoch kulturelle Nischen für zunächst marginale Sinninnovationen, die mit zeitlicher Verzögerung und in sehr spezifischer Form in der dominanten Kultur selegiert und reproduziert worden und damit für die Kultur der Moderne von zentraler Bedeutung sind. Keine dieser ästhetischen Bewegungen prämiert tatsächlich den Konsum von Waren und 10 Vgl. Werner Sombart: Luxus und Kapitalismus, München 1922. 11 Georg Simmel: »Die beiden Formen des Individualismus«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Frankfurt a.M 1995, S. 49-56; Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Illuminationen, Frankfurt a.M. 1977, S. 185-229. 226

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Gütern auf dem Markt im engeren Wortsinne, regelmäßig betreiben sie sogar explizite Konsumkritik. Aber sie alle modellieren Subjektformen, die anti-bürgerlich bestimmte ästhetische Dispositionen produzieren, welche Voraussetzungen für eine konsumtorische Haltung darstellen, die sich von der Herrschaft des Zweckvollen emanzipiert. Dass die künstlerische Bewegung der Romantik ästhetische Kompetenzen entwickelt, die Voraussetzungen für den modernen Konsum liefern, hat Colin Campbell in The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism (1987) detailliert aufgezeigt. Das romantische Subjektmodell liefert notwendige Sinnmaterialien für das Konsumsubjekt, indem es nicht das äußere, aktive Handeln, sondern das innere Erleben als Kern moderner Subjektivität festmacht.12 Das romantische Subjekt zielt auf Selbstexpression, auf den Ausdruck seines Innern, es entwickelt einen emphatischen Begriff von Individualität, als Besonderheit des Einzelnen im Gegensatz zum bürgerlichen Allgemeinen verstanden, und betreibt eine Verfeinerung seiner imaginativen und emotionalen Innenwelt. Für das romantische Selbst stellen sich äußere Objekte – sei es der Partner in der romantischen Liebe, sei es das Naturschöne – als Projektionsfläche subjektiver Bedeutungen und Fantasien dar, als eine Quelle von Genuss, der im einzelnen Moment zu erzielen ist. Weitere Elemente des modernen Konsumsubjekts bilden sich einige Jahrzehnte später, um 1900, in den künstlerischen Avantgarde-Bewegungen heraus.13 Zentral für das Avantgarde-Subjekt ist wiederum, inneres Erleben gegenüber äußerem Handeln zu prämieren, auf diese Weise »Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen« (P. Bürger). Nun ist es das Erleben des disruptiv Neuen, der Genuss der irritativen Reize und Schocks, wie sie vor allem das theatralische Spektakel der Metropole bietet, dem sich das Subjekt verschreibt. Das Avantgarde-Subjekt zielt auf eine ständige Transgression, eine subversive Lebendigkeit, eine Überschreitung seiner inneren Möglichkeiten ab, und die technisch reproduzierte neue visuelle Kultur ist ihre beständige Quelle. Die gegenkulturellen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre, die Counter Culture, die mit der postmodernistischen Ästhetik und Theorie aufs engste verknüpft erscheint und Romantik wie Avantgarde verarbeitet, liefert schließlich einen dritten Schritt einer ästhetischen Revolutionierung des Subjekts: In diesem Kontext wird eine Entgrenzung des sub12 Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M. 1989; Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989. 13 Vgl. W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«; Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974; Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München 1997. 227

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jektiven Begehrens, die spielerische, alle Konventionen überschreitende Multiplizierung der Potenziale des inneren Lustprinzips gefördert. Diese sieht sich kombiniert mit einer Entgrenzung des Spiels mit Repräsentationen, die damit auswechselbare Projektionsflächen für das Begehren liefern.14 Vor allem die Jugendkulturen, welche die Cultural Studies beschäftigt haben, haben in diesem Kontext die ästhetischen Potenziale des Postmodernismus zur vielfältigen individuellen und kollektiven Selbststilisierung benutzt. In allen drei zentralen ästhetischen Bewegungen der Moderne, Romantik, Avantgarde und Postmodernismus, bahnen sich damit zentrale Dispositionen der modernen Konsumkultur an: die Prämierung des Erlebens statt des Handelns, die Kontingenz von Bedeutungen statt der Natürlichkeit der Dinge, die Gegenstände der äußeren Welt als Instrumente innerer Imaginationen, Lustprinzip statt Realitätsprinzip, Selbstexpression statt Moralität, eine artifizielle Stilisierung der eigenen Person, schließlich und vor allem eine Prämierung des Neuen anstelle der Stabilität des Bewährten.

Die Zelebrierung des Konsums In der heterogenen Kultur der Moderne stehen sich damit zwei in ihrer Haltung zum Konsum konträre Codes gegenüber: einerseits der zunächst dominante, aktivistisch-rationalistische der bürgerlichen Kultur, der konsumskeptisch ist, andererseits der zunächst minoritäre, subkulturelle, der ästhetische Kompetenzen der Konsumtion hervorbringt. Die Geschichte, wie im 20. Jahrhundert sich das Selbstverständnis des Modernen so tiefgreifend transformiert, dass nun die minoritären Modelle eines ästhetischen Subjekts in den nach-bürgerlichen Mainstream einsickern, der Prozess also, in dem ein oppositionelles Sinnmuster zum dominanten Sinnmuster wird, ist in traditionellen soziologischen Theorien der Modernisierung nicht in den Griff zu bekommen. Es handelt sich hier nicht um einen Prozess formaler Rationalisierung oder funktionaler Differenzierung und auch nicht, auf das Subjekt bezogen, um eine zunehmende Disziplinierung oder umgekehrt eine Individualisierung. Es bedarf vielmehr einer Analyse von Kulturkonflikten in der Moderne, die den Umbau der Sinnstrukturen und des Habitus der Subjekte rekonstruiert: Hier verwandeln sich ehemalige Gegenkulturen in Hegemonien. 14 Vgl. Theodore Roszak: The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic Society and Its Youthful Opposition, New York 1969; Susan Sontag: »One culture and the new sensibility«, in: dies., Against Interpretation and Other Essays, New York 1990, S. 293-304; Raoul Vaneigem: Das Buch der Lüste, Hamburg 1984. 228

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Anhand des Problems des Konsums zeigt sich exemplarisch, dass die Kultur der Moderne sich nicht als ein homogener Block, sondern als eine widersprüchliche, hybride Konstellation darstellt. Es sind zwei historische Schritte voneinander zu unterscheiden, in denen die Hegemonie der bürgerlichen Kultur erodiert und Platz für zwei Nachfolgemodelle macht, in denen Konsum für die moderne Identität konstitutiv wird: Der erste Schritt ist jene Phase von den 1920er bis zu den 1970er Jahren, die man mit Peter Wagner als die »organisierte Moderne« umschreiben kann;15 hier dominiert ein sozial-kontrolliertes Konsumsubjekt. Der zweite und aktuelle Schritt ist jener einer postmodernen oder spätmodernen Kultur seit den 1970er Jahren, in der ein individualästhetisch orientiertes Konsumsubjekt die Führung übernimmt. Die organisierte Moderne, deren Subjektmodell mit Siegfried Kracauer der »Angestellte«, mit Whyte der organization man und mit Riesman der other directed character ist und die für die Soziologie lange Zeit den Normalfall industriegesellschaftlicher Moderne darstellte, löst seit den 1920er Jahren die Hegemonie der bürgerlichen Kultur ab.16 Die Kultur der organisierten Moderne nimmt gegenüber der Konsumtion eine doppeldeutige Position ein: Einerseits prämiert sie erstmals eindeutig den Konsum und beginnt die äußere Form des Subjekts zu ästhetisieren, andererseits domestiziert sie diesen Konsum, indem sie ihn unter Kuratel der sozialen Kontrolle der peer society stellt. Die sich in den USA der 1920er und 30er Jahre ausbildende Angestelltenkultur greift offensiv auf hedonistische Elemente der ästhetischen Gegenkulturen zurück und unterminiert damit die klassische bürgerliche Seriosität. Das Subjektmodell des bürgerlichen character wird ersetzt durch die postbürgerliche personality, ein extrovertiertes Subjekt, das auf die ästhetische, attraktive, gewinnende Erscheinung seiner visuellen Oberfläche Wert legt. Technologische Voraussetzungen dieser neuen Kultur sind

15 Vgl. Peter Wagner: Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, New York, London 1993. 16 Vgl. zur Konsumkultur der Angestelltengesellschaft Richard W. Fox/ T.J. Jackson Lears (Hg.): The Culture of Consumption. Critical Essays in American History, 1880-1980, New York 1983; T.J. Jackson Lears: Fables of Abundance. A Cultural History of Advertising in America, New York 1994; Roland Marchand: Advertising the American Dream. Making Way for Modernity, 1920-1940, Berkeley 1985; Janet Ward: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley 2001; vgl. auch A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 397-409. Vgl. allgemein zu dieser kulturellen Formation: Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt a.M. 1971; Warren I. Susman: Culture as History. The Transformation of American Society in the 20th Century, New York 1984, S. 271-285. 229

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die fordistische Massenproduktion und eine technisch reproduzierbare visuelle Kultur. Die visuelle Kultur der Produktwerbung liefert seit den 1920er Jahren ein Medium für die ästhetische Aufladung der Warenwelt. Das Angestelltensubjekt ist jedoch in seiner Selbstdefinition an die gruppenförmige peer society – von Nachbarn in der suburbia, von Kollegen in der Großorganisation – gebunden; deren social ethics domestiziert die Konsumorientierung. In der Angestelltenkultur steht legitimer Konsum unter der Voraussetzung, nicht gegen den Anspruch sozialer Normalität, den »Normalismus«, zu verstoßen. Prämiert wird hier der kopierte Konsum, das Einhalten bestimmter Mittelschichts-Konsumstandards, das »keeping up with the Jones«. Hinzu kommt, dass die Konsumobjekte weiterhin mit ihrer technischen Effizienz und pseudoobjektiven Nützlichkeit werben. Die Ästhetisierung des Subjekts, welche die Angestelltenkultur betreibt, wird damit durch bürgerlich beeinflusste Standards der Mäßigung und Zweckhaftigkeit in die Zange genommen: Ästhetik scheint legitim nur in der Ästhetik der äußeren perfekten Form, die für alle standardisiert gilt. Die Transformation, welche die moderne Kultur und ihr Subjekt seit den 1970er Jahren erlebt und die als Postmoderne sicher eher nur behelfsmäßig umschrieben werden kann, betrifft den Stellenwert des Konsums unmittelbar. Wenn die Angestelltenkultur gewissermaßen eine halbierte Ästhetisierung betrieben hat, die unter einer bürgerlich beeinflussten, sozialen Normalitätskontrolle stand, entgrenzt die postmoderne Kultur die Ästhetisierung: Sie übernimmt von den ästhetischen Gegenbewegungen, wie sie die post-adoleszenten Counter Cultures der 1960er und 70er Jahre vehement auf die Tagesordnung gebracht haben,17 die Prämierung des inneren Erlebens gegenüber dem äußeren Handeln, der Individualität des Besonderen gegenüber dem Standard des Allgemeinen, der Grenzüberschreitung des Neuen gegenüber der Tradierung der durchschnittlichen Normalität, des spielerischen Stils gegenüber der Ernsthaftigkeit der Perfektion. Diese Elemente rekombinieren sich zu einem Konsumstil, den man als »individualästhetisch« umschreiben kann.18 Institutionell wird er von einer Umstellung der Produktion auf 17 Zu diesem historischen Übergang vgl. Thomas Frank: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism, Chicago 1997. 18 Vgl. zum postmodernen Konsum Martin Davidson: The Consumerist Manifesto. Advertising in Postmodern Times, London 1992; P. Falk: The Consuming Body; Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991; Steven Miles: Consumerism as a Way of Life, London 1998; Joseph Pine/James Gilmore: The Experience Economy. Work is Theatre and Every Business a Stage, Cambridge (Mass.) 1999; Dominik Schrage: »Integration durch Attraktion. Konsumismus als massenkulturel230

DAS SUBJEKT DES KONSUMS IN DER KULTUR DER MODERNE

flexible Spezialisierung und eine weitere Ausweitung des Konsummarktes auf nicht-materielle Dienstleistungen – von Unterhaltung und Tourismus bis zur Gesundheit – ermöglicht. Als Trägergruppe dieses neuen Konsumstils kommt die postindustrielle Dienstleistungsklasse, die creative class (R. Florida) in Frage, die selber mit der Produktion symbolischer Güter beschäftigt ist und in der erstmals das ebenfalls aus den ästhetischen Gegenbewegungen stammende Modell des Kreativen zum Subjektideal wird. Die klassische Angestelltenkultur muss demgegenüber in der neuen Distinktion nun als konformistisch und unauthentisch gelten. Für das postmoderne Subjekt sind die Dispositionen des Konsums ein zentrales Strukturierungsprinzip seiner Persönlichkeit, und zwar in zwei Komponenten, die seine Individualästhetik ausmachen: Genussfähigkeit und individuelle Stilisierungsfähigkeit. Genussfähigkeit bedeutet: Objekte der Umwelt interessieren nicht unter den Aspekten der Moralität oder sozialen Akzeptanz, sondern insofern sie im Innern des Ichs emotional befriedigende, »authentisch« erscheinende Zustände hervorzurufen versprechen; das Subjekt muss sich nun darin trainieren, diese Zustände tatsächlich verlässlich in sich hervorzubringen. Stilisierungsfähigkeit bedeutet: Das postmoderne Subjekt versucht, einen individuellen Stil für sich zu finden, das heißt, nicht die Ähnlichkeit, sondern die Differenz zu den Anderen ist es nun, die einerseits nach innen befriedigend erscheint, andererseits paradoxerweise auch nach außen soziale Akzeptanz schafft. Dies setzt semiotische Kompetenz und die Fähigkeit zum souveränen Experimentalismus der Stile und Subjektbilder voraus. Man kann diese konsumtorischen Dispositionen, in denen das hochmoderne Subjekt seit den 1970/80er Jahren in den massenmedialen Repräsentationen, den Persönlichkeitsratgebern, den Jugendkulturen und den neuen Mittelschichten trainiert wird, leicht missverstehen und als ein bloßes Luxusphänomen abtun. Die Konsumvergessenheit und Produktionsfixierung der Gesellschaftstheorie leistet einer solchen Reduktion Vorschub, die auch durch manche Analysen vorgeblich pluralisierter, wählbarer Lebensstile eher gefördert wird. Tatsächlich steckt hinter der Etablierung eines individualästhetischen Konsumsubjekts eine ganz grundsätzliche Transformation der leitenden, sozial verbindlichen Subjektivierungsform in der Kultur der Moderne jenseits der bürgerlichen Kultur, die dem Einzelnen sowohl Kriterien legitimen und erwartbaren Verhaltens und Wollens als auch affektiv aufgeladene Ziele des Attrak-

les Weltverhältnis«, in: Mittelweg 36, 6 (2003), S. 57-86; Rob Shields (Hg.): Lifestyle Shopping. The Subject of Consumption, London 1992; vgl. auch A. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 557-567. 231

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tiven und Erstrebenswerten auferlegt. Dabei sind zwei Punkte zu bedenken: Man könnte aufzeigen, dass die konsumtorischen, ästhetisierten Dispositionen des postmodernen Persönlichkeitsmodells sich nicht auf den engeren Bereich des Erwerbs von Gütern beschränken, dass vielmehr die konsumtorische Haltung für die gesamte spätmoderne Lebensführung im Sinne eines »consumerism as a way of life« (S. Miles) prägend wird. Dies gilt insbesondere für das Feld der pure relationships der Intimsphäre, wie es Eva Illouz als Konsummarkt analysiert hat,19 und das Feld der hochmodernen projektorientierten Arbeit, wie es Luc Boltanski und Ève Chiapello als Verlängerung des gegenkulturellen Künstlersubjekts gedeutet haben.20 Eine solche Generalisierung des Konsumsubjekts und seiner ästhetischen Welthaltung bedeutet nun jedoch zweitens – ganz anders als die radikalästhetischen Bewegungen selbst es gehofft haben – nicht die Eröffnung eines Reichs der Freiheit jenseits eines Reichs der Notwendigkeit: Das individualästhetische Konsumsubjekt markiert keine Befreiung aus dem Sozialen zugunsten eines Spiels von Möglichkeiten, vielmehr liefert es einen neuen sozialen Anforderungskatalog von Kriterien, so wie auch die bürgerliche Kultur und die Angestelltenkultur ihre Anforderungskataloge geliefert haben: Ästhetisierung wird nun zur Norm, zur Form eines vollwertigen Subjekts. Entwicklung von Stilisierungsfähigkeit und Genussfähigkeit als Kompetenzen sind Bedingungen, unter denen der Einzelne nun – gerade auch in Arbeitsbeziehungen und persönlichen Beziehungen – gesellschaftlich und vor sich selbst akzeptabel wird. Der erfolgreiche Erwerb von ästhetisch-konsumtorischen Kompetenzen kann zu einer postmodernen Bedingung von sozialer Akzeptanz werden, so wie Moralität und Normalismus Subjektanforderungen in der bürgerlichen Moderne und der Angestelltenmoderne waren. Soziale Ungleichheit resultiert dann unter den spätmodernen Bedingungen nicht allein aus einer Ungleichheit der Ressourcen, sondern auch aus einer Differenz ästhetischer Kompetenzen, von Genuss- und Stilisierungfähigkeiten, die für sozialen Erfolg und subjektive Befriedigung im Feld des Konsums im engeren Sinne wie auch in Arbeitsbeziehungen und persönlichen Beziehungen mitverantwortlich sind.21 Wenn innerhalb der bür19 Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M., New York 2003. 20 Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. 21 Konsumkritische Bewegungen wie prominent LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability; vgl. www.lohas.com), die sich nach 2000 formiert haben, setzen dabei nicht die Konsumorientierung selber außer Kraft, sondern definieren legitimen Konsum auf eine Weise um, die ihn noch voraussetzungsreicher (im Sinne von Nachhaltigkeit etc.) macht. 232

DAS SUBJEKT DES KONSUMS IN DER KULTUR DER MODERNE

gerlichen Kultur Emma Bovarys konsumtorisch-ästhetische Haltung einen Grund zur moralischen Diskreditierung darstellte, so kann in der postmodernen Kultur gerade der Mangel an Genussfähigkeit und Stilisierung, die Unfähigkeit zum Künstlerideal den Einzelnen defizient erscheinen lassen. Emma Bovary war ihrer Zeit voraus.

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Die Erfindung des Kreativsu bjekts. Zur kulturellen Konstruktion von Kreati vität 1 »Ein Thier heranzüchten, das kreativ sein kann. […] Was setzt das […] alles voraus!«2 In der Kultur der Spätmoderne scheint »Kreativität« ein Spiel zu sein, an dem jeder teilnehmen kann – und muss. Auf dem Gebiet der philosophischen Ästhetik hat die Semantik der Kreativität und des Kreativen zwar einen deutlichen Niedergang erlebt, so dass HansUlrich Gumbrecht sie in einem Artikel von 1988 als »verbrauchten Begriff« umschreiben kann.3 In der sozialen Welt außerhalb des schmalen Bereichs der ästhetischen Theorie dagegen ist Kreativität seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zum Knotenpunkt eines expansiven Feldes von Diskursen avanciert, das entsprechende Arrangements sozialer Praktiken, Subjektivierungsweisen und Materialiäten beeinflusst. In ihnen allen hat die Fähigkeit, »kreativ« zu sein, die Fähigkeit, das eigene Potenzial von Kreativität zu entfalten, sich als grundlegendes Set von Kompetenzen eines zeitgenössischen Subjekts etabliert. Dies betrifft den Diskurs der Organisationen und des Managements, die Pädagogik und die Erziehung, den Diskurs der Psychologie im Allgemeinen, jenen der Persönlichkeitsbildung und der biographischen Selbsthilfe sowie schließlich den des Aufbaus privater Intimbeziehungen.4 Trotz der Diversität und 1 2

3 4

Dieser Aufsatz wurde zunächst in englischer Sprache geschrieben und ist von Hilmar Schäfer ins Deutsche übertragen worden. In Anlehnung an Friedrich Nietzsche: »Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift«, in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 5, München 1988, S. 291f. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Kreativität – ein verbrauchter Begriff?, München 1988. Vgl. nur Mihali Csikszentmihalyi: Creativity: Flow and the Psychology of Discovery and Invention, New York 1996; Robert J. Sternberg: Handbook of Creativity, New York 1999; Teresa M. Amabile: The Social Psychol235

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der vermeintlichen funktionalen Differenzierung dieser Felder scheinen sich die Kriterien für »Kreativität« als einer idealen, begehrenswerten und zu erreichenden Form von Subjektivität zwischen den Feldern ungehindert zu bewegen. In der spätmodernen Kultur lässt sich eine bemerkenswerte kulturelle Universalität des Begehrens und der Verpflichtung, kreativ zu sein, beobachten, wobei das Ideal des Künstlersubjekts – das Boltanski und Chiapello für das Feld der Ökonomie untersucht haben – und Richard Floridas urbane »kreative Klasse« sich als komplementäre Phänomene darstellen.5 Im universellen Horizont dieser spätmodernen Wissensordnung erschiene demgegenüber der Wunsch, nicht kreativ sein zu wollen, bereits am Rande des kulturell Intelligiblen. Während in anderen Phasen der Moderne das Primitive oder das Amoralische, das Exzessive oder das sozial Marginalisierte das jeweilige negative Anti-Subjekt lieferten, ist es nun der Nicht-Kreative, derjenige, dem es an kreativen Kompetenzen mangelt, der eine solche Figur außerhalb des Respektierbaren, ja sogar des Normalen zu bilden scheint.6 Um sich Klarheit über die extreme Spezifizität und Kontingenz dieses historischen Moments zu verschaffen, in dem sich die soziale Generalisierung und kulturelle Universalisierung des Kreativen vollzieht, ist es notwendig, in der Genealogie und Archäologie der Moderne einen Schritt zurückzugehen. Dabei offenbart sich ein soziologisches Problem: Wenn man sich geläufige soziologische große Erzählungen über die Moderne in Erinnerung ruft, erscheint als dominante Kultur der Subjektivität regelmäßig eine, die dem Ideal der Kreativität und der Expressivität, der sensibilisierten Wahrnehmung und der Stilisierung diametral

5

6

ogy of Creativity, New York 1983; Robert J. Sternberg/Todd I. Lubart: Defying the Crowd. Cultivating Creativity in a Culture of Conformity, New York 1995; Daniel L. Rubenson/Marc A. Runco: »The psychoeconomic approach to creativity«, in: New Ideas in Psychology 10 (1992), S. 131-147; Karl Gebauer/Gerald Hüther: Kinder brauchen Spielräume: Plädoyer für eine kreative Erziehung, Düsseldorf 2003; Charles Landry: The Creative City: A Toolkit for Urban Inovators, London 2000. Vgl. als Ansätze zu einer kritischen Analyse des Phänomens Marion von Osten (Hg.): Be creative! Der kreative Imperativ, Zürich 2002; Angela McRobbie: »›Jeder ist kreativ‹. Künstler als Pioniere der New Economy?«, in: Jörg Huber (Hg.), Singularitäten – Allianzen. Interventionen II, Wien, New York 2002, S. 37-59 Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Richard Florida: The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002. Ein solches »Anderes« kreativ-expressiver Subjektivität wird bei Ehrenberg im Muster des depressiven Selbst ausgemacht: Vgl. Alain Ehrenberg: La fatigue d’être soi. Dépression et société, Paris 1998.

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entgegengesetzt ist: eine Kultur der Rationalisierung und Disziplinierung des modernen Menschen. Führende Theoretiker der Moderne wie Marx, Weber, Elias, Adorno und Foucault teilen bei allen Differenzen das Bild der Moderne als Rationalisierungsprozess. Der korrespondierende Subjektivitätstyp ist dann durch die Internalisierung normativer Regeln, zielgerichtete und geordnete Handlungen sowie reflexive Selbstkontrolle gekennzeichnet. In der langen Geschichte der Moderne haben deren bürgerliche Ausprägung vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sowie anschließend die Formation einer »organisierten Moderne« von den 1920er bis in die 1970er Jahre die kulturelle Modellierung eines Subjekts, das dem Typus der Kreation und der Expressivität, des experimentellen Spiels mit Bedeutungen entspricht, dagegen auf den engen Bereich der Künste beschränkt. In der gegenwärtigen Konstellation omnipräsenter Kreativitätsdiskurse kann die Merkwürdigkeit dieser Entwicklung leicht übergangen werden: eine Verschiebung dominanter Modelle von Subjektivität, die auf den ersten Blick der vollständigen Inversion einer anti-hegemonialen in eine hegemoniale Semantik gleichkommt. Wie kam es zu dieser kulturellen Inversion? Zwei Aspekte dieses Prozesses der Expansion kreativer Subjektivierungsformen sind von besonderem Interesse: zum einen die historische Sequenz moderner ästhetischer Bewegungen, von der Romantik über die Avantgarde-Bewegungen zur postmodernen Counter Culture, die über das Gebiet der Künste hinaus als Feld bestimmter Techniken und Definitionen eines generalisierten und naturalisierten ästhetischen Selbst interpretiert werden kann. Zum anderen lässt sich ein Prozess der Überlappung und Überdetermination ausmachen, der sich an der Schnittstelle von ästhetischen, ökonomischen und psychologischen Diskursen im 20. Jahrhundert vollzieht. Die beiden grundlegenden und komplexen historischen Bedingungen für die Hegemonie des Kreativsubjekts sind damit die Universalisierung eines ästhetisch-expressiven Subjekts in den ästhetischen Gegenbewegungen von 1790 bis 1970 einerseits, der ästhetisch-ökonomisch-psychologische Komplex des Kreativen im 20. Jahrhundert andererseits. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden in einem ersten Zugriff skizziert werden: Zunächst werde ich knapp einige zentrale Analysekategorien einer solchen Genealogie/Archäologie kreativer Subjektivierungsformen vorstellen. Anschließend soll der Universalisierungsprozess kreativer Subjektivität in der Sequenz ästhetischer Gegenbewegungen zur Moderne vorgestellt werden. Schließlich werde ich einen Ausblick auf Prozesse der Diskursinterferenzen im 20. Jahrhundert geben, die eine Hegemonialisierung des Kreativen ermöglicht haben.

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K r e a t i v i t ä t a l s Ar s e n a l vo n S u b j e k t i vi e r u n g s t e c h n i k e n Eine Analyse der Genese und Transformation kreativer Subjektformen kann auf Michel Foucaults Ansatz einer Archäologie und Genealogie von Subjektivierungsweisen zurückgreifen, ohne Foucault kurzerhand zu imitieren, der in gewisser Weise die Bedeutung der kreativen Selbstmodellierung moderner Subjektivität unterschätzt hat. Was charakterisiert eine – im weiten Sinne – Foucault’sche, poststrukturalistische Analyse kreativer Subjektformen?7 Im Kontext moderner Diskurse und Praktiken wird Kreativität zunächst als ein Bündel bestimmter Attribute der Produktion von Neuem verstanden: Der Kreative produziert Neuartiges, Überraschendes, das nicht der Regel oder Norm folgt. Diese Kreativitätskompetenz scheint eng einerseits mit »Expressivität«, das heißt einer Ausdrucksfähigkeit des Individuellen, einer Kompetenz, seine individuelle Vorstellungswelt in bestimmte Objekte umzuwandeln, andererseits mit einer sensibilisierten sinnlichen Wahrnehmung (der Außenwelt wie von sich selber) verknüpft zu sein. Üblicherweise wird diese Kreativität einem Individuum, einem Einzelnen in seiner Besonderheit zugeschrieben. Sie erscheint als etwas Inneres, Gegebenes: als Qualität der individuellen Innenwelt, eine schöpferische Intuition, die in einem präkulturellen, präsozialen Bereich existiert. Wenn hier soziale Kräfte wirken, dann als solche, die versuchen, Kreativität zu unterdrücken, sie in Schach zu halten.8 An dieser Stelle kann eine analytische Perspektive, die von Foucault und anderen Poststrukturalisten beeinflusst ist, ansetzen und die Sichtweise auf kreative Subjektivität umkehren: Sie führt die vermeintliche Autonomie des modernen Subjekts auch in seiner kreativen Version auf eine Unterwerfung unter bestimmte kulturelle Kriterien zurück, welche in einem Prozess der Subjektivierung/Subjektivation legitime Formen von Subjektivität definieren und über entsprechende körperlich-mentale Techniken produzieren. Die scheinbare Innenwelt des Subjekts kann so als das Resultat einer kulturellen »Falte« (Deleuze) verstanden werden. Foucault zufolge trifft dies insbesondere auf Eigenschaften des rationalen Subjekts der Moderne wie Reflexivität oder moralisches Gewissen zu. Die Grundidee lässt sich jedoch auf den Komplex der Kreativität 7

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Vgl. A. Reckwitz: Subjekt, S. 23ff.; Nikolas Rose: »Identity, genealogy, history«, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London 1996, S. 128-150. Vgl. zum klassischen Kreativitätsbegriff Erich Neumann: Der schöpferische Mensch, Zürich 1959; Heinrich Popitz: Wege der Kreativität, Tübingen 1997.

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übertragen: Gegen die Tendenz, sie als etwas Inneres und Natürliches, als natürlichen Kern des Individuums zu beschreiben, der – in Erweiterung einer Foucault’schen Repressionshypothese – von sozialen Kräften unterdrückt wird, kann Kreativität als Produkt überaus spezifischer historischer diskursiver Formationen analysiert werden, welche die vermeintlich kreativen Attribute des Subjekts als eine allgemeine kulturelle Form definieren, naturalisieren und auch hervorbringen. Es gibt keine »natürliche Kreativität«, vielmehr sind die kulturellen Trainingsprogramme zu verfolgen, welche diese Kreativität systematisch herstellen (oder versuchen, gerade nicht herzustellen) und sie darin auch universalisieren. Kreativität kann jedoch nicht allein als diskursive Produktion rekonstruiert, sondern muss gleichzeitig als Produkt spezifischer kultureller Praktiken verstanden werden, bestimmter Selbsttechnologien, die mit Diskursen verbunden sind und einen Körper – auch einen Geist und eine Psyche – so formen, dass sie eine routinemäßige kreative Fähigkeit aufweisen. Um es in Anlehnung an Judith Butler zu formulieren: Der vermeintlich innere Kern der Kreativität erscheint nun als Sequenz performativer Akte, die das hervorbringen, was sie vorauszusetzen scheinen.9 Kreativität erhält auf diese Weise einen »technischen« Charakter und ist darin auch häufig an Artefakte gekoppelt. Die Frage lautet dann: Welches sind die Techniken, durch die in einem spezifischen kulturellen Kontext Handlungen und Wahrnehmungen als sogenannte »kreative« hergestellt werden? In Hinblick auf Kreativität erscheint diese Perspektive in gewisser Weise paradox: Kreativität wird oft nicht nur als eine Eigenschaft des Individuums beschrieben, sondern auch als eine Sequenz erratischer, disruptiver Akte, welche die Normalität der Alltagsroutine durchbrechen. Die Perspektive, die man mit Foucault favorisieren kann, lenkt hingegen die Aufmerksamkeit auf den Routineaspekt des Kreativen, darauf, dass sie selber aus bestimmten regelmäßigen Techniken besteht, in denen gewissermaßen die Produktion von Neuem selber zur Routine wird. Natürlich ist diese Perspektive mit einer gewissen Entzauberung des Kreativen verknüpft: Er ist nicht wirklich die grundsätzliche individualistische Gegenfigur zur menschlichen Rationalmaschine der Moderne. Er entsteht selber infolge eines radikal modernen Subjektivierungsprogramms: jenes des schöpferischen, experimentellen Menschen. Für eine Analyse kreativer Subjektivierung sind noch zwei weitere Aspekte hervorzuheben: zum einen das »leidenschaftliche Verhaftet9

Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 37ff. 239

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sein«, das mit dem Modell des kreativen Wesens verbunden ist, zum anderen die Materialität der kreativen Praktiken. Jegliche Subjektivität, die kreative eingeschlossen, ist von einer Doppelstruktur gekennzeichnet: Sie stellt ein Set kultureller Kriterien des Adäquaten und des Legitimen dar, aber sie ist gleichzeitig das Objekt beträchtlicher psychischer, affektiver Investition. Judith Butler nennt diesen zweiten Aspekt das »leidenschaftliche Verhaftetsein« (passionate attachment) mit einer Form von Subjektivität.10 Um die Bedeutung der Figur des Kreativen für die Kultur der Moderne zu verstehen, erscheint es in der Tat notwendig, beide Aspekte zu berücksichtigen: Einerseits kann sie als Katalog kultureller Kriterien angemessener Subjektivität analysiert werden – dies ist der im engeren Sinne Foucault’sche Aspekt –, andererseits ist sie als Ich-Ideal mit affektiver Anziehungskraft zu rekonstruieren. Kreativität ist (wie übrigens in anderen Kontexten auch Moralität oder Sachlichkeit) kein bloßes Ziel eines bestimmten kulturellen Erziehungsprogramms; ohne diese leidenschaftliche, affektive Verhaftetheit bliebe die kulturelle Attraktivität kreativer Eigenschaften und ihre Motivationskraft unerklärbar. Ein zweites Element kreativer Praktiken und ihrer Subjektivierungsformen betrifft ihren Zusammenhang mit Artefakten. Kreative Praktiken sind wie alle sozialen Praktiken in komplexe Subjekt-Objekt-Konstellationen kulturell geformter Materialität eingebettet. Eine spezifische Subjektivität wird nicht nur immer in sozialen Praktiken produziert, letztere enthalten ein Ensemble von Artefakten, von Räumen und Architektur, Werkzeugen im weiteren Sinne und technischen Medien. Foucaults Perspektive auf diese umfassenderen »Dispositive« hat beispielsweise für die Frage nach der Genese einer moralorientierten Subjektform den Blick darauf gelenkt, welche Bedeutung Artefakten wie Tagebüchern oder Privaträumen für die Ausbildung von Techniken moralischer Selbstbefragung und damit einer subjektiven Innenwelt von Bewusstsein und Gewissen zukommt.11 Was die Form des Kreativsubjekts betrifft, kann man die Aufmerksamkeit auf analoge Weise diesen materiellen Bedingungen und Artefakten zuwenden, welche für kreative Praktiken nicht bloß instrumentelle, sondern konstitutive Bedeutung besitzen: den technischen Medien der Zeichenverarbeitung von der Schrift bis zum Computer oder etwa der Strukturierung des Raums in Ateliers und Kreativbüros, bis hin zu ganzen Stadtvierteln, in denen sich eine Kreativindustrie ansiedelt.

10 Vgl. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, Kap. 3. 11 Vgl. N. Rose: »Identity, genealogy, history«. 240

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Ästhetische Bewegungen und i h r e P r o g r a m m i e r u n g d e s K r e a t i ve n Wo kann eine Analyse der Genese, Metamorphose und Generalisierung des Kreativsubjekts vor dem Hintergrund des subjektivierungstheoretischen Programms ansetzen? Zur Erklärung der Etablierung einer kreativen Subjektivität im Rahmen der (post-)modernen Kultur sind die ästhetischen Bewegungen der Moderne von besonderem Interesse. Drei Komplexe von ästhetischen Bewegungen haben langfristig einen herausgehobenen Einfluss auf die Definition und Praxis dessen entfaltet, was das Kreativsubjekt ausmacht: die Romantik um 1800, die verschiedenen so genannten Avantgarde-Bewegungen um 1910/1920, schließlich in den 1960er und 70er Jahren der Komplex kulturrevolutionärer Counter Cultures und ästhetischer Bewegungen des Postmodernismus.12 Aus der Perspektive einer kulturellen Archäologie und Genealogie ist eine bestimmte Haltung diesen Bewegungen gegenüber angezeigt. Zunächst kann es nicht darum gehen, historische »Wurzeln« oder kontinuierliche »Traditionen« von Kreativität im modernen Denken auszumachen, wie Charles Taylor dies in seiner grundlegenden Untersuchung Quellen des Selbst verfolgt hat.13 Romantik, Avantgarde-Bewegungen und postmodernistische Counter Cultures können vielmehr als kulturelle Nischen aufgefasst werden, in denen zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt alternative und zunächst widerstreitende Diskurse und materielle Praktiken mit Bezug auf Subjektivität produziert werden. Sie bilden keine kontinuierlichen historischen Traditionen, sondern kulturelle Elemente, die von anderen kulturellen Kontexten später selektiv aufgegriffen und reinterpretiert werden. Statt von einer Logik der kulturellen Kontinuität ist also von einer diskontinuierlichen Logik historischer Intertextualität auszugehen. Zweitens lassen sich die ästhetischen Bewegungen weder auf bloße Kunstrevolutionen noch auf anti-moderne Protestbewegungen reduzieren. Oft wurde die Lesart vertreten, dass Romantik und modernistische Avantgarde im Besonderen eine Autonomisierung der Kunst gegenüber anderen Sphären der modernen Gesellschaft vorangetrieben hätten. In der Soziologie findet sich zudem die Position, dass diese Bewegungen als anti-moderne, ja regressive Kräfte verstanden werden müssten, die –

12 Vgl. zu den Programmen und Techniken ästhetischer Subjektivation in diesen drei historischen Kontexten auch A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 2.2, 3.1, 4.1. 13 Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996. 241

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letztlich erfolglos – einen anti-rationalen Kampf angezettelt hätten.14 Aus der Perspektive einer Archäologie von Subjektivierungsweisen lässt sich eine andere Darstellung vertreten: Romantik, modernistische Avantgarde und postmodernistische Counter Culture sind im Gegenteil radikal modern in dem Sinne, dass sie die Moderne und vor allem die Form des modernen Subjekts fundamental neu definieren – im Sinne einer ästhetischen Subjektivität. Hier ist keine Gegenmoderne, sondern eine andere Moderne am Werk. Insbesondere jedoch ist die ästhetische Subjektivierung in allen drei Bewegungen nicht auf die Kunst als gesellschaftliche Sphäre beschränkt, sondern zielt auf eine Universalisierung des ästhetischen Selbst: Das ästhetische Subjekt wird hier diskursiv und zum Teil auch praktisch als generalisierbare Subjektform produziert, und es werden nicht nur Codes, sondern auch Techniken, Affektformate und Materialitäten entwickelt, welche eine solche ästhetische Subjektivierung betreiben, die sich ex post regelmäßig als Entfaltung einer natürlichen Tendenz »im Menschen« präsentiert. Auf diese Weise können sich die Bewegungen selbst als Ansätze einer kulturellen Revolution verstehen und bilden tatsächlich anti-hegemoniale Bewegungen einer generellen Subjekttransformation hin zum Ästhetischen, die nach einer neuen Hegemonie trachtet. Die Romantik bildet den ersten Komplex von Diskursen und Praktiken, der um 1800 eine bestimmte Form ästhetischer Subjektivität entwickelt, die das Kreative, »Schöpferische« als ein spezifisches Element innerhalb einer umfassenderen Ästhetik enthält.15 Der semantische und technische Aufwand dieser Reformulierung ist beträchtlich.16 Die roman-

14 Vgl. exemplarisch für eine solche Einordnung der ästhetischen Bewegungen die Kritik an der Romantik: Karl-Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a.M. 1989, und für die autonomistische Lesart des AvantgardeModernismus: Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild, München 2001. 15 Die Romantik als Diskurskomplex schließt hier auch den literarischen »Sturm und Drang« ein. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985. Auch vor der Romantik ist die Figur des künstlerischen Schöpfers vorhanden – etwa in der Renaissance –, aber erst die Romantik beginnt das ästhetische Subjekt als Gegenstand eines systematischen Subjektivierungsprogramms zu behandeln. 16 Vgl. nur Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1989; Georges Gusdorf: L’homme romantique, Paris 1984; Gerald N. Izenberg: Impossible Individuality. Romanticism, Revolution, and the Origins of Modern Selfhood, 1787-1802, Princeton 1992; Jerome McGann: The Romantic Ideology: A Critical In242

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tische Konstruktion von Subjektivität beruht zunächst auf einem Set von Differenzen gegenüber der dominanten bürgerlichen Identität eines rationalen Akteurs, und zwar auf drei Ebenen: Sie ist auf der Sozialebene gegen Moralität, auf der Sachebene gegen die Nützlichkeit zweckbestimmter Rationalität sowie auf der Zeitebene gegen den Routinecharakter sich wiederholender Handlungen gerichtet. Der romantische Diskurs führt eine kulturelle Inversion herbei, in deren Folge das vormals Erwünschte sich als das Defizitäre erweist: Das moralische Selbst stellt sich als Beschränkung des Möglichkeitshorizonts heraus; die zweckgerichtete Rationalität als Maßnahme zum Aufschub von Wunschbefriedigungen; Wiederholung erscheint als Eintönigkeit und Langeweile. Grundsätzlich ist der romantische Diskurs gegen die Form eines regelfolgenden Subjekts in einem geordneten, realistischen Universum gerichtet, wie es sich im bürgerlichen Leben vor allem in der bürgerlichen Familie lokalisieren lässt. Was Lothar Pikulik das romantische »Unbehagen gegenüber der Normalität« nennt,17 wird nun positiv in einen Code des Ästhetischen umgewendet. Im Rahmen dieses Verständnisses des Ästhetischen sind nicht die äußeren Handlungen des Subjekts entscheidend; das Selbst wird vielmehr als eine innere Sphäre von sinnlichen Wahrnehmungen und Interpretationen, als Urheber eines bedeutungsvollen Universums verstanden, dessen Zentrum es bildet. Dem bürgerlichen Alltagsrealismus wird so ein romantischer Konstruktivismus gegenübergestellt, in dem die Gegenstände der Welt nicht objektiv vorhanden sind, sondern als kontingente, »romantisierbare« Bedeutungsträger gefasst werden. In diesem Zusammenhang entwickelt der romantische Diskurs eine reichhaltige Semantik der Innenwelt, die Wahrnehmungen, Vorstellungen und Emotionen umfasst, ein »Tiefenmodell« (McGann) des romantischen Subjekts.18 Ästhetik wird hier im Sinne des griechischen »aisthesis« verstanden: Das Subjekt erscheint als Zentrum von sinnlichen Wahrnehmungen variabler Intensität. Der romantische Diskurs der Subjektivität ist dabei eng mit bestimmten romantischen Praktiken verbunden, mit Selbsttechnologien, die ein Trainingsprogramm für romantische Selbstwerdung bilden. Romantische Liebe, aber auch die Beobachtung der Natur oder die Praxis des Musikhörens sind solche Techniken zur Produktion der empfindsamen Innenwelt romantischer Subjekte. Vor diesem Hintergrund kann die Romantik ihr Subjekt emphatisch vestigation, Chicago 1983; Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M. 1989. 17 Vgl. Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt a.M. 1979. 18 Vgl. J. McGann: The Romantic Ideology, auch Charles J. Rzepka: The Self as Mind, Cambridge (Mass.) 1986. 243

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als ein »kreatives« formen. Den Semantiken der Individualität, des Ausdrucks und des Neuen kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. Dass der romantische Diskurs und insbesondere bestimmte romantische Praktiken – zum Beispiel die sensibilisierte Selbstbeobachtung von Wahrnehmungen und Emotionen – einen radikalen Code der »Individualität« hervorbringen, ist oft angemerkt worden.19 Paradoxerweise besteht die verallgemeinerte Form des romantischen Subjekts darin, partikular zu sein, individuell im Sinne von etwas Einzigartigem, Unersetzbarem. In der romantischen Selbstrepräsentation ist diese Partikularität in jeder Person auf natürliche Weise immer schon präsent, doch faktisch wird dieser vermeintlich natürliche Kern eines Individuums als Effekt bestimmter Prozeduren, z.B. der Selbstbeobachtung von Phantasien, einem Training, das Einzigartige im geliebten Anderen zu sehen usw., letztlich systematisch produziert. Die von der Romantik hergestellte Innenwelt präsentiert sich als ihre eigene Voraussetzung. Dieser Code der Individualität kann dann einen viel spezifischeren Code hervorbringen: die bekannten romantischen Semantiken der Originalität und der Genialität.20 Individualität ist eng mit Expressivität verbunden: Das romantische Konzept des »Ausdrucks« steht im Zentrum der Produktion von Kreativität.21 Das romantische Subjekt lebt primär in seiner Innenwelt, strebt aber gleichzeitig danach, seine inneren Prozesse in Handlungen und Äußerungen auszudrücken. Dabei kommt der Außenwelt eine doppelte Bedeutung zu: als Projektionsfläche von Interpretationen und Intensitäten sowie als Ausdruck innerer Ideen. Die romantische Strukturierung von Handlungen unterscheidet sich daher von ihrem bürgerlichen Gegenmodell grundsätzlich: Handlungen sind nicht primär ein Mittel zum Zweck oder norm- und wertgeleitet, sondern Prozeduren der Gestaltung von Objekten (Tönen, Wörtern, natürlichen Materialien etc., einschließlich des eigenen Selbst und intersubjektiver Beziehungen) entsprechend den inneren Bestrebungen, sich selbst in äußeren Werken und Handlungen zu spiegeln. Dieses Modell expressiver Kreativität setzt ein positives Verständnis des »Neuen« voraus: Die Romantik betreibt eine diskursive Verschiebung von einer Ästhetik der Imitation zu einer Ästhetik der Erfindung. Diese Ästhetik der Erfindung operiert mit einem Konzept der Imagination, welches Coleridge mit dem klassischen fancy (Einbil19 Vgl. bereits Georg Simmel: »Die beiden Formen des Individualismus«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1995, S. 49-56; vgl. auch G. Izenberg: Impossible Individuality. 20 Vgl. auch Edgar Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926; J. Schmid: Die Geschichte des Genie-Gedankens. 21 Vgl. C. Taylor: Sources of the Self, S. 368ff. 244

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dungskraft, Phantasie) kontrastiert:22 Imagination bedeutet, bekannten Phänomenen neue Bedeutungen zuzuschreiben, das Neue wird hier also an eine Bedeutungsverschiebung gekoppelt. Die Prämierung des radikal Neuen gegenüber der bloßen Wiederholung des Gleichen ist wiederum nicht einfach ein diskursives Faktum, sondern Ziel systematischen Trainings. In der Romantik – z.B. in den Praktiken romantischer Autoren und Komponisten – finden sich eine Reihe dieser Techniken: das Spiel der freien Assoziation und Kombination, der Rekurs auf verfremdende/befremdende Bedeutungen, schließlich ein Vertrauen in den Zufall, das nicht auf durchgeplante Konstruktionen setzt, sind solche romantischen Kreativitätstechniken.23 Die soziale Basis romantischer Subjektivierung findet sich in einer kleinen, bürgerlichen Gruppe, doch ihre Redefinition des Subjekts erhebt den Anspruch einer universalen Perspektivverschiebung. Das echte, »authentische« Subjekt soll ein ästhetisches in der Bedeutung eines expressiv-kreativen sein – die rhetorische Struktur dieser Universalisierung umfasst häufig einen Verweis auf die »Natur«, teilweise auch auf religiöse Kräfte. Es finden sich jedoch im Kontext der Romantik verschiedene Grenzen der Universalisierung: Eine Grenze bildet der mehrdeutige Gebrauch einer Semantik der Genialität, der teilweise suggeriert, dass qualitative Differenzen zwischen den Menschen existieren, was ihre ästhetischen Dispositionen und expressiven Kompetenzen betrifft. Die Figur des Künstlers erscheint daher nicht ohne weiteres generalisierbar, sondern verweist vielmehr in mancher Hinsicht auf ein unerreichbares elitäres Modell. Zweitens ist die ästhetische Revolution der Romantik – trotz aller Rhetorik der umfassenden »Romantisierung« – weniger auf das Alltägliche als auf das Außeralltägliche bezogen. Es lässt sich eine deutliche Abgrenzung gegenüber dem Alltäglichen ausmachen, die das Romantische dazu bringt, sich in Nischen wie den Umgang mit der Natur oder der Musik einzurichten und zentrale Felder des bürgerlichen Lebens wie Arbeit oder Politik zunächst auszuklammern. Schließlich scheinen das Soziale und das Intersubjektive einen blinden Fleck im romantischen Universum zu bilden, das – mit Ausnahme des Modells der romantischen Liebe – durch eine monologische Struktur gekennzeichnet ist. Kreativität ist dann etwas, was der Einzelne mit sich selber aus-

22 Vgl. Samuel T. Coleridge: Biographia Literaria, Princeton 1983, S. 16, S. 81ff., S. 305. 23 Vgl. zum romantischen Verständnis des Neuen, welches ein momentanistisches Zeitbewusstsein voraussetzt, K. Bohrer: Der romantische Brief, S. 199ff., zu den Kreativitätstechniken romantischer Künstler vgl. M. Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 272-286. 245

ÄSTHETISIERUNGEN

macht, während die Rolle des Anderen, des Publikums, des »Sozialen« bei der Validierung des Kreativen nicht konstitutiv erscheint.24 Die Kulturen der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die späteren postmodernistischen Counter Cultures der 1960er/70er Jahre eignen sich die romantischen Diskurse und Praktiken der Kreativität an und reinterpretieren sie. Die verschiedenen Avantgardebewegungen ab 1900 – Ästhetizismus, Expressionismus, Lebensreform, Futurismus, Surrealismus, Dadaismus und andere – können als zweiter Versuch der Universalisierung einer ästhetisch-kreativen Subjektivität im Rahmen einer anti-bürgerlichen Kulturrevolution verstanden werden. Erneut, allerdings auf eine andere Weise werden hier das Ästhetische und das Kreative als Eigenschaften eines radikalmodernen Subjekts verallgemeinert. Einige Elemente sollten hervorgehoben werden, in denen sich die Diskurse und kreativen Praktiken der Avantgarde von denen der Romantik unterscheiden und die für die spätmoderne Aneignung von Relevanz sind: die Semantik des Transgressiven, die Ästhetisierung der modernen Objektewelt, schließlich das Modell der Subversion, das ein »Publikum« voraussetzt. Obwohl die Vorstellungen des Ästhetischen in den verschiedenen Bewegungen der Avantgarde nicht identisch sind, verstehen sie alle Praxis und Subjekt als inhärent transgressiv.25 Transgression wird als eine apriorische Qualität von Subjekten gesehen, die jedoch in bürgerlichen Verhältnissen systematisch unterdrückt scheint. Die Identifikation des Selbst mit etwas inhärent Transgressivem bedeutet, dass es eine Tendenz besitzt, seine eigenen Grenzen zu sprengen, Strukturen und Systeme aufzubrechen und niemals das Gleiche zu bleiben. Man kann dies als eine vorgeblich apriorische Kreativität des Subjekts verstehen, weniger in dem Sinne, dass es Werke produziert und expressiv ist, sondern vielmehr, dass es eine Tendenz hat, seine eigene Form zu verändern und so selbst immer wieder zu etwas Neuem zu werden. Entscheidend für die Konzepte und Techniken solcher Transgressionen ist ein Verständnis der Objektwelt als eine Irritationsfläche für die Selbsttransformation: Wenn die Kulturen der Avantgarde eine positive Idee des Neuen voraussetzen, dann die Idee eines radikal Neuen, das der 24 Vgl. zu den Konsequenzen der außeralltäglichen Monologisierung auch Christopher Schwarz: Langeweile und Identität. Eine Studie zur Entstehung und Krise des romantischen Selbstgefühls, Heidelberg 1993. 25 Vgl. dazu grundsätzlich Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974; Peter Osborne: The Politics of Time. Modernity and Avantgarde, London 1995; Richard Sheppard: Modernism – Dada – Postmodernism, Evanston (Ill.) 2000, S. 1-88; Jerold Seigel: Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830-1930, New York 1986. 246

DIE ERFINDUNG DES KREATIVSUBJEKTS

immer wieder durch externe Stimuli und Affizierungen einer dynamischen Objektwelt irritierten Wahrnehmungsstruktur des Subjekts entspringt.26 Diese Objektwelt ist die emphatisch moderne Welt der Metropole und ihrer technologischen Apparate, der neuen audiovisuellen Medien und der Massenveranstaltungen, des Verkehrschaos, des Massenkonsums sowie der öffentlichen Sexualität. Im Unterschied zur romantischen Verankerung von Kreativität in der natürlichen Innerlichkeit des Subjekts – von der aus die moderne Außenwelt leicht potenziell entfremdend scheinen kann –, begründen die Avantgarde-Kulturen die Selbsttransformation in der Offenheit des Subjekts gegenüber der faszinierenden und irritierenden Außenwelt urbaner Modernität. In der Konsequenz kehrt die Kultur der Avantgarde – zumindest teilweise – die romantische Priorität vom Natürlichen zum Künstlichen, Artifiziellen um. Die Transgression des Avantgarde-Subjekts ergibt sich aus der erfinderischen Aneignung der Eindrücke und Objekte einer urbanen, technischen Welt, und charakteristische Selbsttechnologien des AvantgardeSubjekts sind die Filmrezeption, wie sie Walter Benjamin beschreibt, oder das Umherstreifen des großstädtischen Flaneurs.27 Schließlich betreiben die Avantgardekulturen eine Prämierung der »Subversion« und modellieren damit die Produktion von Neuem als eine intersubjektive Relation.28 Das Subjekt unterzieht sich nicht nur einem Training darin, Schocks und irritierende Eindrücke zu erfahren, sondern ist auch durch das Ziel motiviert, diese Irritationen bei anderen hervorzurufen. Kreative Akte im weitesten Sinne sind daher im AvantgardeKontext subversive Akte, die das Alltagsverständnis irritieren und es mit überraschenden, zum Teil auch schockierenden Alternativen der Wahrnehmung oder des Handelns konfrontieren. Damit erhält Kreativität im Avantgardekontext im spezifischen Sinne eine soziale Bedeutung: Für den Romantiker stellte Kreativität primär einen Akt individueller Produktion dar, deren Ursprung in einer subjektiven Innenwelt liegt; für die Avantgarde dagegen kann die Produktion des Neuen nur vor dem sozialen Hintergrund des Alltagsverstandes bemessen werden, zu dem der 26 Vgl. Marshall Berman: All That Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity, London 1988; John Jervis: Exploring the Modern. Patterns of Western Culture and Civilization, Oxford 1998. 27 Vgl. Walter Benjamin: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt a.M. 1977, S. 170-184. 28 Vgl. Richard Murphy: Theorizing the Avant-Garde. Modernism, Expressionism, and the Problems of Postmodernity, Cambridge 1998; Marjorie Perloff: The Futurist Movement. Avant-Garde, Avant Guerre, and the Language of Rupture, Chicago 1986; Peter Bürger: Der französische Surrealismus, Frankfurt a.M. 1971. 247

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kreative Akt sich subversiv verhält. Neu ist hier das, was sozial geteilte Bedeutungen irritiert und sprengt. Kreative Akte als subversive Akte bedürfen daher eines »Publikums«, dessen Reaktionen einen Maßstab dafür liefern, ob etwas als irritierend gelten kann. Charakteristisch für die im engeren Sinne künstlerische Kreativität der Avantgarde ist dabei, dass die Produktion des Neuen in vielerlei Hinsicht ihren Aspekt individueller Originalität verliert und vielmehr als experimentelles Anordnen von Objekten verstanden und praktiziert wird. Es ist nicht die Erfindung, sondern die Kombination von bestehenden Elementen, die im Sinne der Avantgarde etwas Neues ausmacht.29 Das Feld von Objekten mit dem Potenzial, kreativ manipuliert zu werden, kann dann bis ins Undenkliche auf den gesamten Bereich der Alltagsgegenstände ausgedehnt werden – den Bereich der objets trouvés beliebiger Herkunft. Damit radikalisiert die Subjektkultur der Avantgarde in mehrerer Hinsicht den universalisierenden Anspruch einer ästhetischen, kreativen Subjektivität: im kulturellen Modell eines transgressiven Selbst, das sich in Richtung Selbstüberschreitung bewegt; in der systematischen Heranziehung einer Sensibilität für jene perzeptiven und affektiven Irritationen, die von der modernen, insbesondere urbanen Objektwelt ausgehen; schließlich in einer Praxis der Subversion, welche das Neue als eine perzipierte Regelabweichung durch ein Publikum modelliert. Die dritte anti-hegemoniale kulturelle Bewegung, die das Modell eines kreativen Subjekts zu universalisieren versucht, formiert sich in den 1960er und 70er Jahren. Die sogenannten Counter Cultures, verbunden mit spezifischen postmodernistischen künstlerischen Praktiken, bilden eine dritte soziale Nische für das Projekt einer Kulturrevolution, deren Anspruch es ist, Subjektivität in radikalästhetischer Richtung neu zu definieren. Der Begriff »Counter Culture« weist – anders als engere, politisch orientierte Konzepte wie das der »Studentenbewegung« – darauf hin, dass die soziologische Relevanz dieser Bewegung weniger in ihrem tagespolitischen Charakter, sondern primär in ihrem kulturrevolutionären Impetus einer Revolutionierung des Alltagslebens zu suchen ist.30 Dieses Projekt ist – über gelegentliche sozialistische Versatzstücke hinaus – im Kern motiviert von einer anti-rationalen Ästhetik, wie sie explizit in den Texten der französischen Situationisten der 1950er und 29 Vgl. dazu nur Beate Bender: Freisetzung von Kreativität durch psychische Automatismen. Eine Untersuchung am Beispiel der surrealistischen Avantgarde der zwanziger Jahre, Frankfurt a.M. 1989. 30 Vgl. zu einer solchen Interpretation Sadie Plant: The Most Radical Gesture. The Situationist International in a Postmodern Age, London, New York 1992; Greil Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert, Hamburg 1992. 248

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60er Jahre vertreten wird.31 Das ästhetische Gegen-Subjekt bleibt nicht auf die Diskursebene beschränkt, sondern kann sich in einem Ensemble von Praktiken der Subjektivierung verschiedenster Felder wie Sexualität, Musik, Meditation, kollektiver Arbeit usw. formieren. Auch die postmodernistische Kunst in den 1960er und 70er Jahren kann in den diskursiven Horizont der Counter Cultures im weiten Sinne eingebettet werden. Während die Romantik und die Avantgarde um künstlerische Bewegungen zentriert sind, erscheinen in der Counter Culture künstlerische Praktiken allerdings nur als ein Element neben anderen Praktiken, die jedoch alle eine ästhetisch-kreative Orientierung teilen. Es treten erneut komplexe Prozesse der kulturellen Wiederaneignung zwischen den Counter Cultures und den Kulturen der Avantgarde sowie der Romantik auf, jedoch finden sich zugleich mehrere Umakzentuierungen, vor allem in vier Hinsichten: Psychologisierung, Semiotisierung, Körperorientierung und Kollektivorientierung. Was das rhetorische Fundament für die Universalisierung kreativer Orientierungen betrifft, initiiert die Counter Culture eine dezidierte Psychologisierung. Semantische Elemente einer natürlichen Expressivität oder einer basalen Transgressivität des Selbst werden wiederaufgenommen, doch ihre Psychologisierung versucht eine theoretisch begründbare fundamentale Motivation zur Kreativität in die psychisch-mentale Struktur des Menschen zu projizieren. Paradigmatisch erscheint diese Motivation als eine Art von Lustprinzip und die klassische gegenkulturelle Form der Psychologisierung findet sich bei Marcuse, der vor dem Hintergrund einer Differenz zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip einen »ästhetischen Eros« identifiziert, welcher sich unter anderem in der Lust am kreativ-experimentellen »Spiel« niederschlage, das über das bloße Realitätsprinzip hinausgeht. Dieser Diskurs setzt post-romantisch einen fundamentalen und unerschöpflichen menschlichen Wunsch nach Entfaltung und Experiment voraus.32 Ein zweites Element der Counter Culture und des Postmodernismus sind Diskurse und Praktiken der Semiotisierung. Ein Verständnis der sozialen Welt als eine Konstellation widerstreitender und einander überlagernder Zeichensysteme, die den Einzelnen affizieren und die ein kreatives Subjekt im Gegenzug gekonnt aufzudecken, zu ironisieren und zu rekombinieren versteht, ist kein reines Produkt der theoretischen und 31 Vgl. Roberto Ohrt (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995. 32 Vgl. Herbert Marcuse: »Über die Befreiung«, in: ders., Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1984, S. 237-317; Raoul Vaneigem: Das Buch der Lüste, Hamburg 1984; Daniel Yankelovich: New Rules. Searching for SelfFulfillment in a World Turned Upside Down, New York 1981. 249

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künstlerischen Diskurse der Postmoderne. Die Semiotisierung bildet vielmehr den Hintergrund für jene Praktiken der Stilisierung des Selbst und seiner alltäglichen Accessoires, wie sie die Jugendkulturen seit den 1960er Jahren betreiben. Die gegen- und jugendkulturelle Ästhetisierung des Selbst setzt eine semiotische Perspektive auf und einen kreativgestaltenden Umgang mit scheinbar banalen Details der Alltagswelt, insbesondere der Konsumobjekte, voraus. Die Trennung zwischen Lebenswelt und Ästhetischem kollabiert damit.33 Die Semiotisierung und Psychologisierung des Selbst sind eng mit einem dritten Merkmal gegenkultureller Ästhetisierung verbunden: der Hinwendung zum Körper. Mit seiner Fokussierung auf die mental-imaginative Innenwelt hat das romantische Subjekt bürgerliche Vorbehalte dem Körper gegenüber implizit reproduziert; die Kultur der Avantgarde hat diese Konstellation nur teilweise – etwa im Zusammenhang mit den Lebensreformbewegungen – aufgebrochen. Im Kontext der Counter Culture und verwandter postmodernistischer Kunstformen trägt die Fokussierung auf den Körper beträchtlich zu einer neuen Universalisierung des Ästhetischen und des Kreativen bei, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits erscheint der Körper als die natürliche Basis für kreative Prozesse im weitesten Sinne, er scheint nach Erfahrungen zu streben und eine Tendenz permanenter Selbstveränderung aufzuweisen. Gleichzeitig bildet der Körper – seine Oberfläche, seine Bewegungen, Affekte und Intensitäten – einen herausgehobenen Ort für ästhetische Kreation und Rekreation.34 Eine letzte und zentrale Umdeutung erfährt Kreativität in der Counter Culture infolge der neuen Bedeutung, die der Gruppe und dem Kollektiv als Bedingung und Arena für kreative Prozesse zugeschrieben werden. Hier ergibt sich ein deutlicher Unterschied zur romantischen Zurückweisung des Sozialen. Ästhetische Orientierung wird nun an eine im engeren Sinne kollektive Praxis gekoppelt, und zwar in einem dreifachen Sinne: Kollektive bilden Stilgemeinschaften, z.B. Lebensstilgruppen von Jugendkulturen, das heißt expressive communities, die sich über ästhetische Merkmale identifizieren. Sie stellen sich zweitens als Gemeinschaften kollektiv geteilter Erfahrungen dar, Erfahrungen, die von der Präsenz einer Gruppe von Anderen abhängig sind; als Erlebnisgemeinschaften sind sie der Ort einer kollektiven sinnlichen Wahrnehmung und Affektivität, welche das einzelne Individuum nicht in sich hervorzubringen vermag. Schließlich erscheint im Kontext der Counter 33 Vgl. Paul Willis: »Profane Culture«. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur, Frankfurt a.M. 1981; Dick Hebdidge: Subculture. The Meaning of Style, London 1979. 34 Vgl. Norman O. Brown: Zukunft im Zeichen des Eros, Pfullingen 1962; Félix Guattari: Mikropolitik des Wunsches, Berlin 1974. 250

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Culture die Gruppe drittens als ein Medium kreativer Prozesse: Die Gruppe ermöglicht intersubjektive Irritationen und Impulse und damit ein gestalterisches Zusammenspiel, das nicht durch individuelle Originalität substituierbar erscheint. Die Sommerschulen der Fluxusbewegung, Warhols »factory« oder die britische Art school-Bewegung der 1970er Jahre sind Beispiele für eine solche gruppenbasierte Kreativpraxis im Rahmen des gegenkulturellen Postmodernismus.35

Ö k o n o m i s c h e u n d p s yc h o l o g i s c h e U n i ve r s a l i s i e r u n g e n vo n K r e a t i v i t ä t Romantik, Avantgarde und Counter Culture bilden innerhalb der Kultur der Moderne damit drei Kontexte, welche in unterschiedlicher Weise eine Universalisierung und Generalisierung von Kreativität und kreativer Praxis als Normalform und zugleich als erstrebenswerte Form von Subjektivität betreiben. Der Erfolg dieser kulturellen Strategien im Kampf moderner Subjektkulturen kann jedoch nicht erklärt werden, wenn der analytische Fokus auf den Bereich ästhetischer Bewegungen beschränkt bleibt. Zur Etablierung des Kreativen als kulturell akzeptierte und erwünschte Form des Subjekts im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat vielmehr die Kopplung ästhetischer Diskurse und Praktiken mit ökonomischen und mit psychologischen Diskursen in entscheidendem Maße beigetragen. Schon seit dem Beginn der Moderne haben ökonomische Diskurse, die eine kulturelle Matrix dessen liefern, was Arbeit, Konsum, Markt, Rationalität, Planung, Organisation usw. bedeutet, beträchtliche Anstrengungen unternommen, neue Subjektpositionen zu definieren.36 Das Arbeits- und Berufssubjekt hat hier stets eine herausragende Rolle gespielt. In seiner Protestantischen Ethik arbeitet Max Weber die Formierung eines selbstkontrollierten bürgerlichen Berufssubjekts im Feld der Arbeit des frühmodernen 18. Jahrhunderts in klassischer Weise heraus. Inzwischen ist deutlich geworden, dass die kulturelle Konstellation in diesem frühmodernen ökonomischen Feld komplizierter gewesen ist: Joseph Vogl hat beispielsweise gezeigt, wie der self-made man des 18. Jahrhunderts sich nicht nur als rationales Wesen darstellt, sondern auch 35 Vgl. Ken Friedman: The Fluxus Reader, Chichester, New York 1998; Tilman Osterwald: »Zum Verhältnis künstlerischer Produktion und Subkultur«, in: Deutscher Werkbund (1986), S. 48-57. 36 Vgl. zu einer solchen kultursoziologischen Perspektive auf die Ökonomie Paul du Gay/ Michael Pryke (Hg.): Cultural Economy. Cultural Analysis and Commercial Life, London 2002. 251

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ein erhebliches affektives Verhaftetsein mit seiner Arbeit auf einem riskanten Markt aufweist; und Colin Campbell hat untersucht, in welchem Ausmaß sich im Kontext der Romantik eine Sensibilität für ästhetische Eigenschaften von Objekten ausgebildet hat, die dann den Hintergrund für den späteren Hedonismus der Konsumkultur liefert.37 Eine genuine diskursive Transformation der Definition des ökonomischen Subjekts, die für unseren Zusammenhang zentral ist, kann jedoch um 1910 verzeichnet werden: Hier setzt eine Redefinition ökonomischer Kompetenzen ein, in deren Rahmen dem fähigen Wirtschaftssubjekt spezifische »innovative« Dispositionen zugeschrieben werden und es damit im weitesten Sinne als kreatives Selbst präsentiert wird. Diese Redefinition vollzieht sich in drei Schritten sowie in drei verschiedenen diskursiven Kontexten im Laufe des 20. Jahrhunderts: Den ersten Kontext bildet der Diskurs des »Unternehmers« seit den 1910er und 20er Jahren bei Schumpeter, Sombart, Mises und anderen.38 Er befindet sich zunächst politisch in der Defensive: Den zeitgenössischen gesellschaftlichen Hintergrund bilden der organisierte Kapitalismus (oder Sozialismus) und die Erosion des bürgerlichen ökonomischen Individualismus. Doch die Modellierung des fähigen ökonomischen Subjekts als Unternehmerfigur stellt hier eine historisch effektive kulturelle Erfindung dar. Der Diskurs des Unternehmerischen steht einem Modell ökonomischer Subjektivität entgegen, das diese primär entweder als systematisch planend oder als rational berechnend denkt. Die eigentlichen Eigenschaften ökonomischer Kompetenz werden nun vielmehr im souveränen Umgang mit Unberechenbarkeit und Ungewissheit, in der sensibilisierten Beobachtung von Chancen auf dem Markt und der Erfindung entsprechender neuer Produkte sowie einer spielerischen Spekulation mit Risiken und Chancen ausgemacht. Obgleich der Begriff der Kreativität in diesem Zusammenhang nicht explizit verwendet wird, ist eine solche Fähigkeit zum Umgang mit und der Produktion von Neuem genau das, was den fähigen Homo oeconomicus in seinem Kern aus die37 Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 2004; Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, Oxford 1987. 38 Vgl. Joseph A. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung: Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Berlin 1997; Werner Sombart: »Der kapitalistische Unternehmer«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 29 (1909), S. 689-758; Ludwig von Mises: Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Genf 1940; zusammenfassend Michael Hofmann: Das unternehmerische Element in der Betriebswirtschaft, Berlin 1968; Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007, S. 108 ff. 252

DIE ERFINDUNG DES KREATIVSUBJEKTS

ser Perspektive ausmacht. Es handelt sich in diesem Zusammenhang weniger um eine post-romantische Version der Kreativität, die sich in einem einzelnen Arbeitsprodukt manifestieren würde, sondern vielmehr um einen Sinn für das Neue, der im Zusammenhang mit einer sorgfältigen Beobachtung von Möglichkeiten und Mängeln in Marktkonstellationen zum Einsatz kommt. Das Neue ist hier das relativ Neue im Vergleich zu bereits bestehenden Angeboten und Bedürfnissen, so dass Kreativität als Sinn für das Neue zugleich einen Sinn für den Vergleich und für Kontingenzen voraussetzt. Gegenüber dem spätbürgerlichen Unternehmerdiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem das Unternehmersubjekt als eine zwar erstrebenswerte, aber letztlich notwendig minoritäre Figur präsentiert wird, betreibt ein zweiter diskursiver Kontext, der Diskurs um Humankapital und »personal ressources« der 1950er und 60er, eine dezidierte Universalisierung ökonomischer als im weiteren Sinne kreativer, »innovativer« Kompetenzen.39 Dieser Diskurs zielt auf eine Reform des bürokratischen Typus ökonomischer Organisation ab und entwirft ein Subjektmodell, das die Grundlage für diesen Wandel liefern soll. Gegen das Muster eines sozial anpassungsfähigen Subjekts, das nach Sicherheit und Integration strebt – ein Muster, wie es Elton Mayo seiner Vision der social organization zugrunde legt40 –, entwickelt dieser Diskurs, der sich bereits mit zeitgenössischen psychologischen Debatten kreuzt, das Modell eines grundlegend selbstverantwortlichen und erfinderischen Selbst, das nach persönlichen Herausforderungen und Selbstentfaltung strebt. Der eigentliche organization man ist aus dieser Perspektive grundsätzlich darauf aus, nicht bloße allgemeine Regeln zu befolgen, sondern seinen individuellen, nicht-austauschbaren Beitrag zu leisten und zu diesem Zweck seine eigenen Kompetenzen (Humankapital) weiterzuentwickeln. Bemerkenswert ist, dass diese Subjektivierungsform – im Unterschied zur Unternehmerfigur – nun auf alle Angestellten und sogar alle Arbeiter übertragbar, damit sozial generalisierbar erscheint und zudem, dass sie nicht primär auf das Verhältnis zwischen Arbeiter und Arbeitsprodukt oder auf die Marktkonstellation, sondern auf die Arbeit innerhalb von Organisationen bezogen wird. Der dritte diskursive Kontext eines ökonomischen Kreativsubjekts, 39 Vgl. Tom Burns/George M. Stalker: The Management of Innovation, Chicago 1961; Gary S. Becker: Human Capital, New York 1964; zusammenfassend Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, Frankfurt a.M. 2006, S. 300ff. 40 Vgl. Elton Mayo: The Human Problems of an Industrial Civilization, New York 1977. 253

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der postmoderne Managementdiskurs der 1980er und 90er Jahre mit zentralen Autoren wie Tom Peters, Rosabeth Kanter, Charles Handy und anderen, enthält einige Gemeinsamkeiten mit dem Humankapitaldiskurs.41 Auch hier lässt sich eine Universalisierung des intrinsisch motivierten Arbeitssubjekts im Sinne einer psychischen Selbstentfaltung, eines Sich-selbst-Ausprobierens und eines Enthusiasmus gegenüber dem Neuen und Herausfordernden beobachten. Konsequenterweise zitiert der postmoderne Managementdiskurs die Semantiken des Künstlerischen, der kreativen Wissenschaft und des Spiels. Dabei lassen sich zwei zusätzliche Elemente beobachten: Einerseits wird der spätbürgerliche Diskurs des Unternehmers wieder aufgenommen und im Rahmen eines Modells des »Unternehmers seiner Selbst« (des enterprising self nach N. Rose) universalisiert: Nicht nur die Profilierung von Produktinnovationen, sondern auch die Profilierung der eigenen Person als eine nichtaustauschbare Instanz im Wettbewerb mit Anderen – im Hinblick auf ihre Fertigkeiten, ihre Biografie etc. –, erscheint nun als eine unternehmerische Kernkompetenz. Die Hervorbringung von Neuem bezieht sich damit nicht nur auf Hervorbringung von Objekten, sondern auf die performance des Subjekts selbst. Ein zweites zentrales Element – hier besteht eine Parallele zu den ästhetischen Diskursen der Counter Culture – betrifft die enge Verbindung zwischen ökonomischer Kreativität und Teamarbeit, die nun vorausgesetzt wird: Anders als im Falle des klassischen Unternehmers erscheint kreative Arbeit nun abhängig von kleinen kreativen Kollektiven innerhalb der Organisation. Ökonomische »Innovation« scheint auf Kommunikations- und Irritationsprozesse in der Gruppe angewiesen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nehmen sowohl die ökonomischen Diskurse als auch die ästhetisch-gegenkulturellen Diskurse und Praktiken der Kreativität auf ein drittes diskursives Feld Bezug: das der Psychologie. Vor dem Hintergrund von Foucaults Analysen zur Verknüpfung der Geschichte des modernen Subjekts mit der Geschichte der Humanwissenschaften, kann dieser Einfluss nicht überraschen. Seit dem 19. Jahrhundert haben die »Psy«-Disziplinen beträchtlich zur Definition von Normalität und Anormalität, erwünschten und pathologischen Zuständen des Selbst beigetragen und auf diesem Wege eine

41 Vgl. Thomas J. Peters/Robert H. Waterman: In Search of Excellence. Lessons from America’s Best-Run Companies, New York 1982; Rosabeth Moss Kanter: When Giants Learn to Dance. Mastering the Challenge of Strategy, Management, and Careers in the 1990s, New York 1989; Charles Handy: The Age of Unreason, London 1989; Nikolas Rose: Inventing Our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1996, S. 150ff. 254

DIE ERFINDUNG DES KREATIVSUBJEKTS

Universalisierung bestimmter Subjektmodelle betrieben.42 Für die Normalisierung des Kreativen ist eine Transformation innerhalb des psychologischen Diskurses von entscheidender Bedeutung, die in den 1950er Jahren einsetzt: ein psychologischer Paradigmenwechsel, den die amerikanische, von Maslow, Allport, Rogers und anderen vertretene psychology of personality ausgelöst hat.43 Hier lässt sich die diskursive Transformation einer Psychologie, die normale und erwünschte Subjektivität als Kompetenz sozialer Anpassung definiert, in die Richtung einer Psychologie beobachten, die auf einem Konzept des self-growth basiert. Diese inhärente Tendenz der Person zum self-growth erscheint eng mit einer Disposition zur Produktion von Neuem, vor allem zur Erneuerung der eigenen Person verknüpft. Das diskursive Feld einer Psychologie der sozialen Anpassung, gegen das die psychology of personality und die growth psychology gerichtet sind, umfasste einen heterogenen Komplex von Texten so unterschiedlicher Autoren wie Alfred Adler oder Hans Eysenck. Paradigmatisch erscheint hier Eysencks Dualismus zwischen einer introvertierten, ich-bezogenen Person und einer extrovertierten, sozial anpassungsfähigen Person, der letztere als den Normalfall und erstere als pathologisch versteht.44 Die growth psychology entwickelt nun eine genau entgegengesetzte Semantik des Erstrebenswerten und Normalen: Das Selbst scheint aus dieser Perspektive mit einem natürlichen Wunsch nach Selbsterfüllung (self-realization) ausgestattet, einem Wunsch, seine inneren »Potenziale« in Handlungen und Erlebnisse umzusetzen – auch gegen den Widerstand von Routinen und sozialen Erwartungen. Die sich entfaltende Persönlichkeit entwickelt, was vermeintlich von Beginn an in ihrem inneren Kern verborgen gewesen ist: die Fähigkeit zu intensiven Erfahrungen, zur Spontaneität, zum Experimentieren und – wie es bei Maslow und Rogers ausdrücklich formuliert wird – für Kreativität im Sinne eines Erfindungsgeistes und einer Sensibilität für unbekannte Möglichkeiten. Die Universalisie-

42 Vgl. zu diesem Komplex auch Nikolas Rose: Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London, New York 1999. 43 Vgl. Abraham H. Maslow: Motivation and Personality, New York 1987; Carl R. Rogers: On Becoming a Person, Boston 1961; im Speziellen ders.: »Toward a theory of creativity«, in: Harold H. Anderson (Hg.), Creativity and Its Cultivation, New York 1959, S. 69-82; zusammenfassend vgl. Duane Schultz: Growth Psychology. Models of the Healthy Personality, New York 1977. 44 Vgl. Hans Jürgen Eysenck: »Principles and methods of personality description, classification and diagnoses«, in: ders., Eysenck on Extraversion, London 1973, S. 17-30. Zu diesem Diskurs insgesamt vgl. Russel Jacoby: Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing, Frankfurt a.M. 1978, S. 42-66. 255

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rung eines Subjekts des self-growth läuft hier auf eine Verpflichtung hinaus, den universalen Bedürfnissen des inneren Selbst zu folgen: »[W]hat humans can be, they must be. They must be true to their own nature.«45 Der Prozess kultureller Überschneidung, der zwischen den ästhetischen, den ökonomischen und den psychologischen Diskursen der Kreativität seit den späten 1950er Jahren stattgefunden hat, würde eine detailliertere Betrachtung verdienen. Um diesen kulturellen Prozess zu beschreiben, erscheint das Konzept der kulturellen Überdeterminierung von Subjektpositionen von Ernesto Laclau hilfreich.46 In der Tat lässt sich seit den 1960er Jahren, was die kulturelle Präjudizierung der Kreativität des Selbst betrifft, ein solcher Prozess der Überdeterminierung beobachten. Überdeterminierung – zunächst ein freudianisches Konzept, das in der Kulturtheorie aufgegriffen wurde – hat eine doppelte Konnotation: Einerseits bedeutet es, dass verschiedene kulturelle Codes aus unterschiedlichen sozialen Feldern und Diskursen, die anfangs voneinander isoliert entstanden sind, aufgrund gegenseitiger Verstärkung ein identisches kulturelles Muster hervorbringen. Das Modell des Kreativsubjekts wird so von ästhetischen, ökonomischen und psychologischen Diskursen überdeterminiert. Zugleich impliziert die Überdeterminierung immanente Ambivalenzen und Widersprüche: Unterschiedliche Diskurse verstärken dem Anschein nach dasselbe kulturelle Muster, doch da es sich um verschiedene Diskurse handelt, die zudem selbst heterogen strukturiert sind, bringen sie ihre internen und externen Differenzen in das neue kulturelle Muster ein, das sich als weniger homogen und stabil erweist, als es auf den ersten Blick schien. Was das kulturelle Modell des Kreativsubjekts der Gegenwart betrifft, lassen sich diverse Instabilitäten ausmachen, die von dieser Überdeterminierung hervorgebracht werden: die Ambivalenz zwischen einer Semantik der Authentizität und des inneren Kerns gegenüber einer Semantik der Kontingenz und des Experiments; die Ambivalenz zwischen einem anti-sozialen Impuls individueller Kreativitiät und einer Affirmation der Gruppe als Kreativitätsgenerator, schließlich die Ambivalenz zwischen einem Modell des Kreativen, das eine Bestätigung in der subjektiven Perspektive findet und einer Kreativität, die erst von einem Publikum als eine solche zertifiziert wird.47 Eine Archäologie des Kreativsubjekts könnte und müsste diese Bruchlinien innerhalb der Diskurse und Praktiken des 45 A.H. Maslow: Motivation and Personality, S. 22. 46 Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London, New York 2001, S. 97ff. 47 Vgl. zu diesen Brüchen A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 588ff.; L. Boltanski/È. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 449ff. 256

DIE ERFINDUNG DES KREATIVSUBJEKTS

Kreativen im Detail rekonstruieren, Brüche, welche die Selbstuniversalisierung des Kreativsubjekts als bruchlose Figur kreativer Gestaltung untergraben.

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Elemente einer Soziologie des Ästhetischen Die soziologische Marginalisierung und die Rückkehr des Ästhetischen Das Ästhetische war in der Soziologie lange Zeit ein Gegenstand der Skepsis, ein Objekt der Verdrängung und erschien als ein Ort der Riskanz. In ihrer Entstehungsphase um 1900 – deren konzeptuelle Entscheidungen bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts hineingewirkt haben – befindet sich die neuartige, genuin soziologische Perspektive auf die Gegenwart in Konkurrenz zu einer zeitgenössisch äußerst präsenten, teils kulturkritischen, teils avantgardistischen Prämierung des Ästhetischen. In diesem Kontext bildeten sich sowohl auf der Ebene des soziologischen Vokabulars zur Beschreibung des Sozialen als auch der soziologischen Theorie der Moderne jene ausgeprägten »[a]nti-technische[n] und anti-ästhetische[n] Haltungen in der soziologischen Theorie« aus, wie Wolfgang Eßbach sie konstatiert hat.1 Plakativ wird der Gegensatz der intellektuellen Strategien der Soziologisierung und der Ästhetisierung zur Jahrhundertwende in der Gegenüberstellung von Weber und Nietzsche: Nietzsche präsentiert und dramatisiert in »Die Geburt der Tragödie« die Bewegung des Ästhetischen – in der Form des Appolinischen, der harmonischen Schönheit, wie des Dionysischen, der rauschhaften Existenzerfahrung – als eigentliche welthistorische Gegenkraft sowohl zur religiösen und post-religiösen Moralisierung als auch zur kognitiven Rationalisierung. Max Webers soziologische Analyse, vor allem in der »Religionssoziologie«, kann sich dann als intellektuelle Ernüchterungskur verstehen: Die Versachlichung und Entzauberung der 1

Vgl. Wolfgang Eßbach: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Andreas Lösch (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, S. 123-136. 259

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formalen Rationalisierung moderner Institutionen, die hier als zentrale Merkmale moderner Vergesellschaftung ausgemacht werden, können dem Ästhetischen, nun weitgehend konzentriert auf die Sphäre der Kunsterfahrung (und bei Weber gepaart mit dem Erotischen), nurmehr den Stellenwert einer zwar immer wieder offensiv auftretenden, aber letztlich sehr beschränkten, ja marginalen Wertsphäre zuweisen.2 Das Paradigma, in deren Perspektive große Teile des klassischen soziologischen Diskurses, am prominentesten einige Arbeiten von Weber und Durkheim, die Sozialität und die Subjektivität unter den Bedingungen der Moderne betrachten, ist damit das einer historischen Transformation von Religiosität in Moralität und schließlich in Rationalität. Der Kern »alter« Gesellschaftlichkeit wird als ein religiöser angenommen, und zwar – in einer sehr spezifischen moralistischen Definition von Religion3 – insbesondere als Systeme religiöser Moralität verstanden, welche die kollektive Praxis regulieren. Er sieht sich in der Moderne zunehmend verweltlicht zu säkularen Moralsystemen, die teilweise schließlich selber ihre verinnerlichte Wertbasis verlieren und zu Systemen »formaler Rationalität« gerinnen – mit allen Sinn- und Anomieproblemen, die sich daraus ergeben. Die Vorstellung einer Geordnetheit kollektiver Regelsysteme als Kern des Sozialen wie der sozialisierten Subjektivität bleibt innerhalb dieser Sequenz von der (moralistisch verstandenen) Religion über die säkulare, pflichtenorientierte Moral zu den zweckorientierten Regelzusammenhängen formaler Rationalität als Konstante bestehen. Das Ästhetische als die Sphäre intensivierter sinnlicher Wahrnehmung und der Affekte, der kreativen Gestaltung, des handlungsentlasteten Erlebens und des Sinnbruchs kognitiv-normativer Systeme erscheint innerhalb dieser klassischen soziologischen »grand récit« der Tendenz nach als das Andere der Moderne, keinesfalls jedoch als ihr gesellschaftliches Zentrum. Natürlich ist der klassische soziologische Diskurs der Jahrhundertwende weder völlig homogen noch widerspruchsfrei: Georg Simmel behandelt insbesondere in einer Reihe essayistischer Miniaturen – etwa der 2

3

Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, Hamburg 1988; Max Weber: »Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988, S. 536-573. Eine konzeptuelle Alternative zu einer moralorientierten Definition von Religion, die namentlich bei Simmel angedeutet wird (vgl. Georg Simmel: »Die Religion«, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 10, Frankfurt a.M. 1995, S. 41-118), ist ein Verständnis des Religiösen, das von einer spezifischen religiösen Form des »Erlebens« ausgeht – hier wäre eine Brücke zum Ästhetischen geschlagen.

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»Soziologie der Sinne« und der »Soziologischen Ästhetik« – die Relevanz ästhetischer Phänomene für die Sozialität wie für die Moderne. Werner Sombart als Antipode Webers hebt statt der protestantischen Askese den Luxuskonsum der Aristokratie als Voraussetzung des modernen Kapitalismus hervor, und Gabriel Tarde als Opponent Durkheims beschreibt das Soziale anstelle von normativen Verpflichtungssystemen als vorrationale affektive Energien. Schließlich bricht in Durkheims Spätwerk das Ästhetische vollends in das Soziale ein und erweist sich als dessen geheimes Fundament. Die religiösen Rituale, die Durkheim hier als Produktionsort von Sozialität darstellt, sind Orte einer kollektiven Performativität und affektiver Efferveszenz, und die Religion ist nicht nur ein Ort moralischer Pflichten, sondern der Aura des Sakralen4 – Gedanken, die in den 1930er Jahren vor allem im Rahmen des von den Avantgarden beeinflussten »Collège de Sociologie« (Bataille, Leiris etc.) radikalisiert werden.5 Trotz dieser Gegentendenzen bestreitet der wirkungsmächtige Kern des klassischen soziologischen Diskurses – der von den Klassikern über Parsons, Habermas und Luhmann weiterwirkt – dem Ästhetischen einen konstitutiven Stellenwert, sowohl für die Moderne als auch für Sozialität und Subjektivität insgesamt. Dies hat letztlich systematische Gründe, und zwar sowohl auf der Ebene der Theorie der Moderne wie jener der Theorie des Sozialen: Die klassischen soziologischen Theorien der Moderne bilden sich in einem Diskursraum, der im Wesentlichen durch die drei modernisierungstheoretischen Metaerzählungen der Rationalisierung, des Kapitalismus und der funktionalen Differenzierung abgesteckt wird. Die Theorie der Rationalisierung ist eine dezidierte Theorie der Entästhetisierung. Wenn die Moderne als eine Konstellation formalrationaler Institutionen erscheint, dann bedeutet deren Berechenbarkeit und Versachlichung eine Marginalisierung perzeptiver Sinnlichkeit, Affektivität, Kreativität und symbolischer Grenzdestabilisierung. Für die Theorie des Kapitalismus gilt Analoges: Der Kapitalismus – dies ist zugleich ein Element ihrer post-romantischen Marx’schen Kritik – betreibt infolge seiner Expansion der reinen Warenform und letztlich der Ver4

5

Vgl. Georg Simmel: »Soziologische Ästhetik«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt a.M. 1992, S. 197-214; ders.: »Soziologie der Sinne«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M. 1993, S. 276292; Werner Sombart: Luxus und Kapitalismus, München 1922; Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003; Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. Vgl. dazu Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006. 261

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dinglichung auch sozialer Beziehungen eine Reduktion aller sozialen Praxis auf Naturbeherrschung, Tauschwerte und Interessenskonflikte. Ergebnis ist eine konsequente Entsinnlichung der Praxis. Die Theorie funktionaler Differenzierung schreibt dem Ästhetischen im Unterschied dazu durchaus einen legitimen Ort innerhalb der Moderne zu, so dass sie im Übrigen auch zu einer Hintergrundfolie von Thesen bezüglich einer Autonomisierung der Kunst werden kann: im Sinne einer ausdifferenzierten Handlungs- und Kommunikationssphäre, welche Expressivität und Erleben verabsolutiert, deren Sinngrenze zu den anderen gesellschaftlichen Sphären aber letztlich eindeutig ist. Konsequent kann das Ästhetische dann mit einem Subsystem »Kunst« identifiziert werden. Neben dem spezifischen gesellschaftstheoretischen Diskurs ist auch die Form der sozialtheoretischen Grundbegrifflichkeit für die antiästhetische Skepsis der klassischen Soziologie mitverantwortlich. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung scheint hier, das Soziale einerseits – Weber folgend – vom »Handeln«, zum anderen – Durkheim und Saussure folgend – von den sozialen »Regeln« (nach Art juridischer oder sprachlicher Regeln) zu denken. Das regelbefolgende Handeln wird dann ebenso wie das zweckorientierte Entscheidungshandeln letztlich als ein ästhetisch neutrales vorausgesetzt, als ein Handeln ohne Erleben – eine Voraussetzung, die in Luhmanns kategorialer Unterscheidung zwischen Handeln und Erleben ein spätes Echo findet.6 Die menschliche Welt erscheint im Kern als eine Sphäre des aktivistischen Eingreifens und Verfolgens von Zwecken sowie der Respektierung von Gesetzen und Prinzipien. Handeln bewegt sich entsprechend weitgehend entkörperlicht in einem normativen und kognitiven Raum. Demgegenüber besteht eine Tendenz, sinnliche Wahrnehmung, damit auch die leiblichkörperliche Dimension, Affektivität und gestalterische Aktivität auf die Ebene eines vorsozialen Psychischen oder Individuellen zu projizieren. Auch eine Umstellung der Grundbegrifflichkeit von »Handeln« auf »Kommunikation« oder auf »symbolische Interaktion« modifiziert diese Konstellation nicht wesentlich.7 Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich diese Situation beträchtlich gewandelt. Das verstärkte Interesse am Ästhetischen erweist sich als ein durchgehendes Merkmal der nach-klassischen Sozialwissenschaften. Dies gilt zunächst für die Gegenwartsdiagnose einer »postmodernen« Gesellschaft, der seit den 1980er Jahren verstärkt Merkmale einer »Ästhetisierung« zugeschrieben wurde – eine Ästhetisierung etwa 6 7

Vgl. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 67ff. Um eine Alternative bemüht sich hier der Pragmatismus, vgl. Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992.

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im Bereich des Konsums und der Lebensstile oder dem der Massenmedien.8 Dies gilt etwa auch für Pierre Bourdieus prominente Arbeiten zur Klassenanalyse und zur Theorie der Praxis, in denen die Differenz zwischen einem ästhetischen Geschmack des Zweckfreien und einem Notwendigkeitsgeschmack als zentral für die Kartografie moderner Lebensstile erscheint und in denen anstelle des Handlungsbegriff der Begriff der Praktiken eingeführt wird; dieser hebt die Dimension der durch den Körper wirkenden »Sinne«, der praktischen Sensibilitäten hervor.9 Über diese verstreuten Versuche einer Neufokussierung des Ästhetischen hinaus erscheint ein systematischer Umbau sowohl der Theorie der Moderne als auch der Sozialtheorie, welcher ästhetische Phänomene nicht nur neben anderen berücksichtigt, sondern das Ästhetische sowohl für die konfliktreiche Transformation der Moderne seit ihrer Entstehung wie auch für das soziologische Basisvokabular zur Analyse von Sozialem und Subjektivität als konstitutiv einordnet, ein grundsätzlicheres und schwierigeres Unterfangen. Für ein solches Bemühen einer grundlegenden »Soziologie des Ästhetischen« als Querschnittperspektive leitend können drei Überlegungen sein: Erstens werden die sozialen Praktiken und Subjektivierungsformen, welche die Moderne ausmachen, in einem Rationalisierungsnarrativ nur holzschnittartig und verfälscht deutlich. Entästhetisierend wirkende Rationalisierungs- und Kapitalisierungsprozesse sind kaum zu bestreiten, aber nur ein Element moderner Praxis. Die Formierung und die Ausbreitung des Ästhetischen stellt sich für die Transformation der Moderne und ihrer Lebensformen als ein ebenso grundlegender Prozess dar, der mit diesen Rationalisierungen im Konflikt steht, aber ebenso mit ihnen teilweise verblüffende Kombinationen eingeht. Ästhetisch orientierte Praktiken wie ästhetische Subjektivierungen stellen sich in diesem Sinne als entscheidende Elemente innerhalb der agonalen Dynamik genuin moderner Kultur seit ihrer Entstehung heraus, und zwar als Elemente, die sich einerseits in bestimmten kulturrevolutionären Bewegungen verdichten (Romantik, Avantgarde, Counter Culture), welche darüber hinaus jedoch in bestimmten Phasen in spezifische soziale Felder (Ökonomie, Politik, Medien etc.) und Milieus eindringen und diese umstrukturieren. Ästhetische Praktiken sind hier weder auf ein Überbau- oder Oberklassenphänomen noch auf ein umgrenztes Subsystem zu be8

9

Vgl. etwa Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991; Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M., New York 1992. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1989; ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. 263

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schränken, sondern eine eigendynamische, expansive Kraft innerhalb der kulturellen Kämpfe um eine angemessen erscheinende moderne Lebensform, die an präzise bestimmbaren Zeitpunkten und Orten ansetzt, diffundiert und bestritten wird. Die zweite Grundüberlegung betrifft weniger die Gesellschaftstheorie und Kulturtheorie der Moderne als die Sozialtheorie im engeren Sinne. Viele der verbreiteten soziologischen Basisvokabulare enthalten einen rationalistischen Bias, folgen – mit Bourdieu gesprochen – einer »scholastischen« Haltung,10 die eine entästhetisierte Beobachtungsweise erzwingt. Setzt man an einem erweiterten Sinne des Ästhetischen an, dann ist eine revidierte Sozialtheorie gefragt, welche die ästhetischen Qualitäten von sozialen Praktiken insgesamt in den Blick nimmt: die spezifischen Formen der sinnlichen Wahrnehmung, der Affektivität und des Erlebens, des reflexiven Umgangs mit Zeichensystemen und des offen gestaltenden statt allein regelorientierten Umgangs mit Objekten und Subjekten, wie sie in allen möglichen sozialen Praktiken – natürlich in äußerst unterschiedlicher Weise und Orientierung – enthalten sind. Begriffspragmatisch lassen sich dann diese ästhetischen Komponenten sozialer Praktiken insgesamt von im engeren Sinne »ästhetischen Praktiken« – die in ihrer immanenten Logik primär und zentriert am Ästhetischen orientiert sind – unterscheiden. Eine solche in ihrer Grundbegrifflichkeit ästhetisch sensibilisierte Sozialtheorie kann dann ästhetische Elemente in religiösen oder in handwerklichen, in rhetorischen, naturwissenschaftlichen oder in kaufmännischen Praktiken aufspüren, im Übrigen auch in sogenannten vormodernen Verhältnissen, die dort immer schon vorhanden – und den Teilnehmern im Übrigen teilweise sehr bewusst – waren, aber in der rationalistischen Beobachtung systematisch übersehen wurden. Drittens wird die Klärung des Ästhetischen dringlich, sobald sich die Frage nach den normativen und kritischen Orientierungen der Soziologie und der Kulturwissenschaften stellt. Klassischerweise hat die Soziologie das zentrale Problem moderner Gesellschaft vor allem entweder in mangelnder sozialer Integration oder sozialer Ungleichheit gesehen. Sobald sie jedoch »hinter« den Integrations- und Gerechtigkeitsproblemen für die Kultur der Moderne von einem elementaren Kontingenzproblem für die Gestaltung von Lebens- und Subjektformen ausgeht – ein Kontingenzproblem, das in der klassischen Soziologie Max Weber etwas pathetisch als Sinnproblem etikettierte – wird die Frage, inwiefern ästhetische Orientierung diesen Lebensformen eine angemessene, befriedigende Form zu geben vermag, virulent, ein Diskussionskontext wie er in der 10 Vgl. Pierre Bourdieu: Méditations pascaliennes, Paris 1997. 264

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jüngeren Zeit in der Sozial- und Kulturphilosophie unter dem Etikett einer »Ethik der Ästhetik« firmiert. Dieses kritisch-normative Interesse – das mit einer Revitalisierung des Begriffs der »Entfremdung« jenseits der rosseauistischen Natur-/Kulturdifferenz verknüpft werden könnte – kann dann letztlich auch den Motivationshintergrund für die Suche nach ästhetischen Bewegungen und Strukturen innerhalb der Kultur der Moderne und für die Sensibilisierung der Sozialtheorie für ästhetische Qualitäten von Handeln und Sozialität liefern. 11

Fünf Kriterien ästhetischer Praktiken Was ist nun aber »das Ästhetische«? Oder besser: wie kann ein im kultursoziologischen Kontext – im Unterschied etwa zu den Anforderungen eines kunstwissenschaftlichen Zusammenhangs – heuristisch tragbarer Begriff des Ästhetischen ausgerichtet sein? Es besteht ein offensichtliches Risiko einer entweder zu engen oder einer zu diffusen Orientierung des Konzepts: Entweder man reduziert es auf den Bereich der Kunst (was einen allerdings mit den Untiefen auch dieses Begriffs konfrontiert) oder aber man fasst es dermaßen weit, dass Ästhetisches sich nicht mehr von Nicht-Ästhetischem unterscheiden lässt. In beiden Fällen wäre für eine Soziologie der Ästhetik wenig gewonnen. Definitionen des Ästhetischen finden sich nun jedoch im sehr spezifischen Diskurszusammenhang einer »ästhetischen Theorie« innerhalb der Philosophie.12 Dessen Beginn ist recht gut sowohl in Deutschland als auch in England in der Mitte des 18. Jahrhunderts – mit Baumgarten und Burke – festzumachen. Er floriert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und findet im weiteren Verlauf des 19. und des 20. Jahrhunderts sporadische Nachfolger. In der aktuellen Diskussion setzt er sich in der Debatte um ein Verständnis »ästhetischer Erfahrung« fort.13 Mit den Avantgarden um 1900 setzt zugleich eine parallele Theoretisierung des Ästhetischen im künst11 Vgl. Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998; Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2007. 12 Vgl. Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, 7 Bde., Stuttgart, Weimar 2000; Gerhard Schweppenhäuser: Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Frankfurt a.M., New York 2007 und in einem sehr spezifischen ideologiekritischen – darin für eine gegenüber dem Ästhetischen skeptische Soziologie bzw. marxistische Literaturwissenschaft charakteristischen – Zugriff Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart, Weimar 1994. 13 Vgl. Joachim Küpper/Christoph Menke: Dimensionen ästhetischer Erfahrungen, Frankfurt a.M. 2003. 265

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lerischen Diskurs ein, die mit dem philosophischen nicht deckungsgleich ist und namentlich seit dem Postmodernismus der 1960er Jahre dort intensiviert wird.14 Die klassischen Diskurse der Ästhetik haben eine paradoxe Struktur. Sie setzen regelmäßig »ästhetische« Qualitäten des Menschen voraus, deren Produktion sie – und ästhetische Praktiken in ihrem Umfeld – in einem hochspezifischen modernen Kontext direkt oder indirekt betreiben. Sie tragen dazu bei, jenes Ästhetische zu produzieren, das vorgeblich »immer schon« im Menschen und seinem Handeln angelegt gewesen sei. Instruktiv sind diese Diskurse jedoch kulturtheoretisch insofern, als sie gerade in ihren Versuchen einer grundbegrifflichen Fundierung regelmäßig mit einer Differenzmarkierung zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen operieren. Seit Baumgarten gewinnt der ästhetische Diskurs sein Profil dadurch, dass er sich von einem verkürzten »Rationalismus« der Anthropologie und Subjektphilosophie – und allgemeiner: einer rationalistischen Humanwissenschaft – abgrenzt. Diese Differenzmarkierungen können heuristisch genutzt werden, um einen kultursoziologisch anschlussfähigen Begriff des Ästhetischen zu entwickeln, wenn ihr Bezugspunkt – gegen starke Tendenzen der ästhetischen Theorie – von vornherein entuniversalisiert, d. h. kulturalisiert und historisiert wird. Aus kultursoziologischer Sicht kann es nicht darum gehen, ein universales Vermögen des Ästhetischen im »Menschen« ontologisierend freizulegen und dem Nicht-Ästhetischen als seinem grundsätzlichen Anderen gegenüberzustellen. Stattdessen erweisen sich »ästhetische« Haltungen an bestimmte historisch-spezifische soziale Praktiken (einschließlich diskursiver Praktiken), ihre spezifischen Arrangements von Körpern, Wissensordnungen und Artefakten sowie ihre jeweiligen Subjektivierungsformen gekoppelt. »Das Ästhetische« ist dann immer auf bestimmte zeitlich und räumlich zurechenbare ästhetische Praktiken zu beziehen, die eine solche ästhetische Orientierung etablieren und sie dem Subjekt körperlich, mental und psychisch antrainieren.15 Das Gleiche gilt für die nicht-ästhetischen Haltungen, von denen sich das Ästhetische im modernen Sinne abgrenzt und abgrenzen lässt: Sie sind nicht einfach »vorhanden« als ein vorästhetischer Zustand der Dinge, sondern ihrerseits an entsprechende entästhetisierend wirkende Praktiken, Diskurse und Subjektivierungsweisen (ökonomischer, familiärer, rechtlicher etc.) geknüpft. 14 Vgl. Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 1: 1895-1941, Bd. 2: 1940-1991, Ostfildern-Ruit 2003. 15 Zum Konzept der Praktiken vgl. den Aufsatz zur »Theorie sozialer Praktiken« in diesem Band; zum Konzept der Subjektivierung vgl. A. Reckwitz: Subjekt. 266

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Zudem ist die Unterscheidung ästhetisch/nicht-ästhetisch als ein erstes heuristisches Hilfsmittel zu begreifen, das in einem zweiten Schritt in zwei Richtungen geöffnet werden kann: in die Richtung einer Analyse der tatsächlichen Kombination von ästhetischen und nicht-ästhetischen Elementen in vielen sozialen Praktiken (etwa in ökonomischen oder in privat-familiären Praktiken), so dass das absolute »Nicht-Ästhetische« sich als ein Grenzfall darstellt (und tatsächlich kollabiert die Differenz ästhetisch/nicht-ästhetisch regelmäßig bereits in der rhetorischen Struktur der Texte einer Philosophie der Ästhetik); zum anderen in die Richtung einer Analyse der Diversität und Konfrontation verschiedenster ästhetischer Praktiken in der Kultur der Moderne, die in dem, wie sie das Ästhetische definieren und füllen, damit in ihrer praktischen Logik des Ästhetischen unterschiedlich oder gegensätzlich ausgerichtet sind. Was unterscheidet nun – bedient man sich aus dem Reservoir des ästhetischen Diskurses und berücksichtigt diese begrifflichen Vorsichtsmaßnahmen – in einem ersten Zugriff die Eigenschaften der ästhetische Praktiken und Subjektivierungsweisen von jenen nicht-ästhetischen, welche der klassische soziologische Diskurs lange Zeit als das eigentliche Fundament von Moderne und Sozialität betrachtet hat? Es handelt sich hier insbesondere um fünf Eigenschaftsbündel, die sich idealtypisch miteinander kombinieren lassen: 1. Sinnliche Wahrnehmung/Erleben vs. Handeln 2. Kreative Gestaltung vs. reguliertes Handeln 3. Affektivität vs. Rationalität 4. Semiotisierung vs. Realismus 5. Ontologie des Spiels vs. Ontologie der Ordnung Zu 1.: Das grundlegendste Merkmal einer ästhetischen Haltung im modernen Sinne ist, dass sie primär im subjektiven Erleben und in der sinnlichen Wahrnehmung ihren Ort hat. Während eine nicht-ästhetische Haltung im Wesentlichen einen Aktivismus des Handelns voraussetzt, ein zweckrationales, normorientiertes, intersubjektives oder interobjektives Handeln, in dem es darum geht, Interessen oder Ziele zu verfolgen, allgemeinen Regeln des richtigen Verhaltens zu entsprechen, sich zu verständigen oder Dinge zu manipulieren, setzen sich ästhetisch orientierte Praktiken und ihr ästhetisches Subjekt im Kern aus Akten sinnlicher Wahrnehmung zusammen, und zwar potenziell aller »Sinne«, das heißt visueller, auditiver, taktiler und olfaktorischer Akte. Subjekte prozessieren im Wachzustand zwangsläufig ständig im Modus sinnlicher Wahrnehmung, aber ästhetische Praktiken sind auf eine Intensivierung, Steigerung und Sensibilisierung dieser sinnlich-perzeptiven Akte um ihrer 267

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selbst willen und jenseits eines außerhalb ihrer liegenden Zwecks (»Zweckfreiheit«) ausgerichtet, ein Prozess, in dem aus den Erlebnissen »ästhetische Erfahrungen« werden. Dies entspricht dem ursprünglichen Wortsinn von »aisthesis« als Wahrnehmung und findet sich von Anfang an in der ästhetischen Theorie, etwa in Baumgartens Definition der Ästhetik als eine »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« und seiner Opposition des sensitiven Wahrnehmungsvermögens gegen das formallogische Denken, in anderer Weise in Kants Festlegung des ästhetischen Urteils auf die »Einbildungskraft« (im Unterschied zu den »Begriffen«) und das »interesselose Wohlgefalllen« als sinnlich-mentaler Zustand, bis hin schließlich zu Deweys Konzept der »ästhetischen Erfahrung«.16 Wenn man einen Dualismus von ästhetischer und nicht-ästhetischer Haltung aufbauen will, kann man diesen damit entlang der Differenz von Handeln und Erleben konstruieren: Ästhetische Praktiken sind primär an der Hervorlockung und Iterierung von Zuständen des Erlebens orientiert. Das ästhetische Subjekt, das sich innerhalb dieser Praktiken bildet, ist nicht in erster Linie auf Handeln, das heißt darauf aus, in der äußeren Welt Ziele und Interessen zu realisieren, sondern auf eine Sensibilisierung seines »inneren« Erlebens, im Wesentlichen ohne ein darüber hinausreichendes Ziel, wobei das »Innen« hier sowohl mentale als auch körperlich-leibliche Akte umfassen kann. Auf den ersten Blick steht damit die Aktivität des Handelns der Passivität oder Rezeptivität des Erlebens gegenüber; tatsächlich ist für das ästhetische Erleben im modernen Sinne jedoch eher eine »mediale« Struktur kennzeichnend, in der es um die durchaus aktive Hervorlockung innerer Ereignisse geht. Die Differenz zwischen Handeln und Erleben ist damit eine zwischen primärer Außen- und Innenorientierung von Praktiken. Dabei kann es sich nicht um völlige Gegensätze handeln: Jedes Handeln setzt Wahrnehmungen voraus, aber in primär nicht-ästhetischen Praktiken sind die Wahrnehmungen als Instrumente der Informationsverarbeitung dem Handeln bei- und untergeordnet. Umgekehrt sind ästhetische Praktiken nie völlig auf Akte des Erlebens zu reduzieren, immer enthalten sie auch Elemente »äußeren« Handelns – aber diese haben eher den Stellenwert einer Vorbereitung oder Voraussetzung des Erle16 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica, Hildesheim: 1970; Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1974; John Dewey: Art as Experience, New York 1980. Bei Kant wird deutlich, dass die klassische ästhetische Theorie einige Purifizierungsmühe darauf verwendet, die Grenze zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen in das Feld des Erlebens selber einzusetzen und damit etwa die interesselose Kontemplation von der bloßen »Sinnenhaftigkeit« und dem Gefühl des »Angenehmen« oder die Orientierung an der Form von jener am Inhalt und am ornamentalen »Schmuck« zu scheiden. 268

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bens und der intensivierten Wahrnehmung. Damit stellen sich aus der ästhetischen Theorie vertraute spezifischere Orientierungen wie die der Kultivierung des »Schönen« oder das Interesse an der reinen »Form« auf Kosten des Inhalts in der Tradition der bürgerlichen Ästhetik oder die avantgardistische des »Schocks«, das heißt der Erschütterung der gewohnten Wahrnehmungsweise durch irritierende Eindrücke, nicht als das übergreifende Merkmal des Ästhetischen, sondern vielmehr als historisch unterschiedliche Versionen von ästhetischen Praktiken und Subjektivierungsweisen dar, deren gemeinsamer Kern die Orientierung an der Kultivierung von Erleben und sinnlicher Wahrnehmung um ihrer selbst willen und damit in einem Kontext der Handlungsentlastetheit ist. Diese Orientierung kann auch am Hässlichen oder an den Inhalten oder an einem irritationsfreien Harmonismus ausgerichtet sein. Auch die Frage, inwiefern das Erleben an eine kollektive Konstellation gekoppelt ist – etwa nach Art eines Rituals oder Events – oder im »einsamen« Individuum abläuft, das sich mit bestimmten Objekten konfrontiert, ob es auf Beruhigung oder Verstörung ausgerichtet ist, sind keine grundsätzlichen Probleme einer Definition des Ästhetischen, sondern als kulturellhistorisch spezifische Ausrichtungen ästhetischer Praktiken einzuordnen. Ästhetische Praktiken im modernen Sinn als Praktiken des sinnlichen Erlebens sind schließlich regelmäßig mit einer Zeitstruktur verknüpft, die sich als momentanistisch umschreiben lässt.17 Eine nichtästhetische Haltung enthält in der Regel eine langfristige Zeitorientierung: eine Realisierung von Zielen in der Zukunft, die Planung künftiger Zustände, die Einordnung in eine Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft etc. Die ästhetische Haltung des Momentanismus ist demgegenüber auf den einzelnen Augenblick der Gegenwart in seinem Eigengewicht fixiert, auf jedes einzelne Element in der Sequenz von Wahrnehmungs- und Erlebnissequenzen. Das Erleben ist nicht an der Zukunft interessiert, sondern an der Realisierung in einer »absoluten Gegenwart«. Zu 2.: Generell setzt eine ästhetische Subjektivation zwar auf intensiviertes Erleben statt Handeln, jedoch mit einer bezeichnenden Ausnahme: Ästhetische Praktiken können auf die Ausbildung und Förderung einer spezifischen Form des »äußeren« Handelns ausgerichtet sein, die jedoch mit klassischen, rationalistischen Handlungsbegriffen kaum erfasst wird. Diese lässt sich als ein Prozess »kreativer Gestaltung« um-

17 Vgl. zu diesem Aspekt im paradigmatischen Fall der Romantik: KarlHeinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M. 1989, S. 85ff. 269

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schreiben. In verschiedensten Versionen zielen moderne Ästhetikdiskurse und -praktiken auf eine Kultivierung der »poietischen« Qualitäten des Handelns, ein Handeln, das nicht Regeln folgt, sondern Neues schafft, erfinderisch ist, Imagination verwendet, mit Möglichkeiten spielt.18 Das Schaffen eines Kunstwerks erscheint zunächst als paradigmatischer Fall einer solchen kreativ-poietischen Gestaltung, der Handlungsmodus ist jedoch ausweitbar – bis hin zur »Selbstkreation« des Subjekts. Der Handlungsmodus der kreativen Gestaltung unterscheidet sich vom zweck- oder normorientierten Handeln dadurch, dass er in gewissem Umfang als Selbstzweck betrieben wird, da Handeln und Erleben aufs Engste aneinander gekoppelt sind: Das intensivierte Erleben des Gestaltungsprozesses ist integraler Bestandteil der kreativen Gestaltung, damit sie zu einer ästhetischen Praktik wird. Zu 3.: Ästhetische Praktiken und ästhetische Subjektivation enthalten eine Hervorlockung und positive Strukturierung von Affektivitäten. Der Gegensatz dazu ist in jenen rationalisierten Praktiken zu suchen, welche eine Minimierung oder Disziplinierung aller Affekte betreiben, in denen Affekte als Störfaktor erscheinen. Der ästhetische Diskurs thematisiert durchgängig und in sehr unterschiedlicher Weise die ästhetische Orientierung am »Empfinden«, am »Wohlgefallen«, an der »Erfülltheit«, am »Genießen«, bis hin zur »Lust« und zum ekstatischen »Rausch«.19 Das Erleben und die perzeptive Sinnlichkeit wie auch die poietische Kreativität sind in der ästhetischen Praxis im modernen Sinne damit von vornherein mit einer positiven Strukturierung von Affekten verknüpft: ästhetische Erfahrungen stellen sich immer als affektive Erfahrungen dar.

18 In der zeitgenössischen Ästhetik betonen Nelson Goodman und Richard Rorty diesen »poietischen« Charakter ästhetischer Akte, vgl. Nelson Goodman: Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978; Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1990. Diskurshistorisch geht dieses Verständnis auf die Modellierung des Künstlersubjekts als »Kreator« zurück, vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985, S. 1-47. 19 Ein klassischer Topos ästhetischer Affekte ist die Erfahrung des »Sublimen« (Erhabenen) etwa bei Burke (vgl. Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origins of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful, Oxford 1990, Kap. II) und Kant (vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 164ff.), modernisiert bei Lyotard (vgl. Jean-François Lyotard: »The sublime and the avant-garde«, in: Andrew Benjamin (Hg.), The Lyotard Reader, Oxford 1989, S. 196-211). Eine enge Kopplung von Ästhetischem und Lusterfahrung findet sich bei Marcuse (vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1973). 270

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Dabei geht es wiederum nicht um Affekte beliebiger Art, so wie sie vorgefunden werden, sondern um die aktive Gestaltung und Sensibilisierung, auch um die Produktion von Affektivitäten. Die Affektorientierung ist in ästhetischen Praktiken häufig, wenn auch nicht durchgängig mit einer aufgewerteten Leiblichkeit verbunden, die selber zur affektiven Mobilisierung beiträgt. Zu 4.: Ästhetische Praktiken und Subjektivierungsweisen betreiben eine aktive Semiotisierung und Fiktionalisierung der Wirklichkeit.20 Das rationalistische Gegenmodell ist hier ein Alltagsrealismus: eine Praxis, die auf zweck- oder normorientiertem Handeln beruht, setzt in der Regel und mit Ausnahme von Krisensituationen die Gegenstände und Zusammenhänge der Welt als objektive Entitäten voraus und enthält sich jeder pragmatisch überflüssigen Reflexion interpretativer Kontingenzen. Diese interpretative Kontingenz zu öffnen, die Zeichenhaftigkeit und Mehrdeutigkeit der Dinge zu demonstrieren und auszuprobieren, muss in diesem Kontext als nutzlos, riskant oder pathologisch erscheinen. Ästhetische Praktiken betreiben die umgekehrte Strategie: Im Interesse an einer Steigerung und Intensivierung von Erleben, Wahrnehmung, Gestaltung und Affekt forcieren sie eine offensive Semiotisierung von Welt. Deren Entitäten und Eigenschaften hängen von Bedeutungssystemen ab, mit denen sich experimentieren lässt. Die Welt ist in diesem Sinne keine natürliche, sondern eine künstliche, in Bezeichnungspraktiken und ihren »ways of worldmaking« (N. Goodman) gemachte, die immer wieder neue Möglichkeiten der Interpretation bietet. In diesem Sinne ist auch die Praxis der kreativen Gestaltung als eine Bedeutungsneuproduktion zu verstehen (bis hin zur ästhetischen »Stilisierung«, das heißt der Schaffung eines erkennbaren Bedeutungsstils aus vertrauten Objekten). Zu 5.: Mit der Semiotisierung der Wirklichkeit und dem Modell der kreativen Gestaltung verbindet sich eine charakteristische ästhetische Ontologie, welche in die ästhetischen Praktiken eingebaut ist. Man kann sie als die eines Verständnisses von Welt und Praxis als experimentellem »Spiel« (um Schillers klassischen Begriff zu wählen)21 umschreiben – im Gegensatz zu jener Ontologie zweck- und normorientierten Han20 Vgl. hierzu detailliert Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, S. 43ff. 21 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000. Eine Aktualisierung der Spielontologie findet sich bei Iser (vgl. Wolfgang Iser: »Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen«, in: J. Küpper/C. Menke [Hg.]: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, S. 176202). 271

ÄSTHETISIERUNGEN

delns, welche Welt als »Ordnung« voraussetzt. Diese Ordnung kann eher kognitiv oder eher normativ-moralisch akzentuiert werden, in beiden Fällen markiert jedoch Ordnungslosigkeit – Unterbestimmheit, Anomie, Entropie etc. – ihr riskantes Anderes. Ästhetische Praktiken setzen demgegenüber genau umgekehrt die Fixierung von Ordnungen als problematisch voraus, da diese die ästhetischen Möglichkeiten einschränkt. Im ästhetischen Verständnis ist Welt – glücklicherweise – im Grundsatz auf unberechenbare Weise veränderlich und das Verhältnis zu ihr stellt sich als Haltung eines Experiments, des Austestens von Möglichkeiten dar. Die Haltung des Spiels enthält wiederum ein Element des Zweckfreien und der Nützlichkeits- wie Beherrschungslogik Entzogenen.

Ästhetische Praktiken und die Kultur der Moderne Die fünf Strukturmerkmale ästhetischer Praktiken sind als ein heuristischer Katalog zu verstehen, um zu präzisieren, wonach man zu suchen hat, will man dem Ästhetischen als sozial-kulturelles Phänomen habhaft werden. Dabei besteht immer die Möglichkeit, dass sich dieser Komplex des Ästhetischen historisch derart wandelt, dass er nicht nur die genannten Kriterien in sehr unterschiedlicher Weise ausfüllt, sondern darüber hinaus diesen aus dem klassisch modernen Diskurs gewonnen Kriterien selber nicht mehr entspricht und sie grundsätzlich verschiebt. Das eigentliche kultursoziologische Interesse gilt somit in einer im weitesten Sinne archäologischen und genealogischen Perspektive der Analyse der Transformation und Bedeutungsverschiebung konkreter ästhetischer Praktiken – einschließlich entsprechender Diskurse, Materialitäten und Subjektivierungsformen – in ihrer Mikrologik innerhalb der Kultur der Moderne. Dabei kann man die grundsätzliche gesellschaftstheoretische These vertreten, dass die Kultur der Moderne gerade nicht durch einsinnige Rationalisierungs- und Differenzierungsprozesse gekennzeichnet ist, sondern ebenso an bestimmten Punkten wiederholt grundsätzliche Schübe einer »Ästhetisierung« betreibt, das heißt einer Etablierung ästhetischer Praktiken und Subjektformen Vorschub leistet.22 Dass die moderne Kultur in diesem Sinne das Ästhetische – als Gegenkraft zum entästhetisierten Rationalen – »erfindet« und forciert, ist ideenhistorisch bei verschiedensten Autoren wie in Charles Taylors Sources of the Self

22 Vgl. zu einer detaillierten Ausführung dieser These: A. Reckwitz: Das hybride Subjekt. 272

ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DES ÄSTHETISCHEN

oder in Stephen Toulmins »Kosmopolis« festgestellt worden.23 Das Interesse einer Soziologie des Ästhetischen besteht jedoch darin, – in Verschränkung mit den Diskurskonflikten – die materialen Praktiken und Subjektivierungsformen dingfest zu machen, welche eine Ästhetisierung betreiben. Generell sind dabei zwei miteinander verknüpfte Analysestrategien möglich: Zum einen lassen sich innerhalb des disparaten Komplexes moderner Praktiken und Diskurse an bestimmten Punkten und Orten radikalästhetische Bewegungen ausmachen, welche einerseits Diskurse zur Etablierung und Universalisierung ästhetischer Orientierungen initiieren, welche zugleich auch – zunächst nur für Minoritäten geltende – ästhetische Praktiken formen. Dies gilt insbesondere für die Romantik um 1800, für die Avantgarden um 1900 und für die Counter Culture um 1970 und ihre unterschiedlichen kulturellen Muster der Expressivität, der Transgression und des semiotischen Spiels.24 Von vornherein sind diese radikalästhetischen Bewegungen nicht auf im engeren Sinne künstlerische Praktiken oder das Modell eines Künstlersubjekts beschränkt, sondern zielen auf eine Ästhetisierung aller möglichen Lebensbereiche, für die sie teilweise auch entsprechende Praxisformate – von der romantischen Liebe über die Metropolenerfahrung bis zur Stilisierung von Konsumobjekten – zur Verfügung stellen. Die Praxis-/Diskurskomplexe dieser radikalästhetischen, kulturrevolutionären Bewegungen lassen sich nicht auf soziale Randphänomene reduzieren, sondern sind in ihrer Mikrologik als kulturelle Experimentalsysteme einer Ästhetisierung rekonstruierbar, in der bestimmte kulturelle Innovationen nischenförmig produziert werden, die dann – wenn man sich der Begrifflichkeit einer Theorie kultureller Evolution bedienen will – in einem zweiten Schritt Gegenstand von sozialen Selektions- und Reproduktionsprozessen werden. Das daran anschließende soziologische Interesse gilt diesen Diffusionsprozessen des Ästhetischen in unterschiedlichste soziale Felder moderner Gesellschaft. Bei näherer Betrachtung handelt es sich hier um wesentlich komplexere Prozesse denn um eine bloße Verbreitung ästhetischer Praktiken von der »Peripherie« ins »Zentrum«, vielmehr um eine voraussetzungsreiche soziale Interferenz, in der sich ästhetische Orientierungen mit diversen nicht-ästhetischen Orientierungen hybride kombinieren und damit neue Praxisformate produziert werden. Gerade aufgrund dieser Kombination von ästhetischen und nicht-ästhetischen 23 Vgl. Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge (Mass.) 1989; Stephen Toulmin: Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, Chicago 1990. 24 Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 2.2, 3.1, 4.1. 273

ÄSTHETISIERUNGEN

Orientierungen in den gleichen Praktiken (und ebenso in den Diskursen und Subjektformen) kann das, was aus der einen Perspektive als Ästhetisierung erscheint, aus der anderen Perspektive – vergleicht man nämlich diese ästhetisierten Praktiken mit jener nahezu »reinen« radikalästhetischen Praxis der kulturellen Gegenbewegungen – als eine Depotenzierung und Domestizierung des Ästhetischen (als dessen Rationalisierung, Popularisierung, Unterwerfung unter eine »kapitalistische Logik« etc.) interpretiert werden. Die Prozesse einer solchen das Ästhetische selber transformierenden Ästhetisierung der Praxis – welche im Übrigen in ihrer »grenzüberschreitenden« Wirkung auch einen entdifferenzierenden Effekt haben, welcher die funktionale Differenzierung konterkariert – lassen sich für ganz unterschiedliche differenzierte soziale Felder rekonstruieren, von denen einige besonders hervorgehoben werden sollten: a) In das Feld privater, persönlicher, familiärer, partnerschaftlicher und sexueller Beziehungen sind spätestens seit dem post-romantischen 19. Jahrhundert – mit mannigfachen historischen Rückbezügen, etwa auf die adelige »amour-passion« – auf breiter Front vielfältige ästhetische Orientierungen eingelassen, für die eine romantische Semantik der Liebe, in welcher der Andere als Quelle des Erlebens und Liebe als außeralltägliches Experimentierfeld gilt, nur einen herausgehobenen Indikator liefert.25 Gleichzeitig ist diese Ästhetisierung nicht total: Sie geht Kombinationen ein mit einer Orientierung der privaten Praktiken an einer Logik des bürgerlichen Erbes, der Bildung, der sozialen Statussicherung, der Kooperation etc. b) Mediale Praktiken, das heißt Praktiken im Umgang mit technischen Artefakten der Verbreitung und zugleich der Produktion und Transformation von Zeichen, sind von der bürgerlichen Schriftkultur über die audiovisuelle Kultur seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur digitalen Kultur des Computers in einigen ihrer Eigenschaften als ästhetische Praktiken rekonstruierbar: auf der Ebene der imaginativen Orientierungen des Lesens und Schreibens, des Betrachtens von Filmen, schließlich des Umgangs mit dem Internet.26 Zugleich enthalten diese medialen Praktiken auch nicht-ästhetische Orientierungen, die mit den ästhetischen konkurrieren oder sich mit ihnen verknüpfen: kognitive Orientierungen der Informationssuche und -übermittlung, moralische Orientierungen der Selbstvergewisserung, soziale Orientierungen der 25 Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 2007; Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M., New York 2003. 26 Vgl. dazu den Artikel zu »Medientransformation und Subjekttransformation« in diesem Band. 274

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Gruppenstabilisierung, im generalisierten Sinne ökonomische Orientierungen der Auswahl und Entscheidung zwischen Optionen etc. c) Konsumtorische Praktiken, das heißt Praktiken der Auswahl, des Erwerbs und der Benutzung von Objekten, die über ihren Gebrauchswert hinaus mit einem symbolischen Wert ausgestattet sind, stellen sich spätestens seit der Etablierung von Massenproduktion und Massenkonsumtion als verbreitete ästhetische Praktiken moderner Kultur dar, in denen beliebige Objekte zum Gegenstand des semiotischen Spiels, des Erlebens und der intensivierten sinnlichen Wahrnehmung avancieren.27 Kombiniert treten die ästhetischen Orientierungen hier häufig mit Orientierungen an sozialer Statussicherung oder der Steigerung sozialer Attraktivität auf. d) Praktiken der Arbeit stellen sich spätestens mit dem kulturellen Modell »subjektivierter Arbeit« und der Übertragung des Künstlermodells auf die Sphäre der Produktion und Dienstleistung seit den 1980er Jahre als Feld einer massiven Ästhetisierungsoffensive dar. In diesem Kontext werden administrative Praktiken zumindest teilweise durch »kreative« Praktiken ersetzt, die auf die Neuproduktion von Symbolisierungsleistungen gerichtet sind und von den Arbeitssubjekten zumindest partiell mit ästhetischen Orientierungen aufgeladen werden.28 Kombinationen lassen sich hier mit unternehmerischen Orientierungen ausmachen, die sich aus einer Generalisierung von Marktkonstellationen auf der Ebene von Arbeitsprodukten wie auch jener der Arbeitssubjekte selbst ergeben. e) Schließlich werden auch im engeren Sinne körperorientierte Praktiken des Sports seit den 1980er Jahren einer Ästhetisierung unterzogen. Neben die klassischen Sportpraktiken, welche auf Wettbewerb ausgerichtet sind, treten erlebnisorientierte Sportpraktiken, die an Körpererfahrung, subjektiver Grenzüberschreitung play statt game interessiert sind29 und die sich dabei wiederum mit nicht-ästhetischen Orientierungen – wie der sozialen Attraktivitätssicherung – überlagern.30 27 Vgl. dazu den Artikel zum »Subjekt des Konsums« in diesem Band. 28 Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Thomas Frank: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism, Chicago 1997; Jeremy Rifkin: The Age of Access. The New Culture of Hypercapitalism, New York 2000. 29 Vgl. Karl-Heinrich Bette: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Berlin, New York 1989; Belinda Wheaton (Hg.): Understanding Lifestyle Sports. Consumtion, Identity and Difference, London 2004. 30 Die Anschlussfrage einer archäologisch-genealogischen Analyse von ästhetischen Praktiken in diesen unterschiedlichen sozialen Feldern lautet, 275

ÄSTHETISIERUNGEN

Ästhetische Dimensionen sozialer Praktiken: Eine Ästhetisierung der Praxistheorie Als komplementär gegenüber einer Analyse von ästhetischen Praktiken im engeren Sinne und der von ihnen betriebenen spezifischen Ästhetisierungsformen in der Kultur der Moderne stellt sich eine zweite Ebene einer Soziologie des Ästhetischen dar: Diese betrifft eine generelle Sensibilisierung der sozialtheoretischen Grundbegrifflichkeit für ästhetische Komponenten sozialer Praktiken, das heißt insbesondere für die Dimensionen des praxisinhärenten Erlebens, sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens, und zwar über die Spezifika der Kultur der Moderne und ihrer Versionen des Ästhetischen hinaus. Damit können auch ästhetische Dimensionen nicht-moderner Praktiken sichtbar werden sowie jene, die jenseits der Ästhetisierungsschübe existieren, welche von den modernen radikalästhetischen Bewegungen ausgehen. Die meisten der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts besonders einflussreichen sozialtheoretischen Vokabulare haben in ihrer Fixierung auf aktivistisches Handeln, Regelsysteme, Kommunikation und Interaktion dazu verleitet, diese ästhetischen Dimensionen zu überspringen. Dies gilt für die Figuren des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus so wie für strukturfunktionalistische und systemtheoretische Ansätze. Alternative Perspektiven, welche die Dimensionen des Erlebens und der sinnlichen Wahrnehmung als elementare und zugleich kulturell variable Bestandteile sozialer Praxis, die Relevanz einer kulturell geformten handlungsbegleitenden Affektivität oder einer dynamischen Semiotisierung, schließlich auch Gestaltungselemente des Handelns jenseits der eindeutigen Regelorientierung herausgestellt haben, finden sich hingegen an sehr disparaten Orten: unter anderem in Marx’ anfänglichem Materialismus einer »Sinnlichkeit der Praxis«, in Tardes Theorie der affektiven Ströme, in Durkheims Theorie des Rituals und des Sakralen, in jenen Zweigen der Phänomenologie, welche die Relevanz von Leiblichkeit und Sinnlichkeit hervorheben (zum Beispiel Merleau-Ponty) oder in jenen Versionen des Pragmatismus, die symbolkreatives Handeln betonen.31 ob und inwiefern sich diagonal zu den Sinngrenzen zwischen den genannten oder weiteren Feldern homologe historisch-spezifische »Ästhetisierungsregime« ausmachen lassen. Eine zweite Anschlussfrage betrifft die klassenspezifische Struktur der ästhetischen Praktiken in den einzelnen Feldern und der Ästhetisierungsregime insgesamt. 31 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: »Thesen über Feuerbach«, in: dies., MEW Bd. 3, Berlin, S. 5-7; Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003; É. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens; Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 276

ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DES ÄSTHETISCHEN

In der gegenwärtigen Theoriediskussion finden sich interessante Ansätze zu einer generellen ästhetischen Sensibilisierung der Theorie des Sozialen beispielhaft bei Jacques Rancière und Bruno Latour. Rancières sozialtheoretische Überlegungen laufen unter der programmatischen Überschrift »Die Aufteilung des Sinnlichen« auf eine Verknüpfung politischer und ästhetischer Theorie hinaus: Kollektive Praktiken, in denen eine Gesellschaft sich als politische konstituiert, sind aus seiner Perspektive immer auch durch ein historisch-spezifisches »Regime des Sinnlichen« charakterisiert, eine bestimmte kulturelle Strukturierung sinnlicher Wahrnehmungs- und Empfindungsformen, etwa vor dem Hintergrund der Art und Weise, indem sie Körper auf eine bestimmte Weise arrangieren, Zeichen, Gesten und Performanz produzieren oder Sichtbares und Unsichtbares verteilen.32 Bruno Latour stellt im Rahmen neuerer Überlegungen im Kontext seiner Theorie der Interobjektivität die konstitutive Bedeutung von affektiven »Verhaftetheiten« (attachments) für Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten heraus. Relationen zwischen Subjekten und Objekten sind hier nicht als affektiv neutrale, rein instrumentelle Beziehungen zu verstehen, sie enthalten vielmehr zwangsläufig affektiv-sinnliche Bindungen, die in ihrer inhaltlichen Ausfüllung, nicht aber in ihrer Existenz variieren. Nicht die Abhängigkeit oder Emanzipation von diesen affektiv-sinnlichen Subjekt-ObjektBindungen stellt sich damit als sinnvolle Frage dar, sondern die nach ihrer jeweiligen kulturellen und zugleich material-artefaktförmigen Gestaltung.33 Sowohl Rancière als auch Latour betonen damit, dass eine Analyse der sinnlich-affektiven Dimensionen von Praktiken auf die Analyse eines materialen Arrangements von Objekten und Artefakten angewiesen ist, in deren Zusammenhang sich Formen der sinnlichen Wahrnehmung, des Erlebens und Empfindens ausbilden. Dies lässt sich auf ein weites Feld vom Städtebau und der künstlich »gemachten« Natur über Architektur und Innenarchitektur von Räumen bis hin zur Verwendung einzelner Objekte wie medialer Artefakte, Konsumgüter, Bekleidung etc. beziehen. Zugleich wird bei Rancière und Latour – jenseits der Berlin 1966; Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M. 1999, H. Joas: Die Kreativität des Handelns. Vgl. zum Beitrag, den poststrukturalistische Autoren zu einer Soziologie des Ästhetischen liefern können, auch Sophia Prinz/ Hilmar Schäfer: »Kunst und Architektur: materielle Strukturen der Sichtbarkeit«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008. 32 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 21-49. 33 Bruno Latour: »Factures/Fractures. From the concept of network to that of attachment«, in: Res: Anthropology and Aesthetics 36 (1999), S. 20-31. 277

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Philosophischen Anthropologie einer »natürlichen« Sinnlichkeit und Affektivität des Menschen – eine Analyseperspektive angedeutet, welche die kulturelle, historisch-spezifische Modellierung dieser Formen der Wahrnehmens, des Erlebens und Empfindens in den jeweiligen Praktiken ins Visier nimmt. Die generelle sozialtheoretische Aufgabe besteht somit darin, sozialkulturelle Praktiken nicht nur als einen Nexus von routinisierten Handlungsweisen zu betrachten, welche vor dem Hintergrund eines impliziten, praktisch-interpretativen Wissens prozessieren und dabei eine Inkorporierung dieses Wissens und den Praktiken zugehörige Artefakte voraussetzen. Vielmehr ist jede Praktik auch und zugleich immer als eine spezifische Form des Erlebens, des sinnlichen Wahrnehmens und der affektiven Verhaftetheit/Gestimmtheit zu rekonstruieren, welche die Praktik jeweils produziert und voraussetzt.34 Praktiken organisieren nicht nur Handeln, sie organisieren auch Erleben, Affekte und sinnliche Wahrnehmung auf ihre jeweils kulturell spezifische Weise: durch eine Sensibilisierung bestimmter Sinne auf Kosten anderer, durch die routinemäßige Hervorrufung bestimmter mental-leiblicher Erlebniszustände, durch die Hervorlockung bestimmter Empfindungen oder eben auch nahezu »affektiv neutrale« Zustände. Entscheidend ist soziologisch, hier nicht phänomenologisch »innere« Zustände zu sehen, Wahrnehmung, Erleben oder Affekt nicht »psychisch« zuzurechnen, sondern sie als Bestandteile kultureller Praktiken zu modellieren.35 Es kann sich damit für eine Soziologie des Ästhetischen – noch über die Analyse von Ästhetisierungstendenzen in der Kultur der Moderne hinaus – ein weites Feld der Analyse von ästhetischen Dimensionen sozialer Praktiken ergeben: Wie strukturieren etwa bestimmte religiöse Praktiken Wahrnehmen, Erleben und Empfinden, wenn man sie nicht nur als moralische Systeme, 34 Zur generellen sozialtheoretischen Relevanz des Konzepts der Affekte vgl. auch Nigel Thrift: Non-Representational Theory. Space, Politics, Affect, London 2007; Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham 2002. 35 Eine grundsätzliche Bedeutung können damit die neuesten, insbesondere kulturanthropologischen Studien zur Formung der verschiedenen »Sinne« bekommen, vgl. David Howes: Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader, Oxford, New York 2005; Elizabeth Edwards/Chris Gosdan/Ruth Phillips (Hg.): Sensible Objects. Colonialism, Museums and Material Culture, Oxford, New York 2006; Carolyn Korsmeyer: The Taste Culture Reader. Experiencing Food and Drink, Oxford, New York 2005; Constance Classen: The Book of Touch, Oxford, New York 2005; Jim Drobnick: Smell Culture Reader, Oxford, New York 2006; Michael Bull/Les Back (Hg.): The Auditory Culture Reader, Oxford, New York 2004; klassisch bereits Jessica Evans/Stuart Hall (Hg.): Visual Culture. The Reader, London 2003. 278

ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DES ÄSTHETISCHEN

sondern – so wie es in Simmels Theorie des Religiösen angedeutet wird – als Perzeptions- und Affektgenerierungsnetzwerke im Umgang mit transzendenten Instanzen, der eigenen »Seele« dem Körper dechiffriert?36 Was sind die ästhetischen Komponenten ökonomischer Praktiken, wenn man davon ausgeht, dass sie nicht rein zweckrationale Systeme bilden, sondern bestimmte Affekte heranzüchten (ob im Wettbewerb, der Spekulation, dem Tausch, der asketischen Arbeit etc.)?37 Welche Ästhetik enthalten wissenschaftlichen Praktiken, wenn man sie nicht nur als Instanzen betrachtet, die kognitiv neutral Aussagesysteme produzieren, sondern auch als solche, die spezifische Formen der sinnlichperzeptiven wie affektiven Aneignung ihrer jeweiligen »Objekte«, seien diese anorganisch, organisch, sozial oder textuell, enthalten?38 Die Wiederkehr des Ästhetischen in die Theorie der Moderne und die Sozialtheorie ist dabei nicht kurzerhand als ein normatives Projekt misszuverstehen. Es geht nicht darum, ästhetische Subjektivierungen und sozial-kulturelle Ästhetisierungsprozesse gegen jene klassischen Prozesse der Rationalisierung oder Differenzierung auf normativer Ebene auszuspielen, das Ästhetische einseitig und eindeutig mit jenen Emanzipationshoffnungen zu verknüpfen, wie sie die Ästhetische Theorie von Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« bis zu Herbert Marcuse gepflegt hat. Jene ästhetischen Subjektivierungsweisen, wie sie die Kultur der Moderne – und darin besonders der Postmoderne – forciert, sind eben auch Formen der Subjektivierung: sie enthalten eine Unterwerfung unter einen kulturell spezifischen Kriterienkatalog normaler, gelungener und erstrebenswerter Subjektivität, der vom Einzelnen ebenso verfehlt werden kann, wie dies für eine moralische oder effizienzorientierte oder marktförmige Subjektivierung gilt.39 Es ist sehr wohl möglich, dass eine sozialphilosophische Theorie oder Ethik des Ästhetischen bestimmte Elemente des Ästhetischen – die verstörenden »Schwellenerfahrungen« (Fischer-Lichte), in denen das Erfahrungssubjekt sich selbst transformiert, das »freie Spiel, das weder Referenz noch Regeln kennt« (Iser) oder das existenzielle Erleben des »Nicht-Aus-

36 Vgl. etwa David Yamane/Megan Polzer: »Ways of seeing ecstasy in modern society: Experiential-expressive and cultural-linguistic views«, in: Sociology of Religion 22 (1994), S. 1-25. 37 Vgl. Urs Stäheli: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M. 2007. 38 Vgl. zu einzelnen Aspekten Wolfgang Krohn (Hg.): Ästhetik in der Wissenschaft, Hamburg 2007. 39 Zum Konzept der Subjektivierung vgl. auch Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001. 279

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drückbaren«, »the nothingness now« (Lyotard)40 – in ihrer Außeralltäglichkeit als Instanzen der Kritik an der Common Sense-Welt prämieren kann. Aber hier handelt es sich wiederum um sehr spezifische, herausgehobene Elemente innerhalb der breiten Palette von »alltäglichen« ästhetischen Praktiken und erst recht der ästhetischen Komponenten von sozialen Praktiken insgesamt. In der Tat ist eine analytische Veralltäglichung des Ästhetischen das, was eine Soziologie des Ästhetischen leisten kann.

40 Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, in: J. Küpper/C. Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, S. 139-160; Wolfgang Iser: »Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen«, in: J. Küpper/C. Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, S. 176-202, hier S. 192; J.F. Lyotard: »The sublime and the avant-garde«, S. 198. 280

K ULTURTHEORIE

ALS

K RITIK

Kritische Gesellschaftstheorie heute. Zum Verhältnis von Pos tstruk turalis mus und Kritischer Theorie Was kann eine kritische Gesellschaftstheorie heute bedeuten? Diese Frage scheint auf den ersten Blick fast antiquiert. Die sogenannte »Kritische Theorie« der Gesellschaft hatte in der deutschen Soziologie ihre Hochzeit in den 1970er Jahren. Auch in dieser Phase war sie bereits ein Revival, sie vollzog einen Rückgriff einerseits auf Marx, andererseits auf die Arbeiten der Frankfurter Schule der 1930er bis 60er Jahren, zentriert um Adorno und Horkheimer. Der Rückgriff war verknüpft mit Versuchen einer Weiterentwicklung, im Neomarxismus einerseits, in der jüngeren Frankfurter Schule bei Habermas andererseits. Es ist offensichtlich, dass diese Phase einer allgegenwärtigen kontroversen Debatte um kritische Gesellschaftstheorie, schlaglichtartig aufscheinend im Frankfurter Soziologentag 1968 unter dem Titel »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft«, nicht mehr die heutige ist.1 Auf den ersten Blick und wenn man sich auf die deutsche Soziologie beschränkt, könnte man zu dem Schluss kommen, dass mittlerweile diese »kritischen« Analyseansätze, die durch ihre Perspektive selbst eine Distanz zu ihrem Gegenstand eingebaut haben, durch solche verdrängt worden sind, die Max Horkheimer wohl unter der Rubrik der »traditionellen Theorie« eingeordnet hätte, etwa die Systemtheorie oder die Rational Choice Theorie oder steuerungsorientierte middle range theories. Eine solche Diagnose

1

Vgl. Theodor W. Adorno (Hg.): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1969. 283

KULTURTHEORIE ALS KRITIK

würde jedoch eindeutig zu kurz greifen: Sie geht von einem zu engen Begriff der Kritischen Theorie aus und ist zugleich regional beschränkt. Man kann eine genau entgegengesetzte Diagnose vertreten. Seit den 1980er Jahren lässt sich in den internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften, das heißt dem gesamten Feld von Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie einschließlich ihrer neuen, assoziierten studies wie gender studies, science studies oder postcolonial studies, ein wissenschaftshistorisch bemerkenswerter Aufschwung von Analyseansätzen beobachten, die sich selbst als »kritisch« ausgerichtet verstehen. Damit sind vor allem jene Ansätze gemeint, die an den Poststrukturalismus anschließen.2 Das Etikett des Poststrukturalismus umfasst eine Reihe von Theoretikern der 1960er und 70er Jahre, leitend Michel Foucault mit seinem Projekt der Archäologie/Genealogie und Jacques Derrida mit seiner Strategie der Dekonstruktion, daran anknüpfend auch Autoren seit den 1980er Jahren wie Judith Butler, Ernesto Laclau oder Stuart Hall. Sie alle entwickeln – unter Verarbeitung des klassischen semiotischen Strukturalismus Saussures – kulturtheoretische Analyseperspektiven, die, wie Lyotard es formuliert hat, darauf abzielen, »die Moderne zu redigieren«,3 das heißt einen anderen, alternativen Blickwinkel auf die Moderne, ihre sozialen und historischen Formen zu entwickeln. Zu betonen ist dabei, dass es sich beim Poststrukturalismus nicht primär um systematische Theorien und schon gar nicht um Sozialphilosophien mit normativen Begründungsprogrammen handelt. Das poststrukturalistische Denken in den Sozial- und Kulturwissenschaften läuft vielmehr in erster Linie auf eine stark an materialen Untersuchungen orientierte Analytik hinaus, die in eine große Zahl von kulturhistorischen, literaturwissenschaftlichen, kultursoziologischen und ethnologischen Arbeiten eingegangen ist und dort bestimmte Fragestellungen zur Analyse von Geschlecht, Ethnizität, Ökonomie und Politik, Populärkultur und Medienentwicklung, Jugendkulturen, Wissenschafts- und Technikgeschichte etc. anleitet. Dass die poststrukturalistischen Analysen nun mit einem Gestus der Kritik auftreten, ist ebenso offensichtlich wie häufig unexpliziert. Wenn 2

3

Vgl. zum Poststrukturalismus insgesamt Stefan Münker/Alexander Roesler: Poststrukturalismus, Stuttgart 2000; Urs Stäheli: Poststrukturalistische Soziologie, Bielefeld 2000; Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008; Stephan Moebius: Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt a.M., New York 2003. Jean-François Lyotard: »Die Moderne redigieren«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 204-214.

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KRITISCHE GESELLSCHAFTSTHEORIE HEUTE

Foucault in Überwachen und Strafen herausarbeitet, wie die scheinbar humane Strafpraxis des Gefängnisses eine neue Disziplinierung des Subjekts bedeutet, wenn Derrida die immanenten Brüche im philosophischen Diskurs des Okzidents ans Tageslicht bringt, wenn Judith Butler Zwangsheterosexualität und ihre Subversion rekonstruiert, dann enthalten diese Arbeiten offenbar schon in ihrer Form und ohne, dass nur ein Wort der Bewertung fallen müsste, eine kritische Grundstruktur. Aber wie lautet diese kritische Grundstruktur des Poststrukturalismus, die dort in der Regel unexpliziert bleibt? Ist der aktuelle Poststrukturalismus am Ende eine neue, gegenwärtige Form Kritischer Theorie? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen der poststrukturalistischen Analytik und der klassischen Form der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bestimmen? Ich möchte im Folgenden versuchen, hier zu einer Klärung beizutragen und dabei das Problem auf die Frage zuspitzen: Inwiefern stellt sich der Poststrukturalismus als eine Form Kritischer Theorie dar?4 Meine Anfangsintuition lautet, dass auf bestimmter Ebene ein grundsätzlicher Bruch zwischen der Frankfurter Schule und dem Poststrukturalismus und dass zugleich untergründige Gemeinsamkeiten existieren. Aber wo liegen genau die Gemeinsamkeiten und wo genau der Bruch? Inwiefern ergibt sich damit eine spezifische »Wende« in der kritischen Analyse der Moderne durch den Poststrukturalismus? Ich gehe in drei Schritten vor: Zunächst skizziere ich, wie die kritische Struktur der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule aufgebaut ist. Anschließend geht es darum, wie sich die Kritikstruktur des Poststrukturalismus verstehen lässt. Auf dieser Grundlage lässt sich drittens die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen dem Kritikmodus des aktuellen Poststrukturalismus und der klassischen Kritischen Theorie beantworten.

D a s k r i t i s c h e B a s i s vo k a b u l a r d e r F r a n k f u r t e r S c h u l e : H e r r s c h a f t u n d Au t o n o m i e Max Horkheimer hat 1937 in seinem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« den Versuch unternommen, die spezifische Struktur der Kritischen Theorie im engeren Sinne der Frankfurter Schule herauszu-

4

Diese Frage kann dann Verblüffung hervorrufen, wenn man sich die deutsche Gefechtsstellung der 1980er Jahre in Erinnerung ruft: die Kritik am Poststrukturalismus von Seiten von Jürgen Habermas, die ihn unter den Verdacht des neo-nietzscheanischen Irrationalismus stellte. Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985. 285

KULTURTHEORIE ALS KRITIK

arbeiten.5 Über diesen Artikel hinaus lässt sich der gesamte Textkorpus sowohl von Horkheimer als auch und vor allem von Theodor W. Adorno aus den 1930er bis zu den 60er Jahren, in deren Zentrum Horkheimers und Adornos Koproduktion Die Dialektik der Aufklärung (1944) und Adornos Negative Dialektik (1966) stehen, als Zentrum des Diskurses Kritische Theorie/Frankfurter Schule lokalisieren. Jenseits dieses Zentrums ergeben sich in der intellectual history der Kritischen Theorie drei Verkomplizierungen: Zum einen greift die Frankfurter Schule selbstverständlich auf die Arbeiten von Marx als Vorbild der angestrebten kritischen Version der Gesellschaftstheorie zurück. Mit Recht kann man das Marx’sche Werk als eine erste solche Version einer – linkshegelianisch konnotierten – kritisch orientierten Theorie der Moderne verorten. Diskurshistorisch weiter zurückgehend, stecken wiederum Hegels Geschichtsphilosophie, aber auch Rousseaus Entfremdungskritik hinter der Marx’schen Perspektive. Eine zweite Verkomplizierung ergibt sich dadurch, dass Adorno und Horkheimer zwar den Kern, aber nicht die Gesamtheit der Kritischen Theorie in ihrer Frankfurter Version ausmachen. Vor allem Herbert Marcuse und Walter Benjamin liefern hier zeitgenössische alternative Versionen Kritischer Theorie, deren Grundbegrifflichkeit andere Akzente setzt.6 Eine dritte Verkomplizierung des Theoriefeldes resultiert aus der weiteren Entwicklung der Frankfurter Schule seit den 1970er Jahren: Mit Jürgen Habermas tritt hier nicht nur eine neue Generation an, sondern auch ein Theoriesystem, das zwar noch in relativer Kontinuität zu Adorno und Horkheimer steht, aber zugleich einem neuen Pfad folgt.7 Mit dieser Grobstrukturierung des diskursiven Feldes Kritischer Theorie im engeren Sinne ergibt sich eine Komplexität, die einen zunächst zweifeln lassen könnte, dass sich hier bei allen Variationen noch eine gemeinsame Grundstruktur auffinden lässt. Dies ist aber bei näherer Betrachtung tatsächlich der Fall. Dieses kritische Vokabular setzt sich aus einer Doppelstruktur von zwei Basisannahmen zusammen, und die genannten Autoren liefern unterschiedliche Konkretisierungen und Gewichtungen dieser beiden Postulate. Die erste Basisannahme kann man als eine Prämisse umschreiben,

5 6

7

Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt a.M. 1992. Zum historischen Kontext der Frankfurter Schule vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München 1991. Eine Weiterentwicklung von Habermas’ Version findet sich inzwischen bei Honneth. Vgl. Axel Honneth: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a.M. 2005.

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KRITISCHE GESELLSCHAFTSTHEORIE HEUTE

dass es eine »Struktur der Herrschaft hinter den Erscheinungen« gebe. Die Kritische Theorie geht davon aus, dass die moderne Gesellschaft nicht so zu verstehen ist, wie es einer als dominant angenommenen Interpretation entspricht. Die kritische Grundintuition lautet, dass die moderne Gesellschaft nur scheinbar in jener freiheitlichen Weise aufgebaut ist, wie es ihrem Anspruch und einer gängigen – liberalen – Selbstbeschreibung entspricht. Gegen diesen konstitutiven Schein versucht die Kritische Theorie gewissermaßen die Strukturen herauszuarbeiten, die »dahinter stecken«. Wenn Luhmann soziologische Theorien danach unterscheidet, ob sie primär die Frage »Was ist der Fall?« oder »Was steckt dahinter?« stellen, dann bezieht er letztere zu Recht auf die Kritische Theorie.8 Generell lautet die kritisch-theoretische Antwort auf diese Frage, dass das, was hinter jener scheinbaren Freiheitlichkeit moderner Gesellschaft steckt, die diese in ihren liberalen Selbstbeschreibungen sich zurechnet, tatsächlich sich als ein subtiler, aber umso zwingenderer Herrschaftszusammenhang herausstellt – wie immer man auch im Einzelnen diesen Herrschaftszusammenhang verstehen mag. Insofern bedeutet Kritische Theorie hier »immanente« Kritik: Die moderne Gesellschaft wird nicht von außen mit beliebigen normativen Maßstäben einer guten oder gerechten Ordnung konfrontiert, vielmehr wird die klassische, letztlich post-aufklärerische liberale Selbstbeschreibung beim Wort genommen und mit einer konträren Realität konfrontiert. Die zweite Basisannahme der Kritischen Theorie ist selbst in Frageform zu kleiden: Wenn die moderne Gesellschaft in vielerlei Hinsicht einen Herrschaftszusammenhang bildet, wo befindet sich dann dort ein »Gegenort« von Autonomie und Vernunft? Der Diskurszusammenhang Kritischer Theorie knüpft hier durchgängig an normative Elemente aus dem heterogenen Arsenal der Aufklärungsphilosophie und deren, wie Castoriadis es genannt hat, »Doppelhorizont« von Autonomie/Freiheit und rationaler Selbststeuerung/Vernunft, an.9 Der eine aufklärerische Anspruch lautete, das Subjekt zu emanzipieren, es aus der Heteronomie der Fremdkontrolle, auch der Fremdkontrolle seines eigenen Egos zu befreien, es jener Freiheit und Autonomie zuzuführen, der Selbstreflexion und dem überlegten, verantwortlichen Handeln, die als Potenzial von Anfang an in ihm angelegt waren. Der zweite aufklärerische Anspruch, der in der Kritischen Theorie wieder auftaucht und der mit dem ersten 8 9

Vgl. Niklas Luhmann: »Was ist der Fall?« und »Was steckt dahinter«? Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, Bielefeld 1993. Vgl. Cornelius Castoriadis: Le monde morcelé. Les carrefours du labyrinthe III, Paris 1990, S. 17; vgl. zu diesem Doppelhorizont auch Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, New York, London 1993, S. 8ff. 287

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ein alles andere als unproblematisches Bündnis eingeht, betrifft die Realisierung einer rationalen, vernünftigen Ordnung von Gesellschaft (und Natur), in der diese als Ganze die Fremdkontrolle abstreift und sich einer transparenten Struktur unterwirft, in der sie sich gezielt selbst zu steuern vermag. Der Doppelhorizont von Autonomie und Vernunft in der Kritischen Theorie bildet damit keine von außen an die Gesellschaft herangetragene Utopie, er enthält normative Elemente, die selbst im modernen Selbstanspruch seit dem 17. und 18. Jahrhundert – dem, was Habermas das »Projekt der Moderne« nennt –10 impliziert sind, denen dann von der Kritischen Theorie jedoch eine bestimmte, radikalisierte Wendung gegeben wird. Die Kritische Theorie geht davon aus, dass Autonomie und Vernunft gerade nicht bereits realisiert sind, aber auch, dass der Herrschaftszusammenhang nicht total ist. Die Suche gilt dann den Gegenorten, an denen in der modernen Gesellschaft selber Tendenzen auszumachen sind, die aufklärerischen Prinzipien zu verwirklichen. Basisannahme 1 und 2 als das Grundgerüst des Vokabulars der Kritischen Theorie sind aufeinander angewiesen und stehen zugleich in einem Spannungsverhältnis zueinander: Die Suche nach einem Gegenort von Autonomie und Rationalität steht der Analyse eines Herrschaftszusammenhangs gegenüber. Die Basisannahmen 1 und 2 finden sich nun in verschiedenen Konkretionen sowohl im Kern der Kritischen Theorie als auch in den anderen genannten Varianten. Bei Horkheimer und Adorno besteht der Schein der Moderne darin, dass sie sich als der Emanzipation des Subjekts förderlich versteht, dass sie genau dies in ihrer spezifischen Symbiose von Natur- und Menschenbeherrschung jedoch verhindert – eine Herrschaftsstruktur, die sich selbst im Sinne eines Verblendungszusammenhangs systematisch unsichtbar macht. Der Herrschaftszusammenhang wird hier als einer der technischen Rationalität beschrieben, eine Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen und Beziehungen zu sich selbst, die wie technisch-sachliche Relationen modelliert werden. Die Moderne liefert hier ein identifikatorisches Korsett, in dem sie Unterschiedlichkeiten gleich macht. Die Frage, wo nun der Gegenort von Autonomie und »eigentlicher« Vernunft in der Moderne zu lokalisieren ist, wird bei Adorno und Horkheimer bekanntlich nur sehr tentativ behandelt: Eine Symbiose von Spontaneität und Reflexion, das NichtIdentische, die Mimesis, auch die ästhetische Praxis der Kunst werden hier angedeutet und mit der Verfallsgeschichte kontrastiert.11 10 Vgl. Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 177-192. 11 Vgl. zur Herrschaftstheorie Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2006. Zu 288

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Marx, Marcuse, Benjamin und Habermas füllen die beiden Basisannahmen anders, aber sie füllen sie gleichwohl, vor allem indem sie die zweite Basisannahme, die Frage nach dem autonomen Gegenort, reichhaltiger ausstaffieren. Marx als Urvater der Kritischen Theorie setzt für jenen Herrschaftszusammenhang, der sich selbst fortwährend unsichtbar macht, »Kapitalismus« ein: Die moderne Gesellschaft ist nur scheinbar jene bürgerliche Gesellschaft freier Arbeit und marktförmigen Austausches, wie sie etwa die bürgerliche Politische Ökonomie suggeriert, tatsächlich funktioniert sie nach den eigendynamischen Werttransformationsgesetzen des Kapitals, denen der Einzelne unterworfen ist und die Ausbeutung und Entfremdung produzieren. Für den Gegenort von Autonomie/Rationalität, also die zweite Basisannahme, setzt Marx auf abstrakter Ebene den Emanzipationsprozess des arbeitenden Subjekts ein, konkreter die Arbeiterklasse und die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft transparenter Selbstregierung.12 Interessant für die Einordnung von Marx ist, dass er den Herrschaftszusammenhang des Kapitalismus – anders als später Adorno und Horkheimer – nicht als hyperstabil, sondern als instabil, als durchsetzt mit Widersprüchen annimmt, die gewissermaßen systematisch ihren Gegenort produzieren, der ihn selbst am Ende verdrängen soll. Herbert Marcuse als zeitgenössische Alternative zu Adorno und Horkheimer setzt für die Basisannahme 1 die »eindimensionale Gesellschaft« manipulierter Bedürfnisse und eines künstlich in Schach gehaltenen Lustprinzips ein, die stark dem Adorno/Horkheimer’schen Verblendungszusammenhang ähnelt. Was die Basisannahme 2 angeht, sucht er jedoch offensiver und systematischer nach einem Gegenort und findet diesen, theoretisch unterfüttert durch seine intensive Rezeption der Psychoanalyse Freuds, aber auch des ästhetischen Idealismus Schillers, in einer neuen Praxis des Begehrens und einer neuen ästhetischen Praxis, einem ästhetisch kultivierten Lustprinzip, das er konkret in den zeitgenössischen Gegenkulturen lokalisiert.13 Walter Benjamin als weitere

den Gegenprinzipien essayistisch Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1991, und systematisch ders.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1990. 12 Für die Einschätzung der Kritikstruktur von Marx ist sein Schwanken zwischen einer systemtheoretischen und einer akteurstheoretischen Perspektive auf den Kapitalismus von Bedeutung, auch die Frage, ob man eine »szientistische« oder eine »humanistische« Lesart von Marx präferiert. Vgl. auch Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des Historischen Materialismus 2, Frankfurt a.M. 1980. 13 Vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1965; Herbert Marcuse: Der 289

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zeitgenössische Alternative zu Adorno und Horkheimer trifft sich mit Marcuse in der Suche nach dem emanzipativen Gegenort im Feld eines offensiv verstandenen Ästhetischen. Dieses wird nun jedoch in der neuen Massenkultur audiovisueller Medien lokalisiert, die Benjamin als Chance einer massenhaften Avantgarde begreift, welche die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Betrachters revolutioniert.14 Anders als Adorno, für den die ästhetischen Erfahrungen einen letztlich nicht generalisierbaren, anti-totalitären Rückzugsort aus der Erbmasse der autonomen bürgerlichen Kunst bieten, wittern Marcuse und Benjamin damit jeweils auf ihre Weise die Chance einer ästhetischen Kulturrevolution. Das emphatisch moderne Postulat der Autonomie wird damit von ihnen als ein modernistisches, post-avantgardistisches interpretiert, eine Autonomie, die nicht reflexionstheoretisch gedacht ist, sondern im Kern ästhetisch, als eine Ästhetisierung der Lebenspraxis. Bei Jürgen Habermas schließlich verschieben sich die Gewichte am deutlichsten: Die grundsätzliche Bewegung ist die einer Abschwächung der ersten, der herrschaftskritischen Basisannahme, während nun die zweite in den Vordergrund rückt und in Richtung einer Rationalitätstheorie umgeformt wird. Grundsätzlich ist auch Habermas’ Perspektive dualistisch aufgebaut und folgt damit der kritischen Doppelstruktur: Auf der einen Seite befinden sich bei ihm die zweckrational und funktional strukturierten Systeme, der Kapitalismus und die moderne Bürokratie, die beide das Risiko einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« enthalten. Auf der anderen Seite wird die Lebenswelt mit ihrem Potenzial vernünftiger, transparenter Diskurse lokalisiert.15 Im Habermas’schen Ansatz avanciert jedoch der Gegenort der Vernunft in seiner sprach- und kommunikationstheoretischen Interpretation selbst zu einer eigendynamischen Entwicklungsgeschichte der Rationalität (pace Hegel), so dass nun die blinde Logik der Systeme eher als ein konkurrierendes Element neben diesen positiv konnotierten Rationalisierungsprozess kommunikativer Strukturen tritt. Wenn der gegen die »instrumentelle Vernunft« gerichtete emanzipative Gegenort bei Adorno, Marcuse und Benjamin auf der Ebene des Ästhetischen festgemacht wird – und er bei Marx in einer transparenten und gerechten Selbstorganisation des Ökonomischen ge-

eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994. 14 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977; Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 185-229. 15 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981. 290

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sehen wird –, dann befindet sich im Kern des Habermas’schen Modellierung des Gegenorts neben der Wissenschaft und dem Recht vor allem die Sphäre der politischen Öffentlichkeit.

Kritik im Poststrukturalismus: Kulturelle Unkontrollierbarkeiten und d i e S e l b s t s u b ve r s i o n d e r M o de r n e Wie stellt sich nun der Kritikmodus des Poststrukturalismus dar? Es kann nicht darum gehen, den Poststrukturalismus sogleich in das Korsett der beiden »Frankfurter« Basisannahmen zu pressen. Auch im Falle des Diskursfeldes des Poststrukturalismus ergibt sich dabei zunächst das Problem einer Heterogenität. Es bietet sich an, Foucault und Derrida als die beiden wichtigsten und ihrerseits bereits klassischen Autoren des poststrukturalistischen Denkens näher zu betrachten und anschließend mit Judith Butler eine Theoretikerin der jüngeren poststrukturalistischen Diskussion miteinzubeziehen, die Elemente Derridas und Foucaults gleichermaßen aufnimmt. Michel Foucault definiert in seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung?« explizit das von ihm vertretene Prinzip der Kritik in Form einer Frage: »Welchen Ort nimmt in dem, was uns als universal, notwendig und verpflichtend gegeben ist, das ein, was einzig, kontingent und das Produkt willkürlicher Beschränkungen ist?«16 Kritisch ausgerichtet ist Foucaults Analytik der Moderne damit in einem Zweischritt: Der erste Schritt besteht darin, das, was in der Moderne als Emanzipation erscheint, etwa die sexuelle Aufklärung in Sexualität und Wahrheit, die Humanisierung des Strafrechts in Überwachen und Strafen oder die Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen in Die Ordnung der Dinge, als einen Effekt bestimmter Komplexe von Diskursen und Praktiken, die Foucault Dispositive nennt, als einen Effekt bestimmter machtvoller Regulierungsmechanismen, die ebenso einschränkend wie produktiv wirken, neu zu beschreiben. Gegen die große Erzählung der modernen Liberalisierung wird die »Emanzipation« des Subjekts an immer neuen Fällen als Ergebnis des machtvollen Trainings in bestimmten, im Detail beschreibbaren sozialen Kriterien der Subjekthaftigkeit rekonstruiert, ein Subjektivierungsprozess, der zwangsläufig mit Ausschließungsmechanismen verbunden ist, die andere Möglichkeiten der Existenz verwerfen. Wenn das scheinbar Emanzipative damit als das Disziplinierende 16 Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/ Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M., New York 1990, S. 35-54, hier S. 48. 291

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neubeschrieben wird, dann besteht der zweite, damit verbundene Schritt der Foucault’schen kritischen Analytik darin, das scheinbar Notwendige und Alternativenlose dieser Emanzipationsdisziplinierung als kulturell kontingent, als Ergebnis ganz spezifischer kultureller Codes und ganz spezifischer sozialer Konflikte herauszuarbeiten. Nicht dass Individuen subjektiviert werden, dass Macht wirkt und dass Diskurse und Dispositive zum Einsatz kommen, ist überwindbar – so Foucaults Enttäuschung der Fiktion des »freien Subjekts« –, aber die einzelnen und notwendigerweise partikularen kulturellen Kontexte, welche eine bestimmte Subjektivierung als allgemeingültig und alternativenlos propagieren, sind tatsächlich alles andere als alternativenlos.17 Die empirische, kulturwissenschaftliche Frage lautet dann immer, welche Codes und welche Konfliktkonstellationen hier jeweils vorliegen. Im Foucault’schen Verständnis enthält damit der radikale Kontextualismus von Archäologie und Genealogie von vornherein ein immanent kritisches Potenzial, welcher der teleologischen Geschichtsschreibung der Modernisierungstheorien entgegenwirkt: Die Archäologie analysiert die scheinbare Alternativenlosigkeit einer Ordnung der Dinge als Produkt historisch spezifischer Diskurse. Die Genealogie wirkt komplementär, indem sie herausarbeitet, aus welchen Konfliktkonstellationen und kulturellen Kämpfen eine bestimmte kulturelle Festlegung hervorging, Konstellationen, die immer auch einen anderen Ausgang offen gelassen hätten. Jacques Derridas Perspektive der Dekonstruktion liefert eine zweite Variante poststrukturalistischer Analytik. Derridas Gegenstand sind zentrale Texte des okzidentalen Denkens. Kritisch orientiert ist die Dekonstruktion durch eine Doppelthese: die Annahme eines Logozentrismus in der Moderne (welche hier auf den gesamten Okzident ausgedehnt wird und bis zur Antike zurückreicht) und zugleich eines Anarchismus der Zeichen, der durch diesen Logozentrismus scheinbar in Schach gehalten wird, tatsächlich aber niemals in Schach gehalten werden kann. Derrida versucht, anhand unterschiedlicher Texte zu demonstrieren, wie im westlichen Denken mit verschiedensten rhetorischen Mitteln immer wieder versucht wurde, die Bedeutung von Zeichen zu kontrollieren, die Spur der Signifikanten einzuschränken, indem man die Semiosis in einem vorgeblichen Zentrum fundiert, eine Zentrierung, die über Konzepte wie Gott, Vernunft oder Subjekt erfolgt ist.18 Diese logozentrische 17 Vgl. besonders aufschlussreich Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. 2 (1970-1975), Frankfurt a.M. 2002, S. 166-191. 18 Vgl. die theoretische Grundposition in Jacques Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1992, S. 422-442. 292

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Fixierung von Sinn über sehr spezifische Regulierungen, nicht zuletzt innerhalb der Theologie, der Philosophie, dem Recht und der Wissenschaft, wird nun jedoch Derrida zufolge immer durch eine grundsätzliche Unkontrollierbarkeit von Zeichen und Sinn unterlaufen, einem nie völlig geschlossenen Spiel von Bedeutungen, das Derrida auch als Überschuss der Signifikanten, als »différance« oder »Spur« umschreibt. Den Zeichen, welche unsere Kultur ausmachen, kommt eine anarchische Tendenz zu, Polysemien zu produzieren, binäre Codes umzudrehen und Asymmetrien umzukippen. Entscheidend für die Dekonstruktion ist, dass in jenen – von Derrida beispielhaft vor allem an bestimmten Texten der westlichen Philosophie festgemachten – Versuchen, Sinn auf bestimmte Weise zu fixieren, tatsächlich diese Unkontrolliertheit von Sinn bereits am Werke ist und sich somit regelmäßig bestimmte Mehrdeutigkeiten, Brüche und Widersprüche in den Texten herausarbeiten lassen, welche ihre scheinbare geschlossene Eindeutigkeit sprengen. Genau diese kulturellen Brüche und paradoxen Umkehrungen im Detail zu analysieren, die sich – ohne Rücksicht auf die Absicht der Urheber – gegen die kulturellen Schließungen richten, sieht die Dekonstruktion als ihr kritisches Ziel. Foucaults Archäologie/Genealogie und Derridas Dekonstruktion verlaufen zunächst unabhängig voneinander, neuere Theorieansätze betreiben aber häufig eine Verknüpfung beider Versionen einer kulturwissenschaftlichen Analytik. Judith Butler kann man als prominente Vertreterin einer solchen Synthese verstehen. Butler arbeitet mit Foucault die kulturelle Kontingenz des scheinbar Notwendigen und Universalen heraus, indem sie vermeintlich allgemeingültige Eigenschaften des Subjekts als Produkt der Klassifikationssysteme diskursiver Ordnungen dechiffriert. Die Matrix von Geschlechtereigenschaften, die scheinbar fixe dualistische und reziproke Struktur von sex, gender und desire in der westlichen Kultur, liefert hier das beste Beispiel einer vorgeblichen Alternativenlosigkeit des Natürlichen, die aber tatsächlich als historischkultureller Prozess bestimmter kultureller Festlegungen und eines Ausschlusses alternativer Existenzmöglichkeiten gelesen werden kann. Mit Derrida versucht Butler nun, die eigentliche Instabilität und Destabilisierbarkeit des scheinbar kulturell Fixen zu demonstrieren, eine Destabilisierung, die sie mit dem Begriff der »Subversion« belegt. Keineswegs ist es dabei so, dass eine vorgegebene Autonomie des Subjekts aus den kulturellen Rahmungen heraustritt, vielmehr findet im Innern der kulturellen Sequenz leiblicher performances immer wieder eine Umdeutung Derridas dekonstruktive Vorgehensweise wird am besten deutlich in ders.: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983. 293

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und ein reframing der kulturellen Regulierungen – beispielsweise des Geschlechts – statt, welche diese Regulierungen selbst verschieben und damit außer Kraft setzen.19 Was macht nun abstrahierend die kritische Struktur der poststrukturalistischen Analyseansätze insgesamt aus, wie sie sich bei Foucault, Derrida und Butler in unterschiedlicher Weise zeigen? Man kann drei Prämissen zusammenfassen, die sich auch als methodologische Direktiven des Poststrukturalismus lesen lassen: 1.) das scheinbar Befreiende und Rationale als das Zwingende und Regulierende zu betrachten, 2.) das scheinbar Notwendige und Alternativenlose als das kulturell Kontingente zu sehen, 3.) das scheinbar Fixe und Geschlossene dieser kulturellen Festlegungen als das Unkontrollierbare, kulturell Instabile wahrzunehmen. Das erste Kritikmoment, das sich bei Foucault am deutlichsten findet, besteht darin, die Selbstbeschreibungen einer liberalen Moderne mit einer ganz anderen, verfremdenden Deutung zu konfrontieren: Das, was auch die liberale Soziologie gerne als moderne Freisetzungsprozesse von Individuen, als eine Ausbreitung unparteiischer institutioneller Prozeduren, als Etablierung formaler Rationalität etc., interpretiert hat, wird nun als ein Prozess der Unterwerfung unter ganz spezifische soziale Kriterien gelesen, ein Prozess, der immer auch mit der Ausschließung alternativer Möglichkeiten arbeitet, mit asymmetrischen Unterscheidungen zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Effizienz und Abfall, zwischen Sachlichkeit und Dekadenz etc. Das, was eine liberale Beschreibung gerne als die Kontingenzöffnung der Moderne liest, erscheint nun als eine machtvolle Kontingenzschließung mit Hilfe fixierter Unterscheidungen, die sich selber gerne unsichtbar macht. Für das poststrukturalistische Denken kennzeichnend ist, dass diese erste Prämisse – die einem nach der Beschäftigung mit der Frankfurter Schule auch von dort nicht unbekannt vorkommt – sogleich mit einer zweiten und mit einer dritten verknüpft wird. Die zweite Prämisse des Poststrukturalismus lautet, das scheinbar Notwendige als das historisch und lokal, kulturell Kontingente wahrzunehmen. Hier kommt der dezidiert kulturtheoretische Impetus der Poststrukturalisten zum Tragen. Nun stellen sich soziale, zwingende Festlegungen moderner Gesellschaft, die in dieser selbst als allgemeingültig vorausgesetzt werden – zum Beispiel technische oder wirtschaftliche Effizienz, die Präjudizierung einer Natur oder eine bestimmte Innerlichkeit des Subjekts –, als Produkt historisch und lokal spezifischer kultureller Codes dar, die zu

19 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001. 294

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bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten produziert und durchgesetzt wurden. Herrschaftssysteme sind keine technischen, ökonomischen oder gar gattungsmäßigen Apparaturen, sondern durch und durch kulturelle Phänomene, welche auf bestimmten hegemonialen diskursiven Ordnungen, Ordnungen der Sinnregulierung basieren. Eine kritische Analyse lässt sich damit in eine Form der Kulturgeschichte, Kulturanthropologie und Kultursoziologie umsetzen, welche diese jeweiligen diskursiven Grundlagen sozialer Ordnungen freilegen. Die dritte kritische Prämisse des Poststrukturalismus deckt dann jedoch eine dritte Scheinbarkeit auf: dass diese kulturellen Codes in der Moderne selbst durchaus nicht fix sind, sondern wiederum zu bestimmten Zeitpunkten und an bestimmten Orten in besonderem Maße sich als grundsätzlich instabil, als unkontrollierbar herausstellen. Sie sind Gegenstand von Kulturkonflikten, sie sind heterogen oder hybride zusammengesetzt, sie sind von Brüchen durchzogen, die Transformationen bewirken, sie sind mehrdeutig und damit offen für Subversionen und ungeplante Umdeutungen. Kennzeichnend für den Poststrukturalismus ist hier, von einer elementaren Selbstdestabilisierung und Transformierbarkeit des Sozialen auszugehen, einer – mit Deleuze gesprochen – basalen Deterritorialisierung des Fixen, die immer nur temporär in festen Institutionen, Subjektivierungen oder kulturellen Hierarchien stillgestellt werden kann. Die kritische Grundstruktur des Poststrukturalismus ist damit nicht normativ in einem engeren Sinne konnotiert, die Kritik besteht vielmehr in einer Gegenperspektive zu den drei Scheinbarkeiten der Befreiung, der Universalität und der Stabilität. Aber trotz dieser normativen Abstinenz wird indirekt deutlich, dass die dritte genannte Basisannahme, die Prämisse der Unkontrollierbarkeit kultureller Codes, eine solche positive normative Konnotation enthält: Dass die kulturellen Systeme gegen den eigenen Anspruch doch nicht fix, sondern unkontrollierbar sind, stellt sich als eine wünschenswerte Tendenz dar, die so wünschenswert ist, dass die Poststrukturalisten nicht müde werden, in der Geschichte der Moderne unermüdlich nach ihr zu suchen. Für Foucault ist diese kulturelle Unkontrollierbarkeit im agonistischen Konzept der Mikro-Macht, bei Derrida in Konzepten wie der différance, der Spur oder dem konstitutiven Außen, bei Butler im Konzept der Subversion enthalten. Als Resultat der kritischen Perspektive des Poststrukturalismus ergibt sich damit keine normative Sozialphilosophie, sondern ein kulturwissenschaftliches Analyseprogramm, das als Sensorium fungiert, um in der Kulturgeschichte der Moderne nach zweierlei zu suchen: nach den Momenten, in denen sich kulturelle Kontingenz schließt und nach jenen, an denen sie sich öffnet. Die Suche nach Momenten der Kontingenz295

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schließung führt etwa an jene Punkte, an denen eine neue kulturelle Ordnung des Ökonomischen oder Juridischen, der Geschlechter oder der ethnischen Unterscheidungen erstmals instituiert wird. Beispiele für diese Frageperspektive liefern Thomas Laqueurs Making Sex zur Ausbildung des Geschlechterdualismus um 1800, die Arbeiten der governmentality studies zur Entstehung eines neoliberalen Modell des Ökonomischen um 1975 oder Edward Saids postkoloniale Studie Orientalism, welche die Ausbildung einer Unterscheidung zwischen dem Westlichen und dem Orientalischen im 19. Jahrhundert behandelt.20 Die Suche nach Kontingenzöffnungen lenkt die poststrukturalistische Perspektive komplementär dazu nicht zu den Orten der Verfestigung, sondern zu jenen der Verflüssigung, damit zu den oppositionellen Gegenkulturen, mehr noch zu jenen kulturellen Kontexten, in denen Uneindeutigkeit produziert wird: Beispiele wären hier die Analysen zum »Karnevalesken« der Populärkultur in der Frühen Neuzeit im Gefolge von Bakhtin, zu Jugendkulturen in den Cultural Studies oder zur Uneindeutigkeit hybrider Ethnizität in den postcolonial studies.21

Die poststrukturalistische Umdeutung v o n s u b j e k t i v e r Au t o n o m i e i n kulturelle Unkontrollierbarkeit Wenn man die kritische Form des Poststrukturalismus mit ihren drei Prämissen der Kritischen Theorie im engeren Sinne gegenüberstellt, wird deutlich, dass der Poststrukturalismus eindeutig an deren erste, aber bei näherer Betrachtung auch an die zweite Basisannahme anschließt, dann aber beiden eine ganz bestimmte Wendung gibt. Die Spur der klassischen Kritischen Theorie ist im Poststrukturalismus vorhanden, aber er biegt schließlich in eine andere Richtung ab. Damit ergibt sich die Chance einer anderen Kritischen Theorie. Dass der Poststrukturalismus auf einer ersten Ebene an das Frankfurter Basistheorem der »verborgenen Herrschaftsstrukturen« anschließt, ist ziemlich offensichtlich. Der 20 Vgl. Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge (Mass.) 1990; Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/ Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000; Edward D. Said: Orientalism, New York 1994. 21 Vgl. Peter Stallybrass/Allon White: The Politics and Poetics of Transgression, London 1986; Dick Hebdige: Subculture. The Meaning of Style, London, New York 1979; Pnina Werbner/Tariq Modood (Hg.): Debating Cultural Hybridity. Multi-Cultural Identities and the Politics of AntiRacism, London 1997. 296

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Poststrukturalismus geht wie Adorno/Horkheimer und wie Marx davon aus, dass eine gängige bürgerlich-liberale Selbstbeschreibung der Moderne diese eher verschleiert und dass hinter der scheinbaren Freisetzung von Individuen und Institutionen eine neue Form von Herrschaft, von Regulierungen steckt, die sich der Kontrolle Einzelner entzieht. Der Poststrukturalismus gibt dieser ersten Basisannahme jedoch eine genuin kulturtheoretische Wendung: die Herrschaftsstrukturen sind in ihrem Kern Sinnregulierungen. Damit geht er auf Distanz zu jeglichem Ökonomismus, zum Anthropologisieren wie auch zu Tendenzen einer positiven oder negativen Geschichtsphilosophie, wie sie bei Marx, Adorno oder Horkheimer prägend sind. Die fraglichen regulierenden Strukturen erweisen sich in ihrem Kern als kulturelle Codes, die selbst keiner Entwicklungslogik folgen, sondern eher einer Logik von Brüchen. Das, was Marx den Kapitalismus oder die Frankfurter Schule die technische Rationalität nennen, stellt sich auf diese Weise selbst als ein kulturelles Arrangement von Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen und Materialitäten (Artefakten, Affekten etc.) heraus. Diese Kulturalisierung des Sozialen erlaubt dem Poststrukturalismus von vornherein eine historistische Kontextualisierung, damit auch eine Relativierung der Herrschaftsstrukturen, die einen Pessimismus nach Art von Adorno verhindert: Die Herrschaftsstrukturen sind nicht in Gefahr, zu überzeitlichen Gebilden zu gerinnen, vielmehr ist eine zeitliche und räumliche Lokalisierung ihrer Entstehung (und ihres Endes) möglich und nötig, die in der Geschichte selbst alternative Pfade deutlich macht. Spuren einer Kulturalisierung der Kritischen Theorie finden sich dabei durchaus schon zuvor, vor allem im Kulturmarxismus von Gramsci – und gerade dieser wird von einigen Poststrukturalisten, prominent etwa von Laclau, auch rezipiert.22 Wie sieht nun das Verhältnis zur zweiten Basisannahme aus, der Suche nach einem Gegenort von Autonomie und Rationalität jenseits der Herrschaftszusammenhänge? Die Konstellation hier ist kompliziert und sie wird nur verständlich, wenn man den aufklärerischen Doppelhorizont von Autonomie und Rationalität, der normativ in der klassischen Kritischen Theorie enthalten ist, in seine beiden Bestandteile zerlegt. Die poststrukturalistischen Ansätze opponieren eindeutig gegen den normativen Maßstab einer Rationalität und vernünftigen Steuerbarkeit von Gesellschaft, dem sie mit grundsätzlicher, zweifellos auch aus der Geschichte der westlichen Moderne informierter Skepsis gegenüberstehen, nicht zuletzt angesichts ihrer im 20. Jahrhundert kenntlich gewordenen

22 Vgl. Antonio Gramsci: Selections from the Prison Notebooks, New York 1971. 297

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Tendenzen zum Totalitarismus. Für sie stellt sich Rationalität zunächst als ein kulturwissenschaftlich untersuchungsbedürftiges spezifisches Rationalitätsregime dar, als ein historisch spezifischer Katalog von sozialen Kriterien rationalen Verhaltens, das andere, irrationale Existenzweisen auszuschließen versucht: Das gilt dann auch für Marx’ Sozialismus, für Habermas’ kritische Öffentlichkeit und für Marcuses Modell einer ästhetischen Existenz. Das Marx’sche aufklärerische Ideal einer Gesellschaft, die sich, ausgehend von einem politischen Zentrum, ihrer selbst transparent wird und sich selbst steuert, kann dann alles andere als einen normativen Impetus, eher eine totalitäre Gefahr ausdrücken. Anders verhält es sich jedoch mit dem kritischen Maßstab der Freiheit und Autonomie. Die Poststrukturalisten verabschieden den starken, an das Subjekt gekoppelten Autonomiebegriff, aber sie machen explizit oder implizit ein Nachfolgekonzept stark: das, was man versuchsweise das Unkontrollierbare nennen kann. Wenn für die klassisch-kritische Position das Autonome nur im Rahmen des Rationalen möglich ist, dann ist es für den Poststrukturalismus nur gegen das Rationale, gegen die fixierten Regulierungen möglich. Die Poststrukturalisten suchen in den historischen Gebilden der Kultur fortwährend nach den Momenten des Unkontrollierbaren, jene Momente, in denen die kulturellen Schließungen scheitern, in denen die Konflikte um das scheinbar Universale aufbrechen, in denen das Eindeutige sich als mehrdeutig und hybride erweist, die Orte, an denen der Spielcharakter der Kultur deutlich wird. Dieses Motiv des Unkontrollierten wird ideenhistorisch offensichtlich einerseits aus der Erbmasse des aufklärerischen Freiheits- und Autonomiebegriffs bezogen, andererseits ist (neben Nietzsche) die Kunst der Avantgarde seit Beginn des 20. Jahrhunderts, ihr Modell einer Transgression von Sinnfixierungen von ideenhistorischem Einfluss auf die poststrukturalistischen Autoren.23 Die aufklärerische Ontologie des autonomen Subjekts, das sich aus traditionalen Bindungen löst, wird damit ersetzt durch eine poststrukturalistische Ontologie der Deterritorialisierungen, der Destabilisierungen und der Subversion: eine Bewegung von Fluchtlinien, in denen sich die sozialen Prozesse und schließlich auch das Individuum in seinen Idiosynkrasien den dominanten Strukturen entziehen. Der Poststrukturalismus opponiert also gegen das eine Element der zweiten klassisch-kritischen Basisannahme – Rationalität – und schließt in seiner avantgardeästhetisch beeinflussten Idee des Unkontrollierbaren

23 Vgl. etwa Peter Bürger: Ursprung des postmodernen Denkens, Weilerswist 2000; Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006. 298

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gleichzeitig an das andere – Autonomie – an. In dem spezifischen kulturtheoretischen, letztlich sprach- und zeichentheoretischen Rahmen der Poststrukturalisten ergibt sich damit jedoch kein strikter Dualismus zwischen herrschender Rationalität und Gegenorten, zwischen Herrschaft und Freiheit mehr. Vielmehr erscheint die Tendenz des Unkontrollierbaren von vornherein in die Strukturen eingebaut, begreift man sie als Sinnstrukturen ähnlich der Sprache in ihrer Fluidität und Heterogenität: Das Element des Spiels ist in der Kultur immer schon enthalten, es wird nur an bestimmten Punkten vorübergehend domestiziert. Die Anfangsfrage, ob und inwiefern der aktuelle Poststrukturalismus in den Zusammenhang der klassischen Tradition Kritischer Theorie einzuordnen, inwiefern er kritische Gesellschaftstheorie ist, führt somit zu einem doppelten Ergebnis des Bruchs und der Kontinuität. Es wird im Poststrukturalismus ein Erbe der Kritischen Theorie verarbeitet und zugleich in eine andere Richtung umgewendet: Der Poststrukturalismus liefert den tentativen Rahmen für eine kritische Kulturtheorie, die zugleich einen Hintergrund für die materialen Kulturwissenschaften bieten kann.

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Grenz destabilisierungen – Kulturs oz iologie und Poststrukturalismus Grenzen sind ein unweigerliches Medium wie Produkt kultureller Prozesse. Wenn das, was man Kultur nennt, über den Weg der Markierung häufig eher impliziter als expliziter Unterscheidungen prozessiert, über Differenzen, die Eigenes von Fremdem, Sakrales von Profanem, Ökonomisches von Ästhetischem, Normales von Anormalem trennen, dann enthält sie offenbar immer die Markierung von Grenzen zwischen den jeweiligen Einheiten und Identitäten. Die Grenzen können gleichwertige Einheiten voneinander separieren – etwa jene zwischen wissenschaftlichen Disziplinen oder politischen Doktrinen in einem pluralistischen System –, sie können aber auch in die Unterscheidung von Diesem und Jenem eine Asymmetrie einbauen, Grenzen zwischen Erwünschtem und Unerwünschtem, im Extrem zwischen einem Innen und einem kaum intelligiblen Außen markieren.1 In jedem Fall scheint eine kulturelle Logik jenseits dieser Logik der Trennungen kaum denkbar. 1

Vgl. zum Begriff der Grenze in seinen kulturanthropologischen, phänomenologischen und überschreitungstheoretischen Facetten Mary Douglas: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London, New York 1996; Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999; Georges Bataille: »Der Begriff der Verausgabung«, in: ders., Die Aufhebung der Ökonomie. Das theoretische Werk Bd. 1, München 1975, S. 9-32. Zur klassischen Formulierung des Problems von Eigenem und Fremden vgl. Georg Simmel: »Exkurs über den Fremden«, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a.M. 1992, S. 764-771 und zum systemtheoretischen Konzept der boundary maintenance Talcott Parsons: »An outline of the social system«, in: ders. u.a. (Hg.), Theories of Society, New York 1968, S. 30-79. Zum Zusammenhang von Grenzsemantik und Raumanalysen vgl. Sigrid Weigel: »Zum 301

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Der Begriff der Grenze kombiniert dabei von vornherein drei Konnotationen, die in den entsprechenden englischen Begriffen separiert werden: die Konnotation von border, von boundary und von limit. Border bezeichnet in erster Linie eine räumliche Grenze, eine Grenze zwischen Territorien, die mit den Merkmalen der Sichtbarkeit und Materialität ausgestattet ist. Boundary verweist auf Grenzen in einem übertragenen, symbolischen Sinne, auf sinnhafte Markierungen und Separierungen. Limit schließlich bezieht sich auf eine normative und asymmetrische Grenze, auf jene zwischen dem Normalen und Erlaubten, dem Legitimen und der illegitimen Transgression, hinter der etwas wartet, was die Grenze in Richtung des Pathologischen wie Faszinierenden überschreitet. Zentral für den Begriff der Grenze ist, dass bei aller Umorientierung des Konzepts in Richtung des Symbolischen und Normativen in ihm die räumliche Metaphorik grundlegend bleibt: die Grenze zwischen Territorien und Staaten, die Eindeutigkeit der Grenze als sichtbare Linie, welche zwei Regionen voneinander trennt und die entscheidet, ob sich ein Ding oder eine Person diesseits oder jenseits der Grenze befindet – tertium non datur. Wenn ich im Folgenden das Verhältnis von Soziologie und Poststrukturalismus thematisieren, die Wirkungen einer poststrukturalistischen Injektion in die Soziologie untersuchen möchte, dann geht es im Zentrum um die Art und Weise der Betrachtung von Grenzen – und dies in einem mehrfachen Sinne: Zum einen ist das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und intellektuellen Disziplinen selber – darauf hat Michel Foucault in Die Ordnung des Diskurses hingewiesen2 – eines der mehr oder minder rigiden Grenzmarkierungen. Die Soziologie als Disziplin hat sich nun gegenüber dem disziplinlosen Treiben der im weitesten Sinne poststrukturalistischen Bewegungen, die der Tendenz nach eher in der Literaturwissenschaft und Kunst eine Verankerung gefunden haben, lange Zeit ungewöhnlich resistent gezeigt, hat ihre Grenze zum Poststrukturalismus stabilisiert. Diese Resistenz hat nun systematische Gründe. In deren Zentrum steht – dies ist meine These – die konträre Behandlung von Grenzförmigkeit in beiden Denkweisen: Die Soziologie als disziplinäres Unternehmen hat bei der Perspektivierung ihres Gegenstandes, der modernen Gesellschaft, bestimmte fundamentale Markierungen von Grenzen schon auf der grundbegrifflichen Ebene eingebaut. Umgekehrt weist der Poststrukturalismus, wenn man ihn auf ein Kernargument festlegen will, auf die systematische kulturelle Instabilität und

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›topographical turn‹ – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-165. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991.

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Selbstdestabilisierung von sozial-kulturellen Grenzen hin – letztlich auch von jenen Grenzen, welche die Soziologie ins Zentrum ihrer Voraussetzungen gestellt hat. Positiv formuliert heißt dies: eine poststrukturalistische Injektion in die Soziologie kann bedeuten, auf systematische Weise jene sozial-kulturellen Grenzdestabilisierungen sichtbar und analysierbar zu machen, welche die dominante Soziologie eher als störende Ausnahmen betrachtet. Es stellt sich damit heraus, dass das Supplement, das scheinbar bloß Hinzugefügte, die Grenzdestabilisierungen, sich immer schon im Zentrum des Sozialen und Kulturellen befunden haben und dort nur mit Mühe domestiziert werden konnten.3 Die Motivation meiner Überlegungen ist nahezulegen, dass die Soziologie dadurch, dass sie sich den analytischen Impulsen des poststrukturalistischen Denkens stärker öffnet, in ihren Versuchen, die Gesellschaft und Kultur der Moderne zu begreifen, profitieren kann und sich ein heuristisch fruchtbares Forschungsprogramm einer poststrukturalistisch inspirierten Kultursoziologie eröffnet. Was ist hier aber zunächst einmal unter dem »Poststrukturalismus« zu verstehen? Die poststrukturalistische Theoriebewegung gegenüber der Soziologie versucht einen Pfad zu beschreiten, der parallel dem folgt, was namentlich Jacques Derrida gegenüber der Philosophie vorgeführt hat.4 Der Poststrukturalismus, für den Derrida der wichtigste Kronzeuge ist, betreibt eine kritische Freilegung von Grundannahmen einer »zentrierten Struktur [...] eines begründenden Spiels, das von einer begründenden Unbeweglichkeit und einer versichernden Gewissheit, die selber dem Spiel entzogen sind, ausgeht«.5 Diese Freilegung von kulturellen Stabilisierungsbemühungen in Theorie und Praxis und der Art und Weise, wie diese faktisch immer wieder von Destabilisierungen, Kontaminationen und dem Scheitern von Sinnfixierungen unterlaufen werden, macht den Kern des poststrukturalistischen Arguments aus. Während die okzidentale Philoso3

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Es handelt sich hier um ein »Supplementaritäts«-Argument, wie es Derrida immer wieder – beispielhaft in seiner Rousseau-Lektüre – entfaltet hat. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 244ff. Entgegen einer bisher dominanten sozialwissenschaftlichen Lesart möchte ich damit bewusst nicht Foucault, sondern Derrida heranziehen, an dem sich besser verdeutlichen lässt, was das poststrukturalistische Denken ausmacht. Foucault schwankt demgegenüber zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus und die sozialwissenschaftliche Rezeption hat nicht selten, vor allem im Kontext bestimmter Lesarten der Konzepte der Macht und des Diskurses, dazu tendiert, an die strukturalistischen Elemente Foucaults anzuschließen, die eher eine – freilich immer historisch begrenzte – kulturelle Stabilität suggerieren. Vgl. Jacques Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1992, S. 422-442, hier S. 423. 303

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phie, so Derridas Grundannahme, hier mit bestimmten Kategorien des Bewusstseins, der Vernunft, der Erfahrung etc. arbeitet, handelt es sich – diesen Schluss kann man ziehen – in der Soziologie zwar um andere zentrale Unterscheidungen, die aber letztlich eine vergleichbare Konsequenz haben. Derrida macht in den Texten der westlichen Tradition von Plato bis Saussure bekanntlich eine dominante »Metaphysik der Präsenz« aus. Diese versucht über variable begriffliche Mittel eine Fixierung von Sinn, damit eine Separierung von eigenem und fremdem Sinn sowohl festzu-stellen als auch zu erreichen. Die Konstellation der mündlichen Sprache mit scheinbar festen Gedanken, Referenten, Propositionen und Kontexten ist hier nur ein Beispiel für eine solche rhetorische Sicherung des drohenden flottierenden Sinns. Ich würde nun die These vertreten, dass auch die Sozialwissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre begrifflichen Mittel, bestimmte trickreiche Rhetoriken und Semantiken eingesetzt haben, die letztlich einen vergleichbaren Effekt erzielen:6 über bestimmte begriffliche Vorannahmen die gesellschaftliche Unkontrollierbarkeit von Sinn, die Überschreitung von Sinngrenzen in der sozialen Realität zu marginalisieren. Der Poststrukturalismus weist hier immer darauf hin, dass jene Kontrolle von Sinn innerhalb von kulturellen Systemen tatsächlich immer schon von Bewegungen der Unkontrolliertheit von Bedeutungen unterlaufen wird, dass die Markierung von unüberschreitbaren Differenzen zwischen einem kulturellen Drinnen und einem Draußen immer schon von einem – wie Derrida es suggestiv formuliert – »Einfall des Draußen in das Drinnen«7 konterkariert wird. Wenn aus soziologischer Sicht bislang die Überlegungen Derridas häufig in einem scheinbar fernen Gelände der Interpretation philosophischer Texte ihren Ort haben,8 dann sollte diese Perspektive revidiert werden. Nicht nur, dass sich jene dekonstruktive Lesart Derridas auch auf die Grundannahmen der Sozialtheorien übertragen lässt – der rekonstruktive und positive Schritt besteht darin, ein Vokabular dafür zu entwickeln, um sich für diese Unkontrolliertheit von 6

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Diese Rhetoriken sind bisher im Detail kaum untersucht werden, vgl. aber Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004. J. Derrida: Grammatologie, S. 61. Vgl. aber bereits Ann Game, Undoing the Social: Toward a Deconstructive Sociology, Milton Keynes 1991. Zur neueren sozialwissenschaftlichen Rezeption des Poststrukturalismus in Deutschland vgl. Urs Stäheli: Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld 2000; Stephan Moebius: Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt a.M., New York 2003; Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008.

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Sinn und die permanenten Grenzüberschreitungen zwischen Drinnen und Draußen in der sozial-kulturellen Realität außerhalb der soziologischen und philosophischen Texte und damit im Innern des Gegenstandes der Soziologie selber zu sensibilisieren, der sozial-kulturellen Praxis. Diese systematische Destabilisierung von klassisch soziologischen Grenzannahmen und die Sichtbarmachung jenes realen hybriden Grenzverkehrs, die durch den Poststrukturalismus möglich werden, will ich im Folgenden genauer verfolgen. Was sind für die Soziologie kennzeichnende begriffliche Grenzen, die man mit einem alternativen poststrukturalistischen Analyseprogramm kontrastieren und durch diese neu perspektivieren kann? Es lassen sich vor allem fünf solcher konstitutiver Grenzmarkierungen unterscheiden, welche die Soziologie in ihrem disziplinären Kern enthält, und fünf Pfade, entlang derer das poststrukturalistische Denken dafür zu sensibilisieren vermag, auf welche Weise sich hier in der kulturellen Realität beständige Grenzdestabilisierungen ereignen: Erstens steht der klassisch soziologischen Grenzfigur der sozialen Differenzierung die poststrukturalistische Perspektive auf transversale Semantiken gegenüber. Zweitens kann die soziologische Leitdifferenz zwischen Moderne und Tradition mit dem poststrukturalistischen Sensorium für historische Intertextualitäten konfrontiert werden. Drittens lässt sich die soziologische Tendenz zur Universalisierung des Sozialen mit der poststrukturalistischen Analysefigur eines konstitutiven Außens relativieren. Die vierte Perspektivenverschiebung verläuft von der Trennung zwischen Sinnhaftigkeit und Affektivität zur Annahme affektiver Identifizierungen im Kern des Kulturellen. Fünftens wird die Separierung von Sozialem und Natur beziehungsweise der Objektwelt durch eine Perspektivierung von Körper-Artefakt-Konstellationen herausgefordert. Zweifellos kann man kaum den gesamten soziologischen Diskurs auf diese Leitunterscheidungen vollständig festlegen, vielmehr hat die Soziologie an ihren Rändern, aber auch in klassischen Texten immer wieder bewusst oder unbewusst begonnen, ihre eigenen dominanten Grundannahmen zu unterlaufen – diese immanente Destabilisierung kann nun jedoch durch den poststrukturalistischen Impuls verstärkt und ins Grundsätzliche gewendet werden.

1. Transversale Codes contra soziale Differenzierung Eine zentrale Grundannahme des soziologischen Diskurses betrifft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und damit Autoren wie Durkheim und Simmel bis hin zur Systemtheorie Luhmanns die soziale Differenzie305

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rung, insbesondere die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaft.9 Die Theorie sozialer Differenzierung stellt sich mittlerweile als eine Art gesunkenes Kulturgut des soziologischen Diskurses dar. Das Vokabular der Differenzierung bezieht seine semantischen Ressourcen zunächst aus dem Diskurs der Arbeitsteilung des 18. Jahrhunderts, etwa in der Politischen Ökonomie von Adam Smith, aber ebenso aus Kants Unterscheidung zwischen drei differenten, nicht ohne weiteres ineinander übersetzbaren Vermögen der Vernunft. Ende des 19. Jahrhunderts wird es auf die Dekomponierbarkeit moderner Gesellschaft in differente soziale Sphären bezogen, Max Weber spricht bekanntlich von Wertsphären, die jeweils einer eigenen sozial-kulturellen Logik folgen und sich in ihren leitenden Sinnhorizonten grundsätzlich voneinander unterscheiden, ja widersprechen: eine Sphäre des Ökonomischen, des Politischen, des Künstlerischen, des Intimen etc. Neben diesem soziologischen Grundtheorem der Ausdifferenziertheit moderner Gesellschaft in sogenannte Funktionssysteme findet sich noch eine sekundäre Variante des Vokabulars der Differenzierung: das der stratifikatorischen Differenzierung von Gesellschaftlichkeit in Klassen, ein Theorem, das von Marx bis Bourdieu reicht und von einer vertikalen Dekomponierbarkeit des Sozialen und Kulturellen in differente Lebenslagen und Lebensstile ausgeht, die einander konflikthaft gegenüberstehen. Das Theorem der funktionalen, horizontalen Differenzierung und das der klassenförmigen, vertikalen Differenzierung haben das Selbstverständnis der Soziologie wie ihre Wahrnehmung von außen entscheidend geprägt. Man muss sich jedoch bewusst machen, dass die Differenzierungssemantik, welche die Soziologie pflegt, eine Semantik der eindeutigen Grenzmarkierungen ist. Vorausgesetzt wird damit in der Regel die Fixiertheit der Differenzen zwischen den sozialen Entitäten: den Funktionssystemen oder den Klassen, deren Identität mit sich selber, deren Differenz zwischen Draußen und Drinnen. Diese Grenzen sind symbolisch-normative Sinngrenzen: Mit Luhmann existiert etwa zwischen dem ökonomischen und dem politischen System letztlich eine solche unüberschreitbare Grenze im Sinne einer Unübersetzbarkeit zwischen zwei unterschiedlichen Codes, welche eine inkommensurable Form der Kommunikation und der Beobachtung betreiben.10 Mit Bourdieu existiert zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Klasse eine analoge Sinngrenze zweier konträrer Habitus- und Differenzmuster, welche

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Zur Theorie funktionaler Differenzierung vgl. zusammenfassend Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. 10 Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1997, Kap. 4. 306

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sich in eindeutig abgrenzbare wie auch sich selber voneinander abgrenzende Lebensstile umsetzen.11 Genau hier kann nun jedoch eine poststrukturalistisch informierte Perspektive ansetzen. Sie vermag für Prozesse der Grenzüberschreitung von Sinn, für das, was man als das Phänomen historisch spezifischer transversaler Codes umschreiben kann, zu sensibilisieren, welche die Grenzen zwischen scheinbar inkommensurablen sozial-kulturellen Sphären kreuzen. Als transversale Codes kann man solche verstehen, die sich nicht eindeutig einer differenzierten sozialen Sphäre, beispielsweise einem bestimmten Funktionssystem zurechnen lassen, sondern in einer bestimmten historischen Phase die Grenzen zwischen diesen unterlaufen und damit in scheinbar sachlich oder sozial differenten sozialen Sphären Effekte zu erzielen vermögen.12 Diese Prozesse der kulturellen Grenzüberschreitung produzieren jenes Derrida’sche Draußen im Drinnen, jene Spur sich jenseits der Zwecksysteme bewegenden Verweisungszusammenhänge und können zu bestimmten Zeitpunkten fragile kulturelle Hegemonien jenseits von Differenzierungsgrenzen installieren.13 11 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1989. 12 Mit Codes sind hier Systeme von Unterscheidungen gemeint, welche in Form eines impliziten Wissens soziale Praktiken strukturieren und die darüber hinaus teilweise explizit in Form von Semantiken in Diskursen vorkommen können. Der Code-Begriff ist eine strukturalistische Krücke: in seiner Anwendung in Bezug auf transversale Codes soll der Begriff und seine Konnotationen einer scheinbar stabilen langue sogleich relativiert werden. Eine Verwandtschaft existiert mit Jürgen Links Begriff des Interdiskurses (vgl. Jürgen Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller [Hg.], Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307). Allerdings bezeichnet Links Interdiskurs eine besondere Diskursart, einen nicht-spezialisierten Diskurs (bei ihm z.B. die Literatur oder die Massenmedien) im Unterschied zu Spezialdiskursen, während mit transversalen Codes hier gerade kein eigenständiger Praxis- oder Diskurskomplex gemeint sein soll, sondern die prozesshaften, verstreuten Effekte eines Codes in unterschiedlichen Praktiken und Diskursen, die sich ansonsten in ihren spezifischen Aktivitäten voneinander unterscheiden. 13 Vgl. zur temporären Installierung von Hegemonien über die Grenzen »separierter Subjektpositionen« hinweg Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London, New York 2001, S. 114ff. Zur Kritik an der Voraussetzung geschlossener funktionaler Sinnsysteme bei Niklas Luhmann als Vertreter der theoretisch avanciertesten Differenzierungstheorie vgl. Urs Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000, aus kulturwissenschaftlicher Sicht Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann: Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999 und aus ethnomethodologischer Sicht Karin Knorr-Cetina: Zur Unterkom307

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Wo lassen sich solche transversalen Codes identifizieren, die gewissermaßen kulturelle »Knotenpunkte« bilden?14 Um nur zwei untersuchungsbedürftige Beispiele aus der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu nennen, kann man auf die leitenden Vorstellungen des »Gruppenförmig-Sozialen« und des »Ästhetisch-Expressiven« verweisen. Man kann beobachten, dass seit den 1920er Jahren (in dieser Eindeutigkeit bis in die 1970er Jahre) sowohl in der Kultur des Amerikanismus als auch jener des Sozialismus der Code des Sozialen in einem sehr spezifischen Sinne die Festlegung funktionsfähiger Praxis und gelingender Subjektivität auf die Eingliederung in das Gruppenförmige und die soziale Anpassung betreibt. Dies gilt von der social organization in der Ökonomie über die an sozialen Gruppen orientierte peer society in der Privatsphäre, den psychologischen Interdiskurs der sozial angepassten Persönlichkeitsstruktur bis zum social progressivism in der Politik. Die Semantik des Sozialen ist nicht auf eine einzelne gesellschaftliche Sphäre limitiert, sondern kontaminiert hier in einem kulturhistorisch überraschenden Effekt verschiedenste gesellschaftliche Felder.15 Ein anderer historisch wirkungsvoller Kandidat für einen transversalen Code ist jener des Ästhetischen: Der semantische Komplex des ÄsthetischExpressiv-Kreativen ist keineswegs durchgängig auf eine autonome Sphäre der Kunst beschränkt, sondern liefert seit den 1970er Jahren eine flottierende kulturelle Semantik der Expressivität und der Stilisierung des Selbst, die in die ökonomische Sphäre der intrinsisch motivierten Kreativarbeit, in die Stilisierung der Konsumtion und das Ideal der quasi-künstlerischen self-realization in der reinen Beziehung gleichermaßen implantiert wird.16 Weitere wirkungsvolle, in ihrer Struktur und ihren Effekten im Detail untersuchungsbedürftige transversale Codes und Semantiken in der Geschichte der Kultur der Moderne wären etwa die der Moralität, die des Marktes und die des Sports/des Sportlichen, neuer-

plexität der Differenzierungstheorie, in: Zeitschrift für Soziologie, 1992, S. 406-419. 14 Vgl. zum Konzept des nodal point E. Laclau/C. Mouffe: Hegemony, S. 112. 15 Vgl. William Graebner: The Engineering of Consent. Democracy and Authority in 20th America, Madison 1987; Nikolas Rose: Inventing Our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1996, S. 116149, A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 409ff. 16 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M., New York 1992; Thomas Ziehe: »Vom Lebensstandard zum Lebensstil«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993, S. 67-93. 308

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dings auch die des Projekts und Projektförmigen.17 Statt Sinngrenzen zu reifizieren und soziale Sphären zu purifizieren, stellt sich aus der Perspektive eines poststrukturalistischen Analyseprogramms damit immer die Frage: Welche kulturellen Elemente bewegen sich in einer bestimmten Formation zwischen verschiedenen, scheinbar umgrenzten sozialen Sphären, und wie gelingt es ihnen teilweise sogar, einen Hegemonieeffekt zu erzielen, das heißt über die Grenzdestabilisierung dominante kulturelle Formationen zu installieren? Damit handelt es sich jedoch nicht um soziale Integration im klassischen soziologischen Sinne, wie sie etwa bei Parsons vorausgesetzt wird.18 Tatsächlich ist der soziologische Diskurs regelmäßig vor einer allzu radikalen Differenzierungsthese zurückgeschreckt und hat nach einer sozialen Integration gesucht, welche sämtliche Funktionssysteme oder Klassen etwa in Form eines Wertekonsenses überwölbt. In diesem Integrationsdiskurs begibt man sich auf die Suche nach normativen Mustern, die sämtlichen sozialen Subsystemen zugrunde liegen und damit gewissermaßen von vornherein schon grenzenlos gelten. Dies ist jedoch nicht die poststrukturalistisch informierte Grenzperspektive, welche nicht Grenzen eliminiert, sondern deren Uneindeutigkeit thematisiert und die kulturellen Prozesse nachzeichnet, welche diese kreuzen. Aus dieser Sicht führen transversale Semantiken nicht kurzerhand zu einem gesellschaftlichen Konsens, sondern lassen sich bezüglich zweier, häufig kombinierter Effekte betrachten, die man voneinander unterscheiden kann: Homologieeffekte und Kontaminationseffekte. Zunächst ist tatsächlich von einer gesellschaftlichen Verstreutheit von Praktiken- und

17 Vgl. zur Semantik des Marktes Klaus Kraemer: Der Markt der Gesellschaft. Zu einer soziologischen Theorie der Marktvergesellschaftung, Opladen 1997 und, damit zusammenhängend, von Leistung und Erfolg Sighard Neckel: »›Leistung‹ und ›Erfolg‹. Die symbolische Ordnung der Marktgesellschaft«, in: Eva Barlösius/Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische Perspektiven in Deutschland, Opladen 2001, S. 245-265, zur Semantik des Sports Frank Becker: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur, 1918-1933, Opladen 1993, Alain Ehrenberg: Le culte de la performance, Paris 1991, S. 25ff., zur Moral in der bürgerlichen Moderne Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815), Göttingen 1996, S. 193ff., Hans Bayer: »Feingefühl – Achtung – Ehrfurcht. Zur Soziologie des bürgerlichen Ethos der Goethezeit«, in: Wirkendes Wort 28 (1978), S. 401-421, zur Projektförmigkeit vgl. Markus Krajewski (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Bd. 15, Berlin, 2004; Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 147ff. 18 Vgl. T. Parsons: »An outline of the social system«. 309

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Diskurskomplexen auszugehen, die durch keinen vorgängigen Konsens begründet werden. Transversale Codes wie die des Sozialen, des Ästhetischen oder des Marktförmigen lassen sich dann als auf präzise nachspürbaren Pfaden sich bewegende, flottierende Codes begreifen, die temporäre Homologien, das heißt grenzüberschreitend übereinstimmende Muster produzieren. Gleichzeitig können sie aber auch soziale Sphären kontaminieren und in ihnen eine Uneindeutigkeit bewirken, die dort unberechenbare widersprüchliche Wirkungen zeitigt: Dass beispielsweise ökonomische Praktiken in den 1920er bis 50er Jahren durch einen Code des Sozialen und seit den 1970/80er Jahren in vieler Hinsicht durch einen Code sowohl des Marktförmigen als auch des KreativExpressiven überformt werden, kann als ein Prozess rekonstruiert werden, der ein erhebliches Mehrdeutigkeits- und Widerspruchspotenzial hervorbringt. Aus dieser Perspektive wird sichtbar, wie bestimmte soziale Gebilde in historischen Phasen gerade in dem, was man als »Mehrfachcodiertheit« umschreiben kann, das heißt einer parallelen Formiertheit durch mehrere unterschiedliche leitende Sinnmuster, ihre chronisch fragile Identität gewinnen.

2. Historische Intertextualitäten contra Dualismus Traditionalität/Moderne Eine zweite Basisunterscheidung der Sozialwissenschaften, die wiederum den Charakter einer Grenzmarkierung annimmt, ist jene zwischen modernen und traditionalen Gesellschaften. Der Diskurs der Sozialwissenschaften basiert seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Leitdifferenz zwischen einem Gesellschaftstypus, dem Kennzeichen der Modernität zugeschrieben werden, und einem gesellschaftlichen Anderen, einer Vormoderne oder Nicht-Moderne, die klassischerweise unter dem Konzept traditionaler Gesellschaften zusammengefasst wird.19 Auch wenn im soziologischen Diskurs durchaus strittig ist, auf welcher Ebene genau die Kennzeichen des Modernen ausgemacht werden – der Arbeitsteilung, des Kapitalismus, des Rationalismus –, die Leitunterscheidung zwischen dem

19 Zum klassischen soziologischen Diskurs der Moderne und der Modernisierung vgl. Peter Wagner: Theorizing Modernity. Inescapability and Attainability in Social Theory, London 2001; Shmuel N. Eisenstadt: Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt a.M. 1979; Hans van der Loo/ Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992. Vgl. zu einer klassischen Formulierung der Differenz Moderne – Traditionalität im Rahmen der Modernisierungstheorien Robert Redfield: The Primitive World and its Transformation, Harmondsworth 1953. 310

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Modernen und einer ihr scheinbar inkommensurablen, in ihr überwundenen traditionalen Gesellschaft bleibt bestehen. Die begriffliche Fixierung einer Grenze zwischen Modernität und Traditionalität ist häufig an das Differenzschema von Struktur und Kultur gekoppelt: der Zuschreibung von Merkmalen des Modernen auf der Ebene vorsinnhafter Strukturen, zum Beispiel technologische Entwicklung oder Differenzierungsmuster, ist regelmäßig – worauf Eisenstadt kritisch hingewiesen hat20 – verknüpft mit einer Zuschreibung von Merkmalen des Traditionalen auf der Ebene von Kultur, etwa Merkmale wie Religion, Kollektivbewusstsein oder Ritualisierungen. Die Grenzmarkierung zwischen Modernität und Traditionalität wird im soziologischen Diskurs regelmäßig einerseits räumlich, andererseits zeitlich-historisch interpretiert, und beide Versionen finden ihren klassischen Manifestationsort in den Modernisierungstheorien: räumlich als eine Differenz zwischen dem Westen und dem NichtWesten, zeitlich als eine Differenz zwischen der Moderne als Epoche seit dem 18. Jahrhundert und einer vormodernen Phase, die bis zu diesem Zeitpunkt gilt. Das Differenzmuster enthält damit ein eigentümliches Zeitmodell von Diskontinuität und Kontinuität: Zwischen der traditionalen und der modernen Gesellschaft bestehe eine grundsätzliche Diskontinuität, ein großer Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die einander äußerlich bleiben. Demgegenüber wird mit Blick auf die sogenannte Moderne von einer grundsätzlichen immanenten Kontinuität ausgegangen, die als Konstanz bestimmter Strukturmerkmale gefasst wird. Eine Variante dieser Kontinuitätsannahme ist dabei eine Semantik der Steigerung: die Moderne erscheint dann als Steigerung von Merkmalen – Individualisierung, Differenzierung, Beschleunigung etc. –, die in ihrer Grundstruktur die gleichen bleiben. Den Hintergrund für den soziologischen Dualismus zwischen Traditionalität und Moderne liefert damit – neben der Kopplung der Differenz an die Räumlichkeit – vor allem ein sehr spezifisches Temporalschema, das mit unüberschreitbaren Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit hantiert. Mit Derrida lässt sich dieses Temporalschema als eine Variante der Metaphysik der Präsenz verstehen: die Vergangenheit als Vormoderne erscheint hier absolut abwesend, während die Gegenwart als Moderne letztlich ohne Bezug auf diese Vergangenheit in allen ihren Bestandteilen absolut anwesend scheint. Die Vergangenheit der Vormoderne taugt gewissermaßen als Abziehbild des nicht mehr Vorhandenen, und die moderne Gegenwart ist in ihrem vorgeblichen Neuigkeitscharakter und ihrer grundsätzlichen Diskontinuität im Regelfall nicht durch sie kontaminiert. 20 Vgl. S. N. Eisenstadt: Tradition, Wandel und Modernität. 311

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Es ist nun Derridas Gegenkonzept der »Spur«,21 verstanden als ein zeitlich-historischer Verweisungszusammenhang, welcher beständig aus unkontrollierbaren Vor- und Rückbezügen zwischen bestimmten gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Sinnelementen besteht, der hier eine verschobene Perspektive auf die modernistische Differenz moderner und vormoderner Gesellschaft eröffnen kann. »Spur« lässt sich kulturwissenschaftlich operationalisieren über das Konzept historischer Intertextualitäten. Dieser Begriff ist ursprünglich primär auf den Verweisungszusammenhang zwischen literarischen Texten bezogen worden,22 er lässt sich jedoch auf die Kulturgeschichte insgesamt verallgemeinern. Die poststrukturalistisch inspirierte Frage lautet hier immer: Inwiefern findet an bestimmten Punkten einer Gegenwart ein quasi intertextueller Rückbezug auf Elemente einer Vergangenheit, eine Aneignung dieser Vergangenheit statt, die damit weder vollständig vergangen, abwesend noch vollständig gegenwärtig, präsent ist, sondern in dieser gewollten oder ungewollten Aneignung ihre Form ändert? Erneut geht es hier um die permanente Destabilisierung von Grenzen in der sozial-kulturellen Realität, hier aber weniger um die Grenzüberschreitung zwischen gleichzeitig nebeneinander existierenden gesellschaftlichen Sphären, sondern um eine Kreuzung der Grenze zwischen der Gegenwart und einer vorgeblichen Vergangenheit, um Zitationen in einem neuen, verschobenen zeitlichen Kontext. Das Konzept »historischer Intertextualitäten« kann eine solche sensibilisierte Perspektive für die präzise zu bestimmenden Spuren des Vergangenen in der Struktur und Kultur des Gegenwärtigen anleiten. Die sozial-kulturellen Formationen erscheinen dann wiederum nicht als nahtlose Entitäten, sondern als hybride Komplexe, in denen Elemente des Vergangenen implantiert, in denen unterschiedliche Zeiten miteinander kombiniert sind. Um wiederum zwei Beispiele für die Relevanz dieser temporalen Intertextualitäten aus dem Kontext der Transformation von Subjektkulturen in der Moderne zu nennen: zum einen der Rückgriff der bürgerlichen Subjektkultur auf die Aristokratie, zum anderen jener der postmodernen Subjektkultur auf die Bürgerlichkeit. Eine hochinteressante und weiterhin untersuchungsbedürftige Konstellation kultureller Intertextualität liegt in den immanent widersprüchlichen, positiven wie negativen Spuren aristokratischer, scheinbar vormoderner Subjektivität in der Subjekt21 Vgl. J. Derrida, Grammatologie, S. 77ff. 22 Vgl. Julia Kristeva: »Wort, Dialog und Roman bei Bachtin«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1974, S. 345-375; Tais E. Morgan: »Is there an intertext in this text? Literary and interdisciplinary approaches to intertextuality«, in: American Journal of Semiotics 3 (1985), S. 1-40. 312

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ordnung der bürgerlichen Moderne vor: Einerseits findet hier regelmäßig eine massive Differenzmarkierung gegen eine Subjektform statt, die sich nicht über Moralität modelliert, andererseits lässt sich im Kern des bürgerlichen Modells einer souveränen, gegenüber Zwängen distanzierten Persönlichkeit ein Rückgriff auf aristokratische Kommunikations- und Körperkonzepte dechiffrieren; zugleich kann eine latente Faszination für das Muster aristokratischer Konsumtion rekonstruiert werden.23 Eine ähnlich widersprüchliche Intertextualität ließe sich bei genauerer Analyse in der Appropriation von Elementen bürgerlicher Subjektivität in der spätmodernen Subjektkultur seit den 1980er Jahren beobachten: Hier kombinieren sich in hybrider Weise eine ästhetische Abstoßung gegen bürgerliche Konventionalität und eine Aneignung bürgerlicher Modelle des Unternehmerischen und der Selbstregierung.24 Die konstitutiven Spuren des Vergangenen im Gegenwärtigen,25 auch des vorgeblich Traditionalen im Modernen, wie beispielsweise scheinbar traditionale Muster von Ehre, Geschlecht, Natur etc., können zwei verschiedene Formen annehmen: jene einer appropriierenden Zitation oder jene eines unintendierten Retentionseffektes. In der Zitation findet eine bewusste oder vorbewusste – immer auch zugleich rekontextualisierende – Aneignung kulturellen Materials der Vergangenheit, ein hermeneutischer Rückgriff statt, der auf medial, institutionell oder körperlich gespeichertes Sinnmaterial zurückgreift. Im Falle des Retentionseffektes findet sich hingegen eine unwillkürliche Wirkung der Vergangenheit in der Gegenwart, eine Konfrontation mit einer sich aufdrängenden Vergangenheit in der Gegenwart – ähnlich wie die Psychoanalyse sie für einzelne Personen etwa für Retentionseffekte der Kindheit im Erwachsenenalter modelliert. Hier handelt es sich um einen Effekt der Spur, den Derrida als Heimsuchung (und deren Untersuchung in ironischer Anspielung an die Ontologie als »hantologie«) umschreibt,26 ohne dass es sich notwendigerweise um einen traumatischen Prozess handeln muss. Die poststrukturalistische Perspektive legt damit ein Geschichtsverständnis jenseits eindeutiger temporaler Differenz- und Grenzmarkierungen nahe: Zeitlichkeit erscheint stattdessen als ein Prozess kultureller 23 Vgl. etwa Helmuth Kiesel: ›Bei Hof, bei Höll‹. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979; Sonja Bründl: The Gentleman Ideal, Göttingen 2003. 24 Vgl. den Artikel zu »Bürgerlichkeit« in diesem Band. 25 Walter Benjamins geschichtstheoretische Skizzen heben ebenfalls diesen Zusammenhang hervor, vgl. Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Illuminationen, Frankfurt a. M. 1977, S. 251-261, hier S. 260. 26 Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 2004, Kap. 1. 313

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Protentionen und Retentionen, von systematisch bestimmbaren Vor- und Rückverweisen, welche die Modelle der Diskontinuität wie der Kontinuität problematisch werden lassen.

3 . K o n s t i t u t i ve s Au ß e n c o n t r a t h e o r e t i s c h e U n i ve r s a l i s i e r u n g Es gibt einen dritten Aspekt, unter dem die poststrukturalistische Theoriebewegung eine verschobene Perspektive auf sozial-kulturelle Grenzen in ihrer Uneindeutigkeit zu eröffnen vermag: Dieser lässt sich unter dem Etikett dessen zusammenfassen, was Derrida, Laclau und andere das Moment des »konstitutiven Außens« genannt haben.27 Dieses konstitutive Außen erweist sich als häufig verborgene Kehrseite von kulturellen Universalisierungsprozessen. Welche Rolle spielt das konstitutive Außen in der selbstwidersprüchlichen Konstitution von Kultur? Insbesondere seit dem 18. Jahrhundert lässt sich eine Tendenz beobachten, dass sich partikulare, historisch und lokal spezifische sozial-kulturelle Muster selbst universalisieren, das heißt mit dem Anspruch auftreten, allgemeingültige Muster zu repräsentieren. Dies gilt für den modernen bürokratischen Staat so wie für die liberale Marktgesellschaft, für den Geschlechterdualismus wie für die Kultur des Individualismus. Was die Grenzmarkierungen angeht, mit denen solche Universalisierungsstrategien arbeiten, lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden: entweder es wird suggeriert, dass es sich bei den Universalien um ein »Innen« handelt, das ganz ohne ein »Außen« auskommt, gewissermaßen eine alternativenlose Konstellation, so wie etwa Locke zu Beginn des 18. Jahrhunderts die liberale Eigentumsgesellschaft in einem Naturzustand begründet.28 Oder aber dieses Innen des Universalen wird doch mit einem Außen konfrontiert, das jedoch in die Sphäre eines kaum intelligiblen Anderen projiziert wird, so wie Foucault es für die Unterscheidung zwischen Normalität und Wahnsinn für das 19. Jahrhundert vorführt.29 Es scheint nun, dass die sozialwissenschaftlichen Diskurse häufig diese kulturellen Universalisierungsstrategien nicht seziert haben, sondern eher als ihr Komplize aufgetreten sind. Das beste Beispiel ist hier sicher die Festlegung der Moderne auf einen »Rationalisierungsprozess«, ob man Rationalität nun als formale Zweck-Mittel-Rationalität, kommunikative 27 Vgl. E. Laclau/C. Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy, S. 110ff. 28 Vgl. John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a.M. 1992. 29 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M. 1993. 314

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Rationalität, normative Rationalität von achieved versus ascribedMustern oder als reflexive Rationalität versteht. Der universale Horizont moderner Rationalität scheint hier ohne ein intelligibles Außen, alternativenlos zu existieren. Die poststrukturalistische Perspektive regt nun dazu an, diese Rationalitätsmuster als kulturell spezifische Rationalitätsregime in den Blick zu nehmen, die sich einerseits mit bestimmten kulturellen Mitteln selbst zu universalisieren versuchen, zugleich aber auf der Grenzmarkierung zu einem Außen, einem kulturellen Anderen beruhen. Dieses stellt sich jedoch regelmäßig selber als nicht eindeutig dar, sondern als Gegenstand polysemer, mehrdeutiger Sinnzuschreibungen. Das Außen kann damit in einer komplexen kulturellen Logik zu einem konstitutiven Außen in einem doppelten Sinn avancieren: Ohne dieses kulturelle Andere, von dem eine Abgrenzung stattfindet, könnte sich auch das Eigene und Innere – etwa Rationalität in einer bestimmten Version – nicht konstituieren. Die scheinbare Universalität produziert immer wieder Vorstellungen eines Anderen, mit denen sie unwillentlich demonstriert, dass sie keineswegs alternativenlos ist. Gleichzeitig lässt sich analysieren, wie dieses Außen in seiner Andersheit regelmäßig paradoxerweise selber zum Gegenstand von Faszination zu werden vermag, welches die dominante Kultur möglicherweise unterminiert. Die dekonstruktive Perspektive sensibilisiert dann dafür, dass sich Innen-Außen-Grenzen selber zu dekonstruieren vermögen. Ein klassisches Beispiel für diese Konstellation, auf die Homi Bhabha hinweist, ist das Verhältnis zum Schwarzen oder Orientalen im 19. Jahrhundert.30 Die Selbstuniversalisierung der bürgerlichen, rational-disziplinierten Kultur des 19. Jahrhundert kommt nicht ohne ein Außen aus, das vor allem in die nicht-westlichen kolonialisierten Kulturen in ihrer Primitivität projiziert wird. Gleichzeitig jedoch avanciert die Figur des Schwarzen im Diskurs des Exotismus zu einem Gegenstand der Faszination, die auf eine Mangelhaftigkeit der eigenen Kultur, hier: empfundene Inauthentizität und Naturfeindlichkeit verweist. Ein anderes Beispiel wäre das bürgerliche Modell des Ökonomischen als das einer produktiven Arbeit im 18. Jahrhundert, das sich einerseits von der Verschwendung des unproduktiven Konsums abgrenzt und zugleich insgeheim eine – langfristig sehr erfolgreiche – Faszination mit diesem Modus eines exzessiven Konsums enthält.31 Das Konzept 30 Vgl. Homi Bhabha: »The other question. Stereotype, discrimination, and the discourse of colonialism«, in: ders., The Location of Culture, London, New York 1994, S. 66-84; auch Stuart Hall: »The spectacle of the ›other‹«, in: ders. (Hg.), Representations. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 223-279. 31 Vgl. dazu den Artikel zum »Subjekt des Konsums« in diesem Band. 315

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des konstitutiven Außens sensibilisiert damit für bestimmte Prozesse des unkontrollierbaren, selbstwidersprüchlichen Sinns, welche die Versuche der Selbstfixierung kultureller Formationen beständig unterlaufen. Die letzten beiden Aspekte, unter denen eine neue Kultursoziologie begriffliche Grenzen unterläuft, sind etwas anders gelagert als die genannten zwischen differenzierten Sinnsystemen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie zwischen einem scheinbar universalen Innen und einem kulturellen Außen. Hier geht es nicht darum, dass Grenzen zwischen sinnhaften Komplexen gekreuzt werden und sich damit Sinn als weniger kontrolliert herausstellt als vorausgesetzt, sondern vielmehr um die Grenzen zwischen zwei Komplexen, von denen der eine klassischerweise als »sinnhaft« und der andere als nicht-sinnhaft angenommen wird: zum einen um das Verhältnis zwischen Sinnhaftigkeit und Affektivität, zum anderen um jenes zwischen Kultur und Natur/Technik. Als poststrukturalistische Gegenkonzepte kann man hier jene der affektiven Kulturen sowie der Körper-Artefakt-Wissens-Konstellationen ausmachen. An dieser Stelle erhalten neben Derrida andere Autoren eine stärkere Bedeutung als heuristische Impulsgeber, etwa Deleuze und Latour.

4 . Af f e k t i ve K u l t u r e n c o n t r a D u a l i s m u s S i n n h a f t i g k e i t / Af f e k t i vi t ä t Kulturelle Komplexe wie Praktiken, Diskurse oder Subjektformen lassen sich nicht auf Phänomene des Sinns und der Codes reduzieren, sie sind nur mangelhaft nach dem Modell der Sprache zu modellieren, sondern enthalten von vornherein affektive Komponenten und Besetzungen, die sie sowohl stabilisieren als auch destabilisieren. Diese Kopplung von Sinnhaftigkeit und Affektivität (Faszination, Ekel, Lustempfinden, Aggressivität etc.) in einem bestimmten kulturellen Komplex im Detail zu dechiffrieren, stellt sich selber als Gegenstand einer neuen Kultursoziologie dar. Die Verschränkung von Sinnhaftigkeit und Affektivität unterläuft die Grenze zwischen beiden Elementen, welche die klassische Soziologie regelmäßig gezogen hat. Paradigmatisch scheint hier Max Webers Festlegung der Kulturwissenschaft auf das Verstehen von Sinnzusammenhängen entlang des Idealtypus des »rationalen Verstehens«, damit auf das zweck- und wertrationale, affektiv neutrale Handeln, dem gegenüber das sogenannte affektuelle Handeln als Residualkategorie erscheint, eine Grenzmarkierung zwischen dem Sinnhaften und dem Af-

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fektuellen,32 wie sie sich bei modernen Autoren wie Habermas oder Luhmann fortsetzt. Das Affektuelle wird hier in seiner Unberechenbarkeit, gerade auch in seiner Gebundenheit an die Körper, auf Distanz gehalten. Nun hat es im soziologischen Diskurs immer schon Versuche gegeben aufzuzeigen, wie die Affektivität im Kern des Sozialen angesiedelt ist, etwa beim späten Durkheim und im Collège de Sociologie.33 Die poststrukturalistische Bewegung beginnt darüber hinaus, die affektive Besetzung von subjektiven Sinnzuschreibungsprozessen und die affektiven Dimensionen sozialer Praktiken systematisch zu betrachten, als zwei Elemente des gleichen Prozesses zu erfassen, und zwar einerseits in einer bestimmten Rezeption der Psychoanalyse, vor allem über Lacans Konzept des Begehrens, zum anderen in Deleuzes gerade gegen die Psychoanalyse gerichteten Konzept der Intensitäten.34 Hier werden keine zu kontrollierenden Affekte jenseits des gesellschaftlichen Sinnhaushalts vorausgesetzt, sondern es werden Vorstellungen affektiver Identifizierungen und affektiver Prozesse entwickelt, in denen an die Sinnzuschreibungen und Praktiken selber enthusiastische oder verwerfendaggressive Affekte geheftet sind. Affekte erscheinen hier also selber als sinnhaft gerichtet beziehungsweise an sinnhafte Praktiken gebunden und sind doch mehr als Sinn. Diese affektiven Identifizierungen können Praktiken und Subjektformen vorübergehend stabilisieren, sie bringen aber zugleich eine destabilisierende Unruhe in diese hinein. Beispiele für die Fruchtbarkeit dieser Analyseperspektive liefern etwa die neueren Analysen der Kultur des Homo oeconomicus im 18. Jahrhundert von Autoren wie Joseph Vogl und Urs Stäheli, in denen sich diese Subjektform anstelle einer rational-asketischen Figur als ein Inkorporationsort vielfältiger Affektivitäten von der Leidenschaft der Reichtumsvermehrung bis zur Lust an der Spekulation erweist.35

32 Vgl. Max Weber: »Soziologische Grundbegriffe«, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, § 1, 2. 33 Vgl. etwa G. Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie. 34 Vgl. in Anlehnung an Lacan Slavoj Žižek: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien 1992, in Anlehnung an Deleuze Brian Massumi: From Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham 2002; Nigel Thrift: Non-Representational Theory: Space, Politics, Affect, London 2007. 35 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 2004; Urs Stäheli: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M. 2007. 317

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5 . K ö r p e r - Ar t e f a k t - W i s s e n s - K o n s t e l l a t i o n e n contra Dualismus Natur/Kultur Der letzte Aspekt einer Destabilisierung von Grenzen, die eine neue Kultursoziologie ins Zentrum ihrer Analysen stellen kann, betrifft die Separierung von Kultur und Natur, die Differenz zwischen der Sinnhaftigkeit von Codes und der Materialität von Objekten, einschließlich der Körper. Bruno Latour hat in Nous n’avons jamais été modernes in meisterlicher Weise die rhetorischen Strategien freigelegt, mit denen Sozialund Geisteswissenschaften wie Naturwissenschaften versucht haben, die Grenze zwischen »les deux chambres« von Idealität und Materialität zu markieren und zu erhalten, so dass sozial-kulturelle Entitäten als reine Norm- und Sprachgebilde jenseits aller materialen Verankerung und Verarbeitung zu existieren scheinen.36 Eine kultursoziologische Perspektive, die sich von Latour ebenso wie von Deleuze, Foucault und anderen beeinflussen lässt, kehrt dagegen in zweifacher Hinsicht den Blick um: Zum einen analysiert sie diese Grenzstabilisierungsbemühungen selber als Strategien von spezifischen gesellschaftlichen Naturdiskursen wie Kulturdiskursen, die Natur und Kultur zu fixieren und zu trennen versuchen.37 Zum anderen und vor allem nimmt die neue Kultursoziologie die reale Kopplung von Idealität und Materialität, von Wissen, Dingen und Körpern in der sozialen Praxis in den Blick. Damit können die Konzepte der »kulturellen Materialität« und der »Körper-Artefakt-Wissens-Konstellationen« eine heuristische Wirkung entfalten. Kulturelle Praktiken und ihre Formen des Wissens erscheinen dann von vornherein getragen von einer bestimmten, ihnen zugehörigen Materialität, die kulturell geformt und zugleich mehr als Kultur ist, eine Materialität einerseits der Körper, andererseits auch und vor allem der Artefakte, von der Architektur bis zur medialen Technologie. Der kultursoziologische Blick richtet sich dann nicht auf die bloße Immanenz von Diskursen, Schemata oder Verhaltensroutinen, sondern auf den spezifischen Nexus zwischen Wissensordnungen, Körperformen und Artefakten.38 Die neuere Soziologie des Raums und der Stadt, die 36 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995. 37 Vgl. etwa Klaus Eder: The Social Construction of Nature, London. 1996; Noel Castree/Bruce Braun: Social Nature: Theory, Practice and Politics Oxford, New York 2001. 38 In einer sehr spezifischen, artefaktlastigen Version ist dies das Projekt der actor-network theory (vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a.M. 2007), ein ausgewogeneres, wenn auch teilweise strukturalistisches Modell findet sich in Foucaults Dispositivkonzept (vgl. dazu nun Andrea 318

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eng mit der postmodernen Kulturgeografie kooperiert, sowie die neueren Analysen der Geschichte der Medien – von der Schriftkultur bis zur digitalen Kultur – liefern Beispiele für die analytische Fruchtbarkeit einer solchen Perspektive auf die permanenten Grenzüberschreitungen zwischen Idealität und Materialität in bestimmten Körper-Artefakt-WissensKomplexen.39 Eine poststrukturalistisch inspirierte Perspektive kann damit gegen konstitutive begriffliche Grenzmarkierungen des soziologischen Diskurses der Moderne systematisch die Frage nach korrespondierenden Grenzdestabilisierungen im Zentrum einer erneuerten Kultursoziologie platzieren: transversale Semantiken mit ihren Homologie- und Kontaminationseffekten; historische Intertextualitäten zwischen Vergangenheiten und Gegenwarten; Effekte eines konstitutiven Außens als Kehrseite von Universalisierungsstrategien; affektive Prozesse und Identifizierungen der Kultur sowie Körper-Artefakt-Wissens-Komplexe. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die korrespondierenden Grenzmarkierungen, auf denen große Teile des soziologischen Diskurses lange beruhten, pure Illusionen wären. Tatsächlich finden diese Grenzmarkierungen und -stabilisierungen innerhalb der Geschichte der Moderne ständig statt: Versuche, Grenzen zwischen sozialen Systemen, zwischen Modernität und Traditionalität, zwischen dem Innen der Universalität und einem kaum verständlichen Außen, zwischen Sinnhaftigkeit und Affekt sowie zwischen Kultur und Natur zu ziehen und auf Dauer zu stellen. Wenn man weiterhin den Arbeitsbegriff »Moderne« verwenden möchte, könnte man die Behauptung aufstellen, dass das Rationalisierungsprojekt der Moderne geradezu auf diesen fünf Grenzmarkierungen fundiert ist, die vor entsprechenden Polysemien und Unberechenbarkeiten schützen sollen. Es ist aber die Frage, ob die Kultursoziologie diese Grenzmarkierungen kurzerhand in ihr Beobachtungsvokabular übernimmt und sich zu Eigen macht oder sie nicht vielmehr zum Gegenstand ihrer Analyse D. Bührmann/Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008). Suggestiv, aber mit Operationalisierungsschwierigkeiten sind hier die Vorschläge von Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992, dazu auch Theodore R. Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park (Penn.) 2002. 39 Vgl. zur Raumsoziologie Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006, zur Medienanalyse Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn 2005. 319

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werden lässt und offen legt, wie sie in der Realität beständig unterlaufen werden. Statt selber als Komplize kultureller Grenzstabilisierungen aufzutreten, kann die Kultursoziologie die kulturellen Methoden der Markierung von Grenzen und deren gegenläufige permanente Destabilisierung in ein Objekt ihrer Analyse verwandeln. In neuer Form ist diese kulturwissenschaftliche Strategie ein politisches Projekt, politisch nicht im engeren Sinne einer politisierten Wissenschaft von parteilichen Interessen, identity politics oder Empfehlungen für staatliche Steuerung, sondern politisch in dem Sinne, dass Common Sense-Unterscheidungen dadurch unterlaufen werden, dass man zeigt, wie diese purifizierenden Trennungen in der kulturellen Realität immer schon instabil und unrein sind. Das Politische der poststrukturalistisch beeinflussten Kulturwissenschaft ist darin zu suchen, dass sie demonstriert, wie sich die propagierten Grenzmarkierungen in der Geschichte der Moderne auf verschiedensten Ebenen immer wieder selber dementieren und sich ein ganz anderes Bild der Moderne ergibt, setzt man an einer systematischen Betrachtung dieser Grenzdestabilisierungen und ihren kulturellen Hybridbildungen an. Tatsächlich sind wir immer schon hybride gewesen.

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ture‹ to ›artefacts‹«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 32 (2002), Oxford: Blackwell, S. 195-217. Medientransformation und Subjekttransformation Erstveröffentlichung in: Andreas Ziemann (Hg.): Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz: UVK 2006, S. 89-107. Umkämpfte Maskulinität: Zu einer Kultursoziologie männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten Geplante Veröffentlichung in: Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld: transcript 2009. Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerlichkeit als hybride Subjektkultur Veröffentlichung auch in: Heinz Bude u.a. (Hg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum?, München: Fink 2008. Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne: Der kulturelle Wandel der Konsumtion Erstveröffentlichung in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Soziale Ungleichheit – kulturelle Unterschiede. 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt a.M., New York: Campus 2006, S. 424-436. Die Erfindung des Kreativsubjekts: Zur kulturellen Konstruktion von Kreativität Erstveröffentlichung. In der englischen Fassung Vortrag auf dem Kongress der Sektion »Sociology of Art« der European Sociological Association an der Universität Lüneburg, März 2007. Geplante Veröffentlichung der englischen Version in Volker Kirchberg u.a. (Hg.): Creativity, the Arts and Urban Development, London 2009. Elemente einer Soziologie des Ästhetischen Veröffentlichung in: Kay Junge/Daniel Suber/Gerold Gerber (Hg.): Erleben, Erleiden, Erfahren: Zur Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielefeld: transcript 2008. Kritische Gesellschaftstheorie heute. Zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Kritischer Theorie Erstveröffentlichung. Vortrag Universität Hamburg, November 2005. Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus Erstveröffentlichung. Antrittsvorlesung Universität Konstanz, Dezember 2006.

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Sozialtheorie Beate Fietze Historische Generationen Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität

Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Zwischen Identität und Kontingenz Theorie und Praxis der Kulturreflexion

Oktober 2008, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-942-8

September 2008, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-965-7

Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.) Vieldeutige Natur Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene

Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten

Oktober 2008, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-944-2

Gregor Bongaerts Verdrängungen des Ökonomischen Bourdieus Theorie der Moderne Oktober 2008, ca. 372 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-934-3

Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse September 2008, ca. 140 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-818-6

Arlena Jung Identität und Differenz Sinnprobleme der differenzlogischen Systemtheorie

August 2008, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-8376-1000-0

Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie August 2008, 358 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-917-6

Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft Juli 2008, 514 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-829-2

September 2008, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-8376-1002-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Shahrsad Amiri Narzißmus im Zivilisationsprozeß Zum gesellschaftlichen Wandel der Affektivität

René John Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997

Juli 2008, 434 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-978-7

März 2008, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-886-5

Torsten Junge Gouvernementalität der Wissensgesellschaft Politik und Subjektivität unter dem Regime des Wissens

Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven

Juli 2008, 406 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-957-2

März 2008, 192 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-874-2

Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault

Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht

Juni 2008, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1

Julia M. Eckert (ed.) The Social Life of Anti-Terrorism Laws The War on Terror and the Classifications of the »Dangerous Other« Mai 2008, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-964-0

Janine Böckelmann, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart

März 2008, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-830-8

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften März 2008, 460 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Ekaterina Svetlova Sinnstiftung in der Ökonomik Wirtschaftliches Handeln aus sozialphilosophischer Sicht Februar 2008, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-869-8

Mai 2008, 222 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-787-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Jens Warburg Das Militär und seine Subjekte Zur Soziologie des Krieges Februar 2008, 378 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-852-0

Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven 2007, 164 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich 2007, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne 2007, 354 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0

Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 2007, 294 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

Daniel Suber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 2007, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-727-1

Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

Anne Peters Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Žižek 2007, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-655-7

2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman 2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

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Das ist Ihre Zeitschrift Soziologische Revue Besprechungen neuerer Literatur Herausgeber: Werner Rammert, Heinz Bude, Bettina Heintz und Uwe Schimank. Erscheint vier Mal im Jahr: Januar I April I Juli I Oktober 2008: 31. Jahrgang

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rascher Überblick über die deutschsprachige soziologische Literatur sachkundige und kritische Information treffsichere Argumentation

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